Nietzsche und der Nihilismus 9783110317985, 9783110318050, 9783110382136, 9783110318067


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Inhalt
Vorwort
Siglenverzeichnis
Siglen zu Nietzsche
Sonstige Siglen
Kapitel I. Einleitung
1.1 Es „nichtet“ sehr: die nihilistische Befindlichkeit
1.2 Ist Nietzsche ein Nihilist?
1.3 Nihilismus, was ist das überhaupt?
1.4 Ziel und Gang der Studie
Kapitel II. Nietzsche als Denker des Nihilismus – zur Rezeption
2.1 Nietzsches Philosophie des Nihilismus in den Augen von Karl Jaspers, Martin Heidegger, Keiji Nishitani und Albert Camus
2.2 Das Problem des Nihilismus in der Nietzsche-Forschung
Kapitel III. Die Geburt der Philosophie aus dem tragischen Gedanken
3.1 Das Schopenhauer-Erlebnis
3.2 Die Diagnose: Das Dasein – eine ewige Wunde
3.2.1 Diagnose I: Schopenhauer
3.2.2 Diagnose II: Nietzsche oder: Gott ist tot I
3.3 Ja zum Schmerz: Nietzsches ästhetische Rechtfertigung des Daseins und der Welt
3.3.1 Die Geburt der Welt aus dem Urwiderspruch – eine Lektüre der Geburt der Tragödie aus Sicht des Ur-Einen
3.3.2 Die ästhetische Rechtfertigung des Daseins – eine Lektüre der Geburt der Tragödie aus der Perspektive des Menschen
3.3.3 Von der Rechtfertigung des Daseins durch das eigentliche Drama – die Leiden des Gottes
3.4 Das Tragische der Tragödie und die vollendete dionysische Weisheit
3.5 Von der argumentativen Überzeugungskraft einer ästhetischen Rechtfertigung des Leidens: ein kritischer Blick auf Nietzsches ästhetische Algodizee
3.5.1 Dein Leid ist nicht mein Leid und sein Leid ist nicht unser Leid
3.5.2 Das ernst genommene Leid des Einzelnen: der stoische Weise
Kapitel IV. Der Sokratismus ist ein Nihilismus
4.1 Der Tod der Tragödie
4.1.1 Das Warum des Todes der Tragödie oder: die Erschütterung des bisher tragenden Grundes: Sokrates und die Polis Athen
4.1.2 Das Wie des Todes der Tragödie
4.1.3 Die Tragödie ist tot – es lebt der Nihilismus
4.1.3.1 Die Dekadenz des modernen Subjekts
4.1.3.2 Der nihilistische Bumerangeffekt des sokratischen Optimismus
Kapitel V. Der Zusammenhang von Moral, Christentum und Nihilismus
5.1 Der Herrentypus der Moral und das Pathos der Distanz
5.2 Der Sklaventypus der Moral und das Ressentiment
5.3 Von der Umwertung der Werte durch den asketischen Priester
5.4 Nietzsches Jesus gegen Nietzsches Paulus oder: das Christentum als Priesterglaube
Kapitel VI. Der Tod Gottes
6.1 Der Tod Gottes als Tod zweier Götter: des Gottes der jüdisch-christlichen Offenbarungsreligion und der obersten Idee der abendländischen Metaphysik
6.2 Die Folgen von Gottes Tod
6.3 Der Tathergang des Gottesmordes
6.4 Der Tod Gottes als Eröffnung der Möglichkeit eines höheren, gottlosen Daseins
Kapitel VII. Typologie des Nihilismus
Kapitel VIII. Selbsthaftigkeit als Grund des Nihilismus
8.1 Nietzsches nihilistische Anthropologie
8.2 Selbsthaftigkeit ist der Grund des Nihilismus
Kapitel IX. Überwindung des Nihilismus
9.1 Der Übermensch
9.2 Die ewige Wiederkunft des Gleichen als Probierstein des Willens und höchste Formel der Bejahung
9.3 Nietzsches Philosophie der Bejahung oder: vom Schönmachen aller Dinge
Kapitel X. Nihilismus heute – von der großen Müdigkeit
10.1 Wettbewerbsgesellschaft
10.2 Zeitnot
10.3 Invasive und expansive Technik oder: von der Technisierung von Welt und Mensch
10.4 Von letzten Menschen und Selbstunternehmern
10.5 Depression und Nihilismus
Literaturverzeichnis
Friedrich Nietzsche Primärtexte
Forschungsliteratur zu Nietzsche
Sonstige Quellen
Sonstige Literatur
Index
Recommend Papers

Nietzsche und der Nihilismus
 9783110317985, 9783110318050, 9783110382136, 9783110318067

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Eike Brock Nietzsche und der Nihilismus

Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung

Begründet von Mazzino Montinari Wolfgang Müller-Lauter Heinz Wenzel Herausgegeben von Günter Abel, Berlin Werner Stegmaier, Greifswald

Band 68

Eike Brock

Nietzsche und der Nihilismus

ISBN 978-3-11-031798-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-031805-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038213-6 Set-ISBN 978-3-11-031806-7 ISSN 1862-1260 Library of Congress Cataloging-in-Publication data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/München/Boston Satz: PTP-Berlin Protago-TEX-Production GmbH, Berlin Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Printed on acid-free paper Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort Das vorliegende Buch ist das Ergebnis meines (freilich unabgeschlossenen) Nachdenkens über Nietzsche und den Nihilismus. Es stellt die überarbeitete Fassung meiner Dissertationsschrift dar, die im Sommersemester 2012 von der Philosophischen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität Würzburg angenommen wurde. Das Zustandekommen der Studie wäre ohne vielfältige Hilfe und Unterstützung nicht möglich gewesen. Daher sei an dieser Stelle mein herzlicher Dank ausgesprochen: Ich danke Prof. Dr. Klaus Konhardt dafür, dass er mir während meiner ersten Gehversuche mit Nietzsche ein wichtiger Wegweiser und ermunternder Berater war. Prof. Dr. Hans-Joachim Pieper und Dr. Andrea Wilke gilt mein Dank dafür, dass sie mir die Möglichkeit eröffnet haben, am Institut für Philosophie der RheinischenFriedrich-Wilhelms Universität zu Bonn zu unterrichten, wodurch ich mein Doktorat ein Stück weit finanzieren konnte. Dr. Thorsten Lerchner ist für die vielen philosophischen Gespräche, die wir seit unseren gemeinsamen Studientagen in Bonn geführt haben, meine Verbundenheit und mein Dank gewiss. Er hat das Entstehen dieser Studie mit großem Interesse und kritischem Nachfragen begleitet und eo ipso gefördert. Wegen ihrer großartigen Unterstützung während der Überarbeitungsphase meiner Dissertationsschrift stehe ich als Fellow des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover (FIPH) ferner in der Schuld von Prof. Dr. Jürgen Manemann und Anna Maria Hauk M.A. Ich bin außerdem gleichermaßen glücklich über wie dankbar für die Aufnahme meiner Studie in die renommierte Reihe Monografien und Texte zur Nietzsche-Forschung (MTNF) des De Gruyter Verlages. Ich danke daher den Herausgebern der Reihe, Prof. Dr. Günter Abel und Prof. Dr. Werner Stegmaier. Letztgenanntem möchte ich für seine außerordentlich sachkundigen Hinweise in Sachen Nietzsche sowie für seine große Gesprächsbereitschaft besonders danken. Drs. Leon de Haas hat mir bei Übersetzungen aus dem Niederländischen im Rahmen des Rezeptionskapitels geholfen. Dr. Günter Gödde war so freundlich, mir seine große psychologische Urteilskraft und Erfahrung als Psychotherapeut (und Philosoph) bei der Beurteilung des letzten Kapitels zur Verfügung zu stellen. Weiterhin ist im Rahmen derer, denen ich zu Dank verpflichtet bin, Prof. Dr. Franz-Peter Burkard als Zweitgutachter meiner Dissertationsschrift zu nennen. Mit besonderem Nachdruck möchte ich zudem meinem Doktorvater Prof. Dr. Jörn Müller für seine vielfältige freundschaftliche Unterstützung meines philosophischen Werdegangs seit meinen Studententagen herzlich danken. Die Unterstützung, die ich durch die Familie und zumal durch meine Eltern erfahren habe, ist mit Gold nicht aufzuwiegen. Daher sei ihnen diese Studie gewidmet. Schließlich möchte ich Susanne und unseren beiden Kindern Yul und Pina danken – Ihr seid das beste Mittel gegen den Nihilismus. Troisdorf, im September 2014

Eike Brock

Siglenverzeichnis Siglen zu Nietzsche AC BAW CV CV 1 CV 3 CV 5 DD DD Wüste EH EH GM EH GT EH klug EH MAM EH Motto EH Vorwort EH weise EH Zarathustra FW FW Vorrede GD GD Alten GD Fabel GD Sokrates GD Sprüche GD Streifzüge GD Vernunft GM GM I GM II GM III GT GT Versuch JGB KGB KGW KSA KSB M MA MA I MA II MA Vorrede NL PHG

Der Antichrist Historisch-kritische Gesamtausgabe Werke Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern Ueber das Pathos der Wahrheit Der griechische Staat Homer’s Wettkampf Dionysos-Dithyramben Unter Töchtern der Wüste Ecce homo Genealogie der Moral Die Geburt der Tragödie Warum ich so klug bin Menschliches, Allzumenschliches [An diesem vollkommnen Tage … mir mein Leben] Vorwort Warum ich so weise bin Also sprach Zarathustra Die fröhliche Wissenschaft Vorrede zur zweiten Ausgabe Götzen-Dämmerung Was ich den Alten verdanke Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde Das Problem des Sokrates Sprüche und Pfeile Streifzüge eines Unzeitgemässen Die „Vernunft“ in der Philosophie Zur Genealogie der Moral Zur Genealogie der Moral. Erste Abhandlung Zur Genealogie der Moral. Zweite Abhandlung Zur Genealogie der Moral. Dritte Abhandlung Die Geburt der Tragödie Die Geburt der Tragödie, Versuch einer Selbstkritik Jenseits von Gut und Böse Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe Werke. Kritische Gesamtausgabe Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe Morgenröthe Menschliches, Allzumenschliches Menschliches, Allzumenschliches. Erster Band Menschliches, Allzumenschliches. Zweiter Band Vorrede von 1886 Nachgelassene Fragmente/Notate/Aufzeichnungen Nietzsches Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen

viii   

   Siglenverzeichnis

SE ST UB UB II WA WB WL WS Z ZI Z I Hinterweltlern Z I Lesen Z I Natter Z I Tugend Z I Verächtern Z I Verwandlungen Z I Vorrede Z I Weiblein Z I Ziele Z II Z II Inseln Z II Mitleidigen Z II Selbst-Ueberwindung Z II Stunde Z II Wahrsager Z II Tanzlied Z III Z III Heimkehr Z III Räthsel Z III Schwere Z III Sehnsucht Z III Tafeln Z IV Z IV Menschen

Schopenhauer als Erzieher Socrates und die Tragoedie Unzeitgemässe Betrachtungen Unzeitgemässe Betrachtungen, Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben Der Fall Wagner Richard Wagner in Bayreuth Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (MA Zweite Abtheilung) Der Wanderer und sein Schatten Also spach Zarathustra (Z)[Erster Teil] Von den Hinterweltlern Vom Lesen und Schreiben Vom Biss der Natter Von der schenkenden Tugend Von den Verächter des Leibes Von den drei Verwandlungen Zarathustra’s Vorrede Von alten und jungen Weiblein Von tausend und Einem Ziele (Z) Zweiter Theil Auf den glückseligen Inseln Von den Mitleidigen Von der Selbst-Ueberwindung Die stillste Stunde Der Wahrsager Das Tanzlied (Z) Dritter Theil Die Heimkehr Vom Gesicht und Räthsel Vom Geist der Schwere Von der großen Sehnsucht Von alten und neuen Tafeln (Z) Vierter Theil Vom höheren Menschen

Z IV Nachtwandler-Lied

Das Nachtwandler-Lied

Sonstige Siglen Alk. I. Apol. Charm. Conf. DL DK E Eph

Platon: Alkibiades I Platon: Apologie des Sokrates Platon: Charmides Augustinus: Bekenntnisse Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen Diels/Kranz: Fragmente der Vorsokratiker Schopenhauer: Die beiden Grundprobleme der Ethik Paulus: Epheserbrief

Sonstige Siglen   

EN Ench. Euthyphr. Gal GMS Gorg. HN I HN IV Joh Kor KpV Krit. KrV Lk Lys. Men. Met. Mk Ord. Parm. Petr Phd. Phdr. Phil Phile PL Poet. PuP I PuP II Rep. Röm SB Symp. Thess Tht. VN I

   ix

Vögel WWV I

Aristoteles: Nikomachische Ethik Epiktet: Encheiridion/Handbüchlein der Moral Platon: Euthyphron Paulus: Galaterbrief Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten Platon: Gorgias Schopenhauer: Handschriftlicher Nachlass, Bd. I Schopenhauer: Handschriftlicher Nachlass, Bd. IV Johannes: Das Evangelium nach Johannes Paulus: Korintherbrief (I, II) Kant: Kritik der praktischen Vernunft Platon: Kriton Kant: Kritik der reinen Vernunft Lukas: Evangelium nach Lukas Platon: Lysis Platon: Menon Aristoteles: Metaphysik Markus: Evangelium nach Markus Augustinus: De ordine Platon: Parmenides 1. Petrusbrief Platon: Phaidon Platon: Phaidros Paulus: Brief an die Philiper Platon: Philebos Patrologia Latina Aristoteles: Poetik Schopenhauer: Parerga und Paralipomena, Bd. I Schopenhauer: Parerga und Paralipomena, Bd. II Platon: Politeia Paulus: Römerbrief Marc Aurel: Selbstbetrachtungen Platon: Symposion Paulus: Thessalonicherbrief (I,II) Platon: Theaitetos Schopenhauer: Theorie des gesammten Vorstellens, Denkens und Erkennens. Vorlesungen über die gesammte Philosophie, 1. Theil (Bd. 1) (Philosophische Vorlesungen) Schopenhauer: Metaphysik der Sitten. Vorlesungen über die gesammte Philosophie, 4. Theil (Bd. IV) (Philosophische Vorlesungen) Aristophanes: Die Vögel Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. I

WWV II

Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. II

VN IV

Inhalt Vorwort | v Siglenverzeichnis | vii Siglen zu Nietzsche | vii Sonstige Siglen | viii Kapitel I Einleitung | 1 1.1 Es „nichtet“ sehr: die nihilistische Befindlichkeit | 1 1.2 Ist Nietzsche ein Nihilist? | 4 1.3 Nihilismus, was ist das überhaupt? | 7 1.4 Ziel und Gang der Studie | 10 Kapitel II Nietzsche als Denker des Nihilismus – zur Rezeption | 12 2.1 Nietzsches Philosophie des Nihilismus in den Augen von Karl Jaspers, Martin Heidegger, Keiji Nishitani und Albert Camus | 13 2.2 Das Problem des Nihilismus in der Nietzsche-Forschung | 41 Kapitel III Die Geburt der Philosophie aus dem tragischen Gedanken | 59 3.1 Das Schopenhauer-Erlebnis | 59 3.2 Die Diagnose: Das Dasein – eine ewige Wunde | 66 3.2.1 Diagnose I: Schopenhauer | 67 3.2.2 Diagnose II: Nietzsche oder: Gott ist tot I | 77 3.3 Ja zum Schmerz: Nietzsches ästhetische Rechtfertigung des Daseins und der Welt | 81 3.3.1 Die Geburt der Welt aus dem Urwiderspruch – eine Lektüre der Geburt der Tragödie aus Sicht des Ur-Einen | 82 3.3.2 Die ästhetische Rechtfertigung des Daseins – eine Lektüre der Geburt der Tragödie aus der Perspektive des Menschen | 88 3.3.3 Von der Rechtfertigung des Daseins durch das eigentliche Drama – die Leiden des Gottes | 103 3.4 Das Tragische der Tragödie und die vollendete dionysische Weisheit | 109 3.5 Von der argumentativen Überzeugungskraft einer ästhetischen Rechtfertigung des Leidens: ein kritischer Blick auf Nietzsches ästhetische Algodizee | 116 3.5.1 Dein Leid ist nicht mein Leid und sein Leid ist nicht unser Leid | 116 3.5.2 Das ernst genommene Leid des Einzelnen: der stoische Weise | 123

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   Inhaltsverzeichnis

Kapitel IV Der Sokratismus ist ein Nihilismus | 129 4.1 Der Tod der Tragödie | 134 4.1.1 Das Warum des Todes der Tragödie oder: die Erschütterung des bisher tragenden Grundes: Sokrates und die Polis Athen | 134 4.1.2 Das Wie des Todes der Tragödie | 150 4.1.3 Die Tragödie ist tot – es lebt der Nihilismus | 157 4.1.3.1 Die Dekadenz des modernen Subjekts | 158 4.1.3.2 Der nihilistische Bumerangeffekt des sokratischen Optimismus | 165 Kapitel V Der Zusammenhang von Moral, Christentum und Nihilismus | 185 5.1 Der Herrentypus der Moral und das Pathos der Distanz | 188 5.2 Der Sklaventypus der Moral und das Ressentiment | 193 5.3 Von der Umwertung der Werte durch den asketischen Priester | 207 5.4 Nietzsches Jesus gegen Nietzsches Paulus oder: das Christentum als Priesterglaube | 236 Kapitel VI Der Tod Gottes | 261 6.1 Der Tod Gottes als Tod zweier Götter: des Gottes der jüdisch-christlichen Offenbarungsreligion und der obersten Idee der abendländischen Metaphysik | 266 6.2 Die Folgen von Gottes Tod | 273 6.3 Der Tathergang des Gottesmordes | 280 6.4 Der Tod Gottes als Eröffnung der Möglichkeit eines höheren, gottlosen Daseins | 284 Kapitel VII  Typologie des Nihilismus | 288 Kapitel VIII  Selbsthaftigkeit als Grund des Nihilismus | 312 8.1 Nietzsches nihilistische Anthropologie | 313 8.2 Selbsthaftigkeit ist der Grund des Nihilismus | 326

Inhaltsverzeichnis   

   xiii

Kapitel IX Überwindung des Nihilismus | 338 9.1 Der Übermensch | 341 9.2 Die ewige Wiederkunft des Gleichen als Probierstein des Willens und höchste Formel der Bejahung | 351 9.3 Nietzsches Philosophie der Bejahung oder: vom Schönmachen aller Dinge | 376 Kapitel X Nihilismus heute – von der großen Müdigkeit | 387 10.1 Wettbewerbsgesellschaft | 389 10.2 Zeitnot | 393 10.3 Invasive und expansive Technik oder: von der Technisierung von Welt und Mensch | 398 10.4 Von letzten Menschen und Selbstunternehmern | 401 10.5 Depression und Nihilismus | 414 Literaturverzeichnis | 418 Friedrich Nietzsche Primärtexte | 418 Forschungsliteratur zu Nietzsche | 418 Sonstige Quellen | 424 Sonstige Literatur | 429 Index | 435

Kapitel I Einleitung Der Soldat lebte noch und schaute zu ihm empor. „Hilf mir“, sagte er und versuchte trotz seiner Schmerzen zu lächeln. (…) Er wollte etwas sagen; Adam gab ihm deswegen Wasser zu trinken, in der Hoffnung, der Sterbende werde ihm etwas für das Reisehandbuch Brauchbares mitteilen. Als er das Ohr hinhielt, stützte sich der Soldat auf und sagte leise: „Lang lebe der Nihilismus“, und sank in sich zusammen – tot. (Alan Sillitoe: Nihilon)¹ Nichts wirst du sehn in ewig leerer Ferne/Den Schritt nicht hören, den du tust/Nichts Festes finden, wo du ruhst! (Johann Wolfgang von Goethe: Faust)²

1.1 Es „nichtet“ sehr: die nihilistische Befindlichkeit Von einem einsamen Spaziergänger ist überliefert, dass er zwar melancholisch schwermütig, doch sich seiner Einsamkeit erfreuend, den Blick zum Himmel gerichtet Trost fand, weil er ebendort Gott wähnte als die endgültige Antwort auf alle Sinnfragen. Es ist dieser Blick in den endlosen Raum gleichsam ein Blick ins Sein selbst, vor dessen Erhabenheit alle irdischen Dinge geradezu Ekel erregen; hier gibt es nichts, woran sich zu halten lohnt: Wer einsam vor sich hindenkt, die Natur studiert und das Universum betrachtet, kann gar nicht anders: er lenkt seinen Geist empor zum Schöpfer all dessen und fragt nach dem Wozu all dessen, was er fühlt, und nach dem Warum all dessen, was er fühlt. Als das Schicksal mich ins Getöse der Welt zurückwarf, fand ich darin nichts, was mein Herz auch nur für einen Augenblick erfreut hätte. (Rousseau 2001[1782], 38)

Wenn sich auch die Frage nach dem Wozu all dessen gerade bei der Betrachtung des Universums und der Reflexion über dasselbe mit allem Nachdruck stellt, weiß sich jener Spaziergänger, nämlich Jean Jacques Rousseau, doch immerhin auf einen Gott, d. h. auf eine Form von Transzendenz verwiesen, wodurch das Diesseits getragen wird. Die Freude des Müßiggängers währt jedoch nicht lange. Wenn er die Augen vom Himmel ab- und der Erde (dem Diesseits) zuwendet, verfinstert sich der Blick sogleich. In der Geschäftigkeit des alltäglichen Lebens spürt der Spaziergänger nichts von der Getragenheit der Welt durch die göttliche Hand. So kommt es, dass er sich am Ende des Spaziergangs nicht auf eine Heimkehr freuen kann, sondern vielmehr, paradox formuliert, in eine Art Fremde zurückkehrt; denn es behagt ihm nicht in dieser Welt.

1 Sillitoe 1973[1971], 18. 2 Goethe 1991[1808], 183.

2   

   Einleitung

Wie aber, wenn nicht nur das Diesseits uns keine Geborgenheit mehr zu bieten vermag? Wie wenn „der best irnte Himmel üb er mir“ (KpV, 161) anders als noch bei Kant eher Furcht als Ehrfurcht auslöst, weil als sein Grund nicht mehr Gott, sondern das Nichts vorgestellt wird? Wie also, wenn die Transzendenz eine leere ist? Es breitet sich, wenn solchermaßen das metaphysische Kraftfeld kollabiert, in dem sich die Welt einst eingebettet fand, eine Stimmung des Nichts aus. Die Befindlichkeit des Menschen verdüstert sich und wird namentlich von der Angst bestimmt. Emphatisch hat diesen Verfinsterungsprozess bereits Hölderlin im Hyperion beschrieben: „Not und Angst und Nacht sind eure Herren.“ Auch macht der Dichter deutlich, warum man es hier mit einer Form von Nihilismus zu tun hat. Es ist eben nichts mit der Immanenz und es ist ebenfalls nichts mit der Transzendenz: „Wenn ich hinsehe ins Leben, was ist das Letzte von allem? Nichts. Wenn ich aufsteige im Geiste, was ist das höchste von allem? Nichts“ (Hölderlin 1958[1797–1799], 48). „Warum überhaupt etwas sei und nicht vielmehr nichts?“, lautet eine der Grundfragen der Philosophie. Als Grund-Frage, im wahrsten Sinne des Wortes, verdient sie es gar, die „metaphysische Kardinalfrage“ (Beelmann 2004, 33) genannt zu werden. Auf dem Boden nihilistischer Gestimmtheit stellt sie sich in transformierter und zugespitzter Form: als existenzielle Hamlet-Frage gleichsam. Ging es Shakespeare im Hamlet unter anderem um das Problem, dass die Angst vor dem Tod, von dem man nicht weiß, ob er das tatsächliche Ende des Individuums bedeutet, oftmals ein entschlossenes Handeln verhindert, so verlangt die zugespitzte Frage jetzt ein klar positioniertes Ja oder Nein zu einem Leben in metaphysischer Obdachlosigkeit: „To be, or not to be: that is the question“ (Shakespeare 2006[1603], 58), aufgeworfen im Angesicht des Nichts. In aller Schärfe und mit letzter Konsequenz hat Albert Camus dieser neuen, nicht mehr zumal theoretischen, sondern vorzüglich existenziellen Problemlage Ausdruck verliehen: Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord. Sich entscheiden, ob das Leben es wert ist, gelebt zu werden oder nicht, heißt auf die Grundfrage der Philosophie antworten. (Camus 2002[1942], 11)

Camus ist bekanntermaßen wesentlich durch einen Denker beeinflusst, den man sich wie Rousseau ebenfalls als einen einsamen Spaziergänger vorstellen darf. Im Unterschied zu Rousseau lässt diesen Spaziergänger der Blick in die Sterne aber nicht mehr an einen Schöpfergott denken. Viel eher fordert ihn der Sternenhimmel dazu heraus, das Göttliche gleichsam auf die Erde hinabzuholen, so dass die Erde selbst vergöttlicht wird. Dieser auch in metaphysischer Hinsicht einsame Spaziergänger ist Friedrich Nietzsche.³ Sein Denkweg, an dessen Ende die Apotheose des Irdischen als

3 Nietzsche pflegte regelmäßige Spaziergänge, ja mitunter große Wanderungen in Angriff zu nehmen. Während einer solchen Wanderung am See von Silvaplana unweit von Sils-Maria entdeckte er, eigenen Angaben zufolge, in einem hieratischen Augenblick, das „neue Schwergewicht“ seines Den-

Es „nichtet“ sehr: die nihilistische Befindlichkeit   

   3

Antwort auf den Nihilismus stehen soll, ist freilich ein weiter und beschwerlicher. Dies hat mehrere Gründe: Zum einen ist Nietzsche angetreten, um der gesamten Tradition des europäisch-abendländischen Denkens den Prozess zu machen. Seine Philosophie ist im Wesentlichen Metaphysikkritik, denn unter ebendiesem Namen: „Metaphysik“, lässt sich das Denken von Platon bis Hegel in toto subsumieren.⁴ Zum anderen ist Nietzsches Philosophieren stets der Bedrohung durch den Nihilismus ausgesetzt, weil es zwar zuletzt auf eine Bejahung des Lebens hinauslaufen soll, zunächst jedoch radikal destruktiv ist. Bevor Nietzsche sich endlich anschickt, eine Antwort auf die Bedrohung des Menschen durch das Nichts zu geben, reißt er alle bis dato gültigen, aber brüchig gewordenen Bastionen ein, welche die metaphysische Tradition während ihrer zweieinhalbtausend-jährigen Geschichte in sinnverbürgender Absicht errichtet hatte. Er lehrt seine Leser mithin zunächst einmal das Fürchten, nährt ihren Horror vacui, indem er sie gleichsam an die Hand nimmt und an den Abgrund des Nichts heranführt. Die beiden angeführten Gründe sind nun aber auf das Engste miteinander verknüpft: Nietzsche vermutet nämlich, dass der Nihilismus – verstanden als Chiffre für die Sinn- und Orientierungslosigkeit schlechthin – klammheimlich gerade in den metaphysischen Ansätzen selbst steckt. Es ist eine Pointe von Nietzsches Philosophie, dass sie ebendort das Nichts entdeckt, wo man eigentlich das Sein vermutet. Der Anspruch der Metaphysik ist ja – verkürzt gesagt – stets gewesen, eine reflexive Grundlegung wahrer Erkenntnis zu liefern und dabei die Einheit von Welt und Mensch zu erfassen. Sie verfolgt also die hehre Absicht, den Sinn des menschlichen Daseins zu begreifen oder sogar zu verbürgen. Dabei hat sie jedoch, wie Nietzsche zeigen will, den gegenteiligen Effekt erzielt. Insbesondere der durch den Platonismus und das Christentum großgezogene Wille zur Wahrheit gebiert eine intellektuelle Redlichkeit, die sich schließlich den Glauben an einen Gott, der die Welt geschaffen und alles darin teleologisch geordnet hat, verbietet. Als eine „viel zu extreme Hypothese“ (NL 1885–1887, KSA 12, 5[71], 212), als „faustgrobe Antwort“ und „Undelicatesse gegen uns Denker“ (EH klug 1; KSA 6, 279) diffamiert Nietzsche diesen vermeintlichen Schöpfergott. Gleichwohl bedeutet der Tod Gottes sogar für einen Spötter eine grundlegende Erschütterung. Wird er erst als das einschneidende Ereignis, das er ist, begriffen, bricht das Zeitalter des Nihilismus an. Das bedeutet, der bis zu diesem Zeitpunkt gewissermaßen im Geheimen operierende Nihilismus kens: „die ewige Wiederkunft des Gleichen“ (NL 1880–1882, KSA 9, 11[141], 494). In einer Postkarte an seinen Freund Overbeck bezeichnet sich Nietzsche einmal treffend als eine „‚Spaziergehe-Existenz‘“ (zit. nach Stegmaier 2011, 46). 4 Diese Einteilung ist natürlich nicht in Stein gemeißelt. Für Richard Rorty z. B. ist Metaphysik der Kanon von Platon bis Kant. Zumindest im jungen Hegel der Phänomenologie des Geistes erkennt der amerikanische Philosoph keinen Metaphysiker, sondern viel eher einen maßgeblichen Vertreter der ironistischen Theorie (vgl. Rorty 1992[1989], Kapitel 4 und 5, v. a. 136, 170). Unter diesem Gesichtspunkt fällt er bei Rorty in dieselbe Rubrik von Denkern wie Nietzsche und Heidegger. Dessen ungeachtet dürfte kein Zweifel darüber bestehen, dass Hegel aus Nietzsches Sicht ein Metaphysiker ist, den es zu attackieren gilt.

4   

   Einleitung

tritt aus dem Schatten ins Licht. Nietzsches Parabel vom tollen Menschen (FW 125),⁵ der die Botschaft von Gottes Tod überbringt, ist Ausdruck ebenjener Erschütterung. Dass die Parabel auch heute noch die Leser in ihren Bann zu ziehen weiß, hat aber weniger existenzielle als ästhetische Gründe. Das säkulare Zeitalter hat ihr scheinbar den „existenziellen Zahn“ gezogen: Heute liest man mit Wehmut fast Nietzsches Geschichte vom tollen Menschen, der auszog, Gott zu suchen. Welche Poesie in diesem Stück voll Rührung und Dramatik. Wie weit liegt das zurück – die hundert Jahre, die das her ist, sind zu einer Mauer gewachsen. Eine Klagemauer von der Rückseite, von uns her eine Abschottung. Wir stehen diesseits, die Leere hat ihren Charme verloren, die Öde ist flach und grenzenlos, wir stochern gelangweilt in der Langeweile. Die Suche nach dem verlorenen Gott ist historisch geworden. Wir haben uns daran gewöhnt, daß es ihn nicht gibt. (Hillebrand 1991, 56f.)

Auch wenn die Nachricht vom Tode Gottes den heutigen Menschen nicht mehr erschreckt oder derart aufschreckt, dass er sich alsobald wie der tolle Mensch aufmachen würde, um Gott zu suchen  – Nietzsches Prophezeiung ist deswegen nicht sogleich verfehlt. Gerade das Gegenteil ist richtig: Wir leben heute tatsächlich in einem Zeitalter des Nihilismus. Gottes Tod, der für so viele Menschen unserer säkularisierten Gesellschaft ein Faktum darstellt, hat ein Sinnvakuum hinterlassen. Statt sich diesem bewusst zu stellen, flüchten sich die Menschen vor der Ziellosigkeit ihres Daseins jedoch lieber in eine „lärmende ‚Erlebnis’-Trunkenboldigkeit“, wie Heidegger feststellt. „Die Angst vor dem Seyn war noch nie so groß wie heute“, schreibt der bislang berühmteste Interpret Nietzsches bereits in den 1930er Jahren in seinen Beiträgen zur Philosophie (Heidegger 1989[1936–1938], 139) – und sie ist heute, in Zeiten der globalen Wirtschaftskrisen, der Atomkatastrophen, des ein „Ungleichgewicht des Schreckens“ installierenden globalen Terrorismus, der Pandemien, des Klimawandels und anderer moderner Bedrängnisse gewiss nicht kleiner geworden.⁶

1.2 Ist Nietzsche ein Nihilist? Keine andere Frage treibt Nietzsche so sehr um wie die Seinsfrage. Er hat, so meine These zur Stellung des Problems des Nihilismus in Nietzsches Werk, obschon sein Werk thematisch äußert facettenreich ist, recht eigentlich immer nur diese eine Frage auf 5 Ich werde mich noch eingehend mit dieser Parabel auseinandersetzen (vgl. Kapitel VI). 6 Vgl. dazu und zur modernen Verwaltung der Angst durch die Politik sowie zur Verbreitung der Angst durch die Medien Virilio 2011, der auch vom Ungleichgewicht des Schreckens spricht, worunter er „die dem einzelnen Individuum gegebene Möglichkeit, genauso viel Schaden anzurichten wie die absolute Waffe“ (Virilio 2011, 28), versteht. Man beachte auch die Erfahrungen der modernen Psychotherapie. So erkennt Viktor E. Frankl im Leiden an der Sinnlosigkeit die Krankheit der Moderne. Er spricht von der „seuchenartig um sich greifenden Krankheit des Jahrhunderts“ (Frankl 1985[1981], 12).

Ist Nietzsche ein Nihilist?   

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dem Herzen und variiert bzw. spitzt sie in seinen Schriften fortwährend zu.⁷ Schon in seinem Erstling, der Geburt der Tragödie, fragt er, indem er an seinen Lehrer Schopenhauer anknüpft, ob es, so wie das Leben sich möglichst nüchtern betrachtet darstellt, besser ist zu sein als nicht zu sein. Und obwohl Nietzsche Schopenhauer darin beipflichtet, dass das Leben im Kern agonal ist und demgemäß fortwährend Leid produziert, fällt seine Entscheidung grundverschieden zu der seines Lehrers aus. Während Schopenhauer mit Nachdruck für das Nichtsein votiert, wirft sich Nietzsche mit aller Vehemenz auf die Seite des Seins – der Schüler grenzt sich radikal von seinem Lehrer ab. Nietzsche hält zeit seines (bewussten) Lebens an dieser grundlegenden Entscheidung fest. Immer wieder macht er sich daran, sie zu begründen. Im Letzten geht es ihm stets um eine Rechtfertigung des Daseins. Wenn man seine Schriften liest, drängt sich einem leicht der Eindruck auf, es handele sich um Produkte nicht nur einer immensen Denk-, sondern auch einer ungeheueren Willensanstrengung: Nietzsche will unbedingt am Dasein festhalten, er will die Welt nicht fallen lassen, koste es, was es wolle. Dabei geht er schließlich soweit, das bloße Stellen der Seinsfrage als Hamlet-Frage im obigen Sinne rundheraus zu verwerfen, indem er sie als krankhaft diskreditiert. Einzig wer danach fragt, wie das Dasein sich rechtfertigen lässt, ist auf der richtigen Spur. Wer dagegen grundlegender ansetzt und fragt, ob es sich überhaupt rechtfertigen lasse, ist eo ipso auf dem Holzweg. Gleichviel, ob er bei der Beantwortung seiner Frage nun zu einem positiven oder negativen Ergebnis kommt, er hat sich in Nietzsches Augen längst schon als Nihilist erwiesen: Man hat nicht begriffen, was doch mit Händen zu greifen: daß Pessimismus kein Problem, sondern ein Symptom ist, – daß der Name ersetzt werden durch Ni h i l i s mu s,  – daß die Frage, ob Nicht-sein besser ist als Sein, selbst schon eine Krankheit, ein Niedergang, eine Idiosynkrasie ist… (NL 1887–1889, KSA 13, 17[8], 529)⁸

7 In der Geburt der Tragödie versucht er sich an einer (ästhetischen) Rechtfertigung der Welt und des Daseins, während es ihm später immer mehr um das Dasein des einzelnen Menschen zu tun ist, den er dazu anhält, ausdrücklich sein eigenes individuelles Leben zu bejahen. 8 Zu Nietzsches Abkanzelung des Pessimismus bzw. Nihilismus als krank vgl. auch NL 1887–1889, KSA 13, 15[34], 429. An dieser Stelle tut ein Wort zum Verhältnis „Pessimismus/Nihilismus“ bei Nietzsche not, zumal ich in der vorliegenden Studie nicht trennscharf zwischen dem Pessimismus und dem Nihilismus unterscheide. Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang Tobias Dahlkvists Studie Nietzsche and the Philosophy of Pessimism, die Nietzsches Auseinandersetzung mit der Tradition des philosophischen Pessimismus (Schopenhauer, Hartmann, Leopardi) beleuchtet. Das große Fragmal der Pessimisten ist, wie Dahlkvist geltend macht, die Rechtfertigung des Lebens, wohingegen die spezifisch nihilistische Frage auf den Sinn des Lebens zielt. Bei der Rechtfertigung des Lebens geht es in erster Linie um den Wert des Lebens. Dieser Wert wird sorgsam erwogen, ja beinahe berechnet. Die Pessimisten sind sonach eher Theoretiker, die an der Errichtung eines kohärenten philosophischen Systems interessiert sind als an den praktischen Konsequenzen ihrer pessimistischen Theorie. Nietzsche dagegen interessiert sich weit mehr für die existenzielle Bedeutung des Pessimismus: „[H]e regards the practical aspect of pessimism as the true problem“ (Dahlkvist 2007, 220). Angesichts dessen verwundert es nicht, dass Nietzsche in seiner Denkentwicklung mehr und mehr von der Wertfrage abrückt, um sich der Sinnfrage und eo ipso dem Nihilismus zuzuwenden. Diese Bewegung

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Bemerkenswerterweise wird nun gerade diesem so entschlossen für das Sein bzw. für das Dasein einspringenden Denker Friedrich Nietzsche häufig das Etikett „Nihilist“ angeheftet. Das mag zum einen daher rühren, dass Nietzsche den Nihilismus überhaupt und zudem auch noch so ausgiebig thematisiert. Der Nihilismus erhält bei und durch Nietzsche allererst den Rang eines philosophischen Hauptthemas.⁹ Zum anderen wird es aber ganz gewiss daran liegen, dass Nietzsches Philosophie, wie bereits berührt, eine äußerst destruktive Seite hat. Nicht zu Unrecht hat ihn Eckhard Heftrich (2000, 60) einmal als ein „Genie des Neinsagens“ bezeichnet. Alte Glaubenssätze und Überzeugungen, insbesondere moralischer Natur, werden von ihm radikal negiert – er „nichtet“ fortwährend, wenn man so sagen darf. Nun macht man es sich, wie schon aus dem oben Gesagten hervorgeht, allerdings zu leicht, wenn man Nietzsche deswegen zum Nihilisten stempelt. Es ist zwar richtig, dass kaum ein anderer Denker soviel „philosophisches Porzellan“ zerschlagen hat wie er; aber Nietzsche zerstört nicht um der Zerstörung willen, zerschlägt altgediente Sinnstiftungsfiguren nicht aus purer Zerstörungslust bzw. aus reinem Nihilismus. Nein, wirklich destruiert er, um Platz für die Setzung eines neuen Sinns zu schaffen. Nicht altgedientem, sondern viel eher ausgedientem Sinn  – so sieht wenigstens Nietzsche die Sache  – rückt er zu Leibe. Mithin philosophiert Nietzsche gerade nicht im Namen des Nichts so wie etwa der Werwolf Gmorg aus Michael Endes Unendlicher Geschichte im Auftrag des Nichts handelt. Nietzsches Denkanstrengungen gründen ganz im Gegenteil im festen Willen, den Nihilismus zu überwinden. So gesehen ist Nietzsche also genauso wenig ein Nihilist wie René Descartes ein Skeptiker. Und wie der französische Rationalist meint auch der deutsche Denker, dem alle philosophischen Ausschilderungen nicht so recht passen wollen, mit seiner radikalen Methode, die, kurz gesagt, darin besteht, den Teufel gleichsam mit dem Beelzebub auszutreiben, erfolgreich gewesen zu sein. Tatsächlich sagt Nietzsche über sich selbst, er sei „der erste vollkommene

ist jedoch fließend und alles andere als ein Bruch. Bereits der frühe Nietzsche, der in der Geburt der Tragödie die pessimistische Rechtfertigungsfrage stellt, zeigt sich existenziell involviert. Schließlich erkennt Nietzsche im Pessimismus „a form of nihilism rather than a problem in its own right“ (Dahlkvist 2007, 222, vgl. auch 230). Von daher kann auf besagte Demarkation zwischen Pessimismus und Nihilismus, wie ich meine, durchaus verzichtet werden. Vgl. hierzu außerdem Stegmaier 2012, 204f.: „Wie Nietzsche Pessimismus und Nihilismus zueinander ins Verhältnis setzt, ist nicht ganz klar. Er scheint sich, wie seine Notate ausweisen, selbst darüber lange nicht im Klaren gewesen zu sein. So kann er vor dem V. Buch der FW beide zusammen nennen (…). Nach dem V. Buch der FW scheint sich für ihn[Nietzsche – E.B.] herauszuschälen, dass Nihilismus die logische Konsequenz des Pessimsmus ist (…), der Unterschied also im Grad der Einsicht liegt: Ist Pessimismus die Wertung der Welt als unwert, in ihr zu leben, so Nihilismus die Einsicht, dass es mit den Werten, nach denen man hier gewertet und die man bisher so hoch verehrt hat, nichts (‚nihil‘) auf sich hat (…).“ 9 Zum Nihilismus vor Nietzsche vgl. Arendt 1970, Hillebrand 1991, Gillespie 1995, Vercellone 1998, Marmysz 2003 sowie Düsing 2007. Wie Karl Jaspers richtig festgestellt hat, ist der Nihilismus zwar so alt wie die Philosophie (vgl. Jaspers 1974[1948], 129). Allein „[z]u seiner wesentlichen philosophischen Bedeutung ist der Begriff des Nihilismus jedenfalls (…) erst durch Nietzsche gekommen“ (Weischedel 1983[1972], Bd. 2, 160).

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Nihilist Europas, der aber den Nihilismus selbst schon in sich zu Ende gelebt hat, – der ihn hinter sich, unter sich, außer sich hat…“ (NL 1887–1889, KSA 13, 11[411], 190).¹⁰ Die bisherigen Ausführungen legen nahe, dass das Etikett „Nihilist“ zu Nietzsche eigentlich nicht passt. Eine andere Sichtweise wiederum gibt der Bezeichnung doch ein gewisses Recht. Denn während Nietzsche das weite Feld des Nihilismus durchmisst, scheut er sich nicht, die äußersten nihilistischen Konsequenzen zu ziehen. Folgerichtig lässt er kaum noch einen Stein auf dem anderen der altehrwürdigen metaphysischen Lehrgebäude stehen. Sogar das für zweifelsresistent gehaltene denkende Ich, Descartes’ Fundamentum inconcussum veritatis, darauf sich etwas wahrhaft Sicheres in den Wissenschaften aufbauen lassen sollte, ist für Nietzsche nichts weiter als eine Chimäre. Es ist seinem sezierenden Blick genauso zum Opfer gefallen wie die sakrosankte Vorstellung, es gebe eine absolute Wahrheit. Nietzsche hat, um sein gelobtes Land zu finden, d. h. den von Nihilismus unverseuchten Boden, alle Brücken abgebrochen. Er hat sich, um mich einer von ihm selber gern gebrauchten Metapher zu bedienen, auf das weite Meer begeben, wo aller „Boden“ nur mehr schwankend ist. Wo die Brücken abgebrochen sind, ist eine Rückkehr ausgeschlossen. Sollte es sich nun herausstellen, dass Nietzsches Überwindungsversuche des Nihilismus scheitern, dann bleibt von seinem Werk nur die destruktive Seite. Der „erste vollkommene Nihilist Europas“ hätte uns dann in die Untiefen des Nihilismus (mit)hineingezogen, ohne uns aber zu zeigen, wie man sich diesem Sog wieder entziehen kann. Wer seinen Weg mitgegangen ist, d. h. wer gleich ihm die alten Brücken verbrannt hat, der muss jetzt eben sehen, wie er sich an den eigenen Haaren wieder aus dem Sumpf herauszieht. In dieser Perspektive ist es also durchaus richtig, Nietzsche als Nihilisten zu bezeichnen, wenn anders der Diagnostiker und vermeintliche Überwinder des Nihilismus wider Willen zu dessen „Mitvollstrecker“ (Jünger 2001[1950], 274) geworden ist.

1.3 Nihilismus, was ist das überhaupt? Dem von mir soeben gewählten Ansatz, sich Nietzsche über die Frage zu nähern, ob er nun Nihilist sei oder nicht, haftet, streng genommen, ein methodischer Fehler an. Er besteht darin, eine Diskussion darüber zu beginnen, ob eine bestimmte Bezeichnung auf eine bestimmte Person zutrifft, ohne die Bezeichnung vorher definiert zu haben. Diesen Fehler habe ich allerdings bewusst begangen, weil ich damit auf einen im Nihilismus-Diskurs weit verbreiteten Missstand aufmerksam machen will. Die hier gewählte – freundlich ausgedrückt – eher unphilosophische Vorgehensweise ist

10 Nebenbei bemerkt: Eine Anwendung dieses Satzes auf Descartes scheint mir dessen Selbstverständnis ebenfalls treffend wiederzugeben. Descartes würde dann von sich behaupten, der erste radikale Zweifler Europas zu sein, der den Skeptizismus in sich selbst schon zu Ende gedacht hat, und indem er dabei auf sich selbst, genauer: auf das Cogito gestoßen ist, auch schon überwunden hat.

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nämlich nur allzu typisch für Diskussionen, in denen es um den Nihilismus geht. Der Begriff „Nihilismus“ gehört zu jener Gruppe von Termini, die in der Regel wie selbstverständlich in Anwendung gebracht werden, ohne dass man sich dabei aber darüber klar wäre, was sie eigentlich genau bedeuten. So ungefähr weiß man es dagegen schon; ungefähr genug sogar, um, auch ohne Definition, erste Überlegungen darüber anstellen zu können, ob Nietzsche ein Nihilist ist oder nicht, und dennoch nicht automatisch wie der Blinde von der Farbe zu reden.¹¹ Das liegt daran, dass „[i] m alltäglichen Sprachgebrauch  (…) gemeinhin ein Konsens darüber[besteht], was gemeint ist, wenn von Nihilismus – und seinen verwandten Bildungen wie Sinnverlust, Sinnvakuum oder Sinndefizit – die Rede ist“. Tatsächlich ist „der Begriff (…) historisch geworden“, jedoch – und das ist die Krux an der Sache – „ohne dass er sich als festumrissener Terminus allgemeingültig bestimmen ließe“ (Gómez-Montero 1998, 7). Diese Diagnose wird durch einen Blick in einschlägige philosophische Lexika untermauert und sogar noch verschärft; denn beim Nihilismus handelt es sich um einen Begriff, der längst einen philosophischen Diskurs begründet hat, dabei allerdings, wie gesagt, selbst nicht zufriedenstellend definiert wurde. So heißt es im Historischen Wörterbuch der Philosophie: „Der Begriff Nihilismus wurde im Laufe seiner Geschichte für zum Teil sehr verschiedenartige philosophische Standpunkte und Richtungen verwendet (…)“ (Müller-Lauter 1984, 846). Diese Feststellung ist so richtig wie verwirrend. Auch die englische Routledge Encyclopedia of Philosophy bestätigt den Mangel an Kontur des in Rede stehenden Begriffs, indem sie zwischen allerlei verschiedenen Bedeutungsebenen des Nihilismus unterscheidet. Nihilismus ist der Definition der Encyclopedia zufolge cum grano salis alles und nichts, solange es nur mit dem Nichts bzw. dem Akt des Nichtens zu tun hat: „As its name implies (from latin nihil, ‚nothing‘) philosophical nihilism is a philosophy of negation, rejection or denial of some or all aspects of thought or life“ (Crosby 1998, 1).¹² Demzufolge gibt es den Nihilismus nicht. Wohl aber gibt es eine ungeheure Spannweite von Nihilismen, eine „verwirrende Fülle“ (Große 2005, 99),¹³ die vom metaphysischen Solipsismus auf

11 Immer wieder wird vom Nihilismus selbst innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses ohne begriffliche Schärfe gesprochen, so als sei im Vorhinein klar, was gemeint ist. Zu diesem Ergebnis kommt auch Marmysz 2003, 1: „The term has come to be used as a popular expression of ridicule or insult, though it is, even in scholary literature, often utilized without much precision.“ Insofern hinter dem Nihilismus aber eine eigene Geschichte voller profunder philosophischer Ideen steht, ist dieser unbedarfte Gebrauch besonders ärgerlich. 12 Ähnlich Rauschning 1954, 10: „Was ist Nihilismus? Das Wort Nihilismus gehört zu den meist gebrauchten und mißbrauchten Ausdrücken der Gegenwart. Nicht alles ist Nihilismus, was unter dieser Bezeichnung geht und zugleich ist er unerkannt viel weiter verbreitet und viel tiefer verwurzelt, als der Wortgebrauch vermuten läßt. Das Wort stammt aus der lateinischen Sprache, aus dem Ausdruck für ‚nichts‘ nihil. Es soll demnach ein Zustand, eine Bestrebung bezeichnet werden, wo das ‚Nichts‘, das Fehlen eines Etwas, oder die Beseitigung von Etwas im Mittelpunkt steht.“ 13 In sachlicher Übereinstimmung mit Crosbys obiger Definition erklärt Jürgen Große die „verwirrende Fülle“ wie folgt: „‚Nihilismus‘ kann offensichtlich sowohl Erfahrungen und Theorien des ‚Nichts‘

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der einen bis zum Pessimismus auf der anderen Seite reicht. Während eine Philosophie, die wie der metaphysische Solipsismus die Existenz der Außenwelt bestreitet und also in diesem Sinne ihr Nihil ausspricht, sich gar nicht um den Sinn des Lebens schert, mithin um jenes Problemfeld, das man gemeinhin sofort mit dem Nihilismus konnotiert, ist mit der Bestreitung des Sinns des Lebens das entscheidende Nihil des Pessimismus gefunden. Wilhelm Weischedel hat in seinem Hauptwerk Der Gott der Philosophen zwei Grundtypen von Nihilismus ausgemacht, für die der metaphysische Solipsismus und der Pessimismus jeweils Paradebeispiele darstellen. Weischedel differenziert zwischen einem ontologischen und einem noologischen Nihilismus. Beim Erstgenannten, den er am Beispiel der Ich-Philosophie Fichtes aufhängt, laufe alles „auf eine völlige Leugnung aller Wirklichkeit hinaus. Alles hat seine Realität nur im Ich“ (Weischedel 1983[1972], Bd. 2, 163). Wirklich radikal wird der ontologische Nihilismus aber erst dann, wenn auch dieses Ich sich selbst noch entgleitet. Fichte selbst hat darauf hingewiesen, dass dies die Konsequenz (s)einer Philosophie ist, die sich ausschließlich auf das Faktum des Selbstbewusstseins gründet. Dazu Weischedel: Aber das Ich selber, wenn es sich fassen will, entzieht sich seinem eigenen Zugriff und wird ein leeres Kreisen in sich selbst, nichtig und weder einer Welt noch seiner selbst gewiß. Es ist zusammen mit der Welt, – nichts. (Weischedel 1983[1972], Bd. 2, 163)

Der noologische Nihilismus entspricht dagegen eher dem, was man im allgemeinen Verständnis mit dem Wort „Nihilismus“ verbindet, denn sein Wesensmerkmal ist die Leugnung jedes Sinns und die Behauptung der absoluten Sinnlosigkeit. Weischedel fügt dieser Wesensbestimmung – was überaus wichtig ist – hinzu, dass der noologische Nihilismus als (gefährliche) Möglichkeit vor jedem Menschen auftauchen müsse, der einmal ernstlich über den Sinn des Daseins nachgedacht habe: Die Versuchung, diese Position einzunehmen, taucht in mehr oder minder hoher Bewußtheit als äußerste Möglichkeit vor jedem auf, der einmal über den Sinn des Daseins nachgedacht hat. Denn im Problem des noologischen Nihilismus geht es um die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer sinnhaften Existenz bis in die konkreten Bezüge des Lebens hinein. (Weischedel 1983[1972], Bd. 2, 164)

Um diese Form des Nihilismus, die man mit einigem Recht auch existenziellen Nihilismus nennen könnte, ist es Nietzsche insbesondere zu tun. Zwar betritt Nietzsche gerade dann, wenn er erkenntnistheoretische Fragen berührt, auch das Feld des ontologischen Nihilismus. Indessen strahlen die dort gemachten Entdeckungen oder Entbergungen bei Nietzsche immer gleich wieder in den Bereich der existenziellen Sphäre bzw. des existenziellen Nihilismus zurück.  – Überhaupt verlaufen die Grenzen zwischen den beiden Grundformen des Nihilismus mitunter fließend.

umschließen als auch ‚Vernichtung‘ bzw. ‚Nichtung‘ als dessen Wirkungs- und Erscheinungsweise“ (Große 2005, 99).

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1.4 Ziel und Gang der Studie Ich will mich in meiner Studie darum bemühen, den Grund oder die Wurzel jeglicher Form von noologischem Nihilismus freizulegen. Um es vorneweg zu sagen: Diese Wurzel liegt, so meine generelle These zum Nihilismus, in uns als Menschen selbst. Sie ist unsere Selbsthaftigkeit. Insofern wir uns wesensgemäß zu uns selbst verhalten, taucht der Nihilismus, wie Weischedel richtig sieht, als die äußerste Möglichkeit des selbstbezüglichen (bzw. des Selbst-bezüglichen) Verhaltens notwendigerweise vor uns auf. Das bedeutet freilich nicht, dass wir ipso facto Nihilisten werden müssen. Sehr wohl können wir es aber allezeit werden. Wir sind als Menschen prinzipiell vom Nihilismus angefochten. Meine These zum Nihilismus bei Nietzsche im Speziellen besagt, dass sich die generelle These durch einen Blick auf Nietzsches Anthropologie erhärten lässt. Obschon Nietzsche den Nihilismus in seinem Werk vorzugsweise als geschichtlich-kulturelles Phänomen darstellt (Stichwort: „europäischer Nihilismus“), kann man bei ihm lernen, dass damit nur eine Seite bzw. die Oberfläche des Nihilismus berührt ist.¹⁴ Ebendies macht Nietzsche zum nach wie vor herausragenden Denker des Nihilismus: Er zeigt, sowohl dass und inwiefern die Natur des Menschen immer schon vom Nihilismus berührt ist, als auch wie der Nihilismus sich als geschichtliches Phänomen und zudem als Sache nicht nur des Einzelnen, sondern einer ganzen Kultur entfaltet. Ich will in meiner Untersuchung erhellen, wie beide Seiten des Nihilismus, die fundamentale und die geschichtlich-kulturelle, bei Nietzsche zu ihrem Recht kommen. Insofern man im Nachvollzug der Überlegungen Nietzsches die kulturelle Dimension des Nihilismus durchstößt und bis zu dessen im Menschen selber wurzelnden Grund gelangt, darf Nietzsche als der buchstäbliche Durch-denker des Nihilismus gelten. An diesen Punkt gelange ich allerdings erst im achten Kapitel (Selbsthaftigkeit als Grund des Nihilismus). Zuvor werde ich – während und indem ich Nietzsches große Themen abschreite: die Tragödie und den tragischen Grund unserer Existenz (Kapitel III), den Sokratismus und die Dekadenz (Kapitel IV), das Christentum und das aske-

14 Wenn der Nihilismus aber tatsächlich als Möglichkeit zur Natur des Menschen gehört, dann wäre auch die Diskussion darüber entschieden, ob er nur eine geschichtliche Phase bzw. ein kulturelles (westliches) Phänomen sei, wie etwa Goudsbloum 1980 oder Gillespie 1995 behaupten, oder ob ihm nicht auch eine universale Bedeutung zukomme, ob er vielleicht sogar eine universale Bedrohung darstelle, wie z. B. Rosen 2000 meint. Zu dieser Diskussion siehe Marmysz 2003, 1–11. John Marmysz ist seinerseits ein Anhänger der Universalismusthese: „It is, in fact, a perennial concern and a source of anxiety that had an influence upon human life and thought throughout history“ (Marmysz 2003, 1). Und: „Nihilism (…) constitutes a predicament lying at the very heart of the human condition. The entire fabric of human existence is woven through with a particular pattern of ontological, epistemological, existential, ethical, and political nihilistic threads“. Anders als Stanley Rosen sieht Marmysz jedoch im Nihilismus nicht in erster Linie eine Gefahr, sondern begreift ihn potenziell als eine transformierende Kraft: „(…) the unpleasantness of nihilism is a potentially useful spur toward unending change, progress, and spiritual development“ (Marmysz 2003, 11).

Ziel und Gang der Studie   

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tische Ideal (Kapitel V) sowie den Tod Gottes und seine Folgen (Kapitel VI) – meine Eingangsthese plausibilisieren, wonach der Nihilismus, wenn auch nicht in terminologischer Hinsicht, so doch der Sache nach, immer schon der neuralgische Punkt von Nietzsches Philosophie gewesen ist. Der Begriff „Nihilismus“ spielt bei Nietzsche erst in den 1880er Jahren eine zentrale Rolle. Mit ihm hat Nietzsche endlich auch einen entsprechenden Terminus für sein Kardinalproblem gefunden. Diese Diagnose bestätigt sich auch im neunten Kapitel vorliegender Arbeit, das der Überwindung des Nihilismus gewidmet ist. Hier wird offenbar, dass Nietzsches Bemühungen, sein Kardinalproblem verstehend zu durchdringen, dass seine Neuerzählung der Geschichte des Abendlandes als Geschichte des europäischen Nihilismus letztlich einem großen Ziel unterstehen, nämlich Herr zu werden über den Nihilismus. Der Amor fati erweist sich dabei als die antinihilstische Formel schlechthin. Im Abschlusskapitel (X) spüre ich dem Nihilismus heute nach. Er scheint mir gegenwärtig insbesondere in Gestalt einer tiefgreifenden Erschöpfung anwesend zu sein. Augenscheinlich unterhalten der Nihilismus und die heute viel diskutierte Depression ein mindestens nachbarschaftliches Verhältnis. Die Depression bzw. der Erschöpfungsnihilismus bedeuten das Versiegen der schöpferischen Kraft des Menschen. Darum stellen sie in nietzscheanischer Sicht verheerdende Formen des Nihilismus dar. Endlich muss noch das siebte Kapitel angesprochen werden, in dem es um eine Typologie des Nihilismus geht. Nietzsche hat in seinen Notaten Ansätze zu einer solchen Klassifizierung verschiedener Formen von Nihilismus entworfen. Er spricht darin vom vollkommenen und unvollständigen, vom aktiven und passiven Nihilismus und erwähnt einige Typen mehr, die sich zum Teil in materialer Hinsicht überschneiden. Eine fertige Typologie hat er indes nicht vorgelegt. Ich habe mich daran versucht, auf der Basis einschlägiger Notate, etwas mehr Licht in das Dunkel zu bringen, das die Skizzen des Philosophen fraglos aufwerfen, und eine nietzscheanische Typologie des Nihilismus gezeichnet. Alles in allem hoffe ich durch meine Studie einen Beitrag zum weiteren Verständnis der Philosophie Friedrich Nietzsches wie auch zum Verständnis des so schwer zu greifenden Phänomens „Nihilismus“ zu leisten. Bevor ich aber in medias res gehe, d. h., bevor ich eine werkgenetische Untersuchung von Nietzsches Philosophie am Leitfaden der Nihilismus-Problematik beginne, sei ein Blick auf die Rezeption von Nietzsches Denken im Zeichen des Nihilismus geworfen.

Kapitel II Nietzsche als Denker des Nihilismus – zur Rezeption Unwillkürlich sehe ich jetzt, daß es für mich keine Grenze der Nietzsche-Anwendung geben konnte. Aber das weiß jeder, der ihn dauerhaft liest, daß Nietzsche von nichts unberührt blieb. (Martin Walser: Nietzsche lebenslänglich)¹⁵

Die Zahl der Studien, die sich Nietzsches Werk widmen, ist Legion. Über kaum einen anderen Philosophen dürfte in den letzten Jahrzehnten so viel geschrieben worden sein wie über ihn. Diese unerhörte Aufmerksamkeit hat sich Nietzsche allerdings auch redlich verdient, denn er „hat wie kein anderer vor ihm Schwierigkeiten formuliert, vor denen das philosophische Denken heute steht, und zugleich Perspektiven eröffnet, Beschreibungsmöglichkeiten der Welt und des Lebens entworfen, die für die Zeit nach ihm bestimmend geworden sind“. Auf diese Weise ist Nietzsche, obschon bereits im Jahr 1900 gestorben, vielleicht „der wichtigste Denker des zwanzigsten Jahrhunderts geworden“ (Figal 1999, 9). Insofern also die Gestalt heutiger Philosophie ohne ihn schlechterdings nicht verstanden werden kann, gebührt ihm innerhalb der Philosophiegeschichte der Rang eines Klassikers. Womöglich ist er sogar der „moderne Klassiker par excellence“ (Gerhardt 1999, 9). Gründe für eine Beschäftigung mit dem heute wohl „meistgelesene[n] deutsche[n] Philosoph[en]“ (Schönherr-Mann 2008, 7) gibt es somit viele  – und die gut begründete Beschäftigung hat reichliche Früchte getragen. Neben zahlreichen Einführungen und Gesamtinterpretationen hat die Nietzsche-Forschung eine namenlose Menge von Spezialuntersuchungen vorgelegt. Jeder Nietzsche-Interpret steht somit – wie jeder Interpret eines viel Interpretierten – zunächst einmal vor der schwierigen Aufgabe, sich innerhalb dieses Labyrinthes aus Texten zurechtzufinden. Insofern der Nihilismus bei Nietzsche, wie in der Einleitung dargestellt, eine so große Rolle spielt, ist es nur natürlich, dass er innerhalb der Nietzsche-Forschung große Beachtung gefunden hat. Dabei steht der Nihilismus nicht allein im Brennpunkt von Spezialuntersuchungen, sondern wird überdies in einer ganzen Reihe von Einführungsschriften in Nietzsches Philosophie durch ein eigenes Kapitel gewürdigt. Hinzu kommt, dass keine Abhandlung, die ihren Blick über Nietzsche hinausgehend dem Nihilismus generell als eines Gegenstandes von philosophiehistorischer Relevanz zuwendet, am berühmt-berüchtigten Verkünder der unheiligen Botschaft von Gottes Tod vorbeikommt. Im vorliegenden Kapitel zur Rezeption Nietzsches als Denker des Nihilismus verfolge ich das Ziel, zumindest eine Grundorientierung zu schaffen, indem ich einige Schneisen in das aus dieser verwirrenden Fülle von Texten gewobene Dickicht des Forschungsfeldes „Nietzsches Philosophie des Nihilismus“ schlage. Hierbei unter-

15 Walser 2012[2010], 1.

Jaspers, Heidegger, Nishitani und Camus   

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scheide ich zwischen den Beiträgen solcher Denker, die primär weniger als NietzscheForscher denn als solche Philosophen in Erscheinung getreten sind, deren Philosophie selber Gegenstand zum Teil extensiver Forschung geworden ist (gemeint sind also Klassiker der jüngeren Philosophiegeschichte) auf der einen und der NietzscheForschung im engeren Sinne auf der anderen Seite. Während jenen das Verdienst gebührt, die Nietzsche-Forschung entscheidend angeschoben zu haben, darf sich diese hoch anrechnen lassen, nicht nur ein wichtiges Erbe fortgeführt, sondern auch auf Fehler und Einseitigkeiten ihrer berühmten Ahnen in der Auslegung von Nietzsches Denken hingewiesen zu haben.

2.1 Nietzsches Philosophie des Nihilismus in den Augen von Karl Jaspers, Martin Heidegger, Keiji Nishitani und Albert Camus¹⁶ (A) Jaspers: Karl Jaspers’ Existenzphilosophie verdankt Nietzsche viel; eine Rechnung, die ersterer beglichen hat, indem er sich mit letzterem eigens in gleich zwei Monografien befasst.¹⁷ Im jasperschen Spiegel erscheint Nietzsche als ein Philosoph, der auf radikale Weise mit „unterschiedlichen Möglichkeiten der Existenz“ (Agell 2006, 40) experimentiert, als ein Existenzphilosoph avant la lettre also. Dabei präsentiert Jaspers Nietzsche nicht allein als den radikalen Umstürzler, als welcher er sich innerhalb der Philosophiegeschichte einen Namen gemacht hat, sondern zugleich als einen der wichtigsten Bewahrer des originären Geistes der Philosophie. Deren Ursprung verortet Jaspers ganz traditionell in einer Art Erwachen des Menschen, der 16 Gut möglich, dass manch einer in diesem Kreise Karl Löwith und Gianni Vattimo vermissen wird. Beide Denker haben wichtige Nietzsche-Interpretationen vorgelegt, in denen der Nihilismus jeweils eine entscheidende Rolle spielt. Um den Umfang des Rezeptionskapitels nicht zu überdehnen, musste ich mich jedoch beschränken. Insgesamt habe ich mich eher für existenzielle Ansätze entschieden, wie sie bei Jaspers, Nishitani und Camus vorliegen. Heideggers seinsgeschichtliche NietzscheAuslegung ist zwar nicht existenziell orientiert, kann jedoch als die wichtigste und einflussreichste Nietzsche-Deutung überhaupt nicht ignoriert werden. Eine gute Zusammenfassung von Löwiths eher geschichtsphilosophisch orientierter Nietzsche-Nihilismus-Deutung bietet Agell 2006, 42–45. Erhellend in Sachen Vattimos eher politisch ausgerichteter Nietzsche-Nihilismus-Interpretation ist van Tongeren 2012, 162–170. 17 1936 veröffentlicht Jaspers seine umfangreiche Studie Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens. Wenig später (1938) lässt er die kleinere Schrift Nietzsche und das Christentum folgen. Vor allem die große Monografie von 1936 darf als ein Meilenstein der Nietzsche-Forschung bezeichnet werden. Eine derart fachkundige Interpretation, die versucht, Nietzsches gesamten Denkhorizont einzufangen und dabei in extensiver Weise auf Nietzsches Schrifttum zurückgreift, hatte es vorher nicht gegeben: „Nicht wenige Eigenschaften dieses Erschließungsversuches würden bestätigen, daß die Interpretation von Karl Jaspers wohl den bis dahin anspruchsvollsten Versuch einer genuin philosophischen (oder was angesichts der tatsächlich verlaufenen Nietzsche-Rezeption noch viel gewichtiger ist, einer genuin ‚fachphilosophischen‘) Nietzsche-Deutung überhaupt darstellt. Dafür spricht, daß im Prinzip Nietzsches sämtliche wesentlichen Denkperspektiven mit einer bis dahin unbekannt intensiven Mobilisierung der Nietzsche-Texte rekonstruiert werden“ (Kiss 1998, 155).

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   Nietzsche als Denker des Nihilismus – zur Rezeption

aufhört, die Welt und sich selbst (sein Dasein bzw. sein In-der-Welt-Sein) für selbstverständlich zu nehmen. Die Quelle „des Philosophierens liegt im Verwundern, im Zweifel, im Bewußtsein von Verlorenheit“ – jedenfalls „beginnt es mit einer den Menschen ergreifenden Erschütterung und immer sucht es aus dieser Betroffenheit heraus ein Ziel“ (Jaspers 1989[1953], 21). Jaspers hebt also die existenzielle Betroffenheit sowie „das persönliche Engagement als Spezifik[a] des philosophischen Denkens“ (Salamun 2006, 21) hervor. Mit ihnen hebt das Philosophieren je an,¹⁸ ganz gleich, an welchem geschichtlichen Ort der jeweils Philosophierende steht. Aus diesem Grund kann Jaspers von einer Philosophia perennis sprechen, in welcher Nietzsche, gemeinsam mit Kierkegaard, einen überaus wichtigen Platz einnimmt, nämlich den eines progressiven Bewahrers des Ursprünglichen. Nietzsche ist, mit anderen Worten, ein Denker, der das Alte aufnimmt und fortführt, wenn er neue Wege beschreitet. Mit Bezug auf Kierkegaard und Nietzsche schreibt Jaspers: Wir glauben die Ursprünge des ewigen Philosophierens, der philosophie perennis, bewußter aufzuspüren, das echte Philosophieren von rationalen Leerheiten klarer zu scheiden. Es ist eine neue existenziell sprechende Philosophiegeschichte für uns im Werden, die doch nur das Uralte treuer als früher, weil innerlicher bewahren möchte. (Jaspers 1984[1935], 110)

Ausgerechnet zwei der schärfsten Kritiker der philosophischen Tradition werden so zu Verteidigern der Philosophie, die sich in Jaspers’ Augen auf einem fatalen Kurs der Selbstverleumdung und -vergessenheit befindet, sofern sie sich als Wissenschaft verkennt. Während sich die wissenschaftliche Erkenntnis um das Wissen von Gegenständen bemüht, das sie in bewusster Verfolgung einer bestimmten Methode zu Tage fördert, so dass es prinzipiell jedem mitdenkenden Verstand zugänglich ist und in diesem Sinne Allgemeingültigkeit beanspruchen darf, ist das philosophische Denken im Grunde gegenstandslos. Sinnlos ist es deswegen aber nicht. Im Gegenteil: Es stiftet Sinn, wenn es über den Tellerrand partikularer Gegenstandserkenntnis hinausschaut und den gegenständlichen Sinn in einen größeren Rahmen stellt, indem es z. B. der treibenden Kraft hinter aller wissenschaftlichen Tätigkeit nachfragt. Ihren eigenen Sinn zu erkennen, vermag die Wissenschaft nämlich nicht: „Denn der Sinn der Wissenschaft, aus dem geforscht wird, ist nicht mehr Gegenstand des einsehbaren Wissens, sondern seine Grenze“ (Jaspers 1932a, 88). Jaspers bestreitet keinesfalls die Bedeutung der Wissenschaft für die Philosophie:¹⁹ Eine Philosophie, die sich den Erkenntnissen der Wissenschaft gegenüber versperrte, würde die Lebensumstände, in die das philosophierende Dasein hineingestellt ist, außer Acht lassen und könnte infolgedes-

18 Jaspers 1984[1935], 110, spricht von einer „jederzeitige[n] Ursprünglichkeit des Philosophierens“. 19 „Wissenschaftliche Erkenntnis ist ein unumgängliches Moment im Philosophieren. Ohne Wissenschaft ist heute keine Wahrhaftigkeit möglich. Die Richtigkeit der Erkenntnis in den Wissenschaften ist ganz und gar unabhängig von philosophischer Wahrheit, für diese aber relevant, ja unerläßlich“ (Jaspers 1984[1977], 44).

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sen nicht ernst genommen werden. Nichtsdestotrotz hat die Wissenschaft Grenzen,²⁰ jenseits deren sich das Terrain der Philosophie erstreckt: „Wissenschaftliche Erkenntnis vermag keinerlei Z iele für das Leben zu setzen“ (Jaspers 1974[1936], 177),²¹ denn: „Die Richtigkeit, die allgemeingültig für alle ist, ist etwas ganz Anderes als die Überzeugung, die je unsere Wahrheit ist, aus der wir leben“ (Jaspers 1997[1965], 93).²² Diese Wahrheit, aus der wir leben, und die letztlich auch die Quelle ist, aus der die Wissenschaft (bzw. der einzelne Wissenschaftler) ihren Antrieb und ihre Kraft schöpft (vgl. Jaspers 1984[1977], 44f.), ist weniger ein Wissen als eine Art (persönlicher) Glaube.²³ Ohne einen solchen Glauben wäre menschliches Existieren schlechterdings nicht möglich; unserem Handeln fehlten Fundament und Richtung, unser Leben wäre leblos. Nur hat jedwede Form des Glaubens im philosophischen Diskurs zu Jaspers’ 20 Unter anderem würdigt Jaspers Nietzsche als einen Denker, der diese Grenzen klar erkannt und herausgestellt hat: „(…) Nietzsche ist es, der in seinem wissenschaftsstolzen Zeitalter erkannte, wie man irrend alle Wahrheit in die Gestalt wissenschaftlicher Wißbarkeit aufzufangen suchte; in eigener wissenschaftlicher Arbeit wurden ihm die Grenzen der Wissenschaft klar (…)“ (Jaspers 1974[1936], 176). In aller Kürze fasst folgendes Notat Nietzsches Vorstellung des Verhältnisses zwischen Philosophie und Wissenschaft mustergültig zusammen: „Es handelt sich nicht um eine Vernichtung der Wissenschaft, sondern um eine B eherrschung. Sie hängt nämlich in allen ihren Zielen und Methoden durch und durch ab von philosophischen Ansichten,  vergißt  dies aber leicht . Die beherrschende Philosophie hat aber auch das Problem zu bedenken, bis zu welchem Gr ade die Wissenschaft wachsen darf: sie hat den Wer t h   z u b e s t i mme n“ (NL 1869– 1874, KSA 7, 19[24], 424)! 21 Vgl. auch, mit Bezug auf Nietzsche, Jaspers 1974[1936], 177. Die Wissenschaft und die Philosophie sollten sich, so Jaspers’ Idealvorstellung, komplementär zueinander verhalten. Wie gesehen, darf die Philosophie die Erkenntnisse der Wissenschaft nicht ignorieren. Andererseits vermag sich die Wissenschaft nicht über ihren eigenen Sinn Klarheit zu verschaffen. An dieser Stelle ist die Philosophie gefragt. In der philosophischen Bewegung des Transzendierens entwickelt der philosophische Verstand die Idee eines Ganzen, innerhalb dessen das Partikulare seinen Platz und damit auch seinen Sinn findet. Auch die Vorstellung der Verbundenheit der Wissenschaften in einem System ist nicht wissenschaftlich, sondern philosophisch. Das besagt, dass die Wissenschaften ohne die Philosophie auseinanderzufallen drohen: „Daß die Wissenschaften zusammengehören und ein System bilden, dieser Gedanke entsteht nicht aus Akten je einzelner Forschung, sondern in diesem Transzendieren auf das nie gegebene[nie als Gegenstand gegebene – E.B.] Ganze. (…) Wie die Wissenschaften als die eine Wissenschaft im System der Wissenschaften gedacht werden, ist Ausdruck der philosophischen Weise des Transzendierens in der Weltorientierung. Sobald der philosophische Impetus ausstirbt, wird die Tendenz zum Auseinanderfallen der Wissenschaften herrschen“ (Jaspers 1932a, 53f.). Insgesamt gilt: „Wissenschaft, sich selbst überlassen als bloße Wissenschaft, gerät in Verwahrlosung“ (Jaspers 1969[1948], 49). 22 Vgl. auch Jaspers 1932a, 303: „Indem Wissen das Objektive als das Allgemeingültige ergreift, dessen Gültigkeit als für jedermann beweisbar besteht, ist es unabhängig von Lebensführung und Weltanschauung des Denkenden.“ 23 „Glaubensgehalt nimmt zwar in seiner Objektivität die Gestalt eines Gewußten an, aber statt gültig zu sein für jedermann, besteht er nur durch Einsatz des eigenen Seins. Die Gewißheit des Glaubens wagt es, daraufhin zu leben, daß das Wesentliche nicht bewiesen werden kann, sondern seine nie objektiv gültige Bestätigung allein in der Erfahrung des Sichbewährens des Glaubenden finden darf“ (Jaspers 1932a, 303).

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Zeiten einen schweren Stand.²⁴ Ein neuer Geist weht durch die altehrwürdigen Hallen der Philosophie, durchaus darum bemüht, den alten als unwissenschaftlich abgekanzelten Geist der philosophischen Tradition auszutreiben. Insbesondere metaphysische Fragestellungen sollen als „Scheinprobleme“ entlarvt und zurückgewiesen werden. Will die Philosophie im wissenschaftlichen Zeitalter noch eine Rolle spielen, muss sie aufhören, weiterhin lauter sinnlose Sätze²⁵ zu produzieren. Mithin könne, wie Rudolf Carnap (beispielhaft auch „im Ton der aggressiven Neuheit“; Jaspers 1948, 153) im Vorwort zu Der logische Aufbau der Welt formuliert, „auf eine Säuberung der Problemsituationen nicht verzichte[t]“ werden (Carnap 1998[1928], XIII). Carnap stellt fest: Auf dem Boden einer „gewisse[n] wissenschaftliche[n] Grundeinstellu ng “ ist „eine neue Art des Philosophierens (…) entstanden in enger Berührung mit der Arbeit der Fachwissenschaften, besonders in Mathematik und Physik“ (Carnap 1998[1928], XIV). Diese neue Philosophie will unter keinen Umständen mit der alten Philosophie in einen Topf geworfen werden. Sie strebt sogar an, allein als Philosophie zu gelten. Was zuvor unter diesem Namen firmierte, will sie zu großen Teilen aus dem Bezirk der Philosophie ausweisen. Asyl findet das Denken alten Schlages, wenn es nach dem neuen Geist geht, im Bereich der Dichtung.²⁶ Was aber bleibt nach solcher Ausweisung noch als eigentlich philosophisch übrig? Nicht viel mehr als „metawissenschaftliche Reflexionen erkenntnistheoretischer und sprachlogischer Natur“, während „alle für die Praxis bedeutsamen existenziellen Sinnfragen (…) unberücksichtigt bleiben“ (Salamun 2006, 21). Die Eindampfung der Philosophie auf reine Wissenschaftlichkeit hätte sonach unselige Folgen für den Menschen, wenn anders er ein existierendes Wesen ist, in dem rationale und nichtrationale Strebungen miteinander ringen, ein Wesen, das vor dem Hintergrund einer jeweils einzigartigen Lebensgeschichte in einer sich permanent verändernden Welt nach Orientierung sucht. Philosophie hätte nur noch am Rande mit Existenz zu tun, mit dem in konkreten Situationen im Leben stehenden Menschen, der sich selbst in Freiheit wählt bzw. wählen muss. Denn das (in Selbstwerdung begriffene) Selbst muss der wissenschaftlichen Philosophie ein „Unding“ sein, weil es zwar gegenständliche Aspekte aufweist, in diesen Aspekten aber nicht aufgeht.²⁷ „Das Selbst ist mehr als alles Wißbare“ (Jaspers

24 Vgl. hierzu etwa Jaspers 1964, 2–7. 25 Sinnlos sind metaphysische Sätze in den Augen eines logischen Positivisten bzw. Empiristen wie Carnap, insofern über ihren Wahrheitswert in Ermangelung eines empirischen Sinnkriteriums nicht entschieden werden kann. 26 „Das hat zur Folge[jene Nähe zu den Fachwissenschaften – E.B.], daß die strenge und verantwortungsbewußte Grundhaltung des wissenschaftlichen Forschers auch als Grundhaltung des philosophisch Arbeitenden erstrebt wird, während die Haltung des Philosophen alter Art mehr der eines Dichters gleicht“ (Carnap 1998[1928], XIV). 27 Sobald ich nach mir selbst frage, d. h. mich und mein Leben thematisch mache, begegne ich mir als Gegenstand meines Denkens. So kann ich mich gegenständlich durch mein „Körper-“, mein „soziales-“, mein „Leistungs-“ und schließlich durch mein „Erinnerungsich“ fassen, habe es dabei indes stets nur mit Aspekten meines „Ich selbst“ zu tun (vgl. Jaspers 1932b, 26–34): „In solchen Gegenständ-

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1932b, 34) und kann dergestalt auch nicht als Summe aller dieser Aspekte rational endgültig eingeholt werden. Für Jaspers jedoch gehört die Beschäftigung mit dem einzelnen Menschen und dessen Selbstwerdung zum Kernbereich der Philosophie, die fehl geht, wenn sie sich allein auf sterile Sachlichkeit kapriziert.²⁸ Tatsächlich ist Philosophie „das Denken, in dem wir uns selbst vergewissern, woraus wir leben, – was eigentlich ist, – wodurch wir sind, – was uns unbedingt ist, – in welchem Entschluß wir gründen (…)“ (Jaspers 1932a, XXXV). Insofern philosophisches Denken sich auf ein das Wißbare überschreitendes Mehr richtet, ist es Transzendieren; handelt es sich bei diesem Mehr um das Selbst, ist Philosophie Existenzerhellung. Zur Existenzerhellung gehört auch das Ins-Licht-Stellen der dunklen Seiten des Daseins, gehört, sich bewusst zu machen, dass das Leben zwingend Leiden, Tod, Kampf, Schuld und Ausgeliefertsein an den Zufall impliziert.²⁹ Existenzerhellung ist somit nicht ohne die Auseinandersetzung mit den, von Jaspers sogenannten, „Grenzsituationen“ zu haben, d. h. mit jenen – oben angeführten – Situationen, in denen der Mensch nolens volens immer steht und die er allenfalls verdrängen, aber weder tilgen noch verändern kann: „Sie sind wie eine Wand, an die wir stoßen, an der wir scheitern“ (Jaspers 1932b, 203). Wer sich in redlichem Philosophieren den Grenzsituationen bewusst stellt, begibt sich in existenzielle Gefahr, da in ihnen „die Möglichkeit des absoluten Nichts auftaucht, und zwar des Nichtigseins sowohl der Welt wie des eigenen Seins“ (Weischedel 1983[1972], Bd.  2, 130).³⁰ Das Nichtigsein der Welt und des Menschen: Damit ist die Position des Nihilismus getroffen. Weil nun die Möglichkeit dieser Position von vornherein in den Grenzsituationen angelegt ist und das In-Grenzsituationen-Stehen wesensgemäß zum Dasein gehört, wird der Mensch als solcher immer vom Nihilismus bedroht. Jaspers nimmt den Nihilismus genauso ernst wie Nietzsche. Und ebenso wie dieser versteht er sich selbst als Überwinder des Nihilismus. Gleichwohl muss er zugeben, dass die Abwehr des Nihilismus eine gewaltige Aufgabe darstellt, da das Leben voller nihilistischer Evidenzen ist. Demnach liege es näher zu fragen, „wie ist es möglich, daß wir nicht alle Nihilisten werden? – als

lichkeiten als Aspekten meiner selbst werde ich mir bewusst wie in Spiegeln.“ Allein: „In keinem sehe ich mich ganz und gar, sondern in Teilen; ich erblicke Seiten meines Seins, identifiziere mich partiell mit ihnen, aber ohne ganz und gar identisch mit mir in ihnen zu werden“ (Jaspers 1932b, 27). 28 Noch einmal: Jaspers betrachtet Nietzsche (und dessen Wirkmächtigkeit) insonderheit vor dem Hintergrund der wachsenden Einflussnahme der wissenschaftlichen Philosophie an den Universitäten als einen außerordentlichen Glücksfall: „Denn er gab dem philosophischen Trieb, der in der sogenannten wissenschaftlichen Philosophie der Universitäten keine Befriedigung fand, die ursprünglichen Probleme zurück. Die Philosophie, zur Sache des bloßen Verstandes geworden, wurde wieder Sache des ganzen Menschen“ (Jaspers 1980[1950], 50). 29 Vgl. Jaspers 1932b, 203, 209, sowie Jaspers 1971[1919], 229–284. 30 Gemeinsam ist allen Grenzerfahrungen, dass „n i ch ts Fe s te s da ist, kein unbezweifelbares Absolutes, kein Halt, der jeder Erfahrung und jedem Denken standhielte. Alles fließt, ist in ruheloser Bewegung des Infragegestelltwerdens, alles ist relativ, endlich, in Gegensätze zerspalten, nie das Ganze, das Absolute, das Wesentliche“ (Jaspers 1971[1919], 229).

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daß man den Grund der Erfahrungen, die zum Nihilismus führen können, übersehe“ (Jaspers 1948, 129). Wirklich aber sind nur die wenigsten von uns Nihilisten. Wieso das? Weil es des Menschen gängige Praxis ist, sich vor den ins Bodenlose führenden Unwägbarkeiten und mitunter allzu rohen Tatsachen des Lebens abzuschirmen, indem er sich, einem inneren Drang „zum Festen und zur Ruhe folgend“ (Jaspers, 1971[1919], 304), in einem bestimmten Weltbild wie in einem Gehäuse häuslich einrichtet. Solche Gehäuse sind auf Fundamente aus „Grundsätzen, Dogmen, Beweisbarkeiten, traditionellen Einrichtungen[und] absoluten (…) Forderungen“ (Jaspers, 1971[1919], 304f.) gebaut, wodurch es ihnen gelingt, dem Leben „eine Festigkeit und Sicherheit durch etwas schließlich mechanisch Anwendbares in geradlinigen, aussprechbaren Grundsätzen und einzelnen Imperativen“ zu verleihen. So sperrt das Gehäuse den Nihilismus gleichsam aus, indem der „im Gehäuse existierende Mensch (…) der Tendenz nach abgesperrt von den Grenzsituationen“ existiert. Doch Gehäuse sind keine Monaden. Sie haben Fenster (und Türen): Gehäuse sind durchlässig. Um es mit einer Anlehnung an Nietzsche zu formulieren: Der Nihilismus steht, allzeit bereit einzutreten, vor ihrer Tür. Dabei kann man ein Gehäuse nicht nur vor der Begegnung mit dem Nihilismus bewohnen, sondern es ist ebenso möglich, nach dieser Begegnung bewusst eines zu beziehen, mit dem klaren Ziel, den unheimlichen Gast fortan aus dem eigenen Leben auszuschließen. In letzterem Fall ist man peinlich genau darauf bedacht, sein Weltbild zusammenzuhalten, (man verschließt mithin am besten sorgfältig die Tür und lässt die Jalousien herunter) um bloß nicht wieder den Halt im Leben zu verlieren. Allein im fanatischen Zusammenhalten eines solchen nicht gewachsenen, sondern „nur gewählt[en]“ Gehäuses erlischt dessen Lebendigkeit – im Grunde ist es „mechanisch und tot“. Sofern jetzt „keine Lebenskraft mehr da“ ist (Jaspers, 1971[1919], 305), hat der Nihilismus, alle Schutzmaßnahmen verspottend, doch das letzte Wort behalten. Man hat ihn in Wirklichkeit gar nicht ausgesperrt, sondern sich vielmehr mit ihm gemeinsam hinter den als Schutzwall gegen ihn gedachten Wänden des Gehäuses eingemauert. Zusammengefasst: Kein Gehäuse, weder ein pränihilistisch gewachsenes, noch ein postnihilistisch errichtetes, bietet einen absoluten Schutz gegen den Nihilismus. Nach Nietzsches Destruktion der Metaphysik, der Moral und des Christentums, kurz: nach der Entwertung der obersten Werte, ist es zudem schwerer denn je geworden, dauerhaft in der behaglichen Atmosphäre eines Gehäuses zu existieren. Nietzsche hat dem Nihilismus deutlicher als jeder andere zuvor eine Stimme verliehen. Dass „jede Gestalt des Lebens (…) irgendeinmal den Nihilismus auf sich“ zieht – wenn auch nicht „das Leben selbst“ –, das ist, wie Jaspers ausführt, zwar schon von Hegel erkannt, jedoch „erst von NIETZSCHE lebendig erfahren und in aller Konsequenz tatsächlich und theoretisch zum Ausdruck gebracht“ worden (Jaspers, 1971[1919], 303f.). Der Nihilismus kann also die Gehäuse zum Einsturz bringen und den nun gewissermaßen obdachlosen Menschen in die Verzweiflung treiben. Doch ist diese Krisis zugleich eine Chance. In seiner destruktiven Gewalt kann der Nihilismus nämlich auch in Verkrustung erstarrte Weltbilder aufbrechen. Er hat das Potenzial, unsere

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Fixierungen auf lebenserstickende Absolutismen zu zerschlagen, wodurch er uns zwingt, unser Leben grundlegend zu überdenken und neu zu entwerfen. So betrachtet bezeigt sich der Nihilismus als ein zwar drastisches, aber notwendiges Mittel auf dem Weg zu einem neuen vitaleren Selbst: Nihilismus ist psychologisch als S tu f e unvermeidlich, wenn das Leben zum Selbstbewußtsein kommen will. Alles Tote, Endgültige muss erst in Frage gestellt werden, muß in den Hexenkessel des Nihilismus geworfen werden, wenn eine neue Gestalt des Lebens entstehen soll. Dem Nihilismus ist nicht zu entrinnen, indem man sich herumdrückt, sondern er ist zu erfahren – was nur unter innerer Verzweiflung möglich ist –, wenn er überwunden (…) werden soll (…). (Jaspers, 1971[1919], 303)

Klar ist indes, dass der Nihilismus kein erstrebenswerter Endzustand ist, denn aktualer Nihilismus ist Verzweiflung. Positiv zu bewerten ist er nur als Durchgangsstadium hin zu einem in der Glut des Nihilismus gehärteten Selbst, welches das beklemmende Kleid der Fremdbestimmtheit abgestreift und sich infolgedessen die Freiheit verschafft hat, „um im inneren Handeln zu wählen, was[es] eigentlich will“ (Jaspers 1997[1941], 390). Diese Einschätzung teilt Jaspers mit Nietzsche, über dessen Bedeutung für seinen eigenen philosophischen Werdegang der mittlerweile berühmt gewordene Philosophieprofessor rückblickend bemerkt: „Nietzsche gewann erst spät für mich Gewicht als die großartige Offenbarung des Nihilismus und der Aufgabe, durch ihn hindurchzukommen“ (Jaspers 1997[1941], 394). Beide Philosophen nehmen den Nihilismus ernst und gerade dieser Ernst verbietet ihnen, beim Nihilismus stehen zu bleiben – schließlich gibt es hier keinen Stand. Es gibt hier, wenn man so sagen darf, – nichts. Vor diesem Abgrund als Hintergrund erkennt Jaspers ein antinihilistisches Ja am Grund von Nietzsches Denken, das wirksam selbst dort ist, wo der oberflächliche Blick eine Philosophie der Zerstörung wähnt: Da Nietzsche das Nichts nicht als das Letzte gelten lassen will, tritt er jedoch auch positiv als Überwinder des Nihilismus auf: seine ganze spätere Philosophie versteht er als eine Gegenbewegung gegen den Nihilismus (…). Darüber hinaus ist in Nietzsches Denken für jeden, der nicht vom Vordergrund sich täuschen läßt, überall im Verneinen ein Ja gegenwärtig. All sein Infragestellen ist der Drang zu Ursprung, Echtheit, Grund. Wenn das Ja nicht gelingt in positiver Aussage, so bleibt immer noch eine bejahende Stimmung dieses Denkens, auch noch in seinen radikalsten Zersetzungen des Zeitalters. (Jaspers 1974[1936], 252f.)

Jaspers und Nietzsche eint der Versuch, den Nihilismus zu überwinden ebenso wie die Überzeugung, dass man dafür durch den Nihilismus hindurchgehen muss – wobei ein antidogmatisches Denken etabliert werden kann. Dahingegen entzweit sie ihre Stellung zu Immanenz und Transzendenz. Ausgerechnet im Abgrund des Nihilismus, dort, wo nichts mehr gewiss ist, und die Verzweiflung Herrschaftsansprüche anmeldet, findet Jaspers Hoffnung. Im „Nichtmehrdenkenkönnen“ wird ihm „das Sein der Transzendenz fühlbar“ (Jaspers 1932b, 263). In diese Transzendenz gilt es zu springen – ein Sprung über den bodenlosen Nihilismus hinweg –, um wieder Boden unter

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den Füßen zu gewinnen. Die Antwort auf das Fragmal des Nihilismus besteht für Jaspers in ebendiesem Sprung in den philosophischen Glauben. Jaspers wirft Nietzsche vor, in Missachtung der Transzendenz nicht über die Verzweiflung hinauszugelangen. Nietzsche indessen würde Jaspers vermutlich entgegnen, dass der Sprung in den Glauben nicht die Überwindung des, sondern die Flucht vor dem Nihilismus ist. Was Jaspers als zum Glaubenssprung ermutigende Erfahrung der Transzendenz bezeichnet, würde Nietzsche wahrscheinlich als Angst vor der eigenen Courage auslegen. (B) Heidegger: Heideggers Name steht für einen neuen Aufbruch innerhalb der Philosophie, für ein Denken, das sich in Anknüpfung an die sogenannte „Lebensphilosophie“ als einer Denkungsart, „die in ihrer Zeit wirklich zur Philosophie kommen wollte und sich nicht in verkehrten akademischen Spielerein herumtrieb“ (Heidegger 1985[1921/22], 80), dem konkreten bzw. faktischen Leben zuwendet. Bereits der junge Heidegger adelt Nietzsche als zu jenem Kreis von Lebensphilosophen gehörend,³¹ der, alles andere als bloße Modephilosophien zu umschließen, mit dem faktischen Leben ebenjene Richtung vorgibt, der auch Heidegger nachdenken will. Am Leben zu sein bedeutet: „in der Faktizität“ zu sein. Das Denken der – hier großzügig über einen Kamm geschorenen – Philosophen dagegen vermittelt nur allzu häufig den Eindruck, als stünden jene, die da denken, nicht in der Wirklichkeit, als hätten sie also mit dem Leben nicht viel zu schaffen. Auf diese Weise wird die Philosophie selbst zu etwas Leblosem und verpasst durch die Vernachlässigung des Problems der Faktizität ausgerechnet ihre – von Nietzsche jedoch leidenschaftlich verfolgte – „Hauptaufgabe“ (Heidegger 1985[1921/22], 99). Als ausgewiesener Denker der Faktizität ist Nietzsche sonach für den frühen Heidegger ein Vorbild.³² Unterdessen setzt Heideggers intensive Auseinandersetzung mit Nietzsche erst ab den 1930er Jahren ein. Aus dem Vorbild wird währenddessen peu à peu eine Art Kontrastfolie, auf deren Grund Heidegger eine Absatzbewegung vollführt: weg vom seines Erachtens zutiefst subjektivitätsphilosophisch geprägten metaphysischen Willen-zur-Macht-Denken³³ hin zum seinsgeschichtlichen Denken als einem neuen, im Übrigen durchaus nicht unmetaphysischen, Andenken.³⁴

31 Ausdrücklich nennt Heidegger Bergson, Dilthey und Nietzsche (vgl. Heidegger 1985[1921/22], 80). 32 Zu Heideggers erster Beschäftigung mit Nietzsche (ab 1910) vgl. Casale 2010, 25–30, die auch gleich eine erste Typisierung Nietzsches durch Heidegger versucht: „Heideggers Nietzsche von 1910 ist (…) eine Figur mit einer ausgeprägten künstlerischen Persönlichkeit, die den Atheismus zur obersten Bedingung für das freie Denken (…) erklärt hat“ (Casale 2010, 29). 33 Mit dem Ausdruck „subjektivitätsphilosophisch geprägt“ spiele ich auf einen grundsätzlichen Zug der neuzeitlichen Philosophie an, darauf, dass sie „von DESCARTES an den Vorrang der Subjektivität gegenüber allem welthaft Seienden deklariert“ (Schulz 1989, 35). 34 Mit Nietzsche vollzieht sich Heidegger zufolge das Ende der Metaphysik. Doch Heidegger müht sich, Missverständnissen entgegenzuwirken, indem er bemerkt: „Die Rede vom Ende der Metaphysik will nicht sagen, künftig ‚lebten‘ keine Menschen mehr, die metaphysisch denken oder gar ‚Systeme

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Gemäß Heideggers Lesart gelingt in Nietzsches Philosophie die Überwindung des Nihilismus nicht. Immerhin findet in ihr aber eine Grundsteinlegung solcher Überwindung statt, indem der Nihilismus sozusagen aus dem toten Winkel der Philosophiegeschichte in das Blickfeld ausdrücklicher Beachtung rückt. Mit Nietzsche hat der Nihilismus seinsgeschichtlich gesehen die Klimax erreicht und dieser Höhepunkt soll nun, geht es nach Heidegger, zugleich ein Wendepunkt sein.³⁵ Die Zeit ist reif für einen „anderen Anfang“, der im Zeichen eines Denkens steht, „das den Menschen auf das Hören der Stimme des Seins abstimmt und ihn zur Wächterschaft für die Wahrheit des Seins ge-fügig werden lässt“ (Heidegger 1961, Bd. 2, 29).³⁶ Nicht auf die Stimme des Seins gehört, sondern es überhört und darum im sofortigen Übergang auf das Seiende ausgelassen zu haben, das ist, so Heidegger, das Grundversäumnis der abendländischen Metaphysik, wodurch sie schon bald nach ihrem ersten vorsokratischen Anfang spätestens mit Platon auf die nihilistische, d. i. die seinsvergessene, Bahn geraten ist. Das Wort „Philosophie“ „kennt die Sprache der Griechen bereits vor Platons Zeit und gebraucht es allgemein zur Benennung der Vorliebe für ein rechtes Sichauskennen“. „Durch Platon“ indes wird es, führt Heidegger aus, „in Anspruch genommen als Name für jenes Sichauskennen im Seienden, das zugleich das Sein des Seienden als Idee bestimmt“ (Heidegger 1976[1931/32, 1940], 235) – Philosophie wird Metaphysik, die das Sein als ein ausgezeichnetes Seiendes (hier: idea) denkt. Dieses höchste Seiende stellt den Ermöglichungsgrund alles weiteren Seienden dar; dessen jeweiliges Sein speist sich sonach aus einem höheren bzw. höchsten Seienden als seiner Ursache.³⁷ Als „Ursache für den Bestand und das Erscheinen alles Seienden“ kommt dieser „höchste[n] und erste[n] Ursache“ der Status des Göttlichen zu (Heidegger 1976[1931/32, 1940], 235). Die von Platon auf den Weg gebrachte Metaphysik ist somit sowohl Ontologie als auch Theologie³⁸ oder kurz: Onto-Theologie. Allein solche Onto-Theologie würdigt das Sein zu Seiendem herab, indem sie es verkennt. Was das

der Metaphysik‘ anfertigen. Noch weniger will damit gesagt sein, das Menschentum ‚lebe‘ künftig nicht mehr auf dem Grunde der Metaphysik. Im Gegenteil: Das Ende der Metaphysik ist erst der Beginn ihrer ‚Auferstehung‘ in abgewandelten Formen (…)“ (Heidegger 1986[1940], 267). 35 „In der Erfahrung der Tatsache des Nihilismus wurzelt und schwingt die ganze Philosophie Nietzsches; zugleich aber führt sie dahin, die Erfahrung des Nihilismus allererst deutlich und in ihrer Tragweite zusehends durchsichtiger zu machen. Mit der Entfaltung von Nietzsches Philosophie wächst zugleich die Tiefe der Einsicht in das Wesen und die Macht des Nihilismus, steigert sich die Not und Notwendigkeit seiner Überwindung“ (Heidegger 1961, Bd. 1, 435). 36 Zum Ende seines ersten Nietzsche-Bandes bekräftigt Heidegger ein weiteres Mal ausdrücklich die mit Nietzsche gekommene Notwendigkeit eines philosophischen Neubeginnens, wenn er von der „Not des anderen Anfangs“ (Heidegger 1961, Bd. 1, 657; Hervorhebung – E.B.) handelt. 37 Zum Verhältnis des to agathon, d. h. der Idee des Guten als der höchsten aller Ideen, zu den anderen Ideen vgl. Heidegger 1976[1931/32, 1940], 228. 38 „Seit der Auslegung des Seins als idea ist das Denken auf das Sein des Seienden metaphysisch, und die Metaphysik ist theologisch. Theologie bedeutet hier die Auslegung der ‚Ursache‘ des Seienden als Gott und die Verlegung dieses Seins in diese Ursache, die das Sein in sich enthält und aus sich entläßt, weil sie das Seiendste des Seienden ist“ (Heidegger 1976[1931/32, 1940], 235f.).

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Sein aber wirklich ist, lässt sich freilich nicht abschließend bestimmen. Tatsächlich entzieht sich das Sein jedweder begrifflichen Feststellung: Doch das Sein – was ist das Sein? Es „ist“ Es selbst. Dies zu erfahren und zu sagen, muß das künftige Denken lernen. Das „Sein“ – das ist nicht Gott und nicht ein Weltgrund. Das Sein ist wesenhaft weiter denn alles Seiende und ist gleichwohl dem Menschen näher als jedes Seiende, sei dies ein Fels, ein Tier, ein Kunstwerk, eine Maschine, sei es ein Engel oder Gott. Das Sein ist das Nächste. Doch die Nähe bleibt dem Menschen am fernsten. Der Mensch hält sich zunächst immer schon und nur an das Seiende. (Heidegger 1976[1946], 331)

Der Metaphysik entgeht die Bedeutung der Differenz zwischen Sein und Seiendem (ontologische Differenz). Wenn sie das Sein als ein Seiendes denkt, vergegenständlicht sie das Sein. Auf diese Weise macht sie es zu einem Ding. Doch das Sein ist (prinzipiell) kein Ding. Es geht allem Seienden/Dinghaften voraus. Es „ist früher denn jegliches Seiende, das von ihm zu Lehen hat, was es ist“ (Heidegger 1976[1939], 240). Somit ist das verdinglichte Sein ein Unding; das Unding par excellence, wenn man so will, weil es sich gerade dadurch auszeichnet, kein Ding zu sein. Offenbar denkt Heidegger das Sein als eine Art Horizont und Medium, als die Offenheit für das Seiende, den selbst nicht fassbaren Raum, darin Seiendes überhaupt erscheinen kann.³⁹ Es ist das sich Verbergende Entbergende, das doch im Entborgenen präsent ist. Damit jedoch das Entborgene erscheinen kann, muss das Sein das Seiende sein lassen, mithin sich selbst zurücknehmen. Derart bleibt das Sein stets im Hintergrund und ist zugleich der Hintergrund des Seienden selbst. Wenn Heidegger vom Sein selbst spricht, meint er dieses gesamte „Geschehen der Entbergung als den Grund aus dem metaphysisches Denken hervorgeht“ (Mende 2003, 250), freilich ohne dass dieses Denken seinem eigenen Grund eigens nachdächte. So bleibt ausgerechnet das Sein das entscheidende Desiderat des metaphysischen Denkens, welchem Heidegger vorwirft, eo ipso nihilistisch zu sein. Mit dem Sein ist es in der Metaphysikgeschichte also nichts. Eines ist nun aber solcher heimliche Nihilismus, darin das Sein überhört und vergessen wurde. Etwas Anderes ist dagegen die konkrete Erfahrung des Nihilismus, jenes „durchbohrende Gefühl des ‚Nichts‘“ (NL 1887–1889, KSA  13, 11[228], 89; vgl. GM III 25; KSA  5, 404), welches sich erst dann einstellt, wenn dem Menschen aufgeht, dass es auch mit dem Seienden nichts ist. Wie kommt es dazu? Nietzsche ist der Auffassung, all unsere höchsten Werte, die in der Metaphysik seit Platon zu absoluten Werten erklärt wurden, seien in Wahrheit bloß „Resultate bestimmter Perspektiven der Nützlichkeit zur Aufrechterhaltung und Steigerung menschlicher Herrschafts-Gebilde: und nur fälschlich projicirt in das Wesen der Dinge“ (NL 1887–1889, KSA 13, 11[99], 49). Wenn unsere Werte aber Instrumente sind zur Errichtung, Befestigung und zum Ausbau bestimmter Herrschaftsverhältnisse, dann geht es bei Werten und im Werten immerzu um Macht – 39 In diesem Sinne verwendet Heidegger für das Sein auch die Metapher der „Lichtung“ (vgl. Heidegger 1976[1946], 332).

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auf basaler Ebene um die Macht, sich überhaupt im Strom ewigen Werdens und Vergehens irgendwie behaupten zu können, indem man Beständigkeit zu einem höchsten Wert erklärt, um sodann bestimmte Werte für unbedingt beständig zu deklarieren. Solchen Werten wird dann in der Metaphysik Sein zugesprochen, womit vor allem eines gemeint ist: Beständigkeit. So wird das Werden beständigt und der Mensch gewinnt Halt.⁴⁰ Doch die vermeintliche Beständigkeit ist nur das Resultat einer Beständigung per Zuschreibung. Tatsächlich sind die Werte nicht beständig, derart, dass ihnen ein ewiges vom Werden und Vergehen unanfechtbares Sein zukäme. Sondern: Die Werte sind „nichts anderes als nützliche Perspektiven und Bedingungen der Beständigung des Werdens“ (Schüßler 1997, 26), die zum Zweck der Selbstbeständigung wiederum in einem Reich ewigen Seins und absoluter Geltung verortet werden. Allerdings ist dieses Reich bloß das Produkt metaphysischer Einbildungskraft  – „eine rein fingirte Welt“ (NL 1887–1889, KSA  13, 11[99], 49). Wenn aber, aus verschiedenen Gründen, auf die ich im Verlauf meiner Studie noch ausführlich eingehen werde, der Glaube an diese fingierte Welt schwindet, wenn sie sich endlich in Luft auflöst, dann befinden sich unsere höchsten Werte im freien Fall. Sie verlieren die Basis ihrer absoluten Geltung. Sie büßen radikal an Wert ein, werden abgewertet, wenn nicht sogar entwertet. Wir begreifen dann: Mit dem Sein ist es nichts, so dass nur Seiendes bleibt. Doch auch um dieses steht es schlecht: Die Welt hier und jetzt, die nach dem Hinfall der übersinnlichen Welt als einzige übrig bleibt, erscheint – da aller Wert auf jene konzentriert war – im nihilistischen Aussehen der Wertlosigkeit: Mit dem Ganzen dessen, was ist, mit dem Seienden ist es nichts. (Schüßler 1997, 22)

Das Gefühl einer derartig umfassenden Wertlosigkeit ist der Zustand des Nihilismus. Auch darauf komme ich an späterer Stelle zurück. Für den Moment zählt allein, was Heidegger mit Nietzsches Bestimmung des Nihilismus als der Entwertung der höchsten Werte (vgl. NL 1885–1887, KSA 12, 9[35], 350) anfängt. Die Entwertung der höchsten Werte – das ist in der Tat eine wesentliche Etappe in der Geschichte des Nihilismus. Aber auf den Grund des Nihilismus gestoßen ist man, meint Heidegger, damit noch nicht.⁴¹ Das Wesen des Nihilismus ist für Heidegger vielmehr die Seinsvergessenheit bzw. das Ausbleiben der Wahrheit des Seins in der Geschichte (der Metaphysik).⁴² Wiewohl Nietzsche erkannt hat, dass der Nihilismus von Anfang an die Geschichte

40 Noch einmal auf den Punkt gebracht: „Derjenige Begriff aber, der sich vorzüglich für die Beständigung des Werdens eignet, ist der metaphysische Begriff des beständigen Seins selbst (…)“ (Schüßler 1997, 25). 41 Nach Heidegger ist in Nietzsches Verständnis des Nihilismus als Entwertung der obersten Werte zwar, wie Seubert 2000, 179, treffsicher formuliert, die „Zeitgestalt“ des Nihilismus, „aber nicht seine Wesensgestalt“ getroffen. 42 Ohne solchen haltenden und das Seiende allererst freigebenden Rückbezug auf das Sein ist es nichts mit dem Seienden „und zwar keineswegs nur mit diesem oder jenem Seienden, sondern nichts ist es mit dem Seienden als solchem im Ganzen“ (Heidegger 1999[1946–1948], 177).

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der abendländischen Metaphysik bestimmt, hat er doch nicht erfasst, inwiefern genau der Nihilismus dies tut: Das Wesen des Nihilismus beruht in der Geschichte, der gemäß es im Erscheinen des Seienden als solchen im Ganzen mit dem Sein selbst und seiner Wahrheit nichts ist, so zwar, daß die Wahrheit des Seienden als solchen für das Sein gilt, weil die Wahrheit des Seins ausbleibt. Nietzsche hat zwar im Zeitalter der beginnenden Vollendung des Nihilismus einige Züge des Nihilismus erfahren und zugleich nihilistisch gedeutet und damit ihr Wesen vollends verschüttet. Nietzsche hat jedoch das Wesen des Nihilismus nie erkannt, sowenig wie je eine Metaphysik vor ihm. (Heidegger 1977[1943], 244)

Und weil Nietzsche das Wesen des Nihilismus nicht erfasst hat, kann auch seine Überwindungsstrategie des Nihilismus, die kurz gesagt darin besteht, sich nach der Entwertung der obersten Werte an einer Umwertung der Werte zu versuchen, die sich ganz dem Seienden als unausgesetztem Prozess selbstmächtigen Wertens verschreibt, nicht greifen. Schlimmer noch führt sie Heidegger zufolge nur immer tiefer in den Nihilismus hinein.⁴³ Wie das? Indem Nietzsche ein „neues Prinzip der Wertsetzung“ (Heidegger 1986[1940], 94)⁴⁴ einführt, in welchem er zugleich „den Grundcharakter des Seienden im Ganzen erkennt“ (Heidegger 1961, Bd. 2, 36): den Willen zur Macht. Der Wille als Wille zur Macht ist darauf aus, sich beständig zu steigern: „Wille ist als Wille zur Macht der Befehl zu Mehr-Macht“ (Heidegger 1977[1943], 218).⁴⁵ Als Wille zur Macht ist der Wille so viel als „Macht zur Macht, oder wie wir gleich gut sagen können, Wille zum Willen“ (Heidegger 1961, Bd. 2, 65),⁴⁶ „in welcher Bestimmung die Metaphysik der Subjektivität (…) den Gipfel ihrer Entfaltung, d. h. die Vollendung erreicht“ (Heidegger 1961, Bd. 2, 382). Und das ist für Heidegger höchst unheilvoll: Denn mit der sich vollendenden Metaphysik der Subjektivität, die dem äußersten Entzug der Wahrheit des Seins entspricht, indem sie ihn bis zur Unerkennbarkeit verdeckt, beginnt die Epoche der unbedingten und vollständigen Vergegenständlichung von allem, was ist. In der Vergegenständlichung wird der Mensch selbst und alles Menschentümliche zu einem bloßen Bestand (…). (Heidegger 1961, Bd. 2, 387)

Just zu jenem Zeitpunkt, da der Mensch sich zum ultimativen Subjekt der Geschichte aufschwingt, indem er sich selbst als Willen zur Macht affirmiert (vgl. Heidegger 1961, Bd. 2, 61f.), degradiert er sich, d. h. den Menschen als solchen, zugleich zum Objekt der eigenen Verfügbarkeit: „Im Willen zur Macht ist letztendlich die totale Selbstver43 „Nietzsches Metaphysik ist (…) keine Überwindung des Nihilismus. Sie ist die letzte Verstrickung in den Nihilismus (Heidegger 1961, Bd. 2, 340). 44 Oder auch: „das Prinzip einer neuen Wertsetzung“ (Heidegger 1977[1943], 214). 45 Vgl. auch Heidegger 1961, Bd. 1, 72; Bd. 2, 103, 266f. 46 Der Charakter dieses Willens ist der des Befehlens im Zeichen der Selbstermächtigung: „Das Wollen des Willens ist nicht mehr gedacht als ein Wünschen oder Streben, sondern als ein Befehlen, das sich zu sich selbst ermächtigt. Der Wille ist als Befehl der Vollzug des Verfügens über sich selbst“ (Pöggeler 1963, 111).

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fügung gewollt, in der der Wille sich selber will“ (Vedder 2005, 167). Zu diesem Zweck setzt er (auf) Werte, die seine Selbsterhaltung garantieren und zumal seine Selbststeigerung vorantreiben sollen.⁴⁷An und für sich haben diese Werte freilich keinen Wert. Wertvoll sind sie allein, insofern sie ihren wahren Zweck erfüllen: Steigbügelhalter des Willens zur Macht zu sein, dem es im Kern um nichts als bloße Machtsteigerung zu tun ist. Der Wille zur Macht setzt und denkt alles als Wert (vgl. Heidegger 1961, Bd. 2, 222), um es in seinem Sinne verwerten zu können. Die Bewertung dient der Verwertung. Der „Bedingungen-setzende Wille zur Macht“ (Heidegger 1977[1943], 224) gründet Werte als Bedingungen seiner Macht.⁴⁸ Sie sind die Vehikel seiner Entfaltung. Dass es der Wille zur Macht ist, der die Werte fundiert, woraus wiederum folgt, dass das Leben keinen höheren Zweck verfolgt, sondern bloß einen selbstgefälligen, an teleologischen Maßstäben gemessenen sinnlosen Kreislauf des Willens, der stets nur sich selber will, beschreibt,⁴⁹ ist eine bittere Pille für den Menschen, die er erst einmal schlucken muss – sie schmeckt sozusagen nach totem Gott. Nietzsche will die Einnahme dieser Pille versüßen, indem er darauf verweist, dass der Mensch den Willen zur Macht als das wertsetzende Prinzip in sich selbst nur bejahen müsse, um sich der Größe der Tat, Gott getötet zu haben (vgl. FW 215), würdig zu erweisen und als Übermensch eine höhere Seinsstufe zu erklimmen. Der Übermensch hat die vor Verzweiflung angesichts der Sinnlosigkeit schützende Illusion eines gütigen Gottes nicht mehr nötig. Genauso wenig ist er noch angewiesen auf einen Kanon absoluter Werte, um sich im Leben zu orientieren. Der Übermensch ist der mit beiden Beinen im Diesseits stehende Souverän seiner selbst. Doch siedelt diese Souveränität, wie Heidegger befindet, gefährlich nahe an Tyrannei, wenn anders die Metaphysik des Willens zur Macht, „zu der die Lehre vom Übermenschen gehört (…), den Menschen, wie keine Metaphysik zuvor, in die Rolle des unbedingten und einzigen Maßes für alle Dinge“ rückt (Heidegger 1961, Bd. 2, 127). Der Mensch als sich selbst durchsichtig gewordener und bejahender Wille zur Macht setzt sich auf den verwaisten Thron Gottes. Er ermächtigt sich selbst zur Übermächtigung, ist ein König von eigenen Gnaden, der nur seinem eigenen Befehl gehorcht, welcher auf die Erhaltung und Steigerung der eigenen Macht abzielt (vgl. Heidegger 1961, Bd. 2, 266ff.). In den Dienst dieser seiner

47 „Wollen bedeutet, sich steigern zu wollen und dazu die Mittel haben zu wollen. Die Mittel sind die vom Willen zur Macht begründeten Vorbedingungen; diese Vorbedingungen sind die Werte“ (Vedder 2005, 167). 48 „Die Werte sind die vom Willen zur Macht selbst gesetzten Bedingungen seiner selbst“ (Heidegger 1977[1943], 214). Ebendiese Selbstbegründung des Willens zur Macht qua Wertsetzung lässt Nietzsche in Heideggers Augen wie einen Metaphysiker aussehen, sofern er mit dem Willen zur Macht ein anderes bedingendes, selbst aber nicht durch anderes bedingtes Prinzip installiert. Vgl. dazu Agell 2006, 47f., 51. 49 Und, als wäre dies nicht schlimm genug, wird in Nietzsches Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen dieses ziellose Kreisen des Willens zur Macht aus sich selbst und um sich selbst auch noch verewigt: „In der Wiederkehr kehrt nichts wieder als der Wille zur Macht selbst; dieser stellt sich, indem er sich ewig wiederkehrend will, auf sich selbst“ (Pöggeler 1963, 117).

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Sache stellt er auch die Vernunft: „Der Wille zur Macht bringt die Vernunft im Sinne des Vorstellens unter sich, indem er dieses als das rechnende Denken (Wertesetzen) in seinen Dienst bringt“ (Heidegger 1961, Bd. 2, 300). In der Metaphysik des Willens zur Macht ändert sich „das Verhältnis des Menschen zum Seienden im Ganzen“ (Heidegger 1961, Bd. 2, 127), nämlich so, dass Seiendes nur mehr taxiert wird im Hinblick auf den Wert, den es für den Willen zur Macht hat. Solches bloße Abschätzen des Seienden ist aber per se abschätzig. Gleichgültig wie hoch auch immer der Wert eines einzelnen Seienden festgelegt wird, indem der Wille zum Willen es nicht an sich selbst sein lässt, erfährt es keine Achtung. Vielmehr verliert es, sofern es bloß der „Verfügungsgewalt“ des Willens zur Macht unterstellt ist, „zunehmend an Seinsqualität“. Aus Heideggers Sicht leistet Nietzsches antinihilistisch gemeintes Konzept einer Umwertung der Werte, welches die Frage nach dem Sein außer Acht lässt und an Stelle dessen „Seiendes für die totale Inanspruchnahme durch den Menschen freigibt (…), einem Weltverfall Vorschub, der im technischen Seinsverständnis des 20. Jahrhunderts kulminiert“ (Gawoll 1989, 279). Diesem Seinsverständnis zufolge bemisst sich der Sinn von Seiendem nur noch nach dessen Verwendungsmöglichkeit: „Das Seiende in seiner Totalität ist in den Horizont des verbrauchenden Gebrauchs gestellt“ (Volkmann-Schluck 1996, 122). Wenn aber die eigene Gestalt des je Seienden verschwindet, wenn das Seiende gleichsam gesichtslos geworden ist, indem es nur mehr „Bestände, Fonds, Reserven, jederzeit abrufbare, einsatzbereite Wirkbestände[gibt], die eben darauf unaufhörlich vorweg gespeichert werden müssen“ (Volkmann-Schluck 1996, 123), dann ist auch der Sinn aus der Welt verschwunden. Nach Heideggers Auffassung steht die Überwindung des Nihilismus also auch und gerade nach Nietzsche noch an. (C) Nishitani: Zu den wichtigsten Vermittlern zwischen den westlichen und fernöstlichen philosophischen Kulturen gehört die sogenannte „Kyoto-Schule“. Sie setzt sich aus einer Reihe sowohl in der westlichen als auch der fernöstlichen Denktradition glänzend unterrichteter japanischer Philosophen zusammen, die allesamt dem Denken Kitaro Nishidas verpflichtet sind, der gemeinhin als „‚Erzvater‘ der modernen japanischen Philosophie“ (Ohashi 1986, 122) gilt. Nishida war von 1914 bis 1929 Professor für Philosophie an der Universität Kyoto. Als bedeutende intellektuelle Instanz zog er einige besonders begabte Schüler an, so dass Kyoto schließlich zum philosophischen Zentrum Japans aufstieg. Auch wenn der Ort erstens generell durchaus als philosophischer Topos taugt und zweitens der Aufenthalt an einem bestimmten Ort sehr wohl prägenden Einfluss auf das dort Gedachte nehmen mag, so ist, was im Fall der Kyoto-Schule denkerisch Schule gemacht hat, doch nicht der Ort „Kyoto“ selbst. Vielmehr ist der schulbegründende gemeinsame Nenner der tief vom Zen-Buddhismus geprägten Kyoto-Schule die Beschäftigung mit dem Nichts, genauer noch: dem absoluten Nichts.⁵⁰ Naturgemäß stellt das Nichts, und erst recht das absolute Nichts, 50 „Der Grundbegriff, der in der (…) philosophischen Schule [Kyotos  – E.B.] grundsätzlich aufbewahrt und weiterentwickelt wird, ist das ‚absolute Nichts‘“ (Ohashi 1986, 124). Ebenso geht Carter

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das Denken vor gewaltige Herausforderungen. Es treibt das Denken und mit ihm die Sprache an ihre Grenzen. Allein auf reflexivem Wege kann man es nicht begreifen. Wohl aber lässt es sich erfahren (z. B. durch geübte Meditation) und diese Erfahrung kann im Nachhinein bedacht und in Worte gefasst werden. Gleichwohl können auch diese Worte nicht für denkerische Klarheit sorgen, weil die Nichtserfahrung als „Einheit des Gegensätzlichen“ bzw. – mit Nishida – als „absolut kontradiktatorische Selbstidentität“ (vgl. Waldenfels 2013, 68) material jeder diskursiven Logik spottet. In seiner Absolutheit umgreift das absolute Nichts schlechterdings alles; es ist alles, wiewohl es zugleich nichts ist. Im absoluten Nichts, in der Leere (sunyata), ist nichts und alles im selben Augenblick da. So aber ist alles da, dass es sich wechselseitig durchdringt. Das substanzielle Sein der Dinge, die als Substanzen entschieden auf sich selbst beharren, ist hier aufgehoben. Das Seiende ist entleert. Die Leere ist wie ein unendlich offenes Feld gegenseitiger, gleichsam freundlicher Durchdringung: Sunyâtâ stellt (…) eine Bewegung der Ent-Eignung dar. Sie ent-leert das Seiende, das in sich verharrt, das sich auf sich versteift oder sich in sich verschließt. Sie versenkt es in eine Offenheit, in eine offene Weite. Im Feld der Leere verdichtet sich nichts zu einer massiven Präsenz. Nichts beruht allein auf sich. Ihre ent-grenzende, ent-eignende Bewegung hebt das monadische Für-sich in eine wechselseitige Beziehung auf. (…) In einer Losgelöstheit schweben die Dinge zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, zwischen Sein und Nicht-Sein. Sie sprechen nichts Endgültiges aus. Nichts drängt sich auf; nichts grenzt sich, schließt sich ab. Alle Figuren gehen ineinander über, schmiegen sich an, spiegeln einander, als wäre die Leere ein Medium der Freundlichkeit. (Han 2002, 44f.)

Selbst wenn das diskursive Denken in dem Sinne vor der Leere kapitulieren muss, dass es gezwungen ist, widersprüchliche Ausdrücke zu bemühen, von ihr zu sprechen, so fällt einzusehen, dass die abgründigen Leere des Nihilismus von einer Nichtigkeit anderen Schlages ist, verhältnismäßig leicht. Das Nihilum des Nihilismus ist kein Ort wechselseitig durchdringenden Anschmiegens. Und es ist gewiss kein Medium der Freundlichkeit. Im Nichts nach dem Tode Gottes ereignet sich nicht die „Auflösung der Substantialität selbst in Leere (…), sondern die Substanz[wird] als Fundament beibehalten“, wobei „der Ort aber, in dem erst die Substanz besteht, vollständig entleert“ wird. Dergestalt gerät die Substanz zum Vakuum bzw. „zum absoluten Minus“ (Ueda 2014, 457). Allerdings kann das Nihilum des Nihilismus zum Durchgangsstadium zum absoluten Nichts werden, zur überleitenden Talsohle purer Negativität, hinter der sich die Leere des absoluten Nichts erstreckt, vor deren unendlichem Horizont das Nihilum seinerseits im Nichts versinkt: Wie (…) das nihilum für alles Seiende ein Abgrund ist, so ist die Leere ihrerseits ein Abgrund für den Abgrund des Nichts. So wie man zum Beispiel von einem Tal, wie unermeßlich tief es auch

2013, 11 vom Nichts (nothingness) aus als der „essential defining quality of Kyoto School thinking“. Heisig 2001 endlich gibt seinem Essay über die Philosophen der Kyoto-Schule den bezeichnenden Titel Philosophers of Nothingness.

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sei, sagen kann, es befinde sich letztlich im grenzenlos weiten Himmel, kann man auch sagen, das nihilum sei in der Leere. (Nishitani 1986, 172)

Das Nihilum ist in der Leere, darin es sich samt aller mit ihm verbundenen Schrecken verflüchtigen kann. Es wäre diese Aufhebung des (mithin relativen) nihilistischen Nichts in ein größeres (absolutes) Nichts die Überwindung des Nihilismus durch den Nihilismus hindurch. Sie ereignet sich niemals auf halber Strecke, sondern erfordert den konsequenten Abstieg bis zum tiefsten Punkt des Nihilismus. Erst am existenziellen Nullpunkt öffnet sich das freundliche Feld der Leere. Der Nihilismus überwindet sich selbst. Dies ist jedenfalls die Position von Nishidas Meisterschüler Keiji Nishitani, eines der wichtigsten Vertreter der Kyoto-Schule. Nishitani hat sich nicht bloß mit dem absoluten Nichts intensiv auseinandergesetzt, sondern auch mit dem relativen Nichts des Nihilismus, dessen Wesen die Verneinung des Seins ist, so dass es in bloßer Negativität Seiendes negiert. Dieses Nichts steht dem Sein in Feindschaft gegenüber. Nishitani weist darauf hin, dass wir gewohnt sind, das nihilistische Nichts zu objektivieren, es „wie ein ‚Ding‘ zu betrachten, das nichts ‚ist‘“. So erscheint es uns wie eine „Entität, die Nichts ‚ist‘“, weswegen sie den Gesetzten des Seins nicht untersteht. Mehr noch trachtet das nihilistische Nichts, das Nihilum, danach, die Gesetzte des Seins aufzuheben, indem es Seiendes ver-nichtet. Das Nihilum begegnet uns gerade in unserer Selbstinsistenz als jenes Andere, das unser Selbstsein potenziell zu jedem Zeitpunkt in Nichtsein aufzulösen vermag und eines Tages ganz sicher auch auflösen wird. Nichts entkommt dem Nichts. Derart finden wir uns, je mehr wir auf unserem Selbstsein bestehen, desto ausstehender in den abgründigen Horizont des bloß negierenden Nichts vor, das uns gleichsam von allen Seiten umklammert hält. Sonach erweist sich „das nihilum (…) als ein Abgrund, in den unser Selbstsein hineingehalten ist (…)“ (Nishitani 1986, 169). Das als äußerste Bedrohung unseres Selbstseins begriffene „subjektivistische nihilum“ (Nishitani 1986, 172) vereinzelt zudem und macht einsam. Es umgibt jedes einzelne Seiende wie eine Hülle, die sich nicht durchstoßen lässt und darum Seiendes radikal voneinander trennt. Sofern wir seiend sind, sind wir auch nichtig. Der Abgrund des Nihilum ist unser aller unfassbare Grund. Er sorgt dafür, dass uns sogar unser Nächster und Nächstes, unsere Familienangehörigen nicht minder als die uns vertrautesten Orte, ursprünglich und wesenhaft unbekannt sind.⁵¹ Sie alle verschwinden im Abgrund des Nichts: „Ihrem Wesen nach, das heißt da, wo sie in ihrer Soheit ihren Ursprung im nihilum haben, sind alle Seienden namenlos, unbenennbar und unkennbar“ (Nishitani 1986, 176).

51 „Das nihilum bzw. die Nichtigkeit ist keine bloß subjektive Stimmung, kein bloßes Phantasiebild, keine bloße Idee. Es ist eine Realität, so real wie die Tatsache, daß wir wirklich existieren. Zudem liegt es nicht weitab von unserem alltäglichen Leben, sondern wir leben und bewegen uns ständig darin. Nur weil unsere Alltäglichkeit so ‚alltäglich‘ ist, weil wir so sehr in die Alltäglichkeit verstrickt sind, versäumen wir es, der Realität des nihilum gewahr zu werden“ (Nishitani 1986, 175).

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Das Nihilum entfremdet uns voneinander, kapselt uns ab und schließt uns in dämonischer Verschlossenheit ein: Wenn das je einzigartige Sein aller Dinge, Vielheit und Unterschiedenheit der Welt, sich auf dem Feld des nihilum manifestiert, treten alle Dinge als durch einen Abgrund geschieden in Erscheinung. Hier existiert jedes von ihnen als ein Ding, das absolut in sich selbst verschlossen ist, einsam, unvergleichbar. Diesen Zustand absoluten In-sich-Verschlossenseins nennt man nihilistisch. (Nishitani 1986, 234)

Die Leere schließt derweilen nicht ab, sondern auf. Sie ist nicht der Ort oder das Medium der Vereinzelung, sondern der Einheit; einer Einheit der Begegnung. Die Leere ist „die Stätte, wo wir ursprünglich in Kontakt stehen nicht nur zu dem, dem wir nahe sind, sondern in gleicher Weise zu dem, was scheinbar keine Beziehung zu uns hat, und selbst zu unseren Feinden“ (Nishitani 1986, 177). Die Leere ist mit einem Wort ein Ort allumfassender Bejahung.⁵² Nishitanis in aller Breite und zugleich in äußerster Konzentration (namentlich in seinem bekanntesten Werk Was ist Religion?) entfaltete Philosophie der Leere ist eine Philosophie der Affirmation. Dabei markiert das allumfassende Jasagen nur ihren Endpunkt. Ihr Ausgangspunkt ist dagegen das nichtende Nein des Nihilismus, dessen nagende Kraft Nishitani am eigenen Leib erfahren hat. Über seine Jugendzeit schreibt der Philosoph, es sei eine „Periode ohne jede Hoffnung gewesen“. Unter den Eindrücken des frühen Todes seines Vaters und eigener schwerer Krankheit⁵³ lag sein Leben, wie Nishitani rückblickend vermerkt, „ganz im Griff der Nichtigkeit und Verzweiflung“. In dieser heiklen Situation entschied sich der Verzweifelte dazu, Philosophie zu studieren: „[M]ein Entschluß dann, Philosophie zu studieren, war tatsächlich, so melodramatisch das klingen mag, eine Sache auf Leben und Tod.“ In Abwandlung eines berühmten Platon-Wortes ließe sich womöglich sagen, Philosophie habe für Nishitani bedeutet, leben zu lernen: „In der kleinen Geschichte meiner Seele bedeutet dieser Entschluß eine Art Konversion“ (Nishitani, Meine Jugendzeit; zit. nach Fischer-Barnicol 1986, 25). Es versteht sich angesichts dieser Umstände beinahe von selbst, dass Nietzsche zu den maßgeblichen „Gesprächspartnern“ des zum Leben Konvertierten gehört. Wirklich führte Nishitani Nietzsches philosophische Dichtung Also sprach Zarathustra, die ja auch die Geschichte eines am Nihilismus beinahe zugrunde Gehenden, schlussendlich aber Genesenden erzählt, während seiner Schulzeit wie eine Bibel

52 Diese Bejahung ist allerdings nicht ohne eine bestimmte Form von Verneinung möglich. Das Ich muss entleert werden, muss sich von sich selbst als einer auf sich selbst beharrenden Substanz lösen. Erst auf diese Weise wird die Vereinzelung durchbrochen und die Einsamkeit aufgehoben. An die Stelle der Abgrenzung tritt nun die Freundlichkeit: „Nichts bleibt für sich isoliert, verharrt in sich. Die Dinge schmiegen sich an, spiegeln einander. Die Leere ent-innerlicht das Ich zu einer re amicae, die sich öffnet wie ein Gasthaus“ (Han 2002, 114). 53 Man beachte die biografische, ja, wenn man so will: die Schicksalsnähe Nishitanis zu Nietzsche.

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stets mit sich (vgl. Heisig 2001, 192). Wir können Nishitanis Weg mit Nietzsche durch den Nihilismus heute streckenweise anhand seines Buches The Self-Overcoming of Nihilism⁵⁴ nachverfolgen. Während das Werk im Westen bislang nicht die Aufmerksamkeit erhalten hat, die es wohl verdient hätte, gehört es in Japan zur Standardlektüre der Philosophie-Studierenden.⁵⁵ Insofern The Self-Overcoming of Nihilism eine gleichermaßen kluge wie feinfühlige Einführung in die philosophische Geschichte des Nihilismus im Allgemeinen und in Nietzsches Philosophie im Besonderen darstellt,⁵⁶ trägt das Buch wesentlich zur Verbreitung von Nietzsches Denken in Japan bei. Es handelt sich genau genommen um „the first substantial introduction of Nietzsche’s philosophical ideas to a general Japanese audience“ (Parkes 1990, XX). „Der Mangel an Person rächt sich überall“, schreibt Nietzsche in Moral als Problem, einem der Aphorismen (FW 345) seines vielleicht reifsten Werkes, des fünften Buches der Fröhlichen Wissenschaft. Dieser Mangel rächt sich überall, vor allem aber, führt Nietzsche aus, in der Philosophie. Wahres Philosophieren verlangt persönliches Involviertsein: Die „Selbstlosigkeit“ hat keinen Werth im Himmel und auf Erden; die großen Probleme verlangen alle die g ro sse Lieb e, und dieser sind nur die starken, runden, sicheren Geister fähig, die fest auf sich selber sitzen. Es macht den erheblichen Unterschied, ob ein Denker zu seinen Problemen persönlich steht, so dass er in ihnen sein Schicksal, seine Noth und auch sein bestes Glück hat, oder aber „unpersönlich“: nämlich sie nur mit den Fühlhörnern des kalten, neugierigen Gedankens anzutasten und zu fassen versteht. Im letzteren Falle kommt nichts dabei heraus (…): denn die grossen Probleme, gesetzt selbst, dass sie sich fassen lassen, lassen sich von Fröschen und Schwächlingen nicht halten (…). (FW 345; KSA 3, 577f.)

Die große Liebe, von der Nietzsche hier spricht, ist keineswegs behaglich. Es handelt sich nicht um eine sanfte Wohlfühlliebe, die uns selbst und alles um uns herum in ein mildes, besänftigendes Licht taucht. Die große Liebe greift vielmehr beherzt zu und lässt ein Problem, das sie einmal erfasst hat, nicht mehr los, egal als wie schwer es sich auch immer herausstellen sollte. Nur die große Liebe vermag große Probleme zu lieben. Die große Liebe ist darüber hinaus verstehend. Sie begreift ein Problem womöglich überhaupt erst als Problem. Als Gegenstand der großen Liebe wird das große Problem für den Liebenden zu seinem persönlichen Problem, d. h. es betrifft

54 Das 1990 in englischer Übersetzung erschienene Buch The Self-Overcoming of Nihilism geht auf eine Reihe von Vorlesungen zurück, die Nishitani 1949 über den Nihilismus gehalten hat und die als Buch noch im selben Jahr unter dem schlichten Titel Nihirizumu (Nihilismus) publiziert wurden. In The Self-Overcoming of Nihilism ist außerdem ein ebenfalls 1949 erstmals in Japan veröffentlichtes kurzes Buch über den russischen Nihilismus (Kapitel 7) eingearbeitet. 55 „In fact it is difficult to meet a philosopher in Japan today who did not read Nihirizumu as a student; the book seems to have been, at least until recently, a more or less required text“ (Parkes 1990, XX). 56 Außer Nietzsche werden unter dem Gesichtspunkt des Nihilismus auch andere Autoren von Hegel bis Heidegger behandelt. Etwa die Hälfte des Buches ist jedoch allein Nietzsche gewidmet.

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ihn existenziell. Mit Blick auf obigen Aphorismus bemerkt Nishitani (1990, 88): „What Nietzsche calls persönlich, we would today call existential.“ Der Nihilismus ist ein großes Problem. Es lässt sich von außen betrachtet nicht angemessen verstehen. Von außen mag der Nihilismus interessant erscheinen, vielleicht erkennt man in ihm auch ein Problem. Kaum aber erfasst man ihn aus dieser Perspektive als das große Problem, das er in Wahrheit ist. Als großes Problem erweist er sich erst, wenn er aus dem Inneren aufsteigt. Ein großes Problem ist er für das Selbst. Der Nihilismus macht das Selbst selbst zum Problem: However appropriate a detached spirit of inquiry may be for other intellectual problems, in the case of existentialism or nihilism it is inappropriate. The attitude of wanting to know about nihilism (…), means that from the start one is questioning from the standpoint of „society“ and not from „the self itself.“ (…) But if nihilism is anything, it is first of all a problem of the self. And it becomes such a problem only when the self becomes such a problem, when the ground of existence called „the self“ becomes a problem for itself. When the problem of nihilism is posed apart from the self, or as a problem of society in general, it loses the special genuineness that distinguishes it from other problems. (Nishitani 1990, 1)

Für Nishitani ist der Nihilismus ein großes Problem, dem sich als solchem adäquat nur durch die große Liebe begegnen lässt. Der eigenen Endlichkeit einen Augenblick gewahr zu werden, der Todesverfallenheit für einen Moment ins Angesicht zu blicken, um sich von dieser düsteren Ansicht und Aussicht gleich wieder abzuwenden und anderem zuzuwenden, macht noch keinen Nihilismus. Erst wenn die Nichtigkeit des eigenen Selbst nicht bloß erfasst, sondern auch gehalten wird, kann von Nihilismus die Rede sein. Und erst dann kann der Nihilismus auch überwunden werden. Alles andere ist ein bloßes Ausweichen. Nishitani erkennt in Nietzsche einen leidenschaftlichen Denker der großen Liebe. Heideggers Satz, dem zufolge Nietzsche nie existenziell philosophiert habe (vgl. Heidegger 1977[1943], 230), würde er folgerichtig nicht unterschreiben. Tatsächlich ist Nishitanis Nietzsche-Interpretation eigenständig, was insofern Erwähnung verdient, als er von 1937–1939 bei Heidegger, der zu jener Zeit ganz mit Nietzsche beschäftigt war, in Freiburg studierte.⁵⁷ Im Unterschied zu Heideggers seinsgeschichtlicher Sichtweise auf Nietzsches Philosophie betont Nishitanis existenzieller Ansatz ausdrücklich den Unterschied zwischen einem natürlichen Nihilismus, wie er unmittelbar aus dem menschlichen Leben aufsteigt und dem europäischer Nihilismus, der sozusagen als Neben- und Folgewirkung der Abwehrmaßnahmen Christentum und Moral gegen den natürlichen Nihilismus überhaupt erst den Boden der Geschichte betreten hat. Der natürliche Nihilismus erwächst aus der natürlichen Schwäche des Menschen, der

57 Eine gewisse Vorliebe für den Nachlass scheint er unterdessen von Heidegger übernommen zu haben, was sich negativ bemerkbar macht, wenn Nishitani im Zweifelsfall eher auf Nietzsches Notate zurückgreift, um einen bestimmten Gedanken zu plausibilisieren, als auf entsprechende, in aller Regel besser ausgearbeitete, Texte aus Nietzsches publiziertem Werk.

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als endliches Wesen Leid und Tod ausgesetzt ist und sich seiner Hinfälligkeit bewusst wird: „If this were all, human life would be worthless and the world meaningless“ (Nishitani 1990, 34). Die praktische Konsequenz aus dieser Einsicht ist im Extremfall das Erlahmen des Lebenswillen. Das Christentum interpretiert die Welt dagegen als göttliche Schöpfung und schreibt zumal dem menschlichen Leben einen absoluten Wert zu. Außerdem weiß es das Drama der Endlichkeit zu entdramatisieren, indem es eine jenseitige Welt inauguriert und als die „eigentliche“ Welt installiert. In dieser Welt sind Leid und Tod aufgehoben. Den peinigenden Herausforderungen des unmittelbaren oder natürlichen Nihilismus hat es auf diese Weise eine entwaffnende Antwort erteilt. Der natürliche Nihilismus wäre einstweilen überwunden: A desperate individual who has lost all purposes in life is able, by conceptualizing a „God“ beyond this life, to regain the strength and will to live, to find meaning in life – even in its sufferings and misfortunes – and thus to overcome natural nihilism. (Nishitani 1990, 76)

Verliert unterdessen die religiöse Rechtfertigung des Lebens ihre Überzeugungskraft, wird der natürliche Nihilismus wiederum zu einem brennenden Thema. Doch ist der Nihilismus mittlerweile reflexiver geworden. Er hat die Überwindungsstrategien der Religion durchschaut und sich infolgedessen gegen deren Wirkkraft gleichsam immunisiert. Auf diese Weise ist ein höherstufiger Nihilismus entstanden: „the ‚true‘ nihilism, the self-conscious nihilism that Nietzsche calls ‚European nihilism‘“. Nishitani konzentriert sich zunächst auf die aktive Seite des europäischen Nihilismus, indem er ihn als einen Nihilismus der Stärke darstellt, der einmal zum Bewusstsein seiner selbst erwacht, selbstbewusst die Bande der Religion zerreißt und von sich wirft; „it does so as a positive will to negate, as strength of will, as genuine conscience and purity of heart“ (Nishitani 1990, 77). An die nihilistische Reinheit des Herzens und die Kraft des neinsagenden Willens, die den selbstbewussten Nihilismus auszeichnen, war unter der Herrschaft des Christentums mitsamt seiner paternalistischen Moral nicht zu denken. Der höherstufige Nihilismus ist ein Nihilismus der Freiheit. Seine Kraft ist gewaltig, aber rein destruktiv. Überwunden wird der Nihilismus erst, wenn auf das Destruktive das Kreative folgt, wenn also, mit anderen Worten, ein jasagender Wille an die Stelle des neinsagenden Willens tritt. Dieser jasagende Wille äußert sich durch das Setzen neuer Werte. Sind die alten Werte einmal entwertet worden, wird die Setzung neuer Werte notwendig. Ein rein destruktiver Nihilismus lässt sich nicht aufrechterhalten, wenn es nichts mehr zu negieren gibt. Als zielloser Nihilismus beugt er sich wie der natürliche Nihilismus zuletzt über das Leben selbst und erklärt es für sinnlos. Zugleich lässt er sich nicht mehr mit den Mitteln der Religion bekämpfen. Es besteht also die Notwendigkeit, den Nihilismus zu überwinden, in entschlossenen Schritten durch den Nihilismus hindurch. Dazu muss man den Weg in den nihilistischen Abgrund zu Ende gehen. Nietzsche tut das, wie Nishitani hervorhebt, wenn anders er ernstmacht mit dem durch das Christentum qua Tugend der Redlichkeit selbst großgezogenen wissenschaftlichen Geist. Dieser skeptische Geist

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ist ihm zum Gewissen geworden. Der wissenschaftliche Geist ist als derart gewissenhafter Geist aber eine nihilistische Gewalt: „In fact one of the essential driving forces of Nietzsche’s nihilism is his radical and fearless pursuit of the scientific spirit“ (Nishitani 1990, 84). Mit Hilfe des wissenschaftlichen Gewissens gelingt es Nietzsche auch die bestverborgenen metaphysischen Restbestände unseres Wertekanons aufzudecken und zurückzuweisen. Indem er nämlich auch den Glauben an die Wahrheit der sich als freie Geister wähnenden Wissenschaftler noch kritisch hinterfragt und als geheimen metaphysischen Glauben entlarvt, gelangt er auf eine bis dato nicht erreichte Stufe des Atheismus: „His is a higher level atheism in virtue of his having moved from a masked unconscious nihilism to a an explicit and self-conscious nihilism“ (Nishitani 1990, 87). Dieser Nihilismus ist, wie Nishitani befindet, vollendeter Natur. Nietzsche hat die Geschichte des europäischen Nihilismus durchschaut und beschrieben als ein notwendiges Geschehen, das einer inneren Logik folgt: von der Errichtung des religiösen Bollwerks gegen den natürlichen Nihilismus über den das Bollwerk einreißenden neinsagenden Nihilismus zum vollendeten Nihilismus größtmöglicher Klarsicht. Begreift man diese inneren Zusammenhänge des Nihilismus als Etappen eines geschichtlichen Geschehens, erweist sich der Nihilismus als Schicksal. Er ist aber jenes Schicksal, das dem Menschen die Zügel seines eigenen Schicksals in die Hände legt. Der Nihilismus ist zwar ein schrecklicher Zerstörer. Andererseits ist er jedoch ein großer Befreier. Er befreit den Menschen zu sich selbst: Our very existence, as well as our morality, has turned into an enigma. But the fact that nihilism has arrived and human beings have become a problem for themselves from the ground up has made the standpoint of Existence possible. In orientating themselves to the abyss within, people can now fully extend the horizon of their relationship to themselves. (Nishitani 1990, 78)

Erst jetzt wird es möglich, sein Schicksal als das eigene anzunehmen und zu bejahen. Am Ende erzwingt der Nihilismus regelrecht den Amor fati  – gelingt es nicht, das eigene Schicksal anzunehmen, geht man am Nihilismus zugrunde. Die Notwendigkeit mündet in die Wende der Not. Auf dem Grund des Nihilismus ereignet sich dessen Selbstüberwindung. Der Weg desjenigen, der eigenmächtig Werte setzt, ist bereitet: Under the compulsion of the need or necessity (Not) that prevents one from becoming oneself and from becoming free, one is forced to descend into the abyss within. But once one is freed within the abyss, the need is turned into an element of this life of freedom. When Zarathustra calls his own soul „turn of need“ (Wende der Not) and „fate“ (Schicksal)[Z III Sehnsucht ; KSA 4, 279 – E.B.], he means that the turn of need, in which necessity is turned into an element of the life of the free soul, is the soul itself. In this case necessity becomes one with the creative. (Nishitani 1990, 52)

Die neue Wertsetzung erfolgt auf der Basis einer Versöhnung mit dem Leben, das ständig neue Emanationen aus seinem Schoß gebiert. Nicht mehr als eine gewaltige Vernichtungsmaschine, sondern als ewig schöpferische Mutter wird das Leben jetzt

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begriffen. Nachdem das Heilige beseitigt wurde, kann endlich das Leben geheiligt werden. Die Heiligsprechung des Lebens findet ihren Niederschlag in den neuen Werten, die sich nicht mehr am Jenseits, sondern am Diesseits ausrichten. Es vollzieht sich sonach ein Wechsel vom asketischen zum kreativen Ideal. Mit der Aufwertung des Diesseits endet die in der Metaphysik und im Christentum betriebene Abwertung des Leibes. Der Leib gewinnt eminent an Bedeutung. Für Nishitani steht fest, dass die Überwindung des Nihilismus zu einer neuen Existenzform führt, die der Aufwertung des Leibes Rechnung trägt. Es ist dies „the form of Existence as ‚body‘“; womit freilich kein „simple body worship“ gemeint ist (Nishitani 1990, 95). Wenn Nishitani von dieser neuen Existenzform spricht, bezieht er sich auf Zarathustras Rede Von den Verächtern des Leibes. In dieser Rede identifiziert Zarathustra den Leib (body) mit dem Selbst des Menschen. Dieses Selbst ist gerade nicht identisch mit dem Selbstbewusstsein, dem selbstreflexiven Ego cogito, um das zumal Descartes so viel Wind macht. Das vernünftige Ich ist nicht die maßgebliche Instanz im Menschen. Es gibt eine ursprünglichere, größere Vernunft: die des Leibes: „Der schaffende Leib schuf sich den Geist als eine Hand seines Willens“ (Z I Verächtern; KSA 4, 40). Der Leib bzw. das Selbst ist in Nishitanis Auslegung „the self as primordial life itself“ (Nishitani 1990, 96). Die postnihilistische Existenzweise schöpft ihre Kraft also aus dem Leben selbst, dem ewig Uranfänglichen, von dem sich der Mensch im Prozess des Nihilismus so weit entfernt hat, um endlich aber, tiefer denn je, wieder darin einzutauchen. Bereits in The Self-Overcoming of Nihilism klingt damit die buddhistisch orientierte Überwindung des Nihilismus an, die Nishitani schließlich in Was ist Religion? in aller Ausführlichkeit entwickelt. Nietzsche wird dabei als Denker gewürdigt, der hinsichtlich der Lösung des Nihilismus-Problems den richtigen Pfad eingeschlagen hat, indem er einer beinahe schon buddhistischen Weise Selbst zu sein, das Wort redet: „The body in Nietzsche is the kind of self that is conceived from the side of an ultimate self-awakening beyond self-consciousness (…)“ (Nishitani 1990, 97). (D) Camus: Albert Camus hat Nietzsche sein Leben lang bewundert.⁵⁸ Insbesondere für den jungen Camus fungiert Nietzsche mit seinem Willen „zu trotzig-freudvoller Annahme und Überwindung des Lebensleids durch die Vernichtung der traditionellen Moral und die Errichtung neuer Werte (…) als einzigartige Vorbildgestalt“ (Sändig 1992, 86). Als eine solche spielt er eine heimliche Hauptrolle in Camus’ erstem großen 58 Camus hat sich im November des Jahres 1954 in Turin aufgehalten und dort auch jenes Haus in der Via Carlo Albert besucht, in dem Franz Overbeck seinen offenbar dem Wahnsinn verfallenen Freund Nietzsche am achten Januar 1889 in desolatem Zustand vorfand. Nach dem Besuch bekennt Camus seinem Tagebuch: „Ich habe die Erzählung von der Ankunft Overbecks, von seinem Eintritt ins Zimmer, in dem Nietzsche irre redet, von der Bewegung, mit der dieser sich weinend in die Arme Overbecks stürzt, niemals lesen können, ohne selbst zu weinen. Vor diesem Haus versuche ich an ihn zu denken, den ich immer mit ebensoviel Zuneigung wie Bewunderung geliebt habe, aber vergebens“ (Camus 1993[1951–1959], 159).

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Essay, Der Mythos des Sisyphos, während Der Mensch in der Revolte, der zweite umfangreiche philosophische Essay des französischen Literatur-Nobelpreisträgers (1957), ein anderes, zwar immer noch von Verehrung getragenes und von Übereinstimmungen durchzogenes, insgesamt aber kritischeres Nietzsche-Bild zeichnet. Beide Essays machen derweil eines ganz deutlich: Camus hat Nietzsche wesentlich als einen Denker des Nihilismus wahrgenommen. Im Folgenden wird sich zeigen, dass Camus in Nietzsche einerseits einen Überwinder, andererseits aber auch einen Verschlimmerer des Nihilismus sieht. Gott ist tot – lautet die in Stein gemeißelte Prämisse, von der Camus in seinem Sisyphos ausgeht. Ich habe den furiosen Auftakt des Essays bereits zitiert: Der Selbstmord, heißt es dort, sei das einzig wirklich ernst zu nehmende, das fürwahr grundlegende philosophische Problem, alles weitere, „ob die Welt drei Dimensionen und der Geist neun oder zwölf Kategorien hat – kommt später“. Bevor man sich in derlei intellektuelle „Spielereien“ ergehe, müsse man zunächst auf die Frage antworten, „ob das Leben es wert ist, gelebt zu werden oder nicht“ (Camus 2002[1942], 11). Die hier gestellte Fundamental-Frage wäre gründlich missverstanden, wollte man sie im Sinne jener „seit Schopenhauer so beliebte[n]“ und für die philosophische Strömung des Pessimismus typische „Bilanzbuchhalterei des Lebensgeschäftes“ (Lütkehaus 2003, 475) interpretieren. Camus geht es nämlich nicht um eine durch einen Philosophen in der kontemplativen Abgeschlossenheit (der Welt gegenüber) seines Studierzimmers durchgeführte Kosten-Nutzen-Rechnung, als deren Resultat der Wert (oder Unwert) des Lebens schwarz auf weiß nachzulesen wäre. In Wirklichkeit zielt die Frage auf eine existenzielle Wahl: Entweder ich entscheide mich für das Leben (ein Entschluss, der nun auch die Beschäftigung mit sekundären mehr oder weniger philosophischen Problemen zulässt, wie z. B. die angesprochenen Dimensions- und Kategorienfragen) oder dagegen (dann müsste meine Antwort konsequenterweise in der Tat des Selbstmordes bestehen). Das christliche Weltbild verfemt den Selbstmord bekanntlich als Sünde. Zwar kann sich der Mensch vermöge seiner Freiheit gegen das Leben entscheiden, doch begeht er qua Selbsttötung ein Sakrileg, indem er das ihm von Gott anvertraute Geschenk des Lebens radikal zurückweist. Für Camus jedoch ist Gott tot und bleibt es auch. Die Freiheit der Entscheidung zugunsten oder zulasten des Lebens ist solchermaßen also nicht durch die Verpflichtung gegenüber Gott beeinflusst. Anders ausgedrückt: Der Mensch befindet über sein Leben in eigener Verantwortung, ist Richter und gegebenenfalls auch Henker seiner selbst in Personalunion. Die Abwesenheit Gottes bedeutet für den Menschen demnach sowohl eine Befreiung, nämlich von der Bürde, Sünder zu sein, als auch eine Beförderung in das Amt eines Richters. Man sollte in Anbetracht derart verbesserter Existenz-Konditionen meinen, die Waage neige sich nach dem Tod Gottes eher in Richtung des Lebens als des Todes. Und doch entwickelt der Nihilismus erst durch den Tod Gottes seine volle Kraft. Immerhin war Gott mehr als nur ein strenger Richter. Er war vor allem eine sinngebende Instanz, die als solche den Nihilismus in Schach hielt. Eine gottlose Welt bzw. ein gottloses Dasein stehen per se unter „Unsinnsverdacht“. Im Unterschied zu einer ganzen Reihe promi-

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nenter Philosophen (im Sisyhpos werden genannt: Heidegger, Jaspers, Schestow, Kierkegaard und Husserl), welche die Absurdität des Lebens wohl erkannt, sofort aber auch, jeder auf seine Weise, wieder geleugnet hätten (ein Akt, den Camus als „philosophischen Selbstmord“ bezeichnet; vgl. Camus 2002[1942], 57), macht Camus keinen Hehl daraus, dass das menschliche Dasein im Grunde eine durch und durch absurde Angelegenheit ist, die jeden tieferen Sinn vermissen lässt. Zwar sind wir für gewöhnlich derart in das alltägliche Leben verstrickt und von ihm in Anspruch genommen, dass wir dessen grundlegende Absurdität gar nicht bemerken. Allein das Absurde lauert überall. Bereits an der nächsten Straßenecke droht es einen, zunächst als diffuses Gefühl, zu überfallen.⁵⁹ Sei es die Redundanz der täglichen Routine, die uns mit einem Male aufgeht und lästig bis zum Ekel wird, seien es weltliche Gegenstände oder ganze Landschaften, die bedrohlich und befremdend auf uns wirken, seien es andere Menschen, deren Agieren uns seelenlos, mechanisch und sinnlos vorkommt oder sei es am Ende gar unser eigenes Spiegelbild, das uns mit Unbehagen erfüllt – das Absurde bekundet sich als Gefühl auf mannigfache Weise. Vornehmlich aber äußert es sich als Fremdheitsempfinden den Dingen, den anderen, uns selbst, der ganzen Welt gegenüber. Angesichts der ultimativen „Unsinnsspitze“: des Todes, der uns alle irgendwann einmal erwartet und den vermeintlichen Sinn unseres Tuns und Trachtens ad absurdum führt, durchbohrt uns das Gefühl des Absurden mit größtmöglicher nihilistischer Gewalt: „Im tödlichen Licht dieses Verhängnisses tritt die Nutzlosigkeit in Erscheinung“ (Camus 2002[1942], 26). Warum jetzt noch moralisch, warum überhaupt noch handeln? Wozu die Mühe, wenn doch alles, was wir tun, am Ende zu nichts nütze ist? Das Absurde scheint dem lebensverneinenden Nihilismus endgültig das Zepter in die Hand zu geben. Allerdings weichen das drastische Gefühl des Absurden und die damit einhergehende nihilistische Gestimmtheit in der Regel bald wieder anderen Gefühlen, die ihrerseits wiederum in andere, zumeist gemäßigtere Stimmungen münden. Soweit Camus zum Gefühl des Absurden. Unterdessen ist unser Gefühlsapparat nur dessen eine Quelle; die andere ist unser Verstand. Und wenn dieser auf das Absurde stößt, wird es schwieriger, dasselbe schnell wieder abzuschütteln. Dabei bringen bereits die einfachsten Paradoxa unseren Verstand in Verlegenheit. Jede Allaussage (z. B.: „Alles ist wahr“ oder „Alles ist falsch“) verwickelt ihn in Widersprüche, so dass der über sich selbst reflektierende Verstand 59 „Das Gefühl der Absurdität kann an jeder beliebigen Straßenecke jeden beliebigen Menschen anspringen. Es ist in seiner trostlosen Nacktheit, in seinem glanzlosen Licht nicht zu fassen“ (Camus 2002[1942], 20). „Alle großen Taten und alle großen Gedanken haben einen lächerlichen Anfang. Die bedeutenden Werke werden oft an einer Straßenbiegung oder am Eingang eines Restaurants geboren. So ist es auch mit der Absurdität. (…) Manchmal stürzen die Kulissen ein. Aufstehen, Straßenbahn, vier Stunden Büro oder Fabrik, Essen, Straßenbahn, vier Stunden Arbeit, Essen, Schlafen, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, immer derselbe Rhythmus – das ist meist ein bequemer Weg. Eines Tages aber erhebt sich das ‚Warum‘, und mit diesem Überdruß, in den sich Erstaunen mischt, fängt alles an“ (Camus 2002[1942], 22f.).

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„in einen schwindelerregenden Wirbel gerät“ (Camus 2002[1942], 27). Im Fortgang seines Essays macht sich Camus einige Allgemeinplätze der Erkenntnistheorie zu Nutze, die allesamt darauf hinauslaufen, dass eine Letzterkenntnis der Dinge außerhalb des Bereiches des Menschenmöglichen liegt, weswegen, mit Kant gesprochen, die Welt „an sich“ ewig im Dunkeln bleiben muss. Doch der Mensch verlangt, Antworten auf die sogenannten „letzten Fragen“ zu erhalten. So krankt er an einer Sehnsucht, die sich nicht stillen lässt. Er leidet am Absurden, das aus dieser tragischen Sehnsucht überhaupt erst hervorgeht: „Das Absurde entsteht aus diesem Zusammenstoß zwischen dem Ruf des Menschen und dem vernunftlosen Schweigen der Welt“ (Camus 2002[1942], 41).⁶⁰ Nichts begehrt der Mensch mehr als Klarheit und Vertrautheit (vgl. Camus 2002[1942], 28). Je mehr er sich indessen in seinem Forschungsdrang um Klarheit und Vertrautheit bemüht, je leidenschaftlicher er die Wahrheitssuche vorantreibt, desto weniger vertraut wird ihm die Welt, desto fremder das eigene Leben.⁶¹ Selbst die welterklärenden Analysen der Naturwissenschaften verschieben diese enge Grenze des Wissens nicht. Das Wissen nämlich, welches die Naturwissenschaften in immer größerem Umfang bereitstellen, ist reines Sachwissen. Camus hat jedoch ein tiefergehendes, den Menschen unmittelbar angehendes Wissen im Sinn, ein Weltverständnis, das die Kluft zwischen Mensch und Welt überbrückt (beinahe möchte man von einem „Welteinverständnis“ sprechen). Ein solches Wissen würde bewirken, dass der Mensch in einer Atmosphäre der Vertraut- und nicht der Fremdheit lebte. Vor einem derartigen Anspruch muss die Wissenschaft indes kapitulieren, denn „Kausalerklärungen schaffen niemals ein Klima des Vertrautseins“ (Fenner 2006, 87). Ein solches Klima scheint überhaupt nur dann möglich, „wenn die rohen Tatsachen[der Natur, des Universums – E.B.] analog zur menschlichen Welt gedeutet werden dürften“ (Fenner 2006, 88): „Würde der Mensch erkennen, daß auch das Universum lieben und leiden kann, er wäre versöhnt“ (Camus 2002[1949], 28). Nur sprechen alle unsere Erfahrungen gegen die Liebes- und Leidensfähigkeit des Universums. In summa sieht es also so aus, als müsste der Mensch die Hoffnung auf eine Erfüllung seiner Sehnsucht begraben. Bleibt dann tatsächlich nur der Selbstmord? Mitnichten. Camus will, wie vor ihm Nietzsche, ein Fürsprecher des Lebens sein. Als Advocatus vitae zieht er folgenden Schluss: Wenn das Leben nicht ohne das Absurde

60 Vgl. auch Camus 2002[1942], 33: „Ich sagte vorschnell, die Welt sei absurd. An sich ist diese Welt nicht vernünftig – das ist alles, was man von ihr sagen kann. Absurd aber ist der Zusammenstoß des Irrationalen mit dem heftigen Verlangen nach Klarheit, das im tiefsten Innern des Menschen laut wird.“ Der Nukleus des Absurden ist das menschliche Bewusstsein: „Ebendiese so lächerliche Vernunft setzt mich in Widerspruch zur ganzen Schöpfung. (…) Und was ist der Kern dieses Konflikts, dieses Bruchs zwischen der Welt und meinem Geist, wenn nicht das Bewusstsein, das ich von ihm habe“ (Camus 2002[1942], 70)? 61 „Von wem oder wovon kann ich tatsächlich behaupten: ‚Das kenne ich!‘ Das Herz in mir kann ich fühlen, und ich schließe daraus, daß es existiert. Die Welt kann ich berühren, und auch daraus schließe ich, daß sie existiert. Damit aber hört mein ganzes Wissen auf; alles andere ist Konstruktion“ (Camus 2002[1942], 30.).

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zu haben ist, muss man eben absurd leben. Worauf es jetzt ankommt, ist „Lebensregeln für diesen Zustand“ (Camus 2002[1949], 56), d. h. für ein Leben im Zeichen des Absurden, zu finden. Als oberste Regel gilt, das Absurde nicht zu verleugnen, sondern ihm sehenden Auges Paroli zu bieten: „Leben heißt das Absurde leben lassen. Es leben lassen heißt vor allem ihm ins Auge sehen“ (Camus 2002[1949], 72). Absurd zu leben bedeutet, mit offenem Visier einem unbesiegbaren Feind zu begegnen, ohne sich vor dessen Übermacht in den Staub zu werfen. Mit viel Pathos vertritt Camus eine Philosophie der Auflehnung.⁶² Indem wir uns gegen das Unabänderliche stemmen, erfüllen wir unser Dasein mit einer vom Trotz angefeuerten, ungeheuren Intensität und Leidenschaft. Camus glaubt sogar an die wertbildende Kraft der Auflehnung: „Diese Auflehnung gibt dem Leben seinen Wert“ (Camus 2002[1949], 73). Man könnte auch von Würde sprechen, von einer „neuen Dignität“ (Galle 2009, 60), die sich aus der Haltung des absurd lebenden Menschen speist, einer Einstellung, die Camus für heldenhaft hält. Komme was da wolle, der absurde Mensch hält stand. Um seiner Philosophie der Auflehnung mehr Kontur zu verleihen, greift der Schriftsteller auf den antiken Mythos zurück und präsentiert uns Sisyphos als Archeund Prototypen des absurden Helden. Was ihn für dieses Amt qualifiziert, ist nicht allein die legendäre Strafe, die Sisyphos erleiden muss. Auch sein leidenschaftliches, von der Verachtung der Götter  – kulminierend in der Auflehnung gegen den Tod (Thanatos) – geprägtes Vorleben disponiert ihn, die Rolle des absurden Helden zu besetzen (vgl. Camus 2002[1942], 156). Für seine Taten haben die Götter Sisyphos hart bestraft. Er ist dazu verurteilt, einen Felsbrocken immer wieder aufs Neue auf den Gipfel eines Hügels hinauf zu wälzen, nur um dann erleben zu müssen, wie dieser gewaltige Stein wieder ins Tal hinunterrollt. Dieses so mühsame wie sinnlose⁶³ Geschäft ist ihm ewig aufgegeben. Trotzdem behauptet Camus: „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen“ (Camus 2002[1942], 160). Dieses merkwürdige Glück gründet auf der Luzidität des Verurteilten. Während er den Hang dem Felsen nach hinuntersteigt, bleibt ihm Zeit, seine Situation zu bedenken. Er erkennt ihre Ausweglosigkeit. Man sollte meinen, gerade diese hoffnungsraubende Klarsicht würde ihn seine Strafe als Strafe erfassen lassen und so sein Leiden auf die Spitze treiben. Doch Sisyphos bringt die Kraft auf, sein grausames Schicksal zu verachten: „Die Klarsichtigkeit, die Ursache seiner Qual sein sollte, vollendet zugleich 62 „Sie ist eine ständige Konfrontation des Menschen mit seiner eigenen Dunkelheit. Sie ist der Anspruch auf eine unmögliche Transparenz. Sie stellt die Welt in jeder Sekunde in Frage. (…) Sie ist die ständige Anwesenheit des Menschen bei sich selbst. Sie ist kein Sehnen, sie ist ohne Hoffnung. Diese Auflehnung ist nichts als die Gewißheit eines erdrückenden Schicksals, weniger die Resignation, die es begleiten sollte“ (Camus 2002[1949], 72f.). 63 Anzumerken ist allerdings, dass es sich bei dieser sinnlosen Tätigkeit um eine Strafe für ein bestimmtes Vergehen handelt. Mag also die Tätigkeit als solche auch sinnlos oder absurd sein, so verdankt sie sich dennoch nicht reiner Willkür, sondern hat ihren Platz innerhalb eines Systems (des Mythos), in dem sie durchaus Sinn ergibt. Im Rahmen des Mythos gilt: Wer sich den Göttern widersetzt, wird bestraft.

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seinen Sieg. Es gibt kein Schicksal, das durch Verachtung nicht überwunden werden kann“ (Camus 2002[1942], 158). Vom Gipfel des Hügels aus betrachtet Sisyphos sein Schicksal, den am Fuß des Hügels auf ihn wartenden Felsblock, und erhebt sich darüber, indem er es verachtet. Aber noch ist sein Glück nicht vollkommen. Erst wenn er in einer fulminanten Wendung das Verachtete zu lieben beginnt, dadurch dass er dem Schicksal das Moment der Fremdbestimmtheit nimmt, indem er es sich zu eigen macht, ist sein Triumph perfekt. So absurd es auch immer sein mag, Sisyphos bejaht sein Schicksal, er reißt es an sich: „Ich finde, das alles gut ist“ (…) dieses Wort ist heilig. (…) Es vertreibt aus dieser Welt einen Gott, der in sie eingedrungen war mit der Unzufriedenheit und mit dem Gefallen an sinnlosen Schmerzen. Es macht aus dem Schicksal eine menschliche Angelegenheit, die unter Menschen geregelt werden muss. Darin besteht die verborgene Freude des Sisyphos. Sein Schicksal gehört ihm. Sein Fels ist seine Sache. (Camus 2002[1942], 158)

Deutlich hallt aus diesen Überlegungen Nietzsches Amor fati wider. Ebenso unverkennbar ist die Nähe zwischen dem Sisyphos-Mythos und der ewigen Wiederkunft des Gleichen. Denn auch Nietzsches Wiederkunftsgedanke stellt die verewigte Sinnlosigkeit in Aussicht und verlangt vom Menschen, sie (als Hypothese) zunächst klar ins Auge zu fassen, um sodann Stellung zu ihr zu beziehen. Beide Autoren nehmen den Nihilismus so ernst wie nur möglich, ja sie radikalisieren ihn in der Überzeugung, dass sich in Schattengefechten immer nur Schattensiege erringen lassen. Der Nihilismus lässt sich aber nur dann besiegen, wenn es uns gelingt, unser Schicksal zu lieben; dessen bloßes Erdulden reicht nicht aus: „Nietzsche und Camus verlangen nicht nur, das Leben zu ertragen. Sie fordern, es zu bejahen und über Sinnlosigkeit und Wiederkehr zu triumphieren“ (Pieper 2002, 251). In Der Mensch in der Revolte ist Nietzsche nicht mehr der stille Held. In diesem späteren Essay ist er nur mehr einer von vielen Helden und Antihelden, deren Rolle innerhalb der blutigen Geschichte der neuzeitlichen Revolutionen beleuchtet wird. Allerdings hat Camus seinem ewigen Referenzautoren ein eigenes Unterkapitel mit dem bezeichnenden Titel Nietzsche und der Nihilismus gewidmet. Nietzsche wird hier als besonders scharfsichtiger Denker präsentiert, der so klar wie niemand vor ihm die Heraufkunft des Nihilismus als Konsequenz des Todes Gottes erkannt hat. Auch sein Mut wird gepriesen, insofern er dem Nihilismus nicht ausweicht, sondern ihm eisern standhält. Dabei weiß Nietzsche genau: Ohne Gott regiert das Absurde,⁶⁴ ein Umstand, den sich die Menschen allerdings nicht eingestehen wollen. Lieber versucht man mit Hilfe verschiedener Gottessurrogate, das Absurde von sich fernzuhalten, den gefährlichen Einfluss, den die Entdeckung der Sinnleere am Grund aller Dinge und Prozesse auf das eigene Leben nehmen könnte, zu verhindern. Ganz anders Nietzsche. Er geht das Absurde geraden Weges an, treibt „den Nihilismus zur letzten Kon64 „Des göttlichen Willens beraubt, ist die Welt gleicherweise ihrer Einheit und ihrer Finalität beraubt“ (Camus 1969[1951], 57.

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sequenz“ und vollzieht, gleichsam als antichristlicher Descartes, „die methodische Verneinung, die Vernichtung dessen, was den Nihilismus vor sich selbst verbirgt, der Idole, die den Tod Gottes verschleiern“ (Camus 1969[1951], 56). So hat er „die ganze Last des Nihilismus“ (Camus 1969[1951], 57) auf sich genommen; keineswegs jedoch, um die Zerstörung zu propagieren, nicht um den Untergang zu glorifizieren, „sondern um ihn zu vermeiden und ihn umzuwandeln in Wiederaufstieg“ (Camus 1969[1951], 56).⁶⁵ Allein die Moral steht dem Wiederaufstieg im Weg, sofern es sich um eine absolut verbindliche Moral handelt, die, nicht anders als ehedem der tote Gott, die Autonomie des Menschen untergräbt. Daher Nietzsches erbarmungsloser Angriff auf die Moral und alle Ideale, die bereit stehen, Gottes Stelle zu übernehmen, nur um des Menschen selbstverschuldetes Sklaventum unter dem Diktat der Heteronomie fortzusetzen. Camus macht deutlich, dass der wahre Nihilismus für Nietzsche durchaus in einer Form von Unglauben besteht, allerdings nicht im atheistischen Unglauben, „sondern in der Unfähigkeit zu glauben, was ist, zu sehen, was geschieht, und zu leben, was sich darbietet“. Jeder Idealismus krankt an dieser Schwäche, die säkulare Religion des Sozialismus nicht weniger als das Christentum.⁶⁶ Pointiert fasst Camus zusammen: „Die Moral hat keinen Glauben an die Welt“ (Camus 1969[1951], 57). Bis hierher liegen Camus und Nietzsche noch ganz auf einer Linie: Beide vertreten eine Philosophie, die auf der Revolte aufbaut, um aller konstatierten Absurdität zum Trotz den Glauben an die Welt zu verkünden und einzufordern. Beide haben die Autonomie des Menschen im Blick, deren Beförderung sie für die einzig angemessene Antwort auf die Herausforderung durch den Nihilismus halten. Dennoch übt Camus deutliche Kritik an Nietzsche, und zwar an dessen „Form der Revolte auf den Gebieten der Moral und der Politik“ (Pieper 1991, 176). Die im Verhältnis zum Mythos des Sisyphos veränderte Tonart lässt sich leicht erklären. Der Sisyphos steht in größerem Einklang mit Nietzsche, weil er dezidiert existenziell argumentiert. Es handelt sich um einen existenzphilosophischen Essay, in dem Moral und erst recht Politik keine bedeutenden Rollen spielen. Dahingegen ist Der Mensch in der Revolte eine moralisch und politisch ausgerichtete Schrift. Nietzsches Philosophie wird dementsprechend aus einem anderen Blickwinkel betrachtet. Und in dieser neuen Perspektive zeigen sich einige dunkle Flecken auf der ehedem so weißen Brust. Im Zentrum von Camus’ Nietzsche-Kritik steht der Amor fati. Die liebende Einwilligung in das Schicksal ist ganz und gar antipolitisch. Sie ist, und genau darin liegt für Camus das Problem, revolutionsfeindlich. Wer alles so liebt, wie es ist, wird kaum etwas anders haben wollen, als es ist. Er wird sich folgerichtig wenig um die (politische) Verbesserung der Welt scheren. Ja, sie darf ihn streng genommen gar nicht interessieren, weil jeder Verbesserungsversuch dessen, was ist, die Position des Amor fati aufweicht. Wie Camus

65 Die Anerkenntnis von Nietzsches Anliegen, den Nihilismus zu überwinden, liegt auch Camus’ hellsichtigem Satz zugrunde, wonach Nietzsche „keine Philosophie der Revolte verfaßt, sondern eine Philosophie auf der Revolte aufgebaut“ (Camus 1969[1951], 58) habe. 66 „Der Sozialismus ist nur degeneriertes Christentum“ (Camus 1969[1951], 59).

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betont, versucht Nietzsche das Leben nach dem Tode Gottes durch die Vergöttlichung des Menschen zu rechtfertigen. Er erklärt die Welt zum Gott und des Menschen Vergöttlichung durch seine bedingungslose Identifikation mit der Welt für möglich.⁶⁷ Der Preis, den der Mensch für seine Vergöttlichung zu entrichten hat, besteht im Verzicht auf die Revolte: Der Rebell, der anfangs Gott leugnet, zielt am Schluß darauf ab, ihn zu ersetzen. Aber Nietzsches Botschaft ist, daß er nur durch den Verzicht auf jegliche Revolte Gott wird, auch auf diejenige, die die Götter hervorbringt, um die Welt zu verbessern. (Camus 1969[1951], 62)

Es ist dies ein Preis, den Camus offenbar nicht bereit ist zu zahlen. Schlimmer noch impliziert der Amor fati die Bejahung des Bösen sowie des Mordes: In gewissem Sinn endet die Revolte bei Nietzsche noch mit einer Verherrlichung des Bösen. (…) Es wird anerkannt als eine der möglichen Seiten des Guten und noch gewisser als eine Schicksalsendung. Es wird also angenommen, um überwunden zu werden, sozusagen als ein Heilmittel. Im Geiste Nietzsches handelt es sich bloß um das stolze Zugeständnis der Seele dessen, was sie nicht vermeiden kann. (Camus 1969[1951], 63) Alles bejahen setzt voraus, daß man den Mord bejaht. Es gibt übrigens zwei Arten, den Mord gutzuheißen. Wenn der Sklave zu allem ja sagt, sagt er zur Existenz seines Herren auch ja, und ebenso zu seinem eigenen Schmerz (…). Wenn der Herr zu allem ja sagt, so auch zur Sklaverei und dem Schmerz der andern; das ist der Tyrann und die Verherrlichung des Mords. (Camus 1969[1951], 65)

Bedenkt man freilich die unerhörte Nähe zwischen Nietzsches Gedanken des Amor fati und Camus’ Konzeption des glücklichen Sisyphos, kommt man nicht umhin, die Nietzsche-Kritik in Der Mensch in der Revolte zugleich als Selbstkritik des französischen Moralisten zu lesen.

2.2 Das Problem des Nihilismus in der Nietzsche-Forschung Die Nietzsche-Forschung hat eine ganze Reihe bemerkenswerter Studien hervorgebracht, die sich zumal des Nihilismus angenommen haben. Es fällt darum nicht leicht, eine Auswahl zu treffen. Ich habe mich dazu entschieden, im Folgenden die Interpretationen von Elisabeth Kuhn (1992), Michael Allen Gillespie (1995), Edith Düsing (2006), Bernard Reginster (2006) und Paul van Tongeren (2012) kurz vorzustellen. Zur Begründung der Auswahl:

67 „‚Wenn es einen Gott gibt, wie ertrüge ichs, keiner zu sein?‘ Es gibt in Wirklichkeit einen Gott, das ist die Welt. Um seiner Göttlichkeit teilhaftig zu werden, genügt es, ja zu sagen“ (Camus 1969[1951], 62).

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Kuhns Studie Nietzsches Philosophie des europäischen Nihilismus ist über die Jahre zu einem wesentlichen Referenzpunkt der internationalen Nihilismus-Forschung avanciert. Wer sich mit Nietzsche und dem Nihilismus befasst, muss dieses Buch zur Kenntnis nehmen. Hervorzuheben ist Kuhns begriffsgeschichtlicher Ansatz. Dank der Unterscheidung zwischen einer semasiologischen und einer onomasiologischen Perspektive auf den Nihilismus-Begriff gelingt es ihr, den Bedeutungsgehalt des in Rede stehenden Begriffs bei Nietzsche in einer bis dato ungeahnten Breite zu erfassen. Gillespies Buch Nihilism before Nietzsche ist der Versuch, die Geschichte der Moderne als Geschichte des Nihilismus zu erzählen. So weit, so vertraut, möchte man meinen. Im Unterschied zu Nietzsche verortet Gillespies die Ursprünge des Nihilismus (als historisches Phänomen) jedoch nicht im Sokratismus, sondern in der Gottesvorstellung der spätmittelalterlichen Nominalisten. Gillespie beackert in seiner Genealogie des Nihilismus somit ein Feld, das Nietzsche ausspart. Dieser blinde Fleck in Nietzsches Denken führt aber nach Gillespies Auffassung dazu, dass Nietzsche den Nihilismus in Wahrheit nicht verstanden hat. Diese originelle These verdient meines Erachtens besondere Aufmerksamkeit. Düsing hat sich in der Nihilismus-Diskussion wiederholt zu Wort gemeldet und mit Nietzsches Denkweg. Theologie  – Darwinismus  – Nihilismus eine monumentale Monografie zu Nietzsches denkerischer Entwicklung vorgelegt. Diese Studie ist akkurat gearbeitet und bietet neben philosophischen Analysen unter anderem interessante Einblicke in Nietzsches Biografie. Erhellend sind besonders die Ausführungen zu Nietzsches Kindheit und Jugend. Vorgestellt wird die Studie an dieser Stelle allerdings aus einem anderen Grund: und zwar argumentiert sie dezidiert christlich. An eine Überwindung des Nihilismus ist für Düsing ohne das Christentum nicht zu denken. Die Krisis des Nihilismus hat offensichtlich etwas mit unserem Wertesystem zu tun. Entwerten sich die höchsten Werte, ist der Nihilismus zur Stelle. Genauer noch ist er während des gesamten Entwertungsprozesses zur Stelle. Denn Nihilismus ist, dass die höchsten Werte sich entwerten. Insofern Werte handlungsleitend sind, führt die Entwertung zumal der höchsten Werte in die Desorientierung. Die Krisis des Nihilismus ist demnach eine Orientierungskrise. Das Verhältnis zwischen dem Nihilismus und unserem Wertesystem ist mit dieser Feststellung jedoch noch nicht vollständig durchleuchtet. Der Nihilismus meint nämlich nicht nur eine Entwertung, sondern auch eine spezifische Bewertung. Er ist ebenfalls ein Urteil über die Welt. Wenn wir uns fragen, ob wir in einer guten Welt leben, legen wir den Maßstab bestimmter (z. B. moralischer) Werte an die Welt. Sollte sich herausstellen, dass die Welt diesen Maßstäben nicht genügt, fällt unser Urteil entsprechend negativ aus. Sollte sich ferner ergeben, dass sich die Welt prinzipiell nicht mit dem, was wir für gut befinden, in Einklang bringen lässt, liegt es nahe, darüber zu verzweifeln. Immerhin ist diese Welt (und keine andere) der Ort unserer Existenz. Reginster hebt hervor, dass der Nihilismus nicht bloß Desorientierung ist, sondern auch und sogar primär Verzweiflung.

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Die Verzweiflungsdimension des Nihilismus findet in der Forschung aber in der Regel deutlich weniger Beachtung als dessen Orientierungs- bzw. Desorientierungsdimension. Reginsters Buch The Affirmation of Life. Nietzsche on Overcoming Nihilism kann als ein Plädoyer dafür gelesen werden, diese Gewichtung zu überdenken. Denn ohne die Berücksichtigung seiner beiden Fundamentaldimensionen kann der Nihilismus nicht überwunden werden, lässt doch die Überwindung der einen Form des Nihilismus unter Umständen seine andere Form unberührt oder ruft sie sogar erst auf den Plan. Wegen des klugen Überdenkens des Zusammenhanges zwischen dem Nihilismus als gleichsam zweiköpfiges Schreckgespenst und der Affirmation des Lebens möchte ich Reginsters Buch kurz vorstellen. Zuletzt werde ich auf eine jüngst erschienene Publikation des niederländischen Nietzsche-Forschers van Tongeren eingehen. Dieser hat in Het Europese nihilsme. Friedrich Nietzsche over een dreiging die niemand schijnt te deren eine Reihe von Filigrananalysen der wichtigsten Texte Nietzsches zum Nihilismus vorgelegt. Wohlgemerkt befasst er sich nur mit solchen Texten, in denen der Nihilismus-Begriff auch explizit vorkommt. Er geht mithin semasiologisch vom Wort „Nihilismus“ selbst aus, weshalb – zumindest in den Einzelanalysen – auch nur Texte der 1880er Jahre Berücksichtigung finden. Besonders spannend ist das Schlusskapitel (Een dreiging die niemand schijnt te deren) von van Tongerens Untersuchung, in dem er die Behauptung aufstellt, wir hätten den Tod Gottes noch lange nicht verwunden, weil wir ihn noch gar nicht begriffen hätten. Es lohnt sich, der Entfaltung dieser These Raum zu gewähren. (A) Kuhn: In ihrer eifrig rezipierten Studie Friedrich Nietzsches Philosophie des europäischen Nihilismus hat sich Kuhn unter anderem darum verdient gemacht, (in Zeiten vor Nietzsche-CD-Roms und Websites wie NietzscheSource) ein Verzeichnis sämtlicher Nihilismus-Stellen in Nietzsches Werk, d. h. sowohl in den veröffentlichten Schriften als auch im Nachlass, anzufertigen. Überhaupt besticht die Studie durch Akribie. Besonders aufschlussreich sind Kuhns begriffsgeschichtliche Ausführungen zum Nihilismus. Zudem zeigt sie auf, wie der Begriff „Nihilismus“ Eingang in Nietzsches Philosophie gefunden hat und aus welchen Quellen Nietzsche dabei schöpft. In Sachen Quellenforschung leistet die Autorin auf diese Weise für die NietzscheForschung ein Stück Pionierarbeit.⁶⁸ Den Beginn von Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Nihilismus datiert Kuhn in onomasiologischer Perspektive bereits auf den Winter 1865/66.⁶⁹ So behandelt Kuhn den Nihilismus als ein sich in Nietzsches Denken durchhaltendes Thema, das ihr als Leitmotiv dient, um eine einheitliche Dar-

68 Kuhn ist sich dessen bewusst: „Mit der Beachtung der Quellen wird einem Desideratum der Nietzsche-Forschung Rechnung getragen“ (Kuhn 1992, 2). Mittlerweile freilich hat sich die Quellenforschung als Methode der Nietzsche-Forschung etabliert. 69 Vgl. Kuhn 1992, 6 und 261: „Die Phase der Aufnahme des Nihilismus setzt, onomasiologisch betrachtet, im Winter 1865/66 mit Nietzsches sukzessiver Einbegreifung der Worte ‚Pessimismus‘,

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stellung von Nietzsches Philosophie im Ganzen vorlegen zu können. Diese Ganzheit wird auch dadurch nicht getrübt, dass sich Nietzsche im Spätsommer des Jahres 1888 gegen die Durchführung seines geplanten Buchprojektes Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werthe entscheidet. Er verzichtet eo ipso auf die Veröffentlichung eines Buches, das die Entwicklung des europäischen Nihilismus in aller Breite und Tiefe hätte darstellen sollen. Mit diesem Verzicht bahnt sich, wie Kuhn schreibt, die „Periode der Preisgabe des Nihilismus“ an. In Werken wie den Dionysos-Dithyramben oder Nietzsche contra Wagner ist der Nihilismus-Begriff nicht mehr in semasiologischer, sondern nur noch in „onomasiologischer Optik präsent“ (Kuhn 1992, 262). Ein, wenn man so sagen darf, postnihilistisches Werk Nietzsches liegt uns aber nicht vor – zu Beginn des Jahres 1889 fällt der Philosoph in geistige Umnachtung. Ob er das Thema „Nihilismus“ aber tatsächlich dauerhaft zu den Akten gelegt hätte, wenn sein Gesundheitszustand ihm weiteres Philosophieren gestattet hätte, ist alles andere als ausgemacht. Besondere Sorgfalt verwendet Kuhn darauf, Ordnung in die „Mehrschichtigkeit des chronologisch aus verschiedenen Zeiten stammenden Bedeutungen des Nietzscheschen Nihilismus-Begriffs“ (Kuhn 1992, 8) zu bringen. Der Vielschichtigkeit des Begriffs findet bei Nietzsche Niederschlag in einer Vielheit von Begriffsvariationen bzw. in der Produktion zahlreicher Subbegriffe, die jeweils verschiedene Facetten des Nihilismus betonen sollen. Nietzsche fächert also den Begriff auf, um die verschiedenen Schichten seines Bedeutungsgehaltes freizulegen. Auf diese Weise erfahren wir, dass sich der Nihilismus gleich sechsfach manifestiert – und jede dieser Manifestationen will eigens beleuchtet und beim Namen genannt werden: sei es der unvollständige, der vollkommene, der aktive oder passive, der radikale oder extremste Nihilismus. Diese sich teils in materialer Hinsicht überschneidenden Formen des Nihilismus auseinanderzuhalten und sinnvoll zu ordnen, ist eine äußerst schwierige Aufgabe, auf die Kuhn viel Mühe und Scharfsinn verwendet. Zusätzlich kompliziert wird die Angelegenheit, wenn es darum geht, auch den „Parallelbegriffe[n] des Nietzscheschen Nihilismus-Begriffs“: „Pessimismus“ und „décadance“ in die angestrebte Ordnung zu integrieren. Kuhn bewältigt dies, indem sie das Bündel einer Begriffsdreiheit schnürt, „wonach der ‚Pessimismus‘ zur Vorform des Nihilism werden wird, der ‚Nihilism‘ aber ‚keine Ursache, sondern nur die Logik der décadence‘ sein wird“. Die Strukturierung des sechsfaltigen Nihilismus gelingt ihr unterdessen durch die Einnahme verschiedener Perspektiven: Einmal nimmt sie den „Blickwinkel der ‚Heraufkunft‘ des ‚europäischen Nihilismus‘“ ein, ein andermal die „Optik des Bestehens des ‚europäischen Nihilismus‘“ und schließlich die „Perspektive der ‚Selbstüberwindung‘ des ‚europäischen Nihilismus‘“ (Kuhn 1992, 9). Kuhns perspektivisches Verfahren ist gut gewählt, insofern es sich Nietzsches eigenem Vorgehen auf produktive Weise anpasst. Es ist sozusagen verfahrensgerecht: ‚Nichts‘ und ‚Nichtsein‘, semasiologisch gesehen, im Sommer 1880 mit Nietzsches Einbezug des Terminus ‚Nihilismus‘ ein, und sie geht im Sommer 1886 in die Periode der Entfaltung über.“

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Nietzsches Bewegung der Auseinandersetzung mit der Nihilismus-Problematik ist diejenige eines perspektivischen Kreisens, in dessen Verlauf sich der Nihilismus-Begriff verschiebt, auffächert, ausdifferenziert und anreichert. (Kuhn 1992, 265)

Das Ergebnis von Kuhns Anstrengungen ist beindruckend. Es gelingt ihr, eine kohärente Darstellung sowohl der verschiedenen Formen des Nihilismus als auch der Entwicklungsgeschichte des europäischen Nihilismus, die sie sogar anhand mehrerer Tafeln grafisch nachzeichnet (vgl. Kuhn 1992, 237 (Anm. 850), 243, 251, 254). Allein diese Kohärenz ist zu nahtlos. Kuhn zwingt den Nihilismus gleichsam in ein Prokrustesbett, wodurch der Anschein einer Systematik und Abgeschlossenheit in Nietzsches Entwürfen zum Nihilismus entsteht, die es in meinen Augen so nicht gibt.⁷⁰ (B) Düsing: Heideggers Nietzsche-Interpretation wirft einen gewaltigen Schatten. Sie erhebt sich wie ein Gebirgsmassiv in der philosophischen Landschaft, an dem niemand vorbeikommt, der sich wissenschaftlich mit Nietzsche befassen möchte. Außer Frage steht, dass Heideggers tiefschürfende Überlegungen die Nietzsche-Forschung weit vorangebracht haben. Sie haben unterdessen auch einen ungünstigen Einfluss ausgeübt. Insbesondere in Sachen Nihilismus hat sich die Nietzsche-Forschung im Fahrwasser Heideggers lange Zeit zu einseitig auf Nietzsches Spätwerk und hier wiederum zu sehr auf den Nachlass fokussiert.⁷¹ Noch Edith Düsing ordnet die Beschäftigung mit dem Nihilismus eindeutig dem späten Nietzsche zu: „Die Nihilismus-Thematik bereitet sich im Frühjahr bis Herbst 1881 vor, zu der selben Zeit, in der Nietzsche das Motiv vom ‚Tode Gottes‘ erstmalig intoniert“ (Düsing 2007, 200). Diese Behauptung konfligiert freilich mit meiner oben formulierten Grundthese, wonach der Nihilismus, wenn auch nicht in terminologischer Hinsicht, so doch der Sache nach, immer schon das Leitmotiv von Nietzsches Philosophie gewesen ist; zunächst, im Frühwerk, gewissermaßen als Grundbass, später dann als Hauptthema. Intoniert wird das Motiv „Nihilismus“ von Nietzsche sonach immer schon, nur eben, wie es sich für eine gelungene Komposition gehört, mal mehr und mal weniger ausdrücklich und insgesamt mit großem Variationsreichtum. Die Grundmelodie bzw. der Cantus firmus von Nietzsches Werk ist aber stets der Nihilismus gewesen. Nichtsdestoweniger verdient Düsings Nietzsche-Monografie Beachtung. Nietzsches Denkweg wird darin als ein Leidensweg geschildert, der vom Glauben an Gott über die Erschütterungen des Glaubens durch Charles „Darwins innovative Naturforschung“ und David Friedrich „Strauß’ progressive, ultraliberale Theologie“ (Düsing 2006, 353) in den

70 Die gleiche Stoßrichtung schlägt Borns Kritik an Kuhn ein: „Die erschlagende Kohärenz von Kuhns Nihilismusthese wird einigen Nietzschelesern als inadäquat-positivistische Lektüre erscheinen, die nicht nur Nietzsches Ansatz von Interpretation entgegenläuft. (…) Kuhns Ansatz lässt den Nihilismus als datierbaren, mechanistisch ablaufenden Prozess erscheinen“ (Born 2010, 115). 71 Stegmaier 2003, 208, wirft Heidegger eine „stark enggeführte[] Lektüre weniger (…) Nachlaßnotizen“ vor.

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schmerzlich erlittenen Nihilismus führt. Düsing betont ausdrücklich die oft unterschätzte, in Wirklichkeit jedoch große Bedeutung Strauß’ und Darwins für Nietzsche: Der Erste betreibt die „Entmythologisierung der Göttlichkeit des Leben Jesu“ (Düsing 2006, 273) und der Zweite stimmt den Abgesang auf die Göttlichkeit der Schöpfung an („Darwinismus als Errichtung eines antiteleologischen Kosmos der Sinnleere“; Düsing 2006, 350). In Nietzsches Denkweg erscheint Nietzsche als ein besonders feinfühliger Repräsentant seiner Zeit. Sein eigenes Schicksal korreliert dem der, nicht zuletzt durch überhöhte Wissenschaftsgläubigkeit, in die Sinnkrise geratenen Moderne. So lässt sich Nietzsches Werk wie ein Vergrößerungsglas benutzen, mit Hilfe dessen es möglich ist, den sozialen Pathologien der Moderne auf den Grund zu gehen, indem man bis in ihre Abgründe hinabblickt. Düsings Buch weist somit deutlich eine gegenwartskritische Dimension auf. Der Boden, auf dem diese Kritik steht, ist dabei durch und durch christlich. So überrascht auch Düsings Antwort auf „Nietzsches tiefgründige Fragen, die dem Nihilismus gelten und seiner Bewältigung“, wenig: „Jesus heißt Er, durch dessen ‚Wunden wir geheilt sind‘“ (Düsing 2006, 553f.). Nietzsche jedoch versagt sich diese Antwort, obschon sie, wie Düsing suggeriert, doch so nahe gelegen hätte. Immerhin wird Nietzsche, allen großen Loslösungen zum Trotz, Jesus, von dem er sich als Kind erblickt und gerufen wähnte (vgl. Düsing 2006, 89), zeit seines Lebens nicht los.⁷² Am Ende triumphiert bei Düsing das Christentum über den Nihilismus genauso wie über die verzweifelten Emanzipationsversuche des gleichsam als gefallener Engel dargestellten Nietzsche. Dass die Überwindung des Nihilismus in der Rückbesinnung auf die christliche Schöpfungs-Teleologie und Jesu Religion der Liebe bestehe, wird indessen vermutlich die Mehrheit der NietzscheLeser nicht überzeugen. (C) Gillespie: Es hat sich begeben, so Gillespie, mit Nietzsche den Tod Gottes als jenes Ereignis anzusehen, durch das dem Nihilismus die Bühne bereitet wurde: Gott ist tot, also beginnt die Zeit des Nihilismus: „With few exceptions, we who live in Nietzsche’s shadow have come to accept this interpretation of nihilism as definitive.“ (Gillespie 1995, XI) Doch Gillespie bezweifelt die Richtigkeit dieser Interpretation. Ziel seines Buches Nihilism before Nietzsche ist den in Nietzsches Schlagschatten unterbelichteten und darum nicht wahrgenommenen tatsächlichen Ursprung und die wirkliche Bedeutung des Nihilismus ans Licht zu bringen:

72 „Daß Nietzsches in Polemik sich überschlagende späteste Christentumskritik gleichwohl einen fast heiligen Kreis der Unantastbarkeit um die menschliche Gestalt Jesu zieht, zumindest die Kritik an ihm eher zurückhaltend übt bzw. sie durch alternierend geäußerte überschwängliche Aussagen wie die, er sei der am meisten und besten Liebende (…), geradezu wieder zurücknimmt, geht, wie zu vermuten ist, zurück auf jene frühere echte persönliche Begegnung als anhaltend nachwirkende Betroffenheit, die Nietzsche sein Leben lang auch in scharfer Negation des Christentums von der Rätselgestalt Jesus nicht freikommen lässt“ (Düsing 2006, 90).

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But does this answer[der Tod Gottes – E.B.] come to the essence of nihilism and grasp its true significance? It is the purpose of this book to argue that it does not, that nihilism has a different origin and meaning than Nietzsche imagines. (Gillespie 1995, XI)

Während Nietzsche der Überzeugung ist, dem Nihilismus könne nur Einhalt geboten werden durch eine Stärkung des menschlichen Willens, der sich seit langem auf einer Abwärtsspirale befinde,⁷³ erblickt Gillespie gerade in einer Prioritätenverlagerung zugunsten des Willens und zu Lasten der Rationalität die Wurzel des nihilistischen Übels. Dementsprechend müsste die Position des Willens nicht gestärkt, sondern, im Gegenteil, aufgeweicht werden: Nihilism arises in the context of a new revelation of the world as a product not of reason but of will. The argument presented here suggests that the solution to nihilism thus lies not in the assertion of the will but in a step back from willing. (Gillespie 1995, XXXIII)

Wenn Gillespie richtig liegt, bedeutet Nietzsches vermeintliche Lösung des Nihilismus-Problems qua Willensstärkung in Wahrheit eine nur noch tiefere Verstrickung in den Nihilismus. Dabei ist Nietzsches Lösungsansatz durchaus konsequent und logisch stringent. Nur beruht er eben auf einer falschen Grundannahme. Nicht der Tod Gottes, sondern die Geburt eines neuen Gottes, bringt den Nihilismus ins Rollen. Es ist das neue Gottesbild William von Ockhams und der Nominalisten, das zugleich ein neues Selbstverständnis des Menschen begründet (vgl. Gillespie 1995, XIIf.). Der allmächtige nominalistische Gott muss sich selbst den Naturgesetzen nicht beugen. Er kann jederzeit in den Lauf seiner eigenen Schöpfung eingreifen, ja ist grundsätzlich sogar fähig, die Vergangenheit zu verändern.⁷⁴ Ockham bricht radikal mit dem theologischen Rationalismus der Scholastiker, wenn anders er sämtliche Einschränkungen des göttlichen Willens zurückweist, mit Ausnahme des Gesetzes vom ausgeschlossenen Widerspruch (vgl. Gillespie 1995, 17). Auch räumt er mit der Idee auf, Gott habe die Welt zuliebe der Menschen geschaffen. Weder ist dies der Fall, noch

73 Der Gott, an den eine bestimmte Kulturgemeinschaft glaubt, ist nach Nietzsche immer Ausdruck ihres Willens zur Macht. Wenn dieser Gott am Mitleid mit den Menschen stirbt (vgl. Z II Mitleidigen; KSA 4, 115 und Z IV Dienst; KSA  4, 323), die so fragil sind und darum so sehr am Leben zu leiden haben, dann weiß man, wie (schlecht) es um den Willen zur Macht jener Gemeinschaft bestellt ist. Nietzsches Gott Dionysos dagegen, der Gott des überschäumenden, gewissermaßen zur Verschwendungssucht neigenden Lebens, entspringt einem Willen zur Macht höchster Potenz: „The character of the various peoples and their gods in Nietzsche’s view is determined by the relative strength of their will to power. Using this measure, Nietzsche defines a continuum of peoples and gods stretching between two extremes, which he calls Dionysus and the Crucified. Dionysus is the God projected by the most powerful form of the will to power, the Crucified by the weakest or neediest. All other forms of religion (…) fall between Dionysus and the Crucified and are intelligible only in relation to these extremes“ (Gillespie 1995, 220f.). 74 „Omnipotence means the supremacy of God’s potentia absoluta over his potentia ordinata (…)“ (Gillespie 1995, 16).

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lässt sich Gottes Wille durch Handlungen der Menschen beeinflussen. Natürlich hat dieses Gottesverständnis, das, sich am Gott der Bibel orientierend, ernst macht mit der göttlichen Allmacht, erhebliche Folgen für den Menschen. Gott ist nun gewissermaßen nichts als ein allmächtiger Wille, dem es frei steht zu tun, was immer er will, wann immer er es will. Der Mensch hängt unterdessen am Faden dieses Willens, den er weder begreifen noch beeinflussen kann. Sein In-der-Welt-Sein ist insofern heikler geworden, als er sich auf nichts mehr verlassen kann: If God has not created the world for man and is not even bound by his own creation, then he does not act according to human standards and cannot be comprehended by human reason. There is no immutable law or reason. Every order is simply the result of God’s absolute will and can be disrupted or reconstituted at any moment. (Gillespie 1995, 17)

Der philosophische Skeptizismus, dem sich Descartes – die nächste wichtige Person in der Geschichte des Nihilismus nach Gillespie  – mittels seines methodischen Zweifels entgegenstellt, ist, wie Gillespie geltend macht, im Grunde genommen die Frucht der menschlichen Verunsicherung durch den mittlerweile mehr oder weniger inthronisierten omnipotenten Willensgott. Descartes’ Antwort auf die Skeptiker ist sonach gleichzeitig eine Antwort auch auf die Herausforderungen durch den neuen Gott der Nominalisten: „Descartes’ thought can thus be understood at least in part as the attempt to open up a space for man, a realm of freedom invulnerable to the powers of this god“ (Gillespie 1995, 28). Da außerdem Descartes’ großes Projekt, eine universale Wissenschaft zu begründen, die auf absolut sicheren Prämissen steht, an der Willkür eines allmächtigen Willensgottes zu scheitern droht, ist der Philosoph dazu gezwungen, sich mit diesem Gott auseinanderzusetzen. Solange es ihm nicht gelingt, den Gott des allmächtigen Willens gleichsam zu zähmen, bleibt sein Traum von der universalen Wissenschaft ein bloßer Wunschtraum. Descartes bemüht sich also, das Verhältnis zwischen Mensch, Gott und Welt neu zu durchdenken und zwar so, dass gesicherte Erkenntnis möglich ist, freilich ohne die Idee der göttlichen Allmacht aufzugeben. Und wirklich gelingt es ihm, den launenhaften Willensgott, der als solcher einen permanenten Unsicherheitsfaktor für die menschliche Existenz darstellt, in den göttlichen Stabilisator und Garanten gesicherten Wissens umzudeuten. Der Schlüssel zu dieser erstaunlichen Transformation ist Descartes’ Verständnis von Gott als Ens summe perfectum. Gott ist das vollkommene Wesen. Der unvollkommene Mensch bzw. Descartes’ zweifelresistentes Cogito findet den Gedanken der Vollkommenheit in sich. Selbst unvollkommen muss das denkende Ich diesen Gedanken von anderswoher empfangen haben und zwar von etwas Vollkommenem. Das kann nur Gott sein. Insofern Gott aber vollkommen ist, kann er den Menschen nicht täuschen wollen. Darin liegt: Wir können uns unter der Voraussetzung, dass wir unseren Verstand korrekt benutzen, auf unsere Erkenntnisse verlassen. In den Meditationen hat Descartes großen Wert darauf gelegt zu zeigen, dass mathematische Wahrheiten einzig dann infrage gestellt werden können, wenn es einen allmächtigen Betrügergott (Genius malignus) gibt, der uns über sie täuschte. Die Existenz des Genius malignus

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ist nun aber bestritten. Dergestalt ist der Weg frei für Descartes’ universale Wissenschaft, die wohlgemerkt eine Mathesis universalis ist. Bei dieser Wissenschaft geht es indes nicht bloß um Theorie. Vielmehr führt die Mathesis universalis praktisch angewandt zur ultimativen Naturbeherrschung durch den Menschen. Nach der „Entschärfung“ des allmächtigen Willensgottes kann der Mensch an dessen Stelle treten: It is not meant[durch Descartes’ ontologischen Gottesbeweis  – E.B.] to demonstrate the existence of God but to show that God is irrelevant for human affairs, to show that even if there is an infinite and omnipotent god, he cannot be a deceiver, a genius malignus. If we can know with certainty that there is no genius malignus, then we cannot doubt the truth of mathematics. If we cannot doubt mathematics, then mathesis universalis depends only upon our capacity to avoid error, and error can be largely avoided by means of the method. We thus can come to know everything actual and possible with certainty; we can produce a perfect universal science and with this science we can master and possess the nature. In short, because God cannot be a deceiver, we can become God. (Gillespie 1995, 61)

In Gillespies Deutung ist Descartes’ Rationalismus also eine Abwehrreaktion auf den voluntaristischen Irrationalismus, der in Gestalt des Gottes der Nominalisten zur Herrschaft gelangt ist. Und obschon es auf den ersten Blick so aussieht, als habe Descartes die Priorität der Vernunft gegenüber dem Willen reinstalliert, hat der französische Rationalist doch im Geheimen die göttliche Allmacht des Willensgottes dem Menschen, dessen Wille laut Descartes notabene unendlich ist, überschrieben. Die Selbstermächtigung des menschlichen Willens, der nicht zuletzt ein Bemächtigungswille ist, erreicht ungeahnte Höhen. Wirklich setzt sich bei Descartes die, nach Gillespie, nihilistische Hoheit des Willens gegenüber dem Geist fort, zumal, wer das cartesische Wissenschaftsverständnis akzeptiert, nicht umhin kommt einzugestehen, „that in practical affairs reason is only an empty generality of will“ (Gillespie 1995, 63). Gillespies Geschichte des Nihilismus als fortschreitende Selbstermächtigung des menschlichen Willens setzt sich über Fichtes Konzept des absoluten Ich zum terroristischen russischen Nihilismus des neunzehnten Jahrhunderts fort, bis sie schließlich bei Nietzsche anlangt, dessen dionysisch-musikalische Philosophie mit der Präferenz des Willens gegenüber der Ratio nicht hinter dem Berg hält. Seine extraordinäre Stellung in der Geschichte des Nihilismus verdankt Nietzsche in Gillespies Darstellung vor allem seinem Irrtum über den Ursprung und das Wesen des Nihilismus, welcher Fehlgriff ihn ausdrücklich nicht zum Überwinder, sondern zum Verbündeten des Nihilismus macht. (D) Reginster: The Affirmation of Life präsentiert Nietzsches Philosophie als ein systematisches Ganzes. Natürlich will Reginster seinen Lesern Nietzsche nicht als einen klassischen Systemphilosophen im Geiste Hegels und Fichtes verkaufen.⁷⁵ Syste-

75 In der Tat verkündet Nietzsche in der Götzendämmerung offen sein Misstrauen gegenüber philosophischen Systemen bzw. einem (bestimmten) „Willen zum System“: „Ich mißtraue allen Systema-

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matisch ist Nietzsches Denken allerdings „in the sense that it is organized and logically ordered, and not a haphazard assemblage of brilliant but disconnected ideas“ (Reginster 2006, 3). Der solcherart systematische Konnex all jener großen „Ideen“, auf die man bei Nietzsche stößt: vom Tod Gottes bis zur bedingungslosen Bejahung des Lebens im Amor fati,⁷⁶ erschließt sich laut Reginster genau dann, wenn man sie „as a systematic response to the crisis of nihilism“ (Reginster 2006, 4) begreift. Der erste Schritt von Reginsters Analyse jener systematischen Antwort auf die Krise des Nihilismus besteht nun darin, zwei Grundformen des Nihilismus bei Nietzsche zu unterscheiden. Diese sind, wie oben herausgestellt, der Nihilismus der Desorientierung und der Nihilismus der Verzweiflung. Beide Grundformen lassen sich am Beispiel des Todes Gottes exemplifizieren. Gott ist der Garant für die Gültigkeit der obersten Werte, an denen wir unser Leben auszurichten gewohnt sind. Stirbt Gott, werden die Werte auf einen Schlag nichtig. Ihnen fehlt jetzt der Legitimationsrückhalt. Sofern es Werte sind, die unsere – mit Charles Taylor zu sprechen – moralischen Landkarten⁷⁷ maßgeblich strukturieren, verwandeln sich diese Karten durch den Tod Gottes unter unseren Händen in nutzlose Papiere: Eine unstrukturierte Landkarte ist  – hier buchstäblich  – wertlos. Sie bietet keinerlei Orientierungshilfe mehr. Das Nichtigwerden der Werte führt in die Desorientierung. Entwerten sich die obersten Werte, stehen wir gleichsam vor dem Nichts, ja recht eigentlich im Nichts, ohne zu wissen, wohin wir uns nun wenden sollen. Wir wissen nicht mehr aus noch ein, sind uns nicht einmal mehr darüber im tikern und gehe ihnen aus dem Weg. Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit“ (GD Sprüche 26; KSA 6, 63). Reginster 2006, 3, macht deutlich, welcher Art der Wille zum System ist, dem hier misstraut wird: „The ‚will to a system‘ Nietzsche repudiates here is a distinctive philosophical ambition that remains particularly tenacious throughout the first half of the nineteenth century. It is the ambition to make philosophical knowledge well founded and all inclusive, by showing how the entire body of knowledge can be derived from a small set of fundamental, self-evident propositions.“ Eine generelle Zurückweisung systematischen Denkens hat Nietzsche dahingegen nicht im Sinn: „Nietzsche’s rejection of the ‚will to a system‘ is the rejection of this particular ambition, but not necessarily a rejection of all forms of systematic thinking.“ 76 Relativ wenig Aufmerksamkeit erhalten in The Affirmation of Life jedoch Nietzsches Frühwerke, die meiner Auffassung nach unbedingt deutlicher in das von Reginster – wie ich finde zurecht – aufgemachte systematische Ganze von Nietzsches Philosophie im Zeichen der Nihilismus-Krise integriert werden müssten. Stattdessen stützt sich Reginster insbesondere auf den späten Nachlass und schreckt auch nicht davor zurück, aus Der Wille zur Macht zu zitieren, obschon er sich natürlich bewusst ist, dass er sich dadurch auf wissenschaftliches Glatteis begibt. Überhaupt zieht Reginster Nietzsches Nachlass gegenüber dem publizierten Werk vor (vgl. Reginster 2006, 16–20), was – vorsichtig formuliert – nicht eben unproblematisch ist. Vgl. zur Diskussion um das Gewichtungsverhältnis zwischen Nachlass und publiziertem Werk bei Nietzsche Stegmaier 2005, der betont, dass schon die weitverbreitete Rede von Nietzsches Fragmenten irreführend ist, insofern es sich im Nachlass zumeist „lediglich um Notizen[handelt], die Nietzsche für sich selbst gemacht hat“ (Stegmaier 2005, 351). 77 Die „moralische Landkarte“ ist Taylors bildhafte Begriffsvariante für das, was man allgemein unter einem Wertesystem versteht. Taylor 1994, 204, spricht in diesem Sinne auch von einer „moralischen Topographie“.

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Klaren, wo oben und wo unten ist (vgl. FW 125). Wir haben es, kurz gesagt, mit dem Nichts des Nihilismus der Desorientierung zu tun. Der Nihilismus der Desorientierung hat zudem grundlegend mit unserem Willen zu tun, denn dieser richtet sich an Zielen aus und auf. Die Ziellosigkeit als integraler Bestandteil der nihilistischen Desorientierung schlägt unseren Willen nieder. Sie demotiviert ihn, insofern er nicht mehr weiß, woran er sich entzünden soll. Von nihilistischer Orientierungslosigkeit kann wirklich erst dann die Rede sein, wenn der Wille derart betroffen ist. Fehlt dem Menschen ein Ziel seines Handelns, mangelt es dem Willen an einem Objekt, an dem er sich ausrichten und aktualisieren kann, bleibt ein grundsätzliches menschliches Bedürfnis unbefriedigt, nämlich das Verlangen nach Sinn: „Nietzsche surmises it[nihilistische Desorientierung – E.B.] is induced by a distinctively human desire, indeed a need, for meaning, for the existence of values that can motivate the human will“ (Reginster 2006, 27). Der Nihilismus der Desorientierung stellt somit ein gravierendes Problem für den Menschen dar, weil er sowohl eine Legitimationslücke aufreißt (der Wertegarant verschwindet), als auch ein Inspirationsvakuum hinterlässt (die Werte verschwinden). Der Tod Gottes indiziert aber nicht nur den Nihilismus der Desorientierung, sondern auch den der Verzweiflung.⁷⁸ In Gestalt der Verzweiflung kommt der Nihilismus dann ins Spiel, wenn mit Gott diejenige Instanz wegfällt, die dafür sorgt, dass sich bestimmte Werte realisieren lassen. Wenn z. B. Gerechtigkeit ein zentraler Wert meiner moralischen Landkarte ist, ich aber tagtäglich zusehen muss, wie die Gerechtigkeit überall auf der Welt mit Füßen getreten wird, dann ist das zum Verzweifeln. Der Glaube an die Existenz eines gerechten Gottes verhindert indessen, dass meine Verzweiflung nihilistische Ausmaße annimmt, sofern ich darauf bauen kann, dass Gott eines (jüngsten) Tages doch noch für Gerechtigkeit sorgen wird. Wird die Existenz Gottes als des Garanten für die Realisation dieses für mich zentralen Wertes dagegen unglaubwürdig, schwindet meine Zuversicht, während meine Verzweiflung propositional wächst. Handelt es sich bei der Gerechtigkeit außerdem um einen Wert, ohne dessen Erfüllung mir das Leben sinnlos erscheint, werde ich endlich in den Zustand nihilistischer Verzweiflung fallen. Reginster macht darauf aufmerksam, dass die Enttäuschung einer bloßen Sehnsucht noch nicht in wahrhaft nihilistische Verzweiflung führt. Erst die Enttäuschung einer Erwartung konfrontiert uns mit dem Abgrund des Nichts, zumindest dann, wenn die Erwartung einem Wert oder Ideal gilt, dessen Ausbleiben nicht durch die Realisation anderer Werte kompensiert werden kann. Um auf das Gerechtigkeitsbeispiel zurückzukommen: Wenn ich von der Existenz eines allmächtigen und gerechten Gottes überzeugt bin, wünsche ich mir nicht bloß die Verwirklichung allumfassender Gerechtigkeit – ich erwarte sie tatsächlich.

78 Damit soll nicht gesagt sein, dass die beiden Grundformen des Nihilismus allein durch den Tod Gottes hervorgerufen werden. Andere Faktoren (durch die entweder die objektive Gültigkeit von Werten oder die Realisationsmöglichkeit bestimmter Werte bestritten wird) kommen ebenso infrage. Der Tod Gottes wir hier lediglich als paradigmatischer Fall herangezogen.

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Stirbt dieser Gott, verflüchtigt sich nicht einfach eine Sehnsucht, sondern eine Erwartung wird enttäuscht; und zwar eine so fundamentale, dass ich mich angesichts dieser Umstände dazu veranlasst sehen mag, die ganze Welt zu verwerfen.⁷⁹ So hat mich der Zustand eines „full-blown nihilism“ (Reginster 2006, 37) ereilt. Werte, deren Realisation ohne die Existenz Gottes oder einer metaphysischen Welt unmöglich ist, bezeichnet Reginster als lebensverneinende Werte: „They are (…) values from the standpoint of which this life ‚deserves to be repudiated‘“ (Reginster 2006, 45). Allumfassende Gerechtigkeit ist ein solcher Wert bzw. ein solches Ideal. Ein anderes ist das Ideal der Schmerz- oder Leidlosigkeit. Dazu gleich mehr. Zwar ließe sich der Nihilismus der Desorientierung gegen den Nihilismus der Verzweiflung ausspielen, insofern ersterer die Gültigkeit aller Werte, folglich auch der lebensverneinenden Werte, bestreitet, so dass letzterem der Wind aus den Segeln genommen wäre. Allein dieser Triumph wäre ein Pyrrhussieg  – aus dem nihilistischen Regen gelangte man schnurstracks in die nihilistische Traufe (vgl. Reginster 2006, 55, 68). Solange man nicht beide Grundformen ins Kalkül zieht, ist dem Nihilismus nicht beizukommen. Daher gilt es einerseits, die Geltung von Werten zu retten (um den Nihilismus der Desorientierung zu überwinden) und andererseits, eine Umwertung der lebensverneinenden Werte zu vollziehen (um den Nihilismus der Verzweiflung in die Schranken zu weisen). Die Rettung der Gültigkeit von Werten lässt sich auf metaethischer Ebene leisten, wobei grundsätzlich zwei Strategien Erfolg versprechen: (1.) eine subjektivistische (der normative Subjektivismus) und (2.) eine fiktionalistische (der normative Fiktionalismus). (1.) Der normative Subjektivismus weist zwar den Anspruch objektiver Geltung der Werte zurück, hält jedoch die Werte darum nicht automatisch für entwertet: “[T]he value of our values does not depend on their objective standing.“ Dass unsere Werte, wie Nietzsche vermutet, in Wahrheit keinen objektiven, sondern einen subjektiven Grund (in unseren Trieben und Bedürfnissen) haben, „does not undermine their normative authority“ (Reginster 2006, 69). Mit anderen Worten: Man wird sich gewiss nicht ohne Werte im Leben orientieren können. Irrtümlich wäre indessen die Annahme, nur objektive Werte könnten handlungsleitend sein. (2.) Der normative Fiktionalismus auf der anderen Seite hält in gewisser Weise am Konzept des normativen Objektivismus fest, indem er die subjektiv fundierten Werte so nimmt, als ob es sich um objektive Werte handelte. Die Zurückweisung des Nihilismus der Desorientierung erfolgt dann „by engaging in make-believe in objective values, or imagining that there are such values“ (Reginster 2006, 85). Derweil der Kampf gegen den Desorientierungsnihilismus mit metaethischen Mitteln bestritten werden kann, lässt sich die Auseinandersetzung mit dem Verzweiflungsnihilismus nur über die Umwertung spezifischer Werte führen. Dass Leben leiden bedeutet, gilt gemeinhin als Erzeinwand gegen das Leben. Von daher über-

79 Zu den Bedingungen des Nihilismus der Verzweiflung vgl. Reginster 2006, 36f.

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rascht es nicht, dass Nietzsche dem Problem des Leidenmüssens in seinem großangelegten Rechtfertigungsversuch des Lebens so viel Aufmerksamkeit schenkt. Dabei geht es Nietzsche nicht um die Überwindung des Leidens, ist diese in letzter Konsequenz doch nur durch die Negation des Lebens oder der Welt zu haben. In diese Kerbe schlagen der Platonismus und das Christentum, wenn sie das leidgeschwängerte Diesseits zugunsten eines leidfreien Jenseits abwerten; in diese Kerbe schlägt auch Schopenhauer, wenn er die sukzessive Abtötung des Leiden verursachenden Willens mittels Askese propagiert. Wer das Leben ablehnt, weil er anerkennt, dass es immer auch Leiden evoziert, urteilt offenbar aufgrund des Ideals der Leidlosigkeit, welches er als das ultimative Urmeter an das Leben anlegt. Aber ist Leidlosigkeit wirklich ein Wert bzw. ist Leid zwangsläufig ein Übel? Soll eine Überwindung des Nihilismus der Verzweiflung nicht von vorherein zum Scheitern verurteilt sein, muss eine Umwertung der Werte beim Ideal der Leidlosigkeit ansetzen. Reginsters Deutung des Willens zur Macht steht im Dienst ebendieser Einsicht. Der Wille zur Macht ist in Reginsters Lesart „the will to the overcoming of resistance“ (Reginster 2006, 131f.). Die Überwindung von Widerständen ist, worum es dem Willen zur Macht im Kern geht: „It is, specifically, a desire for the activity of overcoming resistance“ (Reginster 2006, 11). So betrachtet kommt es auf die einzelnen Ziele, die sich der Wille zur Macht gesetzt hat, gar nicht an. Die Hauptsache ist die Machtausübung: Es geht um die Überwindung von Widerständen als solche. Allerdings aktualisiert sich Macht immer nur in der Auseinandersetzung mit ganz bestimmten Widerständen, so dass der Wille zur Macht keine Befriedigung erlangen kann, „unless the agent has a desire for something else than power“. Dementsprechend hat der Wille zur Macht „the structur of a second-order desire“. Er ist, alles in allem genommen, „a desire for the overcoming of resistance in the pursuit of some determinate first-order desire“ (Reginster 2006, 132). Nun versteht Reginster Leiden „in terms of resistance“ (Reginster 2006, 133). Wir leiden an Widerständen, die sich unserem Machtwillen in den Weg stellen. Die leidvolle „experience of dissatisfied longing or desire“ (Reginster 2006, 176) gehört zu den Grundkonstanten unseres Daseins. Doch wenn wir Macht mit Nietzsche als einen höchsten Wert verstehen,⁸⁰ verliert das Leid seines Status als Kardinaleinwand gegen das Leben. Die alles entscheidende Erfahrung der Überwindung von Widerständen, jene Aktivität, in welcher der Wille ganz bei sich, ganz in seinem Element ist, wäre ohne die Existenz von Widerständen schlechterdings nicht möglich. Wer Macht wertschätzt, muss auch Leid wertschätzen: The doctrine of will to power radically alters our conception of the role and significance of suffering in human existence. If, in particular, we take power – the overcoming of resistance – to be a value, then we can see easily how it can be the principle behind a revaluation of suffering. Indeed, if we value the overcoming of resistance, we must also value the resistance that is an ingredient of it. Since suffering is defined by resistance, we must also value suffering. (Reginster 2006, 177) 80 Reginster verweist in diesem Kontext auf den zweiten Abschnitt des Antichristen (AC 2; KSA 6, 170).

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Die höchste Stufe der Affirmation des Lebens, die dionysische Stellung zum Leben, erklimmen wir erst dann, notiert Nietzsche, wenn wir dahin kommen, „die bisher verneinten Seiten des Daseins nicht nur als no thwendig zu begreifen, sondern als wünschenswerth: und nicht nur als wünschenswerth in Hinsicht auf die bisher bejahten Seiten (etwa als deren Complemente oder Vorbedingungen), sondern um ihrer selber willen, als der mächtigeren, fruchtbareren, wahreren Seiten des Daseins, in denen sich sein Wille deutlicher ausspricht“ (NL 1887–1889, KSA 13, 16[32], 492). Die Rechtfertigung des Leids erschöpft sich mithin nicht, indem man es in ein konditionales Verhältnis zum Glück (des sich erfüllenden Willens zur Macht) nach dem Motto: „Ohne Fleiß kein Preis“, stellt, sondern verlangt mehr – eine wirkliche Umwertung eben. Das Leid muss um seiner selbst willen geschätzt werden, was gelingt, wenn wir es in seinem ontologischen Verhältnis zum Glück (des sich erfüllenden Willens zur Macht) betrachten, dem zufolge das Leid ein Ingredienz des Guten ist.⁸¹ Die Umwertung des Leids ist in Reginsters Darstellung der neuralgische Punkt, an dem sich die Überwindung des Nihilismus der Verzweiflung entscheidet. Der Wille zur Macht wiederum ist das Prinzip dieser antinihilistischen Umwertung. Zuletzt jedoch muss noch eine grundlegende Umwertung hinzukommen, welche verhindert, dass der Wille zur Macht sich selbst in einen Einwand gegen das Leben verwandelt. Man muss dem Werden den Vorrang gegenüber dem (als das sich selbst gleich Bleibende verstandenem) Sein einräumen. Der Wille zur Macht verträgt sich nicht mit dem Ideal des Seins. Er erfüllt sich in der Bewegung, in der Überwindung eines Widerstandes. Der erfolgreiche Abschluss dieser Bewegung führt aber zur Frustration des Willens zur Macht. Es ist sein paradoxes Schicksal mit seiner Befriedigung zugleich seine Frustration herbeizuführen:

81 Reginster 2006, 231, weist auf folgendes Notat Nietzsches hin: „Je nach den Widerständen, die eine Kraft aufsucht, um über sie Herr zu werden, muß das Maaß des hiermit herausgeforderten Mißlingens und Verhängnisses wachsen: und insofern jede Kraft sich nur an Widerstehendem auslassen kann, ist nothwendig in jeder Aktion eine Ingred ien z von Un lu s t . Nur wirkt diese Unlust als Reiz des Lebens: und stärkt den Willen zur Macht“ (NL 1887–1889, KSA 13, 11[77], 38). Wichtig scheint mir in diesem Zusammenhang Reginsters Unterscheidung zwischen der Schätzung des Leids um seiner selbst willen und der Schätzung des Leids an sich selbst, weil sie der falschen Vorstellung vorbeugt, Nietzsche müsste aufgrund seiner Schätzung des Leids auch ein Leben, das immerzu an Widerständen scheitert, statt sie zu überwinden, als gut einstufen: „In saying that suffering is valued for its own sake, furthermore, it is important to remember, that is not valued by itself, but only as an ingredient of the good. The good life involves not only resistance (and therefor suffering), but also its overcoming“ (Reginster 2006, 234). Gewissermaßen als Fazit von Nietzsches Umwertung des Leids hält Reginster fest: „And so, although Nietzsche’s revaluation does show that the sole presence of pain and suffering in human existence does not necessarily count as an objection against it, it does not show that particular instances of pain and suffering can never make us wish for a better life. That is certainly true, but we should not lose sight of what his revaluation has actually accomplished. In wishing for a better life, at least, we will no longer aspire to something like the Christian heaven or the Buddhist nirvana, that is to say, a life utterly devoid of pain and suffering, in which we do not have to work or struggle to satisfy our desires, a life of ‚comfortableness‘“ (Reginster 2006, 235).

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(…)[T]he conditions of the satisfaction of the will to power do indeed imply its dissatisfaction. The overcoming of resistance eliminates it, but the presence of such a resistance is a necessary condition of satisfaction of the will to power. Hence, the satisfaction of the will to power implies its own dissatisfaction, in the sense that it necessarily brings it about. (Reginster 2006, 136)

Eine dionysische Philosophie des Werdens verzweifelt nicht daran, dass die Befriedigung des Willens zur Macht immer wieder neu geleistet werden muss. Vielmehr erkennt sie im dynamischen Willen zur Macht gleichsam den Motor einer agonal geprägten Welt, die sie in allen Facetten zu bejahen angetreten ist. (E) van Tongeren: Mit dem Tod Gottes bricht die letzte Phase einer langen Entwicklung an: Endlich tritt der bisher im anonymisierenden Schutz verschiedener Masken (z. B. des Sokratismus oder des Christentums) operierende Nihilismus ans Licht und stellt alles, worauf wir bisher gebaut haben, unerbittlich infrage: die Wahrheit, die Moral, die Ordnung der Schöpfung usw. Zumal in seiner „wahren“ Gestalt des abgründigen Nichts verheißt der Nihilismus Unheil. Nichts ist (mehr) wahr, darum ist (jetzt) im Grunde alles erlaubt – unser Leben ist zu einem gefährlichen Experiment geworden. Der Nihilismus stellt für uns eine enorme Herausforderung, aber auch eine massive Bedrohung dar. Van Tongeren will wissen, worin genau diese Bedrohung besteht und warum sie uns nicht die Sorgenfalten auf die Stirn treibt.⁸² Was bedeutet der Tod Gottes für uns? In der Regel nehmen wir dies einschneidende Ereignis vorschnell auf die leichte Schulter. Wir bedenken es nicht tief genug. So entgeht uns, wie schwerwiegend die Folgen des Todes Gottes für uns eigentlich sind. Nietzsche hat im Aphorismus vom tollen Menschen (FW 125) eindrucksvolle literarische Bilder beschworen, um die tiefe Bedeutung des Ereignisses vor Augen zu führen. Wie Nietzsche setzt auch van Tongeren zunächst auf ein Bild, um klarzustellen, dass wir die Bewandtnis des Todes Gottes radikal verfehlen, wenn wir ihn achselzuckend zur Kenntnis nehmen, um es dabei bewenden zu lassen. Der Verlust des väterlichen Gottes macht uns, so van Tongeren, zu metaphysischen Waisen, „die entdecken, dass die gerade gestorbenen Eltern nicht die echten Eltern gewesen sind“. Unterdessen haben wir den Sinn unseres Lebens ganz auf diese Eltern gegründet. Wenn nun diese Eltern sterben, „was bleibt dann übrig?“ Nichts. Das Bild von den verstorbenen Eltern, die in Wahrheit nicht unsere Eltern waren, illustriert den ungeheuren Verlust, den wir erlitten haben, aber noch nicht genügend. Denn was wir von diesen Eltern gelernt haben, wird durch die Gesellschaft, die Institutionen, die Kultur, in der wir leben, unterstützt. Sie alle lehren in etwa das, was unsere Eltern uns gelehrt haben. Allein unsere Eltern waren nicht unsere wahren Eltern. Das gesamte metaphysische Eltern-Kind-Verhältnis hat sich als Illusion herausgestellt. Im Zuge dieser schmerzlichen Erkenntnis geraten auch die anderen irgendwie mit den Eltern

82 Vgl. van Tongeren 2012, 177. Für seine unentbehrliche Hilfe bei der Übersetzung des niederländischen Textes ins Deutsche bin ich Leon de Haas zutiefst dankbar.

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verwandten Sinnquellen in Verdacht. Summa summarum stehen wir nach dem Tod Gottes also ohne Sinn dar. Diese Konsequenz ist jedoch derart drastisch, dass wir sie uns gar nicht vorstellen können. Das ist die erste Antwort auf die Frage, warum uns die Bedrohung des Nihilismus nicht kümmert: Was der Nihilismus für uns bedeutet, „ist kaum vorstellbar“. Mehr noch: „Nicht nur können wir es uns kaum vorstellen, wir brauchen uns davon auch keine Vorstellung zu machen, solange noch Genügendes der morschen Strukturen fortlebt“ (van Tongeren 2012, 178; Übersetzung – de Haas/ E.B.).⁸³ In seiner Auslegung der Parabel vom tollen Menschen macht van Tongeren darauf aufmerksam, dass die Entlarvung Gottes als Produkt der menschlichen Einbildungskraft ebendiese mit einer Art göttlichem Glanz versieht: Der Mensch erkennt sich als Schöpfer des Schöpfers. In diesem Erkenntnisakt wird er aber zugleich zum Vernichter Gottes. Er ist der Mörder Gottes. Nachdem der Mensch die quasigöttlichen Ausmaße seiner eigenen kreativen Potenz erfasst hat, ist er geneigt, der delikaten Frage des tollen Menschen, ob er nicht selber zu Gott werden müsse, um sich der Größe der Tat des Gottesmordes würdig zu erweisen, mit einer gewissen Selbstsicherheit zu begegnen. Vielleicht ist der Tod Gottes also doch nicht so furchtbar, wie anfangs vermutet. Können wir am Ende gar „nach dem ersten Schrecken nicht sehr zufrieden sein“ (van Tongeren 2012, 180; Übersetzung – de Haas/E.B.)? In Wirklichkeit ist die Tat, wie van Tongeren meint, aber doch zu groß für den Menschen. Sie ist „zu grandios, um[ihm] vorgeworfen werden zu können, aber auch zu epochal, zu tiefgreifend, in ihren Konsequenzen zu unvorhersehbar, um gelobt werden zu können. Der Mensch hat etwas getan, was ihm nicht als seine eigene Tat zugerechnet werden kann, etwas, was er sich nicht als seine eigene Tat zueignen kann.“ Demnach besteht ein beträchtliches Gefälle zwischen der Größe der Tat des Menschen und seiner eigenen Größe. „Darin liegt das Erschütternde“ des Ereignisses, dies ist, was die Zuhörer des tollen Menschen nicht verstehen und nicht verstehen können: „Sie sind noch Lichtjahre davon entfernt“ (van Tongeren 2012, 181; Übersetzung – de Haas/E.B.). Und auch wir sind heute noch weit davon entfernt, den Tod Gottes in seiner ganzen Tragweite für uns zu ermessen. Nietzsches Parabel handelt nicht eigentlich von Gott, nicht von dem, der gestorben ist, sondern vom Menschen, von uns, die wir noch leben und fortan ohne Gott leben und „unser Selbstverständnis selbst in Angriff nehmen“ (van Tongeren 2012, 182; Übersetzung – de Haas/E.B.) müssen. Was auf den ersten Blick wie eine Katastrophe aussieht und auf den zweiten Blick als Befreiung erscheint, verdüstert sich bei weiterem Hinsehen abermals. Denn auch der zunächst verheißungsvolle Humanismus hält nicht, was er verspricht. In der von Gott befreiten Welt schreiben sich die alten Probleme in neuer Gestalt fort. Alte Fronten brechen, lediglich um eine Ebene verschoben, wieder auf. Um konkreter zu 83 Das einstweilige Fortbestehen der morschen Strukturen erlaubt uns das Abschütteln des Todes Gottes per Achselzucken, solange wir geflissentlich über die Instabilität des noch Bestehenden hinwegsehen.

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werden: Der Mensch hat lange Zeit stets im Spannungsverhältnis zwischen der göttlichen idealen und der unvollkommenen irdischen Welt gelebt: „Aber nach dem Tod Gottes scheint derselbe Gegensatz in einer neuen Gestalt hervorzutreten: jetzt als der zwischen Mensch und Welt.“ (van Tongeren 2012, 184; Übersetzung – de Haas/E.B.) Der Mensch hat Gott als Norm abgelöst. Die Gegensatzstruktur ist unterdessen erhalten geblieben. Der Mensch lebt nach wie vor in einem Spannungsverhältnis zwischen einer Welt, wie (er meint, dass) sie sein soll und einer, wie sie wirklich ist: In freier Übersetzung: nicht mehr die zehn Gebote Gottes, sondern die allgemeine Erklärung der Menschenrechte; nicht mehr ein Be- und Verurteilung der faktischen Welt von einer eschatologischen Perspektive aus, sondern eine Be- und Verurteilung der Welt von der Perspektive des Fortschritts und unserer Verantwortlichkeit dafür. (van Tongeren 2012, 184; Übersetzung – de Haas/E.B.)

Nach dem Tod Gottes leben wir nicht nur in einem Sinn-, sondern auch in einem Kriterienvakuum. Wie bereits angesprochen, ist alles erlaubt, wenn Gott tot ist. Allein das Problem der Kriterienlosigkeit, das den Geltungsanspruch des Humanismus untergräbt, ist unlösbar. Und auch die neue zentrale Stellung des Menschen in der Welt lässt sich streng genommen nicht begründen. Erst entdeckt der Mensch in Gott eine bloße Projektion und schon bald darauf erschließt sich ihm „die Anthropomorphie seiner ganzen Welt. Es zeigt sich, dass seine neu erworbene zentrale Stellung in der Welt auf nichts anderem beruht als seiner eigenen Sehnsucht, das Zentrum zu sein und diese Sehnsucht lässt sich nicht rechtfertigen, so dass sie nur zu einem Kampf ohne Spielregeln führen kann“ (van Tongeren 2012, 185; Übersetzung – de Haas/E.B.). Im großen Ganzen sieht es so aus, als sei der Mensch nicht weniger ein Auslaufmodell als der bereits verstorbene Gott. Nietzsche ist sich dessen laut van Tongeren bewusst. Das Sprachrohr jener schwer verdaulichen Erkenntnis ist Zarathustra, der nicht mehr an die Zukunft des Menschen glaubt. Der Mensch ist, spricht Zarathustra, „ein Ü b e rgang und ein Untergang“ (Z I Vorrede 4; KSA 4, 17): Er soll untergehen, da er nicht mehr zu retten ist und er soll übergehen in den Übermenschen, weil diesem die Zukunft gehört (vgl. van Tongeren 2012, 189). Solange wir die Zukunftslosigkeit des Menschen für bedrohlich halten, haben wir den tiefsten Punkt des Nihilismus noch gar nicht erreicht. Wir sind, paradox formuliert, noch nicht auf nihilistischen Grund gestoßen. Erst wenn wir davon ablassen, an uns, die wir Morituri sind, festzuhalten, ist der Nihilismus verwirklicht. In diesem Augenblick ist er jedoch auch schon überwunden. Van Tongeren stößt auf ein Paradox: Solange wir am Nihilismus leiden, indem wir nicht bereit sind, das Alte (uns selbst) loszulassen, ist der Nihilismus im strengen Sinne noch nicht erreicht. Ist er aber erreicht, spielt er für uns keine Rolle mehr: „[W]er wirklich Nihilist ist, ist am Nihilismus vorbei“ (van Tongeren 2012, 190; Übersetzung  – de Haas/E.B.). Der Nihilismus hebt sich somit in letzter Konsequenz selbst auf, so er denn tatsächlich bis zu Ende gedacht und gelebt wird. Auf diese Weise entzieht er sich allerdings dem philosophischen Begreifen, weil er, einmal auf der „Erkenntnisspitze“ angekommen,

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sich der Erkenntnis entzieht. Was Nihilismus ist, lässt sich aus diesem Grund, wie van Tongeren vermutet, möglicherweise besser durch die Literatur als durch die Philosophie erfassen: „Wo philosophische Texte Versuche bleiben, Rätsel zu lösen, kann die Literatur – auch auf andere Weisen – leichter das Paradox bestehen lassen“ (van Tongeren 2012, 192; Übersetzung – de Haas/E.B.).⁸⁴ Dem von van Tongeren beleuchteten Paradox des Nihilismus zufolge geht der Nihilismus den vollkommenen Nihilisten nichts mehr an. Wie steht es unterdessen mit uns, für die der Nihilismus nach wie vor ein Thema ist? Wie können wir mit dem Nihilismus leben? Van Tongerens  – im Übrigen vorläufige  – Antwort lautet: Indem wir unser Leben zu einem Experiment mit offenem Ausgang machen, so wie es uns Nietzsche gelehrt und vorgelebt hat: Das Problem des europäischen Nihilismus betrifft jeden – ob man das Problem sieht und fühlt oder nicht. Die „Lösung“ desselben kann aber nicht allgemein formuliert werden: Sie kann nur im singulären Lebensexperiment experimentell in die Praxis umgesetzt werden. (van Tongeren 2012, 203; Übersetzung – de Haas/E.B.)

84 Vor dem Hintergrund der Zukunftslosigkeit des Menschen fragt van Tongeren, 2012, 193, ob nicht Michel Houellebecqs Roman Elementarteilchen eine besonders anschauliche Skizze eines nihilistischen Lebens sein könnte.

Kapitel III Die Geburt der Philosophie aus dem tragischen Gedanken Das Loos der Welt und der Menschheit ist von Natur ein tragisches, und alles was im Lauf der Welt Tragisches sich ereignet, ist nur Variation des Einen großen Themas, das sich fortwährend erneuert; die Handlung, von welcher alles Leid sich herschreibt, ist nicht einmal geschehen, sondern das immer und ewig Geschehende (…) (Schelling: Einleitung in die Philosophie der Mythologie)⁸⁵ (…) erscheinen uns denn eben die schönsten Farben des Lebens nur auf dunklem Grund? (Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre)⁸⁶

3.1 Das Schopenhauer-Erlebnis Friedrich Nietzsche schildert seine erste Begegnung mit der Philosophie Arthur Schopenhauers nach Art einer Bekehrung oder Erweckung, die überdies frappante Ähnlichkeiten mit dem berühmten Bekehrungserlebnis des Augustinus, der sogenannten „Mailänder Gartenszene“, aufweist. Beides, sowohl die Art der Schilderung als auch die Nähe zum afrikanischen Kirchenvater, ist bemerkenswert. Ganz offensichtlich muss die Lektüre von Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung nicht nur einen ungeheuren Eindruck auf Nietzsche gemacht haben, sondern darüber hinaus für ihn persönlich von höchster Bedeutung gewesen sein. Ein einschneidendes Erlebnis muss ihm die Bekanntschaft mit Schopenhauers Denken gewesen sein, das schon an sich ein „großes Ereignis“ darstellt, worunter Nietzsche weniger äußere, sich in der öffentlichen Welt abspielende Geschehnisse, die sich später als datierte historische Fakten in den Geschichtsbüchern nachschlagen lassen, als vielmehr Gedanken versteht.⁸⁷ Die ereignishaften Gedanken Schopenhauers fallen bei Nietzsche auf fruchtbaren Boden. Er wird sie begierig aufnehmen, wird sie durch- und umdenken, bis ihre Saat endlich in ihm selbst aufgeht, und eine neue Philosophie hervorbringt: seine eigene, Friedrich Nietzsches, tragische Philosophie, die ihrerseits überaus reich ist an ereignishaften Gedanken. Doch bis dahin dauert es eine Weile. Eine solche Entwicklung kostet Zeit und Mühe und erfordert viele einsame Stunden des Nachdenkens. Gerade das ist es jedoch, was sie ausmacht, die „grössten Ereignisse“: dass sie nicht in dem einen Moment von Höllenlärm und Höllenfeuer begleitet auf der Bühne des Lebens auftauchen, nur um bald schon wieder hinter den Kulissen zu verschwinden. Solche lärmenden Ereignisse sind meist bloß Strohfeuer, die viel85 Schelling 1856, 485f. 86 Goethe 1992[1795–1796], 797. 87 „(…) aber die grössten Gedanken sind die grössten Ereignisse (…)“ (JGB 285; KSA 5, 232).

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leicht im ersten Moment eine ungeheure Hitze entwickeln mögen, im nächsten jedoch schon wieder abgebrannt sind und bestenfalls ein Häufchen Asche hinterlassen. Als „viel Lärm um nichts“ könnte man mit Shakespeare gesprochen und mit Nietzsche gedacht das bezeichnen, was wir gemeinhin für große Ereignisse halten. Indes vollziehen sich die wahrhaft bedeutsamen Ereignisse eher im Stillen, kommen gleichsam auf leisen Sohlen, kaum dass wir sie bemerken – wenigstens nicht so bald.⁸⁸ Ein solches Dauern, ein derart langsames, stilles Weben will nun aber gar nicht zu dem emphatischen Ton des Rückblicks passen, in dem Nietzsche seine erste Kenntnisnahme der Philosophie Schopenhauers als ein völlig unvermitteltes Erweckungserlebnis darstellt. Und tatsächlich ist der Rückblick eine Stilisierung, die in mehreren Punkten nicht den wahren Begebenheiten entspricht.⁸⁹ – Im Übrigen handelt es sich beim Bekehrungsbericht des Augustinus ebenfalls um eine Stilisierung (vgl. Horn 1995, 23–28). Aber warum das ganze Pathos? Wieso die Beschwörung eines gewissermaßen mystischen Augenblicks, in dem ein Text zu einer das Leben verändernden Zäsur wird? Um die beiden Autoren hierin verstehen zu können, ist die jeweilige Ausgangslage der Rückblickenden bedeutsam. Man stößt dabei auf eine entscheidende Gemeinsamkeit: Genau wie sich einst der Kirchenvater in einer Lebenskrise befunden hat, in der ihm das Wort Gottes, verkündet durch den Apostel Paulus, entscheidende Hilfe leistete, war auch Schopenhauer für Nietzsche der Retter in der Not einer existenziellen Krise. Aus beiden Bekehrungsberichten schlägt einem dementsprechend sogleich der Ton der Krisis entgegen, so dass es nicht einmal eines besonders sensiblen Ohres bedarf, um die in diesem Kontext zentralen Momente der Verzweiflung auf der einen und der Erlösung auf der anderen Seite herauszuhören. Das achte Buch der Confessiones, in dessen thematischem Mittelpunkt die Bekehrung Augustins steht, erzählt von einem zutiefst verzweifelten Sünder, der sich, krank an Leib und Seele, ganz seinem Schmerz ergibt. Der Ort des Geschehens ist ein Garten

88 „Und glaube mir nur, Freund Höllenlärm! Die grössten Ereignisse – das sind nicht unsre lautesten, sondern unsre stillsten Stunden“ (Z II Ereignissen; KSA 4, 169). Vgl. auch den oben bereits anzitieren Aphorismus Nr.  285 aus Jenseits von Gut und Böse, der im Ganzen lautet: „Die grössten Ereignisse und Gedanken  – aber die grössten Gedanken sind die grössten Ereignisse  – werden am spätesten begriffen: die Geschlechter, welche mit ihnen gleichzeitig sind, e r l e b e n solche Ereignisse nicht, – sie leben daran vorbei. Es geschieht da Etwas, wie im Reich der Sterne. Das Licht der fernsten Sterne kommt am spätesten zu den Menschen; und bevor es nicht angekommen ist, leugn e t der Mensch, dass es dort – Sterne giebt. ‚Wie viel Jahrhunderte braucht ein Geist, um begriffen zu werden?‘ – das ist auch ein Maassstab, damit schafft man auch eine Rangordnung und Etiquette, wie sie noth thut: für Geist und Stern. –“ (JGB 285; KSA 5, 232). 89 Vgl. dazu Ross 1997/98, 158f. und Figl 1991, 91. Sowohl Ross als auch Figl führen überzeugende Argumente dafür an, dass Schopenhauer für Nietzsche im Jahr 1865, als Nietzsche Die Welt als Wille und Vorstellung erworben hat, keineswegs ein Unbekannter gewesen sein dürfte. Nicht nur, dass Schopenhauer zu diesem Zeitpunkt bereits ein berühmter Philosoph und entsprechend in aller Munde war. Hinzu kommt noch, dass Nietzsche in Bonn die Vorlesung des Philosophen Carl Schaarschmidt gehört hatte, in der unter anderem auch die Philosophie Schopenhauers zur Sprache kam. In Nietzsches Vorlesungsnachschrift befindet sich gar ein Auszug aus Die Welt als Wille und Vorstellung.

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in Mailand. Im Schatten eines Feigenbaumes sucht der desperate Augustinus Hilfe im Gebet. Er ist an einem Punkt seines Lebensweges angekommen, der ihm eine alles Weitere entscheidende Wahl abverlangt. Längst schon ahnt er nämlich, dass das Glück dem Menschen nur dann wirklich beschieden sein kann, wenn dessen unruhiges Herz endlich Ruhe findet.⁹⁰ Dieser Seelenfrieden muss aber so lange eine bloße Sehnsucht bleiben, bis man endlich die Ketten löst, mit denen man an die Sünde geschmiedet ist.⁹¹ Wie Augustinus bekennt, ist aber die Sünde die Größe, die seinen bisherigen Lebensweg bestimmt hat. Weil der reuige Sünder dies zwar erkannt hat, aber zugleich aus sich selbst heraus nicht die Kraft aufzubringen vermag, die Ketten auch tatsächlich zu sprengen, befindet sich seine innere Zerrissenheit auf dem Gipfel.⁹² Just in diesem dramatischen Augenblick betritt Gott, ganz wie ein Deus ex Machina auf dem Theater, die Bühne und leitet die existenzielle Peripetie ein: Augustinus vernimmt eine Kinderstimme, die halb singend, halb rufend an sein Ohr dringt: „tolle lege“ – „nimm und lies!“ (Conf., 191f.). Die Stimme wiederholt diesen Ruf so oft und eindringlich, dass der spätere Kirchenvater darin endlich eine Aufforderung Gottes erkennen muss. Also erhebt sich der Verzweifelte und greift, wie von fremder Hand geführt, zu den Briefen des Paulus, in denen er unmittelbar vor seinem seelischen Aus- und beinahe Zusammenbruch gelesen hatte. Er schlägt sie ganz willkürlich auf und beginnt zu lesen: „‚Nicht in Fressen und Saufen, nicht in Kammern und Unzucht, nicht in Hader und Neid, sondern ziehet an den Herrn Jesus Christus und hütet euch vor fleischlichen Genüssen‘“ (Conf., 215). Und plötzlich, nachdem er diese 90 Die Confessiones des Augustinus beschreiben den steinigen Lebensweg eines innerlich zerrissenen Menschen, der schließlich sein Glück und damit das Ende alles Zerrissenseins im Glauben an Gott und der Befolgung von dessen Geboten findet. Die Unruhe des Herzens, der Ausgangspunkt seiner Reise zu Gott, die sich letztlich als Reise ins eigene Innere erweist, wird dabei gleich zu Beginn des ersten Kapitels gewissermaßen leitmotivisch ins Blickfeld des Lesers gerückt: „Und doch, preisen will dich ein Mensch, dieses Stücklein deiner Kreatur. Du selbst aber gibst den Antrieb; so beglückt es ihn, dich zu preisen. Denn zu dir hin hast du uns geschaffen, und unruhig ist unser Herz, bis es ruhet in dir“ (Conf., 32). 91 Insbesondere zu nennen sind hier einmal das Streben nach der Ehe, die mit der Enthaltsamkeit freilich nur schwer vereinbar ist und um deren Verwirklichung Augustinus Gott immer wieder bittet und zum anderen das Streben nach weltlichem Ruhm als Rhetor. 92 Der Zustand der Verzweiflung kommt erst dann auf seinen Höhepunkt, wenn dem Verzweifelten bereits dämmert, dass es da so etwas wie eine Dissonanz in seinem Selbstverhältnis gibt. So gesehen und auf Augustins Situation gemünzt, ist derjenige, der insofern gottlos ist, als er nichts von Gott weiß, weniger verzweifelt als derjenige, der gottlos ist, weil er nichts von Gott wissen will. Allein letzterer ist der Überwindung der Verzweiflung auch näher. In diesem Sinne schreibt Augustinus: „‚Eitel sind freilich alle Menschen, die von Gott nichts wissen, die an den sichtbaren Gütern den nicht erkennen, der da ist.‘ Aber in dieser Eitelkeit befand ich mich bereits nicht mehr, hatte sie hinter mir gelassen und durch das Zeugnis der gesamten Schöpfung dich, unsern Schöpfer, gefunden (…). Aber es gibt noch eine andere Art Gottloser, die, ‚ob sie gleich Gott erkennen, ihn doch nicht gepriesen haben als einen Gott noch ihm gedankt‘. Unter sie war auch ich geraten (…). Schon hatte ich die köstliche Perle gefunden und sollte nun verkaufen alles, was ich hatte, um sie zu kaufen, aber ich zauderte“ (Conf., 191f.).

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wenigen adhortativen Worte als eine wahre Weisung Gottes erkannt hat, ist es vorbei mit allem Schwanken. Aus dem ehedem zerrissenen Willen eines Verzweifelten ist der einheitliche Wille eines Genesenen geworden.⁹³ Augustinus ist geläutert. Er hat sich in einen endgültig Bekehrten verwandelt, der fortan das enthaltsame Leben eines Geistlichen führen wird, eine Lebensform, welche die Ruhe des Herzens gewährt und das himmlische Glück verspricht. Man beachte nun die Worte, mit denen Nietzsche seinen seelischen Zustand zu jener Zeit beschreibt, als er mit dem Hauptwerk Schopenhauers bekannt wird: Ich hieng damals gerade mit einigen schmerzlichen Erfahrungen und Enttäuschungen ohne Beihilfe einsam in der Luft, ohne Grundsätze, ohne Hoffnungen und ohne eine freundliche Erinnerung. Mir ein eigenes anpassendes Leben zu zimmern, war mein Bestreben von früh bis Abend (…). (BAW 3, 297f.)

Der Kern von Nietzsches aus diesen Zeilen sprechenden Krise ist darin zu sehen, dass der junge Student schlechterdings nicht das Gefühl hatte, ein Leben zu führen, das ihm selbst gemäß war, d. h. seinem eigenen Charakter auch tatsächlich entsprach. Er hatte mithin seinen Weg noch nicht gefunden und infolgedessen das Gefühl, ein sinnloses Leben zu leben. Woran es ihm, der Gott längst verloren hatte und der sich doch zugleich durch einen eminenten „verehrungsdurstigen Sinn“ (Janz 1978, 183) auszeichnete, mangelte, war ein Vorbild, daran er diesen Durst stillen konnte⁹⁴ und ein Rückhalt, der ihm einen festen Punkt auf der Suche nach sich selbst bedeutete. Zutiefst verunsichert also stößt Nietzsche eines Tages in einem Leipziger Antiquariat, aus in Anbetracht seiner düsteren Stimmung nicht ganz so heiterem Himmel, auf Die Welt als Wille und Vorstellung:

93 „Weiter wollte ich nicht lesen, brauchte es auch nicht. Denn kaum hatte ich den Satz beendet, durchströmte mein Herz das Licht der Gewißheit, und alle Schatten des Zweifels waren verschwunden“ (Conf., 215). Zum Phänomen des zerrissenen Willens bei Augustinus vgl. Müller 2007. 94 Zu Nietzsches biografischem Hintergrund im Jahr 1865 (als er mit der Philosophie Schopenhauers bekannt wurde) schreibt Figl 1991, 94: „Der Umzug von Bonn nach Leipzig, der Wechsel des Studienortes, hatte nicht nur eine äußere Veränderung mit sich gebracht, sondern Nietzsche war von Bonn sehr unbefriedigt gewesen und durch das Vielerlei von Beschäftigungen abgelenkt von seinen eigenen Interessen. Ohne Orientierung auf ein einheitliches Ziel hatte er damals gelebt; zumindest spürte er dies im Rückblick auf die Bonner Zeit selbst so. Diese Orientierungslosigkeit kennzeichnet auch noch seine anfängliche Situation in Leipzig. Die (…) Briefe widerspiegeln dieses innere Erleben. Sie zeigen aber zugleich, daß er Ausschau gehalten hat nach neuen orientierenden Leitbildern.“ Zwar wurde Nietzsche in Leipzig von dem damals führenden Altphilologen Ritschl gefördert, indessen machten sich beim jungen Studenten Zweifel breit, ob der ihm von seinem Förderer zugedachte Weg auch tatsächlich seinen eigenen Wünschen entsprach. Seinem Freund Mushacke gegenüber hat er diesen Zweifel deutlich zur Sprache gebracht: „Wie leicht kann man von Männern wie Ritschl bestimmt werden, fortgerissen werden, vielleicht gerade auf Bahnen, die der eigenen Natur fern liegen“ (KSB 2, 81).

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Eines Tages fand ich nämlich im Antiquariat des alten Rohn dies Buch, nahm es als mir völlig fremd in die Hand und blätterte. Ich weiß nicht, welcher Dämon mir zuflüsterte: „Nimm dir dies Buch mit nach Hause.“ Es geschah jedenfalls wider meine sonstige Gewohnheit, Büchereinkäufe nicht zu überschleunigen. Zu Hause warf ich mich mit dem erworbenen Schatze in die Sophaecke und begann jenen energischen düsteren Genius auf mich wirken zu lassen. Hier war jede Zeile, die Entsagung, Verneinung, Resignation schrie, hier sah ich einen Spiegel, in dem ich Welt, Leben, und eigen Gemüt in entsetzlicher Großartigkeit erblickte. Hier sah mich das volle interesselose Auge der Kunst an. Hier sah ich Krankheit und Heilung, Verbannung und Zufluchtsort, Hölle und Himmel. (BAW 3, 298)

In Schopenhauer war der vermisste Rückhalt gefunden, jemand, der ihn und sein Leiden verstand und der viele Gedanken, die in Nietzsche wohl keimten, jedoch noch nicht reif geworden waren, bereits durchdacht und meisterhaft⁹⁵ formuliert hatte. Somit hatte das Schicksal dem verzweifelten Nietzsche einen geistigen Erzieher⁹⁶ beschert. Daher das Pathos in Nietzsches Schilderung: Hier spricht jemand aus tief empfundener Dankbarkeit; jemand, der rückblickend weiß, dass er in Schopenhauer nicht nur ein Vorbild zur rechten Zeit gefunden hat, sondern auch eine Philosophie, die ihm schließlich zu derjenigen Folie wurde, auf der er mit Der Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik seinen ersten eigenen philosophischen Wurf wagte. Mir scheint unter der Berücksichtigung der Nietzsche und Augustinus gemeinsamen Ausgangslage, der existenziellen Krise, dass Nietzsches mehr als deutliche Anspielungen auf Confessiones VIII nicht zuletzt aus dem Geist eines tiefen Verständnisses für den damaligen Zustand des späteren Bischoffs verfasst sind. Sicherlich haben die Reminiszenzen auch einen spöttischen Charakter. Immerhin ist es in Nietzsches Darstellung nicht Gott, sondern ein Dämon, der ihm einflüstert, nach der Welt als Wille und Vorstellung zu greifen. Und selbst wenn man diesen Dämon nicht primär antichristlich interpretiert, sondern als eine Anspielung auf das Daimonium des Sokrates begreift, bleibt immer noch der Fakt, dass das schopenhauerische Evangelium der Willens-Verneinung auch eine Verneinung Gottes impliziert. Dass sich Nietzsche über das Bekehrungserlebnis Augustins auch lustig macht, ist sicher richtig, meines Erachtens aber nur von sekundärer Relevanz. Dies gilt umso mehr, als Nietzsche bekanntlich beinahe schon reflexhaft polemisch, ironisch oder höhnisch wird, sobald er sich zum Christentum und seinen philosophischen Anwälten äußert.⁹⁷ Der psycho95 Ganz bestimmt ist auch die schriftstellerische Meisterschaft Schopenhauers ein wichtiger Grund für Nietzsches spontane Begeisterung. 96 Als den philosophischen Erzieher par excellence wird Nietzsche Schopenhauer zeit seines Lebens ansehen, wenn auch immer weniger wegen des Inhalts der schopenhauerischen Lehre, sondern vornehmlich wegen Schopenhauers unerschrockener Wahrheitssuche und zeitkritischer Unzeitgemäßheit (vgl. Nietzsches dritte Unzeitgemässe Betrachtung: Schopenhauer als Erzieher). 97 In einem Brief an Overbeck verhöhnt Nietzsche Augustinus und gerade dessen Confessiones, an denen er kein gutes Haar lässt. Allein die Bekehrung erwähnt er dabei nicht: „Ich las jetzt, zur Erholung die Confessiones des h[eiligen]Augustin, mit großem Bedauern, daß Du nicht bei mir warst. Oh dieser alter Rhetor! Wie falsch und augenverdreherisch! Wie habe ich gelacht (z.B. über den ‚Birnen-

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logische Reflex der vehementen Ablehnung des im Grunde Verwandten, dessen Verwandtschaft man sich indes nicht eingestehen will, der Reflex der verleugneten Identifizierung also, scheint auch auf Nietzsches Verhältnis zu Augustinus zuzutreffen. Anders aber als z. B. bei Adornos Ablehnung Heidegger gegenüber handelt es sich bei Nietzsche und Augustinus weniger um eine denkerische, inhaltlich begründbare Affinität, als um eine psychologische – so jedenfalls will es mir scheinen. Ich komme zurück auf Nietzsches begeisterten Kommentar zum Hauptwerk seines „ersten und einzigen Erziehers“ (NL 1885–1887, KSA 12, 6[4], 232f.). Offenbar hat das Buch mehr als nur Nietzsches Geschmack getroffen. Die Lektüre war für Nietzsche wie ein Blick in den Spiegel. Seine düstere Stimmung, sein Leiden und Ekel am Dasein, auch die Verachtung des durchschnittlichen Menschen und vor allem die mannigfaltige und vehemente Beschwörung der Sinnlosigkeit des Daseins, im Verbund mit der Hoffnung auf eine neue Sinnstiftung durch die Kunst – all das blickte ihm aus den Worten Schopenhauers entgegen. Und mehr noch: Schopenhauer präsentierte sich ihm auch als philosophischer Arzt, soll heißen, nicht bloß als Diagnostiker, der ein Übel erkennt und beim Namen nennt – das Dasein als solches höchst selbst –, sondern als jemand, der mit der Askese und Verneinung stante pede auch schon die entsprechenden Heilmittel zu verschreiben weiß. Nietzsche hat es denn auch sogleich mit der vorgeschlagenen Kur versucht, wie man einem trotzigen Brief (vom 05.11.1865) an seine Mutter und Schwester entnehmen kann. Darin mokiert sich der durch Schopenhauer Belehrte zunächst darüber, dass diese beiden das Leben, diese missliche und nur schwer zu ertragende Sache, so leicht nehmen würden. Sodann fügt er eine Spitze gegen den hedonistischen „Durchschnittsmenschen“ hinzu,⁹⁸ um schlussendlich zu resümieren, dass nur der Weg der Askese eine wirkliche Heilung der Wunde, die das Dasein selber ist, verspreche, „weil die Last“ derart „immer geringer wird und uns keine Bande mehr an dasselbe fesseln.“ Es könne dann „ohne Schmerzen abgeworfen werden“ (KSB 2, 94f.). Leider bringt die Kur der Askese, die Augustinus einst praktiziert und Schopenhauer zwar verordnet, selbst aber nicht wirklich gepflegt hat,⁹⁹ Nietzsche jedoch

diebstahl‘ in seiner Jugend, im Grunde eine Studenten-Geschichte). Welche psychologische Falschheit! (z.B. als er vom Tode seines besten Freundes redete, mit dem er eine Seele gewesen sei, er habe sich entschlossen weiterzuleben, damit auf diese Weise sein Freund nicht ganz sterbe! So etwas ist ekelhaft verlogen.) Philosophischer Wert gleich null. Verpöbelter Platonismus, das will ich sagen, eine Denkweise, welche für die höchste seelische Aristokratie erfunden wurde, zurechtgemacht für Sklavennaturen. Übrigens sieht man bei diesem Buche dem Christenthum in den Bauch: ich stehe dabei mit der Neugierde eines radikalen Arztes und Physiologen“ (KSB 7, 31). 98 Nietzsche kritisiert, der gewöhnliche Mensch ertrage „dieses ganze widerspruchsvolle Dasein“ dadurch, dass er sich daran gewöhnt, „so beschränkt wie möglich zu sein“ und „seinen Geistesdocht so niedrig wie möglich“ schraubt, so dass es sich behaglich „mit den Vergnügungen der Welt“ (KSB 2, 94f.) leben lässt. 99 Ein gerne angeführter Einwand gegen Schopenhauer besagt, dieser genüge aufgrund seiner Lebensweise – d. i. die eines Privatgelehrten, der vom klug verwalteten Vermögen des Vaters recht be-

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keine dauerhafte Heilung.¹⁰⁰ Die Negation mag zwar ein Heilmittel sein, ein Allheilmittel ist sie darum aber noch lange nicht. Im „Krankheitsfall Nietzsche“ bewährt sie sich jedenfalls nicht. Dieses Scheitern ist für den Patienten indes kein Grund, sofort wieder in Verzweiflung zu fallen. Immerhin hat er in dem am Dasein leidenden Schopenhauer einen Seelenverwandten gefunden und vor allem einen Begleiter auf dem Weg zu sich selbst, insofern Nietzsche via negationis der schopenhauerischen Negation eine eigene Kur entwickeln wird: Statt mit der Verneinung versucht er es mit der Bejahung. Bevor ich allerdings Nietzsches Kur der Bejahung vorstellen werde, soll erst einmal die Krankheit betrachtet werden, die durch die Kur bekämpft werden soll. Es ist dieselbe Krankheit, die auch die Basis der Willensmetaphysik Arthur Schopenhauers bildet: das Leiden am Dasein. In Anbetracht eines solchen Ausgangspunktes nimmt es freilich nicht Wunder, dass Nietzsches Philosophie tragischer Natur sein wird. Die Begegnung mit Schopenhauer bedeutet  – so lässt sich jetzt resümierend feststellen – wenn nicht die Bekehrung von der Philologie zur Philosophie, so doch wenigstens einen entscheidenden Schritt auf dem Weg dorthin.¹⁰¹ Auch darin besteht, haglich lebt, dabei aber einen radikalen Pessimismus vertritt – den eigenen, zugegeben drastischen ethischen Forderungen nicht. Der von Schopenhauers Werk durchaus begeisterte dänische Philosoph Sören Kierkegaard hat den Vorwurf des eklatanten Abstandes zwischen Theorie und Praxis im Falle Schopenhauers besonders pointiert formuliert, indem er Nietzsches Lehrer einen Sophisten schimpft: „S.[Schopenhauer– E.B.] ist kein Charakter, kein griechischer Philosoph im Charakter (…). Wie lebt er. Er lebt zurückgezogen und sendet dann zwischendurch ein Unwetter aus – welches totgeschwiegen wird. Ja schau, da haben wir es (…) das Sophistische liegt in dem Abstand zwischen dem, was man versteht, und dem, was man ist; der, dessen Wesensart seinem Verstehen nicht entspricht, der ist Sophist“ (Kierkegaard, zit. nach Garff 2006, 807f.). 100 Nietzsches Askese, von der er in bedauerlicherweise mittlerweile verlorenen Tagebuchblättern berichtet hat, scheint im Wesentlichen in einer Form von körperlicher Züchtigung bestanden zu haben: Er gestattete sich nurmehr vier Stunden Schlaf in der Nacht, mit dem Ziel möglichst viele Stunden zum Arbeiten zu gewinnen, was wiederum seiner „Grübelsucht“ Einhalt gebieten sollte: „Wenn er sich aufraffte, so war Arbeit das Evangelium, Arbeit als Askese und als Überwindung grüblerischer Lethargie, und so ist denn der merkwürdige Vorsatz verständlich, den er als neugeborener Schopenhauerianer faßte: nachts erst um zwei schlafen zu gehen, früh um sechs wieder aufzustehen, also – anderes kann dieser Entschluß nicht meinen – ein doppeltes oder dreifaches Arbeitspensum sich aufzuladen. Das wurde zum Glück bald wieder eingestellt“ (Ross 1997/98, 159). Doch steckt wahrscheinlich noch mehr dahinter, ein philosophisches Konzept gewissermaßen, wie Rüdiger Safranski vermutet. Angeregt von Schopenhauers Idee der Erlösung von den Fesseln des Willens durch die Kunst habe der junge Nietzsche das Faktum, dass „es überhaupt den Enthusiasmus für die Kunst gibt (…) als Triumph vom geistigen Wesen des Menschen über die Naturbefangenheit seines Willens“ gedeutet. Vor diesem Hintergrund scheint, wie Safranski ein Wort Nietzsches aufgreifend meint, eine „Heiligung und Umgestaltung des ganzen Menschenkerns“ möglich, ebendadurch, dass man „Macht über sein eigenes Leben gewinn[t], was man auch dadurch beweist, daß man sich etwas verbieten kann“ (Safranski 2002, 36). In diesem Bezugsrahmen müsse man mithin, so Safranski, die asketischen Restriktionen, die sich Nietzsche selbst auferlegt, sehen. 101 Weniger vorsichtig formuliert diese Ansicht Margot Fleischer: „Es ist wohl nicht zuviel behauptet, wenn man sagt, daß Nietzsches geistige Existenz dank Schopenhauers Werk die eines Philosophen

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um einen letzten Vergleich mit Augustinus zu wagen, eine beachtenswerte Parallele zur Bekehrung des Kirchenvaters, die mehr noch als eine endgültige Bekehrung zum Christentum, eine von der Rhetorik zur Philosophie ist;¹⁰² zu einer vera Philosophia, die ganz im Dienste Gottes, der vera Religione, steht.¹⁰³

3.2 Die Diagnose: Das Dasein – eine ewige Wunde Der Ausgangspunkt von Schopenhauers und Nietzsches Philosophie ist wie gesehen derselbe. Sowohl der Lehrer als auch sein Schüler stellen dem Dasein und der Welt überhaupt eine identische Diagnose, wenn anders sie den Charakter des Lebens als geworden ist (…). Die Lektüre beeindruckte ihn tief (…). Sie hatte etwas von einer Initialzündung für ihn“ (Fleischer 2001, 165). Es ließe sich womöglich einwenden, dass Nietzsches erstes bereits unter dem Eindruck Schopenhauers stehende Werk, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, ja eigentlich als ein wissenschaftlicher Beitrag zur Philologie gedacht war (zumindest war sie die erste Monografie des jungen Nietzsche in seiner Funktion als Professor der Philologie in Basel). Aber auch der Erstling ist im Grunde schon ein philosophisches Werk, das aus der Sicht einer sich im 19. Jahrhundert an den wissenschaftlichen Methoden der Naturwissenschaft orientierenden Philologie viel zu spekulativ, viel zu wenig faktenbezogen argumentiert und obendrein auch noch mit dem begrifflichen Instrumentarium Kants und Schopenhauers arbeitet – mit einem philosophischen Instrumentarium also. Noch wichtiger ist, dass Nietzsche in der Geburt der Tragödie mit dem Gedanken einer ästhetischen Rechtfertigung des Daseins ein tragisch-philosophisches Programm entwickelt, das so nicht ohne die Auseinandersetzung mit der Philosophie Schopenhauers hätte entwickelt werden können. Es ist mit Sicherheit richtig, wenn Ugolini gegen diejenigen, „die in der Geburt der Tragödie eine Art Übergang von der Philologie erblicken“, einwendet, „daß N.[Nietzsche– E.B.] seine Thesen zur griechischen Tragödie immer auch als wissenschaftlichen Beitrag zur Philologie betrachtet“ habe. Hingegen scheint mir die Behauptung, Nietzsche habe sich „in der Zeit, in der die Geburt der Tragödie entsteht, als Philologen durch und durch betrachtet“ (Ugolini 2000, 336), überzogen. Dafür ist die Schrift entschieden zu philosophisch. 102 „Aber auch die unmittelbar danach[nach der Mailänder Zeit Augustins, in die das Bekehrungserlebnis fällt– E.B.] geschriebenen Texte (…) verstehen seine ‚Bekehrung‘ als Bekehrung zur ‚Philosophie‘, wobei er an Ciceros Begriff der ‚Weisheit‘ erinnerte, aber hervorhob, daß sie jetzt sein ganzes Leben bestimmt, daß er nun zur Selbsterkenntnis gekommen ist. Aber gab nicht PAULUS zu dieser Verwandlung den Anstoß? Doch, aber Augustin verstand ausdrücklich die Rolle des Paulus so, daß er ihn zur alten Religion zurückgeführt und ihm zugleich das Angesicht der Philosophie enthüllt habe“ (Flasch 1994, 51). 103 Um vor dem Urteil Augustins als wahre Philosophie zu bestehen, muss eine Philosophie begreifen, dass der Mensch seit dem Lapsus des ersten Menschen Adam in Sünde und Verzweiflung lebt und darum primär erlösungsbedürftig ist. Ein wesentlicher Punkt der wahren Philosophie ist dementsprechend die Einsicht in die Notwendigkeit einer radikalen Umwendung oder Umkehr der Seele, die, den irdischen Dingen zugetan, sowohl ihren eigentlichen Ursprung als auch ihr Ziel – die in Gott in eins fallen – vergessen hat. Wie in so Vielem lässt sich auch in diesem Punkt die denkerische Verwandtschaft des Kirchenvaters mit Platon kaum übersehen. Wie jener betont schon dieser die Notwendigkeit einer Umwendung der Seele (periagogé), die den Menschen gleichsam aus dem Dunkel der Höhle in das Licht der Sonne führen soll.

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zutiefst agonal begreifen. Just an diesem gemeinsamen Ausgangspunkt trennen sich ihre Wege aber auch schon wieder – und das radikal. Denn beide Philosophen gehen geradewegs in entgegengesetzte Richtungen. Schopenhauer betritt mit seiner Philosophie den Pfad der Verneinung, während Nietzsche den Weg der Bejahung einschlägt; ein langer Weg, an dessen Ende die Formel „Amor fati“, der Ausdruck der ultimativen Bejahung des (eigenen) Schicksals steht. Die erste Etappe auf diesem „langen Marsch“ ist Nietzsches früher ästhetischer Rechtfertigungsversuch der Welt und des Daseins, der im Zentrum dieses Kapitels steht. Zielstrebig und sich nicht weiter um die formalen Gepflogenheiten seiner Disziplin bekümmernd, schreitet der junge Philologe – bereits unrettbar philosophisch „verdorben“ – auf diese Etappe zu. Dass er gerade diesen Punkt ansteuert, liegt an der Beschaffenheit des Startpunktes. Es empfiehlt sich demnach, bevor man die erste Etappe genauer in Augenschein nimmt, zunächst einen Blick auf den Ausgangspunkt zu werfen. Es soll mit anderen Worten zuerst die Diagnose, die Schopenhauer und Nietzsche dem Dasein stellen, im Blickpunkt der Untersuchung stehen und erst danach der jeweilige philosophische Umgang der beiden Denker mit dieser Diagnose.

3.2.1 Diagnose I: Schopenhauer Der in der klassisch-metaphysischen Tradition stehende Philosoph versucht sich naturgemäß an einer Gesamtdeutung der Welt. Er fragt nach dem Wesen der Dinge, will ihnen auf den Grund gehen.¹⁰⁴ Demzufolge muss er tief blicken. Der so verstandene philosophische Blick versucht, in das Herz der Welt zu schauen. Statt dass er aber einer glänzenden Goldader unter der Oberfläche der Dinge gewahr wird oder sich ihm, wie bei Platon, ein von einer göttlichen Sonne erhellter Himmel hinter den Dingen auftut, starrt schon der junge Schopenhauer in nichts anderes als Düsternis. Sein Blick ins Herz der Dinge ist, mit Joseph Conrad zu sprechen, ein Blick ins „Herz der Finsternis“, was bei Schopenhauer immer zuerst moralisch zu verstehen ist. Die Finsternis verweist nämlich auf etwas Opakes, von dem man immerhin aber doch so viel weiß, dass es irgendwie unheilvoll, ja sogar böse ist. Nun handelt freilich unmoralisch, wer sich auf Böses einlässt. Gesetzt also die Welt bzw. das Leben selbst sei irgendwie böse, so wäre es auch die Einwilligung in das Leben, d. h. schon das bloße Existieren, unabhängig von der Art und Weise, wie man lebt, würde zu einer unmoralischen Angelegenheit. Überhaupt zu leben, wäre dann die grundlegende moralische Verfehlung alles Lebenden. Wie gleich gezeigt wird, entspricht dies tatsächlich der Position Schopenhauers. Die Frage, wie man dieses Leben führt, ist darum für ihn aber nicht ipso facto moralisch indifferent, so als käme es jetzt, da das Kind ohnehin 104 Dabei ist der Metaphysiker von der Überzeugung geleitet, dass es ein wahres Sein, ein absolutes Wesen der Dinge geben müsse. Rorty 1992[1989], 151, bestimmt Metaphysik in diesem Sinne sehr griffig als „Suche nach Theorien, die die reale Essenz erfassen (…)“.

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schon in den Brunnen gefallen ist, auf das Wie auch nicht mehr an. Vielmehr wird sie dergestalt nur noch heikler, als sie es ohnehin schon ist, weil jetzt jede moralische Erörterung vor dem Hintergrund der Einsicht in die generelle Unmoralität des Lebens erfolgen muss. An dieser Stelle sind einige Bemerkungen zu Schopenhauers üblicherweise mit dem Stichwort „Pessimismus“ verknüpfter Weltsicht geboten.¹⁰⁵ Diese letztlich nicht ganz zu Unrecht bestehende Verknüpfung hängt vorzüglich damit zusammen, dass Schopenhauer das Sein oder das Leben stets moralisch betrachtet und eine andere Betrachtungsweise von vornherein als verfehlt zurückweist. Dem vom moralischen Standpunkt aus auf bzw. in die Welt blickenden Subjekt der Erkenntnis präsentiert sich sein Erkenntnisobjekt: die Welt als Vorstellung, als zutiefst grausam, indem es fortwährend Leid erzeugt.¹⁰⁶ Einer Person, die dieses grausame Sein in einer anderen als der moralischen Perspektive betrachtet oder ihm womöglich gar seine moralische Bedeutung gänzlich abspricht, bescheinigt Schopenhauer eine „Perver sit ät der Gesinnung“. Die amoralische Perspektive auf die Welt sei „der größte, der verderblichste, der fundamentale Irrthum“ (PuP  II, 214).

105 Die Etikettierung „Pessimist“ trifft zumindest auf den Empiriker Schopenhauer zu. Der Metaphysiker Schopenhauer hingegen ist, wie Hauskeller 2003, 85, scharfsinnig aufzeigt, beinahe schon ein Optimist im leibnizschen Sinne. Während nämlich der Empiriker Schopenhauer das allgegenwärtige Leiden in der Welt mit moralischer Empörung quittiert und als eine zum (leeren) Himmel schreiende Ungerechtigkeit begreift, stellt sich die Welt dem Metaphysiker Schopenhauer ganz anders dar. Im Licht seines metaphysischen Systems zeigt sich nämlich, dass wir nicht nur Opfer des Leidens sind, sondern als Bejahende des Willens zum Leben im selben Augenblick immer auch Täter. Und zwar sind wir Opfer unserer selbst: „Denn was ein Mensch leidet, ist ja letztlich nur das, was er sich selber durch seine Willensbejahung antut. All unser Leiden fügen wir uns selber zu und sind darum, recht bedacht, selbst schuld daran. Das Opfer ist immer zugleich Täter. (…) Mit dieser Wendung hat sich die metaphysische Ungerechtigkeit und moralische Absurdität des Lebens endlich ganz verflüchtigt, denn jetzt hat niemand mehr einen vernünftigen Grund, sich zu beschweren oder zu empören. Nur nebenbei sei bemerkt, daß Schopenhauer mit diesem zentralen Teil seiner Lehre gar nicht mehr so weit vom Leibnizschen Optimismus und Rationalismus entfernt ist. Auch für Schopenhauer ist schließlich die Welt, dem ersten Anschein zum Trotz, gar nicht so übel eingerichtet. Wenigstens ist sie nicht ungerecht, und irrational ist sie auch nicht wirklich. Am Ende fügt sich doch alles sehr schön und auf zufriedenstellende Weise zusammen. Als Empiriker steht Schopenhauer deshalb zwar Voltaires düsterer Sicht im Candide nahe, als Metaphysiker aber bleibt er Leibnizianer (…).“ 106 Schopenhauer wird nicht müde, die Grausamkeit des Lebens in den schillerndsten Farben zu malen, wobei er mit Vorliebe auf Beispiele aus dem Tierreich zurückgreift. Eines dieser Beispiele sei hier stellvertretend für die vielen anderen zitiert, weil es besonders eindrucksvoll ist: „Junghuhn erzählt, daß er auf Java ein unabsehbares Feld ganz mit Gerippen bedeckt erblickt und für ein Schlachtfeld gehalten habe: es waren jedoch lauter Gerippe großer, fünf Fuß langer, drei Fuß breiter und eben so hoher Schildkröten, welche, um ihre Eier zu legen, vom Meere aus, dieses Weges gehen und dann von wilden Hunden (Canis rutilans) angepackt werden, die, mit vereinten Kräften, sie auf den Rücken legen, ihnen den untern Harnisch, also die kleinen Schilder des Bauches, aufreißen und so sie lebendig verzehren. Oft aber fällt alsdann über die Hunde ein Tiger her. Dieser ganze Jammer nun wiederholt sich tausend und aber tausend Mal, Jahr aus Jahr ein. Dazu werden also diese Schildkröten geboren. Für welche Verschuldung müssen sie diese Quaal leiden? Wozu die ganze Gräuelscene? Darauf ist die alleinige Antwort: so objektivirt sich der Wille zum Leben.“ (WWV II, 404f.).

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Diesen mit Verve vorgetragenen Vorwurf müsste sich auch Nietzsche, der die moralische Auslegung der Welt seinerseits für den fundamentalen Irrtum hält, weswegen er sich denn auch an einer ästhetischen Rechtfertigung derselben versucht, von seinem Erzieher gefallen lassen. Doch bleiben wir zunächst bei Schopenhauer. Das erkennende Subjekt trägt zwar die moralische Dimension erst an die Welt heran.¹⁰⁷ Dass es aber bei der Weltbetrachtung und -taxierung womöglich die ethische Dimension hintanstellen oder sogar bewusst zurückweisen könnte, ist für Schopenhauer ein unerträglicher Gedanke. Insofern in einem solchen Geschehen die Erkenntnis nicht nur auf grundlegendste Art im Spiel ist, nämlich als bloße Vorstellung der Welt, sondern darüber hinaus eine die moralische Ebene ausklammernde Abstraktion vorgenommen wird, macht sich das betreffende Subjekt in besonderem Maße schuldig. Wie bereits gesagt, haben für Schopenhauer schon die bloße Einwilligung in das Leben bei der Geburt und die sich daran anschließende Teilnahme am Leben einen (un) moralischen Charakter – die bewusste Zurückweisung der Moral setzt der Unmoralität aber die Krone auf. Den Gedanken einer grundlegenden Verstricktheit alles Lebendigen in die Schuld bringt bereits der junge Schopenhauer mit Rekurs auf den literarischen Topos des „Pakts mit dem Teufel“ zum Ausdruck. Für ihn sind die Lebenden

107 Generell gilt für Schopenhauer die Gleichung: „Leben = Schuldigsein“; sie gilt mithin auch für unbewusstes Leben. Ebenso gültig ist für ihn auch die Gleichung „Leben = Leiden“. Nun denkt er beide Gleichungen in seiner Definition von „ewiger Gerechtigkeit“ zusammen: Alles ist schuldig, denn alles leidet, das ist die „ewige Gerechtigkeit“: „Will man wissen, was die Menschen, moralisch betrachtet, im Ganzen und Allgemeinen werth sind; so betrachte man ihr Schicksal, im Ganzen und Allgemeinen. Dieses ist Mangel, Elend, Jammer, Quaal und Tod. Die ewige Gerechtigkeit waltet: wären sie nicht, im Ganzen genommen, nichtswürdig; so würde ihr Schicksal, im Ganzen genommen, nicht so traurig seyn. In diesem Sinne können wir sagen: die Welt selbst ist das Weltgericht“ (WWV I, 415). Bereits die instinktive Einwilligung in das Leben/Leiden bedeutet den Eintritt in die Schuld. So gesehen ist Bewusstsein keine notwendige Bedeutung für das Schuldigsein. Sogar Pflanzen sind schuldig. Trotzdem gibt es auch bei Schopenhauer einen Zusammenhang zwischen Schuld und Erkenntnis, dem zufolge die Schuld desto größer ist, je mehr Erkenntnis im Spiel ist. Das folgende Zitat zeigt deutlich, dass mit der Erkenntnis auch die Schuld wächst. Zugleich spricht es jedoch das Unbewusste von Schuld gänzlich frei, was mit seiner oben formulierten Lehre von der moralischen Schuld alles Seienden konfligiert. Das Zitat legt nahe, dass Schopenhauer am Ende doch zwischen einer diffusen, puren Seins-Schuld und moralischer Schuld sensu stricto unterscheidet; letztere wäre dann Sache allein des Menschen als eines erkennenden Subjekts: „Das Thier ist um ebenso viel naiver als der Mensch, wie die Pflanze naiver ist als das Thier. Im Thiere sehen wir den Willen zum Leben gleichsam nackter, als im Menschen, wo er mit so vieler Erkenntniß überkleidet und zudem durch die Fähigkeit der Verstellung verhüllt ist, daß sein wahres Wesen fast nur zufällig und stellenweise zum Vorschein kommt. Ganz nackt, aber auch viel schwächer, zeigt er sich in der Pflanze, als bloßer, blinder Drang zum Daseyn, ohne Zweck und Ziel. Denn diese offenbart ihr ganzes Wesen dem ersten Blick und mit vollkommener Unschuld, die nicht darunter leidet, daß sie die Genitalien, welche bei allen Thieren den verstecktesten Platz erhalten haben, auf ihrem Gipfel zur Schau trägt. Diese Unschuld der Pflanze beruht auf ihrer Erkenntnißlosigkeit: nicht im Wollen, sondern im Wollen mit Erkenntniß liegt die Schuld“ (WWV I, 186).

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als Lebende allesamt Sünder. Wir alle haben gleichsam einen Pakt mit dem Teufel geschlossen: Nichts ist abgeschmackter, als die Mährchen zu verlachen vom Faust und Andern, die sich dem Teu f el versch rieb en . Das einzige Falsche an der Sache ist nämlich nur Dies, daß es vom Einzelnen erzählt wird, wir aber Alle in dem Fall sind und das p a c t u m geschlossen haben. (HN I, 110)

Ist aber das bloße In-der-Welt-Sein immer schon ein Paktieren mit dem Teufel, so wartet die Hölle nicht erst nach dem Leben auf uns, sondern das Leben selbst ist bereits die Hölle. Aber ist das Leben wirklich so höllisch, wie Schopenhauer glauben machen will? Was macht das Leben zu einem so schrecklichen Ort, dass Schopenhauer davon ein so düsteres Bild malt? Anders gefragt: Ist Schopenhauers Bild vom Leben als Inferno gut gewählt? Wenn man unter der Hölle einen Ort der Strafe in Form eines unausgesetzten Leidens versteht, dann hätte Schopenhauer kaum einen besseren Vergleich finden können. Denn es ist ja gerade seine Grundüberzeugung und vielleicht der zentrale Satz seiner Philosophie, dass „wesentlich a lles Leb en Leiden is t“ (WWV  I, 366).¹⁰⁸ Der junge Schopenhauer führt dieses Leiden zunächst auf die unabwendbare Todesverfallenheit des Menschen zurück. Aber es ist nicht das reine Faktum der Vergänglichkeit, welches das Leid begründet. Weil Schopenhauer nicht mehr an einen Gott als Sinngaranten und an ein Jenseits als Ziel des Diesseits glauben mag, wiegt ihm bzw. wiegt innerhalb seines philosophischen Systems die Endlichkeit so schwer. Wir leben und sterben ohne jeden höheren Sinn. Unser Leben ist in letzter Konsequenz vollkommen sinnlos – und genau das ist es, was so sauer aufstößt: die Sinnlosigkeit. Sie ist der springende Punkt, der Pfahl im Fleisch, der das Leben zu einer einzigen Agonie macht. Vor diesem Hintergrund müssen die an das Bild vom Leben als Pakt mit dem Teufel anknüpfenden Ausführungen Schopenhauers gelesen werden, die unsere endliche und sinnlose Existenz ohne jede Beschönigung ins Visier nehmen: Für den Menschen gilt, genau wie „für jeden Zustand der Materie“, dass er dem Tod anheimgegeben ist. Das ist sein Schicksal und zugleich die Strafe für sein Dasein, verstanden als etwas, was nicht hätte sein sollen.¹⁰⁹ Nun hat der Mensch als vernunftbegabtes Lebewesen im Gegensatz zu anderer Materie, wie Schopenhauer

108 Vgl. auch WWV  I, 448, wo Schopenhauer einen Vergleich anbringt, der den Gedanken an die Hölle („Höllenglut“) evoziert: „Vergleichen wir das Leben einer Kreisbahn aus glühenden Kohlen, mit einigen kühlen Stellen, welche Bahn wir unablässig zu durchlaufen hätten (…).“ 109 „Der Tod ist die große Zurechtweisung, welche der Wille zum Leben, und näher der diesem wesentliche Egoismus, durch den Lauf der Natur erhält; und er kann aufgefaßt werden als eine Strafe für unser Daseyn. Er ist die schmerzliche Lösung des Knotens, den die Zeugung mit Wollust geschürzt hatte, und die von außen eindringende, gewaltsame Zerstörung des Grundirrthums unsers Wesens: die große Enttäuschung. Wir sind im Grunde etwas, das nicht seyn sollte: darum hören wir auf zu seyn“ (WWV II, 581).

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sich ausdrückt, obendrein ein Bewusstsein von diesem ihm bevorstehenden Schicksal. Er weiß, dass er eines mehr oder weniger fernen Tages stirbt. Mit der Vernunft hält somit auch die Todesangst Einzug in das menschliche Leben. Summa summarum gebührt dem Menschen die zweifelhafte Ehre, sein Leben gegenüber allen anderen Lebewesen als die wahre Hölle bezeichnen zu dürfen, weil er, wenn er seine Lage nur einmal mit allem Ernst bedenkt, erkennen muss, dass sein Leben unter dem Strich weiter nichts ist als „eine lange Galgenfrist“. Schopenhauer führt seinen Lesern – so sie es nicht ohnehin schon wussten – vor Augen, dass unser aller Leben der Situation eines „Delinquenten“ ähnelt, der gleichwohl gut versorgt – mit regelmäßigen Henkersmahlzeiten gewissermaßen –, am Ende „doch hängen muß“ (HN I, 110). Zwar hat der sechsundzwanzig-jährige frisch promovierte Schopenhauer den Teufel noch nicht mit dem Willen identifiziert. Schon bald aber wird in Die Welt als Wille und Vorstellung zu lesen sein, dass nicht der Teufel, sondern der Wille schuld ist an der ganzen Misere – trösten kann uns das allerdings auch nicht, denn egal, ob der Teufel oder der Wille für dieses Leben verantwortlich zeichnen, es bleibt ein elendes Geschäft. Schopenhauer entwirft in seinem Hauptwerk eine Metaphysik, eine Gesamtauslegung allen Seins, die sich liest wie eine Tragödie, deren Held jedoch kein König oder wenigstens von hoher Herkunft ist, sondern ein blinder, bloß immer vorwärtsstürmender, ewig strebender Chaot: ein zügelloser Wille. Weil dieser Wille aber alles ist, was überhaupt ist, kann er an kein Ziel kommen – er ist ja überall immer schon da; es gibt kein Außerhalb des Willens, das er erreichen könnte.¹¹⁰ Fatalerweise ist es ihm jedoch genauso wenig gegeben, zur Ruhe zu kommen, denn solches Innehalten verträgt sich nicht mit seinem Wesen: dem immerwährenden Streben, dem reinen Wollen, das nicht irgendetwas Bestimmtes, sondern im Grunde nur das Wollen selbst will und darum niemals Befriedigung erlangen kann. – Und wieder grüßt die Sinnlosigkeit. Es lohnt sich, diesen Protagonisten der Tragödie des Seins, der sich in allen Tragödienhelden manifestiert und für alle Tragik überhaupt sorgt, im Folgenden noch ein wenig genauer unter die Lupe zu nehmen, weil er eine zentrale Rolle in Nietzsches früher tragischer Philosophie spielt, wenn auch unter anderem Namen als bei Schopenhauer. Was genau hat es also mit diesem Willen auf sich? „Die Welt als Ding an sich“, diktiert Schopenhauer in die Feder, „ist ein großer Wille, der nicht weiß, was er will; denn er weiß nicht, sondern will bloß, eben weil er ein Wille ist und nichts Andres“ (HN I, 196). Abgesehen von dem, was über das blinde, zweck- und endlose Streben des Willens bereits oben vermerkt wurde, geht aus dem Zitat hervor, dass der Wille als Ding an sich das metaphysische Prinzip der Welt ist. Er ist, was sich hinter

110 „(…) der absolute metaphysische Wille (…) kann überhaupt kein Ziel haben. Das Ziel ist immer etwas außerhalb des Wollens; und da es nichts außerhalb seiner gibt, so kann er keines besitzen“ (Simmel 1995[1907], 235).

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der empirisch erfahrbaren Welt verbirgt, der Welt, die unsere Vorstellung ist.¹¹¹ Schopenhauer behält mithin die von Kant getroffene und von Nietzsche später verworfene Unterscheidung von Dingen für uns und dem Ding bzw. Dingen an sich bei.¹¹² Allerdings meint Schopenhauer, das Ding an sich erkannt zu haben, was Kant noch für prinzipiell unmöglich erklärt hatte. Nun scheint die Annahme, man könne sich ein Ding an sich vorstellen, ein Ding also, das gerade keine Vorstellung ist, sondern vielmehr als ihr transzendentaler Grund Vorstellungen überhaupt erst ermöglicht, auf den ersten Blick absurd zu sein. Das weiß selbstverständlich auch Schopenhauer. In der Kritik der Kantischen Philosophie, die er als äußerst umfangreichen Anhang dem ersten Band seines Hauptwerks beifügt, hält er fest: Die Wahrheit ist, daß man auf dem Wege der Vorstellung nie über die Vorstellung hinaus kann: sie ist ein geschlossenes Ganzes und hat in ihren eigenen Mitteln keinen Faden, der zu dem von ihr toto genere verschiedenen Wesen des Dinges an sich führt. (WWV I, 596)¹¹³

Der Intellekt ist, anders als man gemeinhin in der philosophischen Tradition bis Kant angenommen hatte, eben doch nicht dasjenige, was uns mit den Dingen erkennend vereint, sondern er steht vielmehr zwischen dem anschauenden Menschen und den angeschauten Dingen. Aus der Ratio als dem Vereinenden wird solchermaßen bei Kant und Schopenhauer das Trennende. Der Intellekt ist verantwortlich für den epistemologischen Riss zwischen Menschen und Welt. Entsprechend führt über die reine Vernunft kein Weg zum Ding an sich. Ausgerechnet als Animal rationale ist der Mensch von der Wahrheit abgeschnitten. Trotzdem glaubt Schopenhauer – und an diesem Punkt entfernt er sich von Kant, indem er über ihn hinausgeht  –, es gäbe für uns einen privilegierten und unverfälschten Zugang zum Ding an sich, nur eben einen anderen als den des reinen Denkens. Dieser andere und einzige Zugang erfolgt

111 Wie schon aus dem Titel von Schopenhauers Hauptwerk hervorgeht, unterteilt er die Welt in Wille und Vorstellung. Das ist im Grunde auch schon alles, was die Welt ist. Vorstellung ist sie nun nur für uns, die wir die Welt vermittels unseres Erkenntnisapparates vorstellen; und Wille ist sie sowohl für uns, vermittelt über unseren Leib, als auch an sich. Was es bedeutet, dass die Welt unsere Vorstellung ist, lässt sich, in aller Kürze, dem folgenden Zitat entnehmen: „‚Die Welt ist meine Vorstellung:‘  – dies ist eine Wahrheit, welche in Beziehung auf jedes lebende und erkennende Wesen gilt; (…) Es wird ihm[dem Menschen– E.B.] dann[wenn er sich diese ‚Wahrheit‘ bewusst vor Augen führt– E.B.] deutlich und gewiß, daß er keine Sonne kennt und keine Erde; sondern immer nur ein Auge, das eine Sonne sieht, eine Hand, die eine Erde fühlt; daß die Welt, welche ihn umgiebt, nur als Vorstellung daist, d. h. durchweg nur in Beziehung auf ein Anderes, das Vorstellende, welches er selbst ist. (…) Alles, was irgend zur Welt gehört und gehören kann, ist unausweichbar mit diesem Bedingtseyn durch das Subjekt behaftet, und ist nur für das Subjekt da. Die Welt ist Vorstellung“ (WWV I, 3f.). 112 Vgl. zu Nietzsches Aufgabe der Distinktion zwischen Schein und Sein, zwischen An-sich und Füruns, insbesondere GD Fabel; KSA 6, 80f. 113 Vgl. auch WWV II, 218f.

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über unseren Leib. Über diesen gelangen wir direkt ins Herz der Welt,¹¹⁴ denn unser Leib ist uns nicht nur als Objekt unter Objekten, d. h. als eine Vorstellung gegeben, sondern „zugleich auf eine ganz andere Weise, nämlich als jenes Jedem unmittelbar Bekannte, welches das Wort Wille bezeichnet“ (WWV I, 119). Unser Leib ist uns also doppelt gegeben: Von außen erfahren wir, dass wir Vorstellung sind, von innen indes, dass wir durch und durch Wille sind. Wir sind sonach anschaulich bzw. Vorstellung gewordener Wille: „Es ist ein Hauptsatz meiner Philosophie, daß der Leib nur die Objektität, Sichtbarkeit des Willens und daher mit diesem identisch ist“ (HN I, 180). Das gilt Schopenhauer zufolge allerdings nicht nur für die Menschen. In der festen Überzeugung, dass wir lernen müssen, die Natur aus uns selbst zu verstehen und nicht umgekehrt uns aus der Natur, schließt er per Analogie vom Menschen auf die gesamte Natur. Auch diese hat neben der äußeren Seite, wonach sie (unsere) Vorstellung ist, noch eine Innenseite, den Willen: Der springende Punkt, die kühne Spekulation der Metaphysik Schopenhauers besteht darin, dass er das Schema der eigenen Leiberfahrung  – Willensseite und Vorstellungsseite  – durch einen Analogieschluss auf die gesamte Natur überträgt. Die Wille-Leib-Identität gilt als Modell für die Welt. (Spierling 2002, 66)

Die gesamte Welt ist also Vorstellung und ist doch zugleich auch Wille. Dass wir Objektivationen des Willens sind, macht nun unsere Lage so misslich. Dies macht den Kern alles Leidens aus. Die Todesverfallenheit, welcher der junge Schopenhauer hinsichtlich des Leidens am Dasein noch eine zentrale Bedeutung zugemessen hatte, ist somit nicht das Punctum saliens der Gleichung Leben gleich Leiden. Leben ist wesentlich leiden, bedeutet vielmehr, dass das Leiden metaphysisch fundiert ist. All unsere Agonie hat einen Grund, nämlich unseren metaphysischen Wesensgrund selbst: den Willen. Ich habe oben von einer Tragödie des Seins gesprochen, deren Held der Wille ist. Wenn wir aber allesamt im Grunde unseres Wesens dieser Wille sind, dann sind wir auch allesamt tragische Helden. Das Schicksal eines tragischen Helden besteht indes darin zu leiden. Und das gilt in Sonderheit für die höchste, weil vernunftbegabte Objektivation des Willens: den Menschen. Er ist zu fortwährendem Leiden verurteilt, weil er Wille ist. Allerdings leiden die Menschen auf mannigfache Weise. Einen wesentlichen Grund menschlicher Agonie sieht Schopenhauer darin, dass dem Menschen als Willensobjektivation grundsätzlich kein beständiges Glück bzw. keine anhaltende Zufriedenheit gegönnt sein kann:

114 Schopenhauer verdeutlicht seine so wichtige Notion mittels eines sehr anschaulichen Vergleichs: Wir gelangen über unseren Leib „zu jenem selbststeigenden und inneren Wesen der Dinge, bis zu welchem wir von außen nicht dringen können“, weil uns solcherart „ein Weg vo n i n n e n offen steht, gleichsam ein unterirdischer Gang, eine geheime Verbindung, die uns, wie durch Verrath, mit Einem Male in die Festung versetzt, welche durch Angriff von außen zu nehmen unmöglich war“ (WWV II, 218f.).

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Kennt der alleinige Wille an seiner Wurzel aufgrund seiner Einzigkeit keine finale Befriedigung, so gibt es sie auch nicht in den höchsten Erscheinungen[den vernunftbegabten Menschen  – E.B.], in denen er sich blind drängend manifestiert und die mit ihrem individuellen Willen und dessen Äußerungen Thema der Metaphysik der Sitten sind. Sein Erscheinen in diesem Bereich ändert nichts an der per se sehr misslichen Lage, was die Möglichkeit von Glück – als dauerhaftes gedacht – und andauernder Befriedigung – Zufriedenheit – angeht (…). (Lerchner 2010, 51)

Allein diese „metaphysische Unmöglichkeit von dauerhafter Befriedigung“ (Lerchner 2010, 51) ändert nichts daran, dass wir von Wunsch zu Wunsch, von Ziel zu Ziel hetzen, stets von der trügerischen Hoffnung getragen, dass das Erreichen dieses einen bestimmten Zieles uns endlich die ersehnte Ruhe und Zufriedenheit bringen wird. Ist uns aber einmal eine längere Rast vom kräftezehrenden Geschäft des unausgesetzten Wollens gegönnt, „empfängt auf der anderen Seite bereits mit offenen Armen die Langeweile, eine Qual ganz anderer Art als ständiges Getriebensein, doch  – keine geringere“ (Lerchner 2010, 53). Anders als später bei Heidegger, einem Philosophen, welcher der Langeweile durchaus etwas abgewinnen kann, indem er in ihr – wie auch in der Angst  – das Potenzial dafür begründet sieht, dass der Mensch die radikale Offenheit seines Daseins begreift und sein Leben infolgedessen mit aller Bestimmtheit ergreift („Entschlossenheit“), erfährt der Mensch nach Schopenhauer in der Langeweile, mal mehr und mal weniger bewusst, nur „die gänzliche Kahlheit und Leere des Daseyns“ (PuP II, 305). Einer solchen faden, unproduktiven Langeweile lässt sich jedoch nicht so ohne Weiteres zu Leibe rücken, indem man sich nur einmal ernstlich seines kreativen Potenzials besinnt. Sie ist nicht psychologischer, sondern ontologischer Natur,¹¹⁵ weil sie eben der Ausdruck der prinzipiellen oder wesenhaften Leere des Daseins ist. Wollte man das Leben, wie es Schopenhauer sieht, illustrativ darstellen, so sähe es wohl aus wie das von einem Oszillographen gezeichnete „Wellenmeer“, das sich aus dem ständigen Pendeln zwischen Getriebensein und Langeweile konfiguriert. Damit ist aber der Bereich des Leidens bei weitem noch nicht abgeschritten. Der Grund dafür, warum nicht nur das menschliche Leben, sondern grundsätzlich alles Leben in der Hauptsache Leiden ist, ist in dem Umstand zu suchen, dass das Leben bzw. der Wille ständig an sich selbst zehrt. Wie schon das ständige Oszillieren zwischen Getriebensein und Langeweile, die das Dasein zu einer ewig ziellosen Fahrt zwischen Skylla und Charybdis machen, unabdingbar zum Leben gehört, ist auch dieses Leiden generierende An-sich-selbst-Zehren ein substanzieller, weil metaphysisch begründeter Bestandteil des Lebens. Bei Licht besehen ist die Welt als Vorstellung eigentlich nichts anderes als ein ewiger Kreislauf solchen Zehrens: „ein innerer Widerstreit des Willens zum Leben gegen sich selbst“ (WWV  I, 391). Und es kann

115 „Auch diese Langeweile ist nicht in dem Sinn psychologisch zu verstehen, daß man ihr bei gehöriger Animation oder Diätik der Seele schon beikommen könnte, nicht als pathologisches Gefühl, als Décadence-Symptom, sondern ontologisch“ (Lütkehaus 2003, 180).

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auch gar nicht anders sein, da der Wille, sofern „er das absolut Eine ist (…) nichts außer sich[hat], womit er seinen Durst stillen, woran er seine Unrast endigen könnte“ (Simmel, 1995[1907], 228). Schopenhauer erweitert den Geltungsbereich des von Thomas Hobbes formulierten Gedankens, wonach sich der Mensch in seinem Naturzustand in einem Krieg aller gegen alle befinde, auf die gesamte Erscheinungswelt aus – die Natur wird bei Schopenhauer zu einem einzigen Bellum omnium contra omnes (WWV I, 393). Ein Jedes in der Natur „besitzt[nur], was es dem anderen entrissen hat“, wodurch „ein steter Kampf um Leben und Tod unterhalten wird“ (WWV I, 364). Der Mensch nimmt dabei die prekäre Rolle des Ersten unter Gleichen ein; er trägt gleichsam die Dornenkrone der Schöpfung, weil er nicht nur zu physischem, sondern auch zu „geistige[m] Schmerz“ (WWV I, 394)¹¹⁶ befähigt ist. In den Bezirk geistigen Leidens gehört nun auch die Fähigkeit des Mitleids, verstanden als ein Mit-Leiden. Der Gipfel des Mitleidens ist dann erreicht, wenn man sich nicht nur in einen anderen hineinversetzt, derart, dass man aus eigenen Leidenserfahrungen auf das gegenwärtige Leid eines anderen schließt, sondern intuitiv ergreift, dass wir metaphysisch betrachtet alle eins sind. Wir sind nur Vereinzelungen des einen Willens, dem uns zu Individuen in Raum und Zeit machenden Principium individuationis unterworfene Teile eines Ganzen, das, indem diese Teile unausgesetzt gegeneinander Krieg führen, ständig an sich selbst zehrt. Diese Einsicht, die Schopenhauer in dem aus dem fernöstlichen Denken entnommenen Satz „tat twam asi, d. h. ‚dies bist du‘“,¹¹⁷ zusammenfasst, potenziert auf der einen Seite unser Leiden noch. Anderseits bildet sie die Grundlage einer Mitleidsethik, die das Leiden am Leben immerhin zu lindern vermag, indem sie dem Kampf aller gegen alle ein ethisches Credo bzw. einen ethischen Imperativ entgegenhält: „Neminem laede; imo omnes, quantum potes, juva[Verletze niemanden; vielmehr hilf allen, soweit du kannst – E.B.]!“ (E, 137 et passim).¹¹⁸ In letzter Konsequenz

116 Vgl. zum geistigen Leiden ferner WWV I, 365f. 117 Der gesamte Passus, in dem diese philosophische Einsicht zum Ausdruck gebracht wird, lautet: „‚Mein wahres, inneres Wesen existirt in jedem Lebenden so unmittelbar, wie es in meinem Selbstbewußtseyn sich nur mir selber kund giebt.‘ – Diese Erkenntniß, für welche im Sanskrit die Formel tat-twam asi, d. h. ‚dies bist Du‘, der stehende Ausdruck ist, ist es, die als M i t l e i d hervorbricht, auf welcher daher alle ächte, d. h. uneigennützige Tugend beruht und deren realer Ausdruck jede gute That ist“ (E, 271). Demzufolge sind unsere Mitmenschen „[d]ie Andern (…) kein Nicht-Ich; sondern ‚Ich noch ein Mal‘“. Wem diese fundamentale Einsicht zuteil wird, dem wird sogleich auch wohler. Darüber hinaus verbreitet er auch Wohlsein: „[E]r fühlt sich allen Wesen im Innern verwandt, nimmt unmittelbar Theil an ihrem Wohl und Wehe, und setzt mit Zuversicht die selbe Theilnahme bei ihnen voraus. Hieraus erwächst der tiefe Friede seines Innern und jene getroste, beruhigte, zufriedene Stimmung, vermöge welcher in seiner Nähe Jedem wohl wird“ (E, 272). 118 Für Schopenhauer ist das Mitleid, wie er in Anlehnung und gleichzeitiger Abgrenzung von Kant – der bekanntlich die Achtung vor dem Sittengesetz für den motivationalen Grund einer wahrhaft moralischen Handlung hält – formuliert, „die eigentliche moralische Triebfeder“ (E, 233). Damit wir mitleiden und solcherart überhaupt moralisch handeln können, ist es unterdessen nicht nötig, die Wahrheit des „tat twam-asi“ reflexiv durchdrungen zu haben. Es reicht zu einer zum Mitleid führenden Identifikation mit dem anderen bereits aus, dass ich „bei s e i n e m Wehe als solchem geradezu mit

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zielt die schopenhauerische Ethik aber nicht bloß auf die Verminderung des Leids, sondern gar auf dessen Beendigung. Dieses hehre Ziel kann allerdings nur durch die radikale Verneinung des je eigenen Lebens realisiert werden. Schopenhauer träumt von einer Art nihilistischer Eschatologie, d. h. von einer Erlösung des Daseins vom Dasein durch ein „Zerfließen ins Nichts“ (WWV  I, 486).¹¹⁹ Wie sich diese Erlösung vom ewigen Wollen dann im Einzelnen bewerkstelligen lässt, ist ein komplexes und darüber hinaus zu den umstrittensten Seiten von Schopenhauers Willensmetaphysik gehörendes Thema, das hier weder weiter ausgeführt werden muss noch soll. Worauf es hingegen in der vorliegenden Studie ankommt, ist zweierlei: (1.) Schopenhauers Diagnose, dass alles Leben wesentlich Leiden ist, und (2.) seine Schlussfolgerung aus dieser Diagnose, wonach die beste Antwort¹²⁰ auf das Fragmal des Leids in der Verneinung des Lebens bestehe. leide, sein Wehe fühle[Kursivierung – E.B], wie sonst nur meines“, so dass „jener gänzliche Un te rschied zwischen mir und jedem Andern, auf welchem gerade mein Egoismus beruht, wenigstens in einem gewissen Grade aufgehoben“ (E, 208) wird. Wäre die reflexive Durchdringung nötig, dann wäre das Mitleid eine Daseinserfahrung exklusiv nur für Philosophen – was, empirisch leicht einsehbar, nicht der Fall ist. Ganz offensichtlich ist das Mitleid kein völlig außerhalb der Ordnung stehendes Vorkommnis, obschon der das Leiden kolossal vermehrende Egoismus die „Haupt- und Grundtriebfeder“ (VN IV, 145) unseres Handelns bildet. Der Egoismus ist das affektive Primum mobile des Lebens, die dem Willen zum Leben durch und durch entsprechende Regung. Nichtsdestotrotz stellt auch das Mitleid ein „alltägliche[s] Phänomen (…) der ganz unmittelbaren, von allen anderweitgen Rücksichten unabhängigen Teiln ah m e zunächst am Leid en eines Andern und dadurch an der Verhinderung oder Aufhebung dieses Leidens“ (E, 208) dar. Hervorgerufen wird es vor allem durch den Anblick von Grausamkeit. 119 Man darf sich dieses Zerfließen nicht als die Vernichtung einer Substanz vorstellen, sondern vielmehr als eine Erlösung vom stetigen Wollen: „Gegen gewisse alberne Einwürfe bemerke ich, daß die Vernein u ng d es Willen s zu m Leb en keineswegs die Vernichtung einer Substanz besage, sondern den bloßen Aktus des Nichtwollens: das Selbe, was bisher gewollt hat, w i l l nicht mehr“ (PuP II, 331). Was aus uns bzw. dem Willen nach seiner Verneinung wird, muss ex hypotesis der schopenhauerischen Philosophie notwendigerweise offen bleiben: „Da wir dies Wesen, den Wi l l e n , als Ding an sich bloß in und durch den Aktus des Wo l l e n s kennen, so sind wir unvermögend zu sagen oder zu fassen, was es, nachdem es diesen Aktus aufgegeben hat, noch ferner sei oder treibe: daher ist die Verneinung f ü r u n s, die wir die Erscheinung des Wollens sind, ein Uebergang in’s Nichts“ (PuP II, 331). Das Nichts bezieht sich also auf uns als Erscheinungen des Wollens und die durch uns vorgestellte Welt. Die Welt als Vorstellung wird sonach in der Verneinung negiert. In Bezug auf sie kann Schopenhauer sinnvoll von einem Nichts sprechen, von einem Nichts sonach, das „wesentlich relativ ist und immer sich nur auf ein bestimmtes Etwas bezieht, welches es negiert“ (WWV I, 484). Ein absolutes Nichts hingegen vermögen wir nicht einmal zu denken. Dies sollte man im Hinterkopf behalten, wenn man die letzten Sätze des ersten Bandes von Die Welt als Wille und Vorstellung liest: „Wir bekennen es vielmehr frei: was nach gänzlicher Aufhebung des Willens übrig bleibt, ist für alle Die, welche noch des Willens voll sind, allerdings Nichts. Aber auch umgekehrt ist Denen, in welchen der Wille sich gewendet und verneint hat, diese unsere so sehr reale Welt mit allen ihren Sonnen und Milchstraßen – Nichts“ (WWV I, 487). 120 Bei erreichter Selbsterkenntniß Bejahung und Verneinung des Willens zum Leben lautet der Titel des vierten Buches von Die Welt als Wille und Vorstellung (vgl. WWV  I, 317). Diese Selbsterkenntnis besteht in der Einsicht, dass das Leben wesentlich Leiden ist. Nun gibt es zwei entgegengesetzte

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Diese beiden Punkte sind deswegen so bedeutsam, weil Nietzsche in Bezug auf (1.) ausdrücklich mit Schopenhauer übereinstimmt, in Bezug auf (2.) dagegen mit allem Nachdruck Opposition gegenüber seinem Lehrer bezieht: Statt der radikalen Verneinung will er die vollkommene Bejahung. Zunächst will ich mich Punkt (1.) zuwenden, d. h. der Frage nachgehen, inwiefern sich das Leben für Nietzsche als Leiden darstellt.

3.2.2 Diagnose II: Nietzsche oder: Gott ist tot I Nietzsches erster großer Wurf, die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik,¹²¹ konfrontiert ihre Leser mit einer ästhetischen Metaphysik, was das philologische Fachpublikum, welches gespannt auf das Buch des jungen, hoffnungsvollen Professors gewartet hatte, zwangsläufig brüskieren musste.¹²² „Metaphysisch“ ist diese ästhetische Metaphysik, insofern sie an der von Kant inaugurierten und von Schopenhauer übernommenen Distinktion zwischen einer Welt der Erscheinung und eines Möglichkeiten, darauf zu antworten. Man kann das Leben entweder bejahen oder verneinen. Schopenhauer macht zwar aus seinem Herzen keine Mördergrube, wenn er unmissverständlich den Weg der Verneinung zum besseren und angemesseneren, wenn auch beschwerlicheren Weg erklärt. Indes schreibt Schopenhauer seinem Leser die Negation des Lebens – en passant bemerkt ist sie, sofern sie auf einer Einsicht beruht, einzig und allein der vernünftigen Willensobjektivation „Mensch“ möglich – keineswegs im Sinne eines ethischen Imperativs vor. Unterdessen rüstet er seine Leser für den Fall der Fälle, d. i. die gewählte Lebensverneinung, indem er im vierten Buch des ersten Bandes seines Hauptwerks den Weg der Willensverneinung ausgiebig beschreibt und außerdem erläutert, wie er sich überhaupt betreten lässt. 121 In der zweiten Auflage, nach dem Bruch mit Wagner, betitelt sie Nietzsche bezeichnenderweise nur mehr als Die Geburt der Tragödie, unter welchem Namen sie im Folgenden auch hier behandelt wird. 122 Hinlänglich bekannt ist die ausgesprochen scharfe Kritik an Nietzsches Tragödienbuch von Seiten des jungen Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf, der später als Altphilologe berühmt werden sollte. In Zukunftsphilologie! Eine Erwiderung auf Friedrich Nietzsches, ord. Professor der classischen Philologie zu Basel, Geburt der Tragödie empfiehlt er Nietzsche, dieser möge am besten gleich sein Lehramt aufgeben: „(…) halte Hr. N. wort, ergreife er den tyros, ziehe er von Indien (wie Dionysos) nach Griechenland, aber steige er herab vom Katheder, auf welchem er wissenschaft lehren soll, sammle er tiger und panther zu seinen knien, aber nicht deutschlands philologische Jugend, die in der askese selbstverläugnender arbeit lernen soll, überall allein die Wahrheit zu suchen“ (zit. nach Gründer 1989, 46). Aber auch Nietzsches eigener Förderer Ritschl äußert sich in einem Brief an seinen Zögling, der zuvor um ein seine Schrift betreffendes Urteil gebeten hatte, ablehnend. Auch erkennt Ritschl, dass es sich hier im Kern bereits um eine philosophische und nicht mehr um eine philologische Schrift handelt: „Meiner ganzen Natur gehöre ich (…) der historischen Richtung und historischen Betrachtung der menschlichen Dinge so entschieden an, daß mir nie die Erlösung der Welt in einem oder dem anderen philosophischen System gefunden zu sein schien; (…) Sie können dem (…) Gelehrten unmöglich zumuten, daß er die Erkenntniß verurtheile und nur in der Kunst die weltumgestaltende, die erlösende und befreiende Kraft erblicke“ (KGB II/2, 542).

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Dings an sich festhält, welche Unterscheidung Nietzsche später als Ausdruck des Nihilismus deuten wird.¹²³ Das nietzscheanische Ding an sich erinnert nun, wie oft bemerkt wurde, unweigerlich an den blinden Willen der schopenhauerischen Metaphysik, wenn anders es sich in seinem chaotischen Gebärden und seiner inneren Zerrissenheit in innigster Verwandtschaft mit dem Willen zum Leben weiß. Im Hinblick auf die Zerrissenheit ist es wohl sogar noch schlimmer um Nietzsches metaphysisches Grundprinzip bestellt als um das schopenhauerische. Denn jenes hintergründig-abgründige Ur-Eine, von dem bei Nietzsche die Rede ist, befindet sich offenbar im pathologischen Zustand innerer Zerrissenheit, noch bevor es sich überhaupt in Raum und Zeit objektiviert. Aus diesem Grund ist es auch erlösungsbedürftig. Aber dazu gleich mehr. „Ästhetisch“ ist diese Metaphysik nun, insofern es in der Geburt der Tragödie wesentlich um eine ästhetische Rechtfertigung der Welt und des Daseins geht. Damit bin ich wieder beim obigen Ausgangspunkt, der Gleichung „Leben ist Leiden“, angekommen, denn wo eine Rechtfertigung verlangt wird, da scheint trivialiter etwas nicht in Ordnung bzw. rechtfertigungsbedürftig zu sein. Dieser rechtfertigungsbedürftige Gegenstand ist nun das Dasein bzw. die Welt selbst. Es wurde bereits gezeigt, inwiefern Schopenhauer das Dasein gewissermaßen für derart rechtfertigungsbedürftig hält, dass es sich gar nicht mehr rechtfertigen lässt. Was indes macht das Dasein in Nietzsches Augen zu einer so traurigen Angelegenheit, dass es einer Rechtfertigung bedarf? Ein erster Grund hierfür besteht darin, dass es (auch) bei Nietzsche nicht mehr der Gott des Christentums ist, der im Weltendrama Regie führt. Statt seiner hält nun der heidnische Gott Dionysos die den Weltenlauf bestimmenden Fäden in der Hand. Dabei entpuppt sich der Weltenlenker Dionysos gleichsam als verrückter Puppenspieler, der vom Leben berauscht mal an den einen und mal an den anderen Fäden zieht und mal die einen und mal die anderen Fäden einfach fallen lässt, ganz so, wie es ihm gerade in den Sinn kommt. Dasselbe Weltgeschehen erscheint so in einem anderen, sehr viel grausameren Licht als unter der Obhut des christlichen Gottes gesehen, weil Dionysos sich nicht um letzte Ziele, um eine Erlösung vom Übel und den Eintritt in das Paradies schert. Er kennt in gewisser Weise keine Sorge, die sich als solche wesentlich auf das Zukünftige bezieht, weil er ganz im Rausch der Gegenwart aufgeht; der Gott des Rausches kennt keinen Kater, weil er sich immer wieder in einem permanenten Hic et nunc erlöst. Dem Menschen, dessen Dasein wesentlich zeitlich bestimmt ist und das sich in letzter Konsequenz, wie Heidegger – wenn auch mit euphemistischer Färbung – geltend gemacht hat, als „Sein zum Tode“ (vgl. Heidegger 2006[1927], §§ 46–54, 235–267) begreifen lässt, muss in der Welt des Dionysos

123 „Er[Nietzsche– E.B.] sieht die Metaphysik unter der ‚Optik des Lebens‘. Die Seinsgedanken der Metaphysik werden von Nietzsche auf ihren symptomatischen Wert abgeleuchtet, z. B. wird die Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich als Ausdrucksphänomen eines sinkenden Lebensgefühls gedeutet, eines Lebens, das im Sinnfälligen nicht mehr heimisch sich die Hinterwelt eines ‚Jenseits‘ der Erscheinungen erfindet“ (Fink 1960, 14f.).

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zwangsläufig angst und bange werden. Der sich um den je einzelnen Menschen als einer bestimmten Person väterlich sorgende Gott des Christentums wird von Nietzsche in der Geburt der Tragödie nicht einmal mehr erwähnt. Stattdessen begegnet man hier einem geradezu auffälligen Missachten, einem „behutsamen und feindseligen Schweigen“ (GT Versuch 5; KSA 1, 18), mit dem das Christentum bedacht oder vielmehr gerade nicht bedacht wird. Nicht Gott ist es, der das Dasein rechtfertigen kann und soll – und auch von Dionysos sollte man in dieser Angelegenheit, wie oben dargestellt, nicht zu viel erwarten¹²⁴ –, sondern die Kunst.¹²⁵ Innerhalb von Nietzsches ästhetischer Rechtfertigung gibt es keinen Platz mehr für den christlichen Gott: „In Wahrheit, es giebt zu der rein ästhetischen Weltauslegung und Welt-Rechtfertigung, wie sie in diesem Buche gelehrt wird, keinen grösseren Gegensatz als die christliche Lehre (…)“ (GT Versuch 5; KSA 1, 18). Offenbar ist Gott für Nietzsche bereits zu Zeiten der Tragödienschrift gestorben. Und dennoch wird im Hinblick auf die Geburt der Tragödie immer wieder von einer ästhetischen Theodizee gesprochen, was deswegen angezeigt zu sein scheint, weil die Welt, wie sie der junge Nietzsche beschreibt, ja insofern nicht gottlos ist, als er doch von einem alles durchwaltenden metaphysischen Grundprinzip ausgeht, dem er ausgerechnet den Namen eines Gottes, Dionysos,

124 Inwiefern die Rechtfertigung letztlich doch auf Dionysos als dem metaphysischen Grundprinzip der Welt zurückgeht, werde ich gleich noch erörtern. 125 Ohne eine Erlösung des schrecklichen Daseins im schönen Schein, den die Kunst erzeugt, müsste die Weisheit des Silen gelten, die griechische Volksweisheit, welche Nietzsche im Anschluss an Jakob Burckhardt der zumal durch Goethe weit verbreiteten Auffassung von der griechischen Heiterkeit entgegenhält: „‚Elendes Eintagsgeschlecht, des Zufalls Kinder und der Mühsal, was zwingst du mich dir zu sagen, was nicht zu hören für dich das aller Erspriesslichste ist? Das Allerbeste ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich – bald zu sterben‘“ (GT 3; KSA 1, 35). Bemerkenswert an dieser Volksweisheit ist ihre ungewöhnliche Bewertung des Seins, namentlich des endlichen Seins. Während in der insbesondere durch Platon geprägten abendländischen Metaphysik das Sein stets als das Gute, das Nichtsein aber als das Böse und weniger Seiende, wenn nicht gar Nichtige, begriffen wird, so dass man gar von einer Ontophilie des Abendlandes sprechen könnte, erfolgt hier eine axiologische Inversion. Jetzt wird dem Nichtsein der Vorzug vor dem Sein gegeben. Die Geburt wird folgerichtig nicht mehr als ein Geschenk erachtet, sondern vielmehr als eine an sich unnötige Bürde. Ein solches Denken hat freilich auch gravierende Konsequenzen für die Vorstellung eines Schöpfer-Gottes. Auch hier macht sich eine Umkehrung bemerkbar. Nun ist es nämlich nicht mehr das Individuum, das sich vor Gott wegen des unrechtmäßigen Gebrauchs des Geschenks, das sein Leben ist, rechtfertigen muss, sondern es ist Gott, der sich vor dem Individuum angesichts dessen Leiden zu verantworten hat. War Gott einst der Richter, so sitzt er nun auf der Anklagebank, dieweil die Theodizeefrage verhandelt wird. Es ist wohlgemerkt und doch wenig überraschend gerade dieser Gedanke Nietzsches, dass die Kunst den Menschen vom Leiden zu erlösen vermag, die den Philosophen Nietzsche auch für Dichter so anziehend gemacht hat und noch immer macht. In Bezug auf den Nihilismus sei hier vor allem Gottfried Benn genannt, der den Nihilismus als das Problem Nietzsches schlechthin erkannt und sich zu eigen gemacht hat (vgl. dazu Hillebrand 2000, 9–48).

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gibt.¹²⁶ Sie ist nur eben nicht die Welt des dreifaltigen christlichen Gottes, der einen Plan mit den Menschen und der Welt hat, wonach am Ende aller Tage ein wie auch immer genau gearteter neuer Bund zwischen Gott und den Menschen vorgesehen ist. Den Worten des Apostels Paulus zufolge dürfen die Menschen auf eine Erlösung der Welt von allem Leid hoffen, auf eine Verwandlung des irdischen in ein himmlisches Reich, in dem es ein glückliches und ewiges Leben unter Gottes weiser und gerechter Herrschaft geben soll.¹²⁷ Nietzsches „neuer“ Gott Dionysos ist hingegen kein Gott der höheren Sinnstiftung. Vielmehr zeichnet er sich durch eine fundamentale „Lust am Vernichten“ (GD Alten 5; KSA 6, 160) aus. Dionysos ist ein fürchterlicher Gott, der kein letztes Ziel des Werdens kennt. Ist solcherart der Sinn der christlichen Weltauslegung für obsolet erklärt, lässt sich die von Nietzsche in Angriff genommene Herkulesarbeit einer Rettung bzw. Rechtfertigung der Welt und des Daseins erst in ihrer ganzen Schwere begreifen. Denn zwar ist die klassische Theodizeefrage Ausdruck eines Haderns mit Gott und der Welt. Dieweil stellt sie weniger den Sinn der Welt und des Daseins überhaupt in Frage, als dass sie „nur“ nach dem Sinn des Verhältnisses zwischen dem in der Welt allenthalben anzutreffenden Leid, einem Übel ganz offenkundig, und der vermeintlichen Güte Gottes fragt. Immerhin hat sie dabei in Gott noch einen Adressaten und kündet in ihrer Wendung an diesen, bei allem sich in ihr auch aussprechenden Zweifel, eben doch noch von einem lebendigen Gottesbezug. Bei Nietzsche freilich kann von einem solchen Bezug keine Rede mehr sein, denn Dionysos ist letztlich keine personale Entität wie der Gott des Christentums, an den man sich noch persönlich wenden konnte, sondern nur das Symbol für ein dem schopenhauerischen 126 Vgl. zur Verwendung des Begriffs „Theodizee“ bei Nietzsche insbesondere im Kontext der Geburt der Tragödie Goedert 1991, vor allem 45–47. Goedert selbst spricht von einer „dionysischen Theodizee“, eingedenk der Tatsache, dass Nietzsches ästhetische Rechtfertigung des Daseins und der Welt nicht ohne wenigstens eine Art Gott konzipiert wird: „In der That, das ganze Buch kennt nur einen Künstler-Sinn und -Hintersinn hinter allem Geschehen, – einen ‚Gott‘, wenn man will, aber gewiss nur einen gänzlich unbedenklichen und unmoralischen Künstler-Gott, der im Bauen wie im Zerstören, im Guten wie im Schlimmen, seiner gleichen Lust und Selbstherrlichkeit inne werden will, der sich, Welten schaffend, von der No th der Fülle und Ue b e r fü l l e , vom Le i d e n der in ihm gedrängten Gegensätze löst“ (GT Versuch 5; KSA 1, 17). Ich meine, man kann von einer Theodizee sprechen, muss es aber nicht. Dazu gleich mehr. 127 Als eine in diesem Kontext zentrale Stelle sei auf den ersten Brief des Paulus an die Korinther verwiesen, wo es unter anderem heißt: „Nun aber ist Christus von den Toten auferweckt worden als der Erste der Entschlafenen. Da nämlich durch einen Menschen der Tod gekommen ist, kommt durch einen Menschen auch die Auferstehung der Toten. Denn wie in Adam alle sterben, so werden in Christus alle lebendig gemacht werden. Es gibt aber eine bestimmte Reihenfolge: Erster ist Christus, dann folgen, wenn Christus kommt, alle, die zu ihm gehören. Danach kommt das Ende, wenn er jede Macht, Gewalt und Kraft vernichtet hat und seine Herrschaft Gott, dem Vater, übergibt. (…) Der letzte Feind, der entmachtet wird, ist der Tod“ (1. Kor 15, 20–27). Die theologisch gewichtige Frage, ob generell alle Menschen oder nur diejenigen, die an Christus glauben, erlöst werden, kann hier nicht erörtert werden. Es sei jedoch gesagt, dass sie sich bei Paulus mit allem Nachdruck stellt, weil sich seine diesbezüglichen Aussagen zum Teil widersprechen. Vgl. z. B. Phil 3, 18 und Röm 11, 36.

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Willen sehr nahe kommendes metaphysisches Prinzip. So wird bei Nietzsche aus der Theodizee eine „Algodizee“¹²⁸, die den Sinn der Welt und des Daseins grundlegend in Frage stellt, wenn sie nach einer Antwort darauf verlangt, wie denn ohne Rekurs auf eine höhere Sinngebung der mit dem Dasein untrennbar verknüpfte Schmerz überhaupt noch zu ertragen sei. In Anbetracht dieser Umstände tritt eine schreckliche Frage auf den Plan: Indem wir die christliche Interpretation dergestalt von uns stossen und ihren „Sinn“ wie eine Falschmünzerei verurtheilen, kommt nun sofort auf eine furchtbare Weise die S chopenhauerische Frage zu uns: hat denn das Dasein überhaupt einen Sinn? (FW 357; KSA 3, 600)

3.3 Ja zum Schmerz: Nietzsches ästhetische Rechtfertigung des Daseins und der Welt Nietzsche will Ja sagen zum Dasein und damit auch zum Schmerz, soviel ist bereits klar. Ebenfalls zur Sprache gekommen ist, dass der Kunst die Hauptrolle im Erlösungsdrama zukommen soll. Aber damit nicht genug. Die Kunst spielt in der Geburt der Tragödie sogar eine Doppelrolle: Denn sie ist nicht nur die existenzielle Antwort auf die Algodizeefrage, sondern sie fungiert zudem auch als das entscheidende hermeneutische Prinzip, als die Brille gleichsam, durch deren Blick sich dem Betrachter die Wirklichkeit in ihrem wahren Wesen zeigt. Dem, was man in und durch die Kunst über die Welt erfährt, gilt es dann als Philosoph nachzudenken: (…) die Kunst, die tragische Dichtung wird ihm[Nietzsche – E.B.] zum Schlüssel, der das Wesen der Welt aufschließt. Die Kunst wird zum Organon der Philosophie, sie wird genommen als der tiefste eigentliche Zugang, als das ursprünglichste Verstehen, dem der Begriff höchstens nachfolgt; ja das Begreifen gewinnt Ursprünglichkeit erst, wenn es sich der tieferen Sicht der Kunst anvertraut, – wenn es nachdenkt, was die Kunst schöpferisch erfährt. (Fink 1960, 17)¹²⁹

Nun ist Nietzsches erste Schrift aber kein Buch über die Kunst im Allgemeinen, sondern es handelt von der griechische Tragödie im Besonderen. Dies hat freilich

128 Den Ausdruck „Algodizee“, der mir im Hinblick auf Nietzsches Tragödienschrift passender erscheint als der klassische Begriff „Theodizee“, hat Peter Sloterdijk in der Kritik der zynischen Vernunft geprägt. Er definiert ihn dort wie folgt: „Algodizee heißt sinngebende metaphysische Interpretation des Schmerzes. Sie tritt in der Moderne an die Stelle der Theodizee, als deren Umkehrung. In dieser hieß es: wie sind das Böse, Schmerz, Leiden und Unrecht mit Gottes Dasein zu vereinbaren? Jetzt lautet die Frage: Wenn es keinen Gott und keinen höheren Sinnzusammenhang gibt, wie halten wir dann überhaupt den Schmerz noch aus?“ (Sloterdijk 1983, 815). 129 Dasselbe, Wort für Wort, hätte Fink auch mit Bezug auf Schopenhauers Philosophie schreiben können – an seiner Richtigkeit würde sich nicht das Geringste ändern. Gerade wenn es um die augenöffnende Kraft der Kunst geht, ist die sachliche Nähe zwischen dem sein eigenes Werk beginnenden Schüler und seinem Lehrer immer noch sehr groß.

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einen guten Grund: Wie in wohl keinem anderen Kunstwerk offenbart sich nämlich das Wesen der Welt in der Tragödie, ist doch das Sein selbst wesentlich tragisch, so Nietzsches Überzeugung. Dies ist die Wahrheit der Tragödie, eine Wahrheit, die den Optimismus des Sokratismus, wie wir noch sehen werden, als eine dem Leben nicht angemessene Falschmünzerei entlarven wird. Ein Philosoph, der seinen Zugang zur Welt über die Kunst, genauer: die Tragödie gewinnt, wird ipso facto zu einem tragischen Philosophen, als deren erster sich Nietzsche rühmt (vgl. EH GT 3; KSA 6, 312). Das Seinsverständnis eines tragischen Philosophen  – und damit auch Nietzsches Seinsverständnis – lässt sich folglich aus der griechischen Tragödie herauslesen. Und genau das hat Nietzsche getan: „[E]r sieht sich in die Griechen hinein und interpretiert sich aus diesen her.“ Dabei „erkennt er sich“ – freilich „nicht seine Person, sondern sein Weltverständnis“ (Fink 1960, 21). Wie aber versteht Nietzsche in der Geburt der Tragödie die Welt? Das ist die erste Frage, der ich mich im Weiteren annehmen will. Und die zweite, sich daran anschließende Frage lautet: Wie lässt sich eine so verstandene bzw. interpretierte Welt rechtfertigen?

3.3.1 Die Geburt der Welt aus dem Urwiderspruch – eine Lektüre der Geburt der Tragödie aus Sicht des Ur-Einen Nietzsche „erzählt“, so möchte man beinahe sagen, seinen Lesern im Tragödienbuch die metaphysische Geschichte einer zweistufigen ästhetischen Erlösung des Ur-Einen; eine Erlösungsgeschichte, die zugleich eine Schöpfungsgeschichte ist.¹³⁰ Im Rahmen dieser Geschichte erleben die beiden berühmten, die Welt durchströmenden und dabei bildenden Fundamentaltriebe, das Apollinische und das Dionysische, ihren großen Auftritt. So wie Nietzsche es hier unternimmt, wird er nach der Geburt der Tragödie nicht mehr von ihnen sprechen; nämlich so als wären sie zwei zwar voneinander abhängige, jedoch an und für sich eigenständige polare Kräfte, die sich bekämpfen und dabei gleichzeitig diese Welt, wie sie uns erscheint, fortwährend hervorbringen.¹³¹ Dieser fruchtbare Kampf, der an Heraklits polemos, den Krieg als

130 Die Frontstellung Nietzsches gegenüber der christlichen Lehre lässt sich sehr deutlich auch am – christlich ausgedrückt – „eschatologischen“ Gedanken der Geburt der Tragödie aufzeigen. Während nämlich die christliche Eschatologie auf die Erlösung der Welt und vorzüglich auf die des je einzelnen Menschen durch Gott abzielt, ist es bei Nietzsche zunächst gerade das Ur-Eine, welches erlösungsbedürftig ist. Ein „Happy End“ für den einzelnen Menschen als endliches Seiendes, das gewissermaßen aus der Einheit des dionysischen Seinsgrundes herausgefallen ist, ist in der tragischen Welt, wie sie das Tragödienbuch zeichnet, nicht vorgesehen. Die Frage nach der Rolle des Menschen in Nietzsches Erlösungsgeschichte wird im weiteren Verlauf dieses Kapitels behandelt. 131 Dionysos bzw. das Dionysische wird Nietzsche zeit seines Schaffens nicht mehr loslassen. Das Apollinische hingegen wird er nach der Geburt der Tragödie als eigenständige Kraft kaum mehr thematisieren. Indessen verschwindet es darum doch nicht gänzlich von der Bildfläche. Vielmehr wird das Apollinische als integraler Bestandteil in das Dionysische integriert; nämlich als bildender und

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Vater aller Dinge, erinnert, wird zum Motor einer Welt des ewigen Werdens und Vergehens, in der sich das Ur-Eine immer wieder auf ein Neues erlöst. Soweit der Kern der ästhetisch-metaphysischen Geschichte, die ich im Folgenden „nacherzählen“ will.¹³² Am Anfang steht bei Nietzsche, wie bereits gesagt, nicht der die Welt planvoll einrichtende Gott bzw. das Wort (Logos), sondern der chaotische Gott Dionysos, das Ur-Eine. So wie der christliche Gott zwar eine Einheit, jedoch zugleich als DreiEinigkeit einen als Liebesrelation interpretierbaren Prozess darstellt, so muss auch das Ur-Eine als eine bewegte Einheit vorgestellt werden. Sie als einfache Einheit zu verstehen, wäre ein fundamentales Missverständnis. Die Bewegung, die Nietzsche innerhalb dieser Einheit ausmacht, gründet – anders als bei der Trinität – im Widerspruch. Nietzsche spricht von einem „Urwiderspruch und Urschmerz im Herzen des Ur-Einen“ (GT 6; KSA 1, 51).¹³³ Dieser Urwiderspruch ist vom menschlichen Gesichtsgestaltender Teil des durch Dionysos symbolisierten Lebens als eines dynamischen und sich in Widersprüchen entfaltenden vielgesichtigen Geschehens. Vermittels seiner apollinischen Seite ist dieses Geschehen auch in der Perspektive Nietzsches nicht durch und durch chaotisch. Bloß geht es nicht auf in den Kategorien des abendländischen Rationalismus, deren Vertreter das Leben in der Regel nur allzu gerne von einer extramundalen Warte aus betrachten möchten, so als wären sie selbst nicht in sein buntes Treiben verstrickt. Solcherart mag es ihnen dann zwar gelingen, das Leben als ein vernünftiges Geschehen zu interpretieren, als einen teleologischen Prozess, in dem z. B. wie bei Hegel der Weltgeist am Ende zu sich selbst kommt. Das in die Grenzen eines Systems „gesperrte“ Leben hat jedoch paradoxerweise etwas Lebloses an sich und muss daher auf den aus dem Leben auf das Leben blickenden Betrachter seltsam konstruiert und oberflächlich wirken. Der sogenannten „Lebensphilosophie“, die sich dadurch auszeichnet, dass sie das als wesentlich irrational begriffene Leben zum Prinzip macht, und der man Nietzsche so gesehen mit einigem Recht zurechnen kann, eignet daher „eine pessimistische Grundstimmung des Philosophierens und eine merkwürdige Vorliebe für das Tragische (…), der gegenüber der Vernunftoptimismus der rationalistischen Vergangenheit als seicht erscheinen muß“ (Schnädelbach 1983, 176). 132 Die Entstehung der Welt aus dem dionysischen Ur-Einen gehört zu den eher „stiefmütterlich“ behandelten Teilen der Geburt der Tragödie; wahrscheinlich, weil Nietzsche gerade dieser Teil seiner „Artisten-Metaphysik“ (GT Versuch 5; KSA 1, 17) am allerwenigsten behagte. Wer das Tragödienbuch ohne Rücksichtnahme auf diesen sozusagen metaphysischsten Teil der ästhetischen Metaphysik liest, übersieht allerdings, wie Margot Fleischer zurecht feststellt, „daß Nietzsche im Gegendenken gerade auch gegen eine eigene (eigenständige) metaphysische Position zum Antimetaphysiker geworden und zu seiner im Zeichen des Dionysos bleibenden Philosophie des Willens zur Macht fortgeschritten ist“ (Fleischer 1988, 74). 133 Dieser Urwiderspruch wird für den Menschen in keinem anderen Medium so fassbar wie in der Musik, die sich durch eine herausragende symbolische Kraft auszeichnet. So betrachtet ist die Musik der Sprache um einiges voraus (vgl. GT 6; KSA 1, 51f.). Nietzsches häufig zitierte Bemerkung: „Sie hätte singen sollen, diese ‚neue Seele‘ – und nicht reden!“, muss vor diesem Hintergrund gelesen werden. Nietzsche war im Nachhinein unzufrieden mit dem sprachlichen Ausdruck des Tragödienbuches. Vor allem die übermäßige Verwendung von gewissermaßen fremdem Vokabular stößt ihm sauer auf. Er habe zu viel schopenhauerische und kantische Termini benutzt, um eigene Gedanken mitzuteilen. Das überschwängliche Lob, das er selbst seinem eigenen späteren Werk Also sprach Zarathustra zollt, darf wohl auch darauf zurückgeführt werden, dass ihm hier, anders als noch im Tragödienbuch, die Verbindung von inhaltlicher Aussage und sprachlicher Form besonders gut gelungen zu sein scheint. Das Ergebnis ist eine philosophische Dichtung, die sich der junge Nietzsche beim Scheiben seines ers-

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winkel aus gesehen nur mittelbar fassbar. Als metaphysisches Grundprinzip nämlich ist das Ur-Eine nicht dem Individuationsprinzip unterworfen; es ist folglich kein einzelnes raum-zeitlich bestimmtes Seiendes neben anderen. Es steht – darin ist Nietzsche noch ganz der Schüler Schopenhauers – in einem apriorischen Verhältnis zur Welt als Vorstellung (und damit auch zum Menschen), welche aus nichts anderem als dem Urschmerz geboren ist (vgl. GT 4; KSA 1, 39). Aus einem ewigen, weil außerhalb der Zeit statthabenden Widerspruch des Ur-Einen mit sich selbst ist also diese Welt der Vielheit hervorgegangen und jedes einzelne Seiende ist im Grunde ein Abbild der schmerzhaften inneren Uneinigkeit des Ur-Einen.¹³⁴ Zwar können wir, wie gesagt, das Ur-Eine nicht unmittelbar erfassen. Indes vermögen wir durch einen Blick auf die Welt, in der wir leben, und durch einen Blick auf uns selbst oder in unser Selbst, nicht nur den ursprünglichen Schmerz nachzuempfinden, sondern können ihn auch als den Grund und das Woher unserer selbst identifizieren. Auf diese Weise erfahren wir, dass dasjenige, „[w]as in dieser entsetzlichen Constellation der Dinge leben will das heißt leben muß, (…) im Grunde seines Wesens Abbild des Urschmerzes und Urwiderspruches“ ist (CV 3; KSA 1, 768). Der introspektive Blick offenbart uns ein Selbst, das alles andere als einheitlich ist. Viel eher erweist es sich als eine Art Geschehnis: In unserem Inneren tobt fortwährend ein Kampf der verschiedensten Triebe, die miteinander um die Herrschaft über das Selbst ringen.¹³⁵ Der Blick nach außen auf die Welt wiederum „muß (…) in unsrer Augen ‚welt und erdgemäß Organ‘ fallen als unersättliche Gier zum Dasein und ewiges Sichwidersprechen in der Form der Zeit, also ten Buches allerdings noch nicht zugetraut hatte, wie er mit Bedauern bekennt: „Wie schade, dass ich, was ich damals zu sagen hatte, es nicht als Dichter zu sagen wagte: ich hätte es vielleicht gekonnt“ (GT Versuch 3; KSA 1, 15)! 134 Nietzsche verlegt diese ursprüngliche Uneinigkeit in den metaphysischen Raum, so dass sich über ihr Wesen nichts Letztgültiges aussagen lässt, sondern nur Vermutungen anstellen lassen. Im Grunde handelt es sich bei der Behauptung, am Anfang der Welt stehe ein Urwiderspruch jenseits von Raum und Zeit, um einen Rückschluss von der als wesenhaft agonal erlebten empirischen Welt auf deren metaphysischen Ursprung. Wie lässt sich dieser von Widerspruch und Schmerz bestimmte Ursprung denken? Denkbar wäre eine Art leerer Sehnsucht, die das Ur-Eine erfüllte, solange es noch nicht Welt geworden war. Denn bis dahin litt es an der verschwimmenden Grenzenlosigkeit seiner ungestalthaften Allheit. Die Weltwerdung des Ur-Einen wäre dann dem Verlangen nach Gestalthaftigkeit geschuldet. Um jedoch überhaupt Gestalt annehmen zu können, muss es im Dionysischen von Anfang an zumindest eine apollinische Spur geben, eine plastische Kraft, welche die Conditio sine qua non für die Erschaffung der Welt ist. Wäre das Ur-Eine gänzlich ohne ein apollinisches Moment, so wäre dieses, dessen Existenz Nietzsche ja für die empirische Welt behauptet, nichts anderes als eine Creatio ex nihilo. Wenn es aber im Dionysischen selbst ein apollinisches Moment gibt, versteht sich auch, wieso Nietzsche von einem Urwiderspruch und Urschmerz reden kann. Das Ur-Eine hat dann immer schon mit einer Art innerer Zerrissenheit zu kämpfen, deren gewaltiger Nachklang in der empirischen Welt allerorten zu spüren ist. 135 „Das Selbst ist allerdings keine Instanz außerhalb des Konfliktes der Triebe, sondern der Trieb, der die anderen Triebe beherrscht und sich diese für seine Ziele gefügig gemacht hat“ (Christians 2000, 322). Vom Selbst, einem der schwierigsten Themen innerhalb von Nietzsches Philosophie, wird in dieser Arbeit noch häufiger die Rede sein.

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als Werden“. Das Werden aber kennt weder Freund noch Feind. Es will wie der schopenhauerische Wille nur sich selbst, d. h. es offenbart sich als endloser Prozess, der sich von außen betrachtet wie ein beständiges Geben und Nehmen, wie ein Gebären und Töten, ausnimmt, welche Extreme aber bloß die zwei Seiten ein und derselben Medaille sind, mithin intrinsische Bestandteile des einen Werdens. Mit dramatischen Worten, die auch aus der Feder Schopenhauers stammen könnten, beschreibt Nietzsche das Werden: „Jeder Augenblick frißt den vorhergehenden, jede Geburt ist der Tod unzähliger Wesen, Zeugen, Leben und Morden ist eins“ (CV 3; KSA 1, 768). Überträgt man diese der Betrachtung des Abbildes entnommenen Erkenntnisse nun auf das Urbild, so erhält man ein Bild des Urwiderspruchs, wonach dieser anzusehen ist „als Zeugen und Vernichten – außerhalb von Zeit und Werden, in einem Einen und als ewig“ (Fleischer 1988, 81). Das Werden ist die Objektivation dieses Urwiderspruchs in Zeit und Raum. Die Welt ist das Abbild des Ur-Einen, ist der nach außen gewendete Ur-Widerspruch. Dem in der Geburt der Tragödie unverkennbaren und von Nietzsche offen ausgesprochenen Primat des Ästhetischen folgend, bezeichnet Nietzsche das Ur-Eine als Schöpfer der empirischen Realität auch als den „Urkünstler der Welt“ (GT 5; KSA 1, 48). Indessen hat das Kunstwerk „Realität“ nichts mit einer kantischen Ästhetik des interesselosen Wohlgefallens zu tun, sondern mit einer Erlösung vom Ur-Schmerz, die sich bei genauerem Hinsehen eher als der gewissermaßen utilitaristische Versuch erweist, dem Schmerz ein ihn übertreffendes Quantum an Lust entgegenzusetzen. Dazu später mehr. Die Welt ist der große künstlerische Wurf des Urkünstlers, und die Menschen sind als einzelne „Gegenstände“ der Welt nicht nur in die Welt, sondern im Grunde mit der Welt in eine Waagschale geworfene Gegengewichte zum apriorischen Schmerz des Ur-Einen.¹³⁶ Die Lust entsteht daraus, dass das Ur-Eine im Medium der Welt seinen Urwiderspruch gewissermaßen offen austragen kann. Es breitet sich dabei in seiner „unermesslichen Urlust am Dasein“ (GT 17; KSA 1, 109) vor sich selbst aus und genießt sich als anschaulich gewordenes Werden selbst. Bildhaft gesprochen lässt sich sagen, dass das Ur-Eine sich die Welt als ein Theater geschaffen hat, auf dem sein eigener Urwiderspruch aufgeführt wird: Denn „unser empirisches Dasein, wie das der Welt überhaupt“ müssen ja begriffen werden „als eine in jedem Moment erzeugte Vorstellung des Ur-Einen“ (GT 4; KSA 1, 39), wobei diese „Vorstellung“ auf besagtem Theater gegeben wird, mithin eine Vorstellung des Ur-Einen und für das Ur-Eine ist. Dem sich selbst betrachtenden Ur-Einen zeigt sich nun nicht nur die schmerzhafte Seite des 136 Ich folge hier den Ausführungen Margot Fleischers, die sich überdies auch zum Verhältnis von Lust und Schmerz im Ur-Einen noch vor der Erschaffung der Welt äußert: „Zwar wird man gut daran tun, auch bezüglich des Urschmerzes an der für das Dionysische charakteristischen Mischung entgegengesetzter Stimmungen festzuhalten und also im Ur-Einen schon ‚vor‘ seiner Erlösung auch Lust anzunehmen (die dem Moment des Zeugens im Urwiderspruch korrespondiert). Aber der Schmerz am Urwiderspruch überwiegt in diesem frühen Konzept Nietzsches doch bei weitem. Erst indem das Zeugen des Ur-Einen sich nach außen wendet, etwas anderes (die Erscheinungen) hervorgehen läßt, entsteht eine Urlust, die zum Urschmerz ein Gegengewicht ist“ (Fleischer 1988, 82).

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Urwiderspruchs. Es erlebt demnach die Welt nicht bloß als ein Theatrum mundi. Vielmehr wird es seiner selbst vor allem als schöpferisches Prinzip gewahr, das „unzähligen, sich in’s Leben drängenden und stossenden Daseinsformen“ allererst das Leben gewährt, auch wenn es sie in Anbetracht „der überschwänglichen Fruchtbarkeit des Weltwillens“ (GT 17; KSA 1, 109) zugunsten neu entstehender Daseinsformen am Ende wieder untergehen lassen muss. Kurzum: Die selbsterlösende Lust resultiert daraus, dass der Urwiderspruch nach außen gewendet zum Motor des Lebens wird, als welcher sich das betrachtende Ur-Eine selbst genießt. Was aus Sicht des Ur-Einen wie ein schönes und versöhnliches Ende für eine Geschichte klingt, ist in Wahrheit aber noch nicht das Ende der hier erzählten Erlösungsgeschichte. Tatsächlich hat sich nämlich der weltgebärende Dionysos noch gar nicht erlöst. Nicht ohne Grund habe ich oben von einer zweistufigen Erlösung gesprochen – und die zweite Erlösungsstufe steht eben noch aus. Man wird vielleicht einwenden wollen, das Problem der aus dem Urwiderspruch resultierenden Agonie sei doch behoben. Wieso sollte es dann überhaupt noch eines weiteren erlösenden Schrittes bedürfen? Oder anders gewendet: Wovon muss das Welt gewordene Ur-Eine jetzt noch erlöst werden? Wie die Welt selbst sind auch alle Dinge in der Welt Objektivationen des Ur-Einen. Während dieses unmittelbar nicht mehr unter dem Urwiderspruch im Inneren seiner selbst leidet, müssen sich die Dinge in der Welt jedoch unter das Joch des Werdens, d. h. des vermittelten Urwiderspruchs, beugen. Vermittels der Einzeldinge hat sich das Eine, das sich in der Welt gleichsam ins Vielfache zersplittert hat, neues Leid aufgeladen – bzw. es hat das Problem eigentlich nur verschoben: Denn das alte Leid kehrt in neuer Gestalt wieder. So wie wir nämlich in der Willensmetaphysik Schopenhauers im Grunde unseres Wesens Objektivationen des einen Willens sind, so sind wir auch in Nietzsches ästhetischer Metaphysik im Grunde unseres Seins das Ur-Eine und vice versa. Und genau darin liegt der Kern des Problems; denn die in die schmerzgetränkte Welt geworfenen Individuationen des Dionysos leiden an ihrem Dasein, weil sie da sind, in einer Welt der Agonie. Um genauer zu werden: Sie leiden daran, dass sie aus einer ursprünglichen Einheit herausgefallen und jetzt als einzelne Dinge dem Werden unterworfen oder, schärfer ausgedrückt: ausgeliefert sind. Sie sind folglich aus der Ewigkeit in die Endlichkeit gestürzt und leiden jetzt an ihrer Vergänglichkeit, welche Qual essenziell zum Leben eines Seienden dazugehört, insofern es dem Principium individuationis unterworfen ist. Nun ergibt sich freilich, dass Dionysos den Schmerz der Individuen mit-erleidet; denn was – wie oben ausgeführt – „uns als Erscheinung wesentlich betrifft“, kann „unserem Wesensgrund nicht fern sein“ (Fleischer 1988, 84). Der „Pferdefuß“ der ersten Erlösungsstufe besteht demnach darin, dass die Lust des einen (des Ur-Einen) das Leid der anderen (der Individuationen) bedeutet, wobei das eine und das andere zugleich untrennbar miteinander verwachsen sind, woraus endlich folgt, dass das Ur-Eine, bliebe es bei der ersten Erlösungsstufe, gleichsam mit Zitronen gehandelt, bloß Schmerz gegen Schmerz eingetauscht hätte. Um sich auch

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von diesem neuen¹³⁷ Schmerz noch zu erlösen, ist Dionysos in einer zweiten Erlösungsstufe auf die Hilfe der Individuen angewiesen, und zwar auf die Menschen – und damit gerade auf jene Individuationen, die aufgrund ihres Wissens um die eigene Sterblichkeit von allen Individuationen am meisten leiden müssen – in ihrer Eigenschaft als Künstler:¹³⁸ Der Urkünstler hat sich Abbildkünstler erschaffen, die, wie er in einem künstlerischen Akt die erste Erlösung im (Wider)Schein der Welt gefeiert hat, ebenfalls vermittels der Kunst die zweite Erlösung zu Wege bringen sollen. Die Abbildkünstler sollen sich selbst erlösen, damit der Urkünstler nicht mehr mit ihnen mitleiden muss. Dionysos, „jener die Leiden der Individuation an sich erfahrende Gott“ (GT 10; KSA 1, 72), partizipiert genauso auch an den Wonnen bzw. der Erlösung der Individuen. Weil die Welt jedoch in ihrem Wesensgrund agonal ist, kann die Erlösung niemals in der tatsächlichen Tilgung des Schmerzes bestehen. Zwar lässt sich der Schmerz nicht aus der Welt schaffen. Indessen – und das war ja schon die Pointe der ersten Erlösungsstufe – kann man mit diesem Factum brutum auf verschiedene Weise umgehen, d. h. es aus verschiedenen Perspektiven betrachten und es endlich auf unterschiedliche Weise bewerten. Nietzsche entdeckt nun gerade in der besonderen Perspektivierung und Bewertung der Agonie, woraus sich wiederum eine entsprechende Haltung zum Leid ergibt, die herausragende Leistung der Griechen im tragischen Zeitalter. Sie zeichnen sich durch eine besondere Form der Weisheit aus: die tragische oder dionysische Weisheit. Nietzsches Selbstbetitelung als erster tragischer Philosoph gehört in diesen Bezugsrahmen. Das bedeutet aber nicht nur, dass er sich selbst als den neuen Verkünder jener alten, tragischen Weisheit begreift. Es bedeutet außerdem, dass sich die besagte Weisheit gerade nicht bei den vermeintlichen Freunden oder gar Liebhabern der Weisheit, den Philo-Sophoi, die hier dem Namen nach eigentlich die Sachverständigen sein müssten, finden lässt – Heraklit, den das Sein leugnenden Philosophen des Werdens einmal ausgenommen (vgl. PHG 5; KSA 1, 822f.). Nach Nietzsches Meinung haben insbesondere nicht Sokrates oder Platon die angemessene Antwort auf die Frage nach dem guten Leben, die Kardinalfrage der klassischen griechischen Philosophie, gegeben. Noch nicht einmal vermögen sie entsprechende Fingerzeige zu liefern. Ganz im Gegenteil erkennt Nietzsche in ihnen die Hauptschuldigen dafür, dass die tragische Weisheit gewissermaßen verschüttet wurde. Die Geburt der Tragödie ist Nietzsches Versuch, diese alte Weisheit wieder auszugraben. Der tragischen Weisheit, d. h. der dem agonalen Charakter des Lebens einzig angemessenen Weisheit, muss man an anderer Stelle nachspüren. Man findet sie nicht bei diesen Optimisten, die glauben, Tugend sei Wissen und obendrein auch noch der Schlüssel zum glückseligen Leben. Wer ein tragischer Philosoph werden

137 Noch einmal: Der Schmerz ist freilich, wie ich weiter oben ausgeführt habe, kein grundlegend neuer, sondern vielmehr bloß der alte Schmerz des Urwiderspruchs im neuen Gewand des Leidens an der Individuation. 138 Als Träumer ist jeder Mensch Künstler: „Der schöne Schein der Traumwelten, in deren Erzeugung jeder Mensch voller Künstler ist, ist die Voraussetzung aller bildenden Kunst“ (GT 1; KSA 1, 26).

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will, muss sich andere Lehrer und einen anderen Unterrichtsstoff wählen. Er muss bei den großen griechischen Tragödiendichtern in die Schule gehen, und zwar vorzüglich bei Sophokles und Aischylos. Hier wird er mit der Wahrheit über das Leben konfrontiert – und die ist nun einmal tragisch. Die dionysische Weisheit, die sich nur über eine Auseinandersetzung mit der tragischen Wahrheit gewinnen lässt, ist der Schlüssel zum Verständnis der zweiten Erlösungsstufe. Diese Weisheit muss freilich durch die Menschen erlangt und von ihnen gelebt werden. Aus diesem Grund will ich meine Lektüre des Tragödienbuches, die ich versuchsweise aus der Sicht des Ur-Einen begonnen habe, jetzt aus dem Blickwinkel des Menschen fortführen.

3.3.2 Die ästhetische Rechtfertigung des Daseins – eine Lektüre der Geburt der Tragödie aus der Perspektive des Menschen Der Mensch ist nun also gleichsam in die Welt gefallen. Und dort, auf der horizontalen Achse angekommen, steht er jetzt unsicher, während er den Sinkflug nach wie vor in den Knochen spürt,¹³⁹ als ein Einzelner, ein Individuum, vor der empirischen Realität, mit der er sich fortan auseinandersetzen muss. Es sollte bereits deutlich geworden sein, dass diese Realität Schein ist, noch präziser gefasst ist sie der „Widerschein des ewigen Widerspruchs, des Vaters der Dinge“ (GT 4; KSA 1, 39). Als Werden hat sich dieser Widerspruch manifestiert und erscheint also in der Welt. Allein das Leben in der Welt des Werdens ist für den Menschen eigentlich unerträglich. – Das ist die eine der „Grundaussagen von Nietzsches Weltbeschreibung, wie sie dem Leser im Tragödienbuch entgegentritt“ (Sloterdijk 1986, 51). Die andere Grundaussage bezieht sich auf das relativierende „eigentlich“ aus obigem Satz, denn sie betrifft die Verklärungsmöglichkeiten des Lebens in dieser furchtbaren Welt, wodurch es dann eben doch erträglich wird. Diese Möglichkeiten sind der Traum und der Rausch: „Erträglich wird dieses Leben nur durch den Rausch und den Traum – durch diesen zweifachen Weg der Ekstase, der den Individuen zu ihrer Selbsterlösung offensteht“ (Sloterdijk 1986, 51). Weil die frühe griechische Tragödie diese beiden Ekstasen in einer einzigartigen Symbiose miteinander zu verbinden weiß, ist sie für den jungen Nietzsche das alles überragende Kunstwerk.

139 Ich will damit sagen, dass dem Individuum, insofern es aus einer ursprünglichen Einheit gefallen ist, wesentlich das Gefühl des Sturzes eingeschrieben ist. Zugleich geht damit die Sehnsucht nach der Auflösung des Principium individuationis, nach der Rückkehr in den Mutterschoß der Natur einher, die den Menschen fortan begleitet. Davon wird noch die Rede sein.

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Mit dem Rausch und dem Traum ist das bekannte Prinzipienpaar des Apollinischen und des Dionysischen angesprochen,¹⁴⁰ mit dessen unvermittelter Einführung¹⁴¹ die Geburt der Tragödie beginnt: Wir werden viel für die aesthetische Wissenschaft gewonnen haben, wenn wir nicht nur zur logischen Einsicht, sondern zur unmittelbaren Sicherheit der Anschauung gekommen sind, dass die Fortentwickelung der Kunst an die Duplicität des Apollinischen und des Dionysischen gebunden ist: in ähnlicher Weise, wie die Generation von der Zweiheit der Geschlechter, bei fortwährendem Kampfe und nur periodisch eintretender Versöhnung, abhängt. Diese Namen entlehnen wir von den Griechen, welche die tiefsinnigen Geheimlehren ihrer Kunstanschauung zwar nicht in Begriffen, aber in den eindringlich deutlichen Gestalten ihrer Götterwelt dem Einsichtigen vernehmbar machen. (GT 1; KSA 1, 25)

Wie sich dem Zitat unschwer entnehmen lässt, vollzieht Nietzsche gleich zu Beginn seiner frühen Schrift eine scharfe Demarkierung zwischen seinem neuen Programm einer ästhetischen Wissenschaft und dem alten Programm der herkömmlichen Wissenschaft. Während es letzterer an „logischer Einsicht“ gelegen ist, also an begrifflicher Vorstellung, will Nietzsche seine neue Wissenschaft statt auf Begriffen auf einer „unmittelbaren Sicherheit der Anschauung“ aufbauen. Das Prinzipienpaar des Apollinischen und des Dionysischen erfüllt diese Exigenz der ästhetischen Wissenschaft, indem es am Beispiel der griechischen Göttergestalten Apollo und Dionysos den Widerspruch im Grunde der Welt versinnbildlicht, der nicht nur für die Fortentwicklung der Kunst verantwortlich zeichnet, sondern generell gleichsam als Motor der Evolution fungiert. Vermittels des bildhaften Rekurses auf Apollo und Dionysos soll dem Leser also die tragische Grundwahrheit über die innerlich entzweite Welt unmittelbar anschaulich werden. Er will damit durch ein Buch möglichst nahe an das herankommen, was die aufgeführte antike Tragödie seines Erachtens zu leisten im Stande war. Es soll die ganze Fülle eines Bildkomplexes im Leser erzeugt werden. Die

140 Nietzsche versucht seinen Lesern in einem ersten Anlauf die beiden Naturtriebe näher zu bringen, indem er ihre Äußerungen per Analogie mit dem vergleicht, was der Mensch im Traum und im Rausch erlebt (vgl. GT 1; KSA 1, 26ff.). 141 Die Einführung dieser beiden Prinzipien als diejenigen Naturkräfte, welche die empirische Welt und die menschliche Natur bestimmen, erfolgt ganz unvermittelt, ohne weitere Begründung. Nietzsche stützt sich dabei allerdings unausgesprochen auf die argumentative Vorarbeit der Philosophie Arthur Schopenhauers, die gerade zu Nietzsches Zeiten eine unerhörte Popularität genoss und ohne deren wenigstens rudimentäre Kenntnis die Geburt der Tragödie in vielerlei Hinsicht unverständlich bleiben muss: „Nietzsche’s Apollo and Dionysos are, up to a point, simply Representation and Will in Greek costume. The reader who has not read Schopenhauer is likely to be puzzled by Nietzsche’s rapid introduction of these two fundamental ‚drives‘ or ‚tendencies‘ in human nature (…) Nietzsche’s failure to give arguments connecting the different features of his gods becomes comprehensible when we realize that these connections, as argued for by Schopenhauer, would have seemed second nature to most of his audience, given the enormous popularity of Schopenhauer’s work; and they would easily have been able to supply the missing arguments for linking intoxication with loss of the principium individuationis, dreaming with awareness of the abstract and the general“ (Nussbaum 1999, 358).

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ästhetische Wissenschaft versucht den nüchternen Abstand zum jeweiligen Gegenstand der Untersuchung und damit gerade das, was für die traditionelle Wissenschaft charakteristisch ist, wenn auch nicht gänzlich aufzuheben, so doch entscheidend zu verkürzen. Dadurch will sich der philosophierende Philologe in das antike Griechenland hineinversetzen, will den nicht unerheblichen Zeitabstand zur Moderne möglichst überbrücken und die tragische Lebensauffassung der Griechen vergegenwärtigen.¹⁴² Auf diese Weise kommt es zu der gewagten, die Geburt der Tragödie kennzeichnenden Überhöhung eines bestimmten (nämlich Nietzsches) Bildes der Antike zur Weltauslegung. Aber zurück zu den beiden großen Gottheiten. Was sollen sie jeweils versinnbildlichen? Wofür stehen sie Pate? Wie kein anderer Gott des griechischen Götterhimmels symbolisiert Apollo „als der Gott aller bildnerischen Kräfte“ Maß und Form. Bedenkt man ferner, dass er die Sonnen- bzw. „Lichtgottheit“ ist (GT 1; KSA 1, 27), zu deren wesentlichen Elementen auch die Schönheit gehört, so nimmt es nicht Wunder, dass Nietzsche zu Apollos Wirkungsbereich und Hoheitsgebiet zumal die Kunst zählt; allerdings nicht die gesamte Welt der Kunst, sondern bloß den Teil der sogenannten „bildenden Kunst“, in der das plastisch-visuelle Element entscheidend ist und nicht das musikalische – womit das Charakteristikum des anderen Teiles der Kunstwelt auch schon benannt wäre. Das Spezifikum der apollinischen Schönheit ist die Gestalthaftigkeit, was ebenso in der Natur der Sache liegt, „tritt uns“ Apollo doch „als die Vergöttlichung des principii individuationis entgegen“ (GT 4; KSA 1, 39). Er ist somit eine göttliche Personifikation jenes Prinzips, das Nietzsche bei Schopenhauer als „Ermöglichungsgrund der Individuen in der Erscheinungswelt“ (Birnbacher 2009, 138) kennengelernt hat. Schopenhauer zufolge sind Raum und Zeit das Prinzip der Individuation. Ohne Raum und Zeit gäbe es kein Neben- und Nacheinander und somit auch keine gegenständliche Welt, d. i. eine Welt, in der einzelne Gegenstände je eine bestimmte Raum-Zeit-Stelle besetzen.¹⁴³ Ohne das Individuationsprinzip gäbe es sonach auch keine Erscheinungswelt, weil die Gegenstände nun einmal nirgendwo anders erscheinen als in Raum und Zeit. Wenn Nietzsche also über Apollo sagt, dieser sei der „Scheinende“ (GT 4; KSA 1, 39), so meint er nicht nur den in Schönheit erstrahlenden Lichtgott, sondern immer auch den Repräsentanten der Erscheinungs- bzw. – in Schopenhauers Terminologie ausgedrückt – Vorstellungswelt. Apollo ist demzufolge nicht bloß 142 „Es geht Nietzsche in diesen Entwürfen und Abhandlungen[gemeint sind die Tragödienschrift und weitere Frühschriften, die zu ersterer sowohl in zeitlicher als auch sachlicher Nähe stehen (z. B. Die dionysische Weltanschauung) – E.B.] niemals nur um eine adäquate Deutung der Vergangenheit, sondern stets auch um eine Selbstdeutung der Gegenwart, die sich zu dieser Zeit seines Schaffens an dem Maßstab des älteren Griechentums messen lassen muss“ (Ries 2007, 114). 143 „Der Ort und die Zeit unterscheiden die Individuen, auch wenn sie sonst völlig gleich sind: nur durch das Nebeneinander, also den Raum, und das Nacheinander, die Zeit, ist die Vielheit als solche möglich, die Vielheit des ganz Gleichartigen, das Erscheinen der Gattung in unzähligen Individuen: daher nenne ich Raum und Zeit das principium individuationis“ (VN I, 2, 158).

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der Gott eines bestimmten Bereiches der Welt der Kunst, sondern gar der gesamten Welt als Vorstellung. Dionysos auf der anderen Seite wurde bereits als ein dem schopenhauerischen Ding an sich (dem Willen) verwandtes metaphysisches Grundprinzip vorgestellt. Er steht in Nietzsches Tragödienbuch für „den Rausch und das Rauschende, für ausschweifende Exzesse, für wilde Auflösung, für Chaos, Tanz und Entgrenzung des Individuums“ (Peters 2009, 50). Somit ist der eng an Schopenhauers Willensmetaphysik angelehnte metaphysische Dualismus des frühen Nietzsche¹⁴⁴ komplett: Die Welt hat eine Tag- und eine Nachtseite, eine helle Oberfläche und einen dunklen Grund, kurz: eine apollinische und eine dionysische Seite. Und genau wie bei Schopenhauer und im strengen Kontrast zur maßgeblich durch Platon geprägten abendländischen philosophischen Tradition ist die Tagseite weiter von der Wahrheit entfernt als die Nachtseite  – die Sonnenseite der Welt ist Schein, die Schattenseite Sein. Die Welt Apollos ist genau genommen eine Welt der Träume und Illusionen. Die Individuen sind zunächst und zumeist umfangen vom „Schleier der Maja“, der sie wie eine schützende Hülle umgibt und sie vor einer direkten Konfrontation mit der nackten Realität bewahrt. Die apollinische Scheinwelt ist gleichsam ein schönes, hellstrahlendes Gemälde, das jedoch ein ursprünglich düsteres Bild ver- und überdeckt. Nietzsche zitiert seinen philosophischen Erzieher, um die Grundsituation des Menschen in der Welt zu beschreiben, eine Situation scheinbarer Sicherheit: Wie auf dem tobenden Meere, das, nach allen Seiten unbegränzt, heulend Wellenberge erhebt und senkt, auf einem Kahn ein Schiffer sitzt, dem schwachen Fahrzeug vertrauend; so sitzt, mitten in einer Welt von Qualen, ruhig der einzelne Mensch, gestützt und vertrauend auf das principium individuationis. (GT 1; KSA 1, 28)¹⁴⁵

Mit dem Vertrauen auf das Individuationsprinzip ist nicht weniger gemeint als die Verklärung des Seins eines, wie erläutert, wesenhaft gefallenen Individuums. Dieses begreift sein Dasein als sinnvoll, welchen Zweck es erreicht, indem es sich eine Welt vorstellt, die den Zusammenhang bedeutet, innerhalb dessen es sein Dasein als „bedeutungsvolle[s] Geschehen“ (Gerhardt 1999, 79) interpretieren kann. So erschafft es sich seine Welt. Die Kraft, die hierzu benötigt wird, ist apollinischer Natur. – Wohlgemerkt: Auch das Ur-Eine, Dionysos, muss etwas Apollinisches in sich tragen, denn sonst hätte es die gestalthafte Welt gar nicht erst aus sich hervorbringen können. Es ist das Apollinische als natürlicher Trieb, der in der Welt und in den Individuen als ein künstlerischer Grundtrieb wirkt und der das Imaginieren einer solchen verklärenden Illusionswelt ermöglicht, indem er die Welt durchgliedert. Er gestaltet die Welt, weil er wesentlich gestalthafte Kraft besitzt. D. h.: Er bringt die Form in die Welt, wodurch die

144 Zur Nähe zwischen dem frühen Nietzsche und Schopenhauer vgl. Jaggard 2004, 278. 145 Nietzsche zitiert hier aus Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung, wo sich der zitierte Satz in § 63 des vierten Buches des ersten Bandes findet (WWV I, 416f.).

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einzelnen Gegenstände überhaupt entstehen und erkannt werden können, nämlich als distinkte, klar voneinander unterscheidbare Gegenstände. Dabei erfasst sich das jeweilige Individuum freilich auch selbst als ein bestimmter Gegenstand in einer ihm gegenüber stehenden Welt  – nicht zufällig ist Apollo ja auch der Gott des delphischen Orakels, dessen berühmter Leitspruch „gnôthi seautón[erkenne dich selbst]!“ lautet. Die apollinische Verklärung geschieht durch die schöpferische Einbettung des gemachten Selbst-Bildes in einer nach diesem Bild geschaffenen Welt; in einem Akt, der sich, so gesehen, als künstlerisch (im weiten Sinne) verstehen darf: Den bedeutungsvollen Sinn von sich selbst kann das Subjekt steigern, indem es nicht nur sich selbst als Gestalt produziert, sondern sich im Schaffen von Gestalten überhaupt entfaltet. Das Individuum wertet sich auf, wenn es Visionen vollkommener Formen hervorbringt, denn in diesem ästhetischen Produzieren ist  – dem Verfahren und dem Gegenstand nach  – immer auch etwas von ihm selbst. In der sinnlichen Gestalt der Illusion schafft sich das Individuum das andere und Entgegenstehende der Welt, von dem es sich in der Selbstgestaltung ausgrenzt, nach seinem Bild. Dadurch entsteht die Welt, die für das Individuum Bedeutung hat und in der es folglich auch selbst Bedeutung erlangen kann (…). Es ist eine Welt aus Bedeutungen, eine „Symbol-Welt“ und ist insofern nichts anderes als Kultur des Menschen, ohne die er nicht wird, was er ist. (Gerhardt 1999, 80)

Eine besonders schöne, und das bedeutet implizit: eine besonders erfolgreich verklärende und so betrachtet beschönigende Blüte der Kultur sieht Nietzsche in der homerischen Götterwelt, in der es die apollinische Kraft im Menschen zu wahrhafter Meisterschaft gebracht hat. Die olympischen Götter sind nämlich die durch ein Subjekt hervorgebrachten vollkommeneren Formen seiner selbst, in denen sich das künstlerische Subjekt also selbst ins Göttliche erhöht. Aus ihnen spricht, wie Nietzsche in Die dionysische Weltanschauung – darin er wesentliche Gedanken des Tragödienbuches vorwegnimmt – schreibt, eine „Religion des Lebens“ und gerade keine „der Pflicht oder der Askese oder der Geistigkeit“, wie im Christentum oder der platonischen Philosophie. Diese Göttergestalten „athmen den Triumph des Daseins“ (DW 2; KSA 1, 559). Nietzsche hat hier eine Apotheose des Daseins vor Augen, wohlgemerkt des Daseins in all seinen Dimensionen, also auch in seinen unmoralischen, herrschsüchtigen und schmerzhaften Facetten. Denn gerade ein solches vielstrebiges und der Moral mitunter spottendes Leben führen uns die griechischen Götter vor. Ein vergöttlichtes Leben ist eo ipso ein lebenswertes Leben, dessen Wert nicht mehr in Frage gestellt zu werden braucht. Nietzsche bringt diesen Gedanken in einem Satz zum Ausdruck, der zugleich beweisen soll, dass sich die in der abendländischen Philosophie so prominente Theodizeefrage einem Griechen im tragischen Zeitalter gar nicht erst stellt: „So rechtfertigen die Götter das Menschenleben, indem sie es selbst leben – die allein genügende Theodicee!“ (GT 3; KSA 1, 36). Dass es die Griechen zu einer solchen Höhe der Kultur gebracht haben, dass Geister wie Goethe, Schiller oder Hölderlin ihrer auch noch Jahrhunderte später mit Bewunderung gedenken, sieht Nietzsche nun mit Jakob Burckhardt und anders als Goethe

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und Schiller gerade nicht im vermeintlich heiteren Wesen der Griechen begründet. Nicht der angebliche Optimismus der Griechen, sondern ihr Pessimismus, der sich aus ihrer singulären Sensibilität für das Agonale des Lebens speist, ist Nietzsche zufolge die Quelle ihres kulturellen Schaffens. Um angesichts einer derart herausragenden Empathie für das Leiden überhaupt noch leben zu wollen und zu können, mussten sie schon besonders schwere „Verklärungs-Geschütze“ auffahren – eine These, die in den größeren Rahmen von Nietzsches Vorstellung gehört, dass gerade der Schmerz die schönsten Blüten treibt und als Stimulans des Lebens angesehen werden sollte: Um leben zu können, mussten die Griechen diese Götter, aus tiefster Nöthigung, schaffen: welchen Hergang wir uns wohl so vorzustellen haben, dass aus der ursprünglichen titanischen Götterordnung des Schreckens[der Herrschaft der Titanen  – E.B.] durch jenen apollinischen Schönheitstrieb in langsamen Uebergängen die olympische Götterordnung der Freude entwickelt wurde: wie Rosen aus dornigem Gebüsch hervorbrechen. Wie anders hätte jenes so reizbar empfindende, so ungestüm begehrende, zum Leid en so einzig befähigte Volk das Dasein ertragen können, wenn ihm nicht dasselbe, von einer höheren Glorie umflossen, in seinen Göttern gezeigt worden wäre. Derselbe Trieb, der die Kunst in’s Leben ruft, als die zum Weiterleben verführende Ergänzung und Vollendung des Daseins, liess auch die olympische Welt entstehn, in der sich der hellenische „Wille“ einen verklärenden Spiegel vorhielt. (GT; KSA 1, 36)

Ohne die apollinische Verklärung kann kein Individuum auf dem Boden der dionysischen Welt leben, denn nichts Gestalthaftes kann sich auf gestaltlosem Grund halten. Der naturgemäß strukturierende und einende apollinische Trieb ist also ein lebenserhaltender Trieb. Die Dynamik und damit auch jede mögliche Steigerung des Lebens beruht unterdessen auf dem Gegen- und Zusammenspiel oder, wenn man so will: der Dialektik beider Kunstriebe der Natur – ohne das Dionysische müsste das Leben gleichsam versteinern, in Formen erstarren. Eine Kultur, in der das Apollinische übermächtig ist, ist demnach dekadent, eine Kultur des Niedergangs, weil Stillstand für Nietzsche immer schon Rückschritt bedeutet. Andererseits ist eine Kultur, in der das Dionysische überhand nimmt, ebenfalls verderblich, weil sie im Chaos zu versinken droht. Letzteres versteht sich leicht, wenn man nur bedenkt, dass das Apollinische formgebend auch im ethischen Bereich ist, während Dionysos nur das Gesetz ewigen Werdens und Vergehens kennt. Er ist der maßlose Gott, dem Apollo als der maßvolle gegenübersteht oder, wie man auch sagen könnte: als der besonnene Gott, womit ein für die griechische Ethik zentraler Begriff (sophrosyne) genannt wäre.¹⁴⁶ Nur eine

146 Nietzsche erklärt auch den gravierenden kulturellen Unterschied zwischen den „dionysischen Griechen“ und den „dionysischen Barbaren“ durch das beschwichtigende Einwirken der apollinischen Kraft auf die enthemmende und entfesselnde Wirkung des Dionysischen: „Dagegen brauchen wir nicht nur vermuthungsweise zu sprechen, wenn die ungeheure Kluft aufgedeckt werden soll, welche die dionysischen Griechen von den dionysischen Barbaren trennt. Aus allen Enden der alten Welt (…) von Rom bis Babylon können wir die Existenz dionysischer Feste nachweisen, deren Typus sich, besten Falls, zu dem Typus der griechischen verhält, wie der bärtige Satyr, dem der Bock Namen und Attribute verlieh, zu Dionysus selbst. Fast überall lag das Centrum dieser Feste in einer

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Kultur, in der die beiden Fundamentaltriebe der Natur in einem ausgeglichenen Verhältnis auf möglichst hohem Niveau stehen, gemeint ist also eine möglichst hohe Qualität beider Energien (vgl. GT 25; KSA 1, 154–156), verdient es tatsächlich „Hochkultur“ genannt zu werden. Dabei entfaltet das Apollinische seine volle Kraft immer nur im Widerstreit mit dem Dionysischen als dem Prinzip, aus dessen Dunkelheit der helle apollinische Schein erst hervorbricht. Je dunkler der Untergrund, desto heller muss der ihn verklärende Schein sein, so dass die Erzeugnisse einer wahrhaften Hochkultur gleichsam, wie Nietzsche ein Wort Goethes aufnehmend formuliert, „wie Rosen aus dornigem Gebüsch hervorbrechen“ (GT 3; KSA 1, 36). Die frühe griechische Kultur hat es in Nietzsches Augen zu einer bisher einzigartigen Höhe gebracht, weil sie an ihrer besonderen Leidensfähigkeit gewachsen ist, weil also, anders ausgedrückt, der Grund, auf dem sie erbaut wurde, besonders dunkel gewesen ist. Sie hat es vermocht, eine ungeheure Menge dionysischer Macht durch eine korrelierende Menge apollinischer Kraft zu beherrschen.¹⁴⁷ Es ist ihr die „Versöhnung zweier Gegner“ (GT 2; KSA 1, 32) auf ungeahntem Niveau gelungen. Das Meisterstück dieser Versöhnung stellt für Nietzsche die attische Tragödie dar. In ihr gelingt die ästhetische Rechtfertigung des Daseins auf höchstem Niveau, wenn sie einerseits ein Maximum an tragischer Erkenntnis zulässt,¹⁴⁸ indem sie zeigt,

überschwänglichen geschlechtlichen Zuchtlosigkeit, deren Wellen über jedes Familienthum und dessen ehrwürdige Satzungen hinweg flutheten; gerade die wildesten Bestien der Natur wurden hier entfesselt, bis zu jener abscheulichen Mischung von Wollust und Grausamkeit, die mir immer als der eigentliche ‚Hexentrank‘ erschienen ist. Gegen die fieberhaften Regungen jener Feste, deren Kenntniss auf allen Land- und Seewegen zu den Griechen drang, waren sie, scheint es, eine Zeit lang völlig gesichert und geschützt durch die hier in seinem ganzen Stolz sich aufrichtende Gestalt des Apollo, der das Medusenhaupt keiner gefährlicheren Macht entgegenhalten konnte als dieser fratzenhaft ungeschlachten dionysischen“ (GT 2; KSA 1, 31f.). 147 Dieser Gedanke fügt sich nahtlos in Nietzsches Konzeption eines ästhetischen Rechtfertigungsversuches des Daseins ein, der in dem Ausruf gipfelt: „(…)[W]ie viel musste dies Volk[die Griechen– E.B.] leiden, um so schön werden zu können“ (GT 25; KSA 1, 156)! 148 Auch Schopenhauer weist der Tragödie aufgrund ihrer Wirkung auf den Zuschauer einen exponierten Platz innerhalb der Künste zu; welcher Einfluss jedoch einmal mehr gerade das Gegenteil dessen bewirken soll, was Nietzsche sich von der Tragödie erhofft. Zunächst sind sich die beiden Philosophen noch einig: Eben weil die Tragödie dem Zuschauer die Tragik des Lebens so einzigartig klar vor Augen führt, gebührt ihr ein Ehrenplatz im Pantheon der Künste. Weiter geht die Gemeinsamkeit aber nicht, denn laut Schopenhauer verdient es die Tragödie als „erhabenste Dichtungsart“ (WWV II, 731) bezeichnet zu werden, weil sie den Zuschauer über den ihm angeborenen Grundirrtum erhebe, „daß wir dasind, um glücklich zu sein“ (WWV II, 729), was im Idealfall zu einer Verneinung des Willens führe. Erkennten wir nämlich, dass das Glück nicht der Zweck des Lebens ist, sondern, dass wir vielmehr leben, um zu leiden – diese Erkenntnis bezeichnet Schopenhauer als „die eigenthümliche Wirkung des Trauerspiels“ (WWV II, 730) –, so wären wir bereits auf dem Weg der Besserung: Wir beginnen zu resignieren, was positiv gewendet die Vorstufe zur praktischen Willensverneinung und damit zur Erlösung bedeutet. Das Trauerspiel habe zudem kathartische Wirkung, die sich in Form einer eigentümlichen Gelassenheit äußere, da man, vom optimistischen Grundirrtum geheilt, jetzt nicht mehr unter der „theoretischen Perplexität“ (WWV II, 729) zu leiden habe, wieso denn ein Leben,

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dass alles individuelle Leben leiden und vergehen muss, und andererseits im selben Augenblick einer Affirmation des Daseins das Wort redet. Die Tragödie als das Kunstwerk, welchem diese erstaunliche vermittelnde Kraft zu eigen ist, soll im Folgenden eingehender betrachtet werden. Ich will bei diesem Vorhaben zunächst an einen weiter oben gebrauchten Vergleich erinnern, in dem ich die apollinische Kunst, zu der Nietzsche auch das Epos und demgemäß ebenfalls die epische Apotheose des Daseins in der Götterwelt Homers zählt, als eine Art Deckbild dargestellt habe, das einen ver-deckenden Schönheitsschleier über dunklem Kolorit ausbreitet. Es sei mir gestattet, eine weitere Metapher aus der Malerei zu entlehnen, um den außergewöhnlichen Charakter der Tragödie als apollinisch-dionysischer Kunstform zu veranschaulichen. In der Tragödie legt sich das Apollinische wie ein Firnis über ein Bild des Dionysos, mithin wie ein transparenter Schutzanstrich, der in seiner Durchlässigkeit den Blick auf den finsteren Grund der Welt zwar prinzipiell zulässt, im gleichen Augenblick jedoch den Blickenden davor bewahrt, angesichts des Erblickten zu Grunde zu gehen. Das apollinische Moment der Tragödie hält den durch-blickenden Zuschauer auf Abstand, verhindert, dass er sich selbst – als Individuum – im dionysischen Taumel verliert, und erlaubt ihm so die Einsicht in den tragischen bzw. dionysischen Grundcharakter der Welt, aus dem sich die tragische bzw. dionysische Weisheit allererst gewinnen lässt. Der Firnis schütz hier also nicht wie allgemein üblich das Bild, sondern den Betrachter desselben. Die Rechtfertigung des Daseins durch die Tragödie kann eingedenk ihres eben geschilderten Offenbarungs- oder Aufklärungscharakters hinsichtlich des Dionysischen nicht in einem sich unter der Hand ereignenden Verklärungsgeschehen liegen, wie das in der rein apollinischen Kunst der Fall ist, in der die Verklärung unter dem apollinischen Deckmantel geschieht (wie im homerischen Epos). Die tragische Rechtfertigung muss vielmehr als ein explizites Verklärungsgeschehen begriffen werden, wenn anders das Drama den apollinischen Schein als das ausweist, was er ist, – eine Täuschung: Das Drama (…) erreicht als Ganzes eine Wirkung, die jenseits aller apollinischen Kunstwirkungen liegt. In der Gesammtwirkung der Tragödie erlangt das Dionysische wieder das Uebergewicht; sie schliesst mit einem Klange, der niemals von dem Reiche der apollinischen Kunst her tönen könnte. Und damit erweist sich die apollinische Täuschung als das, was sie ist, als die während der Dauer der Tragödie anhaltende Umschleierung der eigentlichen dionysischen Wirkung: die doch so mächtig ist, am Schluss das apollinische Drama selbst in eine Sphäre zu drängen, wo es mit dionysischer Weisheit zu reden beginnt und wo es sich selbst und

dessen Zweck doch das Glück sein solle, immer wieder so viel Pein erzeuge: „Wer nun (…) von jenem uns a priori einwohnenden Irrthum (…) zurückgekommen ist, wird bald alles in einem andern Lichte sehen und jetzt die Welt, wenn auch nicht mit seinem Wunsche, doch mit seiner Einsicht in Einklang finden. Die Unfälle, jeder Art und Größe, wenn sie ihn auch schmerzen, werden ihn nicht mehr wundern; da er eingesehn hat, daß gerade Schmerz und Trübsal auf den wahren Zweck des Lebens, die Abwendung des Willens von demselben, hinarbeiten. Dies wird ihm sogar, bei Allem, was geschehen mag, eine wundersame Gelassenheit geben, der ähnlich, mit der ein Kranker, der lange und peinliche Kur gebraucht, den Schmerz derselben als ein Anzeichen ihrer Wirksamkeit erträgt“ (WWV II, 731).

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seine apollinische Sichtbarkeit verneint. So wäre wirklich das schwierige Verhältniss des Apollinischen und des Dionysischen in der Tragödie durch einen Bruderbund beider Gottheiten zu symbolisiren: Dionysus redet die Sprache des Apollo, Apollo aber schliesslich die Sprache des Dionysus: womit das höchste Ziel der Tragödie und der Kunst überhaupt erreicht ist. (GT 21; KSA 1, 139f.)

Die Rechtfertigung des Daseins erreicht ihre höchste Stufe in der augenöffnenden Konfrontation mit der Tragödie. In deren Spiegel erkennt der einzelne Mensch sein Dasein in seinem wahren, und d. h. tragischen, agonalen und jenseits der ästhetischen Sphäre sinnlosen Sosein. Erst mit dieser tragischen Erkenntnis ist die Conditio sina qua non der tragischen Weisheit gegeben, die sich schließlich in der Praxis als ein affirmatives Bekenntnis zur entsprechenden Erkenntnis äußern soll, in einer „Umsetzung des Dionysischen in ein philosophisches Pathos“ (EH GT 3; KSA 6, 312). Solche Auseinandersetzung mit einer zunächst wohl eher ungeliebten, um nicht zu sagen: schrecklichen Wahrheit, ist aber nicht jedes Menschen Sache. Will heißen: Es ist eine Art Gang durch eine Feuerwand zu leisten, den nur die wirklich starken Naturen unter den Menschen bestehen können. Mir scheint, der frühe Nietzsche stellt die Tragödie in ähnlicher Weise als Gegenstand einer existenziellen Nagelprobe vor, wie der späte Nietzsche den Gedanken der ewigen Wiederkunft: Hier, in der jeweiligen Antwort auf eine tragische Herausforderung – „jene Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde des Daseins“ (GT 7; KSA 1, 57) –, scheiden sich buchstäblich die Geister: Wer bejaht, erweist sich als starker, wer verneint, als schwacher Mensch; wer bejaht, vollbringt eine geradezu übermenschliche Leistung, wer verneint, bleibt unterdessen hinter seinen menschlichen Möglichkeiten zurück, weil er nicht dazu bereit und/oder fähig ist, sich selbst zu überwinden.¹⁴⁹ Ziel und Aufgabe der Tragödie sind nun also geklärt. Wie genau bringt sie es aber fertig, den Schleier der Maja zu zerreißen und den Blick auf das wahre Gesicht, das „Schreckensgesicht des Daseins“ (NL 1869–1874, KSA 7, 7[27], 145) freizulegen? Wie kann das Trauespiel endlich, wofür ich argumentieren werde, die Wirkung einer Art anti-nihilistischen Katharsis entfalten? Nietzsche versucht dem Wesen der Tragödie durch einen Rekurs auf ihren Ursprung auf die Schliche zu kommen. Obschon die Ursprungs- oder Entstehungsfrage der Tragödie bis heute ungeklärt ist, behauptet Nietzsche, die Überlieferung sage uns „mit voller Entschiedenheit, dass die Tr agödie aus dem tr agischen C h o re e nt st anden ist und ursprünglich nur Chor und nichts als Chor war“ (GT 7; KSA 1, 52).¹⁵⁰ Demnach wurde sie, wie man auch dem Untertitel der ersten Auflage

149 „Bloß starke Menschen können aus dem Anblick des Tragischen Gewinn ziehen, schwache dagegen müssen es meiden, um nicht schaden zu erleiden. Dies wird gelten bis hinein in den Glauben an die ‚ewige Wiederkunft‘“ (Goedert 2008, 57). Die für Nietzsches Philosophie wesentlichen Gedanken der Selbstüberwindung und der ewigen Wiederkunft werden in Kapitel IX.1 und IX.2 der vorliegenden Studie behandelt. 150 Somit ist der Chor als das musische Element der Tragödie der eigentliche Motor der Tragödienwirkung.

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des Tragödienbuches entnehmen kann, „aus dem Geiste der Musik“ geboren. Bei der Tragödie handelt es sich somit um ein ursprünglich vor allem dionysisches Kunstwerk, gehört die Musik doch jenem Teil der Welt der Kunst an, der dem Dionysos geweiht ist. Die Musik zeichnet sich allen anderen Künsten gegenüber insoweit aus, als sie dem Sein am nächsten steht. Sie ist gar der unmittelbare Ausdruck des Seins, das durch die Musik zum Menschen spricht, indes dabei wohlgemerkt weniger die Ratio des Menschen als vielmehr seine Emotio bzw. sein Herz angesprochen wird. Nietzsche folgt hierin seinem Lehrer Schopenhauer, welcher der Meinung anhängt, in der Musik habe sich der Wille selbst ein unmittelbares Ausdrucksmedium geschaffen. Entsprechend rede sie „nicht von Dingen[der Welt als Vorstellung  – E.B.], sondern von lauter Wohl und Wehe, als welche die alleinigen Realitäten für den Willen sind: darum spricht sie so sehr zum Herzen, während sie dem Kopfe unmittelb a r nichts zu sagen hat (…)“ (PuP II, 457). Die Tragödie in ihrer „primitive[n] Gestalt“, gemeint ist „der Chor an sich, ohne Bühne“ (GT 7; KSA 1, 54), rührt somit den Menschen in seinem Innersten unmittelbar an. Sie ist der Ort, besser noch: das Geschehen, in dem sich die vorreflexive Mitteilung der dionysischen Weisheit ereignet. Von ihr kündet „der Satyrchor, der Chor der ursprünglichen Tragödie“ (GT 7; KSA 1, 55), die noch ganz ohne Schauspiel und Dialog auskommt, mithin ohne die apollinischen Teile der späteren attischen Tragödie, d. i. die Tragödie in ihrer vollendeten Gestalt. Einstweilen findet die Vermittlung der dionysischen Weisheit also noch auf der bloßen Gefühlsebene statt, wobei Nietzsche an ein Gefühl von Aufhebung im Sinne einer Vereinheitlichung denkt, welches der „griechische Culturmensch im Angesicht des Satyrchors“ (GT 7; KSA 1, 56) empfunden haben müsse. Für eine gewisse Dauer wird hier Kraft des entgrenzenden dionysischen Naturtriebes¹⁵¹ die Herrschaft des Principium individuationis aufgehoben – ein ungemein heilsames Gefühl, weil es die Wunden des apriorischen Gefallenseins für eine dionysische Weile tilgt. Der als individuiertes Leben

151 Das Apollinische wird für gewöhnlich als einende, das Dionysische hingegen als auflösende Kraft beschrieben. Hans-Peter Neumann hält diese Sichtweise für zu einseitig, weil sie nicht die Perspektiven bedenkt, von denen her sich die jeweiligen Triebe in Augenschein nehmen lassen (die Sicht des Individuums und die Sicht des Ur-Einen). Diese Missachtung verhindere aber ein adäquates Verständnis des Apollinischen und Dionysischen. Dem aufmerksamen Betrachter würden sich die beiden Kunsttriebe nämlich jeweils als dialektisch offenbaren, insofern sie „zwei unterschiedliche Bewegungen in sich zusammenfassen, die Bewegung des Auflösens und die des Einens“ (Neumann 2005, 177). Neumann erklärt sich wie folgt: „Zentral für das Verständis des Unterschieds zwischen Dionysischem und Apollinischem ist die jeweilige Perspektive. Das Apollinische repräsentiert das Individuationsprinzip, das das Individuum in seiner Einheit zusammenhält. Es kann daher durchaus der Tendenz nach als zentripetale Kraft aufgefasst werden. Es garantiert die Einhaltung, Organisation und scharfe Konturierung der individuellen Grenzen. In seiner Wirkung aber auf das Ur-Eine und als Repräsentant des Individuationsprinzips ist es eine dieses Ur-Eine in Einzelteile auflösende, atomisierende Kraft. Genau das Gegenteil stellt das Dionysische vor. Seine Bewegung geht zum Ur-Einen hin. Aus der Perspektive des Individuums muss es als zentrifugale, das Individuum auflösende Kraft begriffen werden, aus Perspektive des Ur-Einen als einende Kraft“ (Neumann 2005, 177f.).

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dem Zerfall anheimgegebene Mensch kehrt für einen Augenblick in die ursprüngliche metaphysische Einheit des Ur-Einen zurück. Er wird eins mit der Natur: (…) und dies ist die nächste Wirkung der dionysischen Tragödie, dass der Staat und die Gesellschaft, überhaupt die Klüfte zwischen Mensch und Mensch einem übermächtigen Einheitsgefühle weichen, welches an das Herz der Natur zurückführt. (GT 7; KSA 1, 56)

Wer sich nun als eins mit der unsterblichen Natur erfährt und damit als Teil ebenjenes ungeheuren Prozesses, dessen zerstörerischer Willkür er als sterbliches Individuum ausgesetzt ist, wird metaphysisch über seinen ontologischen Mangelstatus als Einzelding hinweg getröstet. Dem wonnevollen Einheitsgefühl haftet nämlich die dionysische Botschaft an, „dass das Leben im Grunde der Dinge, trotz allem Wechsel der Erscheinungen unzerstörbar mächtig und lustvoll sei“. Solchen Trost gewährt dem Menschen nur die Kunst, wodurch sich das Leben  – bzw. das Ur-Eine  – den Menschen erhält.¹⁵² Ungetröstet könnte er „das furchtbare Vernichtungstreiben der Weltgeschichte“ und „die Grausamkeit der Natur“ nicht ertragen und würde Gefahr laufen, „sich nach einer buddhaistischen Verneinung des Willens zu sehnen“ (GT 7; KSA 1, 56).¹⁵³ Die Wirkung, die sich Nietzsche von der dionysischen Tragödie verspricht, jener „metaphysische Trost¹⁵⁴, – mit welchem uns (…) jede wahre Tragödie entlässt“ (GT 7; KSA 1, 56), möchte ich als eine „anti-nihilistische Katharsis“ bezeichnen. Sie ist, wie mir scheinen will, der Katharsis dem klassischen-aristotelischen Verständnis nach trotz aller entschiedenen Abgrenzung der Geburt der Tragödie von Aristoteles’ Poetik durchaus verwandt. In dieser für die Theorie der Tragödie jahrhundertelang maßgeblichen Schrift beschreibt Aristoteles die Zuschauerwirkung der Tragödie als eine Art Triebabfuhr, als eine Reinigung von den sogenannten „tragischen Affekten“ „Furcht“ (phobos) und „Mitleid“ (eleos).¹⁵⁵ Eine solche purgative Kraft scheint auch Nietzsche in der griechischen Theaterkunst gesehen zu haben. Was sie in seinen Augen leistet, ist die „künstlerische Bändigung des Entsetzlichen und (…) die künstlerische

152 „Ihn rettet die Kunst, und durch die Kunst rettet ihn sich – das Leben“ (GT 7; KSA 1, 56.). 153 Was Nietzsche an dieser Stelle als Gefahr bewertet, ist genau die Wirkung, die sich Schopenhauer von der Tragödie erhofft. 154 Der metaphysische Trost ist, wie Safranski 2007, 289, zutreffend feststellt, alles andere als eine „Vertröstung[Kursivierung – E.B.] auf eine jenseitige Welt mit ihren Entschädigungen und Entlastungen und ihrem Versprechen eines künftigen Reiches der großen Gerechtigkeit“. Sie darf demnach nicht religiös missinterpretiert werden; es gibt nur einen ästhetischen Trost. Nietzsches ästhetische Daseinsrechtfertigung zielt auf ein Aushalten des Schmerzes und ist gerade darin ästhetisch und nicht ethisch bzw. steht, so Safranski, zumindest „in scharfem Gegensatz zu einer Moral, die auf die Verbesserung der Welt und die Schlichtung ihrer Gegensätze hofft“. 155 Schadewaldt 1955 hat in einem viel beachteten Aufsatz vorgeschlagen, die Begriffe „phobos“ und „eleos“ statt durch „Furcht“ und „Mitleid“ lieber durch „Jammer“ und „Schauder“ zu übersetzen, was den ursprünglich gemeinten Affekten näher käme als die übliche Übersetzung. Vgl. zur aristotelischen Theorie der Tragödie Poet., zumal 1449b 24ff.

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Entladung vom Ekel des Absurden“ (GT 7; KSA 1, 57). Statt „bloß“ von Jammer und Schauder wird der Theaterbesucher hiernach von einem Gefühl gereinigt, das sowohl Jammer und Schauder wie auch einige Affekte mehr in sich vereint und das immer wieder angeschlagen wird, wenn Nietzsche auf der Klaviatur des Nihilismus spielt. So weit, so gut. Jedoch weist Nietzsche auf ein gravierendes Problem hin. Die „Verzückung des dionysischen Zustandes“ enthalte nämlich ein „lethargisches Element“ (GT  7; KSA  1, 56). Es droht dem dionysischen Rausch die entsprechende Katerstimmung auf dem Fuß zu folgen.¹⁵⁶ Der Ekel am Dasein als Einzelwesen, um das sich das Leben als solches nicht weiter schert, droht nach der erhebenden Erfahrung der Einswerdung und des Einsseins, „der Vernichtung der gewöhnlichen Schranken und Grenzen des Daseins“ (GT 7; KSA 1, 56), nur umso gravierender hervorzubrechen, und das nach zwei Richtungen: Denn nicht nur wiegt die Last des Alltäglichen nach der Erfahrung der dionysischen Verzückung viel schwerer als zuvor: Wer gerade eben noch als dionysischer Schwärmer eine Art orgiastische Messe des verschwenderisch sich aus einer Überfülle ergießenden Lebens gefeiert hat, erträgt die darauf folgende apollinische Nüchternheit und die damit einhergehende Begrenzung und Verflachung des eigenen individuellen Lebens nur schwer. Zur selben Zeit jedoch bleibt nicht nur die Erinnerung an das „Wohl“, sondern auch an das „Wehe“ der dionysischen Erfahrung zurück, so dass dem apollinisch Ernüchterten sein Leben in der scheinbaren Sicherheit und womöglich sogar Geborgenheit alltäglicher Unaufgeregtheit nur mehr trügerisch scheint. Er hat einen Blick in einen so tiefen Abgrund getan, dass er auch jetzt, wieder auf festem Boden stehend, das Gefühl des Schwindels 156 Den Wechsel vom dionysischen Rausch zum apollinischen Kater hat Nietzsche in Also sprach Zarathustra (Das Tanzlied) – freilich ohne explizit auf die beiden Gottheiten zu rekurrieren – dargestellt. Nachdem Zarathustra eine Unterredung mit dem Leben über das Leben und dessen frappierende Ähnlichkeit mit Zarathustras „wilder Weisheit“ geführt hat, schlägt das Leben plötzlich sein zuvor geschlossenes Auge auf. Zarathustra verfällt nun für einen Moment in Schweigen, denn er wird durch den Blick in das Auge des Lebens unwiderstehlich in das Leben hineingezogen, was gleichbedeutend ist mit dem Verlassen des Hoheitsgebiets des Apollinischen und der Versenkung ins Dionysische: „Ach, und nun machtest du wieder dein Auge auf, oh geliebtes Leben! Und in’s Unergründliche schien ich mir wieder zu sinken. –“ Dieser Wechsel macht nicht nur klar, inwieweit die Weisheit sich eben doch vom Leben unterscheidet (als Weisheit über das Leben muss sie auf Distanz zu ihrem Gegenstand bleiben), sondern bringt auch einen konsequenten medialen Wechsel mit sich: Statt nach dem Schweigen weiter zu reden, beginnt Zarathustra zu singen. Er bedient sich also nicht mehr einer apollinischen, sondern der dionysischen Ausdrucksform par excellence. Hinzukommt, dass sein Lied von tanzenden Mädchen begleitet wird. Nachdem das Lied verklungen ist und die Mädchen fortgegangen sind, ist Zarathustra wieder ganz bei sich. Er ist wieder auf sich selbst zurückgeworfen, ganz Individuum geworden. Er ist, mit anderen Worten, in die apollinischen Sphäre zurückgekehrt – und das abrupt, so dass er gewissermaßen einen apollinischen Absturz erlitten hat. Entsprechend folgt nun auch bei Zarathustra der apollinische Kater auf den dionysischen Rausch. Plötzlich hat sich bei Zarathustra ein Stimmungswechsel vollzogen: Die exaltierte Stimmung ist einer tiefen Traurigkeit gewichen. Der Ekel am Dasein hat sich eingestellt und spricht sich, jetzt wieder im apollinischen Medium der Sprache, in einer Reihe von existenziellen Fragen aus: „Was! Du lebst noch, Zarathustra?/Warum? Wofür? Wodurch? Wohin? Wo? Wie? Ist es nicht Thorheit, noch zu leben? –“ (Z II Tanzlied; KSA 4, 141)

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nicht ganz ablegen kann. Der dionysische Mensch¹⁵⁷ hat eine gewisse Ähnlichkeit mit Hamlet, schreibt Nietzsche, und weist damit auf die eigentliche Crux des Wechsels zwischen der dionysischen und alltäglichen Wirklichkeit hin. Der dionysische Blick in das wahre Wesen der Welt offenbart dem (hinab)blickenden Einzelnen die Wahrheit über all sein Handeln. Jetzt, wieder nüchtern geworden, hat er begriffen, dass jede Handlung eines einzelnen Individuums in Anbetracht „des Werdecharakter[s] der werdenden Welt“ (Abel 1984, 24) in letzter Konsequenz sinn- und fruchtlos ist: Sobald aber jene alltägliche Wirklichkeit wieder ins Bewusstsein tritt, wird sie mit Ekel als solche empfunden; eine asketische, willenverneinende Stimmung ist die Frucht jener Zustände. In diesem Sinne hat der dionysische Mensch Aehnlichkeit mit Hamlet: beide haben einmal einen wahren Blick in das Wesen der Dinge gethan, sie haben erka n n t , und es ekelt sie zu handeln; denn ihre Handlung kann nichts am ewigen Wesen der Dinge ändern, sie empfinden es als lächerlich oder schmachvoll, dass ihnen zugemuthet wird, die Welt, die aus den Fugen ist, wieder einzurichten. Die Erkenntniss tödtet das Handeln, zum Handeln gehört das Umschleiertsein durch die Illusion – das ist die Hamletlehre (…). (GT 7; KSA 1, 56f.)

Die dionysische Tragödie ist in ihrer Wirkung also doppelgesichtig: Zwar tröstet sie den Menschen über das im Alltäglichen immer wieder sich einstellende VanitasGefühl hinweg. Jedoch hält dieser Trost jeweils nur eine gewisse Weile vor. Ist ihre verklärende Wirkung erst einmal verflogen, kehrt das Vanitas-Gefühl auch schon zurück, und zwar deutlicher und peinigender als noch vor der Tröstung. Die dionysische Kunst wirkt demnach wie eine Droge auf den Rezipienten. Und tatsächlich glaube ich, dass sie analog zu den meisten Drogen auch süchtig macht. Wie nämlich kann der dionysische Mensch der zur Ernüchterung gewordenen Nüchternheit begegnen? Indem er Zuflucht im Rausch sucht. Wer einmal das dionysische Gefühl des erlösenden Aufgehens in der Natur und des Einswerdens mit der Natur erlebt hat, wird es immer wieder erleben wollen. Dies ist der dionysische Weg, mit dem Lastcharakter des Daseins fertig zu werden: die dionysische Wiederholung, der Weg des Rausches. Nietzsches Konzeption einer apollinisch-dionysischen Doppelstruktur der Welt zufolge, muss es aber mindestens noch zwei weitere Bewältigungswege geben: einen apollinischen und einen apollinisch-dionysischen. Es liegt auf der Hand und es wurde ja auch schon gesagt, dass der apollinisch-dionysische der Königsweg ist. Zunächst aber ein Wort zur apollinischen Erlösung, zum Weg des Traumes. Ich stelle ihn mir etwa folgendermaßen vor: Der dionysische Schwärmer ist zurück in der empirischen Realität, d. h. zurück in der vom Individuationsprinzip regierten Welt. Sie ist ihm jetzt, nach seiner Rückkehr, im oben geschilderten Sinne, zur selben Zeit flach und unheimlich geworden. Die als apollinische Welt wesentlich geordnete bzw. ordentliche Welt ist

157 Um Missverständnisse zu vermeiden, sei darauf hingewiesen, dass Nietzsche zwar vom dionysischen Menschen spricht, damit aber jenen Menschen meint, der nach der dionysischen Erfahrung wieder in die alltägliche Welt, in der das Individuationsprinzip herrscht, zurückgeworfen wurde. Er meint folglich den apollinisch ernüchterten Menschen, um dessen Schicksal es mir hier geht.

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durch die dionysische Erfahrung in Unordnung geraten. Die schützende apollinische Abständigkeit muss wieder hergestellt werden, denn neuerdings hängt der Schleier der Maja an einigen Stellen der apollinischen Behausung gleichsam in Fetzen, was das Gefühl der Wohnlichkeit selbstredend empfindlich stört. Die dionysisch „beschädigte“ apollinische Welt ist eine schmutzige Halbwelt geworden. Also entschließt sich der dionysische Schwärmer zu einer apollinischen „Renovierung“ oder Kur, die seiner Welt ihren verlorenen Heimatcharakter und ihre Ordnung wiedergeben soll. Dies gelingt am besten in der Betrachtung apollinischer Kunst, die besonders als naive Kunst, d. h. als „jenes völlige Verschlungensein in der Schönheit des Scheines“ (GT 3; KSA 1, 37),¹⁵⁸ zu trösten vermag. Um den apollinischen Weg erfolgreich zu beschreiten, müsste es gelingen, sich sozusagen „zurückzuträumen“ in die Welt des schönen Scheins, was jetzt jedoch, da unsere Naivität in Folge der dionysischen Erfahrung gelitten hat, kein allzu leichtes Unterfangen mehr sein dürfte. Aber nicht nur die Fragwürdigkeit der Durchführbarkeit des apollinischen Bewältigungsweges spricht gegen ihn, sondern auch seine Einseitigkeit, die nach dem Naivitätsverlust nur mehr eine erzwungene und mühsam abgerungene sein kann. Will der dionysische Schwärmer kein solcher mehr sein, sondern stattdessen ein apollinischer Mensch, dann muss er sich mit aller Gewalt gegen die Verlockungen des Dionysischen zur Wehr setzen. Auf solche Weise verneint er indes die eine Kraft der beiden Naturkräfte in sich selbst und damit einen Teil des resp. seines eigenen Lebens. Die Folge ist, wie bereits dargestellt, eine Verarmung des resp. seines Lebens, weil es an Dynamik verliert, weil es starr und in diesem Sinne leblos wird. Es ist eine wichtige Erkenntnis Nietzsches, dass sich nicht nur ein Übermaß an dionysischer Kraft verheerend auf das Leben auswirkt, sofern das Dionysische immer auf einem schmalen Grat zwischen Lust und Grausamkeit wandelt und folglich leicht in Grausamkeit umschlägt, sondern auch ein zu großes Quantum apollinischer Kraft negative Folgen zeitigt. Diesen Gedanken legen jedenfalls Nietzsches Bemerkungen zur dorischen Kunst und zum dorischen Staat nahe, der gewissermaßen eine institutionalisierte apollinische Entartung darstellt:

158 Nebenbei bemerkt: Das „völlige Verschlungensein“, von dem Nietzsche mit Bezug auf die apollinische Kunst spricht, ist doch offenbar ein dionysisches Geschehen. Als Paradebeispiel für die naive Kunst, in der „wir die höchste Wirkung der apollinischen Cultur (…) erkennen“, führt Nietzsche ein „gleichnissartige[s] Gemälde“ (GT 4; KSA 1, 39) Rafaels an: die Transfiguration, das sich in zwei Hälften teilen lässt, deren obere die Verklärung Christi darstellt, dieweil die untere einen besessenen oder epileptischen Knaben zeigt, aus dessen Augen Schmerz und Verzweiflung sprechen. Symbolisch zeigt sich hier, wie der schöne Schein aus dem dunklen Grund hervorgeht, wie die apollinische Kunst erst entstehen kann, wenn sie „durch kräftige Wahnvorspiegelungen und lustvolle Illusionen über eine schreckliche Tiefe der Weltbetrachtung und reizbarste Leidensfähigkeit Sieger geworden“ (GT 3; KSA 1, 37) ist. Was sich in der apollinischen Kultur ereignet, ist „jenes Depotenziren des Scheins zum Schein“ (GT 4; KSA 1, 39), man könnte auch sagen: die Doppelabriegelung gegen den dionysischen Grund der Welt, indem der menschliche Künstler als Bewohner der apollinischen Scheinwelt, noch einen weiteren Schleier über dieselbe wirft: einen verklärenden Schönheitsschleier, ein apollinisches Kunstwerk.

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Ich vermag nämlich den dorischen Staat und die dorische Kunst mir nur als ein fortgesetztes Kriegslager des Apollinischen zu erklären: nur in einem unausgesetzten Widerstreben gegen das titanisch-barbarische Wesen des Dionysischen konnte eine so trotzig-spröde, mit Bollwerken umschlossene Kunst, eine so kriegsgemässe und herbe Erziehung, ein so grausames und rücksichtsloses Staatswesen von längerer Dauer sein. (GT 4; KSA 1, 41)

Was Nietzsche an der attischen Tragödie so sehr bewundert, ist nicht das gewaltsame Unterdrücken des einen Gegners durch den anderen, sondern das sich in ihr aussprechende Gelingen des „Bundes“ der beiden widerstrebenden Naturkräfte, die sich jetzt weniger bekämpfen als sich gegenseitig anzuspornen, wodurch sie aneinander wachsen.¹⁵⁹ Nur in einem Kunstwerk, das beide Erlösungswege in einem ausgeglichenen Verhältnis kombiniert, kann die ästhetische Rechtfertigung der Welt und des Daseins wirklich gelingen. Deswegen musste sich die dionysische Tragödie noch weiter entwickeln, musste um die Dimension des Apollinischen erweitert werden, in das „ebenso dionysische als apollinische Kunstwerk der attischen Tragödie“ (GT 1; KSA 1, 26).¹⁶⁰ Man könnte meinen, dass die attische Tragödie Aussicht auf eine erfolgreiche Rechtfertigung verspricht, indem sie den Patienten einfach beide heilenden Pillen schlucken lässt, die dionysische und die apollinische, welche jeweils für sich ihre Kraft entfalten sollen, was einer Kraftmaximierung im Sinne simpelster Mathematik entspräche. Aber diese Rechnung geht meiner Ansicht nach an Nietzsches Intention vorbei. Die Tragödie lässt das Apollinische und Dionysische nämlich zusammenwirken und erreicht dadurch viel mehr als das bloße Eins plus Eins gleich die Verdoppelung der verklärenden Kraft. Die Tragödie bewirkt im Idealfall, dass die dionysische Weisheit nicht nur gefühlt, sondern zudem auch begriffen wird, so dass sie zu einer affirmativ-tragischen Lebenseinstellung habitualisiert werden kann. Mit Hilfe der Tragödie wird der Zuschauer in den Stand gesetzt, in sich selbst so etwas wie eine „Rechtfertigungsdisposition“ entwickeln zu können. Wie aber kann das im Einzelnen gelingen?

159 Böning 1988, 213, spricht in diesem Kontext sogar von gegenseitiger „Anerkennung“, was für meinen Geschmack aber der agonalen Dynamik im Herzen der Tragödie nicht gerecht wird. Auch klingt die Rede von Anerkennung zu sehr nach einem ethischen Pakt, womit die Tragödie, wenigstens für Nietzsche, nichts zu tun hat. 160 Es handelt sich hier um ein Ungleichgewicht, das laut Nietzsche für die Kunst vor und nach der attischen Tragödie maßgeblich ist. Seine Hoffnung setzt Nietzsche auf eine Wiederherstellung dieses fruchtbaren Gleichgewichts und damit auf eine Art Wiedergeburt der wahren Kunst: „(…)[D] ie früheren griechischen Kulturstufen sind jeweils durch ein relatives Übergewicht eines der beiden Streitenden[des Apollinischen und des Dionysischen– E.B.] gezeichnet (…). Die Hoffnung auf eine ‚Fortentwicklung der Kunst‘ in unseren Tagen, und dies meint die ‚Wiedergeburt‘ einer ‚wahren‘ Kunst und Kultur, ist somit Hoffnung auf erneute Entfachung der Art des Streites, wie er die griechische Kultur zur Zeit der attischen Tragödie bestimmte“ (Böning 1988, 214). Wie allgemein bekannt, setzt der frühe Nietzsche auf Wagner und dessen Musikdrama, wenn es um die Wiederbelebung der Kultur im Geiste der Griechen geht.

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3.3.3 Von der Rechtfertigung des Daseins durch das eigentliche Drama – die Leiden des Gottes Wie erinnerlich bestimmt Nietzsche den Satyrchor als das Grundelement des Dramas. Demnach ist das Drama aus dem Dionysos-Kult entstanden, denn hier hat der Satyrchor seinen ursprünglichen Ort. Die Tragödie ist somit aus dem Geist der Musik geboren oder, um ganz genau zu sein: aus der religiös-ekstatischen Erfahrung des eigenen Naturseins, wie sie sich im dionysischen Fest ereignet. Am Beginn der Tragödie steht somit die Feier des Lebens, die, wie Nietzsche meint, überhaupt die Essenz der attischen Tragödie bildet, bevor diese im Zuge einer unverhältnismäßigen Intellektualisierung durch Euripides auf die Straße des Niedergangs gerät. Die attische Tragödie ist insofern eine Feier des Lebens, als das ursprüngliche dionysische Naturerleben in ihr wiederholt und dem Zuschauer in einem wechselseitigen apollinischdionysischen Durchdringungsspiel vermittelt wird: Die Welt der Bühne, „die Scene sammt der Action[ist] im Grunde und ursprünglich“ (GT 8; KSA 1, 62) nichts anderes als die Vision des Satyrchores. Sie macht mit anderen Worten die dionysische Erfahrung anschaulich, ist also eine Versinnbildlichung derselben. Will man die Tragödie als Kunstwerk in ihrer vollen Größe angemessen würdigen, muss unter allen Umständen ihr Aufführungscharakter berücksichtigt werden. Um Nietzsches Vision der attischen Tragödie begreifen zu können, reicht es nicht aus, eine Tragödie des Sophokles oder Aischylos bloß zu lesen. Vielmehr muss man sie sich aufgeführt, d. h. als ein Ereignis, vorstellen. Es gilt, das Phänomen „Tragödie“ als Ganzes in den Blick zu rücken. Am Anfang der Genese einer Tragödie steht selbstredend der Künstler, der Schöpfer des jeweiligen Dramas mit seiner poetischen Begabung. Schon der Dichter, gemeint ist der Epiker, zeichnet sich durch das Vermögen aus, in lebendigen Bildern zu sehen.¹⁶¹ Deswegen sind Homers Epen auch so großartig: weil sie so lebendig sind, weil der Dichter es fertig bringt, nicht nur in der eigenen, sondern auch in der Phantasie des Lesers lebendige Figuren entstehen zu lassen, so dass dieser während der Lektüre die Heldentaten des Odysseus oder Achilles bis zu einem gewissen Grad miterlebt. Die Begabung, in lebendigen Bildern zu sehen, bezeichnet Nietzsche als das „aesthetische Phänomen“, das sich beim Dramatiker spezifischer noch als die Fähigkeit, sich zu verwandeln und als Verwandelter zu sprechen, geriert: Im Grunde ist das aesthetische Phänomen einfach: man habe nur die Fähigkeit, fortwährend ein lebendiges Spiel zu sehen und immerfort von Geisterschaaren umringt zu leben, so ist man Dichter; man fühle nur den Trieb, sich selbst zu verwandeln und aus anderen Leibern und Seelen herauszureden, so ist man Dramatiker. (GT 8; KSA 1, 60f.)

161 Er zeichnet sich dadurch aus, „dass er von Gestalten sich umringt sieht, die vor ihm leben und handeln und in deren innerstes Wesen er hineinblickt. (…). Der Character ist für ihn nicht etwas aus zusammengesuchten Einzelzügen componirtes Ganzes, sondern eine vor seinen Augen aufdringlich lebendige Person (…)“ (GT 8; KSA 1, 60).

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Der Verwandlungsvorgang ist als ein Akt des Aus-sich-selbst-Heraustretens dionysischer Natur. Wenn nun die „dionysische Erregung (…) im Stande[ist], einer ganzen Masse diese künstlerische Begabung mitzutheilen“, ereignet sich „das dr amatische Urphänomen: sich selbst vor sich verwandelt zu sehen und jetzt zu handeln, als ob man wirklich in einen andern Leib, in einen andern Charakter eingegangen wäre“ (GT 8; KSA 1, 61). Während man sich als Verwandelter in einem dionysischen Zustand befindet, ist die Individualexistenz doch nicht gänzlich aufgehoben. Man hat die Sphäre des Apollinischen nicht vollständig ver- und hinter sich gelassen, schließlich sieht man sich ja vor sich selbst verwandelt. Aus dem dionysischen Zustand werden mithin apollinische Bilder geboren; und zwar ganz konkrete Bilder: In dieser Verzauberung[die Nietzsche als die „Voraussetzung aller dramatischen Kunst“ ansieht  – E.B.] sieht sich der dionysische Schwärmer als Satyr, u n d a l s S a t yr w i e d e r u m s chaut er d en G o tt d. h. er sieht in seiner Verwandlung eine neue Vision ausser sich, als apollinische Vollendung seines Zustandes. Mit dieser neuen Vision ist das Drama vollständig. (GT 8; KSA 1, 61f.)

Die Tragödie hat sonach Dionysos zum Thema. Er ist, so Nietzsches These, „der eigentliche Bühnenheld und Mittelpunkt der Vision“ (GT 8; KSA 1, 63). Die Tragödie behandelt im Grunde immer nur und immer wieder den Dionysos-Mythos, wenn auch in zahlreichen Variationen. Aber dazu komme ich gleich. Wie oben gesehen, sieht sich der dionysische Schwärmer selbst als Satyr. Wer ist denn aber eigentlich dieser Schwärmer? Zunächst ist es der Tragödiendichter. Dieser verfasst die Tragödie kraft seiner besonderen Begabung so, dass sie, wenn sie aufgeführt wird, seine dionysische Erregung weiterleitet. Selbstverständlich besteht auch der Chor aus dionysischen Schwärmern. Er ist gar „das Symbol der gesammten dionysisch erregten Masse“ (GT 8; KSA 1, 62). Es ist aber nicht in erster Linie der Chor, für den der Dramatiker schreibt, sondern der Zuschauer. Eine Tragödie will sozusagen aufgeführt werden; sie will vor allem gesehen und nicht gelesen werden. Dabei ist es dem Dramatiker darum zu tun, das Publikum im dionysischen Sinne des Wortes zu begeistern. Zur Erfüllung dieses Zwecks bedarf es des Chores, denn eine Tragödie ist wesentlich Performanz und der Chor ist die entsprechende Performanz-Instanz. Er ist die entscheidende Vermittlungsinstanz, welche die dionysische Erregung weiterleitet. Es ist der Chor, „der die Vision aus sich erzeugt und von ihr mit der ganzen Symbolik des Tanzes, des Tones und des Wortes redet“ und der vermittels des rhythmischen Gesangs dafür sorgt, „die Stimmung der Zuhörer bis zu dem Grade dionysisch anzuregen, dass sie, wenn der tragische Held auf der Bühne erscheint, nicht etwa den unförmlich maskirten Menschen sehen, sondern eine gleichsam aus ihrer eignen Verzückung geborene Visionsgestalt“ (GT 8; KSA 1, 63).¹⁶² Der Chor verzückt also; er ist darauf aus, einen begeis162 Ein Psychoanalytiker würde hier wohl von einer „Projektionstheorie“ sprechen, der zufolge die Szene sich als Projektionsmaterial für die projektive Leistung des je Einzelnen anbietet. Der tragische Held auf der Bühne stellt dann gewissermaßen ein Angebot für die individuelle Projektionsleistung

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ternden Sog zu erzeugen, dem sich das Publikum – jeder einzelne Zuschauer – nicht entziehen kann.¹⁶³ Damit folgt der Chor dem dionysischen Prinzip bzw. dient seinem „Herrn und Meister Dionysos“ (GT 8; KSA 1, 63) – und so versteht man auch, warum es sich bei den Choreten um Satyrn handelt, ja handeln muss. Ich will Nietzsches Anliegen, sich in die Griechen hineinzuversetzen, noch ein Stück weiter verfolgen, um die Frage, wer zu den dionysischen Schwärmern gerechnet werden muss, abschließend zu beantworten. Man denke sich ein griechisches Theater mit der Bühne und „dem in concentrischen Bogen sich erhebenden Terrassenbau des Zuschauerraumes“ (GT 8; KSA 1, 59). Die Bühne ist das Zentrum, auf das alle Zuschauer gebannt hinschauen. Hier wird musiziert, agiert und gesprochen. Hier ereignet sich das Drama. Von der Bühne aus schwappt die dionysische Erregung wie eine Welle auf alle Sitzreihen über. Der Theaterkreis gleicht jetzt einem dionysischen Meer – freilich voller apollinischer Bilder. Auf diese Weise werden alle, die sich im Theater versammelt haben, zu dionysischen Schwärmern. Die äußeren Ränder des Theaterkreises sind zugleich Grenzsteine. Hinter ihnen liegt das Hoheitsgebiet Apollos, d. h. jener Bereich, in dem die Zuschauer nicht mehr vereinte dionysische Schwärmer, sondern Politiker, Soldaten, Philosophen oder was auch immer sind; jedenfalls konkrete Individuen mit einer persönlichen Lebensgeschichte. Während der Aufführung der Tragödie bleibt dieser Bereich der konkreten Individualexistenz im wahrsten Sinne des Wortes außen vor. Weil jedoch das ganze Gebilde der Tragödie aus Chor, Dialog und Zuschauer besteht, wirkt sie nicht nur auf eine Masse resp. einen Kollektivkörper, sondern richtet sich immer auch an den einzelnen dionysischen Schwärmer. Während der Chorgesang für die dionysische Erregung sorgt, für das Hineinziehen des Zuschauers in die Szene, besorgt der Dialog die nötige apollinische Brechung. Das Publikum im Theaterrund bildet auf diese Weise zwar eine Einheit, allerdings eine Einheit aus Einzelnen,¹⁶⁴ die alle meinen, dieselben Bilder zu sehen oder, besser noch: die alle meinen, dasselbe

des eigenen dionysischen Brodelns dar – und so wird er denn auch zur „aus der eignen Verzückung geborene[n] Visionsgestalt“. 163 Freilich wollte es das auch gar nicht: „Der attische Tragödienbesucher wollte die Entrückung, wenn er sich unter offenem Himmel nachmittags auf den Steinen des weiten Rundes niederließ, und sie wurde ihm zuteil. Er ist festtäglich gestimmt und bereit, sich verwandeln zu lassen und aus sich herauszugehen (Safranski 2002, 54). 164 Den Gedanken, der sich aus Einzelnen konfigurierenden Einheit, findet man bei Nietzsche in der Metapher von einer Flut, die die einzelnen Wellen auf ihren Rücken nimmt, ausgedrückt: „Apollo will die Einzelwesen gerade dadurch zur Ruhe bringen, dass er Grenzlinien zwischen ihnen zieht und dass er immer wieder an diese als an die heiligsten Weltgesetze mit seinen Forderungen der Selbsterkenntniss und des Maasses erinnert. Damit aber bei dieser apollinischen Tendenz die Form nicht zu ägyptischer Steifigkeit und Kälte erstarre, damit nicht unter dem Bemühen, der einzelnen Welle ihre Bahn und ihr Bereich vorzuschreiben, die Bewegung des ganzen See’s ersterbe, zerstörte von Zeit zu Zeit wieder die hohe Fluth des Dionysischen alle jene kleinen Zirkel, in die der einseitig apollinische ‚Wille‘ das Hellenenthum zu bannen suchte. Jene plötzlich anschwellende Fluth des Dionysischen nimmt dann die einzelnen kleinen Wellenberge der Individuen auf ihren Rücken, wie der Bruder des Prometheus, der Titan Atlas, die Erde“ (GT 9; KSA 1, 70f.).

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zu erleben. Dadurch wird es überhaupt erst möglich, dass die sich in der Tragödie aussprechende dionysische Weisheit auch tatsächlich aussprechen kann. Sie ist Trägerin einer Botschaft, die naturgemäß leer bzw. sinnlos bleiben müsste, wenn es keinen Empfänger gäbe. Der jeweilige aus sich selbst herausgehobene, d. h. seinem alltäglichen In-der-Welt-Sein enthobene Einzelne, ist aber der gesuchte Empfänger. An ihn ergeht die tragische Botschaft und an ihm liegt es nun, entsprechend darauf zu reagieren: Wenn möglich, indem er sie, nachdem er in die alltägliche Welt jenseits der Theatermauern, in die „ausseraesthetischen Sphären“ (GT  22; KSA  1, 143) des gewöhnlichen sozialen Lebens, zurückgekehrt ist, nicht wieder vergisst, sondern sie stattdessen zur dionysischen Weisheit ausbildet, die fortan wesentlich seinen einschätzenden Blick auf die Welt und das Dasein bestimmt. Dieser Blick soll bekanntlich ein ästhetischer sein und als solcher das Dasein rechtfertigen. Was aber hat der dionysisch Weise zuvor in der Tragödie erblickt, das seine Perspektive auf das Leben derartig hat ästhetisieren können? Es gilt an dieser Stelle Nietzsches Gedanken wiederaufzunehmen, dass der eigentliche Bühnenheld Dionysos ist, dass die Tragödie, zumindest bis zu den Dramen des Euripides, recht eigentlich immer nur vom Dionysos-Mythos handelt. Sonach ist es das Leiden des Gottes, der einst als Zagreus von den Titanen zerstückelt und als Dionysos wiedergeboren wurde,¹⁶⁵ das in der Tragödie in den Fokus des Zuschauers gerückt wird. Entscheidend ist nun, dass der Mythos eine immense symbolische Kraft besitzt. Es liegt am Zuschauer, diese auch auf sich wirken zu lassen und zu begreifen, was das Fatum des Gottes mit dem eigenen Schicksal zu tun hat. Nietzsche legt den Mythos wie folgt aus: In Wahrheit aber ist jener Held[jeder Held der klassischen Tragödie – E.B.] der leidende Dionysus der Mysterien, jener die Leiden der Individuation an sich erfahrende Gott, von dem wundervolle Mythen erzählen, wie er als Knabe von den Titanen zerstückelt worden sei und nun in diesem Zustande als Zagreus verehrt werde: wobei angedeutet wird, dass diese Zerstückelung, das eigentlich dionysische Leid en , gleich einer Umwandlung in Luft, Wasser, Erde und Feuer sei, dass wir also den Zustand der Individuation als den Quell und Urgrund alles Leidens, als etwas an sich Verwerfliches, zu betrachten hätten. Aus dem Lächeln dieses Dionysus sind die olympischen Götter, aus seinen Thränen die Menschen entstanden. In jener Existenz als zerstückelter Gott hat Dionysus die Doppelnatur eines grausamen verwilderten Dämons und eines milden sanftmüthigen Herrschers. Die Hoffnung der Epopten ging aber auf eine Wiedergeburt des Dionysus, die wir jetzt als das Ende der Individuation ahnungsvoll zu begreifen haben (…). (GT 10; KSA 1, 72)

Diese Interpretation enthält in Kürze die grundlegenden Aussagen der Tragödienschrift: (1.) die Entstehung der Welt aus dem Ur-Einen, aus seiner Zersplitterung in die vier Elemente; (2.) die dionysische Dynamik, die den Lauf der Welt in Gang hält und die sich in Tränen und Lachen, also einem Lust-Unlust-Gemisch, erfüllt (Dionysos ist 165 Es liegen verschiedene Versionen des Mythos vor, die Nietzsche als klassischer Philologe allesamt gekannt haben wird. Ausschlaggebend ist für Nietzsche aber der eigentliche Kern des Mythos, nämlich die Zerstückelung und anschließende Wiedergeburt des Dionysos.

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ein verwilderter Dämon und sanftmütiger Herrscher zugleich, der Leben spendet und Leben nimmt); (3.) das Individuationsprinzip als Quelle alles Leidens in der Welt und zuletzt; (4.) Dionysos als Hoffnungsträger der Wiedervereinigung, mithin der Erlösung vom Leid.¹⁶⁶ Die letzten beiden Punkte sind für den Tragödienbesucher maßgeblich. Denn er bekommt vor Augen geführt, wie Dionysos die Leiden der Individuen oder allgemeiner: der Individuation an sich selbst erfährt. Sie offenbaren sich an ihm symbolisch. Gleichzeitig aber ereignet sich in der Wiedergeburt des Gottes auch die Erlösung von dieser Pein symbolisch. In der Tragödie erleben wir den schicksalshaften Untergang des Helden, der insofern schicksalshaft ist, als der Untergang eines jeden Einzelnen als Einzelner unumgänglich ist. Indessen wird der Einzelne in die allgewaltige Natur aufgenommen und damit von seinem Leiden als endliches, vereinzeltes Individuum erlöst. Das Leben feiert im Untergang des Helden seinen Triumph und auch der Held feiert, aller Agonie zum Trotz, am Ende seine Rückkehr in die Heimat, die Alleinheit. Dem Dionysos-Mythos lässt sich somit dieselbe metaphysisch tröstende Botschaft entnehmen, die schon den inhaltlichen Kern der dionysischen Tragödie bildete: dass zwar die Einzelerscheinungen, die das Leben hervorbringt, vergänglich sind, dass aber das Leben selbst, wovon sie ein Teil sind, unzerstörbar ist. Die Verschwendungssucht des Lebens ist dabei alles andere als ein Makel – gerade das Gegenteil ist der Fall: Die unaufhörliche Vernichtung der Erscheinungen ist eine sich aus der unendlichen Schaffenskraft des Lebens ableitende Notwendigkeit. Das Leben oder die Natur muss daher als ein unsterblicher, unendlich begabter und kreativer Künstler angesehen werden,¹⁶⁷ womit die metaphysisch-ästhetische Perspektive auf die Welt gewonnen wäre. Der Einzelne kann sich unter dieser Optik, insofern er unverzichtbarer Bestandteil des künstlerischen Schönheits- und Machtprozesses „Natur“ ist, als gerechtfertigt betrachten. Er hat einen Zweck, den er in seinem eigenen Untergang erfüllt. Auf die Frage nach der Würde des Menschen, die in der aktuellen philosophischen Landschaft Konjunktur wie kaum eine andere hat, weiß der junge Nietzsche folglich eine tragische Antwort zu geben: Der Mensch besitzt als Einzelwesen gerade in seiner ontologischen Flüchtigkeit einen Wert. Damit erweist er sich als passender Spielstein im großen heraklitischen Weltspiel des unschuldigen Aufbauens und Zerstörens, als welches (nicht nur der junge) Nietzsche das Leben mit Heraklit versteht.¹⁶⁸ Dies ist der Hintergrund der „höchsten Werthschätzung der Individuation“: Der Mensch ist Teil der kreativen und 166 Aus einer von Nietzsches zahlreichen Notizen geht sehr deutlich hervor, dass sich aus dem rechten Verständnis des Mythos die tragische Weisheit gewinnen lässt, insofern der Mythos „alle Bestandtheile der tiefsinnigsten Weltbetrachtung“ enthält: „die Grunderkenntniß von der Einheit alles Vorhandenen, die Betrachtung der Individuation als des Urgrundes alles Übels, das Schöne und die Kunst als die Hoffnung, daß der Bann der Individuation zu zerreißen sei, als die Ahnung einer wiederhergestellten Einheit“ (NL 1869–1874, KSA 7, 7[123], 178). 167 Alles – das ist der Witz – ist Poiesis. 168 „Darin, daß die Welt ein göttliches Spiel sei und jenseits von Gut und Böse  – habe ich die Vedantaphilos und Heraclit zum Vorgänger“ (NL 1884–1885, KSA 11, 26[193], 201).

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damit implizit auch destruktiven Selbstentfaltung des Lebens, „sodaß das Vergehen ebenso würdig und verehrenswert erscheint als das Entstehen und das Entstandene im Vergehen die ihm als Individuum vorgesetzte Aufgabe zu lösen hat“ (NL 1869–1874, KSA 7, 7[128], 192).¹⁶⁹ Das gilt übrigens für jede Form individuierten Lebens. Alles individuierte Leben hat einen Wert darin, dass es wird, d. h. darin, dass es entsteht, eine Weile bleibt (ist) und wieder vergeht. Anders als alle anderen Individuen kann sich der Mensch jedoch in ein Verhältnis zu sich selbst setzen und sich solcherart in einer gewissermaßen überindividuellen Perspektive betrachten. Er kann sich, um mit Nietzsches metaphysischem Programm des Tragödienbuches zu reden, als Objektivation des Ur-Einen bzw. „Erscheinung des Urschmerzes“ (NL 1869–1874, KSA 7, 7[139], 195) verstehen, als etwas, das zwar ein Individuum, zugleich aber doch immer auch dieses Ur-Eine ist. Er ist solcherart dazu in der Lage, seinen Niedergang bzw. seine Niederlage als Individuum als seinen Sieg als das Ur-Eine zu sehen bzw. zu interpretieren. Genau das geschieht in der Tragödie:¹⁷⁰ In der dionysischen Tragödie wird dieser dialektische Sieg allerdings bloß gefühlt, was den bereits erörterten Nachteil mit sich bringt, dass die metaphysische Tröstung¹⁷¹ immer nur transitorischer Natur ist und die Erlösungsbedürftigkeit des Individuums schlussendlich sogar maximiert. In der eigentlichen, der apollinisch-dionysischen Tragödie indes kann die Tröstung nachhaltiger sein, weil sie aufgrund ihrer apollinisch-dionysischen Doppelstruktur sowohl zum Herzen als auch zum Verstand des Menschen spricht: Das, was wir „tragisch“ nennen, ist gerade jene apollinische Verdeutlichung des Dionysischen: wenn wir jene in einander gewobenen Empfindungen, die der Rausch des Dionysischen zusammen erzeugt, in eine Reihe von Bildern auseinanderlegen, so drückt diese Reihe von Bildern (…) das „Tragische“ aus. Die allgemeine Form des tr agischen Schicksals ist das siegreiche Unterliegen oder das im Unterliegen zum Siege Gelangen. Jedesmal unterliegt das Individuum: und trotzdem empfinden wir seine Vernichtung als einen Sieg. (NL 1869–1874, KSA 7, 7[128], 192)

169 Im Binnenraum des Menschlichen vertritt Nietzsche die kulturaristokratische Idee der „Abhängigkeit der Menschenwürde von der Förderung des Genies“ (Zachriat 2010, 265). Doch korreliert diese Auffassung, dass nämlich jedem Menschen, „mit seiner gesammten Thätigkeit[] nur soviel Würde“ zukommt, „als er bewußt oder unbewußtes Werkzeug des Genius ist“, durchaus mit der oben dargestellten menschlichen Würde durch ontologische Flüchtigkeit innerhalb und zugunsten des heraklitischen Weltspiels, nämlich dann, wenn man das Spiel bzw. das Leben als den Genius versteht. Die gravierende ethische Konsequenz seiner Auffassung ist Nietzsche sehr wohl bewusst. Unter der Voraussetzung jener sozusagen „antikatianischen“ Würde, „zum Mittel des Genius gewürdigt zu sein“, gilt, „daß der ‚Mensch an sich‘, der absolute Mensch, weder Würde, noch Rechte, noch Pflichten besitzt; nur als völlig determinirtes, unbewußten Zwecken dienendes Wesen kann der Mensch seine Existenz entschuldigen“ (NL 1869–1874, KSA 7, 10[1], 348). 170 „In other words, during tragedy the greek was able to see the ‚big picture‘, and the place human existence has within that big picture. When the Dionysian spectators return to their own individual existence, they will not be overcome by feelings of nausea, because they realize that their individual existence is justified as an aesthetic spectacle for the primordial will“ (Jaggard 2004, 281). 171 Die darin besteht, „dass unter dem Wirbel der Erscheinungen das ewige Leben unzerstörbar weiterfliesst (…)“ (GT 18; KSA 1, 115).

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Es ist ein Leichtes, diese, wie Nietzsche sich ausdrückt, „allgemeine Form des tragischen Schicksals“ im tragischen Mythos, d. h. in der sich in einen Sieg verwandelnden Niederlage des Dionysos, wiederzuerkennen. Durch den von Nietzsche „auf den Gegensatz und die Synthese von ‚apollinisch und dionysisch‘“ (Schüle 2000, 189) zurückgeführten tragischen Mythos gelingt in der Tragödie das apollinische Aussprechen der dionysischen Wahrheit, womit die notwendige Bedingung für die Habitualisierung der dionysischen Weisheit durch den besonders hellhörigen und hellsichtigen Zuschauer hergestellt wäre. Bevor ich zu einer Kritik an Nietzsches frühem Rechtfertigungsprogramm komme, sei noch eine kurze Bilanz gezogen. Diese Bilanz soll aber weniger eine Wiederholung des bisher Erarbeiteten sein, als vielmehr der Versuch, noch einmal deutlicher herauszupräparieren, inwiefern die Tragödie eigentlich tragisch ist. Von hier aus wird dann eine genauere inhaltliche Bestimmung der tragischen resp. dionysischen Weisheit vorgenommen.

3.4 Das Tragische der Tragödie und die vollendete dionysische Weisheit Was ist eigentlich so tragisch an der Tragödie? „Tragisch“, das bedeutet, wie man dem oben angeführten Zitat aus Nietzsches Fragment gebliebener Abhandlung Ursprung und Ziel der Tragödie (vgl. NL 1869–1874, KSA  7, 167–195) entnehmen kann, zweierlei: (1.) Einmal meint es eine bestimmte Struktur, nämlich die apollinische Mitteilung eines dionysischen Inhalts: Die Tragödie ist „die apollinische Versinnlichung dionysischer Erkenntnisse und Wirkungen“ (GT 8; KSA 1, 62). (2.) Sodann ist sie hinsichtlich ihres sachlichen Gehaltes tragisch, mithin tragisch im landläufigen Sinne. Das treffendste Beispiel für eine solche inhaltliche Tragik gibt wohl das Schicksal des Ödipus ab, der „zum Irrthum und zum Elend trotz seiner Weisheit bestimmt ist“ (GT 9; KSA 1, 65) und somit just an dem zugrunde geht, was ihn eigentlich auszeichnet: Es kehrt sich, wie Ödipus schmerzhaft erfahren muss, die „Spitze der Weisheit (…) gegen den Weisen“ (GT  9; KSA  1, 67), der bei dem eigentlich klug durchdachten Versuch, vor seinem Schicksal zu fliehen, demselben geradewegs in die Arme läuft. Die tragische Wahrheit, die Nietzsche im Oedipus Rex des Sophokles ausgesprochen sieht, besagt, dass das Individuum all seinen Emanzipationsversuchen zum Trotz  – man könnte schärfer auch sagen: zum Spott – am Ende doch seinem ihm durch die Natur bzw. das übermächtige Leben vorgegebenen Schicksal ausgeliefert ist. Der Mensch muss erfahren, „dass er der Wirklichkeit in ihrer Tiefe nicht gewachsen ist“, weswegen er ihr „in seinem Erkennen und Handeln nie vollends gerecht“ werden kann (Himmelmann 2006, 93). Das ist die tragische Grundsituation des Menschen. Sie bedeutet, dass der Mensch dem Leben im Grunde nie wirklich gerecht werden kann. Sein Handeln hat, egal wie sehr der Mensch sich auch bemüht, immer etwas Ungerechtes an sich, weil

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er es in seinen mannigfachen Voraussetzungen und unabsehbaren Konsequenzen¹⁷² nicht zu überblicken vermag. Dies macht unser Handeln oftmals so zerstörerisch bzw., wie sich am Beispiel des Ödipus sehen lässt: so selbstzerstörerisch. Von einem bestimmten Gesichtspunkt aus betrachtet, ließe sich das Handeln angesichts dieser tragischen Grundsituation generell verurteilen, und zwar je als gewissenloser Akt in Folge notwendiger Unwissenheit.¹⁷³ Ein solches Urteil würde freilich die Kapitulation vor dem Tragischen bedeuten, wodurch man auch schon den Weg des passiven Pessimismus eingeschlagen hätte, d. i. der Weg des Nihilisten, der das Leben verneint und sich ihm infolgedessen soweit wie nur möglich zu entziehen sucht. Was Nietzsche als eine nihilistische Lebensweise brandmarken würde, hält Schopenhauer für den Weg eines Heiligen. Tatsächlich erhofft sich Schopenhauer gerade diese resignative Wirkung von der Tragödie. Die Resignation stellt für ihn die einzig angemessene Antwort auf das in der Tragödie auf- und vorgeführte Leiden dar.¹⁷⁴ Nietzsche unterdessen stellt der notwendigen Ungerechtigkeit in allem menschlichen Handeln eine höhere Gerechtigkeit zur Seite, welche die Ungerechtigkeit rechtfertigt.¹⁷⁵ Diese Rechtfertigung ist allerdings nur dann möglich resp. kann nur dann überhaupt ins Auge gefasst werden, wenn man die von Schopenhauer aus Überzeugung getragene

172 Vgl. zur Unabsehbarkeit der Folgen einer Tat Der angebliche Kampf der Motive (M 129). 173 Den Zusammenhang von Gewissenlosigkeit und Wissenlosigkeit hat Nietzsche in der zweiten Unzeitgemässen Betrachtung herausgearbeitet: „Wie der Handelnde, nach Goethes Ausdruck, immer gewissenlos ist, so ist er auch wissenlos, er vergisst das Meiste, um Eins zu thun, er ist ungerecht gegen das, was hinter ihm liegt und kennt nur Ein Recht, das Recht dessen, was jetzt werden soll“ (UB II 1; KSA 1, 254). 174 „Unser Gefallen am Trauerspiel gehört nicht dem Gefühl des Schönen, sondern dem des Erhabenen an; ja, es ist der höchste Grad dieses Gefühls. Denn, wie wir beim Anblick des Erhabenen in der Natur uns vom Interesse des Willens abwenden, um uns rein anschauend zu verhalten; so wenden wir bei der tragischen Katastrophe uns vom Willen zum Leben selbst ab. Im Trauerspiel nämlich wird die schreckliche Seite des Lebens uns vorgeführt, der Jammer der Menschheit, die Herrschaft des Zufalls und des Irrthums, der Fall des Gerechten, der Triumph der Bösen: also die unserm Willen geradezu widerstrebende Beschaffenheit der Welt wird uns vor Augen gebracht. Bei diesem Anblick fühlen wir uns aufgefordert, unsern Willen vom Leben abzuwenden, es nicht mehr zu wollen und zu lieben. Gerade dadurch aber werden wir inne, daß alsdann noch etwas Anderes an uns übrig bleibt, was wir durchaus nicht positiv erkennen können, sondern bloß negativ, als Das, was nicht das Leben will. (…) Im Augenblick der tragischen Katastrophe wird uns, deutlicher als jemals, die Ueberzeugung, daß das Leben ein schwerer Traum sei, aus dem wir zu erwachen haben. Insofern ist die Wirkung des Trauerspiels analog der des dynamisch Erhabenen, indem es, wie dieses, uns über den Willen und sein Interesse hinaushebt und uns so umstimmt, daß wir am Anblick des ihm geradezu Widerstrebenden Gefallen finden. Was allem Tragischen, in welcher Gestalt es auch auftrete, den eigenthümlichen Schwung zur Erhebung giebt, ist das Aufgehen der Erkenntniß, daß die Welt, das Leben, kein wahres Genügen gewähren könne, mithin unserer Anhänglichkeit nicht werth sei: darin besteht der tragische Geist: er leitet demnach zur Resignation hin“ (WWV I, 495). 175 Nietzsches Vorstellung von Gerechtigkeit (und Ungerechtigkeit) wird in Kapitel IX.3 noch einmal eine Rolle spielen, wenn es um die Überwindung des Nihilismus durch die sogenannte „Kunst der Transfiguration“ geht.

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ethische Brille absetzt. Sie erfordert mit anderen Worten einen anderen Blickwinkel auf das Leben: die ästhetische Weltbetrachtung. Nietzsche unterschiebt Aischylos jene ästhetische Perspektive auf die Welt, an der ihm vor allem selbst gelegen ist, wenn er die „aeschyleische[] Weltbetrachtung“ auf den Satz bringt, dass sie „über Göttern und Menschen die Moira als ewige Gerechtigkeit thronen sieht“ (GT 9; KSA 1, 68). Wenngleich der Terminus „Gerechtigkeit“ prima facie dem Bereich der Ethik zuzugehören scheint, spricht Nietzsche an dieser Stelle jene sich nicht um ethische Kategorien bekümmernde Gerechtigkeit des schöpferischen Spiels an, dessen Vollzug die Natur selbst ist. Alles, was sich ereignet, ist Teil dieses Spiels und untersteht solcherart auch dessen Regeln. Aus diesem Grund kann jedes Ereignis oder, aus Sicht des Individuums: Widerfahrnis auch gerecht resp. gerechtfertigt genannt werden. Besser man spielt dieses Spiel mit – was keinem so gut wie dem Künstler gelingt, der als Schaffender (und damit implizit auch als Vernichtender) in diesem Spiel selbst aktiv wird – und empfindet sich sonach als Mitspieler, statt sich passiv zu verhalten, so dass man sich wie ein Spielball vorkommen muss, mit dem bloß gespielt wird und dem das Leben immer wieder im sprichwörtlichen Sinne übel mitspielt. Einen Mitspieler, der sogar mehr sein will als das, nämlich ein Spielgestalter, sieht Nietzsche in der Figur des „titanischen Künstlers“ Prometheus, durch die er zugleich einen Blick in das geheime innere Wesen der griechischen Heiterkeit wirft. Diese erscheint hier als eine trotzige, rebellische Heiterkeit: Der titanische Künstler fand in sich den trotzigen Glauben, Menschen schaffen und olympische Götter wenigstens vernichten zu können (…). Das herrliche „Können“ des grossen Genius, das selbst mit ewigem Leide zu gering bezahlt ist, der herbe Stolz des Kü n s t l e r s  – das ist Inhalt und Seele der aeschyleischen Dichtung (…). Aber auch mit jener Deutung, die Aeschylus dem Mythus gegeben hat, ist dessen erstaunliche Schreckenstiefe nicht ausgemessen: vielmehr ist die Werdelust des Künstlers, die jedem Unheil trotzende Heiterkeit des künstlerischen Schaffens nur ein lichtes Wolken- und Himmelsbild, das sich auf einem schwarzen See der Traurigkeit spiegelt. (GT 9; KSA 1, 68)

Wenn Nietzsche behauptet, die „Schreckenstiefe“ des Mythos sei damit noch gar nicht ausgelotet, dann spielt er auf den grundlegend tragischen Charakter der Welt an, der im Prometheus-Mythos ebenfalls thematisiert wird, und zwar im Raub des Feuers. Der Sage nach versagt Zeus den Menschen das Feuer, nachdem diese mit Hilfe ihres Schöpfers und Wohltäters, des Titanen Prometheus, versucht hatten, den Göttervater um ein Opfer zu betrügen. Prometheus indes will die Strafe nicht akzeptieren und stiehlt den Göttern das für das aufstrebende Geschlecht der Menschen so unersetzliche Feuer. Er bringt es vermittels einer Fackel zu den Menschen, die es fortan nicht mehr aus den Händen geben. Aber Zeus sinnt auf Rache: Über die berühmte Büchse der Pandora gelingt es ihm alle Leiden in die Welt zu bringen, mit denen der Mensch sich fortan konfrontiert sieht. Selbstverständlich ergeht es auch Prometheus schlecht: Zeus lässt den Titanen an den Kaukasus ketten, wo ihn jeden Tag der Adler Ethon aufsucht, um seine immer wieder nachwachsende Leber zu fressen. Soweit in

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groben Umrissen die Sage. Nun darf man das Feuer als Metapher für den Geist (das ingenium) verstehen, mithin als die Befähigung, schöpferisch und kreativ zu werden. Allein der Mensch verdankt diese großartigste all seiner Fähigkeiten einem Frevel, für den er – und das ist es, worauf es Nietzsche hier ankommt – teuer bezahlen muss: Das Beste und Höchste, dessen die Menschheit theilhaftig werden kann, erringt sie durch einen Frevel und muss nun wieder seine Folgen dahinnehmen, nämlich die ganze Fluth von Leiden und Kümmernissen mit denen die beleidigten Himmlischen das edel emporstrebende Menschengeschlecht heimsuchen – müssen (…). (GT 9; KSA 1, 69; Hervorhebung – E.B.)

Somit spricht sich auch im Prometheus-Mythos die Dialektik des Tragischen aus, wonach das Schöne niemals ohne das Hässliche zu haben ist,¹⁷⁶ welcher Gedanke für Schopenhauer ethisch unerträglich ist, für Nietzsche indes gerade nicht ethisch, sondern ästhetisch betrachtet werden soll. Denn im Licht einer ästhetischen Perspektive ist es nicht nur möglich, ihn zu ertragen, sondern sogar, ihn zu bejahen. Um das Konzept der dionysischen Weisheit vor einem Missverständnis zu bewahren: Wahre dionysische Weisheit ist keine Binsenweisheit im Sinne einer simplen ästhetischen Ökonomie, die besagt, dass alles Schöne seinen Preis hat. Es geht vielmehr um die Zusammengehörigkeit von Hässlichem und Schönem bzw. von Leid und Lust. Wer das Eine will, muss auch das Andere wollen. Nun gibt es meiner Meinung nach in gewisser Weise zwei Stufen dionysischer Weisheit, die sich in Bezug auf das Worumwillen des durch den dionysisch Weisen gewollten Hässlichen konstituieren. Auf der ersten Stufe will er das Hässliche um des Schönen willen (und das Schöne um seiner selbst willen). Wer hingegen beides will, das Schöne und das Hässliche, weil er beides schön findet, hat auch die zweite Stufe dionysischer Weisheit erreicht. Ein solcher wahrhaftig dionysisch Weiser zeichnet sich durch eine tragische Weltsicht aus, die im dialektisch Prozessualen des Lebens dessen Schönheit erblickt. Sie bejaht darum nicht einfach das Hässliche um des Schönen willen. Das Leben ist in dieser Perspektive schön, so wie es ist und darum ist es in all seinen Facetten gerechtfertigt. Das Unterliegen gehört notwendig zum Siegen, ist ein integraler Bestandteil desselben und vice versa. Die ästhetische Weltsicht ist solange nicht auf ihrem Gipfelpunkt angelangt, wie noch das eine vom anderen getrennt und isoliert betrachtet wird bzw.

176 Die Götter „müssen“ strafen, heißt es oben. Damit weist Nietzsche auf einen quasi „supradivinatorischen“ Zwang hin, einen Zwang, dem sogar die Götter unterliegen. – Im antiken Griechenland glaubte man an die Schicksalsgöttinnen Klotho, Lachesis und Atropos, von denen manche antike Quellen berichten, Zeus sei ihr Herr. Die Schicksalsgöttinnen sind diesen Quellen zufolge nur diejenigen, welche die Beschlüsse des Göttervaters ausführen. Andere Quellen berichten hingegen, sogar Zeus sei der Moiren Untertan. Der Anspruch des Zeus, „der Vater der Moiren zu sein, wurde weder von AISCHYLOS noch von HERODOT oder PLATON ernstgenommen“ (Ranke-Graves 2007[1955], 40; vgl. auch 39f.). Nietzsche schließt sich in der Geburt der Tragödie den Letztgenannten an, wovon nicht nur seine ästhetische Rechtfertigungslehre zeugt – er stellt die Herrschaft der Moiren sogar explizit heraus (vgl. GT 9; KSA 1, 68).

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solange, wie die die Isolation aufhebende Zusammenschau nicht der ästhetisch letzte Schluss bzw. Blick ist. In der gebotenen Zusammenschau sind sowohl das Schöne als auch das Hässliche schön, d. h. jetzt gibt es nur noch Schönes. In seinem heißen Kern bedeutet das ästhetische Rechtfertigungsprogramm des Tragödienbuches also letztlich den kühnen Versuch, das Leid selbst als schön zu empfinden bzw. zu beurteilen.¹⁷⁷ Der Tragödie kommt dabei eine Sonderstellung zu. Zum einen nämlich spricht sie aufgrund ihrer Doppelstruktur den ganzen Menschen an, meint also beide in ihm waltenden Naturkräfte. Zum anderen steht sie als das schöne Kunstwerk, das sie ist, selbst Pate für die Schönheit des dialektischen Prozesses, welcher das Leben ist und welcher immer wieder aus sich selbst Kunstwerke hervorbringt. Die Tragödie lehrt den Zuschauer die grundlegende Lektion, der zufolge das Leiden und die Ungerechtigkeit integrale Bestandteile des Lebens sind. Zugleich aber wird das Leid in der Tragödie als lustvoll erlebt. So macht sie den ästhetisierenden Blick auf das Leid frei, also jenen Blick des dionysisch Weisen, der die Tragik des Lebens verinnerlicht hat und bejaht. Die vollendete dionysische Weisheit hat solcherart Schmerz und Leid im soeben erörterten Sinn überwunden und darüber hinaus die Ungerechtigkeit des Lebens hinter sich gelassen, wenn anders sie bereit ist, „die Unwahrheit als Lebensbedingung zu[zu]gestehn“ (JGB 4; KSA 5, 18). Ihrem Sachgehalt nach ist sie dionysisch, schließlich bejaht sie das Tragische des Lebens; der Form nach ist sie indessen apollinisch, weil jede Weisheit notwendigerweise eine aus einem betrachtenden Abstand vorgenommene Bewertung oder Prüfung des in den Blick Genommenen ist. Insofern diese Prüfung des Lebens zu einer bestimmten Lebenshaltung führt, die wiederum in eine entsprechende Lebenspraxis mündet, verbleibt die dionysische Weisheit aber nicht im apollinischen Raum reiner Theorie, sondern findet eine dionysische Anwendung: Der dionysisch Weise führt sein Leben im Zeichen der dionysischen Weisheit. Dabei ist er dank der Tragödie als herausragendes Exempel der Kunst gleich dreifach erlöst: als Erkennender, als Handelnder und als Leidender – als „ganzer Mensch“ könnte man wohl sagen: Die Kunst und nichts als die Kunst! Sie ist die große Ermöglicherin des Lebens, die große Verführerin zum Leben, das große Stimulans des Lebens. Die Kunst als einzig überlegene Gegenkraft gegen allen Willen zur Verneinung des Lebens, als das Antichristliche, Antibuddhistische, Antinihilistische par excellence. Die Kunst als die Erlösung des Erkennenden, – dessen, der den furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins sieht, sehn will, des Tragisch-

177 Damit geht Nietzsches Programm einer ästhetischen Rechtfertigung des Lebens über andere bedeutende ästhetische Rechtfertigungsversuche weit hinaus. Es sei an dieser Stelle auf Augustinus verwiesen, der sich in seiner frühen Schrift De Ordine am Beispiel eines Hahnenkampfes darum bemüht zu erläutern, wie auch das Hässliche in der göttlichen Ordnung seinen Platz findet und zur Schönheit des Gesamtbildes der Welt beiträgt. Zwar sei der Anblick des unterlegenen Hahnes für sich betrachtet hässlich und abstoßend, allerdings käme die Schönheit des siegreichen Hahnes erst vermittels des Kontrastes zum besiegten Hahn zu ihrer wahren Entfaltung. Das ganze blutige und auf den ersten Blick nicht gerade schöne Schauspiel des Kampfes werde erst jetzt, durch den weiten Blick auf das große Ganze, eigentlich schön (vgl. Ord. I, VIII, 25f.).

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Erkennenden. Die Kunst als die Erlö su ng d e s H a n d e l n d e n , – dessen, der den furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins nicht nur sieht, sondern lebt, leben will, des tragischkriegerischen Menschen, des Helden. Die Kunst als die E r l ö s u ng d e s Le i d e n d e n , – als Weg zu Zuständen, wo das Leiden gewollt, verklärt, vergöttlicht wird, wo das Leiden eine Form der großen Entzückung ist. (NL 1887–1889, KSA 13, 17[3], 521)

Diese dreifache Erlösung des Menschen, wie sie durch die Kunst erreicht werden soll, ist allerdings nur auf der zweiten Stufe dionysischer (oder tragischer) Weisheit möglich. Nur der wahrhaft oder vollendet dionysisch Weise ist auch – wenigstens theoretisch, aber dazu komme ich gleich – vom Leiden erlöst. Denn sein Verhältnis zum Leiden, das für ihn „eine Form der großen Entzückung ist“, ist ein anderes als das des dionysisch Weisen erster Stufe. Letzterer akzeptiert das Leiden, ohne es darum aber selbst für etwas Schönes zu halten. Daniel Came hat sich in seinem Aufsatz The Aesthetic Justification of Existence unter anderem der Frage angenommen, was Nietzsche eigentlich genau unter einer Ästhetisierung des Leids versteht. Came schlägt zunächst drei Möglichkeiten vor, um, nachdem er sie einzeln erwogen hat, in der dritten Position diejenige Nietzsches auszumachen. Folgende Möglichkeiten einer Ästhetisierung des Leids bietet Came uns an: (a) Suffering itself is beautiful. (b) Suffering itself is not beautiful, but it is a necessary constituent of the overall aesthetic unity of the world. (c) Suffering itself is construable as beautiful. (Came 2009, 53)

Möglichkeit (a) kann auf der Suche nach Nietzsches Position schnell und ohne große argumentative Anstrengung ausgeschlossen werden, denn sie verträgt sich nicht mit Nietzsches philosophischer Grundannahme, der zufolge es keine Werte an sich gibt. Werte sind, so die Annahme, immer relativ. Sie entspringen einer Wertsetzung durch ein wertsetzendes Subjekt und haben nur solange Bestand, wie es Subjekte gibt, die ihren Wert anerkennen. Somit verdanken Werte ihre Existenz den spezifisch menschlichen Fähigkeiten des Setzens bzw. Zuschreibens und des Anerkennens, die sich wiederum als Spielarten der Fähigkeit des Interpretierens ausweisen lassen.¹⁷⁸ Kurzum: Das Leid kann nicht objektiv schön oder wertvoll sein. Auch Möglichkeit (b) weist Came zurück, indem er mit Abschnitt 24 des Tragödienbuches argumentiert. In diesem Abschnitt sucht Nietzsche eine Antwort auf die Frage, wie „das Hässliche und das Disharmonische, der Inhalt des tragischen Mythus, eine aesthetische Lust erregen“ können, indem er eine Analogie zwischen dieser Lust und der Lust, welche die musikalische Dissonanz in uns erzeuge, herstellt. Nietzsche macht „[d]as Dionysische, mit seiner selbst am Schmerz percipirten Urlust“ als den „gemeinsame[n] Geburtsschooss der Musik und des tragischen Mythus“ aus (GT 24; KSA 1, 152). Die

178 Zum Relativismus der Werte bei Nietzsche vgl. exemplarisch Z I Ziele; KSA 4, 74–76.

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Misstöne selbst werden demnach irgendwie¹⁷⁹ als lustvoll erfahren; die Lust entsteht nicht erst dadurch, dass wir das Leid in Beziehung zu einem ästhetischen Ganzen setzen, einem Konsonanten, vor dessen Hintergrund sich die Dissonanzen verklären lassen – ebendas entspräche der zweiten von Came genannten Möglichkeit, Position (b). Der dionysisch Weise erster Stufe vertritt nun aber diese Position (b): Er rechtfertigt das Dasein und den Schmerz um des großen Ganzen willen, des überreichen Lebens, das sich seine Verschwendungssucht leisten kann.¹⁸⁰ Der dionysisch Weise zweiter Stufe, der wahrhaft dionysisch Weise, geht noch einen Schritt weiter, indem er sich an die Lust an der Dissonanz, wie er sie in der Tragödie (in der Musik und dem dargestellten Mythos) erfahren hat, erinnert und von hier aus eine tragische Weltsicht entwickelt, die kurzerhand das Leid weginterpretiert, indem sie es für schön erklärt: (c) „Suffering itself is construable as beautiful“, welche Erklärung das Resultat der oben erläuterten Zusammenschau von Schmerz und Lust ist. Damit fußt (c) genau wie (b) auf einer ästhetischen Theorie über die Welt, in der diese als ein großes und schönes Spiel gesehen wird – nicht umsonst verweist Nietzsche in Abschnitt 24 der Geburt der Tragödie auf das Welten-Kind Heraklits, das in aller Unschuld Welten ebenso fröhlich aufbaut, wie es sie zerstört (vgl. GT 24; KSA 1, 153). Diese dionysische Weltsicht ist unserer (ästhetischen) Urteilskraft abgerungen, ist eigentlich ein Willensakt, insofern es keinen objektiven Anhaltspunkt dafür gibt, dass die Lust de facto stärker ist als das Leid. Tatsächlich muss man dies wollen. Erst durch einen solchen Willensakt kann das Leid in der Lust aufgehen und aufgehoben werden. Die Erlösung vom Leid ist derart in Wahrheit eine Umdeutung des Leids in Lust. Nietzsches Beispiel, die musikalische Dissonanz, zeigt das eigentlich recht deutlich, denn eine Dissonanz ist nun einmal an für sich ein Misston und also, so viel wird man wohl zugestehen müssen, kein Vergnügen. So bringt Nietzsches gewaltiger und sein gesamtes Werk tragender Wille, das Dasein unter allen Umständen zu bejahen, bereits hier in der Tragödienschrift unter der Hand eine Prämisse hervor und macht sie sich zu nutze, die er später dann seinem großen Weisen, Zarathustra, in den Mund legt: dass Lust tiefer ist als Herzeleid (vgl. Z II Tanzlied 3; KSA 4, 285f.).

179 Nietzsche verweist hier nicht grundlos auf die Erfahrung der Musik, d. h. auf etwas Unmittelbares, das sich nicht adäquat durch die Sprache widergeben lässt, weil diese seltsame Schmerz-LustMischung zwar erfahren, aber letztlich nicht wirklich verstanden werden kann. 180 Diese erste Stufe dionysischer Weisheit bzw. Möglichkeit (b) enthält eigentlich zwei Argumente: Erstens wird das Einzelne um des Ganzen willen gerechtfertigt, zu dem das Einzelne nun einmal gehört und ohne welches das Ganze eben nicht das Ganze wäre. Zweitens wird das einzelne Schlechte oder Hässliche wegen des Kontrastes, den es zum Guten oder Schönen bildet, bejaht. Es ist dies im Grunde nicht bloß ein ästhetisches, sondern auch ein epistemologisches Argument, wonach das Gute/Schöne als solches nicht ohne sein Gegenteil erfahrbar ist.

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3.5 Von der argumentativen Überzeugungskraft einer ästhetischen Rechtfertigung des Leidens: ein kritischer Blick auf Nietzsches ästhetische Algodizee Der dionysisch Weise hält also das Dasein für ästhetisch gerechtfertigt, was, sofern Dasein (da zu sein, existent zu sein) immer (auch) zu leiden bedeutet, die Ästhetisierung des Leidens impliziert. Insofern das Faktum des Leidens aber überhaupt der eigentliche Grund für die Notwendigkeit einer Rechtfertigung ist, empfiehlt es sich hier, bei der Ästhetisierung der Agonie, das Messer der Kritik anzusetzen. Ist diese Ästhetisierung überzeugend? Und falls nicht, worin liegen ihre Schwächen?

3.5.1 Dein Leid ist nicht mein Leid und sein Leid ist nicht unser Leid Die maßgebliche Frage, die sich (der junge) Nietzsche meines Erachtens gefallen lassen muss, lautet: Ist echtes, konkretes, jenseits der Bühne, d. h. im „wirklichen“ Leben erfahrenes Leid einer ästhetischen Rechtfertigung überhaupt zugänglich? Mutet uns Nietzsche hier nicht zu viel zu? Ist seine Position nicht zu philosophisch im schlechten Sinn, d. h., zu abständig bzw. unrealistisch?¹⁸¹ Ist es, um die Frage zuzuspitzen, tatsächlich möglich, reales Leid¹⁸² schön zu finden?

181 Es ist dies im Grunde genommen eine alte Frage, der sich die Philosophie immer wieder stellen muss, wenn es um den angemessenen Umgang mit dem Leiden geht. Schon die stoische Position, wonach man über das, was nicht im Einflussbereich der eigenen Macht bzw. der freien Selbstbestimmung liegt, nicht klagen solle und wonach nicht die Dinge selbst, sondern die Meinungen, die wir uns über sie bilden, gut oder schlecht sind, stellt, wenn es um Leid und Tod geht, für unser unmittelbares moralisches Empfinden bzw. für das, was Kant in der Überschrift des ersten Teiles der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten die „gemeine[] sittliche[] Vernunfterkenntnis“ (GMS, 434) nennt, eine Provokation dar. Man lese unter diesem Gesichtspunkt Abschnitte wie die folgenden aus Epiktets Encheiridion: „Bei allem, was deine Seele verlockt oder dir einen Nutzen gewährt, oder was du lieb hast, denke daran, dir immer wieder zu sagen, was es eigentlich ist. Wenn du einen Krug liebst, so sage dir: ‚Es ist ein Krug, den ich liebe.‘ Dann wirst du nämlich nicht deine Fassung verlieren, wenn er zerbricht. Wenn du dein Kind oder deine Frau küßt, so sage dir: ‚Es ist ein Mensch, den du küßt.‘ Dann wirst du nämlich nicht die Fassung verlieren, wenn er stirbt“ (Ench., Nr.  3, 9). „Sag nie von einer Sache: ‚Ich habe sie verloren‘, sondern: ‚Ich habe sie zurückgegeben.‘ Dein Kind ist gestorben? Es wurde zurückgegeben. Deine Frau ist gestorben. Sie wurde zurückgegeben. ‚Man hat mir mein Grundstück gestohlen.‘ Nun, auch das wurde zurückgegeben. ‚Aber es ist doch ein Schuft, der es mir gestohlen hat.‘ Was schert es dich, durch wen es der Geber von dir zurückforderte? Solange er es dir zur Verfügung stellt, behandle es als fremdes Eigentum wie die Reisenden ihre Herberge“ (Ench., Nr. 11, 17). Nietzsches Position ist freilich noch radikaler, denn sie mutet uns nicht nur das „mannhafte“ Ertragen, sondern gar das Schönfinden des Leidens zu. 182 Wie Daniel Came zutreffend bemerkt, besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen einem durch das Medium der Kunst vorgeführten und einem tatsächlich erfahrenen Leid. Die Frage, ob wir einen Gefallen an Ersterem finden können, stellt sich insoweit gar nicht erst, als sie schon längst beantwor-

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Ich meine: nein! Tatsächlich handelt es sich bei Nietzsches frühem Versuch einer Rechtfertigung der Welt und des Daseins um eine „Artisten-Metaphysik“ (GT  Versuch  5; KSA  1, 17), durch welchen Begriff Nietzsche selbst in der 1886 verfassten Selbstkritik zur Geburt der Tragödie sein damaliges Erlösungskonzept aufs Korn nimmt. Das Tragödienbuch nimmt zwar das Leid des Lebens ausdrücklich ins Visier. Allerdings tut es dies aus einem gewissermaßen kosmischen (metaphysischen) Abstand zur Welt und damit auch zum Leid. Diese Abständigkeit spiegelt sich in der Situation und den Lebensumständen Nietzsches zur Zeit der Niederschrift des Buches wider: Während die Donner der Schlacht von Wörth über Europa weggiengen[Nietzsche verfasste die Schrift während des deutsch-französischen Krieges 1870/71 – E.B.], sass der Grübler und Räthselfreund, dem die Vaterschaft dieses Buches zu Theil ward, irgendwo in einem Winkel der Alpen, sehr vergrübelt und verräthselt, folglich sehr bekümmert und unbekümmert zugleich, und schrieb seine Gedanken über die Griechen nieder (…). (GT Versuch 1; KSA 1, 11)¹⁸³

Gerade während solch stürmischer Zeiten – d. h. in Zeiten des Blutvergießens, der Not und des weit um sich greifenden Leids – bietet sich an, was Nietzsche damals unternahm, nämlich „das grosse Fragezeichen vom Werth des Daseins“ (GT  Versuch  1; KSA  1, 12) zu setzen und derart die Frage nach dem Sinn des schmerzgetränkten menschlichen Leids zu stellen. Wenig verwunderlich rücken solche existenziellen Fragen vor einem zeitgeschichtlichen Hintergrund wie dem deutsch-französischen Krieg in den philosophischen Vordergrund – man denke hier auch an die Konjunktur der Theodizeefrage nach dem Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755.¹⁸⁴ Den entscheidenden Anlass zum Tragödienbuch liefert jedoch nicht der Krieg. Nietzsche nutzt vielmehr die zeitgeschichtlichen Umstände, um die Entstehung des Werkes zu stilisieren: „[E]ndlich, in jenem Monat tiefster Spannung, als man in Versailles über den Frieden berieth“, sei auch er „mit sich zum Frieden“ gekommen und habe „langsam von einer aus dem Felde heimgebrachten Krankheit genesend, die ‚Geburt der Tragödie aus dem Geiste der M u sik‘ letztgültig bei sich fest[ge]stellt“ (GT Versuch 1; KSA 1, 11f.). Nietzsche versucht mit solchen Sätzen, die Zeitgeschichte für sich auszuspielen:

tet ist, indem wir seit Jahrhunderten (auch) die Schönheit der Tragödien bewundern. Die Frage, ob es möglich ist, auch das reale Leid schön zu finden, ist hingegen bedeutend intrikater: „It is one thing to claime that there can be beautiful artistic representations of suffering; it is quite another thing to claime that real suffering can be beautiful“ (Came 2009, 52). 183 Nietzsche arbeitete damals an seiner Abhandlung Die dionysische Weltanschauung, die eine Art Vorspiel der wenig später folgenden Geburt der Tragödie darstellt. 184 Dichter und Denker wie Kleist, Lessing, Gottsched, Kant, Goethe, Rousseau und nicht zuletzt Voltaire mit seinem Gedicht Das Erdbeben zu Lissabon und seinem philosophischen Roman Candide, einer beißenden Satire auf den philosophischen Optimismus leibnizscher Prägung, haben sich durch das verheerende Ereignis herausgefordert zur Theodizeeproblematik geäußert.

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Die hervorgehobene, kontrastreiche Entsprechung von Werk und politischem Zeitereignis (…) betont die geheime weltgeschichtliche Bedeutung in der Rückspiegelung eines entscheidenden Zeitereignisses in einem scheinbar weltabgewandten Werk. (Ries 1999, 136)

So scheinbar, wie Ries behauptet, ist die Weltabgewandheit des Werkes aber gar nicht – woran auch die Erwähnung des eigenen Leidens, der Hinweis auf die eigene Krankheit nichts ändert. Wirklich darf von Weltabgewandtheit im Sinne einer „Leidabgewandtheit“ gesprochen werden. Gewiss, das Leid steht im thematischen Mittelpunkt der Tragödienschrift, wohlgemerkt aber nicht das Leid eines bestimmten Einzelnen. Nietzsche schreibt gewissermaßen über das Leid einer anonymen dritten Person; er schreibt im Modus des Man-leidet oder des Es-wird-gelitten. So schreibt er also über ein abstraktes Leid. Die Geburt der Tragödie behandelt das Leid aus der Außenperspektive, dieweil die Haltung des dionysisch Weisen auf das am eigenen Leib erfahrene Leid Antwort geben soll: auf ein Leid aus der Innenperspektive.¹⁸⁵ Zugegeben, Nietzsche liefert eine Rechtfertigungstheorie für die Welt und das Dasein. Insoweit die Welt gerechtfertigt werden soll, ist die Perspektive der dritten Person nicht nur angemessen, sondern sogar dringend geboten. Auch die nachgerade göttliche Abstraktionsebene, die Nietzsche versuchsweise einnimmt, wenn er die Welt aus der Sicht des Ur-Einen betrachtet, ist vor diesem Hintergrund sinnvoll; schließlich gilt es zunächst einmal, die Welt als Ganze irgendwie in den Blick zu bekommen  – was einem endlichen Erkenntnissubjekt freilich nur versuchsweise möglich ist.¹⁸⁶ Im Falle des Rechtfertigungsversuchs des Daseins halte ich die Perspektive des anonymen Man allerdings für heikel, und zwar aufgrund ihrer Ausschließlichkeit. Dass Nietzsche die Innenperspektive des Leids nicht berücksichtigt, zumindest nicht ausdrücklich, ist ein wesentliches Versäumnis, gerade wenn man bedenkt, dass sich die Rechtfertigungsfrage nicht nur an kollektivem und derart anonymem Leid entzündet, wie im Falle des angesprochenen Erdbebens von Lissabon, sondern auch und zumal am konkreten Leid eines bestimmten Einzelnen, wie z. B. an der Agonie Hiobs. Die Rechtfertigungsfrage muss deshalb, so sie denn erschöpfend behandelt werden soll, in eine Reihe von Unterfragen zergliedert werden: (1.) Wie lässt sich die Welt als Ganze rechtfertigen? (2.) Wie lässt sich das Dasein rechtfertigen? (3.) Wie lässt sich das Dasein eines bestimmten Einzelnen, einer bestimmten Person, die es mit einem konkreten, realen Leid zu tun hat, rechtfertigen? Und endlich (4.): Wie lässt sich mein Dasein angesichts meines resp. des von mir erlittenen Leidens rechtfertigen? Eine überzeugende Rechtfertigungstheorie muss alle diese Unterfragen bedenken und soweit wie möglich auch alle beantworten können. Dieser hohen Anforderung wird

185 Vgl. hierzu Came 2009, 52. Das Leid, das der Zuschauer in der Tragödie erfährt, ist ein Mit-Leiden mit dem Helden und als solches schon nicht unmittelbarer Natur. Hinzu kommt freilich, dass es sich überhaupt nur um ein vorgeführtes Leid handelt. 186 Vgl. zur Welt als Ganzer als Erkenntnisobjekt Gabriel 2008, zumal 11–23.

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Nietzsches Tragödienbuch aber nicht gerecht, weil es (4.) in angemessener Weise überhaupt nicht thematisiert. Zwar habe ich mich im Vorangegangen darum bemüht zu zeigen, inwiefern Nietzsches Geburt der Tragödie für den einzelnen Menschen eine Antwort auf seinen persönlichen Daseinsekel sein kann; inwieweit man sie also für (4.) fruchtbar machen kann. Und ich behaupte nach wie vor, dass dieses Buch (unter anderem) auch von Nietzsche selbst als eine Schrift gegen den Nihilismus, der hier als Pessimismus und Daseinsekel (bzw. Ekel am Dasein) gedacht wird, konzipiert ist. Allein die oberflächliche, stets allgemeine Thematisierung des Leids ist augenfällig. An einer Innenperspektive des Leids versucht sich Nietzsche am ehesten noch, wenn es um das Leid des Ur-Einen geht. Es scheint, als wäre Nietzsche dieser Mangel zu einem späteren Zeitpunkt selbst aufgegangen. In der Tragödienschrift ist noch der Weltwille der mehr oder weniger heimliche Held. Nur als „Handlanger“ des Ur-Einen wird dem Menschen überhaupt ein Wert zugeschrieben. Spätestens im Zarathustra lässt sich jedoch ein „Erstarken der anthropologischen Perspektive“ (Meyer 2003, 290) beobachten. Der Individualwille wird endlich zur entscheidenden Größe: Im Zarathustra (1883/85) ist im Grunde nicht mehr der Weltwille, sondern der Individualwille das kreative Agens. Es ist Zarathustra, das schaffende Subjekt, das den „Übermenschen“ hervorbringen soll bzw. ihn als regulative Idee verkündet. Der Mensch erscheint weiterhin als Mitspieler im großen Weltenspiel. Aber er ist der entscheidende Mitspieler, denn er hat die Möglichkeit, dem Dasein neue Ziele zu setzen (…). Nicht mehr ein impersonales Es, eine überindividuelle Mächtigkeit, sondern das personale Subjekt, das kreative Ich, ist nun das primäre Subjekt des Spiels. (Meyer 2003, 290)

Die Innenperspektive des Leids lässt sich als Schriftsteller streng genommen nur dann berücksichtigen, wenn man über sein eigenes Leid schreibt, d. h. über den am eigenen Leib und/oder der eigenen Psyche erfahrenen Schmerz. Und auch diese Perspektive ist natürlich sogleich wieder gebrochen, wenn die Zeilen von einem anderen als dem Leidenden selbst gelesen werden. Denn Leid ist inkommensurabel. Bei Schopenhauer heißt es, das Wollen geschehe nur im Individuum.¹⁸⁷ Das Gleiche lässt sich auch vom Leiden sagen. Es ist mit anderen Worten etwas höchst Individuelles. Obschon viele der Lebensvollzüge, die wir, jeder für sich, alltäglich ausführen, auch von anderen Menschen ausgeführt werden können, obwohl wir also im alltäglichen Miteinander für den anderen einspringen können – z. B. kann man sich im Beruf gegenseitig vertreten, Schichten miteinander tauschen etc.¹⁸⁸  – gibt es Seinsweisen oder -möglich-

187 „(…) und das Wollen selbst geht stets nur im Individuo vor“ (WWV II, 678). 188 „Zu den Seinsmöglichkeiten des Miteinanders in der Welt gehört unstreitig die Vertretbarkeit des einen Daseins durch ein anderes. In der Alltäglichkeit des Besorgens wird von solcher Vertretbarkeit vielfältig und ständig Gebrauch gemacht. Jedes Hingehen zu…, jedes Beibringen von… ist im Umkreis der nächstbesorgten ‚Umwelt‘ vertretbar. Die weite Mannigfaltigkeit vertretbarer Weisen des In-derWelt-seins erstreckt sich nicht nur auf die abgeschliffenen Modi des öffentlichen Miteinander, son-

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keiten, die schlechterdings unvertretbar sind. Sie sind gekennzeichnet durch „Jemeinigkeit“. Es ist Heidegger, der auf diesen Umstand aufmerksam macht, indem er den Tod als die „eigenste“, „unbezügliche“, „unüberholbare“, „gewisse“ und „unbestimmte“ Möglichkeit darstellt,¹⁸⁹ wobei es mir im vorliegenden Kontext nur auf den Tod als eigenste Möglichkeit ankommt. Heidegger meint mit dieser vielfachen Bestimmung schlicht das Faktum, dass „[k]einer (…) dem anderen sein Sterben abnehmen“ kann. Der Tod ist also unvertretbar. Zwar räumt Heidegger ein, man könne für einen anderen in den Tod gehen. „Solches Sterben für…“ könne „aber nie bedeuten, dass dem anderen damit sein Tod im Geringsten abgenommen sei“ (Heidegger 2006[1927], 240) – die Binsenweisheit: „Aufgeschoben ist nicht aufgehoben“, offenbart vor diesem Hintergrund einen äußersten existenziellen Ernst. Was für den Tod gilt, nämlich dass er „nicht indifferent nur dem eigenen Dasein zu[gehöre], sondern (…) dieses als einzelnes“ beanspruche, das „Dasein auf es selbst“ vereinzele (Heidegger 2006[1927], 263), hat Gültigkeit auch für das Leid. Genau wie der Tod ist es unvertretbar und ebenso wie dieser konfrontiert es den Einzelnen radikal mit sich selbst. Die Ausweich- und Fluchtbewegung, die Heidegger dem Menschen in dessen gewöhnlichem Umgang mit dem Tod nachweist – indem wir davon zu sprechen pflegen, dass „man“ stirbt, verdecken wir uns die zu jedem Zeitpunkt unseres Lebens gegebene Möglichkeit, dass wir sterben können, d. h. wir verschließen die Augen vor unserem je eigenen Tod –, das „verdeckende Ausweichen“ (vgl. Heidegger 2006[1927], 255),¹⁹⁰ lässt sich sehr

dern betrifft ebenso die auf bestimmte Umkreise eingeschränkten, auf Berufe, Stände und Lebensalter zugeschnittenen Möglichkeiten des Besorgens. Solche Vertretung aber ist ihrem Sinne nach immer Vertretung ‚in‘ und ‚bei‘ etwas, das heißt im Besorgen von etwas. Das alltägliche Dasein versteht sich aber zunächst und zumeist aus dem her, was es zu besorgen pflegt. ‚Man ist‘ das, was man betreibt. Bezüglich dieses Seins, des alltäglichen Miteinanderaufgehens bei der besorgten ‚Welt‘, ist Vertretbarkeit nicht nur überhaupt möglich, sie gehört sogar als Konstitutivum zum Miteinander. Hier kann und muß sogar das eine Dasein in gewissen Grenzen das andere ‚sein‘“ (Heidegger 2006[1927], 239f.). 189 Vgl. zu dieser Bestimmung des Todes Heidegger 2006[1927], § 53, 260–267. 190 Auch der französische Philosoph Vladimir Jankélévitch behandelt in seinem umfangreichen Buch Der Tod den fundamentalen Unterschied der Bedeutung des Todes für den Menschen, je nachdem aus welcher Perspektive man auf den Tod blickt. (Nebenbei bemerkt: Heideggers berühmt-berüchtigte Philosophie eines „Seins zum Tode“ bzw. eines Verständnisses von Existenz als „Vorlauf des Todes“ spielt in Jankélévitchs Monografie überraschenderweise keine Rolle – zumindest nicht explizit.) Im Übrigen thematisiert er nicht nur den Tod der ersten und der dritten Person, sondern widmet sich auch der Bedeutung des Todes des Du, also dem Tod in der zweiten Person. Ebenso wie Heidegger bemerkt auch Jankélévitch, dass uns die Betrachtung des Todes in der dritten Person als Ruhekissen dient, zumal wenn wir konkret mit dem eigenen Tod konfrontiert werden, z. B. wenn wir schwer oder gar unheilbar erkranken: „Der Tod in der DRITTEN PERSON ist der Tod im allgemeinen, ist der abstrakte und anonyme Tod oder der eigene Tod im Sinne eines unpersönlich und konzeptuell begriffenen Todes, so wie ein Arzt etwa seine eigene Krankheit begreift, seinen eigenen Fall untersucht und seine eigene Diagnose stellt: denn auch Ärzte können krank sein, dabei aber Arzt bleiben und in sich vereinigen, worin sie einbezogen sind, und sich die gelassene Bewußtheit ihrer eigenen Tragödie bewahren (…) der Tod in der dritten Person ist problematisch, jedoch nicht mysteriologisch. Er ist ein Gegenstand wie jeder andere, den man medizinisch, biologisch, sozialwissenschaftlich oder demographisch beschreiben kann

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wohl auch in Nietzsches Tragödienschrift entdecken, insofern Nietzsche nicht nach (4.) fragt, der Rechtfertigung des eigenen agonalen Daseins. Durch dieses Unterlassen deckt Nietzsche aber eine entscheidende Dimension des Leids zu. Man könnte hier einwenden, dass der dionysisch Weise doch gerade darin weise sei, dass er willens und fähig sei, das eigene Leid im Ernstfall zu verklären. Wenn er also einmal tatsächlich am eigenen Leib leide, könne er auf die Erfahrung des (vor)gespielten Leids der Tragödie zurückgreifen und sein eigenes Leid vor dem theoretischen Hintergrund der ästhetischen Weltsicht, die er der Tragödienerfahrung abgewonnen hat, betrachten, wodurch es relativiert und idealiter sogar in der Lust aufgehoben werde. Dieser Einwand übersieht jedoch, dass bloß vorgestelltes und de facto erlittenes Leid zwei streng voneinander zu unterscheidenden Kategorien angehören. Es ist schlechterdings unrealistisch, dass der Weise das reale Leid, etwa eine schmerzhafte Krankheit, plötzlich als Lust empfindet, nur weil er es anders (weiser) perspektiviert als derjenige, der entweder noch keine Tragödienaufführung besucht hat oder, wenn er doch in den Genuss einer solchen Aufführung gekommen sein sollte, daraus doch nichts „gelernt“, d. h. kein tragisches Bewusstsein entwickelt hat. Alles, was er tun kann, ist, sich vorzuhalten, dass sein Leid einen Sinn hat. Den erhält es freilich nur als Teil eines ästhetischen Ganzen, genau „so, wie das Schicksal der Menschen in den Tragödien seine Bedeutung als Element einer künstlerischen Konzeption gewinnt“ (Liessmann 2009, 324). Damit verklärt er sein Leid im Rahmen einer Theorie des Man-leidet. Er tritt aus sich selbst heraus, um das eigene Leid zu ästhetisieren, indem er die eigene Agonie auf der Folie des ästhetischen Weltbildes betrachtet. Diese Ästhetisierung muss aber, davon bin ich überzeugt, unvollständig bleiben. Es ist eine andere, minder komplexe, als die Ästhetisierung des Leids, die dem Tragödienbesucher gelingt, der das vorgeführte Leid lustvoll erlebt. Dessen Katharsis, wenn mir dieser traditionsbeladene Ausdruck hier gestattet ist, ist mehrdimensionaler Natur. Um mich genauer zu erklären, will ich eine kurze etymologische Betrachtung anstellen bzw. eigentlich eher einen Hinweis geben. Bekanntlich geht der Begriff „Ästhetik“ ursprünglich auf das griechische Wort „aisthesis“ zurück, was üblicherweise im Deutschen mit „Wahrnehmung“ übersetzt wird. Genauer noch ist mit diesem Begriff, wie man bspw. bei Platon und Aristoteles nachlesen kann, die Wahrnehmung vermittels sinnlicher Eindrücke bezeichnet (vgl. Meyer/

und der dann der Gipfel der tragischen Objektivität ist. Das Ich in dieser Angelegenheit wird zum anonymen und kopflosen Subjekt, das eben kein Glück hatte und das das Los zum Krepieren verurteilte.“ Ganz anders verhält es sich beim Tod im Hinblick auf die erste Person: Ist die dritte Person „das Prinzip der Gelassenheit“, so ist „die ERSTE PERSON zweifellos eine Quelle der Angst“ (Jankélévitch 2005, 35). Denn: „Der Tod in der ersten Person ist ein Geheimnis, das mich zutiefst und in meiner Ganzheit (…) betrifft: ich bin eng mit dem Geheimnis verknüpft und unfähig, dem Problem gegenüber Distanz zu wahren. Mea res agitur. Um mich handelt es sich, um mich, der ich vom Tod beim Namen gerufen und am Ärmel gezupft werde, ohne daß ich zum Nachbarn schielen dürfte; Ausflüchte sind mir jetzt ebenso verwehrt wie Aufschübe, ein Vertagen auf später, Alibis oder das Übertragen auf einen anderen, kurz, alles, was dem Betroffenen hätte Luft verschaffen können, ist jetzt unmöglich geworden. Die gesichtslose dritte Person kann mir nicht mehr als Vorwand dienen“ (Jankélévitch 2005, 35f.).

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Regenbogen 1998, 46f.). In der Tragödie erlebt der Zuschauer das Leid des Helden mit all seinen Sinnen, er sieht die Handlung, hört die Musik sowie den Dialog und empfindet dabei jenes angesprochene seltsame Gefühl von Lust und Unlust, das aber nicht zuletzt auch im Sinne einer purgativen Katharsis als Entladung von überstrapazierten Empfindungen vorzüglich der Lust zugehört. Somit wird hier die ganze Palette der Aisthesis bedient, und zwar im Zeichen der Lust. Letzteres ist jedoch nur möglich, weil es sich um fremdes Leid handelt, das Leid einer dritten Person, das zwar als eigenes imaginiert wird, deswegen aber doch faktisch nicht auch zu eigenem Leid wird, sondern ein fremdes bleibt. Es ist ein Leid der bloßen Möglichkeit, das vor allem deshalb Lust bereiten kann, weil es das meine sein könnte, aber nicht ist. Die Tragödie hebt die „Differenz von realem Leid und imaginierten Leid“ (Liessmann 2009, 325) nie vollständig auf, was sie grundsätzlich auch nicht kann, weil es in der Tragödie immer eine apollinische Brechung des dionysischen Allempfindens gibt und das Leid als unvertretbare Seinsweise radikal auf die Herrschaft des Individuationsprinzips in der Welt als Vorstellung verweist. Das Problem einer ästhetischen Rechtfertigung der Welt ist also das Folgende: Ich leide an meiner Einzelheit, könnte dieses Leid aber theoretisch überwinden, indem ich mich als Teil einer Allheit fühle und begreife, unterdessen werde ich jedoch nirgends erbarmungsloser auf mich selbst in meiner Einzelheit zurückgeworfen, als im Leid (und Tod). Aus diesem Grund bleibt die ästhetische Rechtfertigung des Leids notwendig unvollständig, weil sie keine Anwendung auf mein aktuales Leid findet. Dieses kann ich immer nur als schön sehen, was nur einen Teil meiner Aisthesis ausmacht, nicht aber tatsächlich auch als schön empfinden, wie in der Tragödie. In dieser Verengung der Aisthesis auf das Sehen, die freilich mit einem noetischen Sehen, d. h. also einem Betrachten im Sinne von Beurteilen verknüpft ist, wohnt Nietzsches frühem Rechtfertigungsprogramm eine gefährliche Tendenz inne: die Verharmlosung des Leids durch die Vernachlässigung der Ich-Perspektive. Konrad Paul Liessmann hat in einer den „schwarzen Seiten“ von Nietzsches Denken gewidmeten Monografie auf diese Tendenz hingewiesen, wenn er die Umsetzung von Nietzsches ästhetischem Programm in den modernen Medien erkennt: Während wir uns fast nur noch theoretisch darüber entsetzen können, wie es Menschen möglich war, in diesem Jahrhundert[dem 20. Jhd. – E.B.] Täter und Zeugen der grauenhaftesten Verbrechen am Menschen und an der Menschheit zu sein, haben wir selbst kaum Schwierigkeiten, Morde und Massaker als Bereicherung unseres täglichen Abendgestaltungsprogrammes über die Bildschirme flimmern zu lassen. Was man nur sieht, ist, vor allem in seiner Überfülle, immer auch erträglich. Die Pointe der modernen Medien besteht in diesem Zusammenhang nicht nur darin, uns von der Anstrengung der Phantasie zu befreien, sondern auch in der Tendenz, die Wirklichkeit in letzter Instanz zu einem nur noch Sichtbaren zu machen, so sehr, daß in einem technischen Sinne das Schopenhauerische Sein tatsächlich durch ein Sehen ersetzt wird. Daß die Wirklichkeit sich in den von Medien erzeugten Bildern und ihren Interferenzen auflöst, (…) läßt sie als nur mehr sichtbare zu einer im Wortsinn ästhetischen Angelegenheit werden (…). Die Welt und das Dasein sind ewig gerechtfertigt – solange sie als Momente medialer Prozesse erscheinen. (Liessmann 2009, 326)

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3.5.2 Das ernst genommene Leid des Einzelnen: der stoische Weise Die tragische Weisheit des dionysisch Weisen verbirgt sich den tragischen Grundcharakter des Lebens gerade nicht. So besteht sie also nicht in einem Weggucken und Abwenden. Vielmehr ist der tragische Grund der Welt der Boden, aus dem die Weisheit überhaupt wächst, insofern er das Problem ist, dem sie sich stellt. Es handelt sich hier um ein Problem, vor das sich der Mensch in seinem Leben zwangsläufig irgendwann einmal gestellt sieht  – spätestens angesichts des nahenden Todes. Es liegt demnach in der Natur dieses Problems, irgendwann existenziell dringlich zu werden, wodurch aus dem Problem eine Aufgabe wird. Die Grundvoraussetzung der tragischen Weisheit, die zugleich schon ein Teil derselben ist, besteht darin, das Problem als Aufgabe zu erkennen. Dementsprechend blickt der dionysisch Weise entschlossen in die Abgründe des Lebens. Nietzsches erster großangelegter Rechtfertigungsversuch des Daseins stützt sich nun aus zwei Gründen auf den Hellenismus. Der erste Grund liegt in der engen Koppelung von Philosophie und Weisheit, wie sie für die Antike bezeichnend ist. Der antike Philosoph ist ein Weiser, weil für ihn die philo-sophia, die Liebe zur Weisheit, (s)eine Lebensform bedeutet und nicht bloß irgendeinen Teil seines Lebens betrifft, so als würde es sich um einen Beruf, eine Art Zeitvertreib oder etwas Ähnliches handeln. Das Wort Pierre Hadots, dem zufolge „die moderne Philosophie mehr und mehr zu einem Diskurs eines Professors geworden ist“, gilt mindestens in Ansätzen auch schon für Nietzsches Zeitalter. Die antike Philosophie hingegen ist „eine Art zu leben“ (Hadot 2005, 10). Sie hat ausdrücklich einen existenziellen Charakter. Auch für Nietzsche darf die Philosophie nicht ihres existenziellen Charakters beraubt, nicht vom Leben losgelöst zu einer Art weltabgewandtem Glasperlenspiel werden. Er verlangt von seinem dionysisch Weisen die Entwicklung einer philosophischen Grundhaltung, welche die Basis bilden soll, auf der dieser sein Leben führt. Soweit der erste Grund von Nietzsches Rekurs auf die Antike. Der zweite bezieht sich auf den tragischen Charakter der Weisheit, genauer: auf das Verständnis der Tragik des Lebens als eine Aufgabe, der man sich stellen muss. Wie gesehen, entdeckt Nietzsche in der griechischen Kunst einen dunklen Untergrund, auf dem sie sich strahlend (bzw. umso strahlender) erhebt, nämlich den griechischen Pessimismus, der sich in der Volksweisheit des Silen ausspricht. Insbesondere die Tragödie steht in Nietzsches Augen, indem sie im tragischen Mythos die Leiden der und an der Individuation thematisiert, für einen redlicheren Umgang mit dem Leben als dies in der darauffolgenden, vom sokratischen Optimismus getragenen abendländischen Geistesgeschichte der Fall ist. In der attischen Tragödie ist jener „Pessimismus der Stä rke“ am Werk, dem Nietzsche im Tragödienbuch nachfragt. Es ist also wenig verwunderlich, dass sich Nietzsche für seinen eigenen Angang des als Aufgabe empfundenen Agonie-Problems Vorbilder sucht, die sich durch eine extraordinäre Empfindsamkeit für das Leid und eine „versucherische Tapferkeit des schärfsten Blicks“ auszeichnen; eine Tapferkeit, „die nach dem Furchtbaren verlangt , als nach dem Feinde, dem würdigen Feinde,

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an dem sie ihre Kraft erproben kann“ (GT Versuch 1; KSA 1, 12). Jedoch, wenn Nietzsche die Griechen zu Recht für ihre besondere Sensibilität lobt, dann müssten sich doch auch andere Lösungsversuche bzw. Arten des Umgangs mit dem Leid bei ihnen finden lassen als der von Nietzsche zum Königsweg ausgerufene Weg der Tragödie. Es müsste doch neben dem Weg der Tragiker auch ein philosophisches Konzept geben, welches das Leid, anders als die „Optimisten“ Sokrates und Platon, ernst nimmt. Und in der Tat, es gibt solche Alternativwege. Ich werde im Folgenden kurz den stoischen Weisen als „Konkurrenzmodell“ zum dionysisch Weisen vorstellen,¹⁹¹ und dabei immerhin zu bedenken geben, dass die Stoiker im Hinblick auf das Ernstnehmen des Leids, d. h. mit Fokussierung auf die im vorangegangenen Kapitel entfaltete Problematik der Innenperspektive des Leidens, womöglich ein Modell entwickelt haben, das überzeugender ist als Nietzsches ästhetischer Rechtfertigungsversuch. Wie Hadot geltend gemacht hat, gibt es eine geistesgeschichtliche Tradition des „Blicks von oben“ (vgl. Hadot 2005, 123–135). Im Grunde handelt es sich dabei um eine Geschichte des philosophischen Blicks, der im Gegensatz zum „natürlichen Blick“¹⁹² nicht bei den Dingen der Welt verweilt oder in ihnen aufgeht, sondern hinter sie zurücktritt, um sie aus der Distanz mit nüchternem und neutralem Auge anzusehen. Der philosophische Blick trägt das sehnsuchtsvolle Bemühen um kritische Objektivität in sich. Diese Objektivität soll in der antiken Philosophie, der es als Lebensform vorzugsweise um das gute Leben zu tun ist, durch eine Relativierung der Bedeutung der menschlichen Angelegenheiten in Anbetracht der unermesslichen Größe des Alls einen lebenspraktischen Nutzen haben. Sie soll idealerweise zu einer heiteren Gelassenheit als Grundstimmung des Lebens führen. Die Traditionslinie des philosophischen Blicks führt in der Folgezeit zwar immer weiter von diesem praktischen Grundanliegen ab und über die kritische Philosophie Immanuel Kants (aus der man allerdings auch ein Primat des Praktischen herauslesen kann) auf jenen gegenwärtigen Status quo der Philosophie als „Professoren-Diskurs“ hin. Unterdessen führt sie auch, in einer sich der philosophischen Gelassenheit erinnernden Abzweigung, zu Goethes Verständnis von wahrer Poesie. Die wahre Dichtung soll uns nach Goethe derart beflügeln, dass wir während einer Art Seelenflug die für gewöhnlich auf der Seele lastende Erdenschwere hinter und unter uns lassen: Die wahre Poesie kündigt sich dadurch an, daß sie als ein weltliches Evangelium, durch innere Heiterkeit, durch äußeres Behagen, uns von den irdischen Lasten zu befreien weiß, die auf uns drücken. Wie ein Luftballon hebt sie uns mit dem Ballast, der uns anhängt, in höhere Regio-

191 Es wird dabei nicht das ganze Bild des stoischen Weisen entfaltet, was hier unnötig ist. Es geht mir allein um den Umgang der Stoiker mit dem Leid. 192 Ich spreche vom natürlichen Blick als dem gewöhnlichen Blick, den der Mensch zunächst und zumeist und insofern also natürlicherweise auf die Welt wirft, auf seine Umwelt als das ihn unmittelbar Umgebende und Angehende. Für die Stoiker hingegen bedeutet der Blick von oben den natürlichen Gesichtspunkt, weil sie damit den Blick vom Standpunkt der Natur aus meinen. Was ich unter dem natürlichen Blick verstehe, bezeichnen sie als die menschliche Sehweise.

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nen, und läßt die verwirrten Irrgänge der Erde in Vogelperspektive entwickelt vor uns daliegen. (Goethe, zit. nach Hadot 2005, 124)

Was bei Goethe so fröhlich und im wahrsten Sinne des Wortes unbeschwert klingt, lässt sich allerdings nicht so leicht realisieren, wie die obigen Zeilen suggerieren. Denn die Gelassenheit soll die Folge eines richtigen Verständnisses der Wirklichkeit sein,¹⁹³ und das stellt sich nur dann ein, wenn sich der Blick von oben weniger romantisch gebärdet als etwa in Joseph von Eichendorffs berühmtem Gedicht Mondnacht, das von einem stillen und erhabenen Flug der Seele berichtet, die mit weit ausgebreiteten Flügeln über allen irdischen Dingen schwebt. Die Griechen wussten jedoch, dass der Blick von oben auch ein scharfer, schneidender Blick sein muss, der sich „erbarmungslos auf die menschlichen Unzulänglichkeiten und Schwächen richtet“ (Hadot 2005, 130). Das menschliche Leben soll „aus der Perspektive der Allnatur“ gesehen werden, von der aus es sich als „ein anonymes Gewimmel“ darstellt (Hadot 2005, 131).¹⁹⁴ Dem Stoiker Marc Aurel offenbart sich aus der mittels der Imaginationskraft eingenommenen kosmischen Vogelperspektive ein Anblick, der für sich betrachtet, d. h. ohne die Einbettung in das stoische Lehrgebäude, bestens zu einem Manifest des Nihilismus taugen würde. Einige Kostproben aus den Selbstbetrachtungen des stoischen Philosophen und Kaisers seien an dieser Stelle dargeboten: Die Zeit ist ein Fluß, ein ungestümer Strom, der alles fortreißt. Jegliches Ding, nachdem es kaum zum Vorschein gekommen, ist auch schon wieder fortgerissen, ein anderes wird herbeigetragen, aber auch das wird bald verschwinden. (SB, IV, 43, 54f.) Denke oft daran, wie schnell alles, was ist und geschieht, fortgerissen und entrückt wird. (…) Fast nichts hat Bestand, und uns nahe liegt jener gähnende Abgrund der Vergangenheit und Zukunft, in dem alles verschwindet. (SB, V, 23, 69) Betrachte die ganze Natur, wovon du nur ein winziges Stücklein bist, und das ganze Zeitmaß, von dem nur ein kurzer und kleiner Abschnitt dir zugemessen ist, und das Schicksal, wovon das deinige nur einen Bruchteil bildet. (SB, V, 24, 70)

193 Ein Charakteristikum der antiken Philosophie ist die Überzeugung, „man könne eine Haltung finden, die einen ein für allemal in ein richtiges Verhältnis zur Wirklichkeit setzt“ (Horn 1998, 148). Von dieser Überzeugung getragen, glauben die antiken Philosophen daran, dass sich das gute Leben lernen lässt. Dementsprechend bedeutet Philosophie, z. B. für die Stoiker, eine Übung mit dem Ziel, ein gutes Leben zu führen: „Die Stoiker bekunden es ausdrücklich: Für sie stellt Philosophie eine ‚Übung‘ dar. In ihren Augen besteht die Philosophie nicht in der Lehre einer abstrakten Theorie, noch weniger in der Auslegung von Texten, sondern in einer Lebenskunst, einer konkreten Haltung, einem festgelegten Lebensstil, der sich auf die ganze Existenz auswirkt“ (Hadot 2005, 15). 194 Möglich wird diese Betrachtung, laut den Stoikern, durch die menschliche Imaginationskraft bzw. die Phantasie. Diese ist einmal ein Erkenntnisorgan: Die kataleptische Phantasie stellt fest, dass etwas der Fall ist. Sodann ist es dank der Phantasie möglich, sich in die verschiedensten Perspektiven hinein zu versetzen und sich die verschiedensten Dinge vorzustellen (vgl. zur Rolle der Phantasie bei den Stoikern Kobusch 2002).

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   Die Geburt der Philosophie aus dem tragischen Gedanken

Das sollte genügen, um Theo Kobusch zuzustimmen, wenn er in Marc Aurel einen geistigen Vorfahren Schopenhauers und Nietzsches erkennt: Es ist das ewig gleiche Spiel der Natur, in das du mit hinein gehörst. Die ewige Wiederkehr des Gleichen, ohne Geschichte, ohne Fortschritt, ohne Sinn, ohne Endziel – niemand vor Schopenhauer und Nietzsche hat das so eindrücklich dargestellt wie Marc Aurel. (Kobusch 2002, 17)

In Ansehung der Unermesslichkeit des Kosmos ist die Existenz des einzelnen Menschen bedeutungslos. Was mehr ist der Mensch in dieser Sicht als bloß ein Bruchteil des Schicksals, Asche im Wind gleichsam? Kaum dass er geboren wurde, ist es auch schon wieder an der Zeit für ihn zu sterben – ein (Moll)Thema, das auch Nietzsche immer wieder anzustimmen weiß. Tatsächlich mündet diese tragische Weltsicht bei den Stoikern aber nicht in Verzweiflung. Sie sind keine Nihilisten. Statt dem Leben abzuschwören oder es in einem verzweifelten Akt trotziger Selbsterhöhung zu verurteilen, dient die Betrachtung des Lebens des einzelnen Menschen vom höheren Standpunkt des Kosmos, die hier solche prima facie ernüchternde Ergebnisse zeitigt, dem „Zweck der angemessenen Selbsteinschätzung“. Der Blick von oben „vermittelt unter der Perspektive des Todes das Sicheinpassen in die Natur“ (Kobusch 2002, 16). Wer erst einmal erkannt hat, dass alle irdischen Dinge vergänglich sind, wird sich selbst, wie die Stoiker meinen, nicht mehr über Gebühr wichtig nehmen. Diese Einstellung hat einen positiven Effekt. Die stoische Bescheidenheit macht den Menschen weniger anfällig gegenüber immer möglichen Schicksalsschlägen. Wer sich stets vor Augen hält, dass alles Irdische am Ende des Tages doch nur Schall und Rauch ist und den Verlust geliebter Dinge kraft der Phantasie im Gedanken in ständiger Übung vorwegnimmt (Praemeditatio malorum), den wird ein tatsächlicher Verlust nicht mehr so leicht aus der Bahn werfen. Der Stoiker wird auf diese Weise  – idealiter  – beinahe immun gegen das Leid. Was er gelernt und habitualisiert hat, ist die richtige Meinung über die Dinge: Er weiß, was in unserer Macht steht (unsere Meinungen) und was sich unserer Verfügungsgewalt entzieht (die Dinge/Ereignisse selbst). Zudem weiß er, dass man sich um das, was nicht in unserer Macht steht, was sich der Sphäre unserer Freiheit entzieht, nicht zu be-kümmern braucht. Mehr noch: Er ist sich bewusst, dass solche Kümmernis nicht zugelassen werden darf, weil sich gerade in ihr das falsche Weltverständnis offenbart. Die ausschließliche Konzentration auf die Dinge, die in unserer Macht stehen, ist die Grundregel stoischer Weisheit. Es gilt, sie durch ständige geistige Anspannung oder Wachsamkeit (prosoche) stets präsent zu halten, so dass sie in den einzelnen Lebenssituationen, vor allem in den heiklen und diffizilen, „mit der Sicherheit und Beständigkeit eines Reflexes angewendet werden kann“ (Hadot 2005, 17). Ebendiese quasi instinktive Anwendung der Grundregel auf die Einzelfälle des Lebens zeichnet den stoischen Weisen aus. Sie macht seine Weisheit zu etwas Praktischem. Wie Nietzsches dionysisch Weiser stellt er das Leid des Einzelnen vor den Hintergrund eines größeren Ganzen. Er agiert aus einer, im stoischen Sinne des Wortes, „natürlichen“ Perspektive auf die Dinge, wodurch das

Nietzsches ästhetische Algodizee   

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Leid relativiert und in gewisser Weise – wenigstens in der Theorie – sogar dementiert wird. Dies geschieht dadurch, dass der stoische Weise das, was den Menschen im Leben zustößt, grundanders taxiert, als es die „menschliche“ Sichtweise nahelegt. Der Weise bewertet Geschehnisse, auf deren Faktizität er keinen Einfluss hat, nicht als ein Gut oder ein Übel, sondern schlicht als etwas, was vom Schicksal gewollt ist. Ein Leid, das ihm geschieht, ist demnach, weil es ihm nolens volens widerfährt, kein Übel. Gut oder schlecht sind eben nur unsere Meinungen über die Dinge, insoweit sie in den Bereich unserer Willensfreiheit gehören. Allein in diesen Bereich verlegt der Stoiker die ethische Differenz zwischen Gut und Böse. Während Nietzsche eine ästhetische Relativierung des Leids betreibt, nehmen die Stoiker also eine ethische Relativierung desselben vor. Im Grunde aber ähneln sich beide Strategien, weswegen sie auch mit demselben Mangel behaftet sind: Nur weil ich mein Leiden anders bewerte, als es die menschliche Sichtweise nahelegt (wenn nicht gar verlangt), wird es nicht automatisch zu einer Lust (dionysische Weisheit) oder zu etwas, das mich nicht tangiert (stoische Weisheit). Somit trifft der Vorwurf, den ich Nietzsche gegenüber erhoben habe, auch die Stoiker: Eine ethische Transformation scheint mir, wenn es um das Leid aus der Innenperspektive geht, genauso abwegig wie eine ästhetische. Zumindest – und damit gelangt die Untersuchung an den Punkt, an dem die Stoiker das Leid ernster nehmen als Nietzsche, wodurch sie ihm gerechter werden als der tragische Philosoph  – ist eine solche Transformation ab einem gewissen Grad des Leides und Schmerzes abwegig. Beide Konzepte mögen das Leid generell erträglicher machen. Sie können ihm teilweise sogar den Stachel ziehen. So viel, was nicht wenig ist, sei ihnen zugestanden. Es gibt indes Grade des Schmerzes, die schlechterdings über unser menschliches Erduldungsvermögen hinausgehen. Ein so intensives Leid lässt sich nicht mehr zurückweisen und schon gar nicht transformieren. Es gibt eine Intensität von Leid, die den Tod als einzigen Erlösungsweg erscheinen lässt, zur Not sogar den nach reichlicher Überlegung selbst herbeigeführten Tod. Das mitunter unerträgliche Leid in der Ich-Perspektive ist ein Problem, dem Nietzsche in der Tragödienschrift nicht nachdenkt hat, auch nicht, indem er etwa den Selbstmord verurteilen würde. Was in Anbetracht des unbedingten Willens zur Lebensaffirmation, zum „Anti-Nihilismus“, der aus der Geburt der Tragödie spricht, wahrscheinlicher ist als eine Affirmation des Suizids. Wohl aber weiß der stoische Weise um das Problem, weswegen er denn auch den Selbstmord als Option ernsthaft in Erwägung zieht. Die stoische Position ist in holzschnittartiger, aber gebotener Kürze diese: Wenn alle Philosophie am Ende ist, dann bleibt einzig der Tod als Ausweg. Dann, aber auch nur dann, erlaubt die stoische Lehre den Suizid. „Wenn die Philosophie am Ende ist“, das bedeutet hier nicht allein ein Am-Ende-Sein, wie man der Redeweise nach mit seinem Latein am Ende ist, was der Fall ist, wenn man an einen Punkt gelangt ist, an dem man nicht mehr weiter kommt. Vielmehr muss es buchstäblich genommen werden. Die Philosophie ist hier führwahr am Ende, insofern der leidende Philosoph einen Zustand erreicht hat, in dem das Leid so unerträglich geworden ist, dass es das Philosophieren schlechterdings nicht mehr zulässt. Wenn das menschliche Urteilsver-

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   Die Geburt der Philosophie aus dem tragischen Gedanken

mögen derart durch das Leid beinträchtigt wird, dass der Leidende nicht mehr dazu in der Lage ist, gemäß den stoischen Grundregeln zu leben, dann ist der existenzielle „worst case“ eingetreten: Eine philosophische Lebenspraxis ist jetzt nicht mehr möglich.¹⁹⁵ Zu den stoischen Grundregeln gehört, gewissermaßen als erste Philosophenpflicht, die Forderung, gemäß der Natur zu leben (vgl. DL, II, VII, 86). „Gemäß der Natur“ bedeutet im stoischen Sinn aber nichts anderes als: vernünftig. So meint das Leben im Zeichen der Natur ein vernunftregiertes Leben, glauben die Stoiker doch, dass der ganze Kosmos von einer göttlichen Vernunft, dem Orthos logos, durchwaltet wird. Ist der Schmerz nun so gewaltig, dass er ein philosophisches, d. h. ein vernünftiges bzw. natürliches, kurzum: ein gutes Leben verhindert, dann heißt es, zwischen einem schlechten Leben und gar keinem Leben zu wählen. Der Freitod erscheint nun als eine naturgemäße, d. h. vernünftige, Option. Das Leid gerät dem Stoiker auf diese Weise aber unter der Hand zuletzt doch noch zu einem Übel. Wohlgemerkt, der Selbstmord ist für den Stoiker die Ultima ratio, ein Notausgang, den man, wie in der Natur der Sache liegt, nur im Falle wirklicher Not benutzen sollte.¹⁹⁶ Selbstverständlich lässt sich über die stoische Erlaubnis des Selbstmordes diskutieren, derart dass man die Frage aufwirft, ob es erlaubt sein darf, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen. Tatsächlich spielt diese Frage in den aktuellen Ethikdebatten eine Rolle. Zumal im Diskurs über die sogenannte „Sterbehilfe“ ist sie, wenn auch in veränderter Gestalt – „darf man jemanden auf dessen Verlangen hin töten, und zwar dann, wenn er aus seiner Innenperspektive heraus mitteilt, dass sein Leid zu groß sei, als dass er noch weiter leben möchte?“ – in höchstem Maße lebendig. Mir scheint die stoische Position auch heute noch bedenkenswert, eben weil sie das faktische Leid des Einzelnen so ernst nimmt. Aber das ist ein anderes Thema und dies ist nicht der Ort, es zu erörtern. Dieweil ist dies sehr wohl der Ort, an dem festgehalten werden muss, dass Nietzsche die Innenperspektive des Leids ausdrücklicher hätte berücksichtigen können, wenn nicht sogar müssen.

195 Vgl. zu den Bedingungen, die gemäß der stoischen Philosophie den Freitod als letzte Lösung zulassen, Pohlenz 1947, 156. 196 Auch wenn der Selbstmord bloß eine Notlösung sein soll und keineswegs durch die stoische Philosophie verherrlicht wird, fällt auf, wie viele Stoiker und überhaupt antike Philosophen sich das Leben genommen haben. Es scheint, als ob schon die generelle Erlaubnis des Selbstmords (wenn auch unter bestimmten Voraussetzungen), die eigentlich beruhigend wirken soll – wenn wirklich gar nichts mehr geht, wenn jede Hoffnung gestorben ist, bleibt immer noch der Freitod– eine verlockende Wirkung ausübt: „The right to suicide was a characteristic tenet of Stoicism and Cynicism (…). Moreover, Zeno, Cleanthes, Diogenes, and Demonax died by their own hands – as did Democritus and many other ancient philosophers, while Socrates deliberately, it seems, brought about his sentence and consequent death“ (Xenakis 1969, 19).

Kapitel IV Der Sokratismus ist ein Nihilismus Denn das ungeprüfte Leben ist für den Menschen nicht lebenswert. (Platon/Sokrates: Apologie des Sokrates)¹⁹⁷

Wenn es jemals so etwas wie ein vollendetes Kunstwerk gegeben hat, dann ist es für Nietzsche die attische Tragödie gewesen, der als einem formvollendeten Ganzen nicht nur in ästhetischer Hinsicht eine herausragende Stellung zukam, sondern die überdies auch in ihrem Bezug auf das Leben von singulärer Bedeutung war. Der letzte Punkt verdient es, noch etwas genauer gefasst zu werden: In der Geburt der Tragödie wird deutlich, dass es eine Kunst allein um der Kunst willen, die heute sogenannte „l’art pour l’art“, insoweit überhaupt nicht gibt, als sich die Kunst vom Leben nicht trennen lässt, weil sie ihm immer schon eingeschrieben ist. Leben ist immer auch Lebens-Kunst, denn das Apollinische und das Dionysische, die beiden Grundtriebe des Lebens, sind selber künstlerische Triebe. In ihrer Rolle als Vermittlerin der dionysischen Weisheit steht die Tragödie an der Spitze der Lebens-Kunst, weil sie eine antinihilistische Lebens-Kunst zu begründen vermag: Hier, in der Kunsterfahrung (der aufgeführten Tragödie), gewinnt das individuelle Leben (der Zuschauer der Tragödie) eine Erkenntnis (den metaphysischen Trost), die einen künstlerischen Umgang mit dem Leben anempfiehlt. Nun ist die dionysische Weisheit aber dezidiert tragischer Natur; sie birgt in sich die Weisheit des Silen, mit der sie freilich nicht verwechselt werden darf, weil sie nicht Halt macht bei deren Pessimismus, sondern in der Auseinandersetzung mit der in ihr ausgerufenen Herrschaft der Vanitas und damit auch der letztendlichen Sinnlosigkeit allen menschlichen Strebens, zur großen Bejahung des allumfassenden Werdens und Vergehens gelangt. Sie gelangt also mit einem Wort zum „Pessimismus der S t ärke“ (GT Versuch 1; KSA 1, 12), der nach Nietzsches Meinung das klassische Griechentum auszeichnet. Es ist keineswegs ein Widerspruch, dass ein solcher Pessimismus von Heiterkeit flankiert wird, sofern es sich um eine Heiterkeit der Stärke handelt, die das Ergebnis derselben, die Auseinandersetzung mit dem Schrecken nicht scheuenden, sondern seine Überwindung sogar suchenden Bewegung ist.¹⁹⁸ Eine solche heroische Heiterkeit kennzeichnet auf auszeichnende Art und Weise auch den Philosophen und freien Geist, der insbesondere in Nietzsches mittlerer Schaffensperiode Thema zahlreicher Überlegungen des mittlerweile (seit 1879; vgl. EH weise 1; KSA 6, 264) aus gesundheitlichen Gründen von den Verpflichtungen eines Professors dispensierten Philosophen ist  – der kranke Nietzsche träumt von 197 Apol., 38a. 198 Entsprechend heißt es bei Nietzsche über die Heiterkeit der „älteren Griechen“, sie sei „die aus einem düsteren Abgrunde hervorwachsende Blüthe der apollinischen Cultur“ und „der Sieg, den der hellenische Wille durch seine Schönheitsspiegelung über das Leiden und die Weisheit des Leidens davonträgt“ (GT 17; KSA 1, 115).

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   Der Sokratismus ist ein Nihilismus

einer Heiterkeit, die Ausdruck „großer Gesundheit“ ist, insofern sie ihr Lächeln dem Blick auf ein überwundenes, gleichsam besiegtes Leid verdankt. Auf den im Kontext einer solchen gesunden, heroischen Heiterkeit maßgeblichen Aphorismus Was es mit unserer Heiterkeit auf sich hat (FW 343) sei hier nur verwiesen; an späterer Stelle, wenn ich auf den Tod Gottes zu sprechen komme,¹⁹⁹ wird er dann eigens in Augenschein genommen. Allerdings sticht schon jetzt ins Auge, dass diese besondere Form von Heiterkeit das Charakteristikum einer vergangenen Kultur gewesen ist und das einer kommenden Generation von Philosophen sein soll. Offenbar mangelt es also der Zwischenzeit, in die auch Nietzsches Gegenwart fällt, an solcher Heiterkeit. Nicht dass es ihr generell an Heiterkeit fehlte, nur fehlt es dieser an Tiefe. Es handelt sich um die oberflächliche Heiterkeit einer Kultur, die von einem optimistischen Geist durchwaltet dem unbedingten Glauben an den Fortschritt huldigt. Wenn sie in die Tiefe hinabsteigt, dann nur, um das dort herrschende Dunkel zu beseitigen, indem sie die Fackel der Wissenschaft auch hierher trägt. Nicht um zu staunen, sondern um zu erklären, macht man sich auf den Weg, wie Professor Lidenbrock in Jules Vernes Bestseller Reise zum Mittelpunkt der Erde, in dem der Professor die bereits durch den Titel angekündigte waghalsige Entdeckungsreise mit dem Anspruch antritt, „mit dem Erreichen des Erdmittelpunkts zugleich endgültig die Natur zu entschlüsseln“ (Dehs 2010, 343). Im selben Maß wie sich die „Lidenbrocksche Kultur“ durch wissenschaftlichen Scharfsinn hervortut, lässt sie die aus dem tragischen Mythos sprechende dionysische Tiefe vermissen. Mag sie auch eine kluge und insbesondere wissende Kultur sein – weise ist sie darum noch lange nicht bzw. schon lange nicht mehr. Den Ursprung der Entwicklung von der tragischen zur wissenschaftlichen Kultur findet Nietzsche bereits bei den Griechen  – und nicht nur den Ursprung. Vielmehr sieht er den Paradigmenwechsel vom Tragizismus zum Optimismus bereits hier vollzogen. Entsprechend unterscheidet er zwischen der tragischen Heiterkeit der älteren und der optimistischen Heiterkeit der jüngeren Griechen. Dabei erweist sich die Leugnung der tragischen Wahrheit als Bestandteil der neuen griechischen Heiterkeit, denn diese Wahrheit steht dem optimistischen Bestreben, aus Abgründen Gründe zu machen, diametral entgegen. Die Welt bis in die tiefsten Abgründe hinein verstehen zu wollen, ist Ausdruck des optimistischen Willens, ihr den Charakter des Abgründigen zu nehmen. An die Stelle von Abgründen sollen logische Gründe treten, so dass aus Abgründen Ursachen werden und aus Furchtbarem Fruchtbares, dergestalt, dass sich das Wissen um die Gründe gewinnbringend einsetzen lässt: Wer die Ursachen einer als durchgängig determinierten, d. h. nach dem Gesetz von Ursache und Wirkung verstandenen Welt kennt, der kann diese Welt auch beherrschen oder, um eine dem Fortschrittsglauben entsprechende Vokabel zu bemühen: verbessern. Noch einmal mit dem Bild des Abstiegs zum Kern der Welt aus der Reise zum Mittel-

199 Vgl. Kapitel V.3.

Der Sokratismus ist ein Nihilismus   

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punkt der Erde formuliert: Der Abstieg in die Tiefe soll der Tiefe den Tiefsinn nehmen, indem er in das wissenschaftliche Ursache-Wirkungsschema eingegliedert wird, was automatisch seine Aufhebung bedeutet. Tiefe ist nun etwas bloß Geometrisches, Teil der Trias: Höhe, Länge, Breite (Tiefe). Sie ist zu etwas geworden, was sich vermessen und mit dem sich rechnen lässt. Das Dionysische unterdessen ist schlichtweg unberechenbar, weswegen es sich nicht mit dem wissenschaftlichen Weltbild vereinbaren lässt. Der wissenschaftliche Geist drängt darum das Dionysische aus dem Zentrum an die Peripherie der Kultur. Er träumt davon, ungeliebte Tatsachen, vor die ihn die Welt immer wieder stellt, zu korrigieren. In der Tat geht es ihm um eine Korrektur der Welt, die ihm wie ein riesiges Konstrukt erscheint, das vielleicht als Ganzes beindruckend sein mag, letztlich aber doch in vielem fehlerhaft ist. Die folgenden Zeilen Nietzsches enthalten in komprimierter Form eine Kulturkritik, an der nicht nur Nietzsche zeit seines Lebens festhalten wird, sondern die von Denkern wie Martin Heidegger und Günther Anders im 20. Jahrhundert aufgenommen und weitergedacht wird.²⁰⁰ Bis zum heutigen Tag hat sie nichts von ihrer Virulenz verloren, viel eher wird sie immer aktueller. In Nietzsches Sicht weist die „Heiterkeit des theoretischen Menschen“ folgende aus dem „Geiste des Undionysischen“ abgeleiteten „charakteristischen Merkmale“ auf (GT 17; KSA 1, 115): (…), dass sie die dionysische Weisheit und Kunst bekämpft, dass sie den Mythus aufzulösen trachtet, dass sie an Stelle eines metaphysischen Trostes eine irdische Consonanz, ja einen eigenen deus ex machina setzt, nämlich den Gott der Maschinen und Schmelztiegel, d. h. die im Dienste des höheren Egoismus erkannten und verwendeten Kräfte der Naturgeister, dass sie an eine Correctur der Welt durch das Wissen, an ein durch die Wissenschaft geleitetes Leben glaubt und auch wirklich im Stande ist, den einzelnen Menschen in einen allerengsten Kreis von lösbaren Aufgaben zu bannen, innerhalb dessen er heiter zum Leben sagt: „Ich will dich: du bist werth erkannt zu werden.“ (GT 17; KSA 1, 115)

Die Leitung des Lebens durch die Wissenschaft sieht offenbar eine pragmatische Begrenzung des menschlichen Lebens vor, dessen Radius auf das Lösbare  – und lösbar ist nur, was sich prinzipiell berechnen lässt – zurechtgeschnitten wird. Lebensvollzüge sollen dabei im Sinne eines Problemlösungsverfahrens angegangen werden. Was nicht gelöst werden kann, fällt dabei ebenso über den Rand des „allerengsten

200 In einem Aufsatz, der über die Veränderung der Bedeutungsverhältnisse innerhalb der Philosophie, vom Vorrecht der Systemphilosophie hin zum Prärogative der philosophischen Essayisten und Aphoristiker, die schwindende Bedeutung der Philosophie in der Gesellschaft bedenkt, macht Karl Heinz Bohrer auch auf die Rolle der sogenannten „Kulturkritik“ aufmerksam. Dabei stellt er den in diesem Kontext alles entscheidenden Einfluss Nietzsches heraus, weswegen der Aufsatz hier auch zitiert sei: „Ein besonderes Element der Philosophie des 20. Jahrhunderts, vielleicht schon ein Schritt zu ihrer Auflösung, war die Kulturkritik, von Sigmund Freuds Unbehagen in der Kultur (1919) bis zur Dialektik der Aufklärung (1947) von Horkheimer und Adorno. Es ließen sich eine Reihe weiterer jüngerer Namen – Arnold Gehlen, Herbert Marcuse, Gilles Deleuze, Giorgo Agamben, Michel Foucault – anführen. Alle haben wohl in Friedrich Nietzsches Kulturkritik ihre Wurzeln“ (Bohrer 2010, 567).

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Kreis[es]“, wie das, was (wie die Kunst) gar nicht gelöst werden will. Die Berechenbarkeit des Lebens legt unter anderem nahe, dasselbe gleichsam zur Sache eines Kaufmanns zu machen. Die Verwissenschaftlichung aller Lebensvollzüge bedeutet (neben der Technisierung des Lebens) auch eine Lebensführung unter „betriebswissenschaftlichem“ Gesichtspunkt. Die Rolle der Kunst beschränkt sich in einer solchen Gesellschaft auf die Unterhaltung. So regiert das Nützlichkeitsprinzip bis in die heiligen Hallen der Kunst hinein. Nicht etwa, dass man die Kunst verneinte – man weiß sie sehr wohl zu schätzen, weil und aber auch nur solange als man sich an ihr ergötzen kann. Die eigentliche, existenziell so bedeutende Aufgabe der Kunst, „das Auge vom Blick in’s Grauen der Nacht zu erlösen“, wird somit freilich aller Tragik entledigt und „zu einer leeren und zerstreuenden Ergetzlichkeitstendenz“ herabgewürdigt. Das aber bedeutet eine Depotenzierung des Dionysischen in der Kunst, was wiederum einer radikalen Entwürdigung der Kunst gleichkommt. Besonders deutlich wird dies am Beispiel der Musik, deren „wahre Würde“ Nietzsche zufolge ja darin besteht, „dionysischer Weltspiegel zu sein“ (GT 19; KSA 1, 126). Eine Musik, die sich in ihrer ganzen so verstandenen Würde entfaltet, dürfte zu schwer für das optimistische Ohr der Moderne wiegen. Die „Ergetzlichkeit“, die sie verspricht, ist tragisch und liegt im metaphysischen Trost, der, wie gesehen, von der ewigen Gewalt und Schönheit des Lebens gerade angesichts des Untergangs der Einzelexistenz zu berichten weiß. Eine derartige Schönheit liegt jedoch weit abseits des Tellerrandes der modernen Existenz, wie Nietzsche sie sieht. Eine Überschreitung dieses Randes scheint den modernen Menschen zu verängstigen – sie erinnert an die im Mittelalter insbesondere bei Seefahrern verbreitete Furcht vor dem Sturz über den Rand der Erdscheibe. Auf diese Weise scheint sie ihm alles andere zu sein, als z. B. eine Erweiterung der Perspektive oder das Tor zu einer vergessenen Tiefenschicht der Welt. Diese kritische, argwöhnische und sogar von Ekel begleitete Betrachtung der Moderne teilt Nietzsche mit vielen künstlerischen Geistern des 19. Jahrhunderts. Sie gehört gewissermaßen zum guten Ton der Romantiker. Wenngleich Nietzsche gegen die Romantik zum Teil starke Vorbehalte pflegt,²⁰¹ gibt es doch zahlreiche Parallelen zwischen seinem und dem romantischen Gedankengut, die sich grosso modo unter den Begriff „Kulturkritik“ subsumieren lassen. Dabei ist es Nietzsche zumal darum zu tun, auf die Dekadenz einer Gesellschaft hinzuweisen, die den dionysischen Rausch, den große Kunst erzeugt, nicht mehr ertragen kann. Schon in der Geburt der Tragödie hat Nietzsche also das Bild des „letzten Menschen“, dem mit dem Chaos auch die schöpferische Kraft abhanden gekommen ist, vor Augen (oder ahnt es zumindest); ein Bild, das er

201 Es ist in erster Linie die Nihilismusproblematik, die nicht nur Nietzsches Denken überhaupt, sondern auch seine Kritik an der Romantik bestimmt. Nietzsche sieht in der Romantik einen (romantischen) Pessimismus am Werk, den er auch im Buddhismus zu erkennen meint, nämlich jene „romantische Sehnsucht nach einer Erlösung im Nichts, die vom Christentum übriggeblieben war, nachdem man an den positiven Gehalt der christlichen Erlösung nicht mehr zu glauben vermochte“ (Picht 1988, 192).

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später seinen Zarathustra in abschreckender Absicht zeichnen lässt (vgl. Z I Vorrede 5; KSA 4, 19f.). Aber dazu später. Diese einleitenden Worte sollten den Bezugsrahmen abgesteckt haben, in den der Untergang der Tragödie für Nietzsche fällt. Es gibt also wahrlich Grund genug, dem Schicksal der Tragödie nachzufragen. Ebendies soll als nächstes geschehen. Auch diesem Vorhaben will ich noch einige kurze propädeutische und methodische Bemerkungen voranstellen, die überdies die innere Verbindung der anstehenden Überlegungen mit dem Grundthema dieser Arbeit: dem Nihilismus, anzeigen. Nietzsche macht für den Tod der attischen Tragödie, den er mit dem Verfall der griechischen Kultur in ein sich wechselseitig bedingendes Verhältnis bringt, konkrete historische Persönlichkeiten verantwortlich, nämlich Sokrates und Euripides. Diese beiden, den Philosophen und den Tragödiendichter, sollte man indes nicht als diejenigen Personen ansehen, die für den Tod der Tragödie allein verantwortlich zeichnen, sondern vielmehr als herausragende Vertreter eines bestimmten Typus Mensch begreifen; eines neuen Typus, der sich im antiken Griechenland durchzusetzen begann und dabei einem älteren, dem tragischen Typus, den Rang ablief. Indem Nietzsche mit Euripides einen Tragödiendichter ins Visier nimmt, verlegt er den Ort des die Tragödie betreffenden entscheidenden Vernichtungsschlages in den inneren Kreis der Tragödie selbst: Von hierher kommt der Schlag und hier schlägt er auch ein, denn es ist ein Tragödiendichter, der den todbringenden Dolchstoß ansetzt. Euripides wird durch Nietzsche zum Brutus der tragischen Dichtkunst. Man könnte so gesehen dazu geneigt sein, von einem Selbstmord der Tragödie zu sprechen. Letztlich geht man damit aber an Nietzsches Argumentation vorbei. Denn der Geburt der Tragödie zufolge handelt Euripides nicht unabhängig, nicht auf eigene Rechnung, sondern steht unter fremdem Einfluss: Er steht im mächtigen Schatten des Sokrates. Euripides erscheint in der Geburt der Tragödie als dessen beflissener Handlanger. Unterdessen ist auch mit Sokrates die Verursachungskette noch nicht an ein Ende gelangt. Hinter ihm steht nämlich eine ungeheure Macht, die in und durch ihn wirkt: der Sokratismus. Im Sokratismus endlich ist eine Dialektik, mit Einschränkung könnte man auch behaupten: eine Logik am Werk, die, wie ich noch zeigen werde, auch dem Christentum eingeschrieben ist. Die Rede ist von der Logik des Nihilismus. Diese Logik wiederum ist spezifisch für eine bestimmte Ausprägung des Nihilismus, und zwar für den westlichen oder, wie Nietzsche ihn nennt: „europäische[n] Nihilismus “ (NL 1885–1887, KSA 12, 5[71], 211) – eines besonders raffinierten Nihilismus im Übrigen, der sich in den Mantel des Optimismus zu kleiden und solcherart zu verbergen weiß. Damit sind die für das folgende Kapitel wesentlichen Stichworte genannt. Ihnen gilt es nun auf den Grund zu gehen. Die drei Leitfragen, deren ich mich dabei bediene, lauten „Wie?“, „Was?“ und „Warum?“ und meinen das Wie des Untergangs der Tragödie (wie ist die Tragödie untergegangen?), das Was der damit verbundenen Folgen (was bedeutet das für die geistesgeschichtliche Entwicklung des Abendlandes oder was folgt aus dem Tod des tragischen Zeitalters und der Geburt des sokratischen bzw. optimistischen Zeitalters?) und, als ersten zu behandelnden Punkt, das Warum

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des Wechsels vom Pessimismus der Stärke der Tragödie zum wissenschaftlichen Optimismus des Sokratismus (warum konnte sich der Optimismus überhaupt gegenüber dem etablierten Pessimismus durchsetzen?).

4.1 Der Tod der Tragödie 4.1.1 Das Warum des Todes der Tragödie oder: die Erschütterung des bisher tragenden Grundes: Sokrates und die Polis Athen Das Athen des fünften und vierten Jahrhunderts v.  Chr. befand sich im Umbruch. Dieser Umbruch war eigentlich ein Abstieg. Die große Zeit des Stadtstaates ging zu Ende. Gründe dafür gab es viele. Der vordringlichste dürfte wohl der 27 Jahre andauernde Peleponnesische Krieg gewesen sein.²⁰² In die Kampfeshandlungen waren als Verbündete Athens auf der einen und Spartas auf der anderen Seite beinahe alle Stadtstaaten der griechischen Welt verwickelt. Der Krieg endete 404 v. Chr. mit einer Niederlage Athens, der Kapitulation, und einem Sieg für Sparta. Im Grunde aber stand die Niederlage des von Athen geführten Attischen Seebundes schon viel früher fest, und zwar seit dem aus athenischer Sicht 413 v. Chr. grandios gescheiterten Kriegszug nach Sizilien, der sogenannten „sizilischen Expedition“, durch welche man einen großen Teil der eigenen Flotte im Hafen von Syrakus verlor. Trotzdem wurde der Krieg noch fast zehn Jahre fortgesetzt, was natürlich die Niederlage Athens nur umso dramatischer ausfallen ließ. Christoph Kniest hat die verheerenden Folgen des verzweifelten Ringens der Athener um einen schon lange nicht mehr realistischen Sieg kurz und prägnant zusammengefasst:

202 Die Bekanntschaft Athens mit fremden Kulturen ist ein weiterer Grund, der es verdient, an dieser Stelle hervorgehoben zu werden. Die Begegnung mit anderen Kulturen ist nämlich zugleich eine Begegnung mit anderen Sitten, was wiederum die Konfrontation mit anderen Wertvorstellungen bedeutet. Zum Teil handelt es sich bei den Werten, die in den fremden Sitten zum Ausdruck kommen, nicht einfach nur um andere, ungewohnte, moralisch betrachtet neutrale Werte, sondern um solche, die in radikalem Gegensatz zu den eigenen Wertvorstellungen stehen; was hier als gut gilt, gilt dort als schlecht oder gar schändlich und vice versa. Mit den von einem anonymen Autor verfassten Dissoi logoi liegt uns eine antike Schrift vor, die nicht nur einige besonders deutliche Beispiele für miteinander in Widerspruch stehende Sitten bietet. Darüber hinaus zieht der unbekannte Verfasser auch einen radikalen Schluss aus dem von ihm gesammelten Material: Würde man nur einmal alles auflisten, was irgendwo als schändlich gilt, so bliebe am Ende nichts übrig, was unwidersprochen für gut gehalten wird (vgl. Schröder 2005, 218f.). Im Zarathustra (Von tausend und Einem Ziele) lässt Nietzsche seinen Protagonisten ebenfalls von den verschiedenen Zielen und Werten der einzelnen Völker berichten, was verdeutlichen soll, dass es keine dem Menschen gleichsam vom Himmel in den Schoß gefallenen, unumstößlichen und universalgültigen Gebote gibt, sondern dass Werte stets „hausgemacht“ sind, d. h. vom Menschen selbst gesetzt werden (vgl. Z I Ziele; KSA 4, 74–76.).

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Als die Stadt 404 v. Chr. nach Belagerung und Hungersnöten zur Kapitulation gezwungen wurde, waren etwa ein Viertel der Athener im Krieg getötet und die größte Flotte Griechenlands zerstört worden. Auch in ökonomischer Hinsicht wirkte sich die Niederlage verheerend aus. Die Spartaner hatten die attischen Ländereien verwüstet, Tributzahlungen der einst abhängigen Verbündeten gab es nicht mehr, und mit dem Verlust der Kontrolle der Handelsrouten zum Bosporus war auch der Getreideimport nicht mehr gesichert. (Kniest 2003, 53f.)

Neben der in einem Fiasko geendeten sizilischen Expedition muss aber noch ein weiterer Grund für die Niederlage des einst so mächtigen Attisch-Delischen Seebundes genannt werden. Schuld waren auch erhebliche innenpolitische Probleme. Durch den Konflikt zwischen den Oligarchen und den Demokraten krankte Athen an einer Spaltung im inneren Sozialgefüge der Polis: Eine zusätzliche noch gravierendere Schwächung ergab sich aus den politischen Verhältnissen innerhalb der Stadt, die eine konstante Politik unmöglich machten. Vor allem im Kreis der altadeligen vermögenden Geschlechter, aber auch in anderen Kreisen der Bevölkerung Athens gab es massive Bestrebungen, die demokratische Verfassung, die jedem Vollbürger Athens ungeachtet seiner Herkunft und seiner wirtschaftlichen Verhältnisse den gleichen Anteil an der Wahrnehmung politischer Funktionen garantierte, zu beseitigen und durch eine oligarchische zu ersetzen. (Döring 2009, 8)

Dieser langschwelende Konflikt gipfelte schließlich 411 v.  Chr. in einem blutigen Umsturz, der die Oligarchen für etwa ein Jahr an die Macht brachte. Kurz nach der Kapitulation Athens gelang es den Oligarchen noch einmal, die Macht für ein halbes Jahr an sich zu reißen. Auch diese Zeit war blutig, übten doch die sogenannten „dreißig Tyrannen“ eine Art Terrorherrschaft aus. In der Gesamtbilanz bedeutete die Zeit von 431–403 v.  Chr. also eine Episode großen Leids für Athen, die vom Krieg und, als wäre das nicht schon schlimm genug, zeitweise auch vom Bürgerkrieg beherrscht wurde. Zu Beginn dieser Episode stand Athen auf dem Zenit seiner Macht. An ihrem Ende stand zwar nicht die Bedeutungslosigkeit, aber doch der schmerzhafte Verlust der Position als stärkste Macht Griechenlands, welche exponierte Stellung man nie wieder zurückgewinnen sollte. Auf diese Weise geriet Athen mitten in eine „fundamentale Orientierungskrise“ (Schröder 2005, 209) hinein, die allemal auch das geistige Klima der Polis prägte, sich mithin auch im philosophischen Diskurs niederschlug. Mit der Zeit der Krise schlägt sogar recht eigentlich die Stunde der Philosophie²⁰³ und mit der Krise Athens schlug die Stunde des Philosophen Sokrates. 203 Das Wort Krise kommt vom griechischen Verb „krinein“ was auf deutsch „trennen“, „scheiden“ bzw. „unterscheiden“, „prüfen“ und „beurteilen“ bedeutet. Das griechische Substantiv „krisis“ bedeutet somit unter anderem auch „Entscheidung“. Unter einer Krise verstehen wir heute eine Situation, die ein entschiedenes Handeln erforderlich macht, das von der Überzeugung getragen wird, dass es nicht mehr so weitergehen kann, wie bisher. Es muss eine „Entscheidung“ getroffen werden, welcher Weg fortan eingeschlagen werden soll, damit die Krise überwunden werde. Dafür freilich müssen

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Die Polis befand sich also in einem Zustand der Zerrüttung und der scharfblickende Sokrates wusste genau warum. Er wusste nicht nur um die oben geschilderten geschichtlichen und sozialen Umstände der Krise. Er war sich zudem des fundamentaleren Warums bewusst, kannte den eigentlichen Kern des Problems. Als den Grund der Dinge betrachtender Philosoph erkannte er das Grundübel, das Athen in die Katastrophe gestürzt hatte. Dabei handelte es sich den Worten des Sokrates zufolge um die „schlimmste Art alles Nichtwissens“ (Alk. I, 118b),²⁰⁴ womit er jene „Art von Unwissenheit“ meinte, „bei der man sich einbildet etwas zu wissen, was man doch tatsächlich nicht weiß“ (Alk. I, 117d). Dieses „schimpfliche Nichtwissen“, den Wissensdünkel (doxosophia) identifizierte Sokrates als die „Quelle alles Unheils“, die selbstredend dann „das ärgste Unheil“ stiften musste, „wenn sie die wichtigsten Angelegenheiten“ betraf (Alk. I, 118a), wobei Sokrates an die Staatsgeschäfte dachte, bei denen es um das Wohl und Wehe einer ganzen Polis ging. In Platons Alkibiades I geht es nun in diesem Sinne ums Ganze. Sokrates’ Gesprächspartner Alkibiades, den Platon im Symposion eine berühmte Eloge auf Sokrates halten lässt, schickt sich nämlich an, eine glänzende politische Karriere zu starten,²⁰⁵ mithin maßgeblich über Wohl und Wehe der Polis zu entscheiden. Sokraverschiedene Handlungsoptionen „erwogen“ „unterschieden“ und „geprüft“ werden, um schließlich eine Option auszuwählen und in die Tat umzusetzen. Zu „unterscheiden“, zu „prüfen“ etc. ist aber das Kerngeschäft der Philosophie (Kants drei Kritiken wissen sich ganz explizit jenem „krinein“ verpflichtet, das ja in ihnen nicht umsonst an hervorgehobener Stelle auftaucht, nämlich jeweils im Titel), die konsequenterweise immer dann besonders gefragt ist – oder wenigstens gefragt sein sollte –, wenn ein erhöhter Orientierungsbedarf besteht. Clemens Sedmak verweist in einem als eine Art Verteidigungsschrift der Philosophie gedachten Buch – wenn eine Verteidigung der Philosophie notwendig scheint, deutet das daraufhin, dass man dem „krinein“ der Philosophie heutzutage offenbar nicht mehr ohne Weiteres zutraut, den Anforderungen der Gegenwart gewachsen zu sein – auf diesen Zusammenhang zwischen Philosophie und Krise. Dabei stellt er die bedenkenswerte Frage, ob denn die Philosophie möglicherweise sogar von den Krisen der Menschen lebe (vgl. Sedmak 2003, 95). Als Beispiel einer krisenlosen Gesellschaft führt er Aldous Huxleys Dystopie Brave New World ins Feld und stellt fest: „In Huxleys Schöner neuer Welt gibt es keinen Platz für Philosophie, weil es keinen Platz für Krisen gibt“ (Sedmak 2003, 96). In Huxleys krisenloser Welt indes würden wohl zumindest die meisten von uns nicht leben wollen, weil es sich um eine Welt der vollkommenen Nivellierung handelt. 204 Die Platon- Forschung ist sich nicht sicher, ob der Alkibiades I tatsächlich von Platon verfasst wurde. Erler 2007, 107, spricht dementsprechend vorsichtig, mit leicht negativer Tendenz, von einem „vielleicht unechten Dialog“. Söder 2009, 24, ist sich zwar mit Erler darüber einig, dass die Echtheit des Alkibiades I „nicht zweifelsfrei geklärt ist“, nennt diesen Dialog aber mit einer eher affirmativen Färbung als Beispiel für jene Platon zugeschriebenen Dialoge, „deren Authentizität heute immerhin für möglich gehalten wird“. Ganz egal aber, ob Platon nun tatsächlich der Urheber des Alkibiades I ist oder nicht, die These von der doxosophia als Grund alles Übels ist auf jeden Fall sokratisch. 205 Sokrates listet zu Beginn des Dialogs eine ganze Reihe von Begünstigungen des Alkibiades auf, die tatsächlich gute Gründe für die „ausschweifenden Hoffnungen“ (Alk.  I, 105d) des jungen Aristokraten sind, für Hoffnungen, die sich auf eine unerhörte Macht, die gar nicht größer sein könnte, beziehen: „Du glaubst, sobald du vor dem athenischen Volke auftrittst (…) alsbald den Athenern den Beweis zu liefern, daß du mehr Anspruch hast auf Achtung als Perikles oder irgendeiner der früheren

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tes möchte ihn und damit implizit ganz Athen davor bewahren, den gleichen Fehler wie „fast alle hiesigen Staatsmänner“ (Alk. I, 118b) zu begehen, nämlich über das zu befinden, was gut und schlecht bzw. gerecht und ungerecht ist, ohne über das entsprechende philosophische Fachwissen zu verfügen. Alkibiades erklärt zu Beginn des Gespräches ausdrücklich, dass er sich für sachkundig in Fragen von Krieg und Frieden hält und dass er hierüber der Ratgeber der Athener zu sein wünscht – der Dialog spielt um das Jahr 430 v. Chr. und damit in der Anfangszeit des Peleponnesischen Krieges. Sokrates aber führt aus – und Alkibiades gibt ihm das auch zu –, dass wer in diesen Dingen als Ratgeber auftreten wolle, unbedingt über die Kenntnis von Recht und Unrecht verfügen müsse (vgl. Alk. I, 109). Schließlich sei es gerade die Frage oder vielmehr der Streit darüber, was rechtens sei und was nicht, welcher die Menschen zu den Waffen greifen und einander umbringen lasse. Dies könne man vorzüglich in den Dichtungen Homers nachlesen.²⁰⁶ Sokrates’ Verweis auf die Dichtung Homers ist wichtiger als man im ersten Moment denken mag. Denn wenngleich Sokrates betont, wie lehrreich diese Dichtung und mit ihr der Mythos sei, zeigt er deren Grenzen gleich im nächsten Atemzug deutlich auf. Zwar habe man es mit „Gedichte[n]“ zu tun, die „von strittigem Recht und Unrecht handeln“ (vgl. Alk. I, 112c), eine Auskunft darüber, was nun das Gerechte seinem Wesen nach eigentlich sei, suche man in ihnen jedoch vergeblich. Darin liegt: Wer wissen möchte, was gerecht ist, und sich selbst zum Wesen der Gerechtigkeit in ein entsprechendes Verhältnis setzen will, indem er es zur Norm seines Handelns macht,²⁰⁷ ist bei den Staatsmänner und daß das Erbringen dieses Beweises dir zur machtvollsten Stellung im Staate verhelfen werde; und wärest du erst hier der Mächtigste, so rechnest du darauf, es auch im übrigen Griechenland zu sein, und nicht nur in Griechenland, sondern auch bei allen Ausländern, die mit uns in demselben Weltteil wohnen. Und wenn ferner der nämliche Gott zu dir sagte (…) nach Asien hinüber dich zu wagen und dich dort zum Herrn der Dinge zu machen solle dir versagt sein – du würdest denk’ ich, auch von einem derart beschränkten Leben nichts wissen wollen, sondern nur ein Leben wählen, das dir gestattete die ganze Welt mit deinem Namen und deiner Macht zu erfüllen“ (Alk. I, 105b). Die Rolle, die der historische Alkibiades im Peleponnesichen Krieg gespielt hat, war ohne Frage bedeutend. Zur Herrschaft über die damalige Welt hat er es unterdessen nicht gebracht. Stattdessen wurde seiner Karriere im Jahr 404 v. Chr. ein jähes Ende gesetzt – Alkibiades wurde ermordet. Bedenkt man, dass sein politischer Werdegang weniger durch moralische Integrität als durch Machtgier bestimmt wurde – unter anderem wechselte er im Krieg zweimal die Seiten –, ist dieses tragische Ende eines vielversprechenden Lebensweges keine Überraschung (vgl. hierzu Döring 2009, 7f.). 206 Im weiteren Verlauf des Dialogs wird Alkibiades einsehen, dass es ihm an der nötigen Kompetenz in den für die Politik entscheidenden Fragen mangelt. Aus diesem Grund willigt er darin ein, Schüler des Sokrates zu werden. Denn mit der Hilfe des Meisters der „Was-ist-X-Fragen“ – Fragen, die auf das Wesen der Dinge abzielen, statt bei einzelnen Eigenschaften oder Phänomenen eines jeweiligen Dinges zu verharren – hofft er, schon bald die Frage nach dem Wesen der Gerechtigkeit beantworten und sich auf diese Weise zugleich selbst verbessern zu können. 207 Ich will mit dieser etwas umständlichen Formulierung, die den schlichten Sachverhalt ausdrückt, dass jemand wissen will, was gerecht ist, um gerecht handeln zu können, auf die normative Dimension von Platons Ideenlehre hinaus. Im Eutyphron und damit in dem Dialog, dem ich mich als nächstes zuwende, hat Walter Bröcker die Wurzeln der Ideenlehre entdeckt. Neben der „logischen

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Göttern an der falschen Adresse. Deutlicher noch als im Alkibiades I wird diese Kritik am Mythos in Platons Dialog Eutyphron, der die Frömmigkeit zum Thema hat. Der von Meletos wegen Asebie (Unfrömmigkeit oder Gottlosigkeit²⁰⁸) angeklagte Sokrates, ein Vergehen, durch das er überdies die Jugend verderbe,²⁰⁹ trifft vor der Halle des Basileus²¹⁰ auf Euthyphron. Letzterer ist ein Priester bzw. Seher und Wahrsager, der ebenfalls in juristischen Angelegenheiten unterwegs ist; im Gegensatz zu Sokrates allerdings nicht als Angeklagter, sondern als Ankläger. Er hat wegen Totschlags gegen seinen eigenen Vater Klage erhoben.²¹¹ Die Anzeige des eigenen Vaters, eine per se äußerst heikle Angelegenheit, stellt aber gerade für die Athener ein Skandalon dar. Euthypron rechtfertigt sich für diese Ungeheuerlichkeit, indem er darauf insistiert, die Götter auf seiner Seite zu haben. Wer ihm nun Vorwürfe mache, beweise damit bloß sein eigenes Unwissen in Sachen Frömmigkeit. Dahingegen könne er selbst mit bestem Gewissen von sich behaupten, hierin ein wahrer Experte zu sein. Wenn jemand aber behauptet, etwas zu wissen oder sogar Fachmann auf einem bestimmten Gebiet zu sein, dann fühlt sich Sokrates unweigerlich herausgefordert, der Sache auf den Grund zu gehen. So auch hier. Unverzüglich schreitet er zur Tat, d. h. er schickt sich an, das vermeintliche Wissen seines Dialogpartners auf Herz und Nieren zu prüfen. Solches Prüfen ist ja bekanntlich Teil seiner, ihm vom delphischen Gott Apollo auferlegten Lebensaufgabe, seiner göttlichen Berufung zur Philosophie, bei der es letztlich um die Sorge um die eigenen Seele geht sowie darum, seinen Gesprächspartner ebenfalls zur Sorge um dessen eigene Seele zu bewegen. Ebendas ist die „Sache des Sokrates“, jenes Philosophen, der um Selbsterkenntnis bei sich und seinem jeweiligen Gegenüber bemüht ist, wobei das Wissen um das

Wurzel“ der Ideenlehre, die in dem relativ schlichten, aber bedeutenden und folgenreichen Gedanken – wichtig ist dieser Gedanke, weil er laut Bröcker die Sprache der Logik ermöglicht hat, die es zu Zeiten der Abfassung des Euthyphron noch nicht gab (vgl. Bröcker 1999, 122f.) – liegt, dass es Dinge und Handlungen gibt, die alle gleichartig sind, ohne aber darum schon dasselbe zu sein, weil sie an derselben Art (idea) teilhaben, entdeckt Bröcker auch deren „normative Wurzel“ im selben Dialog. Sie kommt dann ins Spiel, wenn ein Seiendes nicht nur an einer Idee partizipiert, sondern sich darüber hinaus auch derart zu der Idee verhält, dass es sie zur Norm nimmt (vgl. Bröcker 1999, 125). Insofern die normative Wurzel für die Ethik entscheidend ist, ist sie für Sokrates als Ethiker natürlich von besonderer Relevanz. 208 Genau genommen handelt es sich um den Vorwurf, die alten Götter zu verleugnen und neue Götter einzuführen. 209 Die beiden aus der Apologie bekannten und dort gesondert vorgetragenen Anklagepunkte der Gottlosigkeit bzw. der Einführung neuer Götter und des Verderbens der Jugend (vgl. Apol., 24b–c) werden also im Euthyphron wieder aufgenommen, hier aber in einem einzigen Anklagepunkt zusammengefasst. 210 Dabei handelt es sich um den Sitz des Beamten, der für jene Rechtsangelegenheiten zuständig ist, die den Kultus und die Religion betreffen. 211 Der Vater hatte einen seiner Tagelöhner, der zum Mörder eines Sklaven geworden war, in eine Grube werfen lassen. Dort sollte er bis zum Beginn des gegen ihn zu führenden Prozesses bleiben. In der Zwischenzeit jedoch war er vor Käte und Hunger gestorben.

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eigene Nichtwissen eine Schlüsselrolle spielt. Dieses ganz spezielle Wissen bildet nämlich einmal den Initiationspunkt der eigentlichen Weisheitssuche und damit des philosophischen Lebens. Zum anderen bewahrt es den um sein Nichtwissen Wissenden davor, falsche, auf bloßem Wissensdünkel bauende Entscheidungen zu treffen.²¹² Genau daran ist Sokrates in der konkreten Situation mit Euthyphron vor der Gerichtshalle gelegen: Er will den vermeintlich Wissenden von einer falschen Entscheidung bewahren, indem er ihm aufzeigt, dass sie unbegründet ist, insofern sie auf einer mit wahrem Wissen verwechselten Meinung beruht. Die Grundvoraussetzungen für ein typisches sokratisches Gespräch könnten folglich gar nicht besser sein. Kein Wunder also, dass sich alsbald eine Diskussion über das Wesen der Frömmigkeit zwischen den beiden Männern entspinnt. Im Verlauf dieses Gesprächs wird offenbar – und das ist das im Rahmen meiner Untersuchung Entscheidende –, dass Sokrates’ Verhältnis zu den traditionellen Göttern in der Tat äußerst kritisch ist. Der erste Anlauf, den Euthypron unternimmt, um darzulegen, was fromm ist, erweist sich nun in gleich mehrfacher Hinsicht als ungenügend. Der Seher meint, einen schlagenden Beweis für die Rechtmäßigkeit bzw. Frömmigkeit seines Handelns zu erbringen, wenn er wie folgt argumentiert: Fromm ist eben das, was ich jetzt tue, nämlich gegen einen Übeltäter (…) gerichtlich vorzugehen, mag es nun der Vater oder die Mutter oder sonst wer sein (…). Denn merke auf, mein Sokrates, einen wie schlagenden Beweis ich dir dafür anführen werde (…). Ganz von selbst halten die Menschen Zeus für den besten und gerechtesten der Götter, und von diesem Gott sagen sie übereinstimmend, er habe seinen eigenen Vater in Fesseln geschlagen, weil er seine Söhne verschlang ohne rechtlichen Grund, und dieser wiederum habe seinen Vater entmannt um eben solcher Taten willen (…). (Euthyphr., 105d–106a)

212 Die Geschichte, wonach das Orakel von Delphie dem Chairephon, einem Freund des Sokrates, verkündet habe, niemand unter den Lebenden sei weiser als Sokrates, ist aus der Apologie nur allzu bekannt. Der um sein Nichtwissen wissende Sokrates habe an die Wahrheit des Spruches des Orakels nicht glauben können und sich konsequenterweise auf die Suche nach weiseren Männern als ihm selbst gemacht – natürlich ohne fündig zu werden. Stets glauben die Menschen nur zu wissen, de facto aber wissen sie nicht, sondern meinen immer bloß – so das immer gleiche Ergebnis der Gespräche des Sokrates mit dem Leumund nach besonders weisen Männern. Die Suche nach einem Weiseren als er selbst ist im Grunde eine permanente Selbstforschung des Sokrates und durch die Sorge um die eigene Seele motiviert. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch das Philosophieverständnis des Sokrates begreifen. Philosophie ist für ihn im Wesentlichen mit der Sorge um die eigene Seele identisch. Deswegen stellt der über dem Eingang des delphischen Orakels prangende adhortativ gemeinte Spruch: „Erkenne dich selbst!“ (gnôthi seautón) gewissermaßen auch den Wappenschild des Sokrates dar. Das im berühmten, formelhaften Satz des Sokrates: „Ich weiß, das ich nichts weiß“, ausgesprochene Wissen ist demnach auch eine besondere, mit dem eigenen Ich verbundene Form des Wissens. Es handelt sich, wie Gernot Böhme in seinem Buch Der Typ Sokrates herausstellt, um eine Form von Selbstbewusstsein: „Das Wissen des Sokrates hat keinen Was-Gehalt und ist auch kein Tatsachenwissen, kann also nicht durch einen daß-Satz widergegeben werden. Der ganze Was-Gehalt, auch das Nichtwissen, steckt im Ich. Sokrates sagt also‚ ‚ich bin mir als Nichtwissender meiner selbst bewußt‘“ (Böhme 1988, 125).

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Dieser vermeintliche Beweis besitzt schon allein deswegen keine wahre Beweiskraft, weil Euthyphron lediglich ein Einzelbeispiel für etwas Frommes anführt – wobei noch nicht einmal ausgemacht ist, ob das Beispiel auch wirklich etwas Frommes repräsentiert –, statt mit einer Definition der Frömmigkeit aufzuwarten, statt also das Fromme selbst zu erklären. Handlungen, denen man das Prädikat „fromm“ zuschreiben kann, mag es viele geben, indes soll aber doch gezeigt werden, was das Identische in ihnen ist, mithin das, was sie allesamt zu etwas Frommen macht. Interessanter als dieser für einen Gesprächspartner des Sokrates nur allzu typische Fehler ist aber Euthyphrons Berufung auf Zeus. Dieser sei schließlich auch gegen seinen Vater vorgegangen, was er überdies um der Gerechtigkeit willen getan habe, und genauso stehe es nun auch mit seiner eigenen Klage, meint Euthyphron. Hier wird offensichtlich das Fromme an das Gerechte gekoppelt, um das es Euthyphron eigentlich zu gehen scheint. Seine Kompetenz in Bezug auf die Gerechtigkeit scheint Sokrates’ Gesprächspartner dabei vermittels seines Fachwissens in religiösen Dingen legitimieren zu wollen. Doch die Sphäre des Religiösen ist nicht unbedingt die Sphäre des Gerechten, zumal wenn man darunter das Wohlbegründete und auf solche Weise Gerechtfertigte begreift.²¹³ Das verdeutlicht bereits der Anfang des Satzes, durch den der Seher Zeus einführt: „Ganz von selbst“ halte man Zeus für den gerechtesten der Götter. Abgesehen davon, dass die Meinung der große Menge (hoi polloí) alles andere als eine überzeugende argumentative Größe darstellt, gibt es für einen Philosophen kein „ganz von selbst“. Vielmehr unterliegt jede Meinung, die beansprucht, Wissen zu sein, der Begründungspflicht, was bedeutet, dass man dazu in der Lage sein muss, nachvollziehbare Gründe dafür anzugeben, warum man etwas für wahr hält. Im Theaitetos hat Platon sich an einer Definition von Wissen versucht, die bis in die 1960er Jahre hinein im philosophischen Diskurs als Standardform für Wissen angesehen wurde bzw. faute de mieux noch angesehen wird,²¹⁴ und das obschon Sokrates sogar diese vielversprechende

213 Michael Erler weist darauf hin, dass das generelle Verhältnis von Philosophie und Religion bei Platon kein antagonistisches ist. Die zahlreichen Rückbezüge Platons auf das Religiöse dienen in aller Regel nicht der Kritik an den Inhalten der Religion. Der entscheidende Unterschied zwischen Philosophie und Religion – zugleich der Grund für den Vorrang, den Platon der Philosophie gegenüber der Religion einräumt – liegt auf der Begründungsebene: „Immer wieder wird deutlich, daß sich der religiöse vom philosophischen Diskurs weniger durch inhaltliche Aspekte unterscheidet als dadurch, daß der religiöse Diskurs Gründe für das als richtig erkannte schuldig bleibt, welche die Philosophie hingegen zu liefern vermag“ (Erler 2006, 73). 214 1963 hat Edmund Gettier in seinem nur drei Seiten kurzen Aufsatz Is Justified True Belief Knowledge gezeigt, dass Fälle denkbar sind – wenn auch stark konstruierte Fälle –, in denen eine wahre gerechtfertigte Meinung vorliegt, die jedoch nur durch Zufall wahr ist. In einem solchen Fall kann aber nicht von Wissen die Rede sein. Mit seinem Aufsatz hat Gettier in der akademischen Philosophie eine Art Lawine losgetreten, d. h. einen neuen, breiten Diskurs über das Wahrheitsproblem in Gang gesetzt. Wenn ich oben schreibe, die Standardform sei in Ermangelung einer neuen, besseren Definition bis heute noch in Geltung, so muss dem relativierend hinzugefügt werden, dass sie zumeist in modifizierter Version vertreten wird, und zwar stets „mit dem Anspruch, (…) Gettier-artigen Einwänden gegenüber sicher zu sein“ (Baumann 2006, 41).

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Definition als in letzter Konsequenz nicht zufriedenstellend zurückweist. Wie die meisten Dialoge Platons endet auch der Theaitetos in der Aporie. Wie dem auch sei, der Standardform zufolge versteht man unter Wissen wahre gerechtfertigte Meinung (alêthês doxa meta logou).²¹⁵ Das Mindeste, was Sokrates von seinem Gegenüber erwartet, ist, dass dieser seine Meinung angemessen zu begründen vermag. Doch damit nicht genug: Die Meinung muss, der genannten Formel folgend, überdies wahr sein, will sie mehr als nur eine bloße Meinung sein. Der im Theaitetos vorgeschlagene Begriff des Wissens beinhaltet Wahrheit. Nun ist es in der Regel leichter festzustellen, dass etwas falsch ist, als seine Richtigkeit nachzuweisen  – auf dieser Einsicht beruht bekanntlich auch Poppers berühmter Falsifikationismus. Keinesfalls wahr ist eine Meinung augenscheinlich dann, wenn sie Widersprüche provoziert. Auch auf kritisches Nachfragen hin darf die Position des Befragten ihre Konsistenz nicht verlieren.²¹⁶ Sokrates akzeptiert nur dasjenige als Wissen, was über dasselbe stets dasselbe bzw. nichts Widersprüchliches sagt. Es ist dies eine notwendige Bedingung des Wissens.²¹⁷ Und auch wenn es mit dem Wissen so eine Sache ist, wie gesagt hält ja nicht einmal die Standardform dem sezierenden Blick des Sokrates stand, lässt sich dem bloßen Meinen mitunter leicht auf die Schliche kommen. So auch im vorliegenden Fall. Euthyphrons Ausführungen erweisen sich bei genauerem Hinsehen als inkonsistent. Ihre Unbeständigkeit zeigt sich offen beim zweiten Definitionsversuch von „Frömmigkeit“ des Euthyphron, basiert allerdings schon auf dessen Anführung des Streites zwischen Zeus und Kronos: Sokrates erkundigt sich bei seinem Gegenüber, ob dieser wirklich an das traditionelle Götterbild Homers glaube, wonach die Götter untereinander Krieg führen. Euthyphron bejaht die Frage nachdrücklich. Derweil macht Sokrates aus seiner Seele keine „Mördergrube“ und verschafft seinen Zwei-

215 Vgl. zu diesem dritten und letzten Versuch einer Definition von Wissen im Theaitetos, Tht., 201c– 210a. 216 Es gilt „bereits seit dem Frühwerk[Platons– E.B.] als eine notwendige Bedingung des Wissens, dass man es vermag, in einem argumentativen Zwiegespräch gegenüber einem kritisch Fragenden die Konsistenz der eigenen Position zu bewahren“ (Szaif 2009, 355). 217 Um die Wahrheit bzw. das Wissen geht es auch der Philosophie, weswegen sie über dieselben Gegenstände nicht einer Laune nachgebend oder gar aus opportunistischen Gründen „bald so bald so“ redet, sondern „stets auf die nämliche Weise“ (vgl. Gorg., 481a–482a). Im Gorgias wirft der Sophist Kallikles Sokrates vor, dieser würde gegen ihn immer nur dasselbe vorbringen. Sokrates pariert diese Attacke mit dem impliziten Gegenvorwurf, dass Kallikles keineswegs wissen könne, wovon er spricht, weil seine Aussagen schon im Ansatz von Unwissenheit zeugen, indem sie die oben angeführte notwendige Bedingung des Wissens nicht erfüllen. Kallikles argumentiert somit (in Berücksichtigung der zitierten Aussage des Sokrates aus Gorg., 482a) auch nicht philosophisch. Nebenbei: Platon zieht hier also eine klare Grenzlinie zwischen der Philosophie, der es um die Wahrheit geht, und der Sophistik, die sich um die Wahrheit oder um striktes Wissen eben nicht kümmert. Die entsprechende Passage aus dem Gorgias lautet wie folgt: „Kallikles: Immer bringst du wieder dasselbe vor, mein Sokrates./Sokrates: Nicht nur dasselbe, sondern auch über dieselben Sachen“ (Gorg., 490e). „(…)[I]ch aber mache dir den entgegengesetzten Vorwurf, nämlich daß du niemals dasselbe sagst über die nämliche Sache (…)“ (Gorg., 492b).

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feln am traditionellen griechischen Religionsverständnis Luft, indem er an das gegen ihn angestrebte Verfahren erinnert: „Lieber Euthyphron, das ist wohl der Grund zur Klage gegen mich, daß es mich mit großem Unwillen erfüllt, wenn einer von den Göttern solche Dinge sagt“ (Euthyphr., 6a). Euthyphrons zweiter Bestimmungsversuch der Frömmigkeit behauptet, fromm sei das den Göttern Angenehme oder Liebe (Euthyphr., 7a.). Zuerst lobt Sokrates diese Definition. Sie sei schön, sagt der Lehrer Platons, womit er meint, sie sei im Gegensatz zum ersten Anlauf des Sehers immerhin formal korrekt, d. h. tatsächlich eine Definition und bestehe nicht nur in der Anführung eines Einzelbeispiels. Doch auch diesmal hat Sokrates noch etwas auszusetzen. Auch ihre formale Schönheit bewahrt Euthyphrons Definition nicht davor, falsch zu sein. Sokrates erinnert an das zuvor Zugestandene: „Ist nun nicht auch behauptet worden, (…) daß die Götter untereinander hadern und streiten und gegenseitige Feindschaft unter ihnen herrscht?“ (Euthyphr., 7b). Sodann ruft er erneut das Recht bzw. die Gerechtigkeit auf den Plan. Denn die Götter sind sich zwar darin einig, „daß, wer Unrecht getan hat, dafür büßen muß; aber darüber rechten sie wohl, wer es ist, der unrecht getan hat und womit und unter welchen Umständen“ (Euthyphr., 8d). Ebenso wie die Menschen streiten also auch die Götter über Recht und Unrecht. Das bedeutet freilich, dass selbst im Reich der Götter Uneinigkeit über das Wesen der Gerechtigkeit herrscht. Der eine Gott hält dieses für fromm/rechtens und jenes für unfromm/unrecht, während der andere das gerade Gegenteil vertritt, mithin jenes für fromm/rechtens und dieses für unfromm/unrecht erachtet. Folglich sagen die Götter, wenn man sie im Plural betrachtet, was die Definition des Euthyphron ja tut, von einem und demselben, dass es sowohl fromm/rechtens als auch unfromm/unrecht sei. Ergo ist Euthyphrons Definition hinfällig, weil sie in einen Widerspruch mündet. Dieser Umstand sorgt nicht nur bei Euthyphron für Unwillen – nach einem weiteren gescheiterten Definitionsversuch gibt er entnervt auf, indem er vorgibt, keine Zeit mehr zu haben. Viel wichtiger ist, dass Sokrates gezeigt hat, dass man von den traditionellen griechischen Göttern nicht lernen kann, was Recht und Unrecht ist. Die Götter wissen es nämlich selber nicht. Gut möglich, dass es der eine oder andere Gott weiß. Weil aber der Mythos keine Begründungen bietet, kann man allein durch die Mythen nicht herausfinden, welcher Gott in Wahrheit ein Wissender ist. Die sokratische Suche nach dem Wesen der Dinge (bzw. des jeweils Erfragten) soll aber insbesondere bei so überaus wichtigen Fragen, wie der nach Recht und Unrecht, einen Gewinn für die Praxis zeitigen. Gesucht wird in der Wesenserkenntnis immer auch ein Muster, an dem man sich in der Praxis orientieren kann, um gut, gerecht, fromm, tapfer usw. zu handeln, und um beurteilen zu können, wer nicht gut, gerecht, fromm oder tapfer usw. agiert.²¹⁸

218 Auch das wird im Euthyphron angesprochen: „Demnach belehre mich über dieses Wesen selbst, was es denn ist, damit ich auf dasselbe hinblicke und es als Muster brauchen kann und so Handlungen von dir oder irgendeinem anderen, die ihm entsprechen, als fromm bezeichne, die aber, die ihm nicht entsprechen, nicht so nenne“ (Euthyphr., 6e).

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Sokrates’ reservierte Haltung gegenüber dem traditionellen Mythos darf nicht voreilig mit Gottlosigkeit gleichgesetzt werden. Sein Philosophieren steht vielmehr unter dem Stern des delphischen Gottes, so dass es, ganz im Gegenteil, geradezu als eine Art Gottesdienst begriffen werden kann. Den traditionellen Göttern der Polis, so wie sie in Homers Epen geschildert werden, weiß er sich dagegen nicht mehr verpflichtet. Walter Bröcker hat die Ablehnung des Sokrates gegenüber den Göttern des Mythos einmal ziemlich radikal formuliert und damit gleichzeitig indirekt angesprochen, woran Nietzsche bei Sokrates und auch Platon Anstoß genommen hat: Die anthropomorphen Götter Athens waren Sokrates und Platon nicht moralisch genug: Die mythische Religion, die Götter verehrt, die jenseits von Gut und Böse wirkende Lebensmächte sind, ist auch[genauso wie z. B. für Xenophon – E.B.] für Plato eine erledigte Sache. Die alten Götter sind für ihn und seinen Sokrates tot. (Bröcker 1999, 123)

Auf „jenseits von Gut und Böse wirkende Lebensmächte“ kommt für Nietzsche aber alles an. Sie halten die Welt in Gang und machen ihr Wesen aus. Was ist das Dionysische, wenn nicht eine solche außermoralische Lebensmacht? Während Nietzsche in der Dichtung Homers, wie gesehen, „die allein genügende Theodicee“ (GT 3; KSA 1, 36) erkennt, stellt die Götterwelt der Ilias und der Odyssee für Sokrates „ein Spiegelbild der Gesellschaft seiner Zeit“ dar, wie Christoph Kniest mit Bezug auf den Euthyphron (7e–8a) feststellt. Sokrates, „der das traditionelle homerische Bildungsideal des Schönen und Guten in der von Krieg und Unruhen zerrissenen Polis gescheitert sieht“ (Kniest 2003, 104), will eine rational begründete Ethik gegen das unbegründete und seiner Meinung nach gerade deswegen Gescheiterte setzen. Es gilt sich hier vor Augen zu halten, dass sich die gemeinhin mit den Sophisten verbundene Infragestellung des Nomos tatsächlich auch bei Sokrates findet. Das griechische Wort „nomos“, das im Deutschen für gewöhnlich durch das Wort „Gesetz“ übersetzt wird, meint nicht einfach ein schriftlich fixiertes Gesetz. Es umfasst mehr. Mit dem Nomos sind „vielfältige Regeln“ gemeint: „kodifizierte und ungeschriebene Gesetze, Sitten und Gebräuche.“ Außerdem war der Nomos – und das ist nun das Punctum saliens – „im archaischen Denken (…) als religiös legitimierte Ordnung verstanden“ (Schröder 2005, 215) worden. Durch die Infragestellung der traditionellen Religion, wie durch Sokrates geschehen, rückt der ganze Bereich der durch den Nomos abgedeckten Werte und Verhaltensregeln in den Fokus des kritischen Geistes. Das bis dato fraglos Geltende wird der Fragwürdigkeit preisgegeben. Sokrates kümmert sich nicht darum, was man traditionell zu tun und zu lassen hat. Er fühlt sich nicht an Regeln gebunden, deren Sinn er nicht versteht, ja schlechterdings nicht verstehen kann, weil sie in seinen Augen überhaupt nicht sinnvoll sind. Soll die Bezeichnung „sinnhaft“ ihnen gegenüber Sinn machen, so müssten sie sich angemessen begründen lassen. Das ist aber offensichtlich nicht der Fall. Also fügt sich Sokrates, der sich einzig und allein der Vernunftherrschaft beugt, diesen Regeln nicht. Sein moralisch-intellektuelles Credo besteht, wie er noch im Angesicht des Todes seinem Freund Kriton mitteilt,

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darin, „daß ich keiner anderen Stimme meines Innern folge als der, die mir bei eingehender Prüfung als die beste erscheint“ (Krit., 46b). Sokrates folgt also, die Rede von der eingehenden Prüfung zeigt es an, allein dem Logos, und zwar demjenigen, der sich ihm bei reichlicher Überlegung als der beste gezeigt hat. In der Politeia besteht Sokrates darauf, dass wir bei der Beantwortung der menschlichen Kardinalfrage nach dem guten Leben unbedingt nach der Wahrheit verlangen müssten, so sehr wie bei keiner anderen Frage. Das leuchtet ein, denn uns ist ja an einem wirklich guten Leben gelegen und nicht an einem, das nur scheinbar gut ist.²¹⁹ Die wahre Glückseligkeit (eudaimonia) gibt es für Sokrates indes nicht ohne die wahre Tugend – dies zu übersehen, ist ein typischer und zentraler Fehler seiner Zeitgenossen. Welches die wahre Tugend ist oder, gesetzt, dass es mehrere Tugenden gibt, die wahren Tugenden sind, wird jedoch nur erkennen, wer wie Sokrates dem besten Logos folgt – schließlich ist Tugend ja Wissen, wie Sokrates nicht müde wird zu betonen. Selbst wenn die konventionelle bürgerliche Tugend hier und da einmal mit der wahren Tugend übereinstimmen sollte, wäre dies nur die Folge eines Zufalls. In Akzeptanz der Prämisse, dass Tugend Wissen ist – ein Satz, der sich der scharfen Kritik Nietzsches ausgesetzt sieht – kann man indes auch in diesem Fall nicht mehr von Tugend sprechen. Den konventionellen Verhaltensregeln fehlt es schlicht und ergreifend an philosophischem, Rechenschaft ablegendem Gehalt. Aus diesem Grund, d. h. ohne ein philosophisch begründetes Fundament, stehen sie und mit ihnen die Polis auf tönernen Füßen. Indem Sokrates sich um eine solche vakante Begründung bemüht, wird aus bloßen Sitten eine Moral. Die Sittlichkeit wird in Moralität verwandelt, eine Transformation, die Hegel zufolge ein so einschneidendes Ereignis ist, dass sie Sokrates in den Rang einer „welthistorische[n] Person“ erhebt (vgl. Hegel 1970[1807], 441).²²⁰ Nietzsche teilt die Einschätzung Hegels, zumindest was den geschichtlichen Status der Person des Sokrates anbelangt. Auch für ihn hat der eigentümliche „MarktplatzPhilosoph“ eine weltumstürzende Bedeutung. Den gewaltigen Einfluss des Sokrates auf die Geschichte beurteilt er hingegen, wie schon zu ahnen ist und noch gezeigt wird, sehr viel negativer als der Idealist Hegel. Problematisch ist dieser Einfluss nach dem Dafürhalten Nietzsches, weil Sokrates am Niedergang seiner Epoche entscheidend mitwirkt und weil er außerdem die Richtung, in die sich die Menschheitsge-

219 Die Passage aus der Politeia, auf die ich anspiele, lautet wie folgt: „Ist es nicht klar, daß, wo es sich um Gerechtes und Schönes handelt, viele sich mit dem bloßen Schein begnügen und es, auch wenn keine Wahrheit dahinter steht, doch tun und besitzen und sich an den Schein halten, während sich beim Guten niemand damit zufrieden gibt, bloß das Scheinbare zu besitzen, sondern jeder dem wirklich Vorhandenen nachstrebt und den bloßen Schein hier mit Verachtung von sich weist“ (Rep., 505d). 220 Mit Sokrates kommt für Hegel das Prinzip der Subjektivität in die Welt. Hegel behauptet in seinen geschichtsphilosophischen Vorlesungen, mit Sokrates beginne „die Reflexion des Bewußtseins in sich selbst“ (Hegel 1970[1807], 468) und meint damit die Heraufkunft eines Subjekts, das sich selbst als denkendes (und begründungsfähiges) zum Maßstab der Wahrheit macht (vgl. Hegel 1970[1807], 471).

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schichte fortan entwickelt, maßgeblich vorgibt. Der Einfluss des großen Philosophen wirkt sich demnach zum einen negativ auf seine Gegenwart aus: Sokrates trägt das tragische Zeitalter zu Grabe. Zum anderen reicht sein langer Arm weit in die Zukunft des Abendlandes hinein, indem Sokrates die Herrschaft des Wahrheitsimperativs installiert. Mit Sokrates endet das tragische Zeitalter und das optimistische beginnt, wobei für Nietzsche die Abenddämmerung des ersteren genauso tödlich ist wie die Morgenröte des letzteren. Bevor ich in Bezug auf Punkt eins, den Abgesang auf die Tragödie und das tragische Zeitalter, ins Detail gehe, also die Frage behandle, wie genau Sokrates die alte Tragödie sabotiert, will ich noch einmal deutlicher herausstellen, was ihm an ihr so sehr missfallen haben könnte. Nietzsche führt dies nicht expressis verbis aus, deutet es vielmehr bloß an. Ich meine aber, diese Andeutung lässt sich, vor dem soeben aufgespannten Hintergrund, zu einer Begründung ausfalten. Es geht Sokrates, wie gesehen, um den besten Logos. In der Geburt der Tragödie schreibt Nietzsche, Sokrates habe die alte Tragödie abgelehnt, weil er sie nicht verstanden habe (vgl. GT 11; KSA 1, 81). Es versteht sich, dass dieses Unverständnis bei Sokrates kaum auf einem intellektuellen Mangel beruht. Viel wahrscheinlicher ist, dass er die Tragödie schlichtweg nicht verstehen will, weil sie ihr tragisches Wissen nicht primär dem Logos mitteilt, sondern anstelle dessen im Modus des Sich-Ereignens zum Zuschauer spricht, so dass sie ihr Wissen eben nicht als klassisches Wissen, sondern eher als eine Art gelebte Wahrheit preisgibt. Sokrates unterdessen verlangt, ganz auf das Apollinische eingestellt, dass sich ihm die Tragödie erkläre, d. h. in Begriffen darlegt, was sie zu sagen hat. Er erwartet, dass sie sich logisch, dem Satz vom Grunde gemäß, analysieren lässt. Es ist nicht zu viel gesagt, wenn man behauptet, der nietzscheanisch interpretierte Sokrates fordere letztlich von der ganzen Welt die Unterordnung unter das logon didonai.²²¹ Er will allein die rationale Erfahrbarkeit der Wirklichkeit gelten lassen. Die Tragödie erweist sich jedoch im Hinblick auf dieses 221 Man könnte hier versucht sein einzuwenden, dass sich Sokrates nicht für die Welt, sondern nur für die Menschen interessiere, dass er sich also anders gesagt nicht mit naturphilosophischen, sondern mit ethischen Fragen beschäftige. Eine Passage aus dem Phaidros, in der Sokrates dem jungen Phaidros erklärt, warum er sich so selten aus Athen hinaus in die freie Natur begibt, unterstütz diesen Einwand prima facie: „Die Örtlichkeiten[bei Schleiermacher heißt es „Fluren“, wodurch der Bezug zur Natur deutlicher wird als durch das von Apelt, dessen Platon-Übersetzung ich in vorliegender Studie aber durchgehend verwende, bevorzugte „Örtlichkeiten“ – E.B.] nun und die Bäume wollen mich nicht lehren, dagegen die Menschen in der Stadt“ (Phdr., 230d). Und auch der Phaidon, in dem Sokrates in Kürze seinen Bildungsweg schildert und dabei seine Abwendung von der Naturphilosophie der Vorsokratiker beschreibt, ließe sich in diesem Kontext anführen. Von Anaxagoras, verrät uns Sokrates im Phaidon, sei er zunächst begeistert gewesen, weil diesem zufolge die Vernunft „alles anordnet und alles bewirkt“. Alles sei gut geordnet, dem besten Logos gemäß – „auf die denkbar zweckmäßigste Weise (…)“ (Phd., 97b). Sokrates sei nun des Glaubens gewesen, Anaxagoras würde von hier aus eine Lehre entwickeln, in der das Gute die Stelle des ersten und höchsten Prinzips einnehme und infolgedessen auch mit einer Antwort auf die entscheidende Frage, wie sich ein gutes Leben führen lasse, aufwarten (vgl. Phd., 98b). Aber nichts dergleichen. Statt von ethischen Dingen zu handeln,

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rationalistische Programm als widerspenstig. Nietzsche präsentiert sich bereits in seiner ersten großen Schrift als Meister in der Anwendung jenes Perspektivismus, den er später zum philosophischen Programm deklariert, wenn er versuchsweise den Blickwinkel des Sokrates einnimmt und sich vorstellt, wie dieser die Tragödie gesehen haben müsse. Das „grosse Cyklopenauge²²² des Sokrates“ müsse „auf die Tragödie gewandt (…)[e]twas recht Unvernünftiges, mit Ursachen, die ohne Wirkungen, und mit Wirkungen, die ohne Ursachen zu sein schienen“, gewahren (GT 14; KSA 1, 92). Schon aus rein strukturellen Gründen, als apollinisch-dionysischer „Bruderbund“ (GT 21; KSA 1, 140), muss die Tragödie Sokrates ein Dorn im Auge gewesen sein, denn das Dionysische entzieht sich dem besten Logos naturgemäß. Aber auch auf der praktischen Ebene²²³ konnte sie unmöglich seinen Beifall finden, denn die Tragödie erschien ihm als etwas, was die Menschen leicht verderben könne. „[D]as Ganze“ sei „so bunt und mannichfaltig, dass es einer besonnenen Gemüthsart widerstreben müsse, für reizbare und empfindliche Seelen aber ein gefährlicher Zunder sei“ (GT  14; KSA  1, 92). Gemäß den Überlegungen Nietzsches vermutet Sokrates also einen schädlichen moralischen Einfluss durch die Tragödie auf die Polis. Und in der Tat galten die Tragödiendichter den Athenern lange Zeit als

komme Anaxagoras am Ende nur wieder – typisch vorsokratisch – auf materielle Ursachen zu sprechen. Deswegen habe Sokrates sich enttäuscht von der Naturphilosophie abgewendet. Nun folgt aber, um dem möglichen Einwand zu begegnen, aus einer Absage an naturphilosophische Fragen nicht ipso facto, dass Sokrates die Natur nicht mehr als durch die Vernunft bestimmt sehen würde. Im Gegenteil: Gerade das: die verkündetet Herrschaft der Vernunft über die Natur, war es ja, was ihn anfangs an Anaxagoras begeistert hatte. Der Vorsokratiker habe nur nichts aus diesem glänzenden Ansatz gemacht, weil er es versäumt habe, den Nous an das Gute zu binden. Hinzu kommt: Sokrates verwirft naturphilosophische Fragen durchaus nicht in Bausch und Bogen. Er will sie nur nicht um ihrer selbst willen, sondern stets in Verbindung mit der Frage nach dem guten Leben behandelt wissen. Diese wiederum gehört selbst in den Kontext des Weltganzen, das als Ordnung und nicht als Unordnung angesehen werden müsse (vgl. Gorg., 506c–507a). Somit kommt auch das Thema der Eudämonie nicht gänzlich ohne naturphilosophische Erwägungen aus. 222 Man wird sich fragen dürfen, warum Nietzsche wohl den Ausdruck bzw. das Bild des „Cyklopenauges“ wählt. Mir scheint das Bild Nietzsches Verständnis des Sokrates gut zu illustrieren, weil der Zyklop nur ein Auge hat, so dass der als Zyklop bezeichnete Mensch jemanden meint, der gleichsam auf einem Auge blind ist. Zugleich aber ist das Zyklopenauge riesig, nach menschlichem Maß hypertroph. Es sieht übermenschlich weit und scharf. Auf Sokrates angewendet ergibt sich demnach: Er ist auf dem dionysischen Auge blind, sieht aber mit dem apollinischen Auge unnatürlich scharf. 223 Mit dem Praktischen meine ich den Einfluss, den die Tragödie auf den einzelnen Zuschauer und damit zuletzt auch auf die ganze Polis ausübt – man bedenke, dass die großen Dionysien, in deren Rahmen die Tragödie aufgeführt wurden, ein fester kultureller Bestandteil der Polis waren und ihr Besuch für einen Bürger Athens obligatorisch war, so dass wir es hier mit einem nicht unerheblichen Teil von Zuschauern zu tun haben, zu denen in Sonderheit auch die einflussreichsten Bürger Athens gehörten.

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moralische Instanzen.²²⁴ Was aber haben die Zuschauer von der Tragödie gelernt bzw. welches Weltbild wurde ihnen im Theater vermittelt? Noch anders gefragt: Durch welche moralische Schule sind die Besucher der Dionysien während der Tragödien gegangen? Die attischen Tragödien drücken die „existenzielle Grunderfahrung der Griechen“ (Wolf 1999, 33) aus. Und diese Grunderfahrung ist, wie längst bekannt, tragisch. Der Mensch ist ein Spielball der Götter, ihren Launen hoffnungslos ausgeliefert, der Moira gegenüber machtlos. Man braucht nur an den Ödipus-Mythos zu denken: Wenngleich der große Rätselrater und König von Theben auch mit den besten geistigen Anlagen gesegnet ist und alles Erdenkliche daran setzt, der Bewahrheitung des über ihn verhängten schrecklichen Orakelspruchs zu entgehen, holt ihn das Schicksal am Ende doch gnadenlos ein. In moralischer Perspektive bzw. aus Sicht des hegelschen Sokrates, d. h. in vormoralischer, aber sittlicher Perspektive, ist Sophokles’ Tragödie Antigonie vielleicht ein noch besseres Beispiel für die grundlegende Tragik des menschlichen Lebens. Auf einen Satz gebracht zeigt sie, wie derjenige endet, der sich dem göttlichen Gebot widersetzt und meint, den menschlichen Willen über den der Götter stellen zu können – nämlich tragisch: hier als einsamer und gebrochener Mann, dem die späte Einsicht den Kelch, den er von nun an bis zum Ende (bis zu seinem Tod) trinken muss, nur noch bitterer macht. Die ältere Tragödie definiert den Menschen im defizienten Gegensatz zu den Göttern: Die Menschen sind die Sterblichen (thanatoi), die Götter die Unsterblichen (athanatoi); die Grenzscheide zwischen der irdischen und der göttlichen Sphäre ist nur für die Götter beliebig überwindbar, während ein Mensch sie nur von Gottes Gnaden überschreiten kann. Die angemessene Haltung der Menschen gegenüber den Göttern ist die Demut. In mannigfaltigen, stets schrecklichen Varianten präsentieren die griechischen Tragödien die Folgen menschlicher Selbstüberschätzung. Während in der Antigone die rechtzeitige Einsicht Kreons sowohl sein eigenes als auch Antigones tragisches Ende noch hätte abwenden können, hätte er sich den göttlichen Geboten gegenüber doch bloß in gehorsamer Demut geübt, so steht gleich am Beginn des Ödipus Rex ein Orakelspruch und damit ein unabwendbares Schicksal. Zu keiner Zeit hatte es Ödipus in der Hand, seinem grauenvollen Schicksal zu entgehen. Zwar hätte er an einem gewissen Punkt sein unablässiges Hinterfragen aufgeben können und solcherart die furchtbare Wahrheit im Dunkel lassen können, dort, wo sie Iokaste und Teiresias zufolge hingehörte. Aber wäre sie tatsächlich im Dunkeln geblieben? Hätte sie nicht vielmehr als der Schatten einer verhängnisvollen Ahnung ein Stück des Dunkels in das so hell glänzende Leben des Königs von Theben getragen, wodurch ihm ein glückliches Leben fortan verwehrt

224 „Die Tragödiendichter, die anhand von Stoffen aus dem Mythos das menschliche Geschick in seiner Unsicherheit und Gefährdung darstellten, galten den Athenern als ihr moralisches Gewissen“ (Döring 2009, 12).

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worden wäre – so oder so?²²⁵ Der Mensch scheint jedenfalls gemäß dem in der älteren Tragödie präsentierten Welt- und Menschenbild alles andere als seines Glückes Schmied zu sein. Gerade das missfällt aber dem optimistischen Sokrates. Er versucht einem solchen Fatalismus durch seinen Optimismus beizukommen. Er sucht nach Stabilität und Verlässlichkeit in all dem zufalls- und schicksalsabhängigen Wechsel und findet sie in der Person des jeweiligen Menschen: Die existenzielle Grunderfahrung der Griechen besteht darin, daß der Mensch von außen den Wechselfällen des Schicksals und von innen dem Auf und Ab der eigenen Affekte ausgeliefert ist. Es ist diejenige Erfahrung, die in der Lyrik so artikuliert wird, daß der Mensch eph’ hemeros ist. Das heißt genaugenommen nicht, wie häufig übersetzt wird, der Mensch sei ein Eintagsgeschöpf, gemeint ist vielmehr, er sei den Einflüssen des Tages ausgeliefert, also ein Spielball von Einwirkungen (…). Von hier aus wird verständlich, wieso Sokrates das gute Leben in der arete der Person sucht (…). Das eigene Gutsein ist etwas, was die Person selbst in der Hand hat, während sie äußerem Wechsel ausgesetzt ist. Die von Sokrates empfohlene Lebensform, die ständige Ausübung der arete, erlaubt es daher dem unvermeidlichen Ausgeliefertsein an den Zufall etwas entgegenzusetzen. (Wolf 1999, 33f.)

Sokrates bestreitet die Zufallsausgesetztheit des Menschen keineswegs. Er wendet sich jedoch gegen die Überfokussierung auf diese Facette der menschlichen Existenz, die den Menschen zum passiven Zuschauer seines eigenen tragischen Lebens werden lässt. Das größte Übel, das dem Menschen widerfahren kann, ist eigentlich kein Widerfahrnis, weil es nicht von außen über ihn kommt. Den größten Schaden fügt der Mensch sich selbst zu. Davon ist Sokrates zutiefst überzeugt: „Unrecht leiden ist besser als Unrecht tun“ (vgl. z. B. Gorg., 472d), lautet sein entsprechendes Credo, das er so energisch wie scharfsinnig gegen Sophisten wie Polos, Thrasymachos und Kallikles vertritt. Er setzt eine Moral, welche die autarke Position des Einzelnen betont, sofern es um dessen Glückseligkeit geht, gegen eine religiös fundierte Sittlichkeit, in deren Mittelpunkt eine schicksalsergebene Demut steht. Sokrates selbst  – und das macht einen Großteil seiner herausragenden Bedeutung vor allem, aber nicht nur, innerhalb der Philosophiegeschichte aus – gibt ein lebendes (und sterbendes) Beispiel für sein Credo ab, wie es dramatischer gar nicht sein könnte. Er leidet Unrecht und das obendrein durch das geltende Recht, indem er vom Gericht Athens zum Tode verurteilt wird. Indessen verzichtet er auf eine durchaus mögliche Flucht, weil er diese für ein Unrecht hält: Es möge ja sein, dass er Unrecht durch die Gesetzte erfahren habe, lässt Sokrates seinen Freund Kriton wissen, der den Verurteilten zur Flucht überreden will. Er, Sokrates, habe sich allerdings freiwillig unter die Gesetzte, die in Athen gelten, gestellt und so wäre es nun seinerseits ein Unrecht, ihren Urteilsspruch 225 Es ist auch denkbar, dass er als derjenige, der er nun einmal ist, aufgrund seines Charakters also, eigentlich keine Wahl hatte, das Fragen zu beenden. Ödipus ist eben der Rätselrater, ist jemand, der einem Rätsel, insbesondere wenn es sich nicht so leicht lösen lässt, nicht aus dem Weg gehen kann. Diese Deutung führt allerdings auf das weite Feld der Debatte um die Willensfreiheit hinaus, ein Thema, das hier selbst nicht zur Debatte steht.

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nicht zu akzeptieren. Er habe sich sein Leben lang stets um Gerechtigkeit bemüht und wolle nun keineswegs in seinen letzten Tagen darauf verfallen, seinem bisherigen Leben zu spotten, indem er jetzt ungerecht handele bzw. Unrecht tue²²⁶ – so argumentiert Sokrates, freilich in geraffter Zusammenfassung, im Kriton. Die ganze Situation, in der Sokrates beispielhaft zu seinem genannten Grundsatz steht, könnte auch in formaler Hinsicht kaum dramatischer sein, insofern das Leiden eines im Grunde Guten und Gerechten zum Kernbestand einer griechischen Tragödie gehört. Auf diese Weise wird die unerhörte Qualität des in der Tragödie vorgeführten Leids ja überhaupt erst erreicht: weil das Leid nicht nur physisch, sondern darüber hinaus auch moralisch bestimmt ist.²²⁷ Die Geschichte vom Tod des Sokrates hat also selbst das Potenzial zu einer Tragödie. Allerdings verhindert das Verhalten des doch eigentlich zum tragischen Helden disponierten Philosophen die Tragödie, vereitelt die Entfaltung des tragischen Potenzials, indem der tragische Held seine Geschichte durchaus nicht als eine Leidensgeschichte und als tragisch ansehen will. Sokrates macht aus seinem Tod ein unüberbietbares Exempel seiner Philosophie, indem er noch in der Stunde seines Todes philosophiert und, getragen von der Überzeugung, seine Seele durch Vermeidung des Unrechttuns rein gehalten zu haben, allem Anschein nach glücklich in den Tod geht. Die endgültige Aufhebung der Tragödie durch eine philosophische Moral vollzieht schließlich sein Schüler Platon, indem er dem Tod des Sokrates mit dem Phaidon ein philosophisches Denkmal setzt.²²⁸ In der Extremsituation des nahenden Todes stellt sich hier „die Frage nach der Vertrauenswürdigkeit des philosophischen Logos überhaupt“ (Figal 1998, 122). Sokrates beantwortet sie neben allen Argumenten, die er für seine Behauptung der Unsterblichkeit

226 Sokrates lässt sich von Kriton zugeben, dass man unter keinen Umständen unrecht tun dürfe, indem er ihm klarmacht, dass gerade im Hinblick auf die besondere Situation, in der man sich nun befinde, Haltung gefragt sei, wolle man nicht sein ganzes bisheriges, philosophisches Leben ausgerechnet in den letzten Tagen noch durch eine Tat unglaubwürdig machen bzw. negieren: „Wie steht es mit unserer Meinung über das Unrechttun? Darf man unter keinen Umständen freiwillig unrecht tun, oder darf man es unter gewissen Umständen, und unter anderen wieder nicht? Oder ist das Unrechttun überhaupt durchweg weder gut noch schön, wie wir in früheren Gesprächen es oft festgestellt haben? (…). Oder sollen alle diese früheren Feststellungen in diesen wenigen Tagen wie weggeblasen sein? Sollen also Männer so hohen Alters wie wir, mein Kriton, schon geraume Zeit ernsthafte Reden miteinander getauscht haben, ohne zu merken, daß es reines Kinderspiel war, was wir trieben“ (Krit., 49a)? 227 Nämlich so, dass der Held zwar aufgrund seines eigenen Handelns schuldig wird, er aber doch nur aufgrund von Unwissenheit so agiert, wie er agiert, mithin im modernen juristischen Jargon ausgedrückt: „vermindert schuldfähig“ war. Das namenlose Leid, das er in Folge seiner Handlung erfährt, steht nun in keinem Verhältnis zu seiner Schuld. 228 „Der Konflikt des Sokrates mit der Polis hat die Anlage zur Tragödie, und Platons dramatische Kunst exponiert (…) das tragische Potential des Konfliktes in virtuoser Weise. Einzigartig ist aber die Verwandlung, die das Potential erfährt. Es wird daraus eben keine Tragödie, sondern philosophische Moral, die Moral des seine Glückseligkeit souverän betreibenden Individuums; darin wird die Tragödie aufgehoben“ (Niehues-Pröbsting 2004, 183).

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der Seele vorbringt, letztlich am überzeugendsten durch sein eigenes Beispiel: Ruhig und beherrscht trinkt er den Schierlingsbecher, obschon alle um ihn herum jammern und klagen. Er selbst hätte allen Grund zur Klage: zur Verzweiflung, zur Wut, zur Anklage. Auch böte sich ihm die optimale Gelegenheit, Mitleid bei den anderen wachzurufen. Noch einmal zeigt sich in aller Deutlichkeit, dass die Situation für eine Tragödie sozusagen wie gemalt ist.²²⁹ Doch Sokrates bleibt wie im Leben auch im Sterben souverän; und zwar indem er eine philosophische Haltung an den Tag legt: Er beweist die Herrschaft des Logos auch noch während seiner letzten und größten Herausforderung. Im Sinne der platonischen Seelenteilung gesprochen: Das Logistikon, d. i. der vernünftige Seelenteil, der im Idealfall denkend den Menschen lenken soll, bleibt bis zum Schuss der Herrscher innerhalb des Seelenlebens des Sokrates, der somit selbst zum Idealfall avanciert.²³⁰

4.1.2 Das Wie des Todes der Tragödie Wollte man die Frage, wie es laut Nietzsche auf inhaltlicher Ebene dazu kam, dass die Tragödie zugrunde ging, in aller Kürze beantworten, so müsste man nur auf die Auflösung des apollinisch-dionysischen Bündnisses hinweisen und das Wesentliche wäre gesagt. Auf einen Satz gebracht lautet der Befund: Die Tragödie kam zu Fall, weil die Allianz der beiden Grundkräfte zu Gunsten einer Herrschaft des Apollinischen aufgebrochen wurde.²³¹ Wie aber kam es zum Bruch des Bundes? Im buchstäblichen 229 Michael Erler weist daraufhin, dass der Sokrates des Phaidon „geradezu als Gegenentwurf zu einem tragischen Helden vorgestellt wird. Denn der Sokrates im Phaidon zeichnet sich durch eine Affektlosigkeit und eine nahezu heroische Selbstbeherrschung angesichts des Todes aus, die in ihrer Radikalität die anwesenden Freunde im Dialog und auch nicht wenige Leser irritiert und die Sokrates selbst als Kontrast zur tragischen Weltsicht bringt (115a). Sokrates verrät keine innere Bewegung, als er den Giftbecher trinkt (116b–117c), lässt keinen Trennungsschmerz gegenüber seiner Familie erkennen, schickt seine Frau, seine Kinder und seine Angehörigen vielmehr fort, als sie in lautes Klagen ausbrechen (59e–60a, 116b). Sokrates hadert nicht mit seinem Schicksal (aganaktein) oder klagt über ungerechte Behandlung, sondern erweist sich in den letzten Stunden seines Lebens als besonders ausgeglichener, ja glücklicher Mensch“ (Erler 2011, 25). 230 Nicht verschwiegen werden soll, dass Platon zu Zeiten der Niederschrift des Phaidon noch für die Einheit der Seele plädiert; ihre Unzusammengesetztheit nimmt sogar eine wichtige Rolle innerhalb der Beweisführung für ihre Unsterblichkeit ein. Dennoch lässt sich meiner Meinung nach sinnvoll ein Blick mit der in der Politeia eingeführten Tripartion der Seele auf das Verhalten des sterbenden Sokrates – das tödliche Gift fließt ja bereits durch seine Adern – werfen. Denn die Grenzsituation, in der sich Sokrates befindet, bietet ohne Zweifel allerlei Stoff für innerseelische Konflikte und es ist gerade deren „Konzeptualisierung“, die „[d]en Hintergrund für die Einführung der Seelenteilung bildet“ (Müller 2009a, 145). 231 Um sogleich einem Missverständnis vorzubeugen, sei bereits an dieser Stelle auf etwas hingewiesen, was ich später noch genauer darlegen werde: Es ist nicht das Apollinische, das für den Tod der Tragödie verantwortlich zeichnet und auch nicht Sokrates als Verkörperung des Apollinischen. Sokrates ist nämlich ein genauso dionysischer wie apollinischer Mensch. Der „Todesengel“ der Tragödie

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Sinne federführend ist bei diesem Entzweiungsprozess, dem „langen Todeskampfe“ (ST; KSA 1, 533) der Tragödie, der Tragödiendichter Euripides gewesen. Das behauptet jedenfalls Nietzsche,²³² der in der Geburt der Tragödie²³³ also mit einer Art „Dolchstoßlegende“ aufwartet. Zwar hält Nietzsche dem jüngsten der drei großen Tragödiendichter des Hellenentums zu Gute, seinen Dolchstoß nicht perfide, sondern „mit bestem Wissen und Gewissen“ (ST; KSA  1, 536) geführt zu haben, nämlich  – wohlgemerkt – gerade in der Absicht, einem von ihm ausgemachten Verfall der Tragödie entgegenzuwirken. Allein das macht den Tod der Tragödie nur umso tragischer, und auch ein mit Herzblut ausgeführter Stich ins Herz bleibt immer noch ein Todesstoß. Wie aber kommt Euripides überhaupt auf die Idee, das griechische Musikdrama habe sich in einem Verfallsprozess befunden? Nietzsche stellt Euripides, diesen „einsame[n] Denker“ und „begabten Dichter“, als einen aufmerksamen und vorzüglich kritischen Zuschauer der zu seiner Zeit aufgeführten Tragödien dar. In dieser Betrachterrolle sei ihm nun aufgefallen, „welche Kluft sich zwischen einer Tragödie und dem athenischen Publikum aufthue“. Vom Zuschauerrang aus konstatiert er eine „Incongruenz zwischen dichterischer Absicht und Wirkung“. Beispielsweise wurde „was für den Dichter das Höchste und Schwerste gewesen war (…) vom Zuschauer gar nicht als solches, sondern als etwas Gleichgültiges empfunden“ (ST; KSA 1, 537). Mit dem Vorsatz, es besser zu machen als die von ihm in kritischen Augenschein genommenen Tragödien bzw. deren Dichter, macht er sich selbst ans Werk. So wird Euripides zum lebenden Beispiel dafür, „wie der Recensent zum Dichter werden“ (ST; KSA 1, 538) kann. Er ist sonach ein Dichter, dessen Motivation zu dichten primär darin besteht, den Dichtern zu zeigen, wie man richtig dichtet. Um dieses hohe Ziel zu erreichen, geht er streng methodisch vor²³⁴ und setzt bei dem

ist Sokrates als „wahre Monstrosität per defectum“ (GT 13; KSA 1, 90), was bedeutet, soviel sei bereits jetzt schon gesagt, dass sich in ihm das Apollinische mit der Kraft des Dionysischen entfaltet und eben auf diese ungewöhnliche Art und Weise die Herrschaft des Apollinischen begründet. 232 Nietzsche geht so weit, den Todeskampf mit Euripides zu identifizieren: „Dieser Todeskampf der Tragödie heißt Euripides (…)“ (ST; KSA 1, 533). 233 Der Tod der Tragödie ist ebenso wie ihre Geburt Thema von Nietzsches Frühschrift. So hätte die Geburt der Tragödie eigentlich einen Titel verdient, der beide Momente des Lebens, das Entstehen und das Vergehen, berücksichtigt, z. B. „Geburt und Tod der Tragödie“. Auch wäre ein solcher Titel dionysischer gewesen, denn in Dionysos finden Heraklit zufolge Leben und Tod ihren gemeinsamen Ausdruck: „Ein und derselbe aber sind Hades und Dionysos, dem sie da toben und (…) feiern (…)“ (DK, 22 B15). 234 Dieses methodische Plus desjenigen, der seine Tragödien als „sokratischer Denker“ (GT 12; KSA 1, 84) nach einem Plan entwirft, erweist sich im Verhältnis zu anderen Dichtern in Wahrheit als eine Kompensationsleistung, ist also eigentlich Ausdruck eines Mangels. Euripides unterscheidet sich von anderen Dichtern dadurch, dass ihm etwas fehlt, was den wahren Dichter ausmacht: die poetische Mania. Der wahre Dichter geht gerade deswegen wahrhaftig inspiriert zu Werke, weil er durch diese Manie enthusiasmiert ist. Man beachte in diesem Kontext eine Nachlass-Notiz Nietzsches, darin er in ironischer Absicht die platonische Eloge auf die poetische Mania (vgl. Phdr., 245) zu „[p]assende[n] Schlußworte[n] für Euripides“ (NL 1869–1874, KSA 7, 1[64], 29) erklärt. Dass auch Platons Verständnis

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an, was er bei den anderen als mangelhaft empfunden und als Fehler beurteilt hat. Weil die vermeintlichen Fehler der Konkurrenten allesamt in engstem Zusammenhang mit der angesprochenen Kluft zwischen Tragödie und Zuschauer stehen, derart nämlich, dass sie diese Kluft erzeugen, die wiederum nichts anderes ist als ein Missverstehen oder Nichtverstehen seitens des Zuschauers, orientiert sich Euripides an einem entsprechenden dichterischen „‚Hauptgesetz‘“, nämlich: „‚[E]s muß alles verständig sein, damit alles verstanden werden könne‘“ (ST; KSA 1, 537). Auf diese Weise wird Euripides zum „erste[n] Dramatiker, der einer bewußten Aesthetik folgt“ (ST; KSA 1, 539), deren Impetus und Zweck es ist, den zwischen Tragödie und Zuschauer klaffenden „Verständnis-Graben“ zu überbrücken, mehr noch: ihn zuzuschütten. Dieses Vorhaben gelingt dem sokratischen Dramatiker in gewisser Weise tatsächlich, wie sich an seinen Charakteren ablesen lässt. Die euripideische Fokussierung auf „das Verständlichste“ kostet diese nämlich ihre Tiefe. Der euripideische „verstandesmäßige Brückenschlag zum Publikum“ (Zittel 1995, 25) ist eigentlich gar kein Brückenschlag, sondern viel eher eine Einebnung der tragischen Landschaft – und wo es keine Abgründe mehr gibt (zumindest in epistemischer Hinsicht, unter moralischem Gesichtspunkt mag das anders aussehen), bedarf es auch keiner Brücken mehr: (…) seine Helden sin d wirklich, wie sie sprechen. Aber sie sprechen sich auch ganz aus, während die aeschyleisch-sophokleischen Charaktere viel tiefer und voller sind als ihre Worte: sie stammeln eigentlich nur über sich. Euripides schafft die Gestalten, indem er sie zugleich zerlegt: vor seiner Anatomie giebt es nichts Verborgenes mehr in ihnen. (ST; KSA 1, 539)

Die euripideischen Helden erklären sich. Sie legen die Motive ihres Handelns sprachlich offen, wobei sie ganz darauf bedacht sind, dass man sie in ihrem Handeln auch ja verstehe. Also verschweigen sie nichts. Es gibt hier nichts Geheimnisvolles oder Doppelbödiges mehr und erst recht nichts Unverständliches. Die Charaktere des euripideischen Dramas erklären sich selbst: Sie „sprechen sich“, wie Nietzsche oben formuliert, „ganz aus“. Die Erklärungswut des Euripides ist damit aber noch nicht erschöpft. Gleich zu Beginn einer jeden seiner Dichtungen, im Prolog, wird der Zuschauer nicht bloß darüber aufgeklärt, was ihn im Folgenden erwartet, sondern die Handlung des Stücks wird darüber hinaus in ihren kausalen Zusammenhängen umfassend beleuchtet: Es wird von einer im Übrigen zuverlässigen Person – „Gottheit“ oder „Heros“  – „am Eingange des Stücks erzählt, wer sie sei, was der Handlung vorangehe, was bis jetzt geschehen, ja was im Verlaufe des Stückes geschehen werde“ (ST; KSA  1, 538). Wie der Prolog das Programm der Vergangenheit, so entwirft schließlich der Deus ex Machina „das Programm der Zukunft“, und „[z]wischen dieser epischen Vorschau und Hinausschau liegt die dramatisch-lyrische Wirklichkeit

von Mania oder Rausch in Nietzsches Augen „lediglich im Abglanz einer entfernten Erinnerung etwas mit Wahnsinn oder Rausch zu tun hat“ (Därmann 2005, 159), sowie was Nietzsche selbst unter Rausch versteht, hat Iris Därmann (2005) herausgearbeitet.

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und Gegenwart“ (ST; KSA 1, 539). Es geht bei Euripides also in jeder Hinsicht logisch zu, auch chrono-logisch. Solcherart aber – und darauf kommt alles an – findet die Philosophie Einlass in den Bereich der Kunst, welches Eindringen es nach Nietzsche denn auch ist, was der Tragödie schließlich den Garaus macht. Wie gesehen geht es Sokrates namentlich um das logon didonai, und so darf Nietzsche – freilich unter der Voraussetzung der Akzeptanz des von ihm gezeichneten Euripides-Bildes  – Euripides mit einigem Recht einen „aesthetischen Sokratismus“ unterstellen. Gewissermaßen als dessen Dogma macht Nietzsche den Satz aus, „‚alles muss bewusst sein, um schön zu sein‘“, den er wiederum dem sokratischen Grundsatz „‚alles muss bewusst sein, um gut zu sein‘“ als „Parallelsatz“ an die Seite stellt (GT 12; KSA 1, 87; vgl. ST; KSA 1, 540). Dergestalt wird Euripides bei Nietzsche „zum indirekten Verfechter des Tugendwissens“ (Müller 2009b, 48, Anm.  2), was bedeutet, dass die (philosophische) Moral Einzug in die Kunst hält. Vor dem strengen Auge der Moral kann allerdings – auch das wurde bereits berührt – insbesondere der im Mythos verbildlichte dionysische Kern einer jeden echten Tragödie nicht bestehen. Dem korrespondiert die in Euripides wirkende „sokr atische[] Tendenz“ mit ihrem Ziel, „das Drama allein auf das Undionysische zu gründen“ (GT 12; KSA 1, 83). Nur ist dieses Ziel ein Ideal, das sich nicht einlösen lässt. Eine Tragödie ohne das Dionysische ist nämlich ein Unding, ein „hölzernes Eisen“, kurz: etwas ganz und gar Unmögliches. Nietzsche glaubt, Euripides habe dies am Ende eingesehen, wenn er dessen Bakkchen als späten Widerruf des Dichters deutet, als „Protest gegen die Ausführbarkeit seiner Tendenz“ (GT 12; KSA 1, 82f.). Dumm nur, dass zu diesem späten Zeitpunkt das Kind schon längst in den Brunnen gefallen ist: (…) ach, und sie[seine sokratische Tendenz – E.B.] war bereits ausgeführt! Das Wunderbare war geschehn: als der Dichter widerrief, hatte bereits seine Tendenz gesiegt. Dionysus war bereits von der tragischen Bühne verscheucht und zwar durch eine aus Euripides redende dämonische Macht. (GT 12; KSA 1, 83)

Euripides ist nach Nietzsches Darstellung jedoch nicht der einzige kritische Zuschauer der Tragödie gewesen. Es gab noch einen weiteren prominenten und wirkmächtigen Zuschauer, der sich partout nicht in den dionysischen Rausch hineinziehen lassen wollte, den die aufgeführte Tragödie zu evozieren wusste. Wie bei Euripides stand das Rationale als trennende Barriere auch zwischen ihm und der dionysischen Wirkung der Tragödie, d. h. auch er verstand die Tragödie nicht²³⁵ und lehnte sie infolgedessen

235 Es stellt sich hier, in Anbetracht der Rede von zwei Zuschauern, die die ältere Tragödie nicht verstanden haben sollen, die Frage, ob die von Euripides konstatierte Kluft zwischen der Tragödie und den Zuschauern nicht eine eher exklusive Kluft gewesen ist, eine Ferne, die nur Euripides selbst und Sokrates und vielleicht noch wenige andere (nämlich sokratische Geister) empfunden haben mögen. Das athenische Publikum hatte nämlich, wie Nietzsche meint, für das geheimnisvolle, unverständliche Moment der älteren Tragödien ein feines Gespür, eine Sensibilität für das Geheimnisvolle als Geheimnisvolles, so dass ihm an Verständnis im strengen Sinn des Wortes gar nicht gelegen war.

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ab. Dieser „zweite Zuschauer, der die ältere Tragödie nicht begriff“ (GT 12; KSA 1, 87), war kein Geringerer als Sokrates. In ihrer Ergebenheit an das Rationale wussten sich die beiden Zuschauer geeint, welche Einigkeit sogar so weit gegangen sein soll, dass Sokrates Euripides beim Dichten geholfen habe (vgl. GT 13; KSA 1, 88; vgl. dazu auch DL I, 2, V, 18). Er, Sokrates, war somit die oben im Zitat angesprochene Macht, die aus Euripides redete: Auch Euripides war in gewissem Sinne nur Maske: die Gottheit, die aus ihm redete, war nicht Dionysus, auch nicht Apollo, sondern ein ganz neugeborner Dämon, genannt S okr ates. Dies ist der neue Gegensatz: das Dionysische und das Sokratische, und das Kunstwerk der griechischen Tragödie ging an ihm zu Grunde. (GT 12; KSA 1, 83)

Was aber ist das Sokratische, jene Macht, die es vermochte, das Dionysische in die Knie zu zwingen? Oder anders gefragt: Wie konnte es Sokrates gelingen, die Tragödie und mit ihr ein ganzes Weltbild, eine ganze Epoche zu beenden? Die Antwort auf diese Frage findet sich zum Teil schon im vorangegangenen Kapitel. Ich will sie jedoch noch einmal deutlicher in ihrer nietzscheanischen Prägung herauspräparieren. Zu diesem Zweck werde ich mich zunächst dem „Herz und Mittelpunkt der sokratischen Tendenz“ (GT 13; KSA 1, 89) zuwenden. Sokrates habe „auf seiner kritischen Wanderung durch Athen, bei den grössten Staatsmännern, Rednern, Dichtern und Künstlern vorsprechend, überall die Einbildung des Wissens“ angetroffen, niemals jedoch wahrhaftiges Wissen. Und jetzt die Hauptsache: Ihm sei währenddessen aufgegangen, dass sie alle stets „‚nur aus Instinct‘“ (GT 13; KSA 1, 89) gehandelt hätten: „Nur aus Instinct“: mit diesem Ausdruck berühren wir Herz und Mittelpunkt der sokratischen Tendenz. Mit ihm verurtheilt der Sokratismus ebenso die bestehende Kunst wie die bestehende Ethik: wohin er seine prüfenden Blicke richtet, sieht er den Mangel der Einsicht und den Macht des Wahns und schliesst aus diesem Mangel auf die innere Verkehrtheit und Verwerflichkeit des Vorhandenen. Von diesem Punkte aus glaubte Sokrates das Dasein corrigieren zu müssen (…). (GT 13; KSA 1, 89)

Dahingegen meint Euripides, dass das Publikum von der Wirkung der Tragödie solange abgelenkt ist, wie es Lücken innerhalb des logischen Aufbaus des Stückes gibt. Daher rührt auch die euripideische Form der Exposition, die gleich zu Beginn des Stücks alle Fragen klären soll. Unterdessen gab auch die ältere Tragödie dem Zuschauer an die Hand, was er wissen musste, wenn auch nicht methodisch, sondern eher zufällig und wie nebenbei. Die Unruhe, die Euripides bei den Zuschauern der älteren Tragödien ausgemacht haben will, weil diese weniger mit der Tragödie beschäftigt gewesen seien, als damit, „das Rechenexempel der Vorgeschichte auszurechen“ (GT 12; KSA 1, 86.), scheint somit keineswegs den Zuschauer zu betreffen, sondern nur den Zuschauer Euripides. Eine zumindest ähnlich geartete Unruhe wird nun auch den Zuschauer Sokrates befallen haben, der sich entsprechend, wie Nietzsche kolportiert, „als Gegner der tragischen Kunst (…) des Besuchs der Tragödie enthielt, und nur, wenn ein neues Stück des Euripides aufgeführt wurde, sich unter den Zuschauern einstellte“ (GT 13; KSA 1, 89).

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Das „nur“ ist aus Sokrates’ Sicht ganz offenkundig abwertend gemeint. Es verweist auf einen Mangel, nämlich auf ein Zuwenig an Einsicht bzw. Bewusstheit. Damit ist die wesentliche Opposition zwischen Sokrates und den Größen seiner Zeit benannt, die sich keiner anderen Autorität verpflichtet fühlten als der Tradition, deren Werte und Normen sie unhinterfragt übernahmen. Die alten Athener „lebten so und nicht anders, weil Menschen ihres Schlages (ihrer aristokratischen Herkunft) schon immer so gelebt hatten“ (Nehamas 2000, 214). Und sie verließen sich derart blindlings auf die Tradition im Einklang mit ihrem tragischen Weltbild, dem zufolge sich die Welt einer systematischen, rationalen Durchdringung ohnehin entzieht, so dass das eigene Handeln die Welt und den Lauf der Dinge im Grunde niemals entscheidend wird verändern können – eine Lektion, welche sie, wie gesehen, die Tragödie immer wieder auf ein Neues lehrte. Dass die alten Athener an dieser Lehre aber nicht verzweifelten, macht für Nietzsche ihre einzigartige Größe aus. Auch Sokrates verzweifelte nicht daran, wohl aber zweifelte er an der Richtigkeit dieses Weltbildes. Es gelang ihm schließlich, diesen Zweifel auch bei seinen Gesprächspartnern zu wecken, womit er sie zunächst zutiefst bestürzte und in regelrechte Erstarrung versetzte. Waren sie zuvor noch mit sich im Reinen, handelten sie also aus Instinkt, was bei Nietzsche – das ist überaus wichtig – soviel bedeutet, wie ohne Bewusstsein, deswegen allerdings umso sicherer,²³⁶ waren sie nun erst einmal handlungsunfähig. Man denke in diesem Kontext nur an den Gorgias-Schüler Menon, der Sokrates in einer berühmt gewordenen Metapher mit einem Zitterrochen vergleicht: Mein Sokrates, ich hörte schon vor meinem Zusammensein mit dir, daß dein ganzes Tun und Treiben darauf hinausläuft, selbst wie in die Irre zu gehen und die anderen an sich irre zu machen. Und ich müßte mich sehr täuschen, wenn du jetzt mich nicht behext und bezauberst und völlig in deine Gewalt bringst, so daß ich nicht mehr aus und ein weiß. Und – im Scherze zu reden – es kommt mir vor, als wärest du, was dein Antlitz und sonstiges Wesen anlangt, zum Verwechseln ähnlich jenem breiten Meerfisch, dem Marmelzitterrochen. Denn auch dieser macht jeden, der ihm nahekommt und der ihn berührt, erstarren. Etwas derart hast auch du denn (…) jetzt mir angetan. Du hast mich erstarren gemacht. Denn tatsächlich bin ich starr an Seele und Mund und weiß nicht was ich antworten soll. (Men., 79e–80b)

Gerade Platons Menon ist ein gutes Beispiel für die subversive Kraft des Sokrates. Denn in diesem frühen Dialog wird nicht nur die für Platons Frühdialoge typische Frage nach dem Wesen einer bestimmten Tugend x, y, z verhandelt. Im Menon steht die noch grundsätzlichere Frage im Raum, was die Tugend (areté) sei. Es geht folglich um nicht weniger als das gute Handeln überhaupt. Im Verlauf des Dialogs erklärt Menon zunächst selbstsicher, worin die Tugend besteht, wobei seine Sicherheit darauf gründet, dass er schlicht etwas referiert, hinter dem die Autorität der Tradition steht. Aus diesem Grund ist Menon bis zu diesem Zeitpunkt auch nicht auf die

236 D. h. ohne die Reflexion, die sich als mitunter störendes Zwischenglied zwischen Akteur und Akt drängt.

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Idee gekommen, seine (bereitwillig übernommene) Vorstellung von Tugend kritisch zu hinterfragen (vgl. vor allem Men., 71c–72a). Schonungslos führt Sokrates ihm jetzt allerdings vor Augen, was passiert, wenn man fraglos Hingenommenes vor den Prüfstein der Vernunft zieht. Das Resultat ist in aller Kürze gesagt, ohne hier auf Sokrates’ Argumentation en detail eingehen zu wollen, jene Erstarrung „an Seele und Mund“. Es ist die Unfähigkeit, überhaupt noch etwas über die Tugend aussagen zu können, weil man schlichtweg nicht mehr weiß, was die Tugend ist, oder richtiger: weil man jetzt weiß, dass man nicht weiß und auch noch nie wusste, was die Tugend ist. Solcherart belehrt, kann man aber eigentlich nicht mehr handeln, insofern man seiner Handlung keine Richtung mehr zu weisen in der Lage ist, hat man doch jede Orientierung verloren. Der hier exemplarisch an Menon vorgeführte Sturz in die Orientierungslosigkeit ist gewiss nicht Sokrates’ eigentliches Ansinnen. Er hat nicht primär vor, die Menschen konfus zu machen, sondern möchte ihnen helfen, zu sich selbst zu kommen. Er will gleichsam die Hebamme geben, die dem je Einzelnen zur Geburt seiner selbst verhilft (vgl. Tht., 149a–151d). Geboren werden soll ein verantwortungsvolles Subjekt, das sich bewusst zu sich selbst in ein Verhältnis setzt und seine Lebensweise kritisch reflektiert. Sokrates hat sich selbst denn auch nicht als Zitterrochen, wohl aber mit einer anderen, wahrscheinlich sogar noch bekannteren Metapher als Bremse (oder Sporn) verstanden, die durch ihren Biss das mit einem zwar edlen, jedoch trägen Ross verglichene Athen aus ebenjener Trägheit herausreißt (vgl. Apol., 30e). Dass Sokrates das im erörterten Sinn selbstbewusste Leben seinen Mitbürgern nicht nur abforderte, sondern auch vorlebte, machte ihn, wie in der Forschung unzählige Male betont, zum ersten modernen Subjekt und somit zum Begründer der Moderne. Ich erwähne dies alles auch deswegen, weil Nietzsche in der Form des modernen Subjekts ein fundamentales Problem ausmacht: Der moderne Mensch ist nämlich dekadent. Darauf wird zurückzukommen sein. Einstweilen geht es noch um das Problem, wie Sokrates sich gegenüber der Tradition durchsetzen konnte, worauf Alexander Nehamas eine gleichermaßen simple wie richtige Antwort weiß: vermittels der Dialektik: Er führte die Dialektik ein, die für alles Tun und Lassen einen Grund angeben will, und verteidigte sie gegen Angriffe – was die ins Verhör genommene Gesellschaft und ihre Kunst nicht leisten konnte. Sein Angriff erwies sich als tödlich, weil die Kultur die Gründe, die er zur Rechtfertigung ihrer Seinsweise forderte, nicht liefern konnte, und er überzeugte seine Zeitgenossen davon, daß dieser Mangel eine unentschuldbare Schwäche darstellte. (Nehamas 2000, 216)

Es ist nicht schwer einzusehen, wie verheerend die Dialektik auf die Tragödie wirken musste. Ihr gegenüber konnte die Tragödie prinzipiell nicht bestehen, weil sie ja gerade Ausdruck des tragischen Weltbildes war: Wie sollte ausgerechnet sie, die die letzthinnige Unbegreifbarkeit alles Geschehens behauptet, rationale Gründe für das, was sie vertritt, anführen, ohne sich selbst ad absurdum zu führen? So scheint Nietzsches Behauptung, Sokrates habe die Tragödie nicht verstanden, also doch bestätigt?

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Schließlich verlangt er etwas von ihr, was sie prinzipiell weder leisten konnte noch wollte. Ich glaube jedoch – Nietzsches Sokrates-Bild vorausgesetzt –, dass Sokrates zu klug war, um einen solchen Kategorienfehler zu begehen, und dass stattdessen auch hier zutrifft, was ich schon weiter oben behauptet habe: Sokrates wollte sie nicht verstehen bzw. er hat sie sogar so gut verstanden, dass er von ihr das Unmögliche forderte, weil er wusste, dass sie daran zerbrechen musste.

4.1.3 Die Tragödie ist tot – es lebt der Nihilismus Die Tragödie ist also tot und mit ihr ist eine ganze Epoche zu Ende gegangen: das tragische Zeitalter. An dessen Stelle ist ein neues Zeitalter getreten, das zutiefst durch den „Einfluss des Sokrates“ geprägt ist, der sich, „bis auf diesen Moment hin, ja in alle Zukunft hinaus (…) gleich einem in der Abendsonne immer größer werdenden Schatten, über die Nachwelt hin ausgebreitet hat“ (GT 15; KSA 1, 97). Auf scheinbar paradoxe Weise beginnt ausgerechnet mit dem Untergang des Pessimismus und dem Aufgang des sokratischen Optimismus die Geschichte des europäischen Nihilismus. Ebendieser ist der gewaltige Schatten, den Sokrates wirft.²³⁷ Ich will im Folgenden dem Zusammenhang zwischen Sokratismus und Nihilismus in zwei Richtungen nachgehen. Zuerst werde ich mit Nietzsche zeigen, inwiefern das moderne Subjekt oder Individuum oder, ganz allgemein gesprochen: der moderne Mensch wesenhaft dekadent ist. Es tut Not, hier etwas weiter auszugreifen, d. h. den Rahmen der Geburt der Tragödie zu verlassen und einen Sprung zum späten Nietzsche der Götzendämmerung zu machen; einer Schrift, in der er sich zum Ende seines bewussten Lebens noch einmal eindringlich dem Problem Sokrates bzw. dem Problem des Sokrates (wie die Überschrift des entsprechenden Abschnittes lautet) gewidmet hat. Dabei wird sich zeigen, dass das Problem des Sokrates, wenn man Nietzsche glauben darf, auch für Nietzsches Generation und sogar für uns Heutigen noch ein Problem ist. Im sodann folgenden Schritt geht es um eine Art nihilistischen Bumerangeffekt, der dem Sokratismus zueigen ist. In diesem Kapitel werde ich mich daran halten, wie Nietzsche diesen Effekt im Tragödienbuch erklärt. Damit wäre ich dann bei der weiter oben angekündigten Dialektik des Sokratismus angelangt, die man auch als eine Umschlags-Psycho-Logik bezeichnen kann. In ihrer ganzen Bandbreite lässt sich diese „Logik“ jedoch erst begreifen, wenn man ihr Wirken auch im Christentum erkennt und erklärt. Bis zu diesem Punkt gelangt das vierte Kapitel.

237 Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass Nietzsche den Schatten auch als Metapher für Dekadenz einsetzt. Im Ecce homo bspw. erklärt er, sich im Jahr 1879 auf dem „niedrigsten Punkt[s]einer Vitalität“ befunden zu haben. Zu dieser Zeit habe er nur mehr wie ein Schatten gelebt und passenderweise auch Der Wanderer und sein Schatten verfasst – „Unzweifelhaft, ich verstand mich damals auf Schatten…“ (EH weise 1; KSA 6, 264f.).

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4.1.3.1 Die Dekadenz des modernen Subjekts Ich habe oben behauptet, Sokrates sei (wie es z. B. Hegel und Kierkegaard sehen²³⁸) in gewisser Weise das erste moderne Subjekt der Weltgeschichte gewesen. Um es noch einmal auf den Punkt zu bringen: Das Moderne an einem Individuum wie Sokrates besteht darin, dass es sich selbst, sofern es ein denkendes Subjekt ist, d. h. ein Subjekt, das somit auch fähig ist, sein Handeln vor sich und anderen zu begründen, zum Maßstab der Wahrheit macht. Dieses begründende Denken hat bei Sokrates Methode. Er bedient sich hierbei nämlich der Dialektik. Damit jedoch weist er sich Nietzsche zufolge als Figur des Niedergangs, als ein sogenannter „décadent“ aus, sieht Nietzsche doch in der Dialektik ein Symptom der Dekadenz.²³⁹ Es ist wichtig zu bedenken, in welchem Rahmen Nietzsche diese Behauptung aufstellt. Er tut dies in seiner philosophischen Autobiografie, im Ecce homo, und zwar im Kapitel Warum ich so weise bin. Dort begründet er seine eigene extraordinäre Weisheit vor allem durch seine schwankende gesundheitliche Konstitution. Aufgrund der häufig erlittenen Krankheitsanfälle habe er in unfreiwilliger Praxis Fragen der Dekadenz sozusagen „vorwärts und rückwärts buchstabirt“ (EH weise 1; KSA 6, 265). Die Dekadenz ist Nietzsche also buchstäblich auf den Leib geschrieben. Gerade derjenige aber, der sehr krank war und das womöglich auch noch häufig, kann eine auf dieser Erfahrung aufbauende besonders feine Sensibilität für die Gesundheit entwickeln; ein viel feineres Gespür als derjenige, der allzumal von Krankheit verschont wurde. So ist nicht der Gesunde, der gewissermaßen „Unverwüstliche“, eo ipso auch der Fachkundige in Sachen Gesundheit. Viel eher ist es jemand, der wie Nietzsche gleichsam in Wellenbewegungen zwischen Krankheit und Gesundheit lebt. Ein solcher Mensch darf für sich reklamieren, ein intimer Kenner des „ABCs“ der physiologischen Zustände zu sein, mit denen nach Nietzsches Überzeugung immer auch bestimmte geistige Zustände verknüpft sind. Nietzsche geht sogar so weit, von sich zu behaupten, „für die Zeichen von Aufgang und Niedergang eine feinere Witterung als je ein Mensch gehabt hat“ (EH weise 1; KSA 6, 264), zu besitzen. Durch Leid und Schmerz gegangen, sei er überhaupt erst der feinsinnige Psychologe und scharfe Beobachter geworden, der er nun einmal sei. In diesem Schicksal, beides zu sein, ein décadent und das Gegenteil eines solchen,²⁴⁰ erkennt Nietzsche selbst den Grund

238 Hegel vertritt diese Ansicht in seinen bereits zitierten Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Kierkegaard in seiner Magisterschrift Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates. 239 Wenig überraschend äußert Nietzsche diesen Gedanken mit direkter Bezugnahme auf Sokrates: „Meine Leser wissen vielleicht, in wie fern ich Dialektik als Décadence-Symptom betrachte, zum Beispiel im allerberühmtesten Fall: im Fall des Sokrates“ (EH weise 1; KSA 6, 265). 240 „Abgerechnet nämlich, dass ich ein décadent bin, bin ich auch dessen Gegensatz“ (EH weise 2; KSA 6, 266). Diese Aussage legt nahe, nach dem Gegensatz eines décadents zu fragen. Was hat man sich darunter vorzustellen? Der Kontext, innerhalb dessen sich Nietzsche selbst als einen solchen Gegensatz bezeichnet, ist der von Krankheit und Gesundheit. Lässt sich von daher schließen, der gesuchte Gegensatz meine schlicht einen gesunden Menschen? Diese zugegeben naheliegende Antwort

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und die Grundbefähigung für seine philosophische Lehre vom Perspektivismus und seine besondere, wenn nicht sogar einzigartige Rolle als Umwerter der Werte: Von der Kranken-Optik aus nach gesü n d eren Begriffen und Werthen, und wiederum umgekehrt aus der Fülle und Selbstgewissheit des re i ch en Lebens hinuntersehn in die heimliche Arbeit des Décadence-Instinkts – das war meine längste Übung, meine eigentliche Erfahrung, wenn irgend worin wurde ich darin Meister. Ich habe es jetzt in der Hand, ich habe die Hand dafür, Per s pekt iven u m z u stellen : erster Grund, weshalb für mich allein vielleicht eine „Umwerthung der Werthe“ überhaupt möglich ist. (EH weise 1; KSA 6, 266)²⁴¹

Nun behauptet Nietzsche allerdings nicht bloß, ein Experte des Auf- und Niedergangs zu sein. Überdies stellt er eine bemerkenswerte und frappierende Behauptung auf: Er, der kränkliche Nietzsche, grenzt sich von dem für seine unerschütterliche Gesundheit berühmten Sokrates ab, indem er diesen zum eigentlich Kranken stempelt, sich selbst aber zum eigentlich Gesunden erklärt. Zwar gesteht er nach wie vor zu, ein décadent zu sein. Jedoch nimmt er nun eine entscheidende Präzisierung seiner Dekadenz vor: Er sei auch ein décadent, aber nicht vor allem, sondern nur „als Winkel, als Specialität“ gewissermaßen. „Als summa summarum“ dahingegen sei er stets gesund gewesen. Als untrüglichen Beweis für diese gewagte These führt Nietzsche an, dass er sich in jener besonders schweren Zeit 1879 selbst gesund gemacht habe. Solche Selbstheilung sei jedoch nur dann überhaupt möglich, jeder Physiologe müsse dem zustimmen, wenn man der jeweiligen gegenwärtigen Krankheit zum Trotz „im Gr un d e ge s un d ist “. Was den gesunden vom dekadenten Menschen unterscheide, sei, so die abschließende Präzisierung Nietzsches, die instinktive Wahl der richtigen Mittel gegen die „schlimmen Zustände (…) während der décadent an sich immer die ihm nachtheiligen Mittel wählt“ (EH weise 2; KSA 6, 266). Offensichtlich ist Nietzsche davon überzeugt, damals instinktiv die angemessenen Mittel zu seiner Gesundung gewählt zu haben und infolgedessen tatsächlich auch genesen zu sein. Nun ist Nietzsches persönliches, überaus tragisches Ende in Krankheit und Wahnsinn bekannt. Mithin dürfen Zweifel an seiner die Gesundheit betreffenden Selbstein-

wäre zu einfach. Dekadenz lässt sich nicht umstandslos mit „Kranksein“ übersetzen. Wenn Nietzsche von Dekadenz spricht, hat er weniger einen feststehenden Zustand als eine Bewegung im Sinn. Obigem Text zufolge hat er sich ja gerühmt, ein Kenner der Zeichen des Auf- und Niedergangs zu sein, womit er den Ausdruck „Dekadenz“ der landläufigen Bedeutung nach gebraucht, d. h. im Sinne von „Verfall“ oder „Niedergang“ (vgl. van Tongeren u. a. 2004, 540). Unter Dekadenz versteht er also eine Abwärtsbewegung. Ihr Gegenteil muss somit ebenfalls in einer Bewegung bestehen, selbstredend einer Aufwärtsbewegung. Für den Moment reicht diese Erklärung des in Rede stehenden Begriffs. Aber Nietzsche verleiht ihm noch eine eigene nuancierende Prägung. In das durch diesen feiner gefassten Dekadenz-Begriff vorgegebene Raster fällt dann auch (Nietzsches) Sokrates und mit ihm das moderne Subjekt. Das alles wird im weiteren Verlauf des Kapitels noch gezeigt. 241 Diese Textstelle wird wegen der in ihr ausgedrückten Fähigkeit, über seine eigenen Perspektiven auf Geschehnisse und Dinge zu verfügen, im Rahmen von Nietzsches Philosophie der Bejahung (vgl. Kapitel IX.3) noch einmal wichtig.

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schätzung angemeldet werden. Seine Theorie muss deswegen aber lange noch nicht ad acta gelegt werden – Nietzsche gibt nur selbst nicht gerade das Paradebeispiel ab, ihr das Wort zu reden. Das braucht hier allerdings nicht weiter zu interessieren. Was in diesem Kapitel rechnet, ist nämlich nicht die Anwendung dieser Dekadenztheorie auf Nietzsche, sondern auf Sokrates. Nietzsche hat sie selbst in der Götzendämmerung geleistet. Er zeichnet darin ein ungewöhnliches und ausgesprochen feindseliges Sokrates-Bild, dem gemäß derselbe Mensch, von dem im Symposion berichtet wird, wie er nach durchzechter Nacht als einziger Teilnehmer eines Trinkgelages nicht nur nicht an Ort und Stelle eingeschlafen sei, sondern sogar den ganzen folgenden Tag wie gewöhnlich zugebracht habe (vgl. Symp., 223c), ein im Grunde kranker Mensch gewesen sei. In der Götzendämmerung wird er geradezu als Monstrum dargestellt, das in der Wahl eines Gegenmittels gegen seine Krankheit auf ein Gegengift verfällt, welches fortan nicht nur in seinen Adern fließen wird, sondern – und das ist ein für die Geschichte des europäischen Nihilismus entscheidendes Moment  – zudem in denen des durch Sokrates maßgeblich geprägten abendländischen Menschen. Wenngleich Sokrates, wie Nietzsche behauptet, um seine Krankheit und damit zugleich um die Notwendigkeit eines Remediums wusste, verfiel er als décadent doch instinktiv auf die Wahl eines falschen Gegenmittels. Solchermaßen konnte er niemals wirklich genesen und sah schließlich im todbringenden Gift der Schierlingspflanze ein Heilmittel, das ihn von seinem als einer langen Krankheit zum Tode empfundenen Leben erlöste.²⁴² Zwar ist Sokrates längst tot bzw. erlöst. Die Geschichte des europäischen Nihilismus dauert allerdings noch immer an, und zwar als eine ebensolche Krankheit zum Tode. Worin besteht nun das krankmachende Gegengift? Inwiefern ist der moderne Mensch dekadent? Für Nietzsche ist Sokrates zweierlei: das einzigartige Individuum Sokrates und der beispielhafte Ausdruck einer Epoche im Niedergang und Wandel. Sokrates steht an der Schwelle des Neuen, Aufgehenden und ist doch im selben Augenblick der vollkommenste Repräsentant des Alten, Untergehenden. Seine Krankheit ist die gleiche wie die seiner Zeitgenossen, nur mit dem quantitativen Unterschied, einer einzigartig starken Ausprägung. Dergestalt bedeutet Sokrates gleichsam den Vergrößerungsspiegel der allgemeinen Symptomatik  – entgegen der Lobrede, die Alkibiades im Symposion auf Sokrates hält, bildet dessen satyrhaftes Äußeres für Nietzsche keinen Gegensatz zu einer inneren, nachgerade göttlichen Schönheit,²⁴³ sondern in einer

242 „Selbst Sokrates sagte, als er starb: ‚leben – das heisst lange krank sein. Ich bin dem Heilande Asklepios[dem Gott der Ärzte – E.B.] einen Hahn schuldig.‘ Selbst Sokrates hatte es satt“ (GD Sokrates 1; KSA 6, 67). 243 Alkibiades baut seine Lobpreisung des Sokrates anhand von Gleichnissen auf, deren erstes Sokrates in Beziehung mit einer Silenenstatuette bringt: „Ich behaupte nämlich, er[Sokrates – E.B.] habe die größte Ähnlichkeit mit jenen hockenden Silenen in den Bildhauerwerkstätten, wie sie von den Meistern der Kunst mit Hirtenpfeifen oder Flöten im Munde dargestellt werden: mit einer Doppeltür versehen, bergen sie, wie sich zeigt, in ihrem Inneren Götterbilder“ (Symp., 215a).

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furchtbaren Korrespondenz den äußeren Ausdruck eines entsprechenden schrecklichen inneren Zustandes: Die gleiche Art von Degenerescenz bereitete sich überall im Stillen vor: das alte Athen gieng zu Ende (…). Überall waren die Instinkte in Anarchie; überall war man fünf Schritt weit vom Excess: das monstrum in animo war die allgemeine Gefahr (…). Sein Fall[der des Sokrates – E.B.] war im Grunde nur der extreme Fall, nur der in die Augen springendste von dem, was damals die allgemeine Noth zu werden anfieng: dass Niemand mehr über sich Herr war, dass die Instinkte sich gegen einander wendeten. Er fascinirte als dieser extreme Fall – seine furchteinflössende Hässlichkeit sprach ihn für jedes Auge aus (…). (GD Sokrates 9; KSA 6, 71) Ein Ausländer, der sich auf Gesichter verstand, sagte, als er durch Athen kam, dem Sokrates in’s Gesicht, er s ei ein monstrum, – er berge alle schlimmen Laster und Begierden in sich. Und Sokrates antwortete bloss: „Sie kennen mich, mein Herr!“ – (GD Sokrates 3; KSA 6, 69)

Und doch gilt uns Sokrates heute noch als Musterbeispiel für Selbstbeherrschung. Wie passt das zusammen? Nietzsche sieht hier keinen Widerspruch. Durch die Einführung einer weiteren Variable geht die Rechnung auf: Es kommt auf das Gegenmittel an, das sich Sokrates selbst verordnete und auf das er vermittels eines simplen Schlusses verfiel: Wenn „die Triebe (…) den Tyrannen machen“, so müsse man eben „einen G e ge n t y r a nnen erfinden, der stärker ist“ (GD Sokrates 9; KSA 6, 71). Dieser „Gegentyrann“ ist, man ahnt es bereits, die Vernunft (vgl. GD Sokrates 10; KSA  6, 72).²⁴⁴ Insofern hier aber Feuer mit Feuer bekämpft wird, also ein Tyrann auf einen anderen Tyrannen losgelassen wird, kann keine wahre Heilung am Ende dieses Prozesses stehen: „[E]in Gegengift kann de facto kein Universalheilmittel sein“ (Müller

244 Dass Sokrates das ihm geeignet erscheinende Gegenmittel durch einen logischen Schluss ermittelt, der obendrein auch noch die Vernunft, also gewissermaßen den Sitz der Logik, als des Rätsels Lösung präsentiert, und eben nicht auf den Instinkt baut, wie der Gesunde, fügt sich nahtlos in die Logik von Nietzsches Dekadenztheorie: Nicht nur das ermittelte Gegenmittel ist in Wahrheit kein solches, sondern ein Gift, welche falsche Wahl ein Symptom der Dekadenz ist und diese zudem am Ende eher befördert als ihr entgegenzuwirken. Schon das Ermittlungsverfahren, der logische Schluss, ist dekadent. Indem der Philosoph sich unter anderem selbst zum Thema seines Nachdenkens macht, sich aus der philosophischen Perspektive des kalten, d. h. möglichst neutralen Blicks auf sich selbst betrachtet, wird er seine Dekadenz eher erkennen als andere Menschen die ihre; so geschehen bei Sokrates. Zwar mag er gewappnet mit dem „Glauben an die ‚Vernünftigkeit um jeden Preis‘“ ins Gefecht gegen seine Dekadenz ziehen. Damit allein ist es aber nicht getan. Auf diese Weise ist der Sieg über die Dekadenz lange noch nicht errungen, derart, dass Sokrates seine Dekadenz nun auch wirklich hinter sich gelassen hätte: „Es ist ein Selbstbetrug seitens der Philosophen und Moralisten, damit schon aus der décadence herauszutreten, dass sie gegen dieselbe Krieg machen. Das Heraustreten steht ausserhalb ihrer Kraft: was sie als Mittel, als Rettung wählen, ist selbst nur wieder ein Ausdruck der décadence – sie ver ändern deren Ausdruck, sie schaffen sie selbst nicht weg“ (GD Sokrates 11; KSA 6, 72). So gesehen handelt es sich bei den Philosophen um Selbstüberlister, deren klügster laut Nietzsche Sokrates war, insofern er seinen Irrtum zuletzt noch eingesehen habe, weswegen er dem Tod so friedlich ins Angesicht habe blicken können. Denn: „Sokrates wo l lte sterben“ (GD Sokrates 12; KSA 6, 73).

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2005, 97). Stattdessen kommt es in Sokrates zu einer „Superfötation des Logischen“ (GD Sokrates 4; KSA 6, 69), die nicht weniger unter die Dekadenz rubriziert werden muss als die vorangegangene und jetzt in Bann geschlagene Tyrannei der Triebe.²⁴⁵ Sowohl ein Übermaß an Logik als auch an Irrationalität, sowohl die Tyrannei der Vernunft als auch die der Triebe, ist also dekadent. Diese Feststellung korrespondiert mit Nietzsches Überzeugung, in der Tragödie als Bruderbund des Dionysischen (des Irrationalen) und Apollinischen (des Rationalen) liege uns der kulturelle Höhepunkt des Griechentums, ja der gesamten menschlichen Kulturgeschichte vor. In dieser größtmöglichen Einheit, welche die Tragödie schafft und zugleich ist, indem sie widerstrebende Kräfte zu „organisieren“ weiß, ist sie Ausdruck größter Gesundheit und Stärke oder eben, andersherum betrachtet: der kunstwerkgewordene Gegensatz der Dekadenz. Denn Dekadenz bedeutet für Nietzsche vor allem eines: einen „Mangel an Einheit, Stil, organisierender Kraft“ (van Tongeren u. a. 2004, 542) bzw. „an ‚Willen‘ physiologisch geredet“ (NL 1887–1889, KSA 13, 14[117], 294). Die neuere Tragödie ist jedoch der Einheit des Dionysischen und Apollinischen verlustig gegangen. Sie ist somit zum einen ein dekadentes Kunstwerk und zum anderen Ausdruck der Dekadenz ihrer Urheber, die, wie Sokrates und offenbar auch Euripides, nicht mehr dazu in der Lage waren, sich selbst zu einer personalen Einheit zu formen, die sowohl einen entsprechenden Raum für ihre Triebe als auch für ihre Vernunft ließ. Dekadenz ist für Nietzsche immer auch eine Frage des Stils, und Stil gehört für ihn wiederum nicht allein in die Welt der Kunst, sondern genauso in den Bereich der Lebenspraxis.²⁴⁶ Wie er es schon bei seiner Idee einer ästhetischen Rechtfertigung des 245 Mir scheint H. G. Wells’ Dystopie The Time Machine ein geeignetes literarisches Beispiel abzugeben, um den Niedergang einer Kultur zu illustrieren, die infolge einer solchen Superfötation des Logischen zugrunde gegangen ist. Wells beschreibt eine Gesellschaft, die, unerhört logifiziert, den wissenschaftlich-technischen Fortschritt so weit vorangetrieben hat, dass dadurch jede Form von Anstrengung und Kampf aus dem menschlichen Leben verbannt wurde, wodurch das menschliche Agon schließlich ganz erlosch, was zu guter Letzt zu einer Verweichlichung und Verdummung der Menschen führte. Bemerkenswert ist außerdem, dass Wells bei seiner Darstellung einer dekadenten Welt mit den sogennanten „Morlocks“ auch die andere Seite äußerster Dekadenz nicht vergisst, indem er eine Rasse beschreibt, bei der die Herrschaft der Triebe so weit gediehen ist, dass sie die durch die Superfötation des Logischen degenerierten „Elois“ jagen und verspeisen. Somit steht, jedenfalls in The Time Machine, der Kannibalismus am Ende jener durch die Superfötation der Triebe gekennzeichneten Dekadenzform. 246 Ich vermeide bewusst, bei Nietzsche von einer Moral zu sprechen. Der Begriff „Lebenspraxis“ scheint mir angemessener. Sofern es um das Thema „Selbstgestaltung“ bzw. „Stilgebung“ geht, ist Nietzsches bekanntester Aphorismus FW 290 (Eins ist Noth). Hier plädiert Nietzsche dafür, dem eigenen Charakter Stil zu geben. Er betont allerdings auch, dass dies eine Aufgabe insbesondere der „starken, herrschsüchtigen Naturen“ sei, „welche in einem solchen Zwange, in einer solchen Gebundenheit und Vollendung unter dem eigenen Gesetz ihre feinste Freude geniessen“ (FW 290; KSA  3, 530). Umgekehrt  – und dieser Teil des Aphorismus wird von den meisten Interpreten nicht berücksichtigt  – gebe es aber auch „die schwachen, ihrer selbst nicht mächtigen Charaktere, welche die Gebundenheit des Stils has sen“ (FW 290; KSA 3, 531f.). Für solche Menschen – im Übrigen befänden sich durchaus auch

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Daseins getan hat, verbindet Nietzsche also auch im Fall der Dekadenz Ästhetisches mit Existenziellem. Tatsächlich leitet er das „Nichterreichenkönnen eines Ganzen als Modell für ‚Dekadenz‘ (…) aus der Beschreibung der literarischen Dekadenz“ (van Tongeren u. a. 2004, 541) in der französischen Traditionslinie²⁴⁷ ab. Diese Fährte verfolgend, charakterisiert er schließlich „den Stil der décadence als Stil, in dem sich die je kleineren Einheiten des Wortes, des Satzes und der Seite verselbstständigen, wobei sie die je größeren Einheiten des Satzes, der Seite und des Ganzen zu Verschwinden bringen“ (Kuhn 2000, 213). Das Ganze löst sich folglich in seine Teile auf, mit der schlussendlichen Konsequenz, „daß sich das Leben aus dem Ganzen zurückgez oge n hat und im Kleinsten luxu r i i r t “. In diesem Vorgang erkennt Nietzsche ein „typisches Verfalls-Symptom“ (Bf. an Carl Fuchs, 26.08.1888, KSB 8, 401)²⁴⁸. Denn hier hat man es statt mit einer Einheit nur mehr mit einem Ungleichgewicht zu tun. Dieses Ungleichgewicht, „dass das Leben nicht mehr im Ganzen wohnt“, hat für Nietzsche exemplarische Bedeutung. Er nimmt es als „Gleichniss für jeden Stil der décadence“, also auch für den personalen und nicht nur für den literarischen Stil. Überall ist es dasselbe: „jedes Mal Anarchie der Atome, Disgregation des Willens“, mit dem Ergebnis, dass das Ganze kein Ganzes mehr ist: „Das Ganze lebt überhaupt nicht mehr“ (WA 7; KSA  6, 27). Ins Physiologische übertragen lässt sich mit dieser genuin literarisch konstruierten Dekadenztheorie nicht nur die Hässlichkeit des Sokrates erklären, sondern auch sein im Phaidon offenbarter Wille zum Tode oder zum Nichts, der endlich, infolge der Unfähigkeit, die Instinkte „zu einem das Leben fördernden Ganzen“ (van Tongeren u. a. 2004, 541) zu integrieren, den Platz des Willens zum Leben einnimmt. Dieses persönliche Schicksal muss freilich einer ganzen Kultur „Geister ersten Ranges“ unter ihnen – käme es unterdessen darauf an, „sich selber und ihre Umgebungen als freie Natur – wild, willkürlich, phantastisch, unordentlich, überraschend – zu gestalten oder auszudeuten: und sie thun wohl daran, weil sie nur so sich selber wohlthun“. Was jetzt kommt, kann gar nicht stark genug betont werden: Genau das sei es nämlich, worauf es im Leben zuletzt ankomme: sich Wohl zu tun bzw. Zufriedenheit mit sich selbst zu erlangen: „Denn Eins ist Noth: dass der Mensch seine Zufriedenheit mit sich erreiche – sei es nun durch diese oder jene Dichtung und Kunst: nur dann erst ist der Mensch überhaupt erträglich anzusehen“ (FW; KSA 3, 531)! Die Stilgebung des Charakters stellt einen wichtigen, aber doch nur einen Weg zum „Glück“ – um ein philosophisch höchst komplexes Wort in einem weiten Sinne zu verwenden – dar. Ein anderer Weg besteht darin, den selbstkritischen Abstand zu sich eher zu meiden und sich stattdessen in seiner überraschenden Spontanität zu gefallen (vgl. Thomä 2003, 180, der meines Wissens zu den ersten Interpreten von FW 290 gehört, der erkannt hat, dass dasjenige, was Not tut, nicht in erster Linie die Stilgebung, sondern die Zufriedenheit mit sich selbst ist). Nietzsches Formel „eins tut Noth“ lässt sich auch im Sinne des Verständnisses von Nihilismus interpretieren, das ich in Kapitel VIII entwickeln werde. Denn der Nihilismus beruht auf einem negativen Selbst- bzw. Welturteil, was naturgemäß dann nahe liegt, wenn die Zufriedenheit mit sich selbst nicht gegeben bzw. erreicht ist. 247 Besonders wichtig für Nietzsche ist dabei die Theorie literarischer Dekadenz von Paul Bourget, die dieser in Anlehnung an die Kunst Baudelaires entwickelt (vgl. zu Bourgets Verständnis von Dekadenz Kuhn 2000, 213). 248 So Nietzsche in einem Bf. an Carl Fuchs, 26.08.1888, KSB 8, 401.

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blühen, die sich an der betreffenden Person orientiert. So verstrickt sich eine Kultur in die Banden des Willens zum Nichts. Was Sokrates schließlich begriffen hatte, dass er nämlich gleichsam die Pest (Tyrannei der Triebe) gegen die Cholera (Tyrannei der Vernunft) getauscht hatte, wodurch er trotz all seiner Mühen lebenslang in die Fänge der Dekadenz verstrickt blieb, vermochten seine weniger hellsichtigen Zeitgenossen nicht einzusehen. Dass Sokrates’ Leben eine Art Circulus vitiosus der Dekadenz darstellte, blieb ihnen verborgen. Von seinem Leiden am Leben ahnten sie nichts. Viel eher galt ihnen sein ruhiger Gang in den Tod als letzter Triumph einer eminent starken Persönlichkeit, die auch in den schwierigsten Situationen, so z. B. in der Schlacht bei Potidaia,²⁴⁹ oder eben jetzt, in unmittelbarer Erwartung des gewaltsamen Todes, Herr der Lage geblieben war. Was sie sahen und was sie beeindruckte, war, dass Sokrates Herr über seine Triebe geworden war. Auf diese Weise konnte ausgerechnet dieser seiner Herkunft nach zum Pöbel gehörende hässliche Mensch (vgl. GD Sokrates 3; KSA 6, 68), der so ganz das Gegenteil des vornehmen Atheners zu sein schien, zu einem Vorbild auch seiner edlen Zeitgenossen werden, die ja dem allgemeinen Zustand entsprechend ebenfalls unter der Tyrannei ihrer Triebe litten. Was sie an Sokrates zumal faszinierte, war mehr noch, als dass er ihr eigenes Schicksal in extremer Form spiegelte, dass er ihnen „als Antwort, als Lösung, als Anschein der Ku r dieses Falls“ (GD Sokrates 9; KSA  6, 72) erschien. Derart aber konnte Sokrates, der „verstand, dass alle Welt ihn n ö t h ig hatte, – sein Mittel, seine Kur, seinen Personal-Kunstgriff der Selbst-Erhaltung“ (GD Sokrates 9; KSA  6, 71), eine solche weltgeschichtliche Bedeutung erhalten.²⁵⁰ Jedoch – und das muss noch einmal unbedingt hervorgehoben werden – die Herrschaft der Logik, die Rückbezogenheit des Subjekts auf sich selbst, wodurch es sich als denkendes und sein Handeln begründendes Subjekt erkennt, die Morgenröte des modernen Subjekts also, beruht auf der Applikation nicht eines Heilmittels,

249 In dieser Schlacht soll es außergewöhnlich hart zugegangen sein. Umso größer ist die freudige Überraschung von Sokrates’ Freunden, als dieser nicht nur überhaupt zurückkehrt, sondern zudem unversehrt: „Gleich am ersten Tage, nachdem ich abends zuvor vom Heere von Potidaia zurückgekehrt war, suchte ich, froh nach langer Zeit wieder daheim zu sein, die gewohnten Unterhaltungsplätze auf. So trat ich denn auch in die Ringschule des Taureas (…), wo ich eine große Zahl von Leuten beisammen fand, zum größeren Teil gute Bekannte, doch auch einige mir Unbekannte. Als sie mich so ganz wider Erwarten eintreten sahen, gaben sie mir von allen Seiten schon von fern ihre Freude kund. Chairephon (…) faßte mich bei der Hand und rief: Mein Sokrates, wie hast du dich aus der Schlacht gerettet? (…) Ich erwiderte ihm: In der nämlichen Verfassung, wie du mich hier siehst. Nach dem wenigstens, fuhr er fort, was wir hier davon gehört haben, ist es sehr hart hergegangen in der Schlacht und viele von unsern Bekannten sind gefallen. Damit hat es, erwiderte ich, seine volle Richtigkeit. Du warst ja wohl, sagte er, selbst an der Schlacht beteiligt? Das war ich allerdings. Also komm, fuhr er fort, setz dich hier auf diesen Platz und berichte uns“ (Charm., 153a–c). 250 Hinzu kommt noch, wie Nietzsche scharfsichtig herausstellt, dass Sokrates in der Dialektik „eine neue Art Ago n entdeckte“, so dass er zu faszinieren wusste, „indem er den agonalen Trieb der Hellenen rührte“ (GD Sokrates 8; KSA 6, 71). Damit hatte Sokrates die Dialektik vom Leben ins Denken verschoben und solcherart die Dynamik des Lebens intellektualisiert.

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sondern eines Gegengifts. Solcherart wurde die generelle Dekadenz nicht beseitigt, sondern nur eine Form der Dekadenz durch eine andere ersetzt. Statt dem, was geboten wäre, nämlich der Harmonisierung, wird die Verdrängung favorisiert. Wo ein dynamisches System gegen eine Binärcodierung von eindeutig Unterdrückendem und eindeutig Unterdrücktem hätte gesetzt werden müssen, kehrte man einfach das Verhältnis innerhalb der Codierung um. Zwar konnte die Inversion des Verhältnisses den Verfall tatsächlich für eine gewisse Weile aufhalten. Am Ende hat sich aber auch diese eben nicht heilende, sondern bloß obstruktive Wirkung verbraucht. Wie sich der Nihilismus, der ständige Begleiter der Dekadenz, schließlich auch gegen die Herrschaft der Vernunft durchsetzt, wie also offenbar wird, dass die positive Wirkung des sokratischen Intellektualismus nur transitorischer Art war und, schlimmer noch als das, am Ende ins äußerste Negative umschlägt, soll jetzt gezeigt werden.

4.1.3.2 Der nihilistische Bumerangeffekt des sokratischen Optimismus „(…) ‚im Anfang war alles beisammen; da kam der Verstand und schuf Ordnung.‘“ (GT 12; KSA 1, 87). Mit diesen Worten erinnert Nietzsche an den Vorsokratiker Anaxagoras, der den Weltprozess als Ganzen logisch zu begründen sucht, indem er auf ein alles in Gang bringendes und haltendes Prinzip verweist: den Nous. Anaxagoras geht von einem Urzustand der Welt aus, in dem noch alle Dinge beisammen waren (vgl. DK, 59 B1), bevor sie schließlich durch den Nous „ausgesondert“ wurden (vgl. DK, 59 B4),²⁵¹ wodurch die uns bekannte vielgestaltige Welt entstand. Zuvor, im einheitlichen Urzustand, war alles mit allem vermischt und darum auf eine Art und Weise zusammen, die ein Erkennen der einzelnen Bestandteile der später geordneten Welt verunmöglichte, weil sie ununterscheidbar waren. Der Nous (oder Geist), der „von allen Dingen (…) das feinste und reinste“ ist und zudem einzig „mit keinem Dinge vermischt, sondern allein, selbst, für sich“ existiert (DK, 59 B12), ordnete nun die einzelnen Dinge zu einem wohlgeordneten Ganzen. D. h. indes, dass er sie voneinander trennen, sie unterscheiden musste. Bei der Entstehung der Welt handelt es sich sonach um einen Prozess der Differenzierung bzw. um die Aufteilung einer ursprünglichen Einheit in eine Vielheit, freilich unter dem allem gemeinsamen Dach der Welt. Ich will die Philosophie des Anaxagoras nun nicht noch weiter verfolgen, denn es wurde bereits genug davon ausgeführt, um den Bogen nachvollziehen zu können, den Nietzsche in seiner Tragödienschrift von Anaxagoras über Euripides bis zu Sokrates spannt. Nietzsche spricht die Weltentstehungslehre des Anaxagoras im zwölften Kapitel der Geburt der Tragödie an und damit in jenem Abschnitt, in dem er die Einführung des logischen Prinzips in die Tragödie durch Euripides thematisiert. Das ist

251 DK, 59 B13: „Es ist ganz klar, daß Anaxagoras bei der Erklärung des Entstehens der Welt den Geist verwendet, wenn nämlich nach seiner Ansicht Entstehung nichts anderes ist als Sichaussondern. Dieses Sichaussondern aber soll sich unter Wirken der Bewegung vollziehen. Ursache der Bewegung aber sei der Geist (…).“

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natürlich kein Zufall. Denn so wie Anaxagoras das logische Prinzip als erster Denker auf den Thron der Naturphilosophie (Physik) gehoben hat, so hat Euripides als erster Dichter die Herrschaft des logischen Prinzips in der Tragödie begründet. Wichtiger noch als diese Parallele zwischen Anaxagoras und Euripides ist allerdings die Verbindung zwischen dem Naturphilosophen Anaxagoras und dem Ethiker Sokrates. Platons Phaidon enthält eine in diesem Kontext erhellende Passage (vgl. Phd., 97b– 100b), in der Sokrates von seinem philosophischen Bildungsweg berichtet. Folgt man dem Phaidon, dann hat der junge Sokrates die vorsokratische Naturphilosophie studiert.²⁵² Sein besonderes Interesse galt dabei Anaxagoras. Dessen These, der zufolge die Vernunft alles ordne und bewirke, mithin Ursache von allem sei, habe ihn, Sokrates, zunächst begeistert. Tatsächlich habe er nämlich darauf gehofft, von Anaxagoras eine Naturerklärung zu erhalten, „die die Welt als eine bestmögliche Ordnung interpretiert“ (Horn 2011, 133), wovon er sich näherhin zu erfahren versprach, was für alles einzelne Seiende und folglich auch für den einzelnen Menschen das Beste sei. Leider jedoch wurde diese Hoffnung des Sokrates enttäuscht. Statt vermittels des Vernunftprinzips zu erklären, was das Beste für den Menschen sei, habe Anaxagoras, wie Sokrates ernüchtert feststellt, nachdem er dessen Schriften in einem ersten Schwung von Enthusiasmus eifrig studiert hatte, „von der Vernunft gar keinen Gebrach gemacht“. Vielmehr habe Anaxagoras zur Erklärung der Dinge nur „Luft und Äther und Wasser als Ursache angeführt und viele andere ungereimte Sachen“ (Phd., 99a). Gerade aber, wenn es um die Frage gehe, warum ein Mensch so handle, wie er handle, sei der Verweis auf solche bloß äußerlichen Ursachen – wie etwa auf Knochen, Sehnen und Fleisch, d. h. auf physiologische Ursachen – gedankenlos bzw. unvernünftig: Aber daß ich auf Grund der äußeren Mittel tue, was ich tue und daß ich insofern vernünftig handle, nicht aber insofern als ich das Beste wähle, das zu behaupten wäre doch eine große und auffällige Gedankenlosigkeit. (Phd., 99a)

Um das Beste für mich wählen zu können, muss ich zuallererst einmal zwischen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten unterscheiden können. Ich muss also differenzieren und aussondern können, worin man leicht das soeben besprochene Grundgeschäft des Nous wiedererkennt. Noch einmal anders ausgedrückt: Ich muss meine Vernunft bei der Suche nach dem, was für mich das Beste ist, bestmöglich anwenden, was ich nur dann auch wirklich tue oder getan habe, wenn ich meine Handlung auch begründen bzw. rechtfertigen kann – damit sind wir freilich wieder bei Sokrates’ ethischer Grundforderung angelangt und zugleich bei dem, was das moderne Subjekt wesentlich ausmacht.

252 Vgl. zu Sokrates’ philosophischem Bildungsweg Kniest 2003, 30–36.

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Sokrates’ Kritik an Anaxagoras lädt dazu ein, Nietzsches Anführung des ersten Athener Philosophen²⁵³ im Rahmen der Behandlung des Sokratismus als eine Sympathiebekundung des jungen Professors gegenüber dem Vorsokratiker zu verstehen oder richtiger: misszuverstehen. Nietzsche will nämlich durchaus keine Allianz mit Anaxagoras gegen Sokrates schmieden. Vielmehr scheint er mir, indem er Anaxagoras, Euripides und Sokrates in Verbindung miteinander bringt, eine Art genealogischen Blick auf den Sokratismus werfen zu wollen, von dem er ja sagt, er sei viel älter als sein Namensgeber Sokrates (vgl. GT 13; KSA 1, 91). Auch Anaxagoras ist für Nietzsche ein maßgeblicher Repräsentant des Sokratismus, wenn anders er den Nous bei der Entstehung der Welt als erster ins Spiel bringt – daher auch die anfängliche Begeisterung des Sokrates für seinen Vorläufer. Wie Ralf Ludwig richtig feststellt, verkennt Sokrates in seiner barschen Kritik an Anaxagoras, dass dieser seiner eigenen teleologischen Weltbetrachtung den Weg ebnet; einen Weg, der vom Gesichtspunkt des Sokratismus betrachtet ein gemeinsamer ist, nämlich der des Sokratismus selbst: Doch darf[bei aller berechtigten Kritik – E.B.] nicht übersehen werden, dass Anaxagoras zumindest eine entscheidende Weiche für die gestellt hat[gemeint sind: Sokrates, Platon, Aristoteles – allesamt Verfechter des Sokratismus – E.B.], die ihn später kritisierten. Ein schönes, zweckvolles Ganzes anzunehmen, das weder auf Materie noch auf Zufall basiert, und eine nicht unerhebliche Wesensverschiedenheit von Geist und Stoff angedeutet zu haben, ist und bleibt das unsterbliche Verdienst des Anaxagoras. (Ludwig 2002, 150f.)

Nietzsche würde die Inauguration der Vernunft als Grundprinzip der Welt durch Anaxagoras freilich eher als ein Verhängnis denn als ein unsterbliches Verdienst werten. Die maßgebliche Bedeutung des Naturphilosophen als wichtiger Weichensteller und damit als Richtungsgeber der künftigen Fahrt des abendländischen Denkens hat er allerdings wie beiläufig unterschrieben, indem er ihn in eine Reihe mit Euripides und Sokrates stellt. Auf einen Satz gebracht ist das große Problem mit dem Sokratismus für Nietzsche dieses: Der Sokratismus logifiziert die Welt. Er unterschiebt ihr eine teleologische Ordnung. Für Nietzsche ist die Welt jedoch die Manifestation des dionysischen Urschmerzes bzw. der Austragungsort des ewigen Spiels zwischen dionysischen und apollinischen Kräften oder, wie er später meint, die Wirkstätte der verschiedensten Willen zur Macht. Auf keinen Fall ist sie aber vernünftig und wohlgeordnet.²⁵⁴ Aus diesem Grund muss eine sokratische, d. i. eine nur-logische, Weltauslegung 253 Der häufig als erster Athener Philosoph bezeichnete Anaxagoras stammte allerdings ursprünglich aus Klazomenai und siedelte erst als ungefähr Zwanzigjähriger nach Athen über. Wie Sokrates war auch er also genaugenommen nur ein Wahlathener. Indessen hat Anaxagoras seine Beschäftigung mit der Philosophie erst in Athen begonnen (vgl. Rapp 1997, 193f.), so dass man in seinem Fall doch mit einigem Recht von einem Athener Philosophen sprechen darf. 254 „Der Gesammt-Charakter der Welt ist dagegen in alle Ewigkeit Chaos (…)“ (FW 109; KSA 3, 468), schreibt Nietzsche auch in der Fröhlichen Wissenschaft, also während seiner mittleren Schaffensphase. Es ist dies eine Überzeugung, die sich in seinem gesamten Werk durchhält.

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zwangsläufig irgendwann an der sich ihr verweigernden Realität scheitern:²⁵⁵ Die Realität belehrt den sokratischen Optimisten früher oder später eines Besseren,²⁵⁶ wodurch dieser entweder zum Nihilisten mutiert oder dem philosophischen Denken fortan ausweicht, wie Voltaires Romanheld Candide, der sich, nachdem sein philosophischer Optimismus immer wieder an den Unbilden der Realität gescheitert ist, schließlich anstelle der Philosophie lieber der Gartenarbeit widmet.²⁵⁷ Indessen ist auch diese Variante nihilistisch, insofern sie der Resignation entspringt. Nietzsche sieht freilich noch eine dritte, diesmal positive Möglichkeit: den Umschlag von Wissenschaft in Kunst. Wenn nämlich die Logik an ihre Grenzen stößt, werde der Blick wieder frei für die Kunst (vgl. GT  15; KSA  1, 101). Es ist übrigens niemand anderes als Sokrates, den Nietzsche zum Gewährsmann dieses Gedankens macht: Wie schon im Falle des Euripides will Nietzsche auch bei Sokrates einen späten Widerruf des Programms des Sokratismus, dem er einen Großteil seines Lebens gewidmet hatte, ausgemacht haben. – Nebenbei bemerkt: Auch diese späte Erkenntnis des Verfehlthabens des eigenen Lebens durch einen zur Lebensform erhobenen Grundirrtum wäre ein geeigneter Stoff, um daraus eine Tragödie zu machen. – Waren es bei Euripides die Bakkchen, die Zeugnis für den Gesinnungswandel ablegen, ist es bei Sokrates dessen späte Beschäftigung mit der Dichtkunst. Während der Verurteilte im Gefängnis auf die Vollstreckung des Todesurteils wartet, bringt er, nachdem er bereits ein Proömium auf Apollo gedichtet hat, einige Fabeln Äsops in Versform. Der Dichter Eunos staunt über diese ungewohnte Betätigung des Todeskandidaten nicht schlecht, woraufhin dieser dem Verdutzten erklärt, bereits mehrmals im Traum die Aufforderung Apollos erhalten zu haben, Musik zu treiben. Zunächst habe er gedacht, Apollo ermutige ihn weiterhin zur Philosophie, die ihm doch die göttlichste aller musischen Tätigkeiten zu sein scheine. Jetzt jedoch, angesichts des nahenden Todes, wolle er es nicht riskieren, noch in den letzten ihm verbleibenden Stunden durch ein Missverständnis ungehorsam gegenüber dem Gott zu werden und so treibe er eben ganz gewöhnliche musische Tätigkeit. Seiner Begabung in diesem ungewohnten Bezirk musischer Tätigkeit seien allerdings enge Grenzen gesteckt (vgl. Phd., 60b–61c). Nietzsche nimmt diese Episode aus dem Phaidon als Anlass höchster Hoffnung auf eine Selbstaufhebung des Sokratismus nicht im Nihilismus, sondern im Entstehen einer neuen tragischen Kultur,²⁵⁸ in der „an die Stelle der Wissenschaft als höchstes Ziel die Weisheit gerückt 255 Dies ist der Grundwiderspruch auf einen Satz gebracht: „Das Logische hat als das Ziel die Erkenntniß des ‚unlogischen Centrums‘ der Welt (…)“ (NL 1869–1874, KSA 7, 6[7], 131). 256 Und nicht umgekehrt belehrt die Logik die Realität, worin die Wunschvorstellung des logischen Sokratismus besteht – das Unlogische, d. i. die Realität, erweist sich naturgemäß jeglichen logischen Belehrungsversuchen gegenüber als überaus obstinat. 257 Candides Freund Martin bringt es am Ende des Romans auf den Punkt: „Arbeiten wir, ohne zu philosophieren (…), denn das ist das einzige Mittel, das Leben erträglich zu machen“ (Voltaire 2000[1759], 232). 258 „(…) für welche Culturform wir das Symbol d e s m u s i k t re i b e n d e n S o k r a te s (…) hinzustellen hätten“ (GT 17; KSA 1, 111).

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wird“ (GT 18; KSA 1, 118)²⁵⁹ und als deren Frontmann er (noch) Wagner sieht. Diese ersehnte Wendung zur tragischen Weisheit hat die Geschichte des Abendlandes bis zum heutigen Tag jedoch nicht genommen. Daher gilt es, diese Geschichte als die eines spezifischen Nihilismus und damit das nihilistische Scheitern des Sokratismus in den Blickpunkt der Untersuchung zu stellen. In der Tat hat Nietzsche dieses Scheitern bereits in der Geburt der Tragödie ins Auge gefasst. Und er wird es, wenn er abei auch nicht mehr explizit über den Sokratismus spricht, in Zukunft weiter verfolgen. Fürs Erste geht es mir jedoch allein um die Tragödienschrift.²⁶⁰ Die nihilistische Logik, die diesem Scheitern zugrunde liegt und die wohlgemerkt kein essenzielles Moment des Sokratismus selbst ist, sondern sich erst aus dem Verhältnis zwischen diesem und der in seinem Licht interpretierten Welt ergibt,²⁶¹ ist gewissermaßen die heimliche Autorin der Geschichte des abendländischen Denkens, die just aus diesem Grund zur Geschichte des europäischen Nihilismus wird. Wie aber funktioniert diese Logik? Und wieso zeitigt sie einen Bumerangeffekt? Was sich schließlich existenziell, nämlich im Nihilismus entlädt, hat ursprünglich vor allem einen erkenntnistheoretischen Grund und folgt aus einem Widerspruch, den der Sokratismus, insofern er gewissermaßen auf einem Auge blind ist (dem dionysischen selbstredend), nicht sehen kann. Mit Kant und gegen Parmeni-

259 Die Weisheit einer tragischen Kultur muss selbstverständlich ihrerseits tragisch sein. Und in der Tat denkt Nietzsche hier an eine Kultur, die im Zeichen der tragischen bzw. dionysischen Weisheit steht, deren Charakteristika er in den vorangegangenen Kapiteln der Tragödienschrift in der Auseinandersetzung mit der griechischen Tragödie herausgearbeitet hat, wie sich dem achtzehnten Kapitel der Tragödienschrift leicht entnehmen lässt. Eine solche Kultur, die sich „ungetäuscht durch die verführerischen Ablenkungen der Wissenschaften, mit unbewegtem Blicke dem Gesammtbilde der Welt zuwendet und in diesem das ewige Leiden mit sympathischer Liebesempfindung als das eigne Leiden zu ergreifen sucht“, ist freilich des metaphysischen Trostes bedürftig, weswegen sie „die Tragödie als die ih[r] zugehörige Helena begehren (…) muss“ (GT 18; KSA 1, 118f.). Eine tragische Kultur dieser Couleur war jedoch weder zu Nietzsches Zeiten in Sicht, noch ist sie es heute. 260 Die Genealogie der Moral befasst sich mit derselben nihilistischen Logik, allerdings unter der besonderen Rücksichtnahme auf deren Wirken im Christentum. Darauf wird in Kapitel V zurückzukommen sein. 261 Camus hat dies erkannt, wie wir in Kapitel II.1 gesehen haben, wenn er das eng mit dem Nihilismus verknüpfte Absurde weder in der Welt noch im Menschen, sondern im Verhältnis zwischen Mensch und Welt lokalisiert (vgl. Camus 2002[1942], 40f.). Allerdings muss der Grund für den Nihilismus nicht zwangsläufig im Verhältnis Mensch-Welt gesucht werden. Er kann auch im Menschen selbst liegen, dann jedoch wiederum so, dass es verschiedene Momente in diesem gibt, die miteinander streiten, so dass es auch hier die Relation von mindestens zwei Größen p und q ist, die das Absurde, Nihilistische, oder wie auch immer man es nennen mag, zeitigt. Allgemein gesprochen: Nihilismus entsteht unter anderem ob der Aussicht auf ewige Unvereinbarkeit zweier Gegensätze, sei es nun eine innere Zerrissenheit des Menschen oder das prekäre Verhältnis Mensch-Welt. Zur Entstehung und zum Wesen des Nihilismus später mehr (vgl. zumal Kapitel VIII).

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des – zweifellos ein weiterer, früher Repräsentant des Sokratismus – hält Nietzsche in seiner nachgelassenen Schrift Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen fest,²⁶² dass die Logik niemals zu den Dingen selbst vor- geschweige denn sie durchdringen kann. Sie bekommt die Wirklichkeit niemals so, wie sie an sich ist, in den Blick, weil „das bloß logische Kriterium der Wahrheit“ nur „die Übereinstimmung einer Erkenntniß mit den allgemeinen und formalen Gesetzen des Verstandes und der Vernunft“ konstatiere (dann ist etwas wahr) oder feststellt, dass dem nicht so ist (dann ist etwas unwahr). Sie hat damit zwar „die conditio sine qua non, mithin die negative Bedingung aller Wahrheit: weiter aber kann die Logik nicht gehen, und den Irrthum, der nicht die Form, sondern den Inhalt betrifft, kann die Logik durch keinen Probirstein entdecken“ (PHG 11; KSA 1, 846). Das bedeutet also, die Logik maßt sich an, die Welt von Grund auf verstehen und erklären zu können, vermag es in Wahrheit jedoch nicht bis zu diesem Grund vorzudringen, weil wir Menschen nach gut kantischer Lehre unsere Erkenntnisbedingungen a priori immer schon mitbringen, d. h. sie an die Welt herantragen und somit (bloß) eine Welt für uns, nicht aber die Welt an sich erkennen. Erkennen und Sein oder Denken und Sein sind sonach, anders als es Parmenides lehrt,²⁶³ nicht dasselbe. Vielmehr handelt es sich um grundverschiedene Sphären: Es ist unbedingt für das Subjekt unmöglich, über sich selbst hinaus etwas sehen und erkennen zu wollen, so unmöglich daß Erkennen und Sein die sich widersprechendsten aller Sphären sind. (PHG 11; KSA 1, 846)

Dass die Welt im Grunde nicht logisch ist, will der sokratische Optimismus, beseelt von seinem Glauben, dass das Denken das Sein nicht nur erkennen, „sondern sogar zu co r r igiren im Stande sei“, nicht wahrhaben. Und es fällt ihm, insofern er das Sein fälschlicherweise mit dem Denken identifiziert, natürlich besonders schwer, diesen Glaubenssatz als die „tiefsinnige Wahnvor stellung“ (GT 15; KSA 1, 99),²⁶⁴ die er Nietzsche zufolge ist, zu entlarven. Wollen wir nämlich die Wahrheit in irgend-

262 In PHG 11 finden sich in komprimierter Form erkenntnistheoretische Überlegungen, die Nietzsche dann in seiner ebenfalls nachgelassenen Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne wieder aufnehmen und zudem mit existenziellen Überlegungen verquicken wird, indem er deutlich macht, welche existenziellen Konsequenzen erkenntnistheoretische Einsichten nach sich ziehen können. 263 „Denn das Denken und das Sein ist ein und dasselbe“ (DK, 28 B3) Dieser berühmte Satz genügt alleine schon, um in Parmenides augenblicklich einen entschiedenen Vertreter des Sokratismus zu erkennen. Ohne zu übertreiben, könnte man obigen Satz wohl den „Kardinalsatz des Sokratismus“ nennen. 264 Nietzsche bezeichnet im Übrigen Sokrates und nicht Parmenides als die erste Person, die den besagten wahnhaften Gedanken zum Ausdruck bringt. Dass der Gedanke aber schon bei Parmenides angelegt ist, scheint mir ganz offensichtlich: Wenn Sein und Denken dasselbe sind, dann führt eine Verbesserung des Denkens zwangsläufig zu einer Verbesserung des Seins.

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einer Weise überhaupt erfassen oder ihr wenigstens so nah wie möglich kommen, dürfen wir uns dabei keineswegs auf die reine Logik verlassen: Und wenn Parmenides, in der unbelehrten Naivetät der damaligen Kritik des Intellekts, wähnen durfte, aus dem ewig subjektiven Begriff zu einem An-sich-sein zu kommen, so ist es heute, nach Kant, eine kecke Ignoranz, wenn es hier und da (…) als Aufgabe der Philosophie hingestellt wird, das „Absolute mit dem Bewußtsein zu erfassen“ (…). (PHG 11; KSA 1, 846f.)

Die tiefste Form der Erkenntnis – „tief“ auch in dem Sinne, dass man möglichst weit zum chthonischen Grund der Welt vordringt – ist die apollinisch-dionysische, die den ganzen Menschen berücksichtigt und nicht bloß einen Teil seiner Natur. Der Sokratismus setzt jedoch alles auf die apollinische Karte und verleugnet dergestalt den dionysischen Teil des Menschen. Auf die gleiche Weise sabotiert er auch die Kunst, zumal die ältere Tragödie, wodurch er zuletzt aber auch sich selbst entgegenarbeitet: Indem er den dionysischen Teil der Tragödie soweit wie nur möglich beschneidet, bringt er sie um ihre einzigartige epistemologische Relevanz und damit sich selbst um ein herausragendes Erkenntnismedium.²⁶⁵ Denn es ist die Tragödie in ihrem sozusagen „präeuripideischen Bestzustand“, die dem Menschen den Königsweg zur tragischen Erkenntnis ebnet – das wurde freilich alles schon in extenso gezeigt. – Zwar gelangt auch der Sokratismus über den Weg des Scheiterns schlussendlich zur tragischen Erkenntnis. Indessen hält er im Gegensatz zur Tragödie nicht im selben Atemzug auch schon eine „antinihilistische Abfederung“, den metaphysischen Trost, bereit. Im besten Fall spürt der vom Sokratismus enttäuschte Mensch, wie gesagt, eine neue Kunstbedürftigkeit in sich, die dann zur Grundlage einer Erneuerung der tragischen²⁶⁶ Kunst und ihres wesentlichen Moments, des metaphysischen Trostes, werden kann. Unterdessen zeigt schon die nicht gerade originelle Kunstbetätigung des Sokrates,

265 An dieser Stelle, da es um die apollinische Einseitigkeit der neueren (sokratischen) Tragödie geht, sei darauf hingewiesen, dass die neuere griechische Tragödie auch in stilistischer Hinsicht dekadent ist. Denn die für sie charakteristische Verselbstständigung des einen Teils, des Apollinischen, bringt das Dionysische zum Verschwinden und damit das große Ganze aus dem Gleichgewicht, wodurch ihm seine Lebenskraft entzogen wird. Drastischer formuliert: Sie zerstört das große Ganze, das nur in seiner Einheit der unmittelbarste Ausdruck des Lebens ist. 266 Es ist ganz offensichtlich keineswegs so, als gäbe es im Zeitalter des Sokratismus keine Kunst mehr. Nur handelt es sich (in der Regel) nicht mehr um tragische, sondern um sokratische Kunst. Deren Siegeszug beginnt laut Nietzsche mit Euripides, wobei niemand etwas „[v]on dem pessimistisch-stechenden Blick mit dem Euripides[selbst] auf diese Kunst niedersah“ bemerkte. Dessen ungeachtet ist Euripides’ Erbe „eine neue Gattung der sokr atischen Kunst (…), die mit dem Roman im Bunde, der ganzen griechischen Nachwelt Bewunderung abgezwungen hat. Das S chau s p i e l als die Wiederspiegelung der empirischen Wirklichkeit, mit einem Regierungswechsel als Zielpunkt, der Roman als die Wiederspiegelung einer phantastisch-idealen Wirklichkeit, mit irgendeiner metaphysischen Perspektive, dies sind die beiden Grundformen, die in Cervantes und Shakespeare ihre endliche Erfüllung und allerhöchste Sättigung gefunden haben“ (NL 1869–1874, KSA 7, 7[124], 181).

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der fremde Prosa in Versform überträgt,²⁶⁷ dass man sich dieses „Umschlagen der Wissenschaft in Kunst“ (NL 1869–1874, KSA  7, 7[125], 182) nicht so vorstellen kann, als würden die großen Wissenschaftler, sobald sie nur die Grenzen des Sokratismus erkannt haben, einfach große Künstler; oder, auf das Allgemeine übertragen, als würde eine wissenschaftsgläubige Kultur, die von der Wissenschaft enttäuscht wird, nun einfach ganz auf die Kunst setzen, womit auch schon alle Probleme aus der Welt geschafft wären. Das Umschlagen der Wissenschaft in Kunst, das im besten Fall „das künstlerische Wiedererwachen der Tragödie und der tragischen Weltbetrachtung“ (GT  17; KSA  1, 111) bewirkt, ist eine Hoffnung²⁶⁸ Nietzsches gewesen, deren Feuer indes mit dem Scheitern der Freundschaft zu Wagner erkaltet. Entsprechend spielt das Konzept einer Erneuerung der griechischen Tragödie im Gewand des wagnerischen Musikdramas in Nietzsches auf die Überwindung des Nihilismus gerichtetem Denken später keine Rolle mehr. Die Kunst bleibt zwar ein zentraler Denkgegenstand Nietzsches. Sie bleibt von höchster Bedeutung im Rahmen seines Programms einer Rechtfertigung des Daseins. Das Vertrauen in eine rechtfertigende „Zukunftsmusik“ aus Wagners Feder hat Nietzsche jedoch schnell wieder verloren. Weder Wagner noch die vermeintlichen Revokationen eines Euripides oder Sokrates ändern jedenfalls, auch wenn es sich bei den Letztgenannten um maßgebliche Vertreter des Sokratismus handelt, etwas daran, dass ein einmal in Gang gesetzter Prozess sich fortsetzt: Das „ungeheure Triebrad des logischen Sokratismus“ (GT13; KSA 1, 91) dreht unerbittlich weiter seine Runden. Nun ist das ewige Weiterdrehen dieses Rades das alles entscheidende Moment des Sokratismus selbst. Diesem geht es im Grunde um nichts anderes als um die Inganghaltung des Rades resp. um die unausgesetzte Fortführung eines Prozesses. Wie das? Zielt der Sokratismus denn nicht auf die Wahrheit, die zu finden er sich am Leitfaden der Logik bzw. der Kausalität bemüht? Nietzsches Pointe liegt darin, dass nicht das Finden der Wahrheit, sondern die Suche nach ihr das – wohlgemerkt heimliche  – Ziel des Sokratismus ist. Der Sinn „des sokratischen Entwurfes“ liegt präziser noch bestimmt „in einer Suche, die nie finden kann“ (Dier 1998, 74). Nur darf der theoretische Mensch nichts von der Vergeblichkeit seiner Suche wissen. Er, der die Instinktsicherheit der älteren Griechen verloren hat, der seine Triebe erfolgreich durch die Superfötation der Vernunft unterdrückt und nachhaltig geschwächt hat, der sich ganz in die Logik geworfen hat, die das Schreckliche und Absurde des 267 Nietzsche bedenkt bei seinen Überlegungen zum „m u s i k t re i b e n d e n S o k r a te s “ (GT  17; KSA 1, 111) übrigens nicht, dass Sokrates Fabeln in Prosa übersetzt. Fabeln zielen aber immer auf eine Moral ab: die obligatorische „Moral von der Geschicht’“. Somit wechselt Sokrates nur in formaler, keineswegs jedoch in inhaltlicher Hinsicht das Metier: Es ist ihm unverändert um die Moral zu tun. Sie ist und bleibt das sokratische Thema. 268 Entsprechend vorsichtig, das Moment der Hoffnung explizit hervorhebend, heißt es in dem soeben zitierten Abschnitt weiter: „(…) und erst nachdem der Geist der Wissenschaft bis an seine Grenze geführt ist, und sein Anspruch auf universale Gültigkeit durch den Nachweis jener Grenzen vernichtet ist, dürfte auf eine Wiedergeburt der Tragödie zu hoffen sein (…)“ (GT 17; KSA 1, 111).

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Daseins von ihm fernhält, indem sie es leugnet  – er glaubt ja, in der Welt gehe es nicht chaotisch, sondern wohlgeordnet zu –, muss in das kalenderspruchhafte „wer suchet, der findet“ vertrauen. Damit dieses Vertrauen nicht enttäuscht wird, damit er tatsächlich auch vertrauen kann, muss er natürlich ab und zu auch einmal etwas finden: Hoffnung braucht hin und wieder Nahrung, wenn sie nicht versiegen soll. Nur ist das, was er findet, wie schon bei Nietzsches Parmenides-Kritik gesehen, stets etwas bloß Oberflächliches: Auch der theoretische Mensch hat ein unendliches Genügen am Vorhandenen, wie der Künstler, und ist wie jener vor der praktischen Ethik des Pessimismus (…) durch jenes Genügen geschützt. Wenn nämlich der Künstler bei jeder Enthüllung der Wahrheit immer nur mit verzückten Blicken an dem hängen bleibt, was auch jetzt, nach der Enthüllung, noch Hülle bleibt, geniesst und befriedigt sich der theoretische Mensch an der abgeworfenen Hülle und hat sein höchstes Lustziel in dem Prozess einer immer glücklichen, durch eigene Kraft gelingenden Enthüllung. (GT 15; KSA 1, 98)

Solange der theoretische Mensch immer wieder auf etwas stößt, was ihm bisher noch nicht bekannt war, solange er an dieser oder jener Stelle einen Kausalzusammenhang entschlüsselt, kann er sich selbst als Rätselrater genießen, der im Prozess des „Puzzlespiels“ der Weltentdeckung beschäftigt, dem Sinn und dem „Betriebsgeheimnis“ der Welt näher zu kommen meint. Zugleich begreift er seine Tätigkeit als sinnvoll: Er, der durch das Principium individuationis von der Welt Abgetrennte, wähnt dabei, sich diese Welt verstehend anzueignen und somit die Kluft zwischen sich und der Welt (auf dem Weg der Logik) zu schließen. Kurz: Solange die Hoffnung des sokratischen Menschen immer wieder genährt wird, solange er das Gefühl hat, dass seine Suche sinnvoll ist, wird er auch weitersuchen und solange „bleibt auch das Schwungrad logischen Begründens in Bewegung und damit diejenige Bewegung, die von der Erkenntnis des Absurden wegführt“ (Dier 1998, 74). Der theoretische Mensch bleibt auf diese Weise vor der Weisheit des Silen und eo ipso vor dem Nihilismus geschützt. So gesehen stellt der Sokratismus tatsächlich einen Schutz gegen den Nihilismus dar und man dürfte wohl an Nietzsche mit der Frage herantreten, ob der Sokratismus nicht vielleicht im Vergleich mit der dionysischen Weltsicht doch der bessere Weg zur Beförderung des Lebens ist, denn er macht dem Menschen das Leben so viel leichter – leichter ums Herz – als seine „tragische Schwester“. Nietzsche weiß um diesen möglichen Einwand. Die Leichtigkeit, man könnte wohl auch sagen: die „Massentauglichkeit“ des sokratischen Optimismus ist ein wesentlicher Aspekt seines Erfolges: „Die Lehre vom S e i n , vom Ding, von lauter festen Einheiten ist hundert ma l leichte r a ls d i e Le h re vom Werden, von der Entwicklung“ (NL 1887–1889, KSA  13, 18[13], 535). Deswegen konnte sie, die ursprünglich „als Erleichterung gemeint, als Ausdrucksmittel nicht als Wahrheit“, zum „Dogma“ werden: „Später wirkte sie als Wahrheit“ (NL 1887–1889, KSA 13, 18[13], 536). Insofern Nietzsche die Kunst zweifels-

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ohne der Wahrheit vorzieht,²⁶⁹ und letztere folglich nicht als höchsten Wert ansieht, ja den Willen zur Wahrheit bloß als „eine Form des Willens zur Illusion“ (NL 1887– 1889, KSA 13, 17[3], 522) begreift – wofür der Sokratismus selbst ein treffliches Beispiel abgibt –, kann er den Sokratismus nicht um der Wahrheit willen verwerfen. Er kann ihm also nicht deswegen den Krieg erklären, weil dieser zwar vorgibt, der Wahrheit verpflichtet zu sein, es de facto aber nicht ist. Der Grund für Nietzsches ablehnende Haltung muss folglich ein anderer sein. Nicht die Leichtigkeit bzw. die leichte Bekömmlichkeit des Sokratismus ist ausschlaggebend, sondern dessen Einfluss auf das Leben. Dieser Einfluss ist aber, wie ich schon eingangs des Kapitels betont habe, schädlich. Es ist nun an der Zeit, diese destruktive Wirkung des Sokratismus genauer unter die Lupe zu nehmen. Sie rührt daher, dass er, obschon er eine Absatzbewegung vom Nihilismus sein will, doch an diesen gebunden bleibt. Nur als Absatzbewegung macht der Sokratismus Sinn. Für sich betrachtet, erweist er sich dagegen als sinnlos: Etwas zu suchen, was man nicht finden kann, ist schlicht absurd: Diese Absatzbewegung vom Absurden ist aber gleichzeitig durch die Frustration des sokratischen Nicht-finden-könnens unentrinnbar an das Absurde gebunden und dreht sich solange im Kreis, bis die Energie der Absatzbewegung erschöpft ist. (Dier 1998, 74)

Die Energie erschöpft sich genau dann, wenn dem Menschen dämmert, dass sich die Welt einer rein logischen Begründung entzieht. Die Wahrheit, auf die es der Sokratismus scheinbar abgesehen hat, die vernünftige Wahrheit, gibt es nicht. Unterdessen gibt es sehr wohl eine einstweilen vergessene Wahrheit, auf die der Mensch jetzt wieder stößt. Dabei handelt es sich freilich um keine logische Wahrheit, sondern eher um eine Art Lebenswahrheit, die sich ihm jedoch als existierendes und nicht nur als denkendes (bzw. als nur denkendes) Wesen eröffnet. Es ist dies die tragische Wahrheit der Tragödie. Nicht auf logischem Wege, sondern auf dem der Frustration offenbart sie sich dem sokratischen Menschen. Dessen optimistischer Versuch, die Welt vermittels des Satzes vom Grunde immer weiter wissenschaftlich einzukreisen, führt mit dem Größerwerden des Kreises zugleich zu einer Vergrößerung von dessen Peripherie. Hier stößt der forschende Geist des Menschen nun, bildhaft gesprochen, auf einen Ort des Dunkels, den das menschliche Ingenium nicht mehr zu erhellen vermag. Und der sokratische Mensch begreift: Selbst wenn dieses Nicht-mehr eigentlich bloß ein Noch-nicht ist, d. h. wenn er eines Tages in der Lage sein wird, Licht auch in dieses Dunkel zu werfen, so wird er damit ja doch nur die Peripherie des Kreises erweitert haben und unweigerlich auf ein neues Dunkel stoßen. Der Mensch steht folglich vor der absurden Situation, dass mit dem Wachsen seines Wissens auch sein Nichtwissen

269 „Nur weiß er[hier spricht Nietzsche über sich selbst – E.B.] – er hat es erlebt, er hat vielleicht nichts Anderes erlebt!  – daß die Kunst m e h r wer t h ist als die Wahrheit“ (NL 1887–1889, KSA  13, 17[3], 522).

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proportional zunimmt. Die entsprechend paradox anmutende Formel für diese Situation lautet: „Je mehr wir wissen, desto weniger wissen wir.“ Zur Verdeutlichung dieser absurden Situation, in der wir uns als Menschen befinden, will ich einen kleinen Seitenblick auf Friedrich Dürrenmatts Werk wagen (vornehmlich auf sein Spätwerk). Denn der schweizer Schriftsteller hat diese Situation eindrücklich zu illustrieren gewusst, indem er die Welt als ein Labyrinth verstanden hat;²⁷⁰ durch ein Gleichnis, das übrigens auch Nietzsche verwendet, um der werdenden und in diesem Sinne gesichtslosen Welt ein Gesicht zu geben.²⁷¹ Der Mensch meint zwar, in diesem Labyrinth die Rolle des Helden Theseus zu besetzen, eines modernen Theseus freilich, der sich am Ariadnefaden der Wissenschaft im Labyrinth zurecht findet und der eines Tages so klug geworden sein wird, dass er die stets im Labyrinth lauernde Gefahr, den Minotaurus,²⁷² töten und endlich sogar den Labyrinthcharakter der Welt aufheben wird. Wenn er erst einmal eine vollständige Karte des Labyrinths angefertigt haben wird, gelangt er in die Position, es umzugestalten und dabei zu verbessern, es zu „korrigieren“, um es mit den Worten des Sokratismus zu sagen. Aus Theseus würde somit Dädalus, der willens und fähig wäre, den Irrgarten in einen neuen Garten Eden zu verwandeln. Doch diese Hoffnung ist unberechtigt. In Wahrheit nämlich ist der Mensch kein Held, sondern ein Opfer des Labyrinths und zugleich ein Opfer seiner selbst  – „homo homini minotaurus“: Mit den Problemen verhält es sich wie mit der Hydra: Für jeden abgeschlagenen Kopf wachsen sofort zwei neue nach bzw. mit jeder Entschlüsselung eines Problems tun sich dem Menschen sofort neue, noch komplexere Probleme auf. Um im Bild des Labyrinths zu bleiben: Immer wenn der Mensch einen Gang gründlich erforscht hat, entdeckt er am Ende neue Abzweigungen, steht plötzlich vor geheimen Türen, die er auf den ersten Blick nicht gesehen hatte. Die Karte des Labyrinths wird solcherart immer komplexer

270 Im Mythos des Labyrinths von Knossos war, wie er auf sein Werk zurückblickend feststellt, seinem „unheimlichen Kampf, eine Welt der Sinnlosigkeit darzustellen, in der ein Sinn gesucht wird, den es nicht gibt, ohne den sie jedoch nicht ausgehalten werden kann“ (Dürrenmatt 2002[1981], 96), endlich Erfolg beschieden. 271 Das Gleichnis schien ihm überdies geeignet, nicht nur den Außenraum Welt, sondern auch den Innenraum des Menschen, dessen Psyche zu bezeichnen. Der wahre Philosoph muss bereit sein, sich dem eigenen Labyrinth zu stellen, auch auf die Gefahr hin, dass er, während er in die eigene Tiefe hinabsteigt, auf Unerfreuliches und Gefährliches stößt: „Wir haben f ü r d a s L ab y r i n t h e i n e e i gene Neugierde, wir bemühen uns darum, die Bekanntschaft des Herrn Minotaurus zu machen“ (NL 1887–1889, KSA 13, 23[3], 602). 272 Mit dem Minotaurus meine ich hier – für Dürrenmatt ist er ein Gleichnis und als solches per se mehrdeutig – die im Labyrinth stets lauernde Gefahr, von der man nie weiß, wann und hinter welcher Weggabelung sie einem begegnet. Er steht spezieller noch für den Tod. Das Töten des Minotaurus bedeutet demnach das Töten des Todes, also das Überwinden der Endlichkeit. Damit ist ein uralter Traum der Menschheit, insbesondere der Wissenschaft, angesprochen. – Sicherlich erklärt diese Hoffnung einen Teil der Wissenschaftshörigkeit des Menschen.

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und der Mensch dazu gezwungen, seinen „Demiurgentraum“ zu begraben.²⁷³ Weder ist er Theseus noch Dädalus. Stattdessen bemerkt er seine Verwandtschaft mit dem desperatesten Bewohner des Labyrinths, dem Minotaurus: Wie dieser hat sich der Mensch nicht freiwillig in das Labyrinth hineinbegeben, sondern findet sich dort immer schon vor und wird – genau wie das schreckliche Ungeheuer, dem man alle neun Jahre vierzehn unberührte junge Menschen als Opfer darbrachte – zwangsläufig schuldig,²⁷⁴ indem er denkend und handelnd, d. h. schon allein durch sein bloßes Existieren, ob er will oder nicht, dem Labyrinth immer neue Gänge hinzufügt, mithin an dessen Verkomplizierung mitwirkt. Was generell für jeden Menschen gilt, insofern er ein existierendes Wesen ist, trifft freilich auf den Wissenschaftler in besonderem Maße zu.²⁷⁵

273 „Ich glaube, daß der Versuch sich über das Labyrinth einen Plan zu machen, scheitern muß (…). Ich glaube, daß die Wissenschaft, indem sie das Labyrinth nachbaut, zu neuen Labyrinthen kommt. Sie steigert gewissermaßen das Labyrinthische. Das heißt, sie weitet sich aus, aber die Kompliziertheit des Labyrinths wächst“ (Dürrenmatt 1996[1981–1987], 153). 274 Damit ist in gewisser Weise jeder Mensch a priori ein tragischer Held, derart nämlich, dass er schuldig-unschuldig ist, worin bekanntlich einer der Kernpunkte des Tragischen in der Tragödie besteht. Der Minotaurus muss für seine absonderliche Entstehung büßen. Er ist in seiner grotesken Gestalt die Frucht des Frevels seiner Mutter Pasiphae, die ihn mit einem Stier zeugte und des genialen Erfinders und Architekten Dädalus, der besagten Stier zu dieser widernatürlichen Zeugung überlistete, indem er eine künstliche Kuh baute, in welche sich Pasiphae einschließen ließ. Nun büßt der Minotaurus für diese Schuld im eigens für ihn angelegten Labyrinth, das zugleich sein Gefängnis ist, in welchem die Tat vor der Außenwelt verborgen und verschlossen wird. Dürrenmatt erklärt die rasende Wut, in welcher der Minotaurus die ins Labyrinth und damit ins Verderben geschickten Jungfrauen und Jünglinge zerriss, durch dessen ontologischen Status als unschuldig-schuldiges und vereinzeltes Wesen. In der Regel sei der Minotaurus ein friedlich äsender, in den Bäumen des Labyrinths herumkletternder Vegetarier: „Wenn dann aber die sieben Jünglinge und sieben Jungfrauen vor ihm erschienen (…) wird diesem auf einmal der Frevel aufgedämmert sein, dem er seine Entstehung verdankte, nicht als Geschichte (…), aber instinktiv wird er gefühlt haben, daß er etwas Einzigartiges war (…), und daß er als dieser Einzigartige für ein Unrecht büßen mußte, welches er nicht begangen hatte. Diese tier- und triebhafte Erkenntnis versetzte ihn in eine göttliche Raserei (…)“ (Dürrenmatt 2002[1981], 91). 275 Dürrenmatt benutzt das Labyrinth als Urmodell, um die menschliche Grundsituation anschaulich zu machen. Zumindest die großen Mythen der Menschheit haben eine bleibende Bedeutung, indem sie „über die Geschichte hinaus auf das Zeitlose der menschlichen Existenz“ verweisen und uns helfen „jenseits des chaotischen Flusses zufälliger Ereignisse den Kern der Wirklichkeit zu erfassen“ (Armstrong 2007, 13). Der Labyrinth-Mythos zeichnet sich aber darüber hinaus auch dadurch aus, dass er nicht nur trotz zunehmendem Alter aktuell bleibt, sondern sogar mit den Jahren immer aktueller wird. Je technisierter und in diesem Sinne fortschrittlicher die Welt wird, desto labyrinthischer wird sie auch und desto mehr eignet sich das Labyrinth, um die Situation des modernen Menschen auszudrücken: „Ja, der Mensch lebt heute immer mehr labyrinthisch. Er lebt als Städter wie in einem Dschungel. Doch dieser Dschungel ist nicht Natur, er ist eine Kunstwelt. Wir sind mehr und mehr von Apparaten umstellt, die wir im Grunde nicht begreifen. Wenn das Kind den Vater fragt, wie denn das Fernsehen funktioniere, dann wird ihm der Vater antworten, es sei noch zu jung für solche Fragen. Er sagt das aber nur, weil er es selbst nicht genau weiß. Die Technik hat eine labyrin-

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Dürrenmatt hat ganz offensichtlich, genau wie vor ihm Nietzsche, die Dialektik erkannt, die dem faustisch-wissenschaftlichen Streben innewohnt. Sie macht eine ohnehin labyrinthische Welt, in welcher der Mensch nie wirklich heimisch wird, nur noch labyrinthischer. Wie Nietzsche sieht auch Dürrenmatt das menschliche Grunddilemma deutlich und ohne Beschönigung: Der Mensch ist ein sinnbedürftiges Wesen, nur lässt der Ort seiner Sinnsuche, die Welt, einen Sinn vermissen. Insofern ist seine Situation absurd. Der Kunst sei Dank, lässt sich aber immerhin auch aus dem Absurden noch etwas machen. Dürrenmatt entdeckt das komische Potenzial des Absurden²⁷⁶ und dekliniert es in seinen Werken immer wieder durch. Sein berühmter Satz: „Uns kommt nur noch die Komödie bei“ (Dürrenmatt 1998b, 62) klingt zwar verdächtig danach, als wollte er angesichts einer ausweglosen Situation die Waffen strecken, ist aber eigentlich eine Einsicht, die sich in schöpferischer Tätigkeit entlädt. Dürrenmatt schreibt in Folge dieser Einsicht eben keine Tragödien mehr, sondern nur noch Komödien – gemäß der menschlichen Situation allerdings tragische Komödien. Sein Werk erscheint in diesem Licht als die Umsetzung einer von Nietzsche in der Geburt der Tragödie formulierten Einsicht, der zufolge es die Kunst ist, die fähig ist, „jene Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde des Daseins in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich leben lässt: diese sind das Erhab ene als die künstlerische Bändigung des Entsetzlichen und das Komische als die künstlerische Entla-

thische Welt erschaffen, die wir hinnehmen, ohne zu wissen, was in ihr vor sich geht“ (Dürrenmatt, 1996b[1988–1990], 173). Als ein weiterer Beweis für die ungebrochene Aktualität des Labyrinth-Mythos sei an dieser Stelle auf das 2005 erschienene Buch Helmet of Horror (dt. Der Schreckenshelm 2007) des russischen Schriftstellers Viktor Pelevin verwiesen, in dem dieser die undurchschaubaren Räume des Cyberspace zum Labyrinth erklärt – heutzutage treibt der Minotaurus sein Unwesen offenbar in Chatrooms. 276 Um dem Autor Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sei an dieser Stelle angemerkt, dass Dürrenmatt streng zwischen dem Absurden und dem Grotesken unterscheidet und dass es eigentlich das Groteske ist, aus dem er künstlerisches Kapital schlägt. Er sei kein Autor des Absurden, sondern einer des Grotesken: „Das Absurde habe ich nicht gern, weil es heißt – sinnlos. Ich empfinde diese Welt als grotesk, aber nicht als absurd. Ein großer Unterschied“ (Dürrenmatt 1996[1981–1987], 229). Es ist dies freilich nicht der Ort, um diesem „großen Unterschied“ weiter nachzugehen. Dieser muss jedoch, soviel sei immerhin gesagt, vor allem vor dem Hintergrund der damaligen Popularität des sogenannten „absurden Theaters“ gesehen werden, von dem Dürrenmatt sein groteskes Theater trotz einiger Berührungspunkte und trotz aller Sympathien, die er z. B. für die absurde Kunst Samuel Becketts hegt, unterschieden wissen will (vgl. hierzu Mingels 2003, 310ff.) Und noch eines sei gesagt: Oben hieß es, in dieser Welt gebe es keinen Sinn. Hier hingegen behauptet Dürrenmatt, das Absurde bedeute Sinnlosigkeit, aber die Welt sei nicht absurd. Man muss in den beiden Aussagen nicht zwangsläufig einen Widerspruch sehen. Ebenso wie Nietzsche weist Dürrenmatt einen absoluten Sinn, einen Sinn des Seins an sich, zurück. Die groteske Welt lässt allerdings Raum für subjektive Sinnsetzungen. Auf einen allgemeinen Sinn könne man aber, wo es subjektive Sinnhaftigkeit gibt, durchaus verzichten. Der durch Kierkegaards Kategorie des Einzelnen geprägte Dürrenmatt insistiert also darauf, dass alles auf das Sein des Einzelnen ankommt (vgl. Dürrenmatt 1996[1988–1990], 143f.).

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dung vom Ekel des Absurden“ (GT 7; KSA 1, 57). – Kämpferischer Galgenhumor,²⁷⁷ das ist Dürrenmatts Antwort – die Antwort eines weiteren zum Atheismus konvertierten Pfarrersohnes – auf den Nihilismus. Stärker als Dürrenmatt betont Nietzsche nun aber das in der Dialektik des Sokratismus beschlossene autodestruktive Moment. Jenen bereits thematisierten Augenblick höchster Luzidität, darin dem Sokratismus just dann ein Licht aufgeht, welches die Absurdität seines optimistischen Anspruchs in Szene setzt, wenn er sich mit dem Dunkel konfrontiert sieht, das die Grenzen seines Wirkungsbereiches markiert, vergleicht er mit dem Schmerz eines Tieres, das sich bei der Jagd, statt Beute zu machen, in den eigenen Schwanz beißt: Nun aber eilt die Wissenschaft, von ihrem kräftigen Wahne angespornt, unaufhaltsam bis zu ihren Grenzen, an denen ihr im Wesen der Logik verborgener Optimismus scheitert. Denn die Peripherie des Kreises der Wissenschaft hat unendlich viele Punkte, und während noch gar nicht abzusehen ist, wie jemals der Kreis völlig ausgemessen werden könnte, so trifft doch der edle und begabte Mensch, noch vor der Mitte seines Daseins und unvermeidlich, auf solche Grenzpunkte der Peripherie, wo er in das Unaufhellbare starrt. Wenn er hier zu seinem Schrecken sieht, wie die Logik sich an diesen Grenzen um sich selbst ringelt und endlich sich in den Schwanz beisst  – da bricht die neue Form der Erkenntniss durch, die tr agische Erkenntnis s (…). (GT; KSA 1, 101)

Allein von der tragischen Erkenntnis, die im Rahmen der Geburt der Tragödie, wie man sich stets vor Augen halten muss, immer zweierlei meint: „einmal die ‚Weisheit‘ des Silen“ und „zum anderen die ‚Wahrheit‘ der älteren Tragödie, daß die Sterblichen Menschen ein Nichts sind vor der Macht der Götter, die allem Menschlichen als Schicksal gegenüber steht“ (Ries 1999, 102), wollte der sokratische Optimismus ja gerade ablenken. Doch damit, dass er sie auf Umwegen endlich doch wieder zu Tage fördert, nicht genug. Was alles noch viel heikler macht, ist, dass er die tragische Erkenntnis sogar noch bereichert. Nach einer über zweitausendjährigen Herrschaft des sokratischen Optimismus in der Geschichte des abendländischen Denkens schlägt dieser Optimismus in einen erkenntnistheoretischen Pessimismus um, der, wie Nietzsche zu Recht konstatiert, von jetzt an die Philosophie maßgeblich bestimmen wird: Das Neue an unserer jetzigen Stellung zur Philosophie ist eine Überzeugung, die noch kein Zeitalter hatte: daß wir die Wahrheit nicht haben. Alle früheren Menschen „hatten die Wahrheit“: selbst die Skeptiker. (NL 1880–1882, KSA 9, 3[19], 52)²⁷⁸

277 „Die Sprache der Freiheit in unserer Zeit ist der Humor, und sei es auch nur der Galgenhumor, denn diese Sprache setzt eine Überlegenheit voraus auch da, wo der Mensch, der sie spricht, unterlegen ist“ (Dürrenmatt 1998c, 110). 278 Als philosophische Pioniere, die aus dem Sokratismus heraus diesen als traumbefangen und ins Träumen verstrickenden Geist entlarven, rühmt Nietzsche Kant und Schopenhauer (vgl. GT 18; KSA 1, 118). Nietzsche selbst tritt nun deren Erbe als großer philosophischer De-Illusionskünstler an, welche „Kunst“ auch und zumal in der neueren analytischen Philosophie fortgeführt wurde und wird, wenn man z. B. an Ludwig Wittgenstein, Willard Van Orman Quine oder Stanley Cavell und viele andere

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Was solange tatsächlich funktionierte, was die westliche Gesellschaft, die im Vertrauen auf ihre Wissenschaftler im optimistischen Glauben an den Fortschritt lebte, solange vor der tragischen Erkenntnis bewahrte,²⁷⁹ kommt nun wie ein fortgeschleuderter Bumerang zurück  – und das mit entsprechender Wucht. Der Sokratismus steuert somit in „die Krise der Moderne“, d. h. „in de[n] Sachverhalt, dass ungeachtet ihrer Fortschritte in Wissenschaft und Technik eine das menschliche Dasein legitimierende Antwort nach seinem Woher, Wohin und Wozu fehlt“ (Ries 2007, 126). Die Überzeugung²⁸⁰, die Wahrheit nicht zu haben, impliziert, wenn anders sie das Ergebnis einer Enttäuschung in unser vermeintliches Wahrheitsorgan, die Vernunft ist, den Verlust der Hoffnung, sie jemals besitzen zu werden. Nietzsche ist hellsichtig genug, um auch die Gefahr, die diese Krise für das soziale Gefüge der sokratisch geprägten Gesellschaft birgt, zu erkennen. Die Erschütterung des Optimismus ist ja kein Privileg nur für Gelehrte oder Genies, die infolgedessen wie Heinrich von Kleist beschließen, ihrem Leben ein Ende zu setzen oder wie Goethes Faust²⁸¹ bereit sind, einen Pakt mit dem Teufel einzugehen. Anders als der Gelehrte

denkt. Auch Richard Rortys Gesellschaftsutopie des ironischen Liberalismus gründet auf der Überzeugung, die Wahrheit nicht zu besitzen bzw. sie prinzipiell nicht besitzen zu können. 279 Nietzsche erläutert den nihilistischen Umschlag des Sokratismus im 15. Abschnitt der Geburt der Tragödie am Beispiel des Einzelnen; er spricht vom „edlen“ und „begabten Menschen“. Die Krise des Einzelnen ist aber noch nicht sogleich auch die Krise der Gesellschaft. Die gesellschaftlichen Mühlen mahlen immer langsam. Auch müssen erst einmal in den verschiedensten Wissenschaftszweigen die Erkenntnisgrenzen erreicht werden, bis eine allgemeine Wissenschaftsernüchterung innerhalb der wissenschaftlichen Kreise eintritt, die dann auch noch der Gesellschaft kommuniziert werden muss. Im Übrigen sieht es aktuell nicht so aus, als hätten wir es mit einer Art Wissenschaftsmüdigkeit zu tun. Der Glaube an die Wissenschaft und vor allem an ihren, mit Nietzsche gesprochen: „Wahn“, die Welt verbessern zu können, scheint heute größer denn je. Die Welten eines Aldous Huxley und H. G. Wells werden im Zeitalter der Gentechnik und angesichts stetig wachsender Enhancementpotenziale immer wahrscheinlicher. 280 Wohlgemerkt spricht Nietzsche von einer „Überzeugung“ und nicht von „Wissen“, welches man eben nicht besitzen kann, wenn man die Wahrheit nicht hat. Er vermeidet auf diese Weise einen Widerspruch. Zur logischen Legitimation von Nietzsches epistemischem Nihilismus, aber auch zu dessen Grenzen vgl. Hogrebe 1987, zumal 174–179. Indessen spielt Hogrebes Fazit die Bedeutung von Nietzsches epistemischem Nihilismus für meinen Geschmack zu sehr herunter, wenn er ihn „auf die Äußerung eines tragischen Lebensgefühls“ reduziert. Auch der Wille zur Macht erfährt bei Hogrebe eine unterkomplexe Deutung, wenn er als „ein anderes kompensatorisches Gefühl“ (Hogrebe 1987, 179) verstanden wird, das Nietzsche ins Feld führe, um sein tragisches Lebensgefühl zu kompensieren. Die große Bedeutung, die Nietzsche als einem herausragenden philosophischen Psychologen gebührt, der nicht nur aus einer Art „Privatpathologie“ heraus philosophiert, sondern dem wir grundlegende Einsichten in die menschliche Psyche verdanken, kommt in Hogrebes Interpretation zu kurz. Anders und allgemeiner ausgedrückt: Die mögliche Komplexbedingtheit sagt noch nichts über die Richtigkeit oder Falschheit einer Aussage aus. 281 Faust dient Nietzsche als Exempel für die Ahnung, die sich in der Moderne breit macht, dass zwar die menschliche Wissensgier unendlich, das menschliche Erkenntnisvermögen jedoch begrenzt ist: „Wie unverständlich müsste einem ächten Griechen der an sich verständliche moderne Culturmensch Fau s t erscheinen, der durch alle Facultäten unbefriedigt stürmende, aus Wissenstrieb der Magie und

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von der Ergründung der absoluten Wahrheit träumt, zehrt der Arbeiter von seinem durch den „unumschränkt sich wähnende[n] Optimismus“ befeuerten „Glaube[n] an das Erdenglück Aller“ (GT 17; KSA 1, 117). Wehe aber, wenn der Arbeiterstand begreift, dass dieser Glaube sich nicht erfüllen wird, und zwar erst recht nicht in einer sokratischen Kultur, die auf die Fortexistenz eines Arbeiterstandes angewiesen ist: Man soll es merken: die alexandrinische[d. i. die sokratische – E.B.] Cultur braucht einen Sclavenstand, um auf die Dauer existieren zu können: aber sie leugnet, in ihrer optimistischen Betrachtung des Daseins, die Nothwendigkeit eines solchen Standes und geht deshalb, wenn der Effect ihrer schönen Verführungs- und Beruhigungsworte von der „Würde des Menschen“ und der „Würde der Arbeit“ verbraucht ist, allmählich einer grauenvollen Vernichtung entgegen. Es giebt nichts Furchtbareres als einen barbarischen Sclavenstand, der (…) sich anschickt, nicht nur für sich, sondern für alle seine Generationen Rache zu nehmen. (GT 17; KSA 1, 117)

Wenn Nietzsche nun als mögliche Antworten auf die Krise der Moderne einmal die Kunst, zum anderen aber die Verzweiflung, mithin den Nihilismus sieht, der sich wiederum verschiedentlich entladen kann (wie gesehen auch in Gewalt, in Revolte oder Revolution), dann besagt dies zunächst, dass der Nihilismus nicht die streng logische Folge des Sokratismus ist, derart, dass aus P (Sokratismus) nicht notwendig Q (Nihilismus) folgt. Im strengen Sinn logisch ist indes der Umschlag des Optimismus in die tragische Erkenntnis. Hier nun ist der Nihilismus mindestens die am nächsten liegende Folge oder Reaktion. Es ist aber auch denkbar, ja sogar wahrscheinlich, dass Nietzsche den Nihilismus sogar als ein notwendiges Durchgangsstadium sieht, von dem aus sich erst die Wieder- oder Neugeburt der tragischen Kultur ereignen kann, so wie der Phoenix aus der Asche steigt. In der Geburt der Tragödie schweigt sich Nietzsche hierüber aus. Später wird er allerdings den Nihilismus als ein solches Durchgangsstadium betrachten  – welches dann jedoch nicht mehr zu einer neuen tragischen Kultur, sondern zum Übermenschen hinführen soll. Aus den genannten Gründen erlaube ich mir jedenfalls von einer Umschlagslogik in den Nihilismus zu sprechen. Diese Logik beruht nun auch und vor allem auf psychologischen Prämissen. Sie ist also zumal eine Psycho-Logik. Denn der auf den sokratischen Bumerangeffekt antwortende Nihilismus speist sich aus einer psychologisch äußerst heiklen Gemengelage: aus Frustration resp. Ernüchterung und einer lange unter Verschluss gehaltenen, jetzt jedoch wieder hervorbrechenden Weltangst. Woher die Frustration

dem Teufel ergebene Faust, den wir nur zur Vergleichung neben Sokrates zu stellen haben, um zu erkennen, dass der moderne Mensch die Grenzen jener sokratischen Erkenntnislust zu ahnen beginnt und aus dem weiten wüsten Wissensmeere nach einer Küste verlangt“ (GT 18; KSA 1, 116). Dieses Zitat verdeutlicht, wenn man es in einem Atemzug mit Nietzsches Vision vom musiktreibenden Sokrates betrachtet, dass es Nietzsche schwer fällt, eine Deutungslinie beizubehalten, sofern es um Sokrates geht. Denn der musiktreibende Sokrates scheint doch gerade deswegen Musik zu treiben, weil er die Grenzen der sokratischen Erkenntnislust bzw. des sokratischen Selbst- und Weltbildes, wenn vielleicht auch nur unbewusst, durch den Traum vermittelt, zu ahnen beginnt.

Der Tod der Tragödie   

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stammt, sollte inzwischen klar sein: Sie ergibt sich aus der Einsicht in den „Sisyphoscharakter“ des sokratischen Projekts der Letzterkenntnis.²⁸² Wieso aber Weltangst? Weil das Unheimliche, das uns Ängstigende, dasjenige ist, was, obwohl es eigentlich verborgen bleiben sollte, doch hervortritt.²⁸³ Und wenn es sich bei diesem Unheimlichen um das dionysische Grauen dieser Welt handelt, das die Griechen dank der homerischen Götterwelt apollinisch zuzudecken wussten und das der Sokratismus durch den Glauben oder besser noch: den neuen Mythos von der Verstehbarkeit und Verbesserungsmöglichkeit der Welt überdeckte, dann entsteht eben Weltangst. Psychoanalytisch gesprochen ist die Weltangst das Resultat eines gescheiterten Verdrängungsgeschehens, das im Fall des Sokratismus, wie gezeigt, gar nicht gut gehen konnte. Mit dem drohenden Nihilismus als mögliche Antwort auf die tragische Erkenntnis sah sich schon der antike Mensch konfrontiert. Soweit scheint die Situation, in der sich der moderne Mensch befindet, nicht neu. Und bislang hat der Wille zum Leben noch immer eine sich behauptende Antwort auf die Weisheit des Silen gefunden. Er hat sich bisher immer darauf verstanden, auf die eine oder andere Weise, den Deckmantel über die nackte Absurdität des Daseins auszubreiten. Er hat sich sonach stets über den Nihilismus hinweggetäuscht: Es ist ein ewiges Phänomen: immer findet der gierige Wille ein Mittel, durch eine über die Dinge gebreitete Illusion seine Geschöpfe im Leben festzuhalten und zum Weiterleben zu zwingen. Diesen fesselt die sokratische Lust des Erkennens und der Wahn, durch dasselbe die ewige Wunde des Daseins heilen zu können, jenen umstrickt der vor seinen Augen wehende verführerische Schönheitsschleier der Kunst, jenen wiederum der metaphysische Trost, dass unter dem Wirbel der Erscheinungen das ewige Leben unzerstörbar weiterfliesst: um von den gemeineren und fast noch kräftigeren Illusionen, die der Wille in jedem Augenblick bereit hält, zu schweigen. (GT 18; KSA 1, 115f.) 282 In gewisser Weise erging es Sisyphos sogar besser als Nietzsches theoretischem Menschen, nämlich in Hinsicht auf den Sinn seiner Tätigkeit. Während der theoretische Mensch am Ende nämlich einsehen muss, dass seine Suche absurd gewesen ist, ist die Arbeit des Sisyphos in Wahrheit gar nicht absurd. Zwar rollt er einen und denselben Stein immer wieder einen und denselben Berg hinauf, nur damit der Stein am Ende wieder herunterrollt. Und für sich betrachtet ist diese auf ewig fortschrittslose Arbeit gewiss unüberbietbar sinnlos. Allerdings ist sie eine Bestrafung durch die Götter und demzufolge in einen größeren Kontext eingebunden, in dem es Hierarchen und Moral gibt. Durch diesen Kontext erhält die scheinbar so absurde Tätigkeit des Steinwälzens tatsächlich einen Sinn: als moralisch-logische Folge eines Frevels, eines Verstoßes gegen eine existente Ordnung. 283 Es ist Schelling, auf dessen – in einem Nebensatz vorgelegte – Definition des Unheimlichen ich mich hier beziehe: „Die homerische Götterwelt schließt schweigend ein Mysterium in sich, und ist über einem Mysterium, über einem Abgrund gleichsam errichtet, den sie wie mit Blumen zudeckt. Der reine Himmel, der über den homerischen Gedichten schwebt, konnte sich erst über Griechenland ausspannen, nachdem die dunkle und verdunkelnde Gewalt jenes unheimlichen Prinzips (unheimlich nennt man alles, was im Geheimniß, im Verborgenen, in der Latenz bleiben sollte und hervorgetreten ist) – jener Aether, der über Homers Welt sich wölbt, konnte erst sich ausspannen, nachdem die Gewalt jenes unheimlichen Prinzips, das in den früheren Religionen herrschte, in dem Mysterium niedergeschlagen war (…)“ (Schelling 1857, 649; Hervorhebung – E.B.).

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   Der Sokratismus ist ein Nihilismus

Nietzsches andeutende Rede von den „gemeineren und fast noch kräftigeren Illusionen, die der Wille in jedem Augenblick bereit hält“, um uns, unter Missachtung der Erkenntnis, dass sich ebendies nicht lohnt, zum Weiterleben zu verführen, lässt sein Vertrauen darauf erkennen, dass sich der Wille zum Leben aufs große Ganze gesehen auch in Zukunft durchsetzen wird. Allerdings ist der Wille zum Leben nicht per se das Gegenteil des Nihilismus. Im schlimmsten Fall, wenn es heißt: „Sein oder Nichtsein“, gibt er sich auch mit dekadentem Leben zufrieden. Als negative Krönung solchen Lebens darf man wohl den in der Vorrede des Zarathustra dargestellten letzten Menschen ansehen, dessen dezidiert antitragisch angelegtes Leben eines seichten Hedonismus im pejorativen Sinne des Wortes tatsächlich „gemein“ ist. Zwar bleibt der letzte Mensch am Leben. Indessen lebt er ein Leben im Zeichen des Nihilismus, als dessen Kennzeichen man die Unterbietung der spezifisch menschlichen Möglichkeiten ansehen kann, ohne dessen gewahr zu werden. Die Lebensform des letzten Menschen wäre also eine postsokratische Möglichkeit, mit der wiederauferstandenen tragischen Erkenntnis fertig zu werden.²⁸⁴ „Fertig werden“ ist hier buchstäblich gemeint. Die Taktik des letzten Menschen besteht nämlich darin, sich gegen das Tragische weitestgehend immun zu machen. Denn mit dem Verschwinden von charakterlicher und geistiger Tiefe verflüchtigt sich auch der eigentliche Angriffspunkt des Tragischen. Natürlich bleibt auch der letzte Mensch nicht von Krankheiten und Schicksalschlägen verschont. In letzter Konsequenz wird er sie allerdings nur noch als körperlichen Schmerz empfinden. Das Dionysische verengt sich beim letzten Menschen immer mehr auf das Physiologische. Deswegen fürchtet sich Zarathustra auch so sehr vor ihm. Was dem letzten Menschen fehlt, ist der Wille, sich auch gegen Widerstände noch irgendeine individuelle Gestalt, geschweige denn seinem Leben selber, d. h. aus eigener Kraft, einen Sinn zu geben. Der letzte Mensch verkörpert den Sieg des Nihilismus, weil er schlichtweg nicht mehr das Potenzial besitzt, sich gegen den Nihilismus aufzulehnen. Aber, wie gesagt: Der letzte Mensch bleibt am Leben. Der Wille zum Leben hat in ihm einen Ausweg gefunden. Was zählt, ist nun Folgendes: Eine so radikal verzweifelte Antwort auf die tragische Erkenntnis wie die Lebensweise des letzten Menschen bzw. wie der letzte Mensch selbst wäre den Griechen nicht in den Sinn gekommen, weil sie nicht radikal genug verzweifelt waren. Ihre erste Antwort war die Tragödie, die zweite der Sokratismus. Die Situation, darin der moderne Mensch steht, ist ungleich verfahrener als sie es zu Zeiten der antiken Griechen war. Die historischen Bedingungen haben sich verändert, worunter unbedingt auch der in der Tragödienschrift freilich unerwähnt gebliebene Tod Gottes gerechnet werden muss: Wird der Mensch dieser Bedingungen gewahr, so bricht der Glaube an den nur-logischen Erleichterungs- oder gar Erlösungsweg zusammen. Das „Zeitalter des Nihilismus“ dämmert herauf.

284 Um es vorsichtig zu formulieren: Die Frage, inwieweit der Weg des letzten Menschen heutzutage bereits eingeschlagen wurde, gäbe sicherlich einen ergiebigen Forschungsgegenstand ab.

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Dieser Nihilismus unterscheidet sich vom Nihilismus der tragischen Griechen vor allen Dingen darin, daß erstens die Hoffnung des nur-logischen Fluchtweges zerstört und einverleibt ist, daß zweitens die christliche Ausdeutung des Daseins die Lage verschärft hat und daß schließlich drittens das Geschehen vor dem Hintergrund äußerster Gottesferne („Gott ist tot“) spielt. (Dier 1998, 77)

Endlich muss noch eine weitere Veränderung bedacht werden. Nietzsche hat den Mechanismus hinter unserer Illusionsproduktion entdeckt: Weil wir nach einem Sinn des Lebens verlangen und den ungeschminkten Blick in den Abgrund unseres Daseins nicht ertragen können, erfinden wir immer wieder einen Sinn oder eine Hoffnung, die die Realität eigentlich nicht hergibt. Vermittelt durch ihre Vordenker, wie eben Nietzsche, aber auch vor ihm Feuerbach und nach ihm Freud, begreift die Moderne, dass „[d]as ganze menschliche Leben (…) tief in die Unwahrheit eingesenkt“ ist (MA I 34; KSA 2, 54). Fortan steht also jeder Sinngebungsversuch unter dem Verdacht oder, problematischer noch: gegen die Überzeugung, nur eine Ausfluchtsbewegung zu sein. Die mögliche Überzeugungskraft neuer Sinngebungsversuche wird somit von vornherein unterminiert.²⁸⁵ Das gilt freilich auch, und Nietzsche ist sich dessen wohl bewusst, für seine eigenen Versuche, den Nihilismus zu überwinden. Der letzte Mensch erweist sich insbesondere vor diesem Hintergrund als eine verlockende Option, weil er gewissermaßen klug genug ist, so dumm zu werden, dass er wieder hinter der Erkenntnis unserer Sinnproduktion als lebenserhaltender Illusionsmaßnahme zurückbleibt. Was Dürrenmatt als gravierendes Problem erkannt und in

285 Nietzsche erfasst die tiefgreifenden Konsequenzen der Einsicht in unsere lebensrettende Illusionsbefangenheit, wenn er fragt: „Aber wird so unsere Philosophie nicht zur Tragödie? Wird die Wahrheit nicht dem Leben, dem Besseren feindlich? Eine Frage scheint uns die Zunge zu beschweren und doch nicht laut werden zu wollen: ob man bewusst in der Unwahrheit bleiben kön n e ? oder, wenn man diess m üss e, ob da nicht der Tod vorzuziehen sei? (…) Das ganze menschliche Leben ist tief in die Unwahrheit eingesenkt; der Einzelne kann es nicht aus diesem Brunnen herausziehen, ohne dabei seiner Vergangenheit aus tiefstem Grunde gram zu werden, ohne seine gegenwärtigen Motive, wie die der Ehre, ungereimt zu finden und den Leidenschaften, welche zur Zukunft und zu einem Glück in derselben hindrängen, Hohn und Verachtung entgegenzustellen. Ist es wahr, bliebe einzig noch eine Denkweise übrig, welche als persönliches Ergebniss die Verzweiflung, als theoretisches eine Philosophie der Zerstörung nach sich zöge?“ (MA I 34; KSA  2, 53f.) Aber dann erwägt Nietzsche doch, dass „die Nachwirkung der Erkenntniss“ von der Persönlichkeit des Einzelnen abhängen, nämlich von seinem „Tem per am en t“. Sogar eine Art Befreiung von der Last des gleichsam sinnbeschwerten Lebens hält er für denkbar: „[I]ch könnte mir eben so gut, wie jene geschilderte und bei einzelnen Naturen mögliche Nachwirkung, eine andere denken, vermöge deren ein viel einfacheres, von Affecten reineres Leben entstünde, als das jetzige ist (…).“ (MA I 34; KSA 2, 54) Es müsste einem solchen, von den Lasten, die andere Menschen empfinden, indem sie ihr Leben zu wichtig nehmen, befreiten Menschen „als der wünschenswertheste Zustand jenes freie, furchtlose Schweben über Menschen, Sitten, Gesetzen und den herkömmlichen Schätzungen der Dinge ge n üge n“ (MA I 34; KSA 2, 55). Man sieht schon hier, in Menschliches, Allzumenschliches, eine Veränderung von Nietzsches Strategie, den Nihilismus zu überwinden bzw. ihm etwas entgegenzusetzen. Er verlegt diese Verantwortung aus den Händen einer Kultur in die des einzelnen Menschen.

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   Der Sokratismus ist ein Nihilismus

den Physikern pointiert formuliert hat, dass nämlich einmal Gedachtes nicht wieder rückgängig gemacht werden kann,²⁸⁶ straft der letzte Mensch lügen – es kann doch, man muss nur das Denken entsprechend beschneiden. Nun bin ich aber, indem ich die veränderten historischen Bedingungen, mit denen es der moderne Mensch im Gegensatz zum antiken Griechen zu tun hat und die Dier weiter oben so treffend benannt hat (vgl. Dier 1998, 77), sogleich um eine weitere ergänzt habe, über einen wichtigen Punkt hinweggegangen. Ich komme nun also darauf zurück: Auch das Christentum, unter dessen gravierendem Einfluss das Abendland die letzten beinahe zweitausend Jahre gestanden hat, stellt eine eminente Größe innerhalb des Problemfeldes „Nihilismus“ dar. Die Psycho-Logik des Nihilismus kann erst dann in ihrer ganzen Bandbreite begriffen und damit zugleich in ihrer Plausibilität angemessen gewürdigt werden, wenn man das bis hierher Erörterte um Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Christentum ergänzt. Den Nihilismus bei Nietzsche zu durchdenken, heißt nämlich unbedingt das Verhältnisgeflecht zwischen Sokratismus und Nihilismus, zwischen Sokratismus und Christentum und zwischen Christentum und Nihilismus zu bedenken. Das Verhältnis zwischen Sokratismus und Nihilismus wurde nun eingehend betrachtet. Jetzt ist es an der Zeit, auch die beiden anderen Verhältnisse in Augenschein zu nehmen.

286 „Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden“ (Dürrenmatt 1998d, 85), so der Physiker Möbius, die Hauptfigur aus Dürrenmatts Welterfolg Die Physiker, als er erkennen muss, dass sein Versuch, sich und vor allem sein Denken vor der Welt in einem Irrenhaus zu verbergen, gescheitert ist.

Kapitel V Der Zusammenhang von Moral, Christentum und Nihilismus Man hat mich immer gelehrt, Kraft sei beinahe eine Sünde, es sei besser, klein zu sein als groß, alle Religion bestehe darin, die Schwachen und Kleinen zu schützen, die Schwachen und Kleinen zu ermutigen, ihnen zu helfen, daß sie sich mehren und mehren, bis sie schließlich übereinander wegkröchen, all unsere Kraft ihrer Sache zu opfern. Aber ich habe immer an dem gezweifelt, was sie mich lehrten. (H. G. Wells: Die Riesen kommen)²⁸⁷ Zum ersten Mal im Leben tat mir Jesus leid. Leid, weil die Wunder, die ihm zugeschrieben wurden, im Grunde nichts verändert hatten. Weil wir allein waren in einem Universum, wo selbst unsere Väter uns an ein Stück Holz nageln ließen, wenn ihnen danach war (…). (Garry Shteyngart: Super Sad True Love Story)²⁸⁸

Außerhalb der Hörsäle und Seminarräume der Universitäten dürfte der Name Friedrich Nietzsche, sofern bekannt, wohl insbesondere mit seinem Zarathustra – der denn auch den notorisch zitierten Satz enthält: „Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht!“ (Z I Weiblein; KSA 4, 86) – und mit seinen erbitterten Invektiven gegen das Christentum verknüpft werden: Nietzsche? War das nicht der selbsternannte Antichrist, der Gott für tot erklärt hat? So oder zumindest so ähnlich dürfte wohl eine als vorsichtige Gegenfrage formulierte Replik auf die Frage nach der Person Friedrich Nietzsche lauten. Und wenn man einen gläubigen Christen mit einem entsprechenden Textabschnitt aus Nietzsches Oeuvre konfrontierte, so würde er, obschon in einer säkularen Gesellschaft aufgewachsen und solcherart willens- und glaubensgestählt, angesichts der wütenden Wucht, die ihm aus diesen Zeilen entgegenschlüge, vielleicht doch auch heute noch erschrecken. Ebenfalls denkbar wäre, dass er den Verfasser dieses vernichtenden Urteils über das Christentum schlichtweg für verrückt erklärte: – Hiermit bin ich am Schluss und spreche mein Urtheil. Ich ve r u r t h e i l e das Christenthum, ich erhebe gegen die christliche Kirche die furchtbarste aller Anklagen, die je ein Ankläger in den Mund genommen hat. Sie ist mir die höchste aller denkbaren Corruptionen (…). Die christliche Kirche liess Nichts mit ihrer Verderbniss unberührt, sie hat aus jedem Werth einen Unwerth, aus jeder Wahrheit eine Lüge, aus jeder Rechtschaffenheit eine Seelen-Niedertracht gemacht. (…) Aus der humanitas einen Selbst-Widerspruch, eine Kunst der Selbstschändung, einen Willen zur Lüge um jeden Preis, einen Widerwillen, eine Verachtung aller guten und rechtschaffnen Instinkte herauszuzüchten! – Das wären mir die Segnungen des Christenthums! (…) das Jenseits als Wille zur Verneinung jeder Realität; das Kreuz als Erkennungszeichen (…) ge ge n d a s Le b e n s elbs t … (AC 62; KSA 6, 252f.)

287 Wells 1928[1904], 218. 288 Shteyngart 2011[2010], 262.

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   Der Zusammenhang von Moral, Christentum und Nihilismus

Und doch enthalten gerade diese Zeilen den sachlichen Kern von Nietzsches Kritik: Das Christentum verneint die Realität, wendet sich gegen das Leben selbst – ist also zutiefst gekennzeichnet durch eine „lebensfeindliche Tendenz“ (AC 7; KSA  6, 174). Im Nihilismus erkennt Nietzsche das Kainsmal des Christentums. Darum also unternimmt er seinen antichristlichen Kreuzzug gegen das Kreuz: weil sich Christ und Nihilist nicht bloss zufällig reimt,²⁸⁹ weil das Christentum ein Nihilismus ist, mit einem Gott an der Spitze, in dem „das Nichts vergöttlicht, der Wille zum Nichts heilig gesprochen“ wird (NL 1887–1889, KSA 13, 17[4], 525). Daraus folgt: Wer sich mit dem Problem „Nihilismus“ bei Nietzsche auseinandersetzen will, kommt an dessen Kampf gegen das Christentum nicht vorbei. In diesem Kapitel meiner Studie wird darum das Verhältnis zwischen Christentum und Nihilismus näher untersucht. Außerdem werde ich den inneren Zusammenhang zwischen Christentum und Sokratismus aufdecken. Um der Thematik aber vollends gerecht zu werden, muss noch ein weiterer das Beziehungsgeflecht „Sokratismus-ChristentumNihilismus“ im nihilistischen Lot haltender Baustein Berücksichtigung finden. Es ist dies die Moral. Nietzsche hat in ihr die gefährlichste und wirkmächtigste Waffe des Christentums und damit auch des Nihilismus erkannt. Unterdessen gilt auch das umgekehrte Verhältnis, denn der christliche Gott fungiert als Garant für den Absolutheitsanspruch der moralischen Weltauslegung. Die Moral und das Christentum stützen sich gegenseitig; zunächst noch, da sie beide aus Schwäche geboren wurden, auf wackeligen Beinen, wie zwei Betrunkene, die sich aneinander anlehnend gegenseitig im Gleichgewicht halten, später dann, auf dem Höhepunkt ihrer Macht, eher wie zwei Feldherren, die sich gegenseitig die Flanke decken. Sie sind nun so mächtig geworden, dass nur noch sie selbst sich stürzen können; was denn auch passiert. In der Genealogie der Moral spürt Nietzsche beiden Bewegungen nach, d. h. dem Entstehen der Moral aus der Schwäche und dem Ressentiment sowie dem Vergehen der Moral (dem Verlust ihrer absoluten Geltung), das sich als Selbstenthauptung gestaltet. Wie der Sokratismus sich in seinem unstillbaren Wissensdurst selbst bis an seine Grenzen führt, so wird sich die Moral durch ihr Lügenverbot bzw. dank ihrer Verabsolutierung der Wahrheit selbst zunehmend verdächtig. Da Moral und Christentum so eng miteinander verbunden, so eng aufeinander bezogen sind, behandelt Nietzsche den Weg des Aufstiegs und des Falls des Christentums in einem Atemzug mit dem der Moral. Dort stößt er auf dieselbe Selbstzerstörungslogik, die schlussendlich zur Logik des Nihilismus führt. Gott und die Wahrheit sind für den Christen eins. Somit erhält die Wahrheit zugleich die höchsten moralischen Weihen und thront fortan über allem. Dementsprechend lebt der gläubige Mensch mit sokratischem Eifer sein Leben im Dienst der Wahrheit; ein Gottesdienst, der sich als Bärendienst erweist, denn der wahrheitshungrige Mensch enttarnt Gott schließlich als Lüge und Illusion. Mit dieser Erkenntnis schlägt die Stunde des Nihilismus. Sein Geburtstag – der Tag,

289 „Nihilist und Christ: das reimt sich, das reimt sich nicht bloss…“ (AC 58; KSA 6, 247).

Der Zusammenhang von Moral, Christentum und Nihilismus   

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an dem er aus der Latenz tritt und manifest wird – fällt auf den Todestag Gottes. Das Christentum indes war von Beginn an mit dem Nihilismus schwanger gegangen und derart von vornherein, seinen eigenen Behauptungen zum Trotz, nicht für die Ewigkeit gemacht. Diese nihilistische Selbstvernichtung des Christentums und der Moral ist das Thema dieses Kapitels. Dabei will ich, was in Anbetracht von Nietzsches Lehre des Perspektivismus durchaus nicht mehr selbstverständlich ist, von vorne beginnen, d. h. mit Nietzsches Rekonstruktion der Entstehung der Moral und des Christentums. „Von vorne anzufangen“ bedeutet hier freilich gerade nicht bei Adam und Eva zu beginnen, sondern beim Ressentiment.²⁹⁰ Von entscheidender Bedeutung für die Entstehung des Ressentiments ist ein Ungleichgewicht zwischen den Menschen. Deutlicher noch gesagt, muss es ein Machtgefälle zwischen den Menschen geben, das dem Ressentiment Nahrung gibt. Wenngleich wir heutzutage sowohl während unserer religiösen Sozialisation lernen, vor Gott seien alle Menschen gleich, als auch säkular gilt – und das sogar gesetzlich fundiert –, dass jeder Mensch als Mensch nicht nur überhaupt eine, sondern die gleiche Würde besitzt, so ist die heutige Welt darum doch nicht frei von Ressentiments aller Art. Anders als etwa Karl Marx geht es Nietzsche jedoch nicht darum, soziale Schieflagen zu konstatieren und zu analysieren, mit dem Ziel, sie zu begradigen. Es ist ihm auch nicht darum zu tun, Ungerechtigkeiten moralisch zu brandmarken. Nietzsche setzt vielmehr vor der Moral an. Er untersucht ihre Entstehung und entdeckt währenddessen, dass die Moral auf einem aus moralischem Gesichtswinkel höchst fragwürdigen Phänomen basiert. Sie geht aus einem negativen Gefühl hervor und beginnt ihren Siegeszug mithilfe von Täuschung und Selbsttäuschung. Dabei zwängt ein bestimmter Menschentypus einem anderen sein Weltbild mithilfe der Moral auf, wobei der letztere Typus dem ersten ursprünglich und gewissermaßen von Natur aus überlegen war. Nietzsche findet diese beiden Typen in einer vormoralischen Zeit, in einer Art rudimentärer Sozialität, in die er sich und seine Leser hineinversetzt. Der Leser der Geburt der Tragödie wird leicht erkennen, dass Nietzsche an eine Frühzeit denkt, von der sich noch viele Spuren im tragischen Zeitalter der Hellenen finden lassen. Und diese Spuren nimmt er nun auf, um der besagten Frühzeit eine Gestalt zu geben, um, so könnte man sagen, die graue Vorzeit auszumalen. Zu besagter Zeit gab es, wie er uns wissen lässt, Herren und Sklaven, wobei diese gesellschaftlichen Rollen darauf basierten, dass sie Vertreter eines entsprechenden Menschentypus waren, nämlich des Herren- und des Sklaventypus. Was verbirgt sich nun hinter dieser von der moralischen Warte aus gesehen – was den vormoralischen Blick selbstredend nicht stören kann und darf – alles andere als unproblematischen Distinktion?

290 Wenngleich man hinzufügen muss, dass das Ressentiment auch in der Bibel an beinahe vorderster Stelle eine Rolle spielt, nämlich bei den Kindern Adams und Evas, beim eifersüchtigen Kain, der aus Ressentiment seinen Bruder Abel erschlägt.

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   Der Zusammenhang von Moral, Christentum und Nihilismus

5.1 Der Herrentypus der Moral und das Pathos der Distanz Wenn Nietzsche von „Herren“ und „Sklaven“ spricht, meint er im Grunde zwei Moraltypen, hat also eine „Herren“- und eine „Sklavenmoral“ im Sinn. Es handelt sich bei diesen Moraltypen freilich nicht um tatsächliche, d. h. um historische Vertreter einer Moral. Vielmehr hat man es hier mit „Verdichtungen von Eigenschaften zu einer Figur“ (Günzel 2000, 253) zu tun und demgemäß mit idealisierten Vertretern, so dass Nietzsche seine Leser im Grunde mit idealtypischen Moralen konfrontiert. Um welche (verdichteten) Eigenschaften aber handelt es sich konkret? Was genau zeichnet den jeweiligen Idealtypus aus? Das spezifische Charakteristikum des Herrentypus ist das sogenannte „Pa tho s d e r D i s t a nz “ (GM I 2; KSA 5, 259). Um zu verstehen, was sich inhaltlich in dieser Formel ausspricht, muss man sie zunächst auflösen, d. h. als erstes müssen die Formelelemente einzeln betrachtet und auf ihren Inhalt hin untersucht werden, um sodann die mittlerweile in ihrer Bedeutung luzide gewordenen Elemente wieder miteinander zu verbinden. Erst dann kann der Sinngehalt der Formel wirklich erfasst werden. Was also bedeuten die Begriffe „Pathos“ und „Distanz“ im Einzelnen und was bedeuten sie als Formel? Das Wort „Pathos“ erweist sich bei näherem Hinsehen als ein überaus schillernder Begriff mit mannigfachen Bedeutungen. Ursprünglich stammt das Wort aus dem Griechischen (páthos), wo es Leidenschaft, Affekt, Stolz, Ernst und Erhebung, jedoch auch  – namentlich außerhalb des philosophischen Sprachgebrauchs  – Unglück, Leiden und Qual bedeutet. Das dem Neutrum „páthos“ zugehörige Verb „páschein“ verweist auf seine originär vor allem passive Bedeutung, nämlich erdulden/erleiden.²⁹¹ „Distanz“ bedeutet Abstand, und das sowohl räumlich als auch sozial. Der soziale Abstand wird häufig bewusst gewählt. Es handelt sich dann um ein Auf-Distanz-Gehen zu einem anderen, mit dem man nichts gemein hat (oder nichts gemein zu haben glaubt) und auch nicht haben will, mit und durch den man sich nicht – jetzt im pejorativen Sinne des Wortes – „gemein“ machen will. Dieser gewollte Abstand ist ganz offensichtlich Ausdruck einer Wertung, womit auch schon das entscheidende Stichwort genannt wäre. Denn Werte zu schaffen, ist in Nietzsches Augen das Privileg der Herren. Das Pathos der Distanz kennzeichnet nun diejenige Position, viel mehr noch: die Grundstimmung, aus der heraus sich die Herren das Recht, Werte zu schaffen, überhaupt erst nehmen. Dafür bedarf es unterdessen einer gehörigen Menge an Stolz, Ernst und Erhebung  – mit einem Wort: des Pathos. Wer jedoch seinen Ernst und Stolz in etwas hineinlegt, der legt auf diese Weise auch einen Teil von sich selbst in das jeweilige Etwas. Erst durch diese Extrojektion eines Persönlichkeitsanteiles ver-

291 Vgl. zu dieser vorzüglich passiven Verwendung des Begriffs „páthos“ Phdr., 245c; Met., 1022 b15.

Der Herrentypus der Moral und das Pathos der Distanz   

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leiht er dem betreffenden Gegenstand überhaupt einen Wert. Der Wert des Gegenstandes ist somit an die Person geknüpft, die ihr eigenes Pathos in ihn investiert. Es ist sonach nicht allein der betreffende Gegenstand, der sich fortan im Widerstreit mit anderen Werten in der Welt messen und behaupten muss, sondern mit ihm die wertende Person selbst. So tritt also, neben dem im Schaffen sich aussprechenden aktiven Aspekt, schließlich auch die passivische Bedeutung des Wortes „Pathos“ auf den Plan: das Erdulden- bzw. Erleiden-müssen. Den Herren zeichnet dergestalt ein Dreifaches aus: 1. die Fähigkeit, Werte zu schaffen, und zwar aktivisch, d. h. aus sich selbst heraus, was den Herren zu einem autonomen Menschen macht. 2. die Stärke, das Sich-selbst-aufs-Spiel-Setzen, das mit dem Setzen von Werten immer Hand in Hand geht; ein Stärke, die das Setzen von Werten nicht nur wagt, sondern auch das implizite Selbst-auf-dem-Spiel-Stehen erträgt (das passive Moment). 3. das Bewusstsein seines außerordentlichen Ranges: Er begreift sich als ein höherer Menschentypus von aristokratischem Rang und grenzt sich bewusst von einem niederen Typus ab, geht zu diesem auf Distanz. Alles in allem ist das Pathos der Distanz ein Gefühl, nämlich „das dauernde und dominirende Gesammt- und Grundgefühl einer höheren herrschenden Art im Verhältnis zu einer niederen Art, zu einem ‚Unten‘“ (GM I 2; KSA 5, 259). Als ein solches Gesamt- und Grundgefühl ist es allerdings rational nicht mehr fassbar: Gefühl steht traditionell im Gegensatz zum Begriff; es ist das, was nicht mehr zu begreifen ist. Bei jedem bestimmten Gefühl kann man aber noch sagen, was man spürt, und kann es von anderen Gefühlen unterscheiden; bei einem „dauernden und dominierenden Gesamt- und Grundgefühl“ verschwindet auch diese Bestimmtheit noch. „Pathos der Distanz“ scheint so Nietzsches Gegenbegriff zum Begriff zu sein, der Wille, nicht auf Begriffe zu bringen und nicht auf Begriffe gebracht zu werden. (Stegmaier 1994, 101)

In summa: Das Pathos der Distanz ist ein aristokratisches Selbstverständnis, aus dem heraus, d. h. mit aristokratischer Selbstverständlichkeit, der Einzelne „sich selbst und (…)[sein] Thun als gut, nämlich als ersten Ranges“ (GM I 2; KSA 5, 259) empfindet.²⁹² 292 Das Pathos der Distanz ist gerade auch für den Philosophen, wie Nietzsche ihn idealiter versteht, ein unverzichtbares Grundgefühl: „Vom Philosophen wird in jedem Fall das ‚Pathos der Distanz’ verlangt. Es ist die gleichermaßen innere wie äußere Elementarbedingung des Philosophierens, worunter Nietzsche nicht mehr und nicht weniger als die Lebensweise des leidenschaftlichen Denkens versteht“ (Gerhardt 1988, 6f.). Ohne das Pathos der Distanz und die sich in ihm aussprechende Stärke wäre ein Philosophieren, wie Nietzsche es begreift und vehement einfordert, schlechterdings nicht möglich. Ein solches Philosophieren ist nicht eine Art einstweiliges Gedankenspiel, aus dessen theoretischem Raum man jederzeit wieder in das „wahre“ Leben zurückkehren könnte, sondern bedingt immer auch den Einsatz des eigenes Daseins, ist nicht zuletzt eine Lebensform, welche die Wahrheit nicht scheut, egal wie schrecklich sie auch immer sein möge: „Philosophie, wie ich sie bisher verstan-

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   Der Zusammenhang von Moral, Christentum und Nihilismus

Wenngleich sich die von den Herren vorgenommenen Wertsetzungen auch ähneln mögen, was nicht weiter verwundert, da sie demselben aristokratischen Grundgefühl entspringen, sind sie doch stets das Ergebnis der Aktualisierung der Autonomie eines Einzelnen und somit nicht auf einen allgemeinen Begriff zu bringen.²⁹³ Im Selbstverständnis des Pathos der Distanz verortet Nietzsche schließlich den „eigentliche[n] Entstehungsheerd des Begriffs ‚gut‘“, den „Ursprung des Gegensatzes ‚gut‘ und ‚schlecht‘“ (GM I 2; KSA 5, 259), welchen er als den ursprünglicheren Gegensatz im Verhältnis zu dem von gut und böse ausmacht. Bevor ich aber zur Entstehung des letztgenannten Gegensatzes komme und damit auch zum Sklaventypus, sei kurz der Kontext erwähnt, innerhalb dessen Nietzsche seine These vom Ursprung des Begriffs „gut“ entwickelt. Und zwar entfaltet er sie in Abgrenzung zu den „englischen Psychologen, denen man bisher auch die einzigen Versuche zu danken hat, es zu einer Entstehungsgeschichte der Moral zu bringen“ (GM I 1; KSA 5, 257). Zwar bringt Nietzsche deren Unterfangen eine gewisse Sympathie entgegen. Immerhin wird bei ihnen, wie bei Nietzsche selbst, durch den Versuch einer Historisierung der Moral der Gedanke einer seit jeher gültigen, absoluten Moral und damit implizit deren unbefragte Selbstverständlichkeit zurückgewiesen. Allein die Ausführung ihrer Genealogie der Moral kann vor seinem Urteil nicht bestehen. Fälschlicherweise, so Nietzsche, hatten die englischen Psychologen nämlich angenommen, das Gute einer Handlung sei genuin nichts anderes als das für den Empfänger der Handlung Nützliche.²⁹⁴

den und gelebt habe, ist das freiwillige Leben in Eis und Hochgebirge – das Aufsuchen alles Fremden und Fragwürdigen im Dasein (…). Wie viel Wahrheit e r t r äg t , wie viel Wahrheit wag t ein Geist? das wurde für mich immer mehr der eigentliche Werthmesser“ (EH Vorwort 3; KSA 6, 258f.). 293 Indem ein Gefühl – zudem ein solches, das überhaupt nur ein bestimmter Menschenschlag erfährt und dies dann auch noch in individueller Ausprägung – für Nietzsche zum Argument wird, ist eine philosophische Evaluation seiner These vom Rangunterschied zwischen den Menschen kaum möglich. Sie ist immun gegen eine Kritik von außen bzw. Nietzsche immunisiert sie, indem er erklärt, es könne im Grunde nur derjenige dieses Rangunterschiedes überhaupt gewahr werden, der selber schon höheren Ranges sei: „Es giebt einen In stin k t fü r d e n R a ng, welcher mehr als Alles, schon das Anzeichen eines h o h en Ranges ist (…)“ (JGB 263; KSA 5, 217). Selbstverständlich ist es aber generell möglich, diese Immunisierung bzw. Selbsttabuisierung zu kritisieren, z. B. indem man in ihr selbst eine Ressentimentbewegung erkennt. 294 Wer verbirgt sich eigentlich hinter den englischen Moralpsychologen? Um welche Personen könnte es sich handeln? Angesichts des Begriffs „Nützlichkeit“ (utility) könnte man versucht sein, die Moralpsychologen mit den sogenannten „Utilitaristen“ (etwa mit Herbert Spencer, Jeremy Bentham und John Stuart Mill) zu identifizieren. Aber hier ist Vorsicht geboten. Im Gegensatz zu den Utilitaristen geht es den englischen Moralpsychologen nämlich nicht um eine Begründung der Moral aus ihrem Nutzen. Sie wollen folglich nicht die Gültigkeit dieser Moral erweisen. Stattdessen ist ihnen bloß daran gelegen, das Zustandekommen der Moral zu erklären (vgl. Raffnsoe 2007, 32f.). Soweit geht Nietzsche auch mit ihnen konform. Der historische oder genealogische Ansatz ist gewissermaßen das Tertium comparatonis zwischen ihm und den Moralpsychologen. Vertraut wurde Nietzsche mit den englischen Moralpsychologen, deren moralpsychologisches Denken durch David Hume angestoßen und durch John Smith fortgeführt wurde, durch ein Buch namens A History of European Morals (1869) von William Edward Hartpole Lecky (vgl. Raffnsoe 2007, 31). Auf

Der Herrentypus der Moral und das Pathos der Distanz   

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Von dem Begünstigten werde nun  – wenig überraschend  – die altruistische Handlungsweise gelobt. Dieser Ursprung des Lobes sei jedoch später vergessen worden. Nichtsdestoweniger habe man die uneigennützigen Handlungen auch weiterhin als gut empfunden, dies aber allein aus dem banalen Grund, dass man sich mittlerweile daran gewöhnt hatte, sie positiv zu bewerten. Es ist Nietzsche zwar schleierhaft, wie es möglich sein konnte, einen so eindeutig auf der Hand liegenden Konnex wie den zwischen der Nützlichkeit einer unegoistischer Handlung für deren Empfänger und dem Lob dieser Handlung durch denselben jemals zu vergessen. Weil diese Nützlichkeit eine „Alltagserfahrung zu allen Zeiten gewesen“ sei (GM I 3; KSA 5, 260), hätte sie statt vergessen zu werden, viel eher einen immer stärkeren Abdruck im Bewusstsein hinterlassen müssen. Abgesehen von diesem offensichtlichen Widersinn der These erweist sie sich jedoch als überaus fruchtbar, um auf etwas aufmerksam zu machen, was Nietzsche besonders am Herzen liegt. Dabei handelt es sich um die Frage, bei wem ursprünglich die Definitionsmacht des Guten liegt. Laut den englischen Psychologen liegt sie beim Empfänger einer Handlung. Nietzsche unterdessen ist der Ansicht, sie liege beim Handelnden, gesetzt dieser wird aus dem Pathos der Distanz heraus aktiv. Der Herr, der Aristokrat, bestimmt selbst, was gut ist und was nicht. Das Lob eines anderen hat er nicht nötig: „Wichtig ist nicht nur der Inhalt der Wertungen, was bewertet wird (…), sondern auch, wer aus welcher Position heraus wertet“ (Wolf 2004, 38). Was Nietzsche mit seiner Genealogie oder Historisierung der Moral zu zeigen versucht, ist, so eine erste vorsichtige Zusammenfassung, Folgendes: Der Universalismus in der Moral ist Nonsens: Werte sind keineswegs unveränderliche Entitäten mit unbedingtem Geltungsanspruch, die vom Menschen zwar entdeckt und bestenfalls inkorporiert, jedoch nicht erzeugt werden können. Sie sind vielmehr einem stetigen Wandel ausgesetzt und wesentlich von einem Wertenden abhängig; sie sind demnach aus kontingenter Subjektivität entstanden. Soweit besteht noch keine Differenz zwischen Nietzsche und den englischen Moralpsychologen. Anders als für diese ist für Nietzsche jedoch von signifikanter Bedeutsamkeit, wer dieser Wertende ist. Tatsächlich gebührt dem individuellen Rang des Handelnden innerhalb von Nietzsches Überlegungen zur Moral eine Schlüsselposition, insofern Nietzsche ihm eine elementare Bedeutung für den Wert einer Handlung zuschreibt. Auf diese Weise können gleiche deutscher Seite hat schließlich Paul Rée, der einstige Freund Nietzsches, dieses Denken in seinem 1877 erschienenes Buch Der Ursprung der moralischen Empfindungen aufgenommen. Es ist ebendieses Buch, das Nietzsche auf die Spur der Engländer bringt; nach seiner eigenen Auskunft tritt ihm hier das erste Mal die „englische Art“, historische Hypothesen über den Ursprung der Moral aufzustellen, entgegen. Dem Lob des Ansatzes folgt jedoch die Verdammung der Hypothesen, die er mit schroffen Worten als „perverse Art von genealogischen Hypothesen“ zurückweist (GM Vorrede 4; KSA 5, 250). Jene englische Art bezeichnet in aller Kürze gesagt einen Empirismus, der mit einer naturalistischen Erklärung der Herkunft moralischer Handlungen in Begriffen des Nutzens aufwartet. Was Rée betrifft, nimmt Nietzsche besonderen Anstoß an dessen These, der Altruismus sei die Triebfeder des moralischen Verhaltens.

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Handlungen von unterschiedlichem Wert sein  – es kommt ganz darauf an, wer sie ausführt:²⁹⁵ Die Selbstsucht ist ganz so viel werth, als Der physiologisch Werth ist, der sie hat: sie kann sehr viel werth sein, sie kann nichtswürdig und verächtlich sein. Jeder Einzelne darf darauf hin angesehen werden, ob er die aufsteigende oder die absteigende Linie des Lebens darstellt. Mit einer Entscheidung darüber hat man auch einen Kanon dafür, was seine Selbstsucht werth ist. (GD Streifzüge 33; KSA 6, 131f.)

Soviel vorerst zum aristokratischen Menschenschlag, zu den hoi aristokratoi, die festen Willens und frohen Mutes handeln, ohne dabei auf die Idee zu kommen, dass an ihrem Verhalten irgendetwas nicht rechtens sein könnte. Sie handeln also gewissermaßen aus Instinkt. Als Nietzsche-Leser denkt man hier natürlich augenblicklich an das tragische Zeitalter der Griechen, das der Autor der Geburt der Tragödie vor den Augen seiner Leser noch einmal hat lebendig werden lassen. Und es ist zumal der Sokrates des Tragödienbuches, der einem wieder in den Sinn kommt, wie er die vormoralische Lebensweise als „nur au[f] Instinkt“ (vgl. GT 13; KSA 1, 89) beruhend verworfen hatte. In der Geburt der Tragödie und später in der Götzendämmerung hat Nietzsche gezeigt, wie dieser selbst aus dem Pöbel stammende Sokrates den Weg zu einem epochalen Herrschaftswechsel geebnet hat. Es sind die hoi polloi, die sich nun anschicken, die moralische Praxis zu bestimmen. – Grund genug, um diesen zweiten Typus Mensch samt zugehöriger Moral unter die Lupe zu nehmen.

295 Philippa Foot macht auf die desaströsen Folgen für die Praxis der Gerechtigkeit aufmerksam, die sich, ihrer Meinung nach, aus Nietzsches Ausführungen ergeben: „He insists that there are no kinds of actions that are good or bad in themselves, and this has, it seems, a fatal implication for the teaching of justice. It is justice – understood as one of the four cardinal virtues and having to do with all one person owes another – that forbids such acts as murder, torture, and enslavement and brands them as evil, whoever carries them out. Nietzsche on the other hand says that there is nothing good or evil ‚the same for all,‘ and he tells us we must look to see what kind of a person is doing an action before we can determine its value“ (Foot 1994, 6f.). Für Foot ist ein gewisser Sinn für Gleichheit („sense of equality“), verstanden als ein „thinking that one is always, fundamentally in the same boat as everybody else, and therefore that it is quite unsuitable for anyone to see himself as ‚grand‘“ (Foot 1994, 9), ein unverzichtbarer Bestandteil einer Praxis der Gerechtigkeit. Untrüglich ist nun aber, dass das Phatos der Distanz die Perspektive eines Herabblickenden ist. Deswegen folgert Foot: „Nietzsche’s endless talk about inferiors and superiors, and the way he countenances some men looking down on others, together with the readiness to sacrifice (…) the ‚mediocre‘ confirms the impression that justice gets short shrift in his scheme of things: that it is quite wrong to see his ‚aesthetic‘ as taking nothing we think precious from the morality he attacks“ (Foot 1994, 10). Immerhin weiß die amerikanische Philosophin um eine mögliche Antwort Nietzsches auf ihren Einwand: „To our objections on behalf of justice Nietzsche would, no doubt, reply that what should be in question is not whether we want to hold on to a moral mode of valuation, but whether we can do so with honesty“ (Foot 1994, 10).

Der Sklaventypus der Moral und das Ressentiment   

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5.2 Der Sklaventypus der Moral und das Ressentiment In der Genealogie der Moral finden sich eine ganze Reihe von Benennungen für den Vertreter des zweiten Moraltypus. Es ist die Rede vom „Sklaven“, vom „Niedrigen“, vom „Niedrig-Gesinnten“, „Gemeinen“, weiter vom „Pöbelhaften“ (GM I 2; KSA  5, 259), „Elenden“, „Ohnmächtigen“, endlich vom „Kranken“ (GM I 7; KSA 5, 267) und dergleichen mehr. Diese Benennungen sind freilich auch als Kennzeichnungen oder Beschreibungen jener unter den zweiten Typus fallenden Menschen zu verstehen. Es handelt sich demnach um pöbelhafte, gemeine, elende, usw. Menschen. Im Gegensatz zu an sich wertneutralen Beschreibungen wie groß/klein, blond/braun etc.²⁹⁶ sind alle auf den zweiten Menschentypus gemünzten Kennzeichnungen wertender (eigentlich: abwertender) Natur. Auch dem Oberbegriff, den Nietzsche schließlich für sie alle findet, nämlich „schlecht“, haftet zweifellos der Geschmack einer wenig schmeichelhaften Wertung an. Sinnenfällig ist, dass alle angeführten Bezeichnungen ihr jeweiliges Korrelat oder Antonym auf der Seite des Herrentypus finden: Die Herren sind dem Oberbegriff nach „gut“ und zwar „im Sinne von ‚seelisch-vornehm‘, ‚edel‘, von ‚seelisch-hochgeartet‘, ‚seelisch-privilegirt‘“ (GM I 4; KSA  5, 261)  – auch diese Bezeichnungen sind samt und sonders axiologisch geprägt. Allerdings handelt es sich nicht um moralische Wertungen, was unmittelbar einleuchtet, unternimmt Nietzsche doch in der Genealogie den Versuch, sich und seine Leser in eine vormoralische Zeit zu versetzen. Zu jener Zeit habe man „den schlichten, den gemeinen Mann noch ohne einen verdächtigenden Seitenblick“, d. h. ohne moralischen Seitenblick, „einfach im Gegensatz zum Vornehmen bezeichnet“ (GM I 4; KSA 5, 261f.). Wenn es sich aber nicht um moralische Wertungen handelt, worum dann? Der Versuch, den schlichten Menschen in seinem Sosein zu erfassen, führt auf die richtige Spur zur Beantwortung dieser Frage. Während man bei der Bestimmung der wesentlichen Merkmale des aristokratischen Menschentyps weitestgehend auf die Betrachtung seines Antagonisten verzichten konnte, gilt dasselbe nicht vice versa. Der Grund dafür ist die den Herren charakterisierende Aktivität: Der Herr befiehlt, handelt und ist schließlich auch derjenige, der die Begriffe prägt:²⁹⁷ Es ist „[d]as Herrenrecht, Namen zu geben“, welches so weit geht, „dass man sich erlauben sollte, den Ursprung der Sprache selbst als Machtäusserung der Herrschenden zu fassen“ (GM I 2; KSA 5, 260). Die Beherrschten 296 Solche Beschreibungen sind an sich wertneutral, d. h. sie sollen schlicht eine beschreibende oder kennzeichnende Funktion erfüllen, so dass es möglich wird, Personen und Gegenstände voneinander zu unterscheiden. Dass wir der jeweiligen Sitte oder, um einen eine noch größere Beliebigkeit ausdrückenden Begriff zu verwenden: einem derzeit herrschenden „Trend“ entsprechend damit unter der Hand doch wieder Wertungen ins Spiel bringen – z. B. einem gängigen Schönheitsideal folgend „dick“ abwertend und „dünn“ („schlank“) aufwertend verstehen – ist ein Nebeneffekt, der sich kaum vermeiden lässt. 297 Insofern aber auch „Aktivität“ ein relationaler Begriff ist, muss ein passiver Part, d. h. jemand, der die Befehle entgegennimmt, zumindest mitbedacht, wenn auch nicht eingehender betrachtet werden.

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nehmen bloß die Namen an, die man ihnen zuweist. Ihr charakteristisches Merkmal ist die Passivität. Die Güte, um die es Nietzsche hier zu tun ist, das Gutsein der Aristokraten, rührt von einem Mehr an Macht her, das auch als ein Mehr an Sein aufgefasst werden kann. Nietzsche rekurriert auf zwei griechische Vokabeln, die dieses Gutsein des edlen Menschen besonders deutlich indizieren. Die eine ist das bereits genannte „agathos“ und verweist auf die Aktivität. Die zweite ist „esthlos“, womit eine Art ontologische Güte bezeichnet wird, die sich infolge der Aktivität einstellt: Wer gut ist im Sinne von agathos, wer sonach mutig und selbstsicher handelt, der ist eo ipso auch gut im Sinne von esthlos, ist also jemand, „der ist , der Realität hat, der wirklich ist, der wahr ist“. „Esthlos“ meint sonach „mit einer subjektiven Wendung, den Wahren als den Wahrhaftigen“ (GM I 5; KSA 5, 263). Ebendieser, der Wahrhaftige, ist es nun, der die Dinge beim Namen nennt. Ihm allein obliegt die Begriffsgewalt. Seiner gefühlten Seins- und Machtfülle entsprechend verweisen die Bezeichnungen, die er dem Sklaventypus aufprägt, auf ein Defizit an Sein und Wahrhaftigkeit: In einer solchen[vormoralischen  – E.B.] Gesellschaft bezeichnen die Antonyme lediglich den Mangel der positiven Auszeichnung. Es handelt sich um negative oder defiziente Bezeichnungen. Aber damit sind die Bezeichnungen des Guten oder des Ausgezeichneten auch als die primären des Begriffsgegensatzes angegeben. (Raffnsoe 2007, 38)

Mir scheint, die oben gestellte Frage nach der Herkunft bzw. der Natur der in den Bezeichnungen eingeschlossenen Wertungen lässt sich jetzt beantworten: Es sind ästhetische Wertungen, Ausdrücke einer Ästhetik der Macht, der alles als schön und gut gilt, was Resultat einer autonomen Aktivität ist oder eine solche ausübt. Vor diesem Hintergrund muss nun auch der typische Charakterzug des Sklaven gesehen werden, der Nietzsche zufolge eine tragende Rolle innerhalb der Moralund damit, wie noch deutlich werden wird, zugleich auch der Nihilismusgeschichte spielt. Die spezifische Eigenart des Sklaven ist eine Ausgeburt der Ohnmacht, ein auf einem Defizit beruhender Wesenszug. Der Sklave ist zutiefst durch das Ressentiment geprägt. Das Ressentiment ist von so grundlegender Bedeutung für den zweiten Menschentypus, es bestimmt den Charakter des gemeinen Menschen derart, dass Nietzsche von diesem auch als vom „Mensch[en] des Ressentiment[s]“ (GM I 13; KSA  5, 278) handelt. Insofern das Ressentiment nicht nur den Schlüssel zum Verständnis des Sklaven abgibt, sondern außerdem der zentrale Begriff der ersten Abhandlung der Genealogie, ja sogar einer der wichtigsten Begriffe innerhalb von Nietzsches Philosophie spätestens ab Also sprach Zarathustra ist, empfiehlt es sich, ihn eingehend zu analysieren. Was genau bezeichnet also dieser Begriff? Anders, schon vorausdeutend gefragt: Welche „Erlebniseinheit“ (Scheler 1952[1912], 38) wird durch das Wort exponiert? Licht ins Dunkel dieser entscheidenden Frage bringt vor allem der zehnte Abschnitt der ersten Abhandlung der Genealogie, in dem auch die berühmt-berüchtigte Formel vom „Sklavenaufstand in der Moral“ (GM I 10; KSA 5, 270) ihren Platz hat. Nietzsche lässt den Leser wissen:

Der Sklaventypus der Moral und das Ressentiment   

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Der Sklavenaufstand in der Moral beginnt damit, dass das Re s s e n t i me n t selbst schöpferisch wird und Werthe gebiert: das Ressentiment solcher Wesen, denen die eigentliche Reaktion, die der That, versagt ist, die sich nur durch eine imaginäre Rache schadlos halten. (GM I 10; KSA 5, 270)

Das Ressentiment ist demnach die Position bzw. der Zustand, aus dem heraus der Sklave etwas zu tun vermag, was eigentlich dem Herren vorbehalten ist, nämlich Werte zu schaffen. Es erweist sich somit als das Gegenstück zum herausragenden Wesensmerkmal des Herren, dem Pathos der Distanz, und solcherart als die spezifische Eigenschaft des Sklaventypus. Im Gegensatz zur Wertzeugung der Herren, die „aus einem triumphirenden Ja-Sagen zu sich selber herauswächst“ (GM I 10; KSA 5, 270) und aktiv und spontan erfolgt, handelt es sich bei der Wertschöpfung der Sklaven um eine Reaktion. Hier reagiert jemand auf die Handlung eines anderen Vornehmeren, der ihm, dem Reagierenden, grundsätzlich überlegen ist. Das Ressentiment ist sonach nicht eigentlich ein Beginn bzw. ein Ausgangspunkt, sondern eine Folge. Es ist die emotionale Antwort des Sklaven auf die Wertsetzung der Herren und ihre die Menschen nach gut und schlecht unterscheidende Lebensweise²⁹⁸. Bevor das Ressentiment jedoch (auf seine antwortende Weise) schöpferisch werden kann, muss es erst einmal entstehen. Aber wie geht die Ressentimentbildung von statten? Wie sieht sie aus, die Genealogie des Ressentiments? Das Ressentiment entsteht im Rahmen eines Aufstandes. Es ist die Frucht eines Aufbegehrens. Wer tief genug gräbt, um die Wurzel der Ressentimentbildung freizulegen, wird auf eine Kränkung stoßen. Im Aufeinandertreffen zweier Menschentypen von unterschiedlichem Rang ist die Kränkung gleichsam vorprogrammiert, denn sie ist bereits in dieser Konstellation selbst angelegt. Der minderwertige²⁹⁹ Typus muss 298 Ich benutze hier bewusst den Ausdruck „Lebensweise“ anstelle von „Moral“, weil es unsinnig wäre, im Kontext einer vormoralischen Zeit von Moral zu sprechen. 299 Dieser Menschentypus ist etwas, wovor es Nietzsche tatsächlich graut. Zwar handelt es sich um den Durchschnittsmenschen und somit durchaus nicht um einen Menschen am untersten Rand der Gesellschaft (dem freilich nach der Idee der allgemeinen Menschenwürde derselbe Wert wie jedem anderen Menschen auch zukommt), jedoch ist Nietzsche auf der Suche nach einem Menschen, „der den Menschen rechtfertigt“, nach einem „complementären und erlösenden Glücksfall des Menschen, um desswillen man de n G lau b en an d en M en sch en festhalten darf!“ Die Mittelmäßigkeit des Durchschnittsmenschen stellt für Nietzsche dagegen eher einen Grund für die Verwerfung des Menschen als für die erhoffte Rechtfertigung dar. Der Anblick dieses Menschen, der nicht größer werden will, „macht nunmehr müde“ (GM I 12; KSA 5, 278) und leistet dem Nihilismus Vorschub. So gesehen ist der gewöhnliche Mensch tatsächlich minderwertig und nicht nur ein minderwertigerer Typus, dessen Minderwertigkeit eine rein relationale wäre. Auch der Herrentypus scheint mir noch nicht jener „erlösende Glücksfall“ zu sein, in den Nietzsche all seine Hoffnungen legt, denn seine Güte ist nur relationaler Natur: Er ist höherwertig, jedoch nicht hochwertig. Ins Verhältnis zum Übermenschen gesetzt, dem eigentlich Hochwertigen, wäre dann auch der Herrentypus ein minderwertigerer. Indessen besitzt der Herr gerade in seiner Fähigkeit zur Selbstgesetzgebung bereits eine zentrale Eigenschaft des womöglich kommenden Glücksfalls von einem Menschen und erweist sich somit als Brücke hin zum Übermenschen. Von diesem aber später mehr.

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allein das reine Dasein des höherwertigen Typus, die pure Faktizität von dessen Existenz, als persönlichen Affront erfahren, denn durch die Existenz des Höherwertigen wird ihm seine eigene Schlechtigkeit erst vollends bewusst. Sie wird ihm durch die Gestalt des existierenden Besseren buchstäblich vor Augen geführt. Um wie viel schwerer muss die Kränkung aber wiegen, wenn es nun auch noch zu einer Handlung des Überlegenen kommt, die auf Kosten des Schwächeren geht? Gerade darin, dass sie zu Lasten anderer geht, besteht indes ein zentrales Merkmal der aristokratischen Wertsetzung. Wo sich die Aristokraten in ihrer Freiheit entfalten, da wird die Freiheit oder Aktivität anderer Menschen notwendig beschnitten. Auf diese Weise sieht sich der gewöhnliche Mensch immer wieder in die Rolle des Leidenden gedrängt und erfährt im Laufe seines Lebens zahllose Kränkungen. Als der von Natur aus Schwächere vermag er die reaktiven Affekte, die sich infolgedessen in seinem Inneren erheben, nicht in eine antwortende Tat (die „eigentliche Reaktion“, vgl. GM  I 10; KSA 5, 270) umzusetzen, die das Handeln des anderen verzögern, einschränken oder gar überwinden könnte. Vielmehr verlegt er sich, in seinem Bemühen, sich soweit es eben geht, schadlos zu halten, auf eine nach innen gewendete, ins Zentrum der eigenen Person gekehrte, emotionale Antwortreaktion. Das ist nun aber gerade keine Re-aktion: Fragen wir, was der Mensch des Ressentiments sei, dürfen wir auf keinen Fall folgenden Grundsatz außer acht lassen: er re-agiert nicht. Im Wort „Ressentiment“ steckt ein überdeutlicher Hinweis: die Reaktion hört auf, ausagiert zu werden und wird statt dessen gefühlt (senti). (Deleuze 1991, 122)³⁰⁰

Das Ressentiment wird demnach aus einem Unvermögen geboren, genauer gesagt: aus dem Bewusstsein, dass man bei einer unmittelbaren Gegenreaktion nicht wird bestehen können. Das sich daraus ergebende emotionale Erlebnis ist das Gefühl der Ohnmacht, das schließlich dem Verlangen nach Rache den Weg bereitet. Allein der Racheimpuls kann wiederum nicht in Form einer unmittelbaren Tat aktualisiert werden. Stattdessen wird er gleichsam konserviert, indem die Rache auf einen späteren, geeigneteren Zeitpunkt, der sich freilich in der Regel niemals ergibt, verschoben oder in der bloßen Imagination vollzogen wird, was jedoch ebenfalls kein Ausagieren ist. Sowohl das Rache- als auch das Ohnmachtsgefühl können dergestalt nicht kathartisch entladen und somit auch nicht aufgehoben werden. Schlimmer noch: Der Träger dieser Affekte bleibt auch weiterhin Teil des Machtspiels der Welt und wird sonach weitere Verletzungen erleiden, die wiederum die entsprechenden Affekte in ihm auslösen werden, die er abermals nicht wird ausagieren können. So werden auch sie sich schließlich in sein Inneres einsenken. Es kommt also zu einer Akkumulation

300 Es handelt sich, wie das französische Wort „ressentiment“ schon sagt, um die Wiederholung eines Gefühls, ein „re-sentire“, aus welcher schließlich, bei entsprechend häufiger Wiederholung, ein Grundgefühl in der betreffenden Person entsteht.

Der Sklaventypus der Moral und das Ressentiment   

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von reaktiven Affekten, bis endlich das Ressentiment entstanden und die Seele vergiftet ist. Selbstverständlich kennt auch der Aristokrat das Gefühl der Kränkung. Er ist ja genauso in den gesellschaftlichen Kampf um Macht verwickelt wie der gemeine Mensch, freilich mit dem erheblichen Unterschied, stärker und durchsetzungsfähiger als dieser zu sein. Ebendieser Unterschied ist nun zentral für den Umgang des Aristokraten mit der Kränkung. Der aristokratische Mensch ist stark genug, um auf eine an ihm begangene Aktion unverzüglich zu reagieren, und zwar vermittels einer Reaktion, die ihren Namen auch verdient, d. h. in einer wahren antwortenden Tat (Aktion). Er verschiebt seine Antwort nicht auf später oder hält sich bloß in effigie schadlos. Wie der Sklave ist auch er ein Teilnehmer im Machtspiel der Welt, aber im Gegensatz zu diesem ein aktiver Teilnehmer; er ist fürwahr ein Akteur im Spiel des Lebens: selbst seine Reaktion ist immer noch eine wirkliche Aktion. Solcherart bleibt er vom Ressentiment als Vergiftungszustand verschont: „Das Ressentiment der vornehmen Menschen selbst, wenn es an ihm auftritt, vollzieht und erschöpft sich nämlich in einer sofortigen Reaktion, es vergiftet darum nicht“ (GM I 10; KSA  5, 273). Somit ist also nicht das Ressentiment an sich schlecht, sondern bloß das unaufgelöste Ressentiment. Entscheidend für die so wichtige Ressentimentabfuhr ist die Auslösung des Ressentiments in einer „unverzügliche[n] und angemessene[n] Reaktion nach außen“, die allein der Aufgabe, „das Leiden zu betäuben und das Bewußtsein zu befreien“ (Brusotti 1992, 87; Hervorhebung – E.B.), die dem Ressentiment als einem psychischen Abwehrmechanismus zukommt, gerecht wird. Dabei ist noch nicht einmal entscheidend, ob diese Aktion auch den tatsächlichen Verursacher des Leids trifft oder nicht. Alles kommt darauf an, dass sich das Ressentiment gewissermaßen selbst überflüssig macht, indem es sich augenblicklich aktualisiert und damit zugleich auch schon wieder in Wohlgefallen auflöst. Beim Aristokraten ist das der Fall, weswegen sein Ressentiment als ein rasch vorübergehendes funktionelles Phänomen zu bezeichnen ist.³⁰¹ Anders verhält es sich dagegen beim „‚vergiftende[n]‘ Ressentiment“ des Sklaven, bei dem man es mit einer „versagende[n] Funktion“ (Brusotti 1992, 87) zu tun hat. Soweit die Entstehung des Ressentiments. Dieses hat jedoch nicht nur Ursachen, sondern auch Folgen. In Max Schelers explizit an Nietzsche anknüpfender „kurze[n] Sach-Charakterisierung“ des in Rede stehenden Begriffs werden diese Folgen nach einer ebenso knappen wie überzeugenden Definition des Ressentiments als „seelische Selbstvergiftung“ (Scheler 1952[1912], 38) benannt:

301 Das ist allerdings nicht alles, was ihn schadlos hält. Es kommt auch auf die „vergessen machende[] Kraft“ (GM I 10; KSA 5, 273) an, was hier aber nicht von entscheidender Bedeutung ist und demnach vernachlässigt werden kann. Zur Kraft des Vergessens vgl. GM I 10 (KSA 5, 270–274) und Brusotti 1992, 87ff.

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Ressentiment ist eine seelische Selbstvergiftung mit ganz bestimmten Ursachen und Folgen. Sie ist eine dauernde psychische Einstellung, die durch geübte Zurückdrängung von Entladungen gewisser Gemütsbewegungen und Affekte entsteht, welche an sich normal sind und zum Grundbestande der menschlichen Natur gehören, und die gewisse dauernde Einstellungen auf bestimmte Arten von Werttäuschungen und diesen entsprechenden Werturteilen zur Folge hat. (Scheler 1952[1912], 38)

Das Ressentiment initiiert also Werturteile, die auf Werttäuschungen beruhen. Sowohl das Werten als auch das Täuschen sind Aktionen. Das selber aus Handlungsunfähigkeit hervorgegangene Ressentiment wird mithin überraschenderweise schöpferisch – und damit beginnt der Sklavenaufstand in der Moral. Mit der Aktivität des Ressentiments hat es indessen seine spezielle Bewandtnis. Sie muss von der aristokratischen Aktivität deutlich unterschieden werden. Ob schöpferisch oder nicht, die Taten des Ressentiments sind niemals unmittelbarer Natur; es mangelt ihnen sozusagen an Spontaneität. Jede Tat des Ressentiments ist wesentlich reaktionär, wie sich an seinen Wertsetzungen, auf die hier alles ankommt, leicht zeigen lässt: Um überhaupt entstehen zu können, ist die Sklaven-Moral immer einer „Gegen- und Aussenwelt“ (GM I 10; KSA  5, 271) bedürftig, gegen die sie sich formiert. Insofern zehrt sie von der den Sklaven verachtenden Praxis der Vornehmen. Sie ist gewissermaßen deren Derivat. Von ihr ausgehend, also ex negativo, d. h. aus einem verneinenden Geist, entwickelt sie ihren Begriff des Guten: Aus (aristokratisch) gut wird (sklavisch) böse und aus (aristokratisch) schlecht wird (sklavisch) gut. Somit haben die Sklaven die aristokratische Werteordnung einfach umgekehrt. Kraft der Diffamierung der Mächtigen als böse, vermag der Schlechtweggekommene seine eigene an und für sich schlechte Situation viel besser als zuvor zu ertragen und in gewissen Grenzen sogar für gut zu halten. Er will nun gar nicht mehr so sein wie der Mächtige, weil das entscheidende Kriterium, das im Leben rechnet, nicht mehr die Macht, sondern die moralische Güte ist. Diesem neuen Kriterium genügt die aristokratische Verhaltensweise aber nicht. In der neuen Perspektive erscheinen die aristokratischen Handlungen idealtypischerweise als ungerecht und zeugen von egoistischer Kurzsichtigkeit, sofern in ihnen die vornehmlich negativen Konsequenzen, die sie für andere haben, nicht gesehen bzw. billigend in Kauf genommen werden. Der Hass des Ohnmächtigen gegenüber dem Mächtigen erfährt solchermaßen eine moralische Adelung und wird vom Hassenden selbst nicht mehr als das negative, feindliche Gefühl, das er in Wahrheit ist,³⁰² begrif-

302 Eine bemerkenswerte und auch heute noch lesenswerte phänomenologische Studie über den Hass hat der in Deutschland heute weitgehend in Vergessenheit geratene ungarische Philosoph Aurel Kolnai bereits 1935 (im Philosophischen Jahrbuch der Görres-Gesellschaft) vorgelegt. Darin erklärt er den Hass ausdrücklich als ein „feindliches“ Gefühl, das die ganze Person des Hassenden in Besitz nimmt und derart fortan dessen Lebensgestaltung in erheblichem Maß prägt. Kolnai versteht den Hass als „wichtiges, personenvertretendes Feindschaftserlebnis“. Der Phänomenologe macht darauf aufmerksam, dass der Hass ein „‚Vollnehmen‘ des Gegenstandes“ (Kolnai 2007[1935], 102) voraussetzte, wodurch verständlich wird, dass der – mit Nietzsche gesprochen – Sklave viel anfälliger für den

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fen, sondern ganz im Gegenteil positiv, als eine noble Regung, nämlich als Empören seines Gerechtigkeitsempfindens ausgelegt bzw. uminterpretiert. Der an sich Unterlegene fühlt sich plötzlich moralisch überlegen, wodurch sein ohnmächtiger Hass schon nicht mehr ganz so ohnmächtig ist. Wirklich gelungen sind die Werteinversion und der mit ihr einhergehende Machtwechsel aber erst, wenn die neue Wertsetzung auch von den Aristokraten akzeptiert wird. Ist dies der Fall, so hat de facto eine Umwertung der Werte stattgefunden. Genau das ist aber, wie Nietzsches Genealogie berichtet, innerhalb der westlichen Kulturgeschichte passiert. Es ist dies aber alles in praxi nicht ganz so einfach, wie es hier auf den ersten Blick scheint. Denn zum einen muss man sich fragen, wie es den eigentlich Schwächeren gelingen konnte, den eigentlich Stärkeren ihre Wertvorstellungen zu oktroyieren, und zweitens kann sich der im Grunde Vergiftete nur dann auch wirklich besser und dem Aristokraten sogar überlegen fühlen, wenn er sich über seinen eigenen Zustand und seinen tatsächlichen Wert erfolgreich hinwegtäuscht.³⁰³ Er muss mit einem Wort an

Hass ist als der Herr. Je weiter man nämlich in der sozialen Hierarchie unten steht, desto mehr Personen nimmt man für voll, weil sie entweder auf der gleichen Stufe wie man selbst oder über einem stehen. Deswegen kommt es vor, dass sich die Aristokraten untereinander hassen, während sie die Sklaven nicht hassen. Die spezifische Haltung des Herren gegenüber dem Sklaven ist, wie gesehen, das von Nietzsche sogenannte „Pathos der Distanz“. Ohne sich explizit auf Nietzsche zu beziehen (und womöglich auch ohne ihn überhaupt im Sinn zu haben) und zudem mit hegelschem Begriffswerkzeug ausgerüstet („Herr“ und „Knecht“) schreibt Kolnai jedoch ganz im Sinne Nietzsches: „Das Mitglied eines ‚Herrenstandes‘ wird in ungleich echterem Sinne einen anderen ‚Herren‘ hassen, der an ihm verräterisch gehandelt hat, als einen ungetreuen Knecht. Der Gebildete wird den Ungebildeten schwerlich hassen können. Er wird nur sehr dazu neigen, ihn als eine abzuwehrende üble Naturmacht zu behandeln. Da freilich gebildet und ungebildet, wie Aristokrat und Plebejer nur höchst relativ geltende Gegensätze sind, gilt das vorhin Gesagte nur innerhalb eines mehr oder weniger unveränderten gesellschaftlichen Daseinskreises (…). Aber auch in diesem präzisierten, eingeschränkten Sinne gilt die Voraussetzung der Ebenbürtigkeit nur nach unten, nicht auch gegen oben. Ich kann sehr wohl den ungleich Mächtigeren, dem ich ausgeliefert bin, ‚ohnmächtig‘ hassen; ich kann desgleichen den Vornehmeren, den Bedeutenderen, den Gebildeteren ‚mit dumpfem Ressentiment‘ hassen. Freilich ist auch da gleichwohl eine gewisse Gemeinsamkeit der existenziellen Ebene vorausgesetzt. Die ist von unten nach oben leichter erlebbar, als von oben nach unten. Mögen auch die einzelnen Erlebnisinhalte des Primitiveren dem Höherstehenden zugänglicher sein als umgekehrt, die metaphysische Gleichbedeutung alles Menschlichen ist jeweils dem an Werten unterscheidender Art ärmeren Menschen zugänglicher“ (Kolnai 2007[1935], 103). 303 Rüdiger Bittner hat das Verhalten des Schlechtweggekommenen mit dem des Fuchses in La Fontaines Fabel Der Fuchs und die Trauben verglichen. Dieser Fuchs, bekanntlich ein besonders schlauer und listiger Zeitgenosse, geht also eines schönen Tages seines Weges als er plötzlich auf herrlich rote, ganz offensichtlich reife Trauben stößt, die seine Begierde wecken. Dummerweise hängen diese Trauben jedoch zu hoch für ihn. Er kann sie nicht erreichen. Um nicht fortan frustriert seiner Wege gehen zu müssen, greift er zu einer auf einem Selbsttäuschungsmanöver beruhenden List: Er sagt sich einfach, dass die roten Trauben in Wahrheit grün und somit sauer seien. Weswegen sollte er sie jetzt noch begehren? Es gibt nun keinen Grund mehr, darüber frustriert zu sein, dass sie außerhalb seines Aktionsradius hängen. Solchermaßen beruhigt, kann der Fuchs seinen Weg getrost und ohne sich zu grämen fortsetzen.

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die durch ihn (reaktiv) gesetzte Moral glauben und muss es außerdem dahin bringen – womit die erste Schwierigkeit ebenfalls beseitigt bzw. die Frage nach dem Grund der Akzeptanz des neuen Wertesystems durch die Aristokraten beantwortet wäre –, dass auch die Herren an sie glauben. Damit dieser Glaube sich entfalten kann, ist zunächst ein Akt des Vergessens erforderlich. Der Sklave muss aus seinem Gedächtnis streichen, dass auch die Sklavenmoral nur eine Setzung ist (wenn auch keine souveräne und unmittelbare) und dementsprechend in Wahrheit keine absolute Geltung beanspruchen kann. Auf das Machtspiel des Wertesetzens, worauf alles hinausläuft, wenn es keine absoluten Werte gibt, kann er sich nämlich nicht dauerhaft einlassen. Hier ist ihm der Aristokrat turmhoch überlegen. Der absolute Wert ist ein Rückzugsmoment der Schwachen. In jedem absoluten Wert wird immer auch die Passivität selbst geheiligt, denn das Absolute solcher Werte besteht ja darin, dass sie sich ein für alle Male mit sich identisch bleibend, unveränderlich und unverrückbaren Grenzsteinen gleich dem Werden widersetzen. So gesehen erscheint die platonische Ideenwelt wie eine Apotheose der Passivität³⁰⁴ – eine Welt, wie für den Sklaven gemalt. Wenn Nietzsche den gemeinen Mann hin und wieder als den „Schlechtweggekommenen“ bezeichnet, dann meint er damit, dass dieser in einer Welt des permanenten Werdens, in der Welt Heraklits gewissermaßen, in der sich alles derart schnell verändert, dass es bekanntlich nicht einmal möglich ist, zweimal in denselben Fluss zu steigen,³⁰⁵ an sich schlecht aufgehoben ist. Was ihn ausmacht, ist nämlich die Passivität. Eingedenk dieses Charakteristikums liegt die Misslichkeit seiner Lage auf der Hand: Wer primär passiv ist, wird in einer Welt des unausgesetzten Wandels notwendig zu deren Spielball. Die Behandlung, die er durch den Aristokraten erfährt – „the thuggish behaviour of the nobles (…) the brutal discharge of power towards the weak“ (Janaway 2009, 344) –, ist nur eine Spiegelung dieses generellen, notwendig

Bittner hat recht mit seiner Behauptung, dass in dieser kleinen Fabel alle Konstituenten, die das Ressentiment nach Nietzsche ausmachen, versammelt sind: „The fox, then, represents all the elements of Nietzsche’s account of ressentiment: unhappiness, wish for improvement, inability to reach it, and the false story that makes one appear better off than one really is“ (Bittner 1994, 130). Ebenso berechtigt ist es, wenn Bittner auf ein im Fall von Selbsttäuschungen typisches Problem aufmerksam macht: „But such an account runs into difficulty. It is hard to understand why people should in these circumstances produce a false story of that sort. They know that it is a mere story. After all they make it up themselves“ (Bittner 1994, 130). Bittner unternimmt im darauf folgenden Teil seines Aufsatzes den Versuch, dieses diffizile Problem zu lösen, worauf hier aber nicht mehr eingegangen werden kann. 304 Nietzsche bringt diesen Gedanken in Also sprach Zarathustra zum Ausdruck, wenn er betont, das Leiden habe alle Hinterwelten geschaffen, wobei „Leiden“ hier einen zweifachen Sinn hat: Einmal meint es Schmerz, womit angesprochen ist, dass eine Hinterwelt imaginiert wird, in welcher eines Tages kein Leid mehr herrscht. Ein Gedanke, der hilft gegenwärtiges Leid zu ertragen. Andererseits meint Leiden aber auch Passivität. D. h.: Der passive Mensch schafft sich eine Welt göttlicher Ideen und unveränderlicher Werte, in der die Passivität selbst vergöttlicht wird – das Göttliche ist das sich selbst ewig gleich Bleibende (vgl. Z I Hinterweltlern; KSA 4, 35–38). 305 Auf die sogenannte „Flusslehre“ Heraklits werde ich in Kapitel IX.2 noch einmal zurückkommen.

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Leid verursachenden Grundverhältnisses. Deswegen denkt zu kurz, wer das Nein des Sklaven nur auf die geltenden Gesellschaftsverhältnisse bezieht. Dieses Nein ist sehr viel umfassender: Der Schlechtweggekommene negiert nicht nur seine soziale Umwelt, sondern die Außenwelt überhaupt. Die Negation der Außenwelt ist indes nicht allein die Sache des Sklaven. Denn auch der Aristokrat ist den Gesetzen der Welt unterworfen. Auch für ihn gilt die tragische Gleichung: Leben gleich Leiden. Die Weisheit des Silen ist eine Weisheit für den Menschen und nicht bloß für einen bestimmten Typus Mensch. Selbst die gehobene gesellschaftliche Stellung des Aristokraten ändert nichts an seinem ontologischen Status als eph’ hemeros: D. h. die „passive Dimension der (menschlichen) Existenz“³⁰⁶ wird auch dann nicht aufgehoben, wenn der Mensch im gesellschaftlichen Verkehr primär agiert, statt bloß zu reagieren. Der reaktive Sklave leidet aufgrund der sozialen Verhältnisse zusätzlich  – er ist darum jedoch nicht der einzige, der leidet. In der Geburt der Tragödie preist Nietzsche die Erschaffung der homerischen Götterwelt als die großartige apollinische Schöpfung, die das Leiden des Menschen, der durch das Treiben des Dionysischen gepeinigt wird, mildert, indem sie es dank der Einführung einer extrem anthropomorphen Götterwelt vergöttlicht. Die homerischen Götter wohnen freilich nicht auf der Erde, sondern im Himmel bzw. auf dem Olymp. Von dort aus, d. h. von einem extramundanen Standpunkt, lenken sie die irdischen Geschicke. Sie tun dies freilich auf eine dionysische Weise, soll heißen mit göttlicher Willkür: heute so, morgen so, mal zur Freude und nur allzu häufig zum Leid des Menschen. Die tragische Dimension des Lebens leugnet daher der Dichter dieser „Überwelt“ keineswegs, aber er sieht – wie bewusst auch immer – doch Kompensationsbedarf und erfindet daher neben der irdischen noch eine zweite Welt, durch die das irdische Leben erträglicher werden soll. Hier wird zwar kein striktes Nein gegenüber der irdischen Welt ausgesprochen, jedoch ist der Olymp Ausdruck eines Ungenügens an ihr. In Platons Ideenwelt erfährt dieses Ungenügen schließlich eine philosophische Begründung und Fundierung. Hier denkt sich der verneinende Geist eine zweite Welt, die er beflissen sogleich zur ersten erklärt, insofern er behauptet, die sinnliche Welt, die uns alltäglich vor Augen steht, stünde in einem sekundären, einem Ableitungsverhältnis zu dieser (aus)gedachten Welt. Letztere sei aber nicht nur ursprünglicher, sondern überdies auch besser und wahrer als die sinnliche Welt. Diese wahre – selbstredend unsichtbare, weil erfundene – Welt über oder hinter dem Diesseits, die „Hinterwelt“ oder das Jenseits folglich, ist nicht nur wie gemacht für ein passives Wesen, das unter der Aktivität der Welt leidet, sondern sie ist de facto für ein solches, von einem solchen Wesen gemacht. Sie ist gleichsam sein Fels in der Brandung – an ihr bricht sich das Werden. Was sie auszeichnet, ist nämlich gerade nicht

306 Ich übernehme diese Formulierung, die das Ausgesetztsein des Menschen gegenüber den Wechselfällen des Schicksals bezeichnet, von Ursula Wolf (vgl. Wolf 1999, 34).

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das Werden, sondern das Sein. Es ist eine durch und durch apollinische Welt³⁰⁷ der festen, unveränderlichen, stets mit sich selbst identischen Formen. Wohl hatte es in den frühen Religionen, wie z. B. bei den Ägyptern, auch schon Hinterwelten gegeben. Aber diese waren nicht philosophisch, sondern mythisch begründet und damit gemäß der sokratischen Lehre, nur dem besten Logos zu vertrauen, sensu stricto gar nicht begründet. Auf der anderen Seite hatte es auch schon denkerische, allein dem Logos verpflichtete Versuche gegeben, Herr über das Werden zu werden – man denke etwa an Parmenides.³⁰⁸ Allerdings haftet auch ihnen ein Mangel an: Die Erfahrungen in und mit der irdischen Welt sprechen eben doch eine andere Sprache als die des statischen Seins. Sie sprechen eher für eine antagonistische philosophische Position, wie sie beispielhaft durch Heraklit vertreten wird. Heraklits Position wiederum leuchtet zwar unmittelbar ein. Jedoch lebt es sich mit ihrer realistischeren (erfahrungsgesättigteren), allerdings wenig tröstlichen Wahrheit nicht so leicht. Indem Platon das Werden, anders als Parmenides, nicht einfach leugnet, sondern vielmehr zugesteht, dass die irdische, d. i. die sinnlich wahrnehmbare Welt (kosmos aisthêtos), in der wir tagtäglich leben und unsere Erfahrungen machen, eine Welt des permanenten Wandels ist, gleichzeitig jedoch anders als Heraklit tröstend erklärt, diese Welt sei nicht die einzige und schon gar nicht die wahre Welt, weist er einen Ausweg aus dem Dilemma. Eine Konzeption wie die platonische vermag, indem sie intellektuell besticht, auch und gerade die edlen Geister zu überzeugen. Und als das ephemere, aber narzisstische Wesen,³⁰⁹ das der Mensch ist, lässt er sich gerne von allem überzeugen, was seine Existenz irgendwie aufwertet, mithin auch und gerade davon, dass das Werden bzw. das Vergehen eben doch nicht das letzte Wort hat, wenn es um unser Leben geht. Gleichviel wie genial das platonische System indes auch sein mag, sein

307 Es ist demnach kein Zufall, wenn Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches die Entstehung der Metaphysik durch das apollinische Erlebnis par excellence, den Traum, erklärt: „Im Traume glaubte der Mensch in den Zeitaltern roher uranfänglicher Cultur eine zweite re a l e We lt kennen zu lernen; hier ist der Ursprung aller Metaphysik. Ohne den Traum hätte man keinen Anlass zu einer Scheidung der Welt gefunden“ (MA I 5; KSA 2, 27). Der Traum wiederum spricht in Bildern, daraus sich der Mensch das Leben deutet (vgl. GT 1; KSA 1, 27). Offenbar genügt ihm also die reale Welt nicht, um sich das Leben zu deuten. Er greift stattdessen auf eine apollinische Welt zurück, die des Traumes, vor deren Hintergrund er nun in der ihn alltäglich umgebenden Welt einen Sinn findet. Derart entsteht die Metaphysik als Kompensation einer alleine nicht genügenden Realität. So könnte man also den letzten Satz des obigen Zitats, der an sich so „harmlos“ klingt und die These von der Geburt der Metaphysik aus dem Leid eher zurückzuweisen als zu bekräftigen scheint, wie folgt weiterführen: „Ohne ein Ungenügen oder Leiden an dieser Welt hätte man nicht träumen müssen.“ 308 Parmenides geht soweit, das Werden rundheraus zu leugnen: „Außer dem Seienden aber ist nichts und wird es nichts geben, ganz muss es bleiben und ohne Bewegung, vom Schicksal gebunden. Bloße Namen sind’s, die der Sterblichen Sprache erfunden, Trug nur ist es und Wahn, was sie für Wirklichkeit halten: Werden sowohl als Vergehen, das Sein und das Nichtsein und weiter die Veränderung des Orts und das Wechseln der leuchtenden Farbe“ (DK, 28 B8). 309 Vgl. dazu etwa die Fabel zu Beginn von Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (WL 1; KSA 1, 875f.), auf die ich in Kapitel VIII.1 näher eingehen werde.

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metaphysischer Dualismus beruht, ebenso wie alle Zwei-Welten-Lehren, auf einem Unbehagen am Diesseits, dem der Mensch so oft ohnmächtig gegenüber steht. Der metaphysische Dualismus gründet sich demnach kurz gesagt auf eine Art von allgemeingültigem Ressentiment, das den Menschen als Menschen betrifft. Wenn also stimmt, was Alfred North Whitehead in einem berühmt gewordenen Satz gesagt hat, dass nämlich die „sicherste allgemeine Charakterisierung der philosophischen Tradition Europas lautet, daß sie aus einer Reihe von Fußnoten zu Platon besteht“ (Whitehead 1979[1929], 91), dann bedeutet dies unter Berücksichtigung des Ursprungs des metaphysischen Dualismus, dass die philosophische Tradition Europas auf einem schöpferisch gewordenen Ressentiment gründet. Wenn der Mensch nun, wie gesagt, generell dazu neigt, sich in solche Hinterwelten zu flüchten, wie verlockend müssen diese Refugien dann erst für den innerhalb der menschlichen Sozialität unterdrückten Menschen sein? Der Sklave  – und man halte sich vor Augen, dass für Nietzsche die Majorität der Menschen unter diesen Typus fällt  – hat die Scheidung der Welt als passiver Typus eines Wesens, das im Verhältnis zu dem mit dionysischer Gewalt vorwärtstreibenden Leben ohnehin passiv ist, doppelt nötig, schließlich leidet er auch doppelt. Dementsprechend hat sich das Ressentiment gewissermaßen von zwei Seiten in sein Herz gefressen: einmal als allgemeinmenschliches Ressentiment und zum zweiten in der Gestalt des spezifischen Sklavenressentiments, der Ohnmacht des unter den Herren leidenden Knechtes. Genauso wie der Sklave die Hinterwelt doppelt nötig hat, erweist er sich auf der anderen Seite allerdings auch als ihr doppelter Nutznießer, zumindest angesichts der spezifischen Gestalt, die sie im Abendland angenommen hat. Wenn man nämlich einen genauen Blick auf diese Gestalt wirft, auf die „Architektur“ des platonischchristlichen Jenseits, dann sieht man leicht, wem sie vor allem das Leben im Diesseits erleichtert. Auf diese Weise geht einem zugleich endgültig auf, wessen Geistes Kind sie ist. Denn die hier beheimateten Werte, die als feste, unveränderliche, ewige Formen absolute Geltung für sich reklamieren, sind die aus der Wertinversion abgeleiteten Werte der Sklavenmoral. Die Installation einer zweiten Welt, durch die der apollinische Trieb sein Bedürfnis nach festen Formen metaphysisch manifestiert, ist nur der erste Schritt auf dem Weg zur Umwertung der Werte durch die Sklaven. Es ist dies ein Schritt, der den Sklaven bei ihrem Aufstand entscheidend in die Karten spielt. Der zweite Schritt ist nun die Gestaltung der zweiten Welt, d. h. ihre spezifische Besetzung mit Werten. Wer es schafft, seine Werte hier in Geltung zu bringen, gibt fortan den Ton im Diesseits an. Der Umstand, dass das Wertesystem „sklavisch“ ist, beweist den Sieg der Sklaven über die Herren. Er stellt ein Faktum dar, wie auch immer er im Einzelnen errungen worden sein mag. Jedenfalls erscheint die Passivität des gemeinen Menschen dank des in der Hinterwelt verewigten Wertesystems in einem neuen Licht. Wenn nämlich Unrecht zu verüben schlimmer ist, als Unrecht

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zu leiden, wie es Sokrates, Platon und später das Christentum lehren,³¹⁰ dann ist der erduldende passive Mensch gegenüber dem Übeltäter moralisch und angesichts der ontologischen Unterlegung der Ressentimentmoral auch ontologisch im Recht – moralisch im Recht zu sein, heißt nun immer zugleich auch, ontologisch im Recht zu sein und, da die Ontologie wiederum metaphysisch fundiert ist, heißt es ebenfalls, metaphysisch recht zu haben. Für die Lebenspraxis der Menschen hat dies alles natürlich gravierende Folgen. Der Sklave kann den Herren nun endlich in Schach halten.³¹¹ Dabei kommt ihm einmal mehr eine Täuschung zu Hilfe; diesmal eine, gegen die sich der Mensch als ein der Sprache sowohl fähiges als auch bedürftiges Wesen kaum wehren kann, denn diese Täuschung rührt wesentlich von der Grammatik her, die uns das Grundschema von Subjekt und Prädikat vorgibt. Der Trug, um den es hier geht, besteht im „Glauben an das indifferente wahlfreie ‚Subjekt‘“ (GM I 13; KSA 5, 280), das angeblich hinter jeder Handlung steht. Dieser Glaube an ein Subjekt, das Herr seines Willens ist, erlaubt, einen Menschen für seine Taten zur Verantwortung zu ziehen. Denn nur einem willensfreien Subjekt kann man überhaupt Verantwortlichkeit zuschreiben. Aufgrund des besagten Glaubens gerät der Sklave allererst in die komfortable Position, seine moralische Deutung der Welt nach gut und böse mit einer (simplen) Logik des Ressentiments absichern zu können. Nietzsche führt diese Logik im Rahmen einer Fabel von Raubvögeln und Lämmern vor, wobei das schwache, den Attacken der Raubvögel ausgesetzte Lamm gegen seine Peiniger nach dem Muster eines einfachen Syllogismus argumentiert: Prämisse (1): Die Raubvögel sind böse; Prämisse (2): Ich, das Lamm, bin das Gegenteil von einem Raubvogel; Konklusion: Ich bin gut. Nun ist dieser Syllogismus hinsichtlich seiner Prämissen überaus voraussetzungsreich. Zunächst einmal wird eine Kraft vorausgesetzt, die sowohl im Raubvogel als auch im Lamm potenziell vorhanden ist, sich jedoch im Raubvogel ohne Rücksicht auf jegliche Konsequenzen Bahn bricht, während sie im Lamm zurückgehalten wird. 310 Exemplarisch für Sokrates/Platon sei Gorg., 509c, zitiert: „Von diesen zwei Übeln also, dem Unrechttun und dem Unrechtleiden, ist das größere nach unserer Behauptung das Unrechttun, das kleinere das Unrechtleiden.“ Und für das Christentum 1 Petr 3,17: „Es ist besser, für gute Taten zu leiden, wenn es Gottes Wille ist, als für böse“ (vgl. auch 1 Kor 6,7). 311 Es wäre ein Missverständnis zu glauben, dass infolge der Umwertung aus Sklaven Herren und aus Herren Sklaven würden. Denn damit aus einem Sklaven wirklich ein Herr würde, müsste aus einem passiven ein aktiver Mensch werden. Es müsste mit anderen Worten der Charakter der jeweiligen Person gewissermaßen eine Wende um 180 Grad vollziehen, was mehr als unwahrscheinlich, der Lehre von Nietzsches Lehrer Schopenhauer gemäß, sogar völlig unmöglich ist. Der Charakter eines Menschen steht, wie Schopenhauer meint, von vorneherein und ein für alle Male fest. In diesem Sinne gilt: „Schon bei der Geburt des Menschen[ist] sein ganzer Lebenslauf, bis ins Einzelne, unwiderruflich bestimmt“ (HN IV, 2, 3). Zu Schopenhauers Charakterbegriff vgl. Lerchner 2010. Die Folge der sklavischen Umwertung ist nicht eine einfache Umbesetzung der Rollen innerhalb desselben gesellschaftlichen Spiels. Vielmehr wird das gesamte Stück umgeschrieben. Es werden, wenn man so will, die Rollen der Herren herausgestrichen, womit die Drangsal der Sklaven beendet ist. Unterdessen betreten jetzt die Priester die Bühne. Dazu mehr im nächsten Unterkapitel (V.3).

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Soweit kann von Moral noch nicht gesprochen werden. Die Rede von sich entladenden Kräften scheint eher in die Gefilde der Physik als in die der Moral (Philosophie) zu gehören. Erst wenn zwischen dieser Kraft und einem Subjekt als Träger derselben unterschieden wird, dem es darüber hinaus nach eigenem Ermessen obliegt, sie zu äußern oder zurückzuhalten, erst wenn also ein Subjekt für sein Handeln verantwortlich gemacht werden kann, lässt sich der Vorgang der Entäußerung von Kräften in moralischen Kategorien fassen. Gerade diese Trennung zwischen einem Täter und seiner Tat wird in den Prämissen implizit behauptet. Dergestalt kann der Raubvogel als böse bewertet werden, weil er seine Kraft nicht zurückhält. Das Lamm auf der anderen Seite scheint dadurch gut, dass es seine Kräfte nicht ausagiert – dieser Gegensatz zwischen der Äußerung und der Zurückhaltung der Kräfte bildet auch die Basis für die an sich befremdliche Behauptung, das Lamm sei das Gegenteil des Raubvogels (Prämisse 2). – Durch die in dem Glauben an die Willensfreiheit gründende Logik des Ressentiments kann sich der Sklave also moralisch über den Aristokraten erheben und zudem seine eigene Schwäche als Stärke und die Stärke des Herren als Schwäche verkaufen. Die auf Unfähigkeit und Schwäche beruhende Passivität des gemeinen Menschen scheint plötzlich ein Akt bewundernswerter Willensanstrengung zu sein. Statt passiv oder phlegmatisch zu erscheinen, darf er nun von sich behaupten, über die Tugend der Besonnenheit (sophrosyne) – im Übrigen eine der vier platonischen Kardinaltugenden³¹² – zu verfügen. Er darf sich seine Schwäche als Verdienst anschreiben lassen und den Starken, der jetzt willensschwach scheint, wenn anders dieser sich nicht beherrschen kann, schuldig sprechen. Nietzsche hingegen hält den Gedanken, dass es ein mit Willensfreiheit ausgestattetes Subjekt, „ein ‚Sein’ hinter dem Thun“ gibt, für eine Illusion. Sein Gegendiktum lautet: „‚[D]er Thäter’ ist zum Thun bloss hinzugedichtet, – das Thun ist Alles“ (GM I 13; KSA 5, 279), jeder ist, was er tut.³¹³ Die mit der „sublime[n] Selbstbetrüge-

312 Platon hat ihr mit dem Charmides einen eigenen Dialog gewidmet. 313 Nietzsche vergleicht die Handlungen der Menschen mit einem Blitz. Landläufig werde dieser als eine eigenständige Entität angesehen, als eine Wesenheit, die etwas tut, nämlich blitzen bzw. aufleuchten. Tatsächlich aber sei der Blitz nichts anderes als das Aufleuchten selbst, so dass die Distinktion zwischen Blitz und blitzen unsinnig sei. Analog zu diesem Gleichnis dürfen, so der Philosoph, auch die Starken und Schwachen nicht von ihren Taten unterschieden werden. Vielmehr sind sie stark oder schwach „im Sinne der Identität, nicht in dem der Prädikation“ (Danto 1998, 208f.; Hervorhebung  – E.B.). Nietzsches Gleichsetzung des Menschen mit einem „Quantum an Kraft“ im 13. Abschnitt der ersten Abhandlung der Genealogie könnte den Leser durchaus dazu verleiten, dem Philosophen eine Form von materialistischem Naturalismus zu unterstellen, dem zufolge es weiter nichts als materielle Gegenstände in Raum und Zeit gibt und somit auch keine immaterielle Seele. Ein solcher Materialismus sieht die Naturwissenschaften als das Maß aller Dinge an, solange es um die Beschreibung und Erklärung der Welt geht. Im Rahmen einer solchen Weltdeutung wäre die Unterscheidung zwischen einfachen, natürlichen Geschehnissen und bewussten Handlungen obsolet. Sollte Nietzsche aber durch seine Verneinung des Subjekts hinter den Handlungen tatsächlich die Möglichkeit von Handlungen überhaupt negiert haben? Entspricht etwa der Position Nietzsches, was Bernard Williams „the uninviting claim“ nennt, dass wir eigentlich niemals handeln können, gesetzt:

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rei“ der Schwachen einhergehende Wertsetzung der Sklavenmoral, die es ermöglicht, „die Schwäche selbst als Freiheit, ihr So- und So-sein als Ve rdiens t auszulegen“ (GM  I  13; KSA  5, 281), verwirft Nietzsche als „Falschmünzerei und Selbstverlogenheit der Ohnmacht“ (GM I 13; KSA 5, 280). Genauso wenig wie dem Schwachen seine Schwäche zum Verdienst zu erklären, könne man dem Starken seine Stärke zum Vorwurf machen, denn: Von der Stärke verlangen, dass sie sich nicht als Stärke äussere, dass sie nicht ein Überwältigen-Wollen, ein Niederwerfen-Wollen, ein Herrwerden-Wollen, ein Durst nach Feinden und Widerständen und Triumphen sei, ist gerade so widersinnig als von der Schwäche verlangen, dass sie sich als Stärke äussere. Ein Quantum Kraft ist ein eben solches Quantum Trieb, Wille, Wirken – vielmehr, es ist gar nichts anderes als eben dieses Treiben, Wollen, Wirken selbst (…). (GM I 13; KSA 5, 279)

„ (…) no events are actions“ (Williams 1994, 241)? Nietzsche selbst verwahrt sich gegen eine solche Interpretation seines Denkens, wenn er gerade gegen eine derartige Weltauslegung und die sich in ihrem Gefolge befindende „absolute[] Zufälligkeit, ja mechanistische[] Unsinnigkeit alles Geschehens“ (GM II 12; KSA 5, 315) wettert. Zudem muss berücksichtigt werden, dass sich die materialistische Interpretation von GM I 13 nicht ohne Weiteres mit dem Rest der ersten Abhandlung deckt. Was der Autor hier schildert, ist nämlich ein soziales Geschehen, ein Kampf nicht zwischen Kräften, sondern unter Menschen, bei dem die Unterlegenen aus einem Gefühl der Ohnmacht heraus, aus Hass und folglich aufgrund eines Motivs (wobei die wirklichen Motive unseres Handelns, wenn es überhaupt so etwas wie Motive gibt, uns verborgen bleiben müssen vgl. M 129; KSA 3, 118–120) zum Gegenschlag ausholen. Trotzdem bleibt GM I 13 problematisch, denn die Negation eines Subjekts hinter den Handlungen scheint auch dann mit der Schilderung des sozialen Kampfes zu konfligieren, wenn sie nicht auf einer naturalistischen Weltauslegung basiert. Es hat den Anschein, als würde Nietzsches Beschreibung des Ressentiments, des Sklavenaufstandes und der Umwertung der Werte gerade auf dasjenige angewiesen sein, was er in GM I 13 bestreitet: die Existenz eines verantwortlichen Subjekts hinter einer Handlung: „Without Nietzsche’s own, prima facie inconsistent Doer-Deed language, the question of what is supposedly happening in the slave revolt, which in his account clearly relies on notions of subjection to the will of others, resentment, and even ‚madness‘ (II, 22), will be difficult to understand“ (Pippin 2004, 55). Robert Pippin hat sich dieses äußerst intrikaten Problems in aller Ausführlichkeit angenommen. Er versucht sich in seinem Aufsatz Lightning and Flash, Agent and Deed an einer Auflösung der soeben festgestellten Unstimmigkeit. Ihm zufolge negiert Nietzsche keineswegs die Existenz eines Handlungssubjekts. Allerdings dürfe es nicht von der Handlung unterschieden werden, sondern müsse vielmehr als Täter in der Tat begriffen werden: „We thus need to return to I 13 and appreciate that Nietzsche is not denying that there is a subject of the deed; he is just asserting that it is not seperate, distinct from the activity itself; it is ‚in‘ the deed“ (Pippin 2004, 56). Zuletzt macht Nietzsches Vorstellung der Welt als ein Willen-zur-Macht-Geschehen die Sache nicht einfacher. Ihr zufolge stellt auch der einzelne Mensch keine Einheit dar. Er kann somit in der Willenzur-Macht-Welt, in der sich überall Willen gegen Willen stellt, nicht einfach als einer dieser Willen begriffen werden, sondern ist selbst schon eine Art Willen-zur-Macht-Welt in sich. An ein einheitliches Ich glaubt Nietzsche nicht. In dem, was wir „Ich“ nennen, tobt selbst ein Kampf zwischen verschiedenen Trieben, bei dem mal der eine mal der andere zur Herrschaft gelangt und die anderen zu „‚Unterwillen‘“ (JGB 19; KSA 5, 33) degradiert. Dafür, dass es überhaupt so etwas wie eine Identität gibt, sorgt unser „Selbst“, das Nietzsche mit dem Leib identifiziert (vgl. Z I Verächtern; KSA 4, 40). Nur insofern der Mensch Leib ist, ist er tatsächlich ein Individuum.

Von der Umwertung der Werte durch den asketischen Priester   

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Der Glaube an das seines Willens mächtige Subjekt, der aufgrund der gemeinsam geteilten Grammatik den Herren ebenso naheliegt wie den Sklaven, erweist sich somit als gleichermaßen fundamental für den Erfolg der Sklavenaufstandes wie die Etablierung einer metaphysischen Hinterwelt. Der Sklavenaufstand wird derart aber als ein wesentliches Ereignis innerhalb der Geschichte des Sokratismus erkennbar: Wie erinnerlich habe ich Sokrates als Pionier des Glaubens an das für sein Handeln verantwortliche Subjekt mit freiem Willen vorgestellt und seinen Schüler Platon als Architekten einer philosophisch begründeten Hinterwelt. Sowohl das Subjekt als auch die intelligible Welt (kosmos noêtos) mit ihren die Passivität idealisierenden Werten sind apollinische Konstruktionen, die als ein Gegengewicht gegen das Dionysische eingeführt werden: einmal gegen das Dionysische im Menschen: die Tyrannei der Triebe, und zum anderen gegen das Dionysische in der Außenwelt: die ewige Flut des Werdens und Vergehens. Zudem handelt es sich jeweils um Versuche, das Chaotische zu rationalisieren resp. intellektuell zu zähmen, worin das Grundanliegen des Sokratismus besteht, insofern er auf diese Weise versucht, die tragische Erkenntnis und damit implizit auch den Nihilismus vom Menschen fernzuhalten. Der Glaube an das Subjekt und der Glaube an die intelligible Welt sind außerdem maßgebliche Voraussetzungen für den Auftritt eines weiteren Menschentypus. Es ist dies der Priester, der die Erfolgsgeschichte der Moral in der Folgezeit bis zum Tod Gottes wesentlich bestimmen wird. Dem Priester und seiner Rolle innerhalb der Umwertung der Werte sowie den nihilistischen Konsequenzen, die der Sklavenaufstand mit sich bringt, wendet sich Nietzsche im weiteren Fortgang der Genealogie zu. – Grund genug, ihm dabei zu folgen.

5.3 Von der Umwertung der Werte durch den asketischen Priester Die Opposition des aristokratischen Kodex: „gut versus schlecht“ (bzw. edel versus minderwertig), kaschiert leicht, dass auch der Aristokrat für Nietzsche „durchaus keine Krone der Schöpfung“ (AC 14; KSA 6, 180) darstellt, indem sie den Aristokraten in ein Licht setzt, das seiner Gestalt beinahe den Eindruck von Vollkommenheit verleiht. Wie bereits berührt, muss die Hochwertigkeit des Aristokraten jedoch relational zum gemeinen Menschen verstanden werden, so dass es sich im strikten Sinne bloß um Höherwertigkeit handelt. Überhaupt ist Nietzsche ein Verfechter der evolutionistischen Auffassung des Darwinismus,³¹⁴ der zufolge auch der Mensch letzt-

314 Der Einfluss des Darwinismus auf Nietzsches Gedankenwelt sollte keineswegs unterschätzt werden. Wenn Nietzsche auch nicht als Anhänger des Darwinismus gelten kann, darf deswegen jedoch nicht gefolgert werden, er sei ein Anti-Darwinist. Wie so oft liegt die Wahrheit zwischen den Extremen. Der Darwinismus ist eine Theorie, die ihrerseits aus mehreren Theorien zusammengesetzt ist, denen Nietzsche teils ablehnend, teils zustimmend gegenüber steht. So darf man Nietzsche bspw. getrost als Anhänger des Evolutionismus bezeichnen, insofern dieser das Primat des Werdens vor

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lich nur ein Tier ist; überdies ein Tier mit einem gravierenden Makel, der den Menschen allerdings erst interessant macht und dem er seine exponierte Stellung unter den Tieren verdankt. Mit Nietzsches Worten ist der Mensch das „relativ genommen, missrathenste (…), das von seinen Instinkten am gefährlichste abgeirrte  – freilich, mit alle dem, auch (…) interessantes te“ Tier (AC 14; KSA  6, 180). Die Entfernung von den eigenen Instinkten ist unterdessen eine Dekadenzerscheinung, so dass das Animal rationale zugleich das Animal morbidus³¹⁵ ist. So gesehen gehört die Krankheit also zur Konstitution des Menschen, eines dekadenten Tieres, und das umso mehr, je weiter der Mensch sich von seinen Instinkten entfernt, welche Entwicklung die Moderne seit Sokrates kennzeichnet. Es ließe sich freilich einwenden, der Mensch besitze im Ausgleich seinen Intellekt, der ihn für die Abirrung von den Instinkten geradezu überreichlich entschädigt. Tatsächlich dient die im Verhältnis zu allen anderen Tieren exorbitante Geistigkeit des Menschen als Kompensation mangelnder Instinktsicherheit. Die einzigartige Stärke des Menschen beruht demgemäß auf seinem Intellekt: Er gilt „uns als das stärkste Thier, weil er das listigste ist“ (AC 14; KSA 6, 180). Auf der anderen Seite jedoch vergrößert der Geist, das „Symptom einer relativen Unvollkommenheit des Organismus“ (AC 14; KSA 6, 181), die Kluft zwischen dem Menschen und seinen Instinkten, indem er dazu neigt, die Instinkte zu unterdrücken. Am Beispiel des Sokrates hat Nietzsche gezeigt, zu welchen Folgen dies im Extremfall führen kann: zu einem Tier, das nachgerade „ab s urd-vernünftig“ (GD Sokrates 10; KSA 6, 72) wird. Nun ist der aristokratische Mensch nicht ganz so weit von seinen Instinkten abgeirrt wie der Sklave, schließlich ist ihm die gesunde Triebabfuhr der Tat nicht verwehrt. Instinktiv löst er sein Ressentiment aus und damit auf. Zwar ist er gesünder als sein idealtypischer Antipode. Jedoch bedingt seine relative Instinktsicherheit, die Nietzsche in Abgrenzung zum ordinären Menschen als „vollkommne Funktions-Sicherheit der regulirenden u nbew u ssten Instinkte“ bezeichnet, dass er seinen Intellekt weniger in Anwendung bringt als der Mensch des Ressentiments. Die Verhaltensweisen des Aristokraten sind zum Teil gar durch „eine gewisse Unklugheit“ geprägt, die indes seinen hohen Rang begründet, so wenn es z. B. um „das tapfre Drauflosgehn, sei es auf die Gefahr, sei es auf den Feind“ (GM I 10; KSA 5, 273), geht. Ganz anders verhält sich dies beim Menschen des Ressentiments: Eine Rasse solcher Menschen des Ressentiment wird nothwendig endlich klüger sein als irgend eine vornehme Rasse, sie wird die Klugheit auch in ganz andrem Maasse ehren: nämlich als eine Existenzbedingung ersten Ranges (…). (GM I 10; KSA 5, 272f.)

dem Sein verkündet. Zugleich verwirft Nietzsche aber die Auffassung, dass die Evolution weiter nichts als eine Frage der Anpassung an äußere Umstände sei. Zu Nietzsches Stellung zum Darwinismus vgl. Haas 1932; Stegmaier 1987; Düsing 2006, 201–350. 315 „Denn der Mensch ist kränker, unsicherer, wechselnder, unfestgestellter als irgend ein Thier sonst, daran ist kein Zweifel, – er ist d as kranke Thier (…)“ (GM III 13; KSA 5, 367).

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Allerdings ist der Intellekt nicht in jedem Menschen des Ressentiments gleich in solcher Weise ausgebildet, dass er ihn als Waffe gegen die Herren gebrauchen könnte: Freilich musste das Ressentiment erst noch „Genie“ werden, bedurfte es noch eines Fiktionsartisten, der die Gelegenheit zu nutzen wusste und die Projektion in die richtige Richtung zu lenken, die Anklage zu führen und die Umkehrung zu vollziehen vermochte. (Deleuze 1991, 137)

Genie geworden ist das Ressentiment in Person des Priesters, bei dem es sich ebenso wie beim Herren und Sklaven um einen bestimmten Menschen-Typus handelt.³¹⁶ Der Priester-Typus ist allerdings komplizierter und, was in der Regel damit einhergeht, auch interessanter als die beiden anderen Typen, weil er die jeweiligen Zentralcharakteristika dieser beiden in sich vereint. So zeichnet er sich wie der Herren-Typus durch ein seelisches Vorrangsgefühl aus (vgl. GM I 6; KSA 5, 264). Im Verhältnis zu dem von Nietzsche auch als „Krieger“ (GM I 5; KSA 5, 264) bezeichneten Herren ist der Priester allerdings physiologisch benachteiligt. Und aus dieser Benachteiligung, die ein Leben der unmittelbaren Tat, wie es dem Herren möglich ist und geziemt, nicht gestattet, erwächst, zumal in der Kombination mit einem seelischen Vorrangsgefühl, das sich auf einen herausragenden Intellekt stützt, sein Ressentiment – das Hauptmerkmal des Sklaven-Typus. Während es dem gemeinen Menschen vornehmlich bloß darum zu tun ist, sein unerquickliches Schicksal zu verbessern, auch wenn er sich insgeheim wünschen mag, so zu sein wie der Aristokrat, geht es dem Priester um mehr als das. Sein Pathos der Distanz verlangt danach, sich nicht nur als Gefühl auszusprechen. Es will nicht ein bloß innerliches Phänomen bleiben, sondern darüber hinaus auch einen Ausdruck in der Welt finden, in den real gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen. Kurzum: Der Priester strebt nach Macht. Dieser Umstand macht ihn zum Konkurrenten des Aristokraten. Um den wesentlichen Unterschied dieser beiden miteinander konkurrierenden Typen zu exponieren, nimmt Nietzsche eine physiologische Typisierung sowohl der Krieger- als auch der Priesterkaste vor: Die ritterlich-aristokratischen Werthurtheile haben zu ihrer Voraussetzung eine mächtige Leiblichkeit, eine blühende, reiche, selbst überschäumende Gesundheit, sammt dem, was deren Erhaltung bedingt, Krieg, Abenteuer, Jagd, Tanz, Kampfspiele und Alles überhaupt, was starkes, freies, frohgemuthes Handeln in sich schliesst. Die priesterlich-vornehme Werthungs-Weise hat – wir sahen es – andere Voraussetzungen (…). (GM I 7; KSA 5, 266)

Der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Menschentypen ist sonach der jeweilige Gesundheitszustand: Der blühenden Gesundheit auf der Herren-Seite stehen „andere Voraussetzungen“ auf der Priester-Seite entgegen, womit vor allem 316 Die Einführung der Priesterkaste in den Argumentationszusammenhang der Genealogie erfolgt gänzlich unbestimmt. Im sechsten Abschnitt der ersten Abhandlung heißt es ohne weitere Erklärungen: „Von dieser Regel, dass der politische Vorrangs-Begriff sich immer in einen seelischen VorrangsBegriff auslöst, macht es zunächst noch keine Ausnahme (obgleich es Anlass zu Ausnahmen giebt), wenn die höchste Kaste zugleich die priesterliche Kaste ist (…)“ (GM I 6; KSA 5, 264).

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eine ganz bestimmte Voraussetzung gemeint ist, die nichts anderes als das glatte Gegenteil der bemerkenswerten Vitalität der Herren ist. Dies verrät der Blick auf die jeweiligen Wertungen der Konkurrenten, über welche Schätzungen der hier ausgetragene Kampf führt. Der Priester befiehlt dem Menschen ein asketisches Leben des Verzichts, das Werte propagiert, die überlebensnotwendig für denjenigen sind, der nicht bei bester Gesundheit ist. Schon dieser Satz für sich genommen indiziert, dass hier etwas verkehrt läuft: Eine bestimmte Lebensform, die tatsächlich für einen bestimmten Menschen-Typus geboten scheint und sonach nicht per se verworfen werden muss, soll für alle Menschen verbindlich sein. Der Priester redet somit einer Nivellierung des Nichtgleichen das Wort,³¹⁷ was dem dynamischen Leben als solchem widerspricht, weil die Nivellierung als Einebnungsgeschehen dynamikfeindlich ist, indem sie große Kraftentladungen nicht erlaubt. Wenn das Leben, wie die Geburt der Tragödie nahelegt, im Grunde einer ewigen Flut des Werdens und Vergehens entspricht, dann will die Nivellierung, bildhaft gesprochen, dem Meer verbieten, Wellen zu schlagen, wodurch der Sauerstoffgehalt des Meeres, d. h. die Basis des Lebens, leidet. Auf das Wellenschlagen bzw. auf Kraftentladungen setzt indes die Lebensweise der Aristokraten. Dieser Lebensart fährt der Priester mit asketischen Werten, die jede Distinktion³¹⁸ unterbinden, weil sie, angeführt von und zurückgeführt auf „die drei grossen Prunkworte des asketischen Ideals (…) Armuth, Demuth, Keuschheit“ (GM III 8; KSA 5, 352),³¹⁹ letztendlich auf Selbstlosigkeit im privativen Sinne des

317 In einem Notat aus dem Jahr 1882 bringt Nietzsche diesen Gedanken, der dann ein Jahr später in seinem Zarathustra an allen Ecken und Enden wieder auftaucht, in einer Sentenz unmissverständlich zum Ausdruck: „‚Die Menschen sind nicht gleich!‘ – So spricht – die Gerechtigkeit“ (NL 1882–1884, KSA 10, 3[1], 58). 318 Die Distinktion stellt einen weiteren Wert der Aristokraten dar, der sich freilich als Zustand zwangsläufig einstellt, wenn die anderen Werte gelebt werden: Er ist dann das Ergebnis des verwirklichten aristokratischen Kodexes, steht aber in Form des Pathos der Distanz immer auch am Anfang eines aristokratischen Lebens, und zwar als dessen emotionale Bedingungsmöglichkeit, welche Grundeinstellung sich im Vollzug des Kodexes außerdem immer wieder bestätigt. 319 Nietzsche unternimmt keine genauere Definition des asketischen Ideals, um das es in der dritten Abhandlung der Genealogie (Was bedeuten asketische Ideale?) geht. Diese Unterlassung ist indes alles andere als eine Schwäche des Textes, sondern vielmehr die logische Konsequenz eines Grundgedankens der Genealogie, der besagt, nur das sei „definirbar (…), was keine Geschichte hat“ (GM II 13; KSA 5, 317). Im Übrigen weisen schon die „drei grossen Prunkworte“ deutlich genug die Richtung, wenn es darum geht, was man inhaltlich unter dem asketischen Ideal oder asketischen Idealen verstehen muss. Sie gründen historisch auf den Idealen des frühen Mönchtums und damit auf einem Bestreben, sich im Leben so weit wie es nur geht vom Leben, zumal mit all seinen irdischen Vergnügungen, zu distanzieren. Im asketischen Ideal der Mönche und der Priester kommt so zum Ausdruck, dass man dieses Leben – „unsres“ schreibt Nietzsche vielsagend – nicht wertschätzt. Im besten Falle taugt es als Übergang in die intelligible Welt bzw. das christliche Jenseits: „Der Gedanke, um den hier gekämpft wird, ist die We r th u ng unsres Lebens seitens der asketischen Priester: dasselbe wird (sammt dem, wozu es gehört, ‚Natur‘, ‚Welt‘, die gesammte Sphäre des Werdens und der Vergänglichkeit) von ihnen in Beziehung gesetzt zu einem ganz andersartigen Dasein, zu dem es sich gegensätzlich und ausschliessend verhält, es sei d en n , dass es sich etwa gegen sich selber wende, sich s e l b s t ve r-

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Wortes hinauslaufen, äußerst heftig in die Parade. Nicht nur also, dass der Priester andere Werte predigt, als sie die Aristokraten leben: Die Werte des Priesters schließen diejenigen des Aristokraten schlichtweg aus. Wenn es also stimmt, dass „von Anfang an etwas Unges undes in solchen priesterlichen Aristokratien[ist] und in den daselbst herrschenden, dem Handeln abgewendeten, theils brütenden, theils gefühls-explosiven Gewohnheiten, als deren Folge jene den Priestern aller Zeiten fast unvermeidlich anhaftende intestinale Krankhaftigkeit und Neurasthenie erscheint“, dann ist es nur logisch, dass der Priester die Reinheit statt der Stärke zu einem herausragenden Wert deklariert, denn ein Mensch von mangelhafter gesundheitlicher Konstitution ist nun einmal in besonderem Maße auf die Wahrung eines gewissen Hygienestandards angewiesen. Allerdings ist in den Priestern das Bedürfnis nach Reinheit über das Maß hinausgewachsen und in einer „gefährliche[n] Weise verinnerlich[t] und verschärf[t]“ worden. Sie haben auf diese Weise das asketische Ideal als Arznei wider ihre fragile physiologische Konstitution geschaffen. Unterdessen hat sich dieses „Heilmittel (…) zuletzt in seinen Nachwirkungen noch hundertmal gefährlicher erwiesen (…), als die Krankheit von der es erlösen sollte“ (GM I 6; KSA 5, 265),³²⁰ und das eben – wie oben berührt – dadurch, dass die Priester das asketische Ideal für moralisch verbindlich, d. h. für allgemeingültig erklären.³²¹ Wenn nun die vitalen Naturen dem Priester wirklich darin folgen – und das asketische Ideal hat sich ja beschirmt durch das Christentum im Abendland de facto die längste Zeit als leitende Moral durchgesetzt –, führt dies zwangsläufig zu einem Regress des Lebens, weil es gerade diese Naturen sind, die Aktivposten im Leben sein können und es eigentlich auch sein sollen. Um im Fluss zu bleiben, verlangt das Leben als dionysisches Geschehen oder in der Terminologie des späten Nietzsche: als

ne ine: in diesem Falle, dem Falle eines asketischen Lebens, gilt das Leben als eine Brücke für jenes andre Dasein“ (GM III 11; KSA 5, 362). 320 Es wiederholt sich hier ein ganz ähnliches Geschehen wie schon im geschilderten Fall des Sokrates. Die Geschichte des abendländischen Denkens bzw. der europäischen Moral ist in Nietzsches Augen offenbar geprägt von Dekadenz und davon, Gegengifte gegen sie einzusetzen, die zwar für eine gewisse Zeit heilsam sein mögen, auf lange Sicht indes die Krankheit nur noch verstärken. 321 Darin unterscheiden sie sich vom Philosophen, der in der Regel zwar auch ein Anhänger des asketischen Ideals ist – Ausnahmen wie David Hume oder als wahrhaft leuchtendes Gegenbeispiel Julien Offriay de La Mettrie, um die Nietzsche natürlich weiß, stellen kein Gegenargument dar, weil es Nietzsche auch bei dem Philosophen wiederum um einen Typus geht –, weil „[e]in gewisser Ascetismus (…) eine harte und heitere Entsagsamkeit besten Willens (…) zu den günstigen Bedingungen höchster Geistigkeit“ (GM III 9; KSA 5, 356) gehört. Indessen käme der Philosoph nicht so leicht auf die Idee, das, was ihm im Speziellen zuträglich ist, allen anderen Menschen auch als verbindlich vorzuschreiben – Platon bspw. betont, dass der ideale, d. i. der gerechte Staat sich unter anderem dadurch auszeichnet, dass jeder das ihm Gemäße, d. h. „das Seinige tut“ (vgl. Rep., 433a; vgl. auch Lys. 222c: „(…) das Eigene ist das Gute.“). Selbstverständlich will ich hier nicht behaupten, es gäbe bei Platon so etwas wie einen Werterelativismus. Aber Platon lässt mehrere gute Lebensweisen zu, die allesamt – je auf ihre Weise – an der Idee des Guten teilhaben.

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„Wille zur Macht“³²² die Existenz verschieden großer und aktiver Kräfte, die sich als solche auch ausweisen, d. h. sich aneinander und gegeneinander stoßen, aufeinander einwirken und aktiv in Szene setzen.³²³ Als „‚non plus ultra‘“ (GM III 22; KSA 5, 395) genommen, stellt das asketische Ideal eine Geißel für die gesamte Menschheit³²⁴ dar, weil es dem Leben hierin einen Strich durch die Rechnung macht oder es zumindest um seine schönsten Früchte bringt. Es ist, kurz gesagt, Gift für die allgemeine Ökonomie des (menschlichen) Lebens und „bereitet derart kulturellen Niedergangstendenzen den Weg“ (Schönherr-Mann 2008, 67). Aus diesem Grund darf Nietzsche das asketische Ideal unter die Erscheinungsformen der Dekadenz rechnen: Es sei, schreibt er auf die Genealogie zurückblickend im Ecce homo, ein „décadence-Ideal“, gar „das s chädliche Ideal par excellence“ (EH GM; KSA 6, 353), so dass man es auch als ein negatives Primus inter pares verstehen kann. Als Dekadenzideal scheint es, wenn auch nicht aus Sicht des Priesters und seiner Herde,³²⁵ wohl aber aus der des Lebens resp. der Natur, deren Teil es selbst ist, ein Selbstwiderspruch zu sein: Denn ein asketisches Leben ist ein Selbstwiderspruch: hier herrscht ein Ressentiment sonder Gleichen, das eines ungesättigten Instinktes und Machtwillens, der Herr werden möchte, nicht über Etwas am Leben, sondern über das Leben selbst, über dessen tiefste, stärkste, unterste Bedingungen; hier wird ein Versuch gemacht, die Kraft zu gebrauchen, um die Quellen der Kraft zu verstopfen; hier richtet sich der Blick grün und hämisch gegen das physiologische Gedeihen selbst, in Sonderheit gegen dessen Ausdruck, die Schönheit, die Freude; während am Missrat-

322 Der frühe Nietzsche legt die Betonung auf das Werden: Alles wird beständig, was impliziert, dass es stets auch vergeht. Der späte Nietzsche behält dieses Grundverständnis vom Leben als einem ewigen Werden bei, legt das Gewicht nun aber auf die Aktivität, die dabei im Spiel ist, und fasst diese genauer als eine Art Willen, der indes im Grunde nichts anderes will, als ewig aktiv zu bleiben. Es ist dies seine einzige Intention: Alles wird beständig, indem es aktiv ist. Heidegger bringt es auf den Punkt, wenn er sagt: „Alles Sein ist für Nietzsche ein Werden. Dies Werden jedoch hat den Charakter der Aktion und der Aktivität des Wollens“ (Heidegger 1961, Bd. 1, 15). Später werde ich jedoch zeigen, dass auch der Wille zur Macht von Nietzsche zuletzt kritisch gesehen wird (vgl. Kapitel IX.3). 323 Nietzsche notiert sich, dass der Wille zur Macht, man könnte auch sagen: die sich ad infinitum selbst wollende Aktivität, allem Sein eignet, d. h. allem, was in der Welt ist, Organischem wie Unorganischem: „Die Verbindung des Unorganischen und Organischen muß in der abstoßenden Kraft liegen, welche jedes Kraftatom ausübt“ (NL 1884–1885, KSA 11, 36[22], 560). Es ist klar, dass, wenn dem so ist, jeder Wille einen Gegenwillen braucht, um sich von diesem abzustoßen. Die Nivellierung ist diesem Prozess natürlich abträglich. Vor diesem Hintergrund wird außerdem deutlich, inwiefern das Pathos der Distanz als Wille zur bewussten Distinktion die unmittelbare psychologische Entsprechung des im Grunde mechanischen Willen-zur-Macht-Geschehens ist. 324 „Die Menschheit selbst krankt noch an den Nachwirkungen dieser priesterlichen Kur Naivetäten“ (GM I 6; KSA 5, 265). 325 Die Herde des Priesters setzt sich aus den Sklaven zusammen. Sie entsteht in der negativen Abgrenzung der Schwachen von den Starken und ist das Ergebnis des oben berührten Einebnungsverfahrens, das sich als Moment innerhalb der sklavischen Umwertung ausweist, indem aus der Unfähigkeit zur Distinktion die Einförmigkeit zur Tugend erhoben wird: „Unfähig, sich von der übrigen Welt zu unterscheiden, beginnen sie Einförmigkeit für eine Tugend zu halten und sie jedermann aufzuerlegen: so entsteht ‚die Herde‘“ (Nehamas 1991, 161).

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hen, Verkümmern, am Schmerz, am Unfall, am Hässlichen, an der willkürlichen Einbusse, an der Entselbstung, Selbstgeisselung, Selbstopferung ein Wohlgefallen empfunden und gesucht wird. Dies ist Alles im höchsten Grade paradox: wir stehen hier vor einer Zwiespältigkeit, die sich selbst zwiespältig w ill, welche sich selbst in diesem Leiden ge n i e s s t und in dem Maasse sogar immer selbstgewisser und triumphirender wird, als ihre eigne Voraussetzung, die physiologische Lebensfähigkeit, ab n im m t . (GM III 11; KSA 5, 363)

Weil Nietzsche jedoch immer auf der Suche nach naturalistischen Erklärungen ist und weil er, auch wenn er das Leben für im Grunde chaotisch hält, doch davon überzeugt ist, dass es stets in seinem eigenen Interesse handelt, vermutet er, aller vermeintlichen Paradoxität zum Trotz, einen tieferen Sinn auch hinter dem asketischen Ideal: Es muss eine Necessität ersten Rangs sein, welche diese lebensfeindliche Species immer wieder wachsen und gedeihen macht, – es muss wohl ein I n te re s s e d e s Le b e n s s e l b s t sein, dass ein solcher Typus des Selbstwiderspruchs nicht ausstirbt. (GM III 11; KSA 5, 363)

Auf irgendeine Weise ist also das asketische Ideal doch im Bunde mit dem Leben, was grundsätzlich auch erklärt, wieso es eine „ungeheure Macht“ (EH GM; KSA 6, 353) besitzt. Woher rührt diese Macht aber genau? Wie lässt sie sich erklären, wenn man konkreter nachfragt? Antwort: nicht , weil Gott hinter den Priestern thätig ist, was wohl geglaubt wird, sondern faute de mieux, – weil es das einzige Ideal bisher war, weil es keinen Concurrenten hatte. „Denn der Mensch will lieber noch das Nichts wollen, als nicht wollen“… (EH GM; KSA 6, 353)

Soviel steht für Nietzsche fest: Der Wille muss wollen; und weil dem so ist, hat er seinen Horror vacui; oder anders betrachtet: Es ist die „Grundthatsache des menschlichen Willens (…) er br aucht ein Z iel“ (GM III 1; KSA 5, 339), ein Etwas, an dem er sich ausrichten kann. Dabei ist es zunächst einmal völlig gleichgültig, was da konkret gewollt wird, d. h. was dieses Ziel in materialer Hinsicht bedeutet. Hat der Wille kein Ziel, kann er auch nicht wollen und das Wollen ist alles, worum es hier erst einmal geht. Der Wille oder das Wollen ist aber für Nietzsche nicht weniger als der Grundvollzug allen Lebens, so das gilt: Ohne Wille kein Leben. Nun schwebte der Wille, den Ausführungen Nietzsches zufolge, und damit das Leben des Menschen zu der Zeit, da das asketische Ideal die Bühne betrat, ganz offenbar in akuter Gefahr, insofern es in einer Art Willenskrise steckte. Diese Krise ist auf gleich zweifache Weise nihilistisch: einmal in Betreff ihrer Ursache und zum Zweiten in Hinsicht auf ihre Folge. Zunächst zur Ursache: Entsprechend dem „Grundsatz seiner[Nietzsches – E.B.] naturalistischen Anthropologie“ (Ries 2004, 93), wonach der Mensch ein krankhaftes Tier ist, leidet der Mensch wesensgemäß. Das allein führt jedoch noch nicht unweigerlich zum Nihilismus. Dieser stellt sich dann allerdings ganz bestimmt ein, wenn das Leid unsinnig erscheint; und ebendas ist der Fall, wenn die mit dem Leiden aufgeworfene Frage nach dem Woher und insbesondere nach dem Wozu des Leidens

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unbeantwortet bleibt. Findet sich nämlich auf diese Frage keine Antwort, erhebt sich sogleich eine neue furchtbare Frage: „Warum soll ich mich überhaupt dem Leiden aussetzen, wenn es ja doch keinen Sinn macht?“ Jetzt zur Folge: Bleibt das Leiden unerklärt und, was noch schlimmer ist: ungerechtfertigt, wird es dem Menschen in seiner Haut bzw. philosophischer formuliert: in seinem Dasein verständlicherweise recht unbehaglich. Es wird ihm sogar so unbehaglich, dass er schließlich seines Daseins überdrüssig wird, einen regelrechten „Widerwillen gegen das Leben“ (GM III 28; KSA 5, 412) entwickelt und sich infolgedessen den Tod herbeisehnt. Es geht also ums Ganze: Der sinnlos leidende Mensch kämpft „mit dem Überdrusse am Leben, mit der Ermüdung, mit dem Wunsche nach dem ‚Ende‘“ (GM III 13; KSA 5, 366). Das metaphysisch in die Hinterwelt eingebettete asketische Ideal, die Brücke zu jener besseren Welt, bietet nun eine Sinngebung des Leids. Hierher rührt die Macht des Ideals. Es stellt einen bisher konkurrenzlosen Ausweg aus dem als sinnloses Jammertal empfundenen Dasein dar. Auf diese Weise wird es zum Retter in höchster Not, in der Stunde des Nihilismus, die sich hier als eine Stunde der Willensnot präsentiert, wenn anders es den Willen selbst zu retten vermag: Sieht man vom asketischen Ideale ab: so hatte der Mensch, das T h i e r Mensch bisher keinen Sinn. Sein Dasein auf Erden enthielt kein Ziel; „wozu Mensch überhaupt?“  – war eine Frage ohne Antwort; der Wille für Mensch und Erde fehlte; hinter jedem grossen Menschen-Schicksale klang als Refrain ein noch grösseres „Umsonst!“ D a s eben bedeutet das asketische Ideal: dass Etwas f e h lte , dass eine ungeheure Lü cke den Menschen umstand, – er wusste sich selbst nicht zu rechtfertigen, zu erklären, zu bejahen, er l i t t am Probleme seines Sinns. Er litt auch sonst, er war in der Hauptsache ein kr an k h a fte s Thier: aber nicht das Leiden selbst war sein Problem, sondern dass die Antwort fehlte für den Schrei der Frage „wozu leiden?“ Der Mensch, das tapferste und leidgewohnteste Thier, verneint an sich n i ch t das Leiden: er w i l l es, er sucht es selbst auf, vorausgesetzt, dass man ihm einen S i n n dafür aufzeigt, ein D a z u des Leidens. Die Sinnlosigkeit des Leidens, nicht das Leiden, war der Fluch, der bisher über der Menschheit ausgebreitet lag, – und das asketische Ideal bot ihr einen Sinn! Es war bisher der einzige Sinn; irgend ein Sinn ist besser als gar kein Sinn; das asketische Ideal war in jedem Betracht das „fau te d e m ieu x“ par excellence, das es bisher gab. In ihm war das Leiden ausge l e gt ; die ungeheure Leere schien ausgefüllt; die Thür schloss sich vor allem selbstmörderischen Nihilismus zu. Die Auslegung  – es ist kein Zweifel  – brachte neues Leiden mit sich, tieferes, innerlicheres, giftigeres, am Leben nagenderes: sie brachte alles Leiden unter die Perspektive der S ch u ld … Aber trotzalledem  – der Mensch war damit gerettet , er hatte einen S i n n , er war fürderhin nicht mehr wie ein Blatt im Winde, ein Spielball des Unsinns, des „Ohne-Sinns“, er konnte nunmehr Etwas wo llen , – gleichgültig zunächst, wohin, wozu, womit er wollte: der Wille selbst war gerettet . (GM III 28; KSA   5, 41 1f. ) ³²⁶

326 Im Übrigen findet man bereits in der Fröhlichen Wissenschaft den Gedanken, dass der Glaube an das asketische Ideal – auch wenn Nietzsche hier nicht den Ausdruck „asketisches Ideal“ gebraucht – in einer Zeit der Willensschwäche entstehen muss: „Der Glaube ist immer dort am meisten begehrt, am dringlichsten nöthig, wo es an Willen fehlt (…). Woraus vielleicht abzunehmen wäre, dass die beiden Weltreligionen, der Buddhismus und das Christenthum ihren Entstehungsgrund, ihr plötzliches

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Aber man täusche sich nicht. Mit der Rettung des Menschen vor dem Nihilismus durch das asketische Ideal verhält es sich genauso wie mit der in der Tragödienschrift behandelten Rettung des Menschen durch den Sokratismus: Auch sie ist nicht endgültig, weil auch sie gleichsam auf Sand gebaut ist. Wie gesehen geht der Sokratismus von der Erkennbarkeit der Welt durch den Menschen aus, und zwar von ihrer objektiven Erkennbarkeit. Erkannt würde also, wenn er denn Recht hätte, nicht nur die Welt als meine Vorstellung, sondern die Welt in ihrem wahren, vom erkennenden Subjekt unabhängigen Sosein. Aber der Sokratismus hat nicht Recht. Wenn es ein solches Sosein überhaupt gibt, dann bleibt es dem Menschen epistemologisch trotzdem verschlossen, denn unser „Auge gleitet nur an der Oberfläche der Dinge herum“ (WL 1; KSA 1, 876), wie Nietzsche in bester kantischer Manier ausführt,³²⁷ ohne je ein An-Sich Um-sich-greifen zumal, in einer ungeheuren Erk r an ku ng d e s Wi l l e n s gehabt haben möchten“ (FW 347; KSA 3, 582). 327 Ich möchte hier noch einmal auf ein grundsätzliches Paradox hinweisen, das einem bei der Nietzsche-Lektüre und -Interpretation immer wieder begegnet. Zum ersten Mal habe ich es oben berührt, als es um das Zuschreiben von Verantwortlichkeit für Handlungen ging. Nur wenn es zu einer Tat auch einen Täter gibt oder, auf grammatischer Ebene, zu einem Subjekt ein Prädikat oder umgekehrt, wenn es zu einem Prädikat ein entsprechendes Subjekt gewissermaßen als Träger des Prädikates gibt, kann so etwas wie Verantwortlichkeit überhaupt behauptet werden. Soweit so gut. Aber Nietzsche hält unsere Rede von Subjekten und ihren Handlungen genauso wie die von Substanzen und ihren Akzidenzien für wirklichkeitsverfälschend. Für ihn gibt es keine für sich bestehenden Dinge, keine Substanzen, denen dann noch gewisse Eigenschaften zukommen; vielmehr ist Nietzsches Meinung nach ein „‚Ding‘“ nichts anderes als „eine Summe seiner Wirkungen“ (NL 1887–1889, KSA 13, 14[98], 275). Aber auch wenn Nietzsche Recht haben sollte und es weder Subjekte noch Substanzen gibt, kommen wir nicht umhin, nach wie vor in unserer irreführenden Sprache zu denken und zu sprechen, die auf Subjekte und Prädikate partout nicht verzichten mag. Dies gilt freilich auch dann, wenn wir die Sprache kritisieren – und genau darin liegt das Paradox: Wir kritisieren unsere Sprache notwendigerweise mittels unserer Sprache bzw. unser Denken durch unser Denken oder allgemein: den Gegenstand unserer Kritik im Medium des Kritisierten. Ein Ausweg aus diesem Paradox scheint unmöglich, denn wollten wir auf anderem Wege Kritik üben, müssten wir mit dem Denken ganz aufhören: „Wir hören auf zu denken, wenn wir es nicht in dem sprachlichen Zwange tun wollen“, notiert sich Nietzsche, und weiter: „Das vernünftige Denken ist ein Interpretieren nach einem Schema, das wir nicht abwerfen können“ (NL 1885–1887, KSA 12, 5[22], 194). Allerdings ist damit, dass wir dem Paradox nicht entschlüpfen können, nicht gleich alles verloren. Es ist vielmehr bereits dann viel gewonnen, wenn man das Paradox als ein solches erfasst und infolgedessen begreift, dass „[z]unächst (…) die absolute Scepsis gegen alle überlieferten Begriffe noth“ (NL 1884–1885, KSA 11, 34[195], 487) tut, damit man Dogmatismen und Ideologien fürderhin nicht mehr so leicht auf den Leim geht. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch ein wichtiger Satz aus der Götzendämmerung besser verstehen. Dieser Satz drückt eine Befürchtung aus: „Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben…“ (GD Vernunft 5; KSA 6, 78). Der Satz klingt aus dem Mund desjenigen, der Gott loswerden möchte, damit der Mensch endlich lernt, auf eigenen Füßen zu stehen, fatalistisch. In einer hoffnungsfroheren Variante hätte er aber auch lauten können: „Ich befürchte, wir werden Gott nicht los, solange wir noch an die Grammatik glauben.“ An die Grammatik zu glauben, bedeutet hier, dass wir uns von der Sprache ontologische Annahmen aufzwingen lassen, dass wir also „unsere Grammatik zu wörtlich nehmen“ (Nehamas 1991, 130). Aber wenn wir auch nicht umhin können, unsere Sprache zu verwenden, so besteht doch durchaus kein Zwang, sie wörtlich zu nehmen.

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erfassen zu können. Mithin muss der Mensch seinen Traum von der Verbesserung der Welt durch ihre Korrektur, die nach der Entschlüsselung der Gesetze der Welt möglich sein soll, begraben. Er hat seine Hoffnung auf etwas Unmögliches gebaut; streng genommen auf ein Nichts. Zwar ist das gerade der Witz an der Sache, dass es dem Sokratismus eigentlich gar nicht um Erkenntnis zu tun ist, sondern im Gegenteil darum, eine ganz bestimmte Erkenntnis, d. i. die tragische, zu verhindern, indem er den Menschen auf eine endlose Suche schickt; welches Ablenkungsmanöver eben deswegen – wenigstens theoretisch – funktionieren könnte: weil es nichts zu finden gibt. Aber der Schuss geht, wie gezeigt, nach hinten los. In der Genealogie der Moral zeigt Nietzsche nun, dass es sich mit dem asketischen Ideal analog verhält. Schon der Ausgangspunkt ist der gleiche: Wie der Sokratismus fungiert auch das asketische Ideal als Gegenmittel gegen den Nihilismus. Und genau wie im Fall des Sokratismus setzt auch das asketische Ideal dabei auf das Nichts, was freilich nur dann funktionieren kann, wenn sich dieses Nichts nicht als Nichts zu erkennen gibt. Diese Kaschierung beginnt schon an der Wurzel allen Übels, und zwar durch eine Umdeutung: Aus dem selbstzerstörerischen Nihilismus, d. h. dem Überdruss am Leben, dem Willen zum Ende, macht das asketische Ideal etwas Positives, nämlich die Sehnsucht nach dem wahren Leben: An der Wurzel der Metaphysik und Askese liegt für Nietzsche (…) ein ganz fundamentaler Nihilismus, ein Verlangen sich vom Leben abzuwenden und Abschied zu nehmen. Den Lebenswillen aufzugeben ist aber andererseits das letzte, was wir wünschen – es kann sich dabei wirklich nur um die allerletzte Möglichkeit handeln. Diese Möglichkeit umgehen wir durch eine Umdeutung des fundamentalen Nihilismus (…). Wir legen ihn uns zurecht als eine Tendenz, aus dieser Welt fort und zu einer anderen, wirklicheren Welt hinüberstreben zu wollen (…). Die negative Sehnsucht wird also zu einer positiven, substantiellen Sehnsucht umgedeutet. Das geschieht durch die Konstruktion des Gegenstandes dieser Sehnsucht. (Raffnsoe 2007, 124)

Die Sprache selbst kennt ja eigene Formen des Nichtwörlichnehmens wie z. B. die Ironie. Der Fehler liegt demnach nicht bei der Sprache, sondern bei uns, in unserer Einstellung zu ihr, wie Alexander Nehamas scharfsinnig bemerkt hat: „Nietzsche behauptet nicht, unsere Sprache habe unrecht, sondern wir haben unrecht, weil wir sie zu wörtlich nehmen (…). Nietzsche behauptet, daß selbst wenn die grammatischen Kategorien Subjekt und Prädikat wesentliche Voraussetzungen für uns sind, das nicht impliziert, daß die ontologischen Kategorien Substanz und Attribut oder irgendwelche anderen Kategorien richtig sind. Logik und Sprache sind neutral“ (Nehamas 1991, 131). Ferner macht Nehamas darauf aufmerksam, dass Jacques Derrida seine Lektion von Nietzsche gelernt hat, wenn er in Kenntnisnahme und Akzeptanz des obigen Paradoxes statt die Metaphysik zu destruieren, lieber versucht, sie zu dekonstruieren (vgl. Nehamas 1991, 129f.). Ähnlich wie Nietzsche geht es dem französischen Denker, „[w]eil man im Denken der Sprache und der sich in ihr manifestierenden Regularität selbst durch massive Angriffe nicht entkommen kann“, darum „als Möglichkeit ihrer ‚Überwindung‘ (…) den Versuch[zu unternehmen], die Regeln, an die das Denken gebunden ist, als Elemente eines selbstreferenziellen Systems bewusst zu machen und dadurch ihre Objektivitätsansprüche zu relativieren“ (Reckermann 2003, 39).

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Dieser Gegenstand ist natürlich die viel besprochene Hinterwelt. Wie bereits berührt, stellt das Leiden an der Sinnlosigkeit des Leidens selbst ein zentrales nihilistisches Leiden dar, dem das asketische Ideal wenigstens fürs Erste Abhilfe zu leisten vermag. Durch die Einführung der Hinterwelt wird nun auch ein weiteres zentrales nihilistisches Leiden des Menschen gebannt: das Leiden an der Kontingenz bzw. Sinnlosigkeit des Daseins, denn mit der Hinterwelt bekommt das menschliche Leben plötzlich ein Telos, einen letzten Sinn. Doch auch dieser finale Zweck entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als etwas Negatives. Das wird klar, wenn man sich noch einmal deutlich vor Augen führt, woraus die Hinterwelt eigentlich hervorgegangen ist: Ihr Schöpfer ist ein Verzweifelter, der sich nach dem Nichts sehnt. Dieses Nichts ist, wie Nietzsche schreibt, ein „Anders-sein“,³²⁸ wobei „anders“ sich auf den Zustand des Sichsehnenden bezieht: Diesen Zustand, d. i. der eines Leidenden, wünscht er sich anders, er wünscht ihn genau genommen fort  – „Anders-sein“ heißt vor allen Dingen: Nichtleidend-Sein. Das ersehnte Nichts ist also genau besehen die Freiheit vom Leiden. Das ist freilich etwas, was der Wille wollen kann, so dass hier kein Selbstwiderspruch und auch kein Nolens, keine Selbstverneinung nach schopenhauerischem Vorbild im Spiel ist. Wenn das Nichts das Nichtleiden ist, dann ist der Wille zum Nichts der Wunsch nach Leidlosigkeit. Und ebendieser Wunsch ist der Konstrukteur der Hinterwelt. Nun hat es damit, was die Hinterwelt anbelangt, in substanzieller Hinsicht aber auch schon sein Bewenden. Denn sie ist nichts weiter als ein bloßer Wunschtraum, ein – wenn auch besonders ausgeklügeltes – reines Phantasiegebilde, d. h. sie ist im Grunde nichts – nichts als eine Strategie, der Versuch, aus Nichts Etwas zu machen, um sich gegen das Nichts zu wappnen. In ihr wurde das Nichts zum wahren Sein deklariert und somit idealisiert. Indessen gilt: Ex nihilo nihil fit – wo nichts ist, kann nichts werden; zumindest nichts Gutes, wie man mit Nietzsche ergänzen könnte. Und so ist die Katastrophe (genau wie im Sokratismus) vorprogrammiert. Wie die meisten Arzneien hat auch die christlich-metaphysische Moral nur eine begrenzte Haltbarkeit. Irgendwann lässt die Wirkung nach, verfliegt am Ende gar,³²⁹ und die Krankheit bricht wieder aus, wenn nicht ein neues Gegenmittel appliziert

328 „Der asketische Priester ist der fleischgewordne Wunsch nach einem Anders-sein, Anderswosein, und zwar der höchste Grad dieses Wunsches, dessen eigentliche Inbrunst und Leidenschaft: aber eben die Macht seines Wünschens ist die Fessel, die ihn hier anbindet, eben damit wird er zum Werkzeug, das daran arbeiten muss, günstigere Bedingungen für das Hiersein und Mensch-sein zu schaffen (…)“ (GM III 13; KSA 5, 366). 329 Im berühmten Lenzer-Heide-Fragment, das die Entwicklung des europäischen Nihilismus in nuce nachzeichnet, stellt Nietzsche eingangs die Frage, welche Vorteile die christliche Moral-Hypothese dereinst geboten habe. Damit ist gesagt: Sie hat einstmals Vorteile geboten, tut dies jetzt aber nicht mehr. Die ehemaligen Vorteile der christlichen Moral-Hypothese fasst Nietzsche zusammen, wobei er sich des Präteritums bedient: „(…) sie verhütete, daß der Mensch sich als Menschen verachtete, daß er gegen das Leben Partei nahm, daß er am Erkennen verzweifelte: sie war ein E r h a lt u ngs mi t te l ;  – in Summa: Moral war das große G e gen m ittel gegen den praktischen und theoretischen Ni h i l i s mu s “ (NL 1885–1887, KSA 12, 5[71], 211).

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wird.³³⁰ – Meines Erachtens kann man Nietzsches Philosophie als die ständige Suche nach einem neuen Gegenmittel gegen die Krankheit „Nihilismus“ begreifen, das seinerseits nicht auch wieder nihilistisch konterminiert ist. Er sucht damit die Herrschaft des asketischen Ideals zu brechen, die sich auf unsere Alternativlosigkeit zu diesem Ideal stützt, auf das faute de mieux, also darauf, dass der Mensch es bisher nicht vermochte, eine bessere Antwort auf das Leiden zu finden als die metaphysische.³³¹ So beschreibt Nietzsches Philosophie eigentlich zwei Bewegungen: eine negative, dekonstruierende, die darauf aus ist, die nihilistischen Implikationen in der abendländischen Metaphysik aufzudecken, und eine positive: eben die Suche nach dem Gegenmittel. – Die Voraussetzungen bei diesem neuerlichen Ausbruch der Krankheit sind freilich andere als zuvor, denn das asketische Ideal hat seine Spuren im Leben, in der Geschichte, im Seelenhaushalt des Menschen hinterlassen. Wie oben gesehen vertritt Nietzsche die Auffassung, die Auslegung des Lebens durch die christliche Moral habe neues Leiden mit sich gebracht, tieferes, dem Leben abträglicheres Leid sogar als jenes, gegen das die Auslegung dereinst ins Feld geführt wurde. Dieses neue Leid ist die Frucht der Perspektive, in der das alte Leid durch das Christentum betrachtet wird: die Perspektive der Schuld. Ein Resultat dieses gewissermaßen hässlichen Blicks besteht darin, dass der Mensch sich seines Willens schämt, dass er krank an seinem Willen geworden ist. – Wie genau ist das geschehen und was bedeutet es für die neuerliche Heraufkunft des Nihilismus, nachdem die Kraft der christlichen MoralHypothese versiegt ist? Um diese Fragen beantworten zu können, muss ein wenig weiter ausgeholt und noch einmal ein Blick auf das Ressentiment geworfen werden, diesmal aber im Kontext des asketischen Ideals. Wie erörtert geht das Leiden mit einem Gefühl der Ohnmacht Hand in Hand, was wiederum zur Ausbildung des Ressentiments führt. Am Beispiel der Schwachen hat Nietzsche gezeigt, wie das Ressentiment die Seele vergiftet, indem es nicht unmittelbar durch eine Tat abreagiert werden kann. Was bleibt, ist die Empörung, wenn nicht der Hass auf den stärkeren Anderen – und ebendieses Bleiben im Sinne eines Einsinkens ins Innere ist auch das Problem. Der Mensch des Ressentiments beginnt an sich selbst zu leiden, nicht nur, weil seine Seele durch negative Affekte gegenüber einem anderen vergiftet ist, nicht nur weil er physiologisch an einer Art verhinder-

330 Zumal es sich bei der „priesterlichen Medikation“ bloß um eine Symptom- und nicht um eine Ursachenbehandlung handelt: „Ist er aber eigentlich ein A r z t , dieser asketische Priester? – Wir begriffen schon, inwiefern es kaum erlaubt ist, ihn einen Arzt zu nennen, so gern er auch selbst sich als ‚Heiland‘ fühlt, als ‚Heiland‘ verehren lässt. Nur das Leiden selbst, die Unlust des Leidenden wird von ihm bekämpft, nicht deren Ursache, nicht das eigentliche Kranksein, – das muss unsren grundsätzlichsten Einwand gegen die priesterliche Medikation abgeben“ (GM III 17; KSA 5, 377). 331 Raffnsoe 2007, 147–158, unternimmt im Abschlusskapitel seines Kommentares zur Genealogie der Moral den Versuch, die Herrschaft des asketischen Ideals auch in unserer Zeit nachzuweisen. Er zeigt, wie wir uns darum bemühen, das Leid in einer Reihe „vorläufiger Metaphysikersetzungen“ (Raffnsoe 2007, 148) zu fliehen und inwiefern „auch unsere heutige Kultur eine Kultur der Selbstaufopferung ist“ (Raffnsoe 2007, 149).

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ter Triebabfuhr leidet, sondern auch, weil er seine Ohnmacht erkennt, d. h. weil er seiner selbst als eines Ohnmächtigen gewahr wird. Derart, aus dieser diffusen Kombination von physischem und psychischem Leid, entsteht in ihm der Wunsch, nicht mehr er selbst, sondern jemand anderes zu sein; verzweifelt³³² blickt er fortan in die Welt hinaus: Wo entgienge man ihm, jenem verhängten Blick, von dem man eine tiefe Traurigkeit mit fortträgt, jenem zurückgewendeten Blick des Missgebornen von Anbeginn, der es verräth, wie ein solcher Mensch zu sich selber spricht,  – jenem Blick, der ein Seufzer ist. „Möchte ich irgend Jemand Anderes sein! so seufzt dieser Blick: aber da ist keine Hoffnung. Ich bin, der ich bin: wie käme ich von mir selber los? Und doch – habe ich mich satt!“ (GM III 14; KSA 5, 368)

Wie man von sich selbst los kommen könne, fragt dieser Gepeinigte und weiß es insgeheim: Indem man den selbstzerstörerischen Nihilismus walten lässt und seinem Leben ein Ende setzt. An diesem heiklen Punkt, auf des Messers Schneide sozusagen, vollbringt der asketische Priester die ingeniöse Leistung, den Verzweifelten vor der nihilistischen Ultima ratio zu bewahren, wenn anders er es schafft, die Richtung des Ressentiments seines „Patienten“ zu verändern. Der asketische Priester erklärt ihm, warum er leidet und wer Schuld ist an der Malaise: Der Mensch, an sich selbst leidend, irgendwie, jedenfalls physiologisch,³³³ etwa wie ein Thier, das in den Käfig gesperrt ist, unklar, warum, wozu? begehrlich nach Gründen – Gründe erleich-

332 Bekanntlich ist Verzweiflung für Kierkegaard, dessen Durchdenken des Phänomens „Verzweiflung“ sicherlich zum Eindrucksvollsten und Einflussreichsten gehört, was bisher auf diesem Gebiet geleistet wurde, der Ausdruck eines Missverhältnisses im Selbst, wie es der Wunsch, nicht man selbst sein zu wollen, eben ist: „Verzweiflung ist eine Krankheit im Geist, im Selbst und kann somit ein Dreifaches sein[die Dreifachheit ergibt sich aus der Bestimmung des Selbst, die Kierkegaard zuvor geleistet hat und der zufolge das Selbst eine durch Geist getragene Synthese aus Leib und Seele bzw. Unendlichkeit und Endlichkeit, Freiheit und Notwendigkeit ist – E.B.]: verzweifelt sich nicht bewußt sein ein Selbst zu haben; verzweifelt nicht man selbst sein zu wollen; verzweifelt man selbst sein zu wollen“ (Kierkegaard 1985[1849], 8[im Original gesperrt gedruckt, weil es sich um eine Art Überschrift handelt – E.B.]). 333 Ich habe oben geschrieben und zu begründen versucht, dass der Grund des Leidens in einer psycho-physischen Diffusion gesucht werden müsse. Nietzsche selbst ist in der Genealogie – ganz im Geist der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts übrigens – immer um eine Reduktion auf physiologische Phänomene bemüht, so weit es eben geht. So erklärt er z. B. das ursprüngliche, noch nicht religiös begründete schlechte Gewissen (vgl. dazu vor allem GM II 16) aus der Hemmung der für den Menschen als Tier nur natürlichen Grausamkeiten während des rudimentären Sozialisationsprozesses des Menschen. Diese Hemmung führt genau wie beim Ressentiment, das auf dieses originäre schlechte Gewissen aufbaut, zwangsläufig zu einer Entladung nach innen und damit zu einer Internalisierung der Grausamkeiten. Die Folge ist ein physiologisches Leiden: „Zunächst ist das schlechte Gewissen im Rohzustand nichts weiter als ein tierpsychologisches Phänomen: Es entsteht, wenn die Grausamkeit gehemmt wird und sich nicht mehr nach außen entladen kann. Sie richtet und entlädt sich nun nach innen. So entsteht das ‚Leiden des Menschen an sich‘, in dieser Form einfach ein von der verinnerlichten Grausamkeit verursachtes physiologisches Leiden“ (Brusotti 2001, 126).

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tern –, begehrlich auch nach Mitteln und Narkosen, beräth sich endlich mit Einem, der auch das Verborgene weiss – und siehe da! er bekommt einen Wink, er bekommt von seinem Zauberer, dem asketischen Priester, den er sten Wink über die „Ursache“ seines Leidens: er soll sie in sich suchen, in einer S ch u ld , in einem Stück Vergangenheit, er soll sein Leiden selbst als einen Str afzu stan d verstehn… (GM III 20; KSA 5, 389)

Wenn also der leidende Mensch sich selbst auf einen Wink des Priesters hin als denjenigen erkennt, der die Schuld an seinem eigenen Ungemach trägt,³³⁴ dann bedeutet diese Schuldzuweisung für den Gepeinigten zunächst einmal eine fundamentale (physiologische) Erleichterung, insofern er nun doch noch die ungeahnte Möglichkeit erhält, sein Ressentiment de facto auszulösen; zugegeben, keine Entladung nach außen, sondern nach innen, gegen sich selbst, eine Entladung faute de mieux  –

Allgemein betrachtet glaube ich, dass Nietzsches so häufige Verweise auf die physiologischen Ursachen des Leids seiner Argumentation nicht immer zuträglich sind. Zwei Dinge möchte ich an dieser Stelle aber zu bedenken geben: Einmal darf man das obige Zitat nicht so verstehen, als ginge es nur um ein physiologisches Leid, sondern muss bedenken, dass ein physiologisches Leiden zumeist ein psychologisches im Gefolge hat. Sodann sollte Nietzsches Betonung des Leidens und der Krankheit im Leben des Menschen trotz eines allzu einseitigem Physiologismus – „der ohne Zweifel ihre[Nietzsches Auffassung – E.B.] deutlichste Schwäche darstellt“ (Brusotti 1992, 111) – sehr ernst genommen werden. Nehamas 1991, 161, findet hierzu die passenden Worte: „Oft hat er[Nietzsche – E.B.] die krude und naive Vorstellung, die Gründe für diese ‚Krankheit‘[Nehamas bezieht sich hier auf GM  III 13, d. h. auf jenen Abschnitt, in dem Nietzsche den Menschen als „das kranke Thier“ bezeichnet – E.B.] seien unmittelbar physiologische. Ich sehe keinen Grund ihm in diesem Punkt zuzustimmen. Aber ich denke, wir sollten dennoch sehr ernst nehmen, was er als Krankheit beschreibt, nämlich die Tatsache, daß das Leben der meisten Menschen elend ist und sie es als elend empfinden. Für Nietzsche ist die Welt voller Menschen, die nicht erreichen können, was sie erreichen wollen, Menschen die vergeblich tapfer, edel, stark, vielleicht sogar grausam oder wenigstens für irgend etwas berühmt sein wollen – Menschen die in der Geschichte ihre Spuren hinterlassen wollen, aber nicht können. Sie sind die ‚Leidenden‘, diejenigen, von denen er im ersten Abschnitt der Genealogie sagt, sie hätten sich schließlich überzeugt, daß ihre Schwächen eigentlich ihre Tugenden sind, die Ergebnisse ihrer Wahl, nicht die Mängel ihrer Natur.“ 334 Vgl. auch GM III 15; KSA 5, 374f.: „‚Irgend Jemand muss schuld daran sein, dass ich mich schlecht befinde‘ – diese Art zu schliessen ist allen Krankhaften eigen, und zwar je mehr ihnen die wahre Ursache ihres Sich-Schlecht-Befindens, die physiologische, verborgen bleibt (…). Die Leidenden sind allesammt von einer entsetzlichen Bereitwilligkeit und Erfindsamkeit in Vorwänden zu schmerzhaften Affekten; sie geniessen ihren Argwohn schon, das Grübeln über Schlechtigkeiten und scheinbare Beeinträchtigungen, sie durchwühlen die Eingeweide ihrer Vergangenheit und Gegenwart nach dunklen fragwürdigen Geschichten, wo es ihnen freisteht, in einem quälerischen Verdachte zu schwelgen und am eignen Gifte der Bosheit sich zu berauschen – sie reissen die ältesten Wunden auf, sie verbluten sich an längst ausgeheilten Narben, sie machen Übelthäter aus Freund, Weib, Kind und was sonst ihnen am nächsten steht. ‚Ich leide: daran muss irgend Jemand schuld sein‘ – also denkt jedes krankhafte Schaf. Aber sein Hirt, der asketische Priester, sagt zu ihm: ‚Recht so, mein Schaf! irgend wer muss daran schuld sein: aber du selbst bist dieser Irgend-Wer, du selbst bist daran allein schuld, – du selbst bist an dir allein schuld!‘ … Das ist kühn genug, falsch genug: aber Eins ist damit wenigstens erreicht, damit ist, wie gesagt, die Richtung des Ressentiment – ver ä n d e r t .“

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nichtsdestotrotz aber eine Kraftauslösung.³³⁵ Damit findet sein Wille zur Macht, das allem Leben innewohnende Bedürfnis nach Kraftaktualisierung, sein Maximum an Befriedigung.³³⁶ Des Weiteren erhält der leidende Mensch eine Erklärung für sein Leid, das nun eingebettet im Rahmen einer Geschichte von Schuld und Sühne, wie sie das Christentum gleich zu Beginn der Heiligen Schrift in Genesis 2–3 erzählt, plötzlich Sinn macht: Es ist die Strafe für die menschliche Hybris, für des Menschen selbstgerechte Erhebung gegen Gott. Statt Demut zu üben, wie es dem Menschen geziemt, hat er voller Stolz gegen das göttliche Gebot rebelliert.³³⁷ Man könnte es auch so, auf die Genealogie gemünzt, ausdrücken: Statt passiv zu bleiben, wie es die christliche Moral nach Nietzsche fordert, hat er sich aktiv seinen Gelüsten hingegeben. Er hat also wie die Aristokraten gehandelt; an dieser Stelle feiert der Sklave einen besonderen Triumph: Denn er muss zwar genauso wie der Aristokrat für die einmal begangene Schuld, die Ursünde Adams, im Diesseits leiden; indem der Aristokrat die Ursünde jedoch dauernd wiederholt, insofern er mit dem Stolz und aus der Selbstverständlichkeit des Pathos der Distanz das asketische Ideal als moralisches Gebot missachtet, versperrt er sich selbst den Weg zur Erlösung. Während der Aristokrat gegenüber Gottes Geboten verstockt scheint, darf sich der Asket als jemand betrachten, der in der Lage ist, aus Fehlern (bzw. aus Strafe) zu lernen. Die Erlösung ist nun ein weiterer genialer Einfall des asketischen Ideals: Es verspricht eine Erlösung vom Leid, stellt also dem dringlichsten Wunsch des Leidenden eine Erfüllung in Aussicht, jedoch – und das ist der besondere „Kniff“ an der Sache – nicht im Diesseits – wie sollte das auch möglich sein, ohne vom Diesseits widerlegt zu werden –, sondern post mortem im Jenseits.

335 Im Übrigen verhält es sich hier genauso wie mit dem Willen zum Nichts: Wie das Ressentiment keine bessere Entladungsmöglichkeit findet als die nach innen, so muss auch der Wille in Ermangelung eines besseren intentionalen Gegenstandes mit dem Nichts Vorlieb nehmen. 336 Nietzsche schreibt: „Jedes ‚Thier‘ (…) strebt instinktiv nach einem Optimum von günstigen Bedingungen, unter denen es seine Kraft ganz herauslassen kann und sein Maximum im Machtgefühl erreicht (…)“ (GM III 7; KSA 5, 350). Für den schwachen Menschen bietet die Richtungsänderung des Ressentiments durch den asketischen Priester offenbar eine solche günstigste Bedingung. 337 Die Demut (humilitas) ist vielleicht die spezifisch christliche Tugend. An prominenter Stelle, bei Paulus, wird sie in Anlehnung an die Lebensführung Jesu als Herzenshaltung verlangt: „Wenn es also Ermahnung in Christus gibt (…), dann macht meine Freude dadurch vollkommen (…), daß ihr nichts aus Ehrgeiz und nichts aus Prahlerei tut. Sondern in Demut schätze einer den anderen höher ein als sich selbst“ (Phil 2,3; vgl. auch Phil, 2,6–11). Diese Sichtweise wird in der Philosophie der Spätantike und des Mittelalters fortgesetzt, wobei die Betonung zunehmend darauf liegt, dass die Demut gleichsam die Wurzel zur Erlösung von der Ursünde darstellt, insofern sie den Platz in der Mitte der sittlichen Lebensführung des Menschen einnehmen soll. Ein besonders eindrucksvolles Bild dieser Auffassung hat Hugo von St. Viktor gemalt, indem er einen Baum der Sünde, dessen Wurzel der Stolz ist, einem Baum der Tugenden gegenüberstellt, dessen Wurzel eben die Demut ist (vgl. Hugo von St. Viktor, PL t. 176, c. 997B–1006C).

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Doch all diese Erleichterung,³³⁸ diese Lebensrettung streng genommen, wurde äußerst teuer erkauft, um dem Preis neuen Leidens nämlich. Der Mensch, der sich unter die unterjochende Obhut des asketischen Ideals begeben hat, leidet fortan unter einem grässlichen Übel. Er leidet unter seinem schlechten Gewissen. In der zweiten Abhandlung der Genealogie der Moral hat sich Nietzsche bereits ausgiebig mit der Entstehung und der Psychologie des (schlechten) Gewissens beschäftigt und es mit dem menschlichen Instinkt der Grausamkeit³³⁹ sowie der Vergesellschaftung des Menschen in Verbindung gebracht. Im menschlichen Staat werde die Grausamkeit zwecks eines friedlichen Zusammenlebens, und das bedeutet eigentlich, „um unter den Vortheilen der Societät zu leben“ (GM II 3; KSA 5, 297), zivilisiert und unter Strafe gestellt.³⁴⁰ Diese Zivilisation der Grausamkeit geschieht, wie Nietzsche ausführt, selbst im Zeichen der Grausamkeit, denn die zumal körperlichen Strafen sind drastisch. Unterdessen werden sie im Vertrauen darauf angewandt, dass der Mensch durch Schmerz am besten lernt.³⁴¹ Indem man dem Menschen einige Gebote bzw. Verbote – Nietzsche spricht von „fünf, sechs ‚ich will nicht‘“ (GM II 3; KSA 5, 297) – förmlich ins Gedächtnis einbrennt, entstehe das Gedächtnis allererst und damit die Basis für Verantwortlichkeit und die Fähigkeit, Versprechen geben zu können – die notwendige Bedingung jeder noch so rudimentären Art von Gesellschaftsvertrag. Jedenfalls merkt sich, wer die Gesetzte übertreten hat, welche Folgen ein solches Handeln mit sich brachte, und weiß jetzt, was ihm blüht, falls er das Gesetz erneut brechen sollte. Er wird dementsprechend fortan darum bemüht sein, seine Instinkte zu kontrollieren. So wird der Instinkt der Grausamkeit des einzelnen Menschen also unterdrückt.³⁴² Das alles hat noch sehr wenig mit Moral und viel mehr mit einem reinen Nutzenkalkül zu tun. Allein indem die Instinkte unterdrückt werden, sich jedoch nicht gleichsam in Luft auflösen können, nehmen sie wie-

338 Physiologisch als Triebabfuhr bzw. Kraftauslösung, psychologisch, indem das Leid durch die Erklärung nicht mehr sinnlos scheint. 339 In der Genealogie der Moral werde die „Grausamkeit als einer der ältesten und unwegdenkbarsten Cultur-Untergründe (…) zum ersten Male ans Licht gebracht“ (EH GM; KSA 6, 352), schreibt Nietzsche im Ecce homo. 340 Freilich ist auch das friedliche Zusammenleben gewaltsam erzwungen. Nietzsche berichtet von „Herrenrassen“, die über andere Völker herziehen, sich ihrer bemächtigen und ihre Instinkte unterdrücken. 341 Man denke hier an Franz Kafkas In der Strafkolonie, eine Erzählung, die schildert, wie einem Menschen das Gebot, das er übertreten hat, durch eine Art überdimensionale Tättowiermaschine buchstäblich auf den Leib geschrieben wird. Mit Nietzsche ließe sich wohl sagen, diese Erzählung unterstreiche, was die Genealogie zeige, nämlich, dass das Wesen der Gesellschaft die Grausamkeit ist. 342 Wer sich um Selbstbeherrschung bemüht, wird sich selbst automatisch verstärkt zum Gegenstand seiner eigenen Beobachtungen und Reflexionen machen. Weiter wird er den Versuch forcieren, bewusst Einfluss auf sich selbst zu nehmen. Zunehmend wird er Sublimierungsleistungen vollbringen. Das Ergebnis dieses Prozesses ist die Ausbildung des menschlichen Inneren bzw. seiner „Seele“, um es mit einem Wort der philosophischen Tradition zu sagen, aber auch das vermehrte Auftreten von Neurosen.

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derum – diese Denkfigur dürfte allmählich bekannt sein – den Weg nach innen. Die Grausamkeit kehrt sich gegen das Subjekt selbst und ipso facto entsteht allmählich eine Art Gewissen: das vormoralische schlechte Gewissen.³⁴³ Soweit zur zweiten Abhandlung der Genealogie. Dies ist natürlich eine sehr grobe und stark verkürzte Zusammenfassung besagter Abhandlung. Mehr ist an dieser Stelle aber auch nicht erforderlich, denn hier zählt allein, dass durch die Rückwärtswendung des Ressentiments, wie sie durch den asketischen Priester angestoßen wurde, zu der nach innen gerichteten Grausamkeit auch noch das Ressentiment hinzukommt. Und ebendas führt zu einer Potenzierung des Leids: Nun sind also Grausamkeit und Ressentiment gleichermaßen nach innen gerichtet und verstärken sich gegenseitig. Grausamkeit, Wille und Ressentiment bekommen im asketischen Interpretationssystem einen Sinn und eine Richtung (…). Das Ressentiment – und mit ihm die ebenfalls rückwärts gerichtete Grausamkeit – verursacht so neues Leiden, das ebenfalls betäubt werden muss. (Brusotti 2001, 126)

Der Patient ist also dank der Behandlung durch das asketische Ideal nur noch kränker geworden und wird endlich der Krankheit müde; er ist auf dem besten Weg, wieder seiner selbst satt zu werden. Das Problem liegt nicht allein darin, dass das Leiden immer noch nicht aus der Welt geschafft wurde. Das Leiden hat sich stattdessen verlagert. Heutzutage, so Nietzsche, leide der Mensch – vor allem innerhalb der abendländischen Kultur  – nicht mehr so sehr unter den Launen der Moira, wie noch in früheren Tagen als der Mensch sich angesichts der Unberechenbarkeit des Lebens 343 Die Internalisierung des menschlichen Instinktverhaltens führt Nietzsche zufolge zu einer Sublimierung, in deren Folge das Innere des Menschen (sein Seelenleben) bedeutend reichhaltiger geworden ist als zuvor. So sei in diesem langen Prozess des Lernens durch Gewalt, Grausamkeit und Schmerz vieles von dem, was wir Menschen an uns selbst am höchsten schätzen, entstanden: „– Ah, die Vernunft, der Ernst, die Herrschaft über die Affekte, diese ganze düstere Sache, welche Nachdenken heisst, alle diese Vorrechte und Prunkstücke des Menschen: wie theuer haben sie sich bezahlt gemacht! wie viel Blut und Grausen ist auf dem Grunde aller ‚guten Dinge‘! …“ (GM II 3; KSA 5, 297). Alle Bedingungen für die Möglichkeit der Moral ruhen demnach sozusagen auf finsterem Grunde. Nietzsche führt mit dieser Ausführung in der Genealogie das weiter, was er im ersten Hauptstück von Menschliches, Allzumenschliches I zum Programm erklärt hat: zu zeigen, dass das Primäre, Anfängliche nicht immer auch das Wertvollere und höher zu Schätzende ist, wie die Metaphysik glauben machen will, sondern dass die Dinge aus ihrem Gegensatz entstehen: das Hochgeschätzte aus dem Niedrigen oder, wie im vorliegenden Fall, die Moral aus der Grausamkeit, d. h. – vom Gesichtswinkel der Moral aus betrachtet – der Unmoral. Damit hat Nietzsche in seiner späten „Streitschrift“ – so der Untertitel der Genealogie – ein Beispiel für das angeführt, was er in Menschliches, Allzumenschliches noch in das Gewand einer bedeutungsschwangeren Frage gekleidet hat: „Alles, was wir brauchen und was erst bei der gegenwärtigen Höhe der einzelnen Wissenschaften uns gegeben werden kann, ist eine Chemie der moralischen, religiösen, ästhetischen Vorstellungen und Empfindungen, ebenso aller jener Regungen, welche wir im Gross- und Kleinverkehr der Cultur und Gesellschaft, ja in der Einsamkeit an uns erleben: wie, wenn diese Chemie mit dem Ergebniss abschlösse, dass auch auf diesem Gebiete die herrlichsten Farben aus niedrigen, ja verachteten Stoffen gewonnen sind“ (MA I 1; KSA 2, 24)?

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so häufig wie ein vom Wind hin und her getriebenes Blatt vorkommen musste, denn der wissenschaftlich-technische Fortschritt hat das Leben berechenbarer gemacht.³⁴⁴ So leidet der moderne Mensch weniger unter den äußeren Einflüssen als früher.³⁴⁵ Unterdessen leidet er innerlich mehr, und zwar unter Schuldgefühlen und unter dem Mitleid, das die Moral in ihm hochgezüchtet hat, so weit gar, dass sich der Starke, Schöne, Glückliche bzw., um es kurz zu machen: der Aristokrat seines Willens zu schämen begonnen hat, was mit den aus dem Ressentiment gegen die aristokratischen Werte geborenen moralischen Forderungen des asketischen Ideals³⁴⁶ korreliert. In dieser Scham erblickt Nietzsche nun die große Gefahr für den Menschen: Dann unzweifelhaft, wenn es ihnen[den Menschen des Ressentiments – E.B.] gelänge, ihr eignes Elend, alles Elend überhaupt den Glücklichen in’s G ewissen zu schieben: so dass diese sich eines Tags ihres Glücks zu schämen begönnen und vielleicht unter einander sich sagten: „es ist eine Schande, glücklich zu sein! es g i e b t z u vi e l E l e n d ! “ … Aber es könnte gar kein grösseres und verhängnissvolleres Missverständniss geben, als wenn dergestalt die Glücklichen, die Wohlgerathenen, die Mächtigen an Leib und Seele anfiengen, an ihrem Re ch t au f G lü ck zu zweifeln. (GM III 14; KSA 5, 370f.)

Der freiwillige Verzicht auf Glück ist nämlich gleichbedeutend mit der Selbstbeschneidung eines Willens zur Macht, der noch gesünder, noch stärker, noch glücklicher werden will, als er ohnehin schon ist. Statt hinaufgehoben, wird der Blick nun aber hinabgesenkt. Statt das eigene Pathos der Distanz in actu zu bestätigen, versucht man, die Distanz aufzuheben. Aus Mitleid mit dem Niedrigeren ist man bemüht, auf dessen Stufe hinabzusteigen. Zwar könnte man auch meinen, das Mitleid geböte es, den Versuch zu unternehmen, den anderen auf die eigene Stufe hinaufzuheben. Indessen entspricht das nicht dem Geist des asketischen Ideals, dessen Vater ja der Wille zum Nichts ist und das gerade demjenigen auf den Leib geschneidert ist, der schwachen Willens ist. Das asketische Ideal fordert vom Starken die Anpassung an 344 „Thatsächlich haben wir ein Gegenmittel gegen den er sten Nihilismus nicht mehr so nöthig: das Leben ist nicht mehr dermaaßen ungewiß, zufällig, unsinnig, in unserem Europa“ (NL 1885–1887, KSA 12, 5[71], 212). Mit dem „ersten Nihilismus“ meint Nietzsche an dieser Stelle den vorchristlichen Nihilismus, d. h. jenes Unbehagen am Dasein, gegen das die christliche Moral-Hypothese, die dem Leiden des Menschen einen Sinn zu geben wusste, als Gegenmittel eingeführt wurde. 345 Auch die politische Entwicklung leistet ihren Beitrag zur Verminderung des Leidens der (meisten) Menschen, denn die zunehmende Demokratisierung der Gesellschaft verbietet ein „aristokratisches“ Verhalten im beschriebenen Sinne anderen Menschen gegenüber. 346 „Man kann sich schlechterdings nicht verbergen, was eigentlich jenes ganze Wollen ausdrückt, das vom asketischen Ideale her seine Richtung bekommen hat: dieser Hass gegen das Menschliche, mehr noch gegen das Thierische, mehr noch gegen das Stoffliche, dieser Abscheu vor den Sinnen, vor der Vernunft selbst, diese Furcht vor dem Glück und der Schönheit, dieses Verlangen hinweg aus allem Schein, Wechsel, Werden, Tod, Wunsch, Verlangen selbst – das Alles bedeutet, wagen wir es, dies zu begreifen, einen Willen zum Nichts, einen Widerwillen gegen das Leben, eine Auflehnung gegen die grundsätzlichsten Voraussetzungen des Lebens, aber es ist und bleibt ein Wi l l e ! … “ (GM III 28; KSA 5, 412).

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die Schwäche des Schwachen, denn es ist ein Ideal der Passivität. Natürlich ist, wenn man Nietzsches Hypothese vom Willen zur Macht glauben schenkt, alles Wille zur Macht,³⁴⁷ so dass auch der Wille zum Nichts ein Wille zur Macht sein muss. Das ist er freilich auch. Aber man muss genau hinschauen, worüber der sklavische Wille eigentlich Macht gewinnen will. Ich habe es weiter oben bereits ausgeführt: Es gibt eine Art allgemeinmenschliches Ressentiment und ein spezielles Sklavenressentiment. Der Sklave leidet unter beiden Formen des Ressentiments. Unter dem Aristokraten leidet er, weil dieser mit ihm umgeht, besser noch: umspringt wie das Leben selbst; weil er ihn mit dergleichen Willkür bald hierhin bald dorthin schiebt, ganz wie es ihm beliebt und gerade in den Sinn kommt. Dass er so handelt, liegt daran, dass sein Wille zur Macht gleichsam im Takt des Lebens schlägt. Das Leben ist Wachstum, Schönheit, Wandel, Werden, Vergehen, Grausamkeit, Vitalität, Fruchtbarkeit und vor allem anderen Aktivität  – und so wie das Leben ist, will sich auch der Aristokrat. Was er für wertvoll hält, orientiert sich am Vorbild des Lebens. Der Wille des Sklaven kann so aber nicht wollen, dafür ist er zu schwach. Was er will ist, wie gesehen, das Anders-Sein, das Anderswo-Sein. Sein Hass gilt im Grunde mehr noch dem Leben selbst als dem Aristokraten, denn dieser ist gewissermaßen bloß der verlängerte Arm des Lebens. So ist es das Leben selbst, über das sein Wille zur Macht triumphieren

347 Eines kann gar nicht oft genug ausgesprochen werden: Dass der Wille zur Macht eine Hypothese ist. Dies geht aus einer berühmten Passage aus Jenseits von Gut und Böse deutlich hervor. Man beachte insbesondere Nietzsches feinsinnigen Einsatz des Konjunktivs und der Anführungszeichen. „Die Frage ist zuletzt, ob wir den Willen wirklich als w irken d anerkennen, ob wir an die Causalität des Willens glauben: thun wir das  – und im Grunde ist der Glaube d a r a n eben unser Glaube an Causalität selbst –, so mü ssen wir den Versuch machen, die Willens-Causalität hypothetisch als die einzige zu setzen. ‚Wille‘ kann natürlich nur auf ‚Wille‘ wirken – und nicht auf ‚Stoffe‘ (…): genug, man muss die Hypothese wagen, ob nicht überall, wo ‚Wirkungen‘ anerkannt werden, Wille auf Wille wirkt – und ob nicht alles mechanische Geschehen, insofern eine Kraft darin thätig wird, eben Willenskraft, Willens-Wirkung ist. – Gesetzt endlich, dass es gelänge, unser gesammtes Triebleben als die Ausgestaltung und Verzweigung Einer Grundform des Willens zu erklären – nämlich des Willens zur Macht, wie es mei n Satz ist –; gesetzt, dass man alle organischen Funktionen auf diesen Willen zur Macht zurückführen könnte und in ihm auch die Lösung des Problems der Zeugung und Ernährung – es ist Ein Problem – fände, so hätte man damit sich das Recht verschafft, a l l e wirkende Kraft eindeutig zu bestimmen als: Wille zur Macht . Die Welt von innen gesehen, die Welt auf ihren ‚intelligiblen Charakter‘ hin bestimmt und bezeichnet – sie wäre eben ‚Wille zur Macht‘ und nichts ausserdem. –“ (JGB 36; KSA 5, 55). Dass viele Interpreten, zumal Heidegger, im Willen zur Macht ein metaphysisches Bekenntnis Nietzsches sehen, liegt vornehmlich daran, dass sie den Nachlass stärker gewichten als das veröffentlichte Werk des Philosophen. In seinen Notizen ist Nietzsche aber weniger vorsichtig als in seinen Publikationen und scheut sich weniger apodiktische Formulierungen zu wählen. So schreibt er in einem den soeben zitierten Aphorismus Nr. 36 aus Jenseits von Gut und Böse vorbereitenden Nachlass-Notat, das als Abschlussstück (Nr. 1067) des fälschlicherweise als Nietzsches Hauptwerk herausgegebenen Der Wille zur Macht wirkmächtig geworden ist: „ D i e s e We lt i s t d e r Wille zur Macht – und nichts außerdem“ (NL 1884–1885, KSA 11, 38[12], 611)! Es leuchtet aber keinesfalls ein, wieso das vorbereitende Notat über das ausgefeilte und von Nietzsche selbst für gut (gut genug für eine Publikation) befundene publizierte Stück gestellt werden sollte.

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will.³⁴⁸ Aus diesem Grund will er das Nichts und deswegen sind die Werte der Hinterwelt Idealisierungen der Passivität; denn die Essenz des Lebens ist die Aktivität. Das asketische Ideal ist der Versuch, die Voraussetzungen, unter denen das Leben blüht, so weit es nur geht, zu beschneiden. Es ist ein Leben im Zeichen der Dekadenz, das hier bejaht wird. Der Wille zur Macht des Sklaven und Asketen ist also ein nihilistischer Wille, dem es darum geht, das Leben möglichst klein zu halten – eine „Perversion des Wollens“, so der treffende Ausdruck Volker Gerhardts (1999, 155). Und hierin liegt endlich der Grund dafür, dass Nietzsche die Heraufkunft des Nihilismus, man könnte auch sagen: die (allmähliche) Manifestation des bisher latenten Nihilismus, in seine Zeit fallen sieht. Das große Problem liegt in der Kombination des Faktums, dass das Leid nicht aus der Welt verschwunden ist, mit dem, was die lange Herrschaft des asketischen Ideals, Nietzsche zufolge, aus dem Menschen gemacht hat. Sie hat ihn dekadent gemacht. Die Flamme des menschlichen Willens ist zwar noch nicht gänzlich erloschen, dafür hat das asketische Ideal gesorgt; jedoch hat es im selben Atemzug auch dafür Sorge getragen, dass diese Flamme nicht zu hell lodert  – der Wille zum Nichts hat den Willen sozusagen auf Sparflamme gesetzt. So ist aus dem Menschen ein zahmes Tier geworden, das sich nur noch dafür interessiert, sich möglichst behaglich in der Welt einzurichten. Ehedem ein Raubtier, ist der Mensch nur mehr ein bequemes Tier, das nicht mehr bereit ist, etwas zu wagen, dem nicht mehr daran gelegen ist, sich selbst zu überwinden resp. sich zu steigern. Aus der Sattheit des menschlichen Willens resultiert, davor warnt Nietzsche eindringlich, die Sattheit am Menschen. Nietzsche sieht mit der Korrosion der christlichen Moral bei gleichzeitiger allgemeiner Willensschwächung als Folge der langen Herrschaft des asketischen Ideals eine neue Zeit des Nihilismus heraufziehen. Er sieht für die westliche Welt das Zeitalter des bereits angesprochenen letzen Menschen dämmern: Denn so steht es: die Verkleinerung und Ausgleichung des europäischen Menschen birgt unsre grösste Gefahr, denn dieser Anblick macht müde… Wir sehen heute Nichts, das grösser werden will, wir ahnen, dass es immer noch abwärts, abwärts geht, in’s Dünnere, Gutmüthigere, Klügere, Behaglichere, Mittelmässigere, Gleichgültigere, Chinesischere, Christlichere – der Mensch, es ist kein Zweifel, wird immer „besser“… Hier eben liegt das Verhängniss Europa’s – mit der Furcht vor dem Menschen haben wir auch die Liebe zu ihm, die Ehrfurcht vor ihm, die Hoffnung auf ihn, ja den Willen zu ihm eingebüsst. Der Anblick des Menschen macht nunmehr müde – was ist heute Nihilismus, wenn er nicht das ist? … Wir sind des Menschen müde…“ (GM I ; KSA 5, 278)

Nietzsche sorgt sich darum, dass die besten Kräfte im Menschen zugrunde gehen. Er sieht die Moderne als dekadente Zeit und eine immer dekadentere Gesellschaft vor seinem prophetischen Auge erscheinen: eine Gesellschaft, in der es viele Willens-

348 „The conditions for the life of the master (i. e., health, vitality, growth) are the central problem for the slave and in the reactive denial of these conditions the master has his ends swept away. The slave’s desire for revenge over the master is a function of their desire for revenge over life and suffering“ (Morrisson 2001, 142).

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schwache und einige wenige Willensstarke gibt, die jedoch wegen ihrer Erziehung durch das asketische Ideal unter der Stärke ihres Willens leiden.³⁴⁹ Sie leiden darunter, auf der einen Seite starke Individuen sein zu können, ja es naturgemäß eigentlich sein zu müssen, was sie auf der anderen Seite aber nicht dürfen, und das aus zweifachem Grund: erstens weil es ihnen die Gesellschaft nicht gestattet, und zweitens weil sie es sich selbst nicht erlauben, haben sie das asketische Ideal doch verinnerlicht. Sie sind Opfer der Moral geworden. Wie kommt das? Wie kann das sein, vor allem, wenn man bedenkt, dass sich das Christentum mit seinem die Moral legitimierenden Gott doch in einer Krise befindet? Die Antwort ist, dass sich zweitausend Jahre unumschränkte Herrschaft der christlichen Moral nicht einfach ungeschehen machen lassen. Eine so lange Herrschaft bleibt, wenn sie zu Ende geht, nicht ohne Nachwirkungen. Zum Kernbestand des asketischen Ideals bzw. der christlichen Moral-Hypothese gehören die Nächstenliebe und das Mitleid. Und auch wenn Nietzsche ein Ausklingen der Christlichkeit in der Moral konstatiert, bleibt doch als eine ihrer stärksten und für Nietzsche auch schmerzhaftesten Nachwehen, „[d]ass der Mensch der sympathischen, uninteressirten, gemeinnützigen, gesellschaftlichen Handlungen jetzt als der mor alische empfunden wird“ (M 132; KSA 3, 123). Nietzsche meint, in einem Zeitalter zu leben, das genau zu wissen glaubt, worin das Moralische besteht, was wiederum bedeutet, dass es ebenfalls zu wissen glaubt, worin das Unmoralische besteht: Es giebt vielleicht jetzt kein besser geglaubtes Vorurtheil, als diess: dass man w i s s e , was eigentlich das Moralische ausmache. Es scheint jetzt Jedermann woh l z u t h u n , wenn er hört, dass die Gesellschaft auf dem Wege sei, den Einzelnen den allgemeinen Bedürfnissen a n z u p a s s e n und dass das Glück und zugleich das Opfer des Einzelnen darin liege, sich als ein nützliches Glied und Werkzeug des Ganzen zu fühlen: nur dass man gegenwärtig noch sehr schwankt, worin dieses Ganze zu suchen sei, ob in einem bestehenden oder zu begründenden Staate, oder in der Nation oder in einer Völker-Verbrüderung oder in kleinen neuen wirthschaftlichen Gemeinsamkeiten. Hierüber giebt es jetzt viel Nachdenken, Zweifeln, Kämpfen, viel Aufregung und Leidenschaft; aber wundersam und wohltönend ist die Eintracht in der Forderung, dass das ego sich zu verleugnen habe, bis es, in der Form der Anpassung an das Ganze, auch wieder seinen festen Kreis von Rechten und Pflichten bekomme, – bis es etwas ganz Neues und Anderes geworden sei. Man will nichts Geringeres – ob man es sich nun eingesteht oder nicht –, als eine gründliche Umbildung, ja Schwächung und Aufhebung des I n d ivi duu ms: man wird nicht müde, alles das Böse und Feindselige, das Verschwenderische, das Kostspielige, das Luxushafte in der bisherigen Form des individuellen Daseins aufzuzählen und anzuklagen, man hofft wohlfeiler, ungefährlicher, gleichmässiger, einheitlicher zu wirthschaften, wenn es nur noch gros s e Körper und deren G lied er giebt. ( M 1 32 ; KSA   3, 1 24 )

349 Es darf nicht übersehen werden, dass Nietzsche die „Zähmung des Menschen“ durch die Moral nicht in Bausch und Bogen verwirft. Problematisch wird es erst, wenn mit dieser Zähmung die höhere Kultur einer Gesellschaft zugrunde geht, was ebendann der Fall ist, wenn sie die Aristokraten derart erfasst, dass diese ihr Pathos der Distanz verlieren und infolgedessen nicht mehr willens und fähig sind, ihre Kräfte auszulösen. Generell gilt aber, dass die hohe Kultur der niederen bedarf, um sich zu entfalten: „Eine hohe Cultur ist eine Pyramide: sie kann nur auf einem breiten Boden stehn, sie hat zuallererst eine stark und gesund consolidirte Mittelmässigkeit zur Voraussetzung“ (AC 57; KSA 6, 244).

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„Kollektivismus statt Individualität“, so lautet das Gebot der Stunde; und „Individualismus verboten“, heißt das Verbot der Stunde, wird die Individualität doch als Quelle allen Übels begriffen. Dies lernt der moderne Mensch nicht nur durch die (kriselnde) Religion, sondern eben auch auf gesellschaftlichem und politischem Parkett.³⁵⁰ So kann es geschehen, dass aus Menschen, die in der von Nietzsche beschworenen Vorzeit Aristokraten gewesen wären  – wie erinnerlich ein eminent gesunder und vitaler Typus – plötzlich Kranke werden. Die zur von ihnen verinnerlichten Moral gehörende Lehre von der Individualität als Grund des Bösen macht sie, die eigentlich zur Selbstgesetzgebung Berufenen, zu regelrechten Willensneurotikern. Sie werden zu Fällen für den Psychoanalytiker, gehören umgangssprachlich ausgedrückt „auf die Couch“. Freilich beginnt die große Zeit der Psychoanalyse  – der Psychoanalytiker: wieder ein neuer Typus, der antritt, um den Kampf gegen das Leid der Menschen aufzunehmen und es dabei besser machen will als vor ihm der Priester und der Philosoph  –, mit Sigmund Freud (1856–1933) an der Spitze, erst kurz nach Nietzsches Zeit.³⁵¹ Aber dieses baldige Auftauchen spricht für Nietzsches Hellsichtigkeit, für sein genealogisches und psychologisches Gespür. – Was meine ich nun genau, wenn ich von Willensneurotikern spreche? Inwiefern produziert das dekadente Zeitalter der Herdenmoral sogenannte „Couch-Fälle“? Um hierin für Klarheit zu sorgen, will ich in aller Kürze auf einen Psychoanalytiker eingehen, der ein wenig abseits vom psychoanalytischen Mainstream gesucht werden

350 Besonders aufschlussreich ist in diesem Kontext Aphorismus Nr.  202 aus Jenseits von Gut und Böse, darin Nietzsche feststellt: „M or al i s t h e u te i n E u ro p a He e rd e n t h i e r- M o r a l“ ( JG B 2 02 ; KSA  5, 124 ) u n d weiter ausführt, „mit Hülfe einer Religion, welche den sublimsten HeerdenthierBegierden zu Willen war und schmeichelte, ist es dahin gekommen, dass wir selbst in den politischen und gesellschaftlichen Einrichtungen einen immer sichtbareren Ausdruck dieser Moral finden: die demokr atische Bewegung macht die Erbschaft der christlichen“ (JGB 2 02; KSA  5, 124f.). Dasselbe gelte auch und sogar für die Anarchisten, die so gesehen nur eine angebliche Feindschaft gegen die Demokraten hegten. Nietzsche spricht von einem „Zähnefletschen der Anarchisten-Hunde, welche jetzt durch die Gassen der europäischen Cultur schweifen: anscheinend im Gegensatz zu den friedlich-arbeitsamen Demokraten und Revolutions-Ideologen, noch mehr zu den tölpelhaften Philosophastern und Bruderschafts-Schwärmern, welche sich Socialisten nennen und die ‚freie Gesellschaft‘ wollen, in Wahrheit aber Eins mit ihnen Allen in der gründlichen und instinktiven Feindseligkeit gegen jede andre Gesellschafts-Form als die der auton ome n Heerde (bis hinaus zur Ablehnung selbst der Begriffe ‚Herr‘ und ‚Knecht‘ – ni dieu ni maître heisst eine socialistische Formel –); Eins im zähen Widerstande gegen jeden Sonder-Anspruch, jedes Sonder-Recht und Vorrecht (das heisst im letzten Grunde gegen jed es Recht: denn dann, wenn Alle gleich sind, braucht Niemand mehr ‚Rechte‘ –) (…)“ (JGB 2 02; KSA  5, 125). Sie alle seien, so Nietzsches Resümee, „Eins allesammt im Glauben an die Gemeinschaft als die Erlö serin , an die Heerde also, an ‚sich‘ ….“ (JGB 2 02; KSA 5, 126). 351 Als das „Urbuch der Psychoanalyse“ bezeichnet Ilse Grubrich-Simitis die von Sigmund Freud und Josef Breuer gemeinsam verfassten Studien zur Hysterie aus dem Jahr 1895 (vgl. dazu Grubrich-Simitis 1995). Den Begriff „Psychoanalyse“ gebraucht Freud in deutscher Sprache allerdings erstmalig im Jahre 1896 in seinem Aufsatz Weitere Bemerkungen über die Abwehr-Neuropsychosen.

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muss. Die Rede ist von Otto Rank,³⁵² einem ehemaligen Schüler und Günstling Freuds. Ebenso wie Carl Gustav Jung und Alfred Adler ist auch Rank später von der Lehre des „Meisters“ abgewichen und eben dadurch aus dem engsten Kreise Freuds teils selbst herausgetreten und teils verstoßen worden. Jedenfalls handelt es bei Rank um einen Denker, dem bisher nicht die wissenschaftliche Aufmerksamkeit angediehen ist, die er wohl verdient hätte und dessen Überlegungen gerade im vorliegenden Kontext sehr hilfreich sind, weil Rank, geschult durch die Philosophien vor allem Schopenhauers und Nietzsches,³⁵³ im negativen Eigenwollen die Quelle des psychischen Leidens erblickt. Schopenhauer und Nietzsche machen beide darauf aufmerksam, dass ein Wille immer einen Gegenwillen braucht, an dem er sich gleichsam abarbeiten, von dem er sich absetzen und abgrenzen kann, wodurch er erst eigene Kontur gewinnt. Ein Wille braucht also einen Gegenwillen – und jetzt das Entscheidende –, zu dessen Lasten seine eigene Erfüllung geht. Ohne Auseinandersetzung kann es schlicht kein Wollen geben; darum impliziert Wollen immer Leiden. Für Schopenhauer ist es der individuierte Wille, der, indem er übersieht, dass eigentlich alles in der Welt, ja die Welt selbst, ein einziger Wille ist – er missachtet damit das „tat twam asi“ –, die Zersplitterung ebendieses Gesamtwillens durch sein Eigenwollen vorantreibt und somit Leid generiert. Für den moralisierenden Schopenhauer steht fest, dass der Eigenwille solcherart Schuld auf sich lädt. Das Individualwollen ist für ihn als solches immer schuldig. Unterdessen könne der Mensch dank seines Intellekts seinen Irrtum begreifen, der darin besteht zu glauben (und sich auch so zu verhalten), er sei der ganze Wille und nicht bloß eine seiner Individuationen. Die konsequente Folge dieser Einsicht wäre, freilich unter moralischem Gesichtspunkt, die Willensverneinung, mithin der selbstnegierende Ausstieg aus dem Kreislauf ewigen Schuldigwerdens. Es handelt sich bei diesem Konzept, wie Rank bemerkt, um eine „tiefgreifende pschologische Wendung von der Bejahung des Wollens zur Verneinung des Willens“ (Rank 1929a, 73), also um einen sich selbstverleugnenden Willen, einen Willen, der lernen soll, nicht mehr zu wollen. Nun teilt Rank Schopenhauers und Nietzsches Auffassung, wonach jeder Wille immer auch Gegenwille sei und seine individuelle Kontur nur auf Rechnung eines anderen Willens gewinne. Und als Psychologe stellt er fest, dass der Individualwille, wenn auch zumeist unbewusst, darunter leide: Er leide darunter, selber Leiden zu verursachen. Rank lobt Schopenhauers Philosophie als die 352 Den Hinweis auf Otto Rank (1884–1939) habe ich von Thorsten Lerchner erhalten, dem ich an dieser Stelle dafür danken möchte. Zugleich sei auf Lerchners Aufsatz Die Welt als Wille: Otto Rank und Arthur Schopenhauer (Lerchner 2012) verwiesen, in dem man viele der hier eher holzschnittartig behandelten Gedanken in ausführlicher Darstellung findet. 353 Anders als zum Beispiel Freud, der sich sehr schwer damit getan hat zuzugeben, welchen zum Teil recht großen Einfluss philosophisches Gedankengut auf sein eigenes Denken hatte, weil er sich als „harten Empiriker“ sehen wollte (er betreibe eine „auf Deutung der Empirie gebaute Wissenschaft“ (Freud 1975[1914], 44) und keine Spekulation), betont Otto Rank, um den es hier geht, die eminente Bedeutung der Philosophie für sein Denken ganz offen, wenn er bekennt, seine „Willenspsychologie“ sei „das Resultat[s]einer philosophischen (…) Studien“ (Rank 1929a, 24).

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großartige Behandlung der „ewige[n] Sehnsucht der Menschen nach Erlösung von diesem quälenden Willen“ (Rank 1929a, 106) und schickt sich an, therapeutisch eben hier anzusetzen: bei der Erlösung von der Qual. Anders als Schopenhauer, genauso aber wie Nietzsche, geht es ihm indes letztlich nicht um eine Verneinung, sondern, im Gegenteil, um eine Bejahung, in seinen eigenen Worten, um eine „Rehabilitierung des Willens“ (Rank 1929b, 19). Es komme darauf an, „daß der Neurotiker überhaupt Wollen lernt, d. h. Wollen kann, möglichst ohne Schuldgefühl wegen des Wollens zu empfinden“ (Rank 1929b, 19). Ich behaupte nun, dass dieses Wollen-Lernen einer der Kernpunkte von Nietzsches Philosophie ist und dass Nietzsche im Schwund des Wollen-Könnens ein Zentraldatum des Nihilismus (nicht nur) seiner Zeit sieht. Auch Nietzsche weiß, dass das Eigenwollen mitunter schwer zu ertragen ist und dass der Mensch schwer daran zu tragen hat. Das asketische Ideal hat den Menschen darauf getrimmt, das Nichts zu wollen, was im bereits erörterten Sinne ein negatives Wollen oder besser: ein Wollen des Negativen ist. Will man dem Nihilismus aber etwas entgegensetzen, dann muss man positiv wollen, d. h. zurück zur Aktivität finden und eigene Werte setzen, statt auf eine Moral reaktiven Zuschnitts zu bauen, wie sie die christliche Moral Nietzsche zufolge ist. Das solcherart positive Wollen tut jedoch immer auch weh, denn jedes Schaffen ruft allzumal auch ein Vernichten auf den Plan. Neues entsteht auf dem – gebrochenen  – Rücken des Alten, so will es die innere Dynamik des Lebens. Dazu Zarathustra: Und wer ein Schöpfer sein muss im Guten und Bösen: wahrlich, der muss ein Vernichter erst sein und Werthe zerbrechen./Also gehört das höchste Böse zur höchsten Güte: diese aber ist die schöpferische. – (Z II Selbstueberwindung; KSA 4, 149)

Das asketische Ideal hat maßgeblich dazu beigetragen, dass das Wollen und eo ipso auch das Schaffen verlernt wurde. Es leuchtet ein, dass das asketische Ideal, zumal indem es das Mitleid zur Tugend befördert hat, für das notwendig auch vernichtende Schaffen einen Hemmschuh bedeutet. Wer das Mitleid hochhält, sollte dabei indes nicht vergessen, dass das Mitleid mit dem Alten mit der Liebe zum Neuen konfligiert: Merket aber auch diess Wort: alle grosse Liebe ist noch über all ihrem Mitleiden: denn sie will das Geliebte noch – schaffen!/„Mich selber bringe ich meiner Liebe dar, und meinen Nächsten gleich mir“ – so geht die Rede aller Schaffenden./Alle Schaffenden aber sind hart. – (Z II Mitleidigen; KSA 4, 116)

Wer im Leben bestehen will, ja wer durch Passivität und Inaktivität nicht gleichsam, wenn auch ohne es überhaupt zu bemerken, am Ast des Lebens sägen will, dessen Geheimnis Zarathustra zufolge darin besteht, sich immer selbst überwinden zu

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müssen,³⁵⁴ der muss hart sein bzw. darf sich nicht durch das Mitleid verweichlichen lassen. Wo das Mitleid in den Stand eines handlungsleitenden moralischen Gebotes gehoben wird, in einer Gesellschaft des schlechten Gewissens nämlich, gegen dessen Schmerz das Mitleid Linderung schafft (vgl. M 137), wird dem Leben sprichwörtlich das Wasser abgegraben. Wo der Wille zur Selbstüberwindung und -steigerung fehlt, da geht es bergab mit dem Leben.³⁵⁵ Für Nietzsche ist das Mitleiden ein Instinkt oder Trieb, der als solcher ebenso gut oder schlecht ist, wie jeder andere Trieb auch. Es geht Nietzsche also gar nicht darum, das Mitleid generell zu verwerfen.³⁵⁶ Indessen stellt die Verabsolutierung des Mitleids für das Leben eine Gefahr dar, weil „dieser depressive und contagiöse Instinkt“, der sich auf das Leiden anstelle des Schaffens konzentriert, „jene Instinkte[kreuzt], welche auf Erhaltung und Werth-Erhöhung des Lebens aus sind: er ist ebenso als Mult ip likator des Elends wie als C o ns erva to r alles Elenden ein Hauptwerkzeug zur Steigerung der décadence – Mitleiden überredet zum Ni chts“. Mitleiden ist, wie es etwas früher im selben Aphorismus heißt, „die Pr axis des Nihilismus“ (AC 7; KSA 6, 173). Wenn Zarathustra verkündet, das Schaffen sei „die grosse Erlösung vom Leiden, und des Lebens Leichtwerden“, dann gilt dies insbesondere für den modernen Willensneurotiker als den verhinderten Schaffenden, der so schwer an sich selbst trägt, weil er seine große Kraft nicht auslösen kann. Unterdessen weiß Zarathustra auch: „Aber dass der Schaffende sei, dazu selber thut Leid noth und viel Verwandelung.“ (Z II Inseln; KSA 4, 110) – „Leid“ und „viel Verwandelung“ sind vonnöten, damit sind konkret gemeint: die schmerzhafte Emanzipation vom asketischen Ideal und die den Willensneurotiker zum Schaffenden verwandelnde Rehabilitierung des Willens. Wie in der Psychotherapie verhält es sich aber auch bei Zarathustra, der seine Schüler fortschickt, damit sie den Selbststand auch tatsächlich in der Praxis erproben

354 „Und diess Geheimnis redete das Leben selber zu mir. ‚Siehe, sprach es, ich bin das, was sich i mmer selber überwin d en m u ss‘“ (Z II Selbstueberwindung; KSA 4, 148). 355 „Das Leben selbst gilt mir als Instinkt für Wachsthum, für Dauer, für Häufung von Kräften, für Macht: wo der Wille zur Macht fehlt, giebt es Niedergang. Meine Behauptung ist, dass allen obersten Werthen der Menschheit dieser Wille f eh lt , – dass Niedergangs-Werthe, nihilistische Werthe unter den heiligsten Namen die Herrschaft führen“ (AC 6; KSA 6, 172). 356 Tatsächlich hat Nietzsche, der ein besonders empfindsamer Mensch war, unter den mitunter radikalen Folgerungen und Forderungen seiner eigenen Philosophie gelitten. Gerade das Postulat der mitleidlosen Härte hat ihm einige Schwierigkeiten bereitet. Eine Nachlassnotiz aus der ZarathustraZeit belegt dies besonders deutlich: „Oh Zarathustra Fürsprecher des Lebens! Du mußt auch Fürsprecher des Leidens sein! Die Menschen müssen b ö ser werden. Zarathustra 4 dies ist mir das größte Leid – ich muß sie böser machen“ (NL 1882–1884, KSA 10, 17[13], 539)! Eine Interpretation von Nietzsches Denken unter der Leitidee eines inneren Kampfes, den Nietzsche in seiner Philosophie mit sich selbst austrägt, eines Kampfes seiner „ersten“ gegen seine selbst kultivierte „zweite Natur“, bietet Safranski 2005, 51–79. Als Ergebnis hält Safranski fest, dass Nietzsche „seine erste Natur der zweiten, selbsterfundenen zum Opfer gebracht“ (Safranski 2005, 79) habe.

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können:³⁵⁷ Zwar kann ein Anstoß von außen erfolgen; das Eigenwollen wollen, d. h. seinen Willen bejahen, kann aber jeder nur allein für sich und durch sich selbst. Die Möglichkeitsbedingung des so nötigen positiven Eigenwollens ist ein willensstarkes Individuum. An diesem Punkt zeigt sich einmal mehr, dass Nietzsche kein Mann des einförmigen „Schwarz-Weiß-Denkens“ ist, sondern jemand, der den Perspektivismus nicht nur postuliert, sondern darüber hinaus auch praktiziert. Nachdem er die Schattenseite der Moralgeschichte der Menschheit ausgeleuchtet und damit eine Geschichte der Abrichtung, Zähmung und Beugung eines Raubtieres in Szene gesetzt hat, richtet er seinen Blick auch auf ihre helle Seite. Eigentlich erfolgt die Betrachtung ihrer hoffnungsverheißenden Seite nicht erst nach, sondern bereits während Nietzsches kritischer Genealogie der Moralgeschichte. Gleich zu Beginn der zweiten Abhandlung der Genealogie kommt Nietzsche nämlich auf zwei grundlegende menschliche Vermögen zu sprechen, zwei Gegenvermögen genau genommen, deren eines er als ein Kind der Moral identifiziert. Es handelt sich einmal um die „Vergesslichkeit“, verstanden als „ein aktives, im strengsten Sinne positives Hemmungsvermögen“ (GM II 1; KSA 5, 291), ohne das der Mensch des Glücks, der Heiterkeit, der Hoffnung sowie des Stolzes nicht fähig wäre, schließlich könne es überhaupt „keine G egenwar t geben (…) ohne Vergesslichkeit“ (GM II 1; KSA 5, 292). Wäre der Mensch nämlich nicht in der Lage zu vergessen, würde die Gegenwart beständig von der Vergangenheit überlagert und zugedeckt.³⁵⁸ So gesehen ist der Mensch das „nothwendig vergessliche Thier, an dem Vergessen eine Kraft, eine Form der st arken Gesundheit darstellt“. Auf der anderen Seite „hat sich nun ein Gegenvermögen angezüchtet, ein Gedächtniss, mit Hülfe dessen für gewisse Fälle die Vergesslichkeit ausgehängt wird“. Zwei Dinge sind nun an dem letzten Satz besonders wichtig: zum einen der Umstand, dass dieses Gedächtnis „angezüchtet“ wurde, denn der Züchtungsprozess ist ein wesentlicher Teil der Moralgeschichte. (Ich habe weiter oben bereits kurz dargestellt, wie der Mensch durch Strafe und Schmerz in Folge der Übertretung eines Gebotes gelernt hat, sich zu erinnern und wie dadurch

357 Vgl. Z I Tugend; KSA 4, 101 und Z III Schwere; KSA 4, 245. Vgl. zu diesen Textstellen außerdem Kapitel IX.1 und IX.2. 358 Bei Freud stößt man auf eine ähnliche Überlegung. Der Psychoanalytiker konstatiert in der Unfähigkeit zu vergessen einen pathologischen Zustand: Das Nicht-Loskommen-Können von der Vergangenheit mache die Menschen zu Neurotikern. Freud betont jedoch, dass es sich bei diesem krankhaften Zustand nicht um einen Regelfall, sondern um ein „abnorme[s] Haften am Vergangenen“ (Freud 1969[1909], 59) handele, das auf „‚psychische Traumen‘“ (Freud 1969[1909], 55) zurückzuführen sei: „So wie diese beiden unpraktischen Londoner[Freud hatte zu Illustrationszwecken zwei Fälle von Menschen konstruiert, die von der Vergangenheit nicht ablassen können und den Ort des Neurosegeschehens nach London verlegt – E.B.] benehmen sich aber die Hysterischen und Neurotiker alle; nicht nur, daß sie die längstvergangenen schmerzlichen Erlebnisse erinnern, sie hängen noch affektvoll an ihnen, sie kommen von der Vergangenheit nicht los und vernachlässigen für sie die Wirklichkeit und die Gegenwart. Diese Fixierung des Seelenlebens an die pathogenen Traumen ist eine der wichtigsten und praktisch bedeutsamsten Charaktere der Neurose“ (Freud 1969[1909], 59).

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das psychische Innenleben, also das, was man gemeinhin die menschliche „Seele“ nennt, reichhaltiger wurde.) Zum anderen interessiert die Frage, in welchen Fällen die Vergesslichkeit ausgesetzt wird, so dass die Erinnerung ungehemmt walten kann. Dies geschieht im Falle eines Versprechens. Wie schon bei der Vergesslichkeit handelt es sich auch beim Gedächtnis als dem Gegenvermögen, vermittels dessen der Mensch versprechen kann, keineswegs um ein passivisches Phänomen, um etwas, das gewissermaßen mit dem Menschen passiert, sondern um ein aktives Vermögen: Statt mit einem „passivische[n] Nicht-wieder-los-werden-können“ hat man es mit einem  – und das ist nun der neuralgische Punkt – Willensvermögen zu tun, einem „aktive[n] Nicht-wieder-los-werden-wollen“; gemeint ist „ein Fort- und Fortwollen des ein Mal Gewollten, ein eigentliches G edächtniss des Willens“ (GM II 1; KSA 5, 292). Erst durch die Unterdrückung seiner Triebe durch die „Sittlichkeit der Sitte“³⁵⁹ ist der Mensch zum „Inhaber eines langen, unzerbrechlichen Willens“ geworden (GM II 2; KSA 5, 294); eines Willens, der sich vom Zeitpunkt des Versprechens bis zur Einlösung desselben, d. h. über einen mitunter auch sehr langen Zeitraum voller verschiedener Einflüsse und neuer Willensakte, durchhält. Auf diese Weise hat der Mensch erst so etwas wie Kontinuität in seinem Handeln erhalten, präzise gesagt: eine „praktische“ und nicht „epistemische Kontinuität“ (vgl. Höffe 2004, 73), weil er nun einen Willen als den seinen kontinuierlich will. Er identifiziert sich mit diesem Willen, insofern er sich im Falle eines Versprechens selbst aufs Spiel setzt. Woran er sich beim Versprechen erinnern muss, ist nämlich Dreierlei: Er erinnert sich erstens, dass er ein Versprechen abgegeben hat, zweitens daran, was er versprochen hat und drittens, dass er etwas versprochen hat. Um den dritten Punkt ist es mir hier besonders zu tun: Jemand, der etwas versprochen hat, hat sein Wort gegeben und damit demjenigen, dem er etwas versprochen hat, „einen für die Forderung haftenden ‚Gegenstand‘, ein Pfand, das aber (…) letztlich[in] ihm selbst liegt“ (Höffe 2004, 73). Das Versprechenkönnen bzw. das Gedächtnis unseres Willens ist, ebenso wie unser Leib, der jeweils uns gehört, ein Schlüsselmoment unserer Kontinuität und unserer Identität. Der Mensch ist für Nietzsche vor allem ein Willenswesen, und zwar, im Gegensatz zum Tier resp. zu jenen Tieren, die nicht versprechen dürfen, wie man in Umkehrung von Nietzsches Bestimmung des Menschen als dem „Thier, (…) das ver sprechen d a rf “ (GM II 1; KSA 5, 291) sagen kann, ein Wesen des aktiven, über die unmittelbare Gegenwart hinaus wirksamen Willens. Nietzsche versteht das Versprechendürfen als ein Privileg. Und dieses Privileg ist die Frucht der Moralgeschichte der Menschheit, ist das Ergebnis der Kultivierung des Menschen, in deren Verlauf der Mensch vor-

359 Zu Nietzsches Formel „Sittlichkeit der Sitte“ vgl. zumal M 9. Kurz gesagt handelt es sich bei dieser Wortkombination um „ein bestimmtes Verhältnis zu Sitte und Moral (d. h. zu der herkömmlichen Art des Handelns), nämlich das des Gehorsams oder der Unfreiheit“ (Schulte 2002, 29). Es kommt also nicht auf den Inhalt des jeweilgen Gebotes an, dem man gehorcht, sondern einzig auf das Gehorchen selbst: Sittlichkeit ist demnach „nichts Anderes (also namentlich nicht me h r ! ), als Gehorsam gegen Sitten, welcher Art diese auch sein mögen (…)“ (M; KSA 3, 21f.).

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züglich auf dem mitunter grausamen Weg der Triebunterdrückung und -verinnerlichung wesentliche Dinge gelernt hat, als da wären: „Versprechen zu halten, Gesetze zu geben, Werte zu setzen, Verantwortlichkeit zu zeigen und einen weiten Ausblick in die Zukunft offen zu halten“ (Raffnsoe 2007, 82). Dieses Erlernte stellt wiederum die Bedingung der Möglichkeit für die „reifste Frucht“ am Baum der Moralgeschichte dar: „das s o uver aine I ndividuu m“ , d.  h. „das nur sich selbst gleiche, das von der Sittlichkeit der Sitte wieder losgekommene, das autonome übersittliche Individuum (denn ‚autonom‘ und ‚sittlich‘ schliesst sich aus), kurz den Menschen des eignen unabhängigen langen Willens“ (GM II 2; KSA 5, 293). Es ist dies ein Mensch, der nicht nur anderen etwas versprechen kann, sondern gerade auch sich selbst. Indem der Mensch die Verantwortlichkeit gelernt hat, ist er nicht allein für seinen Nächsten berechenbar geworden, sondern auch für sich selbst. Indem er gelernt hat, Gesetze sowohl zu befolgen als auch zu erlassen, hat er gleichfalls die Befähigung erlangt, sich selbst Gesetze zu geben und sie dann auch zu befolgen. Er hat einen Blick für die Zukunft entwickelt, und zwar für eine selbstgestaltete Zukunft, als der Zeit der Entfaltung seines „eignen unabhängigen langen Willens“. Nun mag er dies alles zwar gelernt haben – in Anwendung gebracht hat er es aber noch nicht. Nietzsches souveränes Individuum ist einstweilen noch ein Wunschbild. Für den Moment sieht Nietzsche überall nur Willensschwache und Willensneurotiker. Aber er träumt davon, dass die Moralgeschichte sich dereinst wie die Wirklichkeit gewordene Rede Zarathustras Von den drei Verwandlungen liest (vgl. Z I Verwandlungen): Aus einem moralhörigen Kamel wäre dann ein rebellischer Löwe geworden, welcher der heteronomen Moral (versinnbildlicht im großen Drachen „Du sollst“) die Zähne zeigt und aus dem Löwen schließlich ein Kind, welches das Leben als ein Spiel nach seinen eigenen, willkürlichen, jenseits von Gut und Böse stehenden Regeln spielt. Wenn Nietzsche im Zarathustra schreibt, das Kind repräsentiere „Unschuld (…) und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung[und] ein heiliges Ja-sagen“ (Z I Verwandlungen; KSA  4, 31), dann kann man dies in Bezug auf die Genealogie der Moral so lesen, dass das Kind sich durch einen rehabilitierten, einen gesunden, vom durch das asketische Ideal aufgezogenen pathologischen Schuldgefühl befreiten Willen auszeichnet. Als der Akteur und gleichzeitige Regelgeber seines Spiels ist das Kind zudem souverän. Gewiss, man muss die Metapher vom Kind nicht überstrapazieren, denn für gewöhnlich ist der langanhaltende Wille des sprunghaften Kindes Sache nicht. Zweifelsfrei fest steht hingegen, dass man Nietzsches Philosopheme, Metaphern, Konzeptionen oder einfach: Hoffnungen vom Kind, vom Übermenschen und souveränen Individuum zusammendenken muss, wenn man verstehen will, wie er Herr werden will über den Nihilismus. Doch dazu später. Was an dieser Stelle der Untersuchung noch einmal festgehalten werden muss, ist, dass es sich im Fall des souveränen Individuums um ein autonomes Individuum handelt, das willens und fähig ist, ein Leben der Selbstgesetzgebung zu führen, und zwar ein solches, das mit den Autonomiekonzepten der bisherigen Moralgeschichte, wie etwa dem kantischen, wenig bis nichts zu tun hat. Während

Von der Umwertung der Werte durch den asketischen Priester   

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Kant Autonomie nämlich als freiwillige Unterstellung unter das allgemeinverbindliche, weil universale Sittengesetz versteht,³⁶⁰ denkt Nietzsche sie radikal individualistisch: Es ist eine Autonomie extrem individualistischen Zuschnitts, die Nietzsche als Endprodukt der Moralgeschichte für möglich hält (…). Gott oder zweckgerichtete Natur, Sitte und Institution haben ihre Rolle als Fundament der Natur ausgespielt. Übrig bleibt der Einzelne, welcher souverän im Reich seiner Moral geworden ist. (Ottmann 1999, 212f.)

Soweit vorerst zu Nietzsches Hoffnung. Zum Abschluss dieses Kapitels will ich mich aber noch einmal Nietzsches „Hauptgegner“ der Genealogie zuwenden. Ich will mich, richtiger gesagt, ein weiteres Mal des asketischen Ideals bedienen, um mit dessen Hilfe eine Überleitung zum nächsten Kapitel zu schaffen. Dabei greife ich außerdem auf einen Gedanken Marco Brusottis zurück. Auf die naheliegende Frage, warum Nietzsche, obschon er zunächst von asketischen Idealen im Plural gesprochen hat, schließlich nur noch von dem einen asketischen Ideal im Singular spricht, antwortet Brusotti, dass der Singular es Nietzsche erlaube, das asketische Ideal als eine Art Ariadnefaden zu benutzen, vermittels dessen er eine gewisse Einheitlichkeit in seine bekanntlich nicht allein auf die Genealogie der Moral beschränkten genealogischen Überlegungen zu bringen vermag: Das asketische Ideal ist der rote Faden, der sich bei allen von Nietzsche hervorgehobenen Diskontinuitäten durch die Geschichte der Metaphysik und der christlichen Moral zieht. Die Annahme eines asketischen Ideals erlaubt dem Philosophen, die zweitausendjährige Geschichte der christlichen Moral als eine einheitliche Geschichte zu erzählen, die in dem welthistorischen Gegensatz zwischen jenem Ideal und einem „Gegen-ideal“ gipfelt, Nietzsches eigenem. (Brusotti 2001, 110)

Es sei dem hinzugefügt: Es ist dies die Geschichte des europäischen Nihilismus, die sich am Leitfaden des asketischen Ideals sogar noch weiter zurückverfolgen lässt, mindestens bis hin zu Sokrates, der sich das asketische Ideal, wie gesehen, als Arznei wider die Anarchie seiner Triebe verschrieben hatte, die sich ohne erhebliche asketische Bemühungen nicht hätten bändigen lassen. Es ist eine Geschichte, deren Erzählung Nietzsche bereits mit der Geburt der Tragödie beginnt. Durch seine weiteren Werke schreibt er die Erzählung fort, ergänzt und vervollständigt sie durch immer weitere Kapitel; zuletzt noch in Der Antichrist, welchem Buch ich mich im unmittelbar Folgenden vornehmlich widmen möchte. Der Antichrist scheint in vielen Punkten eine Art Fortsetzung der Genealogie der Moral zu sein, indem er vieles, was Nietzsche dort berührt hat, weiter ausführt. Es handelt sich im Grunde um eine Genealogie des 360 „Der Kantische Gesetzgeber war nicht Herr seiner selbst, sondern Knecht seines moralischen Gesetzes, in dem die Vernunft die Sinnlichkeit tyrannisierte. Für Nietzsche kommt der unerhört individualistische Gedanke hinzu, daß sich das ‚moralische Gesetz in mir‘ im Sinne Kants nicht mehr als ein universales deuten und als ‚Gesetz der Natur‘ oder Sache der Menschheit formulieren läßt“ (Ottmann 1999, 213).

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Christentums, die es als die Religion eines Priesters, Paulus (jetzt geht es also nicht mehr allein um einen Typus, sondern um eine konkrete Person), darstellt, der durch eine raffinierte Umdeutung der originären Lehre Jesu eine Weltreligion begründet und dabei seinen Willen zur Macht durchgesetzt hat. Zudem zerrt Der Antichrist noch einmal die nihilistische Seite des Christentums ins grelle Licht der Kritik.

5.4 Nietzsches Jesus gegen Nietzsches Paulus oder: das Christentum als Priesterglaube Für Nietzsche stellt der asketische Priestertypus ein überzeitliches und globales Phänomen dar. Zunächst, bei der Einführung dieses Typus in GM I 6, scheint Nietzsche die priesterlichen Kasten alter Hochkulturen im Sinn zu haben. Sodann ist es ihm vornehmlich um den jüdischen und den christlichen Priestertypus zu tun. Allgemein lassen sich überhaupt alle sinnesfeindlichen Asketen unter den Sammelbegriff „asketischer Priester“ rubrizieren, aber auch deren Fürsprecher, seien sie nun Politiker, Philosophen oder auch Künstler, können ohne Weiteres gleich mit unter die Fittiche dieser Bezeichnung genommen werden.³⁶¹ So vielgestaltig die einzelnen Ausformungen des asketischen Priestertypus auch sein mögen, einig wissen sie sich allesamt, wenn es um die Taxierung des Daseins geht:³⁶² Sie alle werten es zugunsten eines höheren jenseitigen Seins ab. Insofern ist die Daseins- und Diesseitsbewertung des asketischen Priestertypus nihilistisch. Die asketischen Priester jeglicher Couleur haben die Regierungszeit des asketischen Ideals je auf ihre Weise teils angestoßen und auf den Weg gebracht, teils erhalten oder ausgebaut und, wie ich am Beispiel der Wissenschaft noch zeigen werde, klandestin und ohne es selber zu wissen, weitergeführt. Am mächtigsten und zugleich auch lebensfeindlichsten und so gesehen nihilistischten hat das asketische Ideal unterdessen im Christentum gewirkt. In Der Antichrist denkt Nietzsche sich zurück an die Anfänge des zur Weltreligion aufgestiegenen Christentums, um aufzudecken, dass bereits dessen Geburt auf eine Mischung aus Unverständnis und Lüge gebaut ist, weil es mit der Lehre seines Namensgebers Jesus Christus nur insofern zu tun hat, als das Christentum eine ins Gegenteil umge-

361 Wenn das Gewicht des Wortes eines Priesters, wie etwa das der Priester einer alten Hochkultur oder aber auch des Christentums, auf einen Gott zurückgeführt wird, auf eine höhere, unfassbare und unangreifbare Macht sonach, und der Priester als das Medium dieses Gottes begriffen wird und folgerichtig eine vermittelnde Zwischenposition zwischen Gott und den Menschen einnimmt, dann besitzt der Priester – sofern ihm das Wort nicht tatsächlich von Gott mitgeteilt wurde – „das Monopol der Sinngebung“. Priester sind nun in Nietzsches Augen alle – und somit nicht nur die Vertreter einer Religion –, „die sich zum Vertreter und Vermittler eines Übergreifenden und sich damit selbst unentbehrlich zu machen verstehen“ (Stegmaier 1994, 107). 362 Nietzsche vermutet gar, dass „[v]on einem fernen Gestirn aus gelesen (…) die Majuskel-Schrift unsres Erden-Daseins zu dem Schluss verführen[könnte], die Erde sei der eigentlich asketische Stern“(GM III 11; KSA 5, 362).

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schlagene Verfälschung derselben darstellt. Die Schlüsselrolle bei diesem Verfälschungsvorgang kommt nun vor allem einem ganz bestimmten Priester, nämlich Paulus, zu. Für Nietzsche ist Paulus der erste Christ gewesen (vgl. M 68). In ihm, dem „grösste[n] aller Apostel der Rache“ (AC 45; KSA 6, 223) – genauso gut könnte man sagen: Apostel des Ressentiments³⁶³  –, erreicht das ingeniöse Ressentiment seinen Maximalzustand. Es ist Paulus als „der Fleisch-, der Genie-gewordne TschandalaHass gegen Rom, gegen ‚die Welt‘“ (AC 58; KSA 6, 246), in dem das Ressentiment in ungeahntem Maße schöpferisch wird. Seinen in machtpolitischer Perspektive großen Coup feiert der Rache- und Heidenapostel, indem er sich zum Verkünder des Evangeliums nicht nur an die jüdischen Gemeinden, sondern auch an die Heiden macht: Was er errieht, das war, wie man mit Hülfe der kleinen sektirerischen Christen-Bewegung abseits des Judenthums einen „Weltenbrand“ entzünden könne, wie man mit dem Symbol „Gott am Kreuze“ alles Unten-Liegende, alles Heimlich-Aufrührerische, die ganze Erbschaft anarchistischer Umtriebe im Reich, zu einer ungeheuren Macht aufsummiren könne. „Das Heil kommt von den Juden“. – Das Christenthum als Formel, um die unterirdischen Culte aller Art, die des Osiris, der grossen Mutter, des Mithras zum Beispiel, zu überbieten – u n d zu summiren: in dieser Einsicht besteht das Genie des Paulus. (AC 58; KSA 6, 246f.)

Kurz: Paulus hat es verstanden, die Sklaven allerorts unter dem Symbol des Kreuzes zu versammeln und diese gebündelte Ohnmacht de facto in eine Macht zu verwandeln. Die heilsgeschichtliche Position der Juden, der Bund Gottes mit dem auserwählten Volk Israel, erfährt bei ihm eine Öffnung.³⁶⁴ Das Heil ist nun potenziell allen Menschen zugänglich, egal welchem Volk sie auch angehören mögen, solange sie nur an Jesus Christus als den eingeborenen Sohn Gottes glauben. Paulus will keine Volks-, sondern eine Glaubensgemeinschaft, und das aus gutem Grund: Ihm liegt, das ist jedenfalls die Meinung Nietzsches, weit mehr an (politischer) Macht als an seinem Gott. Er begehrt auf gegen die größte Macht seiner Zeit: das Imperium Romanum. Wer aber derart mächtige Feinde hat – und in der Wahl seines Feindes spricht sich aus, 363 „Rache“ und „Ressentiment“ sind zwei für Nietzsches Philosophie entscheidende Begriffe, zwischen denen er nicht immer klar unterscheidet. Vielmehr gebraucht er sie meistens synonym. Wenn er z. B. im Zarathustra von Rache spricht, dann hat er bereits im Sinn, was er später in der Genealogie unter der Bezeichnung „Ressentiment“ genauer in Augenschein nehmen wird. Im Antichrist, d. h. nachdem er das Ressentiment als Phänomen eingehend untersucht hat, spricht Nietzsche hinwiederum vermehrt von Rache und meint damit zumeist das Ressentiment. Zum Problem der Rache (als Ressentiment gegen die Zeitlichkeit) in Also sprach Zarathustra vgl. Kapitel VIII.2. 364 „Das christliche Leben, wie es als Ideal dem Paulus vorschwebt und von ihm gepredigt wird, ist das jüdische Leben, nicht vielleicht das der herrschenden Familien, aber das der kleinen Leute, namentlich der in der Diaspora lebenden Juden. Es ist erlebt, gesehn, aus dem Verehrtesten und Geliebtesten heraus – dieses Ideal: es ist erkannt als vorbildlich für Menschen anderer Rasse, vorausgesetzt, daß sie unter ähnlichen Bedingungen leben. Dies ist die That des Paulus: er erkannte die Anwendbarkeit des jüdischen Privatlebens auf das Privatleben der kleinen Leute von Überall. Vom Judenthum her wußte er, wie eine Art Mensch sich durchsetzt, ohne die Macht zu haben und ohne auch nur die Absicht auf Macht haben zu dürfen“ (NL 1885–1887, KSA 12, 10[92], 508f.).

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dass es Paulus ums Ganze geht; sein Wille zur Macht sucht sich den größtmöglichen Gegenwillen –, ist auf Verbündete angewiesen. Und wer seine Macht auf das Ressentiment stützt, der muss, salopp gesprochen, nach dem „Masse-statt-Klasse-Prinzip“ verfahren, ist das Ressentiment doch das Charakteristikum der Schlechtweggekommenen. Aus diesen Gründen rekrutiert Paulus so viele Menschen wie nur möglich, wobei er auf ein altbewährtes Lockmittel setzt: Er ködert die Menschen mit einem Heilsversprechen, hinter dem man leicht das ewige Lied vom Wunsch nach der Erlösung vom Leid erkennt. Dabei geht er höchst absichtsvoll zu Werke: Jesus und Gott Vater sind ihm nur Mittel zum Zweck, um diejenigen einzufangen,³⁶⁵ die leichtgläubig sind, weil sie einen Glauben nötig haben und also nur allzu gerne nach dem „letzten Strohhalm“ des sich hinter der Religion verbergenden Willens zum Nichts greifen. Anders als seine Gefolgschaft glaubt Paulus selbst in Nietzsches Darstellung nicht: „Was er selbst nicht glaubte, die Idioten, unter die er s eine Lehre warf, glaubten es. – S e i n Bedürfniss war die Macht (… )“ (AC 42; KSA 6, 216). Nietzsche bezichtigt Paulus der Lüge. Da ist einmal seine Unwahrhaftigkeit: Paulus gibt vor zu glauben, ohne es in Wirklichkeit zu tun. Und zum Zweiten entwirft er gar ein ganzes Lügenkonstrukt, nämlich die paulinische Theologie, in deren Zentrum Jesus Christus steht;³⁶⁶ freilich ein zurechtgemachter Christus, ein Christus, nicht wie er wirklich war, sondern wie Paulus ihn brauchen kann: als Messias und Sohn Gottes. Nun hat Nietzsche in der Genealogie expressis verbis erklärt, das Ressentiment sei nicht fähig, eigene Werte zu setzen, so dass es, wenn es denn schöpferisch werden wolle, darauf angewiesen sei, auf bereits bestehende Werte zu rekurrieren, indem es diese negiert bzw., wie bei den Wertepaaren gut/schlecht und gut/böse, einfach umkehrt. Das Ressentiment ist, wenn man so will, nicht dazu in der Lage zu werten, sondern nur umzuwerten. Wenn Paulus also tatsächlich der Priester des Ressentiments sein soll, als welchen Nietzsche ihn im Antichrist darstellt, dann muss seine Theologie im Sinne der Genealogie reaktiv sein – und ebendas ist, wenn man Nietzsche glauben darf, auch der Fall. Paulus habe nämlich schlicht eine Umwertung vorgenommen. Er habe, so der Kern von Nietzsches Lügenvorwurf, „einfach das Schwergewicht jenes[Jesu – E.B.] ganzen Daseins hinter dies Dasein,  – in die Lüge vom ‚wiederauferstandenen‘ Jesus“ (AC 42; KSA  6, 216) verlegt. D. h.: Paulus legt das Schwergewicht von Jesu Leben auf dessen qualvolles Ende und auf die angebliche Auferstehung des vermeintlichen Sohnes Gottes (vgl. 1. Kor 15). Er stilisiert das Dasein Jesu zu einem auf den Tod als Vollendungsmoment 365 Man könnte in Anlehnung der bekannten biblischen Metapher von Simon Petrus als dem „Menschenfischer“ (vgl. Lk 5,1–11) Nietzsches Paulus als einen „machtpolitischen Menschenfischer“ bezeichnen. 366 Dabei baut Paulus auf die auf schlichtem Unverständnis beruhende Verfälschung der Lehre und des Lebens Jesu – die für Nietzsche zusammenfallen – durch Jesu Jünger auf – worauf ich noch zu sprechen komme: „Die Evangelien sind unschätzbar als Zeugniss für die bereits unaufhaltsame Corruption innerh alb der ersten Gemeinde. Was Paulus später mit dem Logiker-Cynismus eines Rabbiners zu Ende führte, war trotzdem bloss der Verfalls-Prozess, der mit dem Tode des Erlösers begann“ (AC 44; KSA 6, 218).

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hin zentrierten Leben. Der vollendende Tod bringt die Erlösung, und zwar nicht nur die des Sterbenden selbst von seiner namenlosen Pein am Kreuz, sondern die aller Menschen, sofern sie glauben, d. h. sofern sie bereit sind, in die Gemeinschaft der Gläubigen einzutreten, wodurch deren Macht wächst. Der Tod Jesu wird somit zum feierlichen Ereignis, zu einem Opferfest. Dabei halte man sich vor Augen: Die Rede ist von einem Tod, der unter furchtbaren physischen und psychischen Qualen erfolgt, und das nicht erst, wenn Jesus ans Kreuz geschlagen wird, sondern bereits, wenn er seinen Aufstieg nach Golgotha beginnt: gebeugt unter der Last des Kreuzes, an dem er seinen Tod finden wird und das er selber tragen muss, gedemütigt durch die Dornenkrone, die man ihm als dem vermeintlichen König der Juden aufgesetzt hat. Golgotha, der Ort, an dem das Dasein Jesu seine alle Menschen angehende Erfüllung findet, ist, wie man den griechischen Bibeltext übersetzen kann, der Ort der Gebeine³⁶⁷ und eben als ein solcher, als eine Schädelstätte, erscheint das Diesseits im Licht der paulinischen Theologie. Aber zum Glück gibt es da noch das Jenseits, jenen ganz anderen Ort, um dessentwillen sich die Mühsal des Daseins aushalten lässt, und Jesus ist, gottlob, der Türöffner zu diesem besseren Sein. Um nichts anderes aber als um dieses Dort-Sein geht es letztlich im als Hier-Sein verstandenen Da-Sein; wegen des DortSeins ist Jesus überhaupt ins Da gekommen. Und obschon am Ende dieses auf einen grauenvollen Tod zulaufenden Lebens die Erlösung steht, kann Nietzsche die Lehre Pauli als schlimme oder unfrohe Botschaft, nicht als Evangelium, sondern als Dysangelium (vgl. AC 42; KSA 6, 216) begreifen, denn sie lässt unser Hier und Jetzt als Schreckensstätte erscheinen, als einen Ort, von dem man möglichst bald fortkommen will. Um Nietzsches Vorwurf an die Adresse des Paulus vollständig erfassen zu können, muss man „seinen“ Paulus neben „seinen“ Jesus stellen. Erst mit Jesus als Kontrastfolie erkennt man die paulinische Theologie als die Umdeutung, die pervertierte Christologie, die sie in Nietzsches Augen ist. Außerdem wird dann offenbar, dass das Christentum in seiner durch die Kirche ausgeformten und tradierten Gestalt gar nichts mit Jesus zu tun hat, außer, dass es gerade aus der negativen Spiegelung seiner Lehre – die, wie noch deutlich werden wird, keine Lehre im landläufigen Sinne ist – durch Paulus sowie durch einer Reihe von Missverständnissen durch Jesu Jünger und Interpreten hervorgegangen ist. So will es wenigstens Nietzsche, der Antichrist, der in dieser Perspektive „vor allen Dingen[als] ein Antipaulinist“ (Sommer 2000, 389)³⁶⁸ erscheint. Um diesen fürwahr vernichtenden Vorwürfen Nachdruck zu ver367 Joh 19,17, spricht von der „Schädelhöhe“. 368 Andreas Urs Sommer betont in seinem äußerst umfangreichen und akribisch gearbeiteten Kommentar zu Der Antichrist, dass Nietzsche „mit derselben Ausschließlichkeit wie Paulus die einzig richtige Interpretation des Nazareners zu geben antritt“ (Sommer 2000, 389). Dabei sei zu bedenken, „dass Nietzsches eigenes Jesusbild ebenso unbewiesen ist wie das paulinische, das immerhin den Vorteil hat, zeitlich näher am Ursprung des Christentums zu liegen“ (Sommer 2000, 388). Bei alledem dürfe indes nicht übersehen werden, betont Stegmaier 1992, 354, dass es Nietzsche ganz gewiss „nicht auf historische Wahrheiten über Jesus von Nazareth an[kommt], von denen schon damals kaum eine in Geltung blieb“, sondern dass sich Nietzsche an einer auf psychologischer Einfühlung basierenden

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leihen, um sie überhaupt plausibel zu machen, entwickelt Nietzsche, indem er sich in den Evangelien auf die Suche nach dem Menschen Jesus von Nazareth begibt,³⁶⁹ seine „Psych o l og i e d e s E r l ö s e r s “ (AC 28; KSA  6, 198), sein höchst ambivalentes und höchst spekulatives, aber auch höchst interessantes Jesus-Bild, über das sich ein ganzes Buch schreiben ließe.³⁷⁰ Mein Anspruch ist freilich bescheidener. Mir geht es, wie gesagt, vornehmlich darum, Nietzsches Jesus im Antichrist³⁷¹ gleichsam als Kontrastmittel einzusetzen, um das nihilistische Fälschungsgebilde zumal aber nicht ausschließlich des Paulus anschaulich zu machen. Generell ist die christliche Theologie für Nietzsche ein nihilistisches Lügenkonstrukt, und zwar gerade dann, wenn sie die Gestalt einer Christologie und Soteriologie annimmt. Zwar ist gemäß Nietzsches Urteil auch Jesus ein décadent, wenn auch der „interessanteste[] décadent“ (AC 31; KSA  6, 202), wie Nietzsche durchaus anerkennend bekennt. Aber mit dem Ressentiment im Charakter Jesu hat es sein besonderes Bewenden. Hier verhält es sich nicht so einfach, wie beim offenkundig durch das Ressentiment geleiteten Priester. Prima facie könnte man sogar geneigt sein zu glauben, die Suche nach Ressentiment in Jesus’ Charakter müsse vergeblich sein, weil es für Nietzsches Jesus schlechterdings nicht möglich ist, Ressentiment überhaupt zu ent-

Theorie des Typus Jesus versucht, die er in einer Nachlass-Notiz (Meine Theorie vom Typus Jesu (NL 1887–1889, KSA 13, 11[378])) ausdrücklich als seine eigene Theorie deklariert. Dem entspricht auch die Darstellungsart des Typus Jesus in Der Antichrist, insofern diese psychologische Rekonstruktion des Typus Jesus, wie Detering 2010, 66, betont, „zunehmend weniger an eine bibel- und philologiekritische Analyse denken[lässt] als an einen im engeren Sinne erzählerischen Text“ (Detering). 369 „Was mi ch angeht, ist der psychologische Typus des Erlösers. Derselbe kö n n te ja in den Evangelien enthalten sein trotz den Evangelien, wie sehr auch immer verstümmelt oder mit fremden Zügen überladen: wie der des Franciscus von Assisi in seinen Legenden erhalten ist trotz seinen Legenden. Nicht die Wahrheit darüber, was er gethan, was er gesagt, wie er eigentlich gestorben ist: sondern die Frage, ob sein Typus überhaupt noch vorstellbar, ob er ‚überliefert‘ ist“ (AC 29; KSA 6, 199)? Die Aufdeckung der Psychologie des Erlösers ist ein äußerst schwieriges Unterfangen, wie Nietzsche freimütig bekennt, ein Unternehmen, bei dem zudem die wissenschaftlich kritische Methode versage: „Ich bekenne, dass ich wenige Bücher mit solchen Schwierigkeiten lese wie die Evangelien. Diese Schwierigkeiten sind andre, als die, an deren Nachweis die gelehrte Neugierde des deutschen Geistes einen ihrer unvergesslichsten Triumphe gefeiert hat. Die Zeit ist fern, wo auch ich, gleich jedem jungen Gelehrten, mit der klugen Langsamkeit eines raffinirten Philologen das Werk des unvergleichlichen Strauss auskostete. Damals war ich zwanzig Jahr alt: jetzt bin ich zu ernst dafür. Was gehen mich die Widersprüche der ‚Überlieferung‘ an? Wie kann man Heiligen-Legenden überhaupt ‚Überlieferung‘ nennen! Die Geschichten von Heiligen sind die zweideutigste Litteratur, die es überhaupt giebt: auf sie die wissenschaftliche Methode anwenden, wen n s on s t ke i n e Ur ku n d e n vo r l i e ge n , scheint mir von vornherein verurtheilt – blosser gelehrter Müssiggang…“ (AC 28; KSA 6, 199). 370 Tatsächlich liegt ein solches Buch mit Willers 1988 auch vor, wobei Willers sich nicht allein auf die Psychologie des Erlösers im Antichrist bezieht, sondern Jesus in Nietzsches Gesamtwerk nachspürt, das er als eine „anitchristliche Christologie“ auszulegen bemüht ist. 371 Der Antichrist bildet freilich nur „[d]en Schlußpunkt seiner Jesus-Deutung“ (Willers 1988, 23), und sogar innerhalb des Antichrist verändert sich das Jesus-Bild Nietzsches, wie Detering 2010 gezeigt hat.

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wickeln, jedenfalls sofern es um die Art von Ressentiment geht, die Nietzsche in der Genealogie beschreibt. Das Typische am Typus Jesu sei nämlich dessen „Ins tinktAusschliessung aller Abneigung, aller Feindschaft , aller Grenzen und D i s t a n z e n i m G e f ü h l“ (AC 30; KSA 6, 200f.), die Nietzsche, der jetzt nicht mehr nur als Psychologe, sondern auch als Physiologe spricht, als die Folge „einer extremen Leid- und Reizfähigkeit“³⁷² begreift, „welche jedes Widerstreben, Widerstreben-Müssen bereits als unerträgliche Unlu st (das heisst als schädlich, als vom Selbsterhaltungs-Instinkte wi derr at hen) empfindet“. Sonach bleibe für Jesus nur „die Liebe als einzige, als le t zte Lebensmöglichkeit“. Nietzsche entdeckt in Jesus gewissermaßen einen Hedonisten der Liebe. Dessen „Erlösungs-Lehre“ – wonach die „Seligkeit (die Lust)“ in der Widerstandslosigkeit bestehe, darin, „nicht mehr, Niemandem mehr, weder dem Übel, noch dem Bösen, Widerstand zu leisten“ – sei „eine sublime WeiterEntwicklung des Hedonismus auf durchaus morbider Grundlage“. D. h. wie schon für den großen griechischen Hedonisten Epikur, in dem Nietzsche einen „typische[n] d é c ad e n t “ erkennt und damit einen, wenn auch vitaleren, Verwandten Jesu, scheint auch für Jesus Lust die Abwesenheit von Unlust bzw. von Schmerz zu sein, so dass im Leben vor allem eines gilt: dem Schmerz auszuweichen, wozu die Nächstenliebe der Schlüssel sein soll. Nietzsche folgert also: „– Die Furcht vor Schmerz, selbst vor dem Unendlich-Kleinen im Schmerz – sie kann gar nicht anders enden als in einer Relig i o n d e r Li e b e …“ (AC 30; KSA 6, 201). Am Grund dieser Liebe erblickt Nietzsche

372 Nietzsche verortet diese extreme Reizbarkeit im Bereich des Pathologischen. Statt, wie Renan, Jesus als ein Genie oder einen Helden zu bezeichnen, müsse man, „[m]it der Strenge des Physiologen gesprochen“, für Jesus das Wort „Idiot“ gebrauchen (AC 29; KSA 6, 200). Hoffmann 2000, 256, weist darauf hin, dass Nietzsche das „Wort Idiot (…) in den wenigen frühen Erwähnungen stets im negativen Sinn für geisteskrank, stumpfsinnig, dumm“ gebrauche. Ab 1880 „setzt N[ietzsche] nun aber die schillernde Konnotation zum Fürsten Myschkin ein, dem Helden von Dostojewskis Roman Der Idiot“, welcher „als Typus des russischen Christus (…) hochsensibel, ohne Fähigkeit zum Bösen oder auch nur zu irgendwelcher Unehrlichkeit“ ist. Im Kontext von Nietzsches Erörterungen zum Typus Jesus gehe es Nietzsche, so Hoffmann, vor allem „um eine differenzierte psychologisch-physiologische Würdigung des Typus des Erlösers im Sinne Dostojewskis“. Unterdessen ist es nicht gesichert, ob Nietzsche, der ganz bestimmt Dostojewskis Dämonen sowie die Aufzeichnungen aus einem toten Hause kannte, vor seinem geistigen Zusammenbruch auch noch Der Idiot gelesen hat. Immerhin sei es, so Pfeuffer 2008, 145, „höchstwahrscheinlich“, dass Nietzsche „den Roman zumindest in Grundzügen“ kannte (vgl. auch Kaufmann 1988, 396f. Anm.). (Eine genaue Auflistung der Werke Dostojewskis, die Nietzsche definitiv gekannt hat, bietet Havemann 2002, 166f.) Konzentriert man sich hinsichtlich der Frage, was Nietzsche mit der Bezeichnung Jesu als Idiot gemeint haben könnte, allerdings allein auf Dostojewski, entgeht einem der etymologische Zugang zum in Rede stehenden Begriff, dessen Betrachtung sich bei einem ehemaligen Altphilologieprofessor natürlich anbietet, insbesondere, wenn das dabei zutage Geförderte so stimmig ist, wie im vorliegenden Fall: Das griechische „idiótês“ diente nämlich, wie Detering 2010, 43, ausführt, ursprünglich als „Bezeichnung des ‚Sich-der-GesellschaftEntziehenden‘ und in diesem Sinne auch des Ungebildeten oder Unverbildeten“. Auch Dibelius 1944, 68, betont die griechische Bedeutung des Wortes. Der Begriff „Idiot“ meine „das Gegenteil des höheren, geistigen Menschen, der unabhängig ist und sich nichts vormacht“. Zu Nietzsches Gebrauch des Terminus „Idiot“ vgl. außerdem Dibelius 1944, 183 und Sommer 2000, 287–290.

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jedoch auch bei Jesus eine Art des Hasses, und zwar einen „Instinkt-Hass gegen jede Realität“ (AC 29; KSA 6, 200). Auch dieser Hass ist, typisch für das Ressentiment, das Resultat einer Schwäche, nämlich von Jesu Ohnmacht gegenüber der Wirklichkeit, die ihn, als Teil ihrer selbst, naturgemäß betrifft, mit der er also nolens volens in Berührung steht, wobei er ebendies, berührt zu werden, nicht erträgt. Jesus ist auf eine hypertrophe und pathologische Art „dünnhäutig“: Dieser Mensch verfügt offenkundig über keine natürliche oder erworbene Resistenz gegen das, was von aussen auf ihn eindringt, gleichsam keine Haut, an der abprallt, was ihn sonst verletzte. Sein „Hass“, der bei einer solchen Disposition unvermeidlich (eben instinktiv) sein muss, verwandelt sich im Gegenteil in eine Praktik des Geschehenlassens, des Nichtwiderstrebens, weil so am wenigsten Schmerz zu gewärtigen ist. (Sommer 2000, 306)

Jesus hält folglich, wenn er geschlagen wird, lieber gleich noch die andere Wange hin, in der Hoffnung, dass damit die Fronten geklärt, d. h. idealiter aufgelöst sind, statt sich zu wehren und damit aller Wahrscheinlichkeit nach in ein Handgemenge, einen Akt gegenseitigen Widerstrebens, verwickelt zu werden – was für Jesus angesichts seiner physischen Disposition eine Katastrophe wäre. Freilich kann eine derart extreme physische Grundverfasstheit nicht ohne Folgen auch für die Psyche des betreffenden Individuums bleiben. Wenn das Widerstreben, das Willen-zur-MachtGeschehen also, für Jesus das zentrale Problem ist, wenn er es physisch kaum auszuhalten vermag, dann muss ihm schon beim alleinigen Gedanken daran angst und bange werden; und tatsächlich spricht Nietzsche ja auch von Jesus’ Furcht vor Schmerz. Was sich in Jesus ausbildet, ist eine Idiosynkrasie gegen jedes „Gegen“. Nicht minder als er die Realität hasst, die als solche das Widerstrebende, das permanente Gegeneinander ist, scheint er sich vor ihr zu ekeln.³⁷³ Dieser Diagnose entspricht seine Reaktion, seine auf die Aufhebung aller Gegensätze zielende Religion bzw. Praktik der Liebe. Wer hasst, der sucht nämlich die Gegensätze geradezu auf, um das Objekt seines Hasses zu zerstören,³⁷⁴ was, wie im Vorfeld gezeigt, nicht zwangsläufig mit offenem Visier geschehen muss, sondern auch durch ein verdecktes Umwertungsgeschehen erfolgen kann. Wer sich hingegen ekelt, der will gerade keine Konfrontation mit dem Objekt seines Widerwillens. An Stelle dessen wird er es, soweit es eben geht, aus seinem Leben herauszuhalten suchen, seine Existenz am besten ausblenden, die Augen davor verschließen und es gleichsam fortträumen und endlich, sollte dies nicht funktionieren, fliehen. Anders – durch einen banalen

373 Wie Kolnai 2007[1929], 11, herausstellt, kann Ekel genauso gut als das Gegenteil von Liebe bezeichnet werden wie Hass: „Liebe und Haß sind lange keine kongruenten Gegensätze mehr; der Konträrgegensatz von Liebe ist Ekel nicht minder als Haß (…).“ 374 Dies bedeutet nicht, wie abermals Aurel Kolnai, der Spezialist für sogenannte „feindliche Gefühle“ betont, dass der Hass „schlechthin an die Vorstellung des Mordes gebunden“ (Kolnai 2007[1935], 105) sein müsse, aber „immerhin kommt dem Hasse unverkennbar eine Intention der Vernichtung zu“ (Kolnai 2007[1935], 104f.).

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und vielleicht etwas saloppen Vergleich  – veranschaulicht: Wer Kakerlaken hasst, der wird am besten Kammerjäger, wer sich indes vor dem Ungeziefer ekelt, der wird keine Reise auf die Kanaren buchen, jedenfalls nicht in ein Hotel mit weniger als vier Sternen. – Zugegeben, nicht selten vermischen sich auch Hass und Ekel, und in einem solchen Fall scheidet die Kammerjäger-Variante aus. Aber so albern das Ungezieferbeispiel auf den ersten Blick auch erscheinen mag, so ist es doch durchaus hilfreich, um das Phänomen des Ekels zu begreifen. Im Gewimmel des Ungeziefers, wie man es etwa bei Maden beobachten kann, drückt sich nämlich eine überbordende Lebensüppigkeit aus, eine „‚übertriebene Darstellung‘, ‚überladene Ausprägung‘, ‚geschwollene Redundanz‘ der Lebendigkeit und Organizität“ (Kolnai 2007[1929], 48), wie sie zumal der physiologische Schwächling Jesus nicht erdulden kann. Gerade in Gestalt der wimmelnden Fülle kann das Leben aufdringlich bis zum Ekel werden – man erinnere sich nur an Sartres Romanhelden Roquetin, der – angesichts der „überschäumenden Fülle“ (Sartre 2003[1938], 145)³⁷⁵ der Existenz meint, ersticken zu müssen.³⁷⁶ Um solcherart aufdringlich zu werden, muss das Leben bei einem Typus wie Jesus nicht einmal wimmeln und in gleichsam überladener Form daherkommen. Weil es Jesus an den natürlichen Schutzmechanismen vor äußeren Einflüssen gebricht, an Abwehrreaktionen, die es dem Durchschnittsmenschen ermöglichen, das andere als das andere, das mehr oder weniger stark Widerstrebende zu nehmen und zu akzeptieren, müssen ihm alle von außen kommenden Einflüsse so aufdringlich erscheinen, wie dem gewöhnlichen Menschen die Lebendigkeit in der überladenen Gewalt des Gewimmels. Er muss die äußeren Einflüsse als etwas empfinden, was ihm gefährlich nahe kommt und sich solchermaßen vor ihnen ekeln, zumal das „elementare Muster des Ekels (…) die Erfahrung einer Nähe[ist], die nicht gewollt wird“. Alles Äußere bedeutet für ihn eine „sich aufdrängende Präsenz“ (Menninghaus 1999,  7).³⁷⁷ Das andere Sein, das nicht er selbst ist, stört und verstört Jesus ganz erheblich.³⁷⁸

375 Es ist hier allerdings nicht allein das Lebendige, das Roquetin zu viel wird, sondern die gewissermaßen toten Dinge. Diese ekeln ihn jedoch, und das ist entscheidend, insofern sie „sich den Anschein von Lebendigkeit geben“ (Liessmann 1997, 106). Letztlich ist es so, dass die toten Dinge uns ekeln, wenn sie uns wie etwas Lebendiges berühren. Und die wimmelnde Fülle des Lebens, wie sie im Gewürm anschaulich wird, ekelt uns, indem sie in der Üppigkeit ihrer Lebendigkeit an den Tod erinnert: „Es geht hier nicht um Vereinigung und feste Bindung, sondern um ein hemmungsloses Mit- und Durcheinander, dessen Kehrseite Zerfall, Zerstauben, universelle Gleichgültigkeit sind (Gewimmel). Der vollen Intention nach ist es Tod und nicht Leben, was sich uns im Phänomen des Ekelhaften ankündigt“ (Kolnai 2007[1929], 49). 376 „(…) ich ersticke: die Existenz dringt von überall her in mich ein, durch die Augen, durch die Nase, durch den Mund“ (Sartre 2003[1938], 144). 377 So auch Liessmann 1997, 103; 108: „Ekel hat mit Nähe zu tun, man ist versucht zu sagen, Ekel hat überhaupt nur mit aufgezwungener Nähe zu tun (…); „Alles, was sich primär an Ekelerregendem anbietet (…), ist durch ein Prinzip charakterisiert: Intimität, wo keine Intimität sein soll. 378 „Ekel ist ein spezifisches Gefühl der Störung. Eigenes Dasein wird durch fremdes, aber an sich wenig bedeutendes Sein irritiert“ (Liessmann 1997, 107). Tatsächlich ist für Jesus, den Nächstenliebenden par excellence, wenigstens so wie Nietzsche ihn darstellt, das andere Sein, mithin der Nächs-

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Nun stellt sich die Frage, wie ein solcher Mensch überhaupt überleben können soll. Das Problem besteht ja darin, dass er anders als derjenige, der sich vor Kakerlaken ekelt, nicht einfach zuhause bleiben oder seinen Urlaub in Regionen buchen kann, die dem Ungeziefer nicht behagen. Denn sein Ekel oder sein instinktiver Hass gilt dem Leben selbst, wenn anders er sich gegen die Dynamik des sich aus dem Kampf der Gegensätze speisenden Lebens richtet. Wenn er trotz alledem nicht sogleich wieder aus dem Leben scheiden will, wie es der weise Silen König Midas und überhaupt allen Menschen empfiehlt, muss er also ein Leben führen, das die Grunddynamik des Lebens maximal ausblendet. Er muss folgerichtig ein Leben der Gegensatzlosigkeit führen. Wenn auch der Hass durchaus eine Rolle in Nietzsches Erlöser-Psychologie spielt, kann Jesus es unmöglich beim Hass belassen. Mag Jesus auch, genauso wie die Sklaven und Priester, den mitunter Hinterwelten bildenden Wunsch nach dem Anderswo verkörpern, mag auch ihm also das Diesseits im Grunde unbehaglich sein, so bleibt ihm der Weg des Ressentiments als Umgangsmöglichkeit mit dieser Unbehaglichkeit doch versperrt. Der Weg der Rache mag für die anderen Schlechtweggekommenen die Via regia darstellen – für Jesus unterdessen ist er nicht gangbar, denn ein durch das Ressentiment bestimmtes Leben steht im Zeichen des Gegensatzes, d. h. gerade dessen, woran der Erlöser leidet. Dementsprechend wählt er (freilich nicht bewusst, sondern unbewusst bzw. instinktiv) den diametral entgegengesetzten Weg: Statt auf den Hass setzt Jesus alles auf die Liebe. Jesus ist dazu gezwungen, den Hass bzw. Ekel in Liebe zu transformieren, eine Liebe, die so radikal ist, dass sie keine Gegensätze mehr kennt. Ist die zu große Nähe für Jesus ein Problem, so wird er Herr über dieses Problem, nicht etwa dadurch, dass er auf Distanz geht und den Abstand zu dem Gegenstand, der ihn jeweils bedrängt, erweitert, sondern indem er im Inneren, d. h. im Gefühl, alle Grenzen negiert, so dass jeder Gegensatz aufgehoben wird. Der sich radikal nach innen kehrende Jesus öffnet sich mithin, so paradox es auch klingen mag, im selben Akt nicht minder radikal auch nach außen: Die vollkommene Wendung nach innen ist die vollkommene Wendung nach außen, die absolute Reserviertheit ist die rückhaltlose Hingebung, die völlige Entrücktheit aus dem Leben das völlige Einssein mit ihm. (Türcke 1989, 157)

Damit ist der Erlöser aber nicht nur vom physiologischen Standpunkt aus betrachtet ein décadent,³⁷⁹ sondern auch in praktischer Hinsicht. Insofern nämlich das Leben

te, als das Individuum, das er ist, wenig bedeutend. Die Nächstenliebe will einzig das Moment des Fremden aufheben. Dies ist der Grund, weswegen sie liebt. Keineswegs wird der andere um seinetwillen geliebt. Vielmehr wird das, was den anderen als eine bestimmte Person ausmacht, in der Liebe aufgehoben, damit es nicht mehr widerstreben kann. 379 Für Nietzsche ist Jesus einem klinischen Fall vergleichbar, wie er „wenigstens den Physiologen vertraut“ sei nämlich als „Fall der verzögerten und im Organismus unausgebildeten Pubertät als Folgeerscheinung der Degenerescenz“ (AC 32; KSA 6, 203). Ich sage „vergleichbar“, weil Nietzsche nicht explizit behauptet, bei Jesus handele es sich genau um diesen Fall. Womöglich will er, indem er auf

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nun einmal wesensgemäß widersprüchlich ist und diese Widersprüche konstitutiv für seinen Progress sind, bedeutet die von Jesus praktizierte innerliche Aufhebung des Gegensätzlichen nicht nur eine Realitätsflucht, sondern schlichtweg eine Realitätsverneinung,³⁸⁰ wenngleich dieses Nein keineswegs als das Ergebnis einer bewussten Negation verstanden werden darf, wozu Jesus gar nicht in der Lage wäre, sondern abermals rein instinktiv erfolgt. Es handelt sich nicht um ein sich bewusst absetzendes, sondern um ein praktisches Nein: D. h. indem Jesus eben lebt, wie er lebt, nämlich widerstandslos, sagt er unbewusst nein. Man könnte diesen Vorgang auch so fassen: Jesus ist ein Verweigerer des Willens zur Macht, jenes Willens der „sucht nach dem, was ihm widersteht“, der sich stets anderes aneignen und einverleiben will, der demnach „vor allem ein Überwältigen-wollen, ein Formen, An- und Umbilden[ist], bis endlich das Überwältigte ganz in die Macht des Angreifers übergegangen ist (…)“ (NL 1885–1887, KSA 12, 9[151], 424). Jesus aber will nichts angreifen und überwältigen, will sich nichts aneignen und einverleiben, er will nicht herrschen, er will nicht einmal dem Bösen widerstehen.³⁸¹ Diese größtmögliche Widerstandslosigkeit ist für Nietzsche das wahre Christentum, das somit keine Lehre ist, unter allen Umständen keine Lehre ist und sein kann, weil eine Lehre immer eine Interpretation ist und damit nachgerade der paradigmatische Ausdruck des Willens zur Macht (vorzüglich dann, wenn es sich um eine religiöse Lehre handelt, die als solche mit einem Absolutheitsanspruch auftritt). Das wahre Christentum ist vielmehr eine Art zu leben und Jesus lehrt schlicht, indem er lebt. Kurz: das wahre Christentum ist eine Praktik³⁸² wissenschaftlich anerkannte Fälle verweist, die zumindest ähnlich gelagert sind, verhindern, dass seine Psychologie des Erlösers, die genau genommen eine Psychophysiologie ist, nicht im Vorhinein als unrealistisch und haltlos spekulativ nicht ernst genommen wird. Auch Detering 2010, 41, macht darauf aufmerksam, dass man „die schwebend-allgemeine Formulierung dieser[den medizinischen Befund betreffenden – E.B.] Sätze“ berücksichtigen müsse: „Die physiologische Diagnose bleibt auf Jesus beziehbar, aber sie lässt sich auch schon als bloßer Vergleich für einen Fall lesen, der eigentlich anders gelagert ist.“ 380 „Wer, wie der Jesus, den Nietzsche vor Augen hat, die Gegensätze, die doch das wahrhaft Reale sein sollen, in seiner Innerlichkeit auflöst, der kann, als Leugner der Realität, gleichwohl doch nur ein décadent sein“ (Müller-Lauter 1971, 86). 381 „Widersteht nicht dem Bösen“ (Mt 5, 39)! Nietzsche erblickt darin „das tiefste Wort der Evangelien“ (AC 29; KSA 6, 200). 382 Ein einziges Mal, in AC 29, verwendet Nietzsche in Bezug auf die Lebensweise Jesu auch den Begriff „Moral“: „[D]ie Unfähigkeit zum Widerstand wird hier Moral“ (KSA 6, 199f.). Ab AC 33 indes verwendet er nur mehr den Ausdruck ‚Praktik‘, welcher Terminus tatsächlich auch besser passt, denn mit einer Moral ist immer ein Anspruch auf allgemeine Geltung verbunden und ebendas kommt für den Typus Jesus nicht in Frage. Wie Havemann 2002, 157, betont, hat die Bezeichnung der Praktik Jesu als Moral Folgen für den Begriff ‚Moral‘: „Er muß nun von dieser Liebe her neu verstanden werden. ‚Moral‘ in diesem Sinne hätte nicht mehr den Charakter einer Forderung, sie würde nicht den Anspruch auf allgemeine Geltung erheben, sondern sie wäre gelebte Lebensmöglichkeit.“ Hätte Nietzsche weiterhin von einer Moral Jesu gehandelt, müsste man sich mit diesen Auswirkungen auf den Begriff der Moral wohl näher auseinandersetzen. So wie die Dinge aber liegen, dürfte wohl der schlichte Hinweis auf Nietzsches Begrifflichkeit genügen.

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und in ebendieser bestehe auch das Vermächtnis Jesu an die Menschheit.³⁸³ Für Jesus liegt in der Praktik seines Lebens der Weg zum Glück, denn nichts anderes sei die „Praxis des Christenthums“ als „ein Mittel, glücklich zu sein“ (NL 1887–1889, KSA 13, 11[365], 162). Was dem Menschen der griechischen Antike als das höchste Ziel des Lebens gilt, ist auch das Ziel Jesu: eudaimos zu sein. Allein Jesus ist, wie gesehen, ein ganz besonderer, im Grunde ein pathologischer Typ, dem weder eine Vita activa noch eine Vita contemplativa eignet. Die liebevolle Versunkenheit in sich selbst, die bereit ist, allem, was von außen kommt, mit einer in dem Sinne anspruchslosen Liebe zu begegnen, dass sie nichts von niemandem verlangt,³⁸⁴ ist die einzige Lebensform, die ihn glücklich werden lassen kann. Jesus ist glücklich in seiner eigenen Welt. Von hier aus ergeht seine frohe Botschaft: Was heisst „frohe Botschaft“? Das wahre Leben, das ewige Leben ist gefunden – es wird nicht verheissen, es ist da, es ist i n e u ch : als Leben in der Liebe, in der Liebe ohne Abzug und Ausschluss, ohne Distanz. Jeder ist das Kind Gottes (…). (AC 29; KSA 6, 200)

Jesus hat seinen inneren Frieden gefunden, den er mit dem Reich Gottes identifiziert, das sonach rein gar nichts von einer metaphysischen Hinterwelt an sich hat. Tatsächlich ist „[d]as ‚Himmelreich‘ (…) ein Zustand des Herzens – nicht Etwas, das ‚über der Erde‘ oder ‚nach dem Tode‘ kommt“ (AC 34; KSA 6, 207). Somit sind auch „[n]icht ‚Busse‘, n i ch t ‚Gebet um Vergebung‘ (…) Wege zu Gott“, sondern „die e va ngelische Pr aktik allein führt zu Gott, sie eben ist ‚Gott‘“ (AC 33; KSA 6, 205f.). Jesu innerer Frieden bleibt auch dann erhalten, wenn der Erlöser leiden muss. Es verhält sich sogar so, dass sich die friedensbringende Praxis des Nichtwiderstehens gerade in Momenten des Leids bewährt: „[I]ch will nichts thun, was den Frieden in mir selbst stört: und wenn ich daran leiden muß, nichts wird mehr mir den Frieden erhalten als Leiden“ (NL 1887–1889, KSA  13, 11[365], 162), formuliert Nietzsche im Nachlass den Satz eines wahren Christen im Sinne der Praktik Jesu. Jetzt erscheint auch das Martyrium Jesu in einem anderen Licht, sein Verhalten am Kreuz: Statt seine Peiniger zu hassen, statt sie zu beschimpfen und zu verfluchen oder an ihr Mitgefühl zu appellieren, statt alledem liebt er sie. Jesus besteht während seiner Kreuzigung die Feuerprobe seiner Praktik. Nicht nur, dass er nicht widersteht, dass er nichts unternimmt, um das Äußerste zu verhindern. Nein, „er forder t es her aus“ (AC 35; KSA  6, 207). Wenn man Nietzsches oben zitiertes Nachlasswort ernst nimmt, dann erreicht, so unverständlich und zweifelhaft es auch aus der Sicht desjenigen anmuten mag, der nicht die gleichen psycho-physischen Voraussetzungen wie Jesus mitbringt, Jesu innerer Frieden im Martyrium einen Maximalzustand. Jesu Kreuzestod zeigt aber auch, dass die Außenwelt sich in letzter Konsequenz nicht um die innere Aufhebung

383 „Die Pr ak tik ist es, welche er den Menschen hinterliess (…)“ (AC 35; KSA 6, 207). 384 Womit sie indes auch den anderen Menschen als Person nicht ernst nimmt, worin man einen weiteren Einwand gegen die vermeintliche Nächstenliebe Jesu sehen kann.

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ihrer Gegensätzlichkeit schert: Wenigstens Jesu äußere Schale – wenn ich so sagen darf  – zerbricht, geht zugrunde an den Gegebenheiten der von ihm eher noch verdrängten als verneinten Realität. Was ihn, der „nur innere Realitäten als Realitäten, als ‚Wahrheit‘ nahm“, nur als „Gelegenheit zu Gleichnissen“ gereichte, nämlich „alles Natürliche, Zeitliche, Räumliche, Historische“ (AC 34; KSA 6, 206) besiegelt auf, wiederum aus der Außenperspektive geurteilt, äußerst tragische Weise sein Ende. Das aber kümmert Jesus nicht, denn ihn interessiert weder das Vergangene noch das Zukünftige, selbst wenn es der höchst zeitnah erfolgende Tod ist. Was für ihn zählt, ist einzig und allein das Hier und Jetzt. Und wer es in diesem Hier und Jetzt schafft, die Praktik des (wahren) Christentums zu leben, der steht über den Dingen, der hat seinen inneren Frieden gemacht und schwimmt gleichsam im seligen Zustand des „Gesammt-Verklärungs-Gefühl aller Dinge (die Seligkeit)“ (AC 34; KSA 6, 207) wie der Säugling im Mutterleib bzw.  – um Nietzsches Vorgabe nicht zu widersprechen, der meint, Jesus habe mit dem Wort „Vater“ ebendieses Verklärungs-Gefühl ausdrücken wollen (vgl. AC 34; KSA 6, 207)³⁸⁵ – fühlt sich geborgen wie das Kind in den Armen des Vaters. „Wenn du dies fühlst“ (AC 35; KSA 6, 208), spricht Nietzsches Jesus zum Schächer am Kreuz – Worte, darin das ganze Evangelium enthalten ist (vgl. AC 35; KSA 6, 207) –, „s o b i s t du im Par adiese, so bist auch du ein Kind Gottes…“ (AC 35; KSA 6, 208). Man beachte das Präsens in den Worten Jesu: Dann bist du im Paradies, sagt der Erlöser, und nicht, dann kommst du ins Paradies. Recht eigentlich ist dieser Jesus also kein Erlöser: Schließlich erlöst er weder andere vom Leiden, noch ist er selbst vom Leiden erlöst; ohne Zweifel nämlich leidet er am Kreuz. Sehr wohl ist er hingegen ein Verklärer: Denn er verklärt dieses Leid wie überhaupt sein ganzes Dasein in einem inneren Frieden, einer Lebenshaltung, die Heinrich Detering zu Recht in die Nähe von Nietzsches Amor fati, jener Formel für eine neue dionysische Liebe zum Dasein, rückt (vgl. Detering 2010, 76). Was Nietzsche eines Tages für sich wollte, nämlich „irgendwann einmal nur noch ein Ja-sagender sein“, der „nicht anklagen“ wolle, „nicht einmal die Ankläger anklagen“ (FW 276; KSA  3, 521),³⁸⁶ ist Jesus unter den schwierigsten Umständen, am Kreuz, geglückt. Freilich, Jesus’ Amor fati ist nicht die Bejahung eines Philosophen, der das Leben durchdacht hat, der ihm, wie Nietzsche, auf den Grund gegangen ist, seinem dionysischen Kern nachgespürt und auf diese Weise den Schleier der Maja, wenn nicht zerrissen, so doch immerhin gelüftet hat. Es ist nicht der Amor fati desjenigen, der nun wild entschlossen ist, das Leben trotzdem, d. h. obschon es ein tragischer Vorgang ist, der seine Geschöpfe unweigerlich leiden macht, ohne alle Abzüge zu lieben. Nietzsches Amor fati hat etwas Zwanghaftes, min-

385 Diese Stelle ist ein gutes Beispiel dafür, wie Jesus’ Sprache die Begriffe ins Gleichnishafte aufhebt, wie diese Begriffe (die eben gar nicht als Begriffe gemeint sind) ursprünglich nichts mit dem zu tun haben, was die christliche Dogmatik im Laufe der Geschichte aus ihnen gemacht hat, d. h. im Falle des Vaters nichts mit einer Trinitätslehre. 386 Ich werde auf diesen Textabschnitt und den Zusammenhang zwischen dem Amor fati und der Verklärung des Daseins noch einmal ausführlich in Kapitel IX.3 zu sprechen kommen.

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destens etwas sehr Angestrengtes; ist das Ideal eines Willens, der nötigenfalls bereit ist, sich zur Liebe zu zwingen. Was in Jesus’ Fall nur natürlich ist, weil es der Natur des Erlösers bzw. Verklärers entspricht (Jesus ist eine „Verklärernatur“ ergo verklärt Jesus die Dinge) gestaltet sich bei Nietzsche als ein komplexer Akt von Selbstüberwindung, insofern die „Zweifler- und Versuchernatur“ Friedrich Nietzsche sich in eine „Verklärernatur“ zu verwandeln bemüht. Er versucht also, sich selbst zu formen bzw. Macht über sich selbst auszuüben. Auch wenn, wie ich noch zeigen werde, die Hypothese des Willens zur Macht durch den Amor fati ein Stück weit in Zweifel gezogen wird, steht das Ideal der Schicksalsliebe noch immer im Bezugsrahmen einer „Machtphilosophie“. Im Unterschied zu Jesus setzt Nietzsche sonach auf Stärke, auf Willensstärke, auf Macht, wodurch er genau auf der Linie liegt, die er als Maßstab für Güte zu Beginn des Antichrist ausgegeben hat: „Was ist gut? – Alles, was das Gefühl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen erhöht.“ (AC 2; KSA 6, 170) Und sein Jesus liegt ebenfalls ganz auf Linie, und zwar auf der des Schlechten, dem Nietzsche zudem das abspricht, was Jesus immerfort gesucht habe, das Glück: Was ist schlecht? – Alles, was aus der Schwäche stammt. Was ist Glück? – Das Gefühl davon, dass die Macht wä ch s t , dass ein Widerstand überwunden wird. Ni ch t Zufriedenheit, sondern mehr Macht; nicht Friede überhaupt, sondern Krieg; nicht Tugend, sondern Tüchtigkeit (…). (AC 2; KSA 6, 170)

Angesichts dieses Maßstabs genügt Jesu Praktik Nietzsches Kriterien für Güte nicht. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass Jesus mit seiner durchaus radikalen Bejahung des Daseins, seiner Freiheit vom Ressentiment (besser: seiner relativen Freiheit vom Ressentiment; relativ eingedenk dessen, dass seine Liebe ursprünglich aus Instinkt-Hass und Ekel hervorgegangen ist), seiner Freiheit auch von Moral (denn er verurteilt nicht) und seinem Verzicht auf jede Transzendenz (das Paradies ist hier und jetzt) Wesensmerkmale aufweist, die auch für das souveräne Individuum und den Übermenschen, wie noch zu sehen sein wird, konstitutiv sind. Was Jesus fehlt, ist unterdessen der Wille zur Macht, der Wille sich selbst eine bestimmte Gestalt zu geben und Werte aktiv zu setzen. Deswegen ist und bleibt er ein décadent und kann auch nicht als Typus fungieren,³⁸⁷ durch den eine Überwindung des Nihilismus möglich wäre. Was aus der Innenperspektive des Erlösers bzw. Verklärers nur die letzte Konsequenz seiner Lebenspraktik darstellt, der Tod am Kreuz, bedeutet, wie Nietzsche im Anschluss an seine Psychologie des Verklärers ausführt, aus der Außenperspektive der Jünger Jesu ein Skandalon sondergleichen. Sie begriffen nicht, dass die Seligkeit bereits in der durch Jesus vorgelebten evangelischen Praktik besteht oder für Jesus

387 Nietzsche betont, dass das wahre Christentum, d. i. die Praktik Jesu, generell jederzeit möglich sei (vgl. AC 39; KSA 6, 211). Es darf allerdings gefragt werden, ob man dafür nicht die gleichen dekadenten physiologischen Bedingtheiten mitbringen müsste wie Jesus.

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bestanden hatte und dass dergestalt „das Ewigkeits-, das Vollendungsgefühl“ (AC 34; KSA 6, 207) im Diesseits, und zwar ausschließlich im Diesseits, zu erlangen ist, was wiederum bedeutet, dass der Tod nicht mehr von diesem Leben in der (sterblichen) Ewigkeit abgetrennt werden kann. Es entzog sich ihrem Verständnis, dass Jesus also starb, obschon er in der Ewigkeit lebte. Die Jünger waren weder fähig noch Willens, diese „paradoxe Verbindung von Tod und Ewigkeit“ (Kouba 2001, 105) auszuhalten. Das schreckliche und jähe Ende ihres Meisters, in dem sie den Messias gesehen hatten, mit dem sie also ganz konkrete nicht zuletzt auch politische Erwartungen verknüpft hatten, in den sie ihre Hoffnungen, allen voran den Wunsch nach dem Ende ihres – nietzscheanisch gefasst – Sklaventums hineingelegt hatten,³⁸⁸ dieses schmähliche Ende konnten sie nicht ohne Weiteres hinnehmen. Mit der enttäuschten Hoffnung stand plötzlich auf eine furchtbare Art die Frage im Raum, wer dieser Jesus wohl gewesen sein mochte. Möglich schien nämlich auf einmal, dass er in Wahrheit nicht derjenige war, für den sie ihn so lange und so selbstverständlich gehalten hatten: Hätte der Messias auf eine solch schimpfliche Art und Weise sterben können? Kurz: Es machten sich schwerwiegende Zweifel unter den Jüngern hinsichtlich ihrer Sache breit: – Das Verhängniss des Evangeliums entschied sich mit dem Tode,  – es hieng am „Kreuz“ … Erst der Tod, dieser unerwartete schmähliche Tod, erst das Kreuz, das im Allgemeinen bloss für die canaille aufgespart blieb, – erst diese schauerlichste Paradoxie brachte die Jünger vor das eigentliche Räthsel: „we r wa r d a s? wa s wa r d a s? “  – Das erschütterte und im Tiefsten beleidigte Gefühl, der Argwohn, es möchte ein solcher Tod die Wi d e r l e gu ng ihrer Sache sein, das schreckliche Fragezeichen „warum gerade so?“ – dieser Zustand begreift sich nur zu gut. (AC 40; KSA 6, 213)

Und es begreift sich nicht weniger gut, dass die Jünger statt in kollektive Verzweiflung zu verfallen und ihre Hoffnungen unter Tränen zu begraben, lieber bereit waren, die Lehre ihres Meisters von einer unmittelbar zugänglichen Ewigkeit in der Endlichkeit zu korrumpieren, indem sie sich in einer Mischung aus schlichtem Unverständnis und wütender Ohnmacht, eben aus Ressentiment, in den Glauben an seine Auferstehung flüchteten. Sie waren bereit, die Sache des Meisters für ihre eigene Sache zu opfern – und so beginnt die Geburt des Christentums aus dem Geist des Ressentiments: Jetzt erst trug man die ganze Verachtung und Bitterkeit gegen Pharisäer und Theologen in den Typus des Meisters ein, – man m a ch te damit aus ihm einen Pharisäer und Theologen! Andrerseits hielt die wildgewordne Verehrung dieser ganz aus den Fugen gerathenen Seelen jene evangelische Gleichberechtigung von Jedermann zum Kind Gottes, die Jesus gelehrt hatte, nicht mehr

388 Der Messias ist bekanntlich ein Heilsbringer, wobei die Messias-Vorstellung im jüdischen und christlichen Raum, im Alten und Neuen Testament divergieren, von einem von Gott eingesetzten König bis hin zu einer kommenden Herrschaft Gottes in einem überirdischen Reich. Dass die Jünger an einen Erlöser auch im politischen Sinne glaubten, verraten Bibelstellen wie Mk 8,31–34 oder Joh. 4,25–26, in denen ganz und gar irdische mit Jesus verknüpfte Hoffnungen artikuliert werden.

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aus: ihre Rache war, auf eine ausschweifende Weise Jesus e mp or z u h e b e n , von sich abzulösen: ganz so, wie ehedem die Juden aus Rache an ihren Feinden ihren Gott von sich losgetrennt und in die Höhe gehoben haben. Der Eine Gott und der Eine Sohn Gottes: Beides Erzeugnisse des ressentiment… (AC 40; KSA 6, 214)

Aus einer vorgelebten Lebenshaltung wird somit ein Glaube und aus einem Glauben endlich eine Theologie, denn mit Paulus betritt ein Logiker die ihm durch die Verfälschung der Jünger bereitete Bühne. Dieser Logiker fixiert den Glauben an den auferstandenen Jesus in seinen Briefen. Er formuliert ihn aus und baut darauf ein theologisches System, in dessen Zentrum Jesus als der vom Tod auferstandene Sohn Gottes steht. In den Episteln des Paulus wird Jesus selbst zum Objekt des Glaubens, aber eben ein anderer Jesus als der, den Nietzsche gewissermaßen hinter der Fassade der Evangelien aufgespürt hat. Dieser andere Jesus ist der Jesus Pauli, ist Jesus Christus, der Messias, der die Menschen durch sein Opfer von ihren Sünden und somit auch von ihrem Leid erlöst. Innerhalb der paulinischen Theologie erscheint der Tod Jesu am Kreuz in einer ganz anderen Färbung als in Nietzsches Deutung. Ist er letzterer gemäß sozusagen der Kulminationspunkt der gelebten Widerstandslosigkeit Jesu, die auch gegen den Tod nicht aufbegehrt, so wird er bei Paulus zum endgültigen Triumph der Leidenden über das Leid und  – in der Überwindung des Todes  – zur endgültigen Überbietung des Irdischen durch ein Überirdisches. Jesus ist bei Paulus nämlich nicht nur der Erstling (aparché) der von den Toten Auferweckten, er geht nicht nur zeitlich allen anderen voran,³⁸⁹ sondern ist zugleich auch „das Modell von Auferstehung“ (Schnelle 2003, 668), in dem das Auferstehungsgeschehnis universale Dimen-

389 Man könnte hier einwenden, Lazarus müsse doch der Erstling sein, weil er durch Jesus selbst erweckt wurde (vgl. Joh 11). Die Auferweckung Jesu von den Toten ist indessen, wie man bei Paulus sieht, von einer anderen Qualität als die des Lazarus. Sie markiert den Beginn einer neuen Zeit. Mit ihr bricht das Reich Gottes an, in der das Sein ein neues und grundlegend anderes ist als zuvor. Es ist fortan nicht mehr durch den Tod bedroht. In diesem Sinne ist Jesus der Erstling, d. h. Christus ist der erste Mensch, an dem Gott dieses neue Sein vollzogen hat. Um diesen Qualitätsunterschied zu begreifen, lohnt ein kurzer Blick auf den kontextuellen Rahmen, welcher der paulinischen Eschatologie zugrunde liegt. Er ist von der urchristlichen Überzeugung geprägt, dass die Menschheit kurz vor ihrem absoluten Ende steht. Sie weiß sich vom göttlichen Zorn bedroht, erwartet, dass Gott alsbald, in unmittelbarer zeitlicher Nähe, seinen Richterspruch über sie verhängen wird. Die Menschheitsgeschichte aber ist seit dem Sündenfall, von Adam an also, missraten. Insofern scheint ihre Auslöschung durch Gott nur gerechtfertigt. Dank Jesu Opferung für die Sünden der Menschheit gibt es jedoch wieder Hoffnung. Aus Sündern können jetzt wieder Gerechte und Gerechtfertigte werden. Die Auferweckung Jesu ist die irreversible Zusage Gottes an die Menschheit, dass der Tod als Folge und Ausdruck der Sünde nun (potenziell, d. h. wenigstens für die Gläubigen) überwunden ist. Das Ende der (sündhaften) Welt wird somit zum Beginn einer Endzeit werden, in der die Gläubigen auf ewig mit Jesus Christus zusammenleben (vgl. 1Thess 4,17). Die Grunddaten dieser Endzeit sind die Auferstehung und die Parusie Christi. Mit der Auferstehung beginnt die Endzeit bereits. Eine Heilsvollendung bedeutet sie indes erst, wenn Christus wiederkehrt und solange herrschen wird, bis er auch den letzten Feind, d. h. den Tod, vernichtet hat (vgl. 1 Kor 15,20–28; 50–54). Insofern also warten die Gläubigen voller Hoffnung auf die Parusie.

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sionen annimmt: „Denn wie in Adam alle sterben, so werden in Christus alle lebendig gemacht werden“ (1 Kor 15,21). Indes sind mit „alle“ (pántes) durchaus nur dann auch wirklich alle Menschen gemeint, wenn sie sich allesamt zu Christus bekennen. Mit anderen Worten: Zwar sind alle Menschen von der Tat Adams betroffen und in deren Folge allesamt korrumpiert, jedoch werden nur die Gläubigen in Christus gerettet. Immerhin, potenziell sind auch das alle Menschen. Im nächsten Vers des Korintherbriefes I kommt diese (nur) potenzielle Universalität deutlich zum Ausdruck, wenn Paulus die bei der Parusie – d. h. beim zweiten Kommen des Messias, am Jüngsten Tag, der gleichsam die Morgenröte des Reiches Gottes ist  – Geretteten mit denen, „die zu ihm[Christus  – E.B.] gehören“ (1 Kor 15,23), identifiziert. Diese geretteten Gläubigen treten in ein neues Sein ein, dessen Ermöglichungsgrund das Kreuz ist.³⁹⁰ Was aber ist das für ein neues Sein, das da die Gläubigen erwartet, derweil der Rest der Welt zugrunde geht? Gemeint ist ein ewiges Leben in einer „immerwährenden Gemeinschaft mit Jesus“ (Schnelle 2003, 668), in dem Gott durch Jesus alles Irdische „zu Füßen gelegt“ wurde, so dass „Gott herrscht über alles und in allem“ (1 Kor 15,28). Die Gläubigen finden sich dort als verherrlichte Unsterbliche wieder. – Dass sich hier ein Ansatzpunkt für Nietzsche auftut, um das (paulinische) Christentum als Moral anzugreifen, die das Religiöse nur zu ihren Zwecken funktionalisiert, ist augenfällig. Im Glauben an die Parusie, der die Vorstellung eines Gerichts impliziert, vor dem sich jeder einzelne Mensch für seine Taten zu verantworten hat, kann sich der Mensch des Ressentiments schadlos halten. Die ehedem Mächtigen, die Aristokraten, werden jetzt zur Verantwortung gezogen. Ihre Macht wird in Ohnmacht aufgelöst. Der Tag des jüngsten Gerichts ist für Nietzsche ganz gewiss kein Tag der Gerechtigkeit, als welchen ihn die Gläubigen verstehen, sondern ein Tag der Rache. Es ist der Festtag des Ressentiments. Als solcher wird er erkennbar, wenn man die Sache aus „einer religionssoziologische[n] Perspektive“ betrachtet, d. h., wenn man „nicht nach dem ‚Offenbarungsgeschehen‘ (…), sondern nach den Menschen, für die eine solche Theologie nützlich ist“ (Havemann 2002, 185), fragt – ein von Nietzsche immer wieder in Anwendung gebrachtes Verfahren.³⁹¹ Aus dieser Perspektive ergibt sich folgendes Bild: Hier soll eine Moral installiert werden, welche die gesellschaftlichen Machtverhältnisse von den Füßen auf den Kopf stellt – das Gemeine wird als das Gute deklariert, damit auf dieser Basis das Ohnmächtige das Mächtige sein kann. Eine solche Interpretation, wie sie Paulus im Fall von Jesus’ Tod vorgelegt hat, gibt dem anvisierten Umwertungsgeschehen einen entscheidenden Anschub, indem sie das Machtgefühl der Schwachen befeuert. Dank dieses priesterlichen Anschubs bringt es der Hirte

390 Vgl. 1 Thess. 5,1–11, vor allem 9–10: „Denn Gott hat uns nicht für das Gericht seines Zorns bestimmt, sondern dafür, daß wir durch Jesus Christus, unseren Herrn, das Heil erlangen. Er ist für uns gestorben, damit wir vereint mit ihm leben (…).“ 391 Rorty 1992[1989], 174, trifft, wie man hier exemplarisch sehen kann, einen wichtigen Punkt, wenn er schreibt, Nietzsche „zeigte gern, daß jede Beschreibung eines beliebigen Gegenstandes an die Bedürfnisse einer historisch bedingten Situation gebunden ist.“

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   Der Zusammenhang von Moral, Christentum und Nihilismus

Paulus mit seiner Herde am Ende tatsächlich fertig, die Mächtigen zu besiegen und ihnen den eigenen Glauben aufzunötigen: Die von SOKRATES und PAULUS gebrauchten Mittel verdanken ihren Erfolg der Tatsache, daß sie in den „décadents“ ein derartig gesteigertes „Machtgefühl“ hervorriefen, daß die Instinkte der „Wohlgeratenen“ dem nichts Gleichgewichtiges entgegensetzen konnten. (Salaquarda 1978, 166)

Salaquarda rückt Sokrates insofern zurecht in die Nähe von Paulus, als diese beiden von Nietzsche her gesehen zwei zentrale Figuren innerhalb eines für die Entwicklung des Abendlandes entscheidenden Geschehens bedeuten: der „entaristokratisierenden“ Umwertung der Werte. Ein gravierender Unterschied zwischen Sokrates und Paulus liegt aber in dem, was ihnen während ihrer Umwertungsbemühungen zu Gebote steht. Denn mit dem Kreuz steht Paulus anders als Sokrates ein Symbol zur Verfügung, unter dem er seine Anhänger um sich scharen kann.³⁹² Mit Hilfe des Kreuzes lassen sich, wie Nietzsche es ausdrückt, „Massen tyrannisir[en], Heerden bilde[n]“ (AC 42; KSA 6, 216). Das Kreuz ist ein Symbol, das, indem es an das Leiden erinnert, und zwar so, dass in dieser Erinnerung die Überwindung des Leids impliziert ist, das Machtgefühl der Schwachen weckt; gerade auch in Momenten des größten Schmerzes. Das Kreuz macht zuletzt auch den Unterschied zwischen den Sklaven und den Herren aus. Denn ein so wirkungsvolles Symbol stand den Aristokraten nicht zur Verfügung; abgesehen davon, dass es ohnehin dem aristokratischen Selbstverständnis widerstreben muss. In der Lehre von der Unsterblichkeit der Gläubigen und vom Gericht am jüngsten Tag sowie im Kreuz als Symbol der Macht der scheinbar Ohnmächtigen erblickt Nietzsche äußerst wirkungsvolle Instrumente der paulinischen Propaganda. Sie ebnen Paulus und dem  – aus der Sicht von Nietzsches Psychologie des Erlösers  – postchristlichen, ja recht eigentlich antichristlichen Christentum der Kirche den Weg zur Macht. Aber selbst wenn man Nietzsches Behauptung, es sei Paulus im Grunde genommen immer nur um die Macht gegangen, einmal ausblendet und stattdessen annimmt, dass die paulinische Lehre durchaus nicht auf einer bewussten Lüge gebaut ist, sondern vielmehr Ausdruck eines tatsächlichen Glaubens ist, muss sie dennoch in gleich mehrfacher, jeweils lebensverneinender und darum nihilistischer Hinsicht ein Ärgernis für Nietzsche bedeuten: 1. Der Gott am Kreuz bedeutet eine Apotheose des Leids und der Schwäche. 2. Die Gegenwart und die Vergangenheit werden zugunsten der Zukunft entwertet. 3. Das Irdische wird durch das Überirdische entwertet. Zu (1.): Wenn man bedenkt, dass der Tod durch das Kreuz in Rom die erniedrigende Hinrichtungsart vor allem für entlaufene oder aufständische Sklaven war, dann muss

392 Sokrates ist durch seine sich im Tod bestätigende Lebensweise am Ende selbst zum Symbol eines philosophischen Lebens von höchster geistiger Autarkie geworden.

Nietzsches Jesus gegen Nietzsches Paulus oder: das Christentum als Priesterglaube   

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ein Gott, der einen solchen Tod stirbt, ein Gott am Kreuz, für jeden Herren nicht nur paradox, sondern zudem in höchstem Maße anstößig sein.³⁹³ Die Sklaven hingegen werden sich mit diesem leidenden Gott identifizieren, der sich seiner Gottheit entäußerte – und das ist es gerade, was sich aus aristokratisch-antiker Sicht so unerhört wie ungehörig ausnimmt, hinzugerechnet das Paradoxon, dass Gott den Menschen das Heil gerade dadurch erwiesen haben soll, dass er den Heilsbringer (den Sklaventod) hat sterben lassen³⁹⁴ – und auf diese Weise, Paulus sagt es ausdrücklich, „wurde wie ein Sklave“ (Phil 2,7). Im Moment seines Todes schien dieser Sklave weiter nichts als eben ein Sklave zu sein. Man könnte also durchaus von einer unüberbietbaren Fallhöhe sprechen: Aus der göttlichen Sphäre erfolgt der Absturz nicht nur in irdische Gefilde, sondern innerhalb derselben landet der Abgestürzte auch noch am hierarchischen Tiefpunkt: in der Sphäre der Sklaven. Indessen wird dieser Absturz dramaturgisch nur noch von dem kometenhaften Aufstieg des so tief Gefallenen überboten. Zwar wurde ihm die Gegenwärtigkeit des Vaters, die Herrlichkeit Gottes, während seiner Todesqualen verweigert, jedoch nur, um in der Erweckung Christi von den Toten um so heller zu erstrahlen. Jetzt, als Auferstandener, ist Christus ein für alle Male unantastbar, denn „der Tod hat keine Macht mehr über ihn“ (Röm 6,9). Das Christentum Pauli verlockt die Menschen nun, indem es dem Gläubigen in Aussicht stellt, selber auf die gleiche Weise unantastbar zu werden: Wir wurden mit ihm begraben durch die Taufe und den Tod; und wie Christus durch die Herrlichkeit des Vaters von den Toten auferweckt wurde, so sollen auch wir als neue Menschen leben. Wenn wir nämlich ihm gleich geworden sind in seinem Tod, dann werden wir mit ihm auch in seiner Auferstehung vereinigt sein. (Röm 6,4–6)

393 „Die modernen Menschen, mit ihrer Abstumpfung gegen alle christliche Nomenklatur, fühlen das Schauerlich-Superlativische nicht mehr nach, das für einen antiken Geschmack in der Paradoxie der Formel ‚Gott am Kreuze‘ lag. Es hat bisher noch niemals und nirgendswo eine gleiche Kühnheit im Umkehren, etwas gleich Furchtbares, Fragendes und Fragwürdiges gegeben wie diese Formel: sie verhiess eine Umwerthung aller antiken Werthe“ (JGB 46; KSA 5, 67). 394 Nicht nur Nietzsche betont die Frontstellung der Vorstellung des Gottes am Kreuz gegenüber den antiken Wertvorstellungen, sondern Paulus selbst weiß darum. Der Apostel bekennt, dass aus der Sicht des weisheitsliebenden Griechen Gottes Handeln im Fall des Kreuzestodes Jesu wie eine Torheit aussehen muss. Auch bekennt er, dass dieser Tod für die Juden, die allezeit auf Zeichen von Gottes Macht den größten Wert legen, ein Ärgernis bedeuten müsse. Indes seien irdische Weisheit und Stärke nichts im Vergleich mit göttlicher Schwäche und Torheit (vgl. 1 Kor 1,18–25). Es ist angesichts dessen sicher nicht falsch zu sagen, dass Paulus im Korintherbrief der „Theologie der Weisheit und Macht“, wie sie von den an der Ohnmacht und Torheit des Kreuztodes Jesu Anstoß nehmenden Korinthern vertreten wird, „eine Theologie der Ohnmacht und Torheit als die eigentlich christliche entgegen“ (Havemann 2002, 208) hält. Hier wird auch ein deutlicher Unterschied zwischen der christlichen Lehre und der Philosophie Platons (wie übrigens der griechischen Philosophie überhaupt) deutlich. Bei Platon führt der Weg zur Erkenntnis des Göttlichen noch allein über die Philosophie, d. h. über das Denken und die Weisheit – Torheit und Glaube führen hingegen keineswegs aus der „Höhle“ des Diesseits heraus.

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   Der Zusammenhang von Moral, Christentum und Nihilismus

Die Christen glauben also daran, dass gerade sie, die im Leben Gedemütigten, ein neues Leben nach dem Tod erwartet, und zwar ein verherrlichtes Leben, das mehr als nur einen Ausgleich für ihr irdisches „Leben am Kreuz“ bedeutet. Der Gott am Kreuz stellt für sie folglich, wie ich bereits oben gesagt habe, das Symbol ihres schlussendlichen Sieges über das Leid dar, eines Sieges wohlgemerkt, der, wie man nun ergänzen kann, im Sieg auch über den Tod ein endgültiger ist. Dies ist die machtpolitische Botschaft der paulinischen Theologia crucis, an der Nietzsche Anstoß nimmt. Doch damit nicht genug. Der Gott am Kreuz suggeriert überdies den Eindruck, dass das Leiden göttlich ist. Der Weg zum Glück führt nur über das Leid und kommt erst nach dem Tod im Jenseits an sein Ziel. Es sieht so aus, als wäre das Leiden geradezu das „Eintrittsbillet für das Himmelreich“ (Sommer 2000, 500) oder, anders formuliert: die Krankheit das Heilmittel für die Krankheit. Wenn dem aber so ist, warum sollte man dann überhaupt noch die Krankheit bekämpfen? Warum sich gegen das Leid stemmen? Warum noch handeln? Die Kreuzestheologie Pauli liest sich in Abschnitten wie dem folgenden aus Korintherbrief II tatsächlich wie ein Lob der Inaktivität und Schwäche: „Deswegen bejahe ich meine Ohnmacht, alle Mißhandlungen und Nöte, Verfolgungen und Ängste, die ich für Christus ertrage; denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark“ (2 Kor 12,10). Der vitale Aristokrat scheint in seiner Lebensweise durch die paulinische Theologie widerlegt. Denn ihm ist an Stärke und Gesundheit gelegen. Er will sich die Gesetze für sein Handeln nicht von außen vorgeben lassen, sondern sein Leben in selbstverständlicher Eigenregie aktiv gestalten. Bei Paulus entsteht leicht der Verdacht, dass es eine solche Eigenregie in letzter Konsequenz nicht gibt, auch wenn der Apostel an verschiedenen Stellen behauptet, der Mensch habe einen freien Willen.³⁹⁵ Wenn man sich indes eine berühmte Stelle aus dem Römerbrief vor Augen hält, so wird tatsächlich „der Eindruck einer Negation der Willensfreiheit erweckt“ (Müller 2009b, 232): Ich tue nicht das, was ich will, sondern das, was ich hasse. Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, erkenne ich an, daß das Gesetz gut ist. Dann aber bin nicht mehr ich es, der so handelt, sondern die in mir wohnende Sünde. (Röm 7,15–17)

Nun könnte man freilich auch argumentieren, dass Paulus an dieser Stelle nicht das Liberum arbitrium infrage stellt, sondern nur das in der antiken Philosophie ausgiebig behandelte Problem der akrasia, d. h. der Willensschwäche, anspricht. Indessen ist im zitierten Textabschnitt der Akteur der ungeliebten Handlung gar nicht das Ich, sondern die Sünde, die dem Willen des Ich zuwider handelt, die mithin die Freiheit des Willens negiert. Man könnte nun wiederum einwenden, dass diese Unfreiheit des Willens bloß die Folge einer Tat sei, die aus einer ursprünglichen Freiheit begangenen wurde. Die Unfreiheit wäre demnach nur die Folge der in Freiheit begangenen Sünde Adams und der Mensch sei so gesehen im Grunde frei, nur habe er es sich mit seiner

395 Vgl. z. B. Gal 5,16; 1 Kor 5,1–5 u. 6,15–20

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Freiheit selbst verscherzt. Dieser Einwand vermag allerdings nicht am Status quo der Unfreiheit zu rühren. Viel komplizierter wird alles noch, wenn man eine weitere Stelle aus dem paulinischen Oeuvre heranzieht, die vor allem durch ihre wiederholte Erwähnung bei Augustinus viel Beachtung gefunden hat. Im Philipperbrief heißt es: „Denn Gott ist es, der in euch das Wollen und das Vollbringen bewirkt, noch über euren guten Willen hinaus“ (Phil 2,13). Wenn man diese Stelle in Verbindung mit der oben behandelten Stelle aus dem Römerbrief (Röm 7) liest, dann drängt sich die Frage auf, ob Gott auch für das Wollen im Menschen im Sinne der Sünde verantwortlich zeichnet. Diesem Verdacht ließe sich entgegnen, dass man die zitierten Stellen nicht aus dem Kontext herausreißen dürfe. In Röm 7 gehe es um den Anteil des menschlichen Willens bei der Sünde, während in Phil 2 das menschliche Verdienst bei seinem Heil thematisiert werde. Hier muss aber festgehalten werden, dass es dem Menschen nur möglich ist, sein Heil zu bewirken, wenn Gott in ihm zuvor diese Befähigung erwirkt hat. Das gute Wollen des Menschen reicht allein nicht aus, um Gutes für ihn selbst zu bewirken. Hierzu bedarf es zusätzlich der Hilfe Gottes; was sich wiederum mit Röm 7 sehr gut verträgt, ja den Text womöglich erklärt, denn dort war die Rede von einem guten Willen, der indes nicht in eine gute Handlung, sondern ins Gegenteil mündet, was mit Phil 2 gelesen daran liegen könnte, dass Gott dem Willen des Menschen nicht hilfreich beispringt. Wenn Gott dem Menschen nicht aktiv bei dessen Wollen hilft, dann ist es nicht viel mit diesem Willen, selbst wenn er Gutes will. Wenn man schließlich noch mit ins Kalkül nimmt, dass Gott hin und wieder auch zu Ungunsten des Menschen aktiv in dessen Willensbemühungen eingreift, indem er den menschlichen Willen verstockt (vgl. etwa Röm 11,7–9), so lässt sich ohne in weitere, tiefere Diskussionen um die Willensfreiheit bei Paulus einzusteigen, summierend festhalten: Der Mensch hängt am Tropf Gottes. Er ist radikal abhängig von dessen Gnade.³⁹⁶ Der schlechthinnige Gnadenakt Gottes ist aber die Opferung seines eigenen Sohnes am Kreuz als universale Bedingungsmöglichkeit des Heils. Und damit läuft wieder alles auf das Kreuz zu, das solcherart nicht nur als ein Symbol für die Vergöttlichung der Schwäche im Allgemeinen, sondern auch für die der Willensschwäche im Besonderen betrachtet werden kann. Alles in allem bedeutet es für Nietzsche die symbolische Apotheose des niedergehenden Lebens: Nochmals erinnre ich an das unschätzbare Wort des Paulus. „Was schwach ist vor der Welt, was thöricht ist vor der Welt, das Un ed le und Ve r a ch te te vor der Welt hat Gott erwählet“: d a s war die Formel, in h o c signo siegte die décadence. – G ot t a m K re u z e  – versteht man immer noch die furchtbare Hintergedanklichkeit dieses Symbols nicht? – Alles, was leidet, Alles, was am Kreuze hängt, ist göttlich… Wir Alle hängen am Kreuze, folglich sind w i r göttlich… Wir allein sind göttlich… Das Christenthum war ein Sieg, eine vo r n e h me re Gesinnung gieng an ihm zu Grunde (…). (AC 51; KSA 6, 232)

396 Auch für dieses Fazit lässt sich leicht ein bestätigendes Zitat anführen: „Aus Gnade seid ihr gerettet (…) aus Gnade seid ihr durch den Glauben gerettet, nicht aus eigener Kraft – Gott hat es geschenkt – nicht aufgrund eurer Werke, damit keiner sich rühmen kann“ (Eph 2,5; 8–9).

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   Der Zusammenhang von Moral, Christentum und Nihilismus

Zu (2.): Es gehört zu den paulinischen Grundüberzeugungen (vgl. dazu Sanders 1995, 32f.), dass der auferstandene Christus wiederkehren und dann diejenigen, die im Glauben zu ihm gehören, von aller Schuld, Mühsal und Pein erlösen wird. Er wird sein Reich errichten, einen himmlischen Ort, darin sie auf ewig mit ihm leben werden. Für die christlichen Gemeinden zur Zeit des Paulus ist diese Grundüberzeugung besonders virulent, denn sie erwarten die Wiederkehr Jesu so zeitnah, dass sie selbst dieses freudige Ereignis noch erleben werden (vgl. 1 Thess 4,13–18). Diese Naherwartung ist der Hintergrund für das aus den paulinischen Briefen sprechende Verhältnis der ersten Christen zur Welt – und damit ist sowohl ihr Handeln in der Welt als auch ihre Taxierung der Welt und des diesseitigen Daseins gemeint –, das sich aus ihrer eigentümlichen Stellung in der Zeit bestimmt. Sie alle sind, wie Paulus ihnen versichert, „durch den Glauben Söhne Gottes in Christus Jesus“ und haben durch die Taufe Christus gleichsam „als Gewand angelegt“ (Gal 3,26–27). Diese Partizipation an Christus bedeutet der soteriologischen Logik des Paulus zufolge, dass die Christen sich bereits in der Jetztzeit als Gerettete verstehen dürfen. Denn Jesus wird sie, wenn die Welt, so wie sie derzeit ist, endlich mit seiner zweiten Ankunft untergeht, „dem kommenden Gericht Gottes entreiß[en]“ (1 Thess 1,10). Was für diejenigen, die nicht an Jesus teilhaben, vermutlich ein schreckliches Ende bedeuten wird, ist für sie der Beginn eines besseren, ja eines göttlichen Daseins. Dies ist die Erwartung der Christen, die ihnen hilft, ihre gegenwärtigen Leiden zu ertragen. Die Zukunft wird ihnen demnach zu einer in die Gegenwart hineinstrahlenden Kraftquelle, die zugleich ihr gegenwärtiges Handeln bestimmt: Die Zeit ist kurz. Daher soll, wer eine Frau hat, sich in Zukunft so verhalten, als habe er keine, wer weint, als weinte er nicht, wer sich freut, als freute er sich nicht, wer kauft, als würde er nicht Eigentümer, wer sich die Welt zunutze macht, als nutze er sie nicht; denn die Gestalt der Welt vergeht. (1 Kor 7,29–31)

Was der Apostel hier verlangt, ist eine Art vorgezogener Abschied von der Welt, ein Sterben im Leben, ein Handeln als gäbe es die diesseitige Welt eigentlich bereits jetzt schon nicht mehr. Spontane Äußerungen des Lebens, wie Freude oder Trauer, sollen dementsprechend unterbunden werden. Gefordert wird ein Leben, das einzig und allein an einer jenseitigen Zukunft orientiert ist, die freilich durch ein vergangenes Ereignis, nämlich die Inkarnation Christi, ermöglicht wurde. So verliert aber nicht nur die Gegenwart, sondern auch die gesamte Vergangenheit, die vor der Menschwerdung Gottes liegt, ihren Wert: „Ihn[Paulus – E.B.] interessiert alles, was vor Christi Kommen geschah, nur noch insoweit, als es Wiederholung der Sünde Adams ist“ (Becker 1989, 469). Zu (3.): Es sollte mittlerweile deutlich geworden sein, dass es sich in Nietzsches Urteil bei denjenigen, die Paulus um sich herum versammelt und aus denen schließlich die christliche Kirche entsteht, um Menschen handelt, die es mit sich und der Welt nicht ausgehalten hätten, wenn man ihrem Willen nicht heteronom ein Ziel vor-

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gegeben hätte. Sie sind – anders als die sich selbst bejahenden Herren – nicht dazu in der Lage, eine Selbstaffirmation aus ihrem unmittelbaren Sein zu generieren. Paulus indessen bietet ihnen mit Gott, an dessen Reich er den Gläubigen über Christus teilzuhaben verspricht, einen höchsten Wert und ein letztes Ziel an, das maßgeschneidert für seine Klientel gerade nicht in der Unmittelbarkeit des Lebens wurzelt. Dieses Ziel vermögen auch die Willensschwachen anzuvisieren, jedoch wird damit zugleich dem als eine Abwendung vom Leben verstandenen Nihilismus Tür und Tor geöffnet: „Denn mit Gott wird das Leben nur noch mittelbar geheiligt. In seiner Unmittelbarkeit wird es entwertet“ (Safranski 1997, 258). Der unmittelbarste Zugang des Menschen zum Leben ist nun, wie Nietzsche von Schopenhauer gelernt hat, sein eigener Leib.³⁹⁷ Eigentlich ist der Leib eine „LeibOrganisation“ (Abel 1984, 157), d. h., „ein plurales System mit- und gegeneinander wirkender Willen-zur-Macht-Komplexe“ (Abel 1984, 158). Innerhalb des Leibes finden so ständig Verschiebungen statt, Machtverhältnisse ändern sich, verschiedene Triebe erobern verschiedene Positionen, werden mal wichtiger und mal weniger wichtig für die Gesamtausrichtung des Leibes. Der Leib ist metaphorisch gesprochen, „ein Gesellschaftsbau vieler Seelen“ (JGB 19; KSA  5, 33). Summa summarum ist er ein Spiegel des Lebens. Präziser noch: Er ist das Leben mit all seinen Widersprüchen selbst in individuierter Form. Wenn dem aber so ist, dann ist die Leibverachtung, die Nietzsche im Christentum am Werk sieht, zugleich auch eine Verachtung des Lebens, während deren die Vernunft Kapriolen schlägt. Denn auch der menschliche Geist ist in Nietzsches Sicht nur ein Teil der Gesamtorganisation „Leib“. Was Schopenhauer über das Verhältnis von Wille und Intellekt ausbreitet, könnte – abgesehen vom Ausdruck „Gehirnfunktion“  – so auch Nietzsche zur Verhältnisbestimmung zwischen Intellekt (Geist) und Leib geschrieben haben: Der „Intellekt ist das Sekundäre, ist das posterius des Organismus und, als eine bloße Gehirnfunktion, durch diesen bedingt“ (HN IV, 83). Die platonisch-christliche Tradition verkennt vor diesem freigelegten Hintergrund, dass sich unser Ich-Gefühl nicht auf eine vom Körper unabhängige Substanz gründet, eine Res cogitans, wie es bei Descartes, dem neuzeitlichen Fortdenker des Leib-Seele-Dualismus, heißt, in der dieser die Essenz unseres Selbst ausmacht. Vielmehr ist unsere Vernunft und damit auch die Res cogitans, das denkende Ich, ein „leibhaftiges Vermögen“ (Gerhardt 2000, 126). Wirklich vernünftig ist dieses Vermögen also nur dann, wenn es zum Wohle des gesamten Leibes agiert. Unvernünftig handelt es aber immer dann, wenn es sich wie in der traditionellen Metaphysik und 397 In diesem Sinne weist Heidegger, an Nietzsche anknüpfend, darauf hin, dass der „leibende Leib“ das Medium sei, durch das sich das Sein dem Dasein, d. h. dem Menschen, mitteilt. (Heidegger spricht von dem „leibenden Leib“ im Unterschied zum „Körperleib“. Ersterer ist, wie gesehen, eine Art Seinsereignis und insofern wissenschaftlich nicht ausdeutbar, während mit dem Körperleib schlicht der biologische Organismus gemeint ist. Vgl. Heidegger 1989[1939], 151–160, vor allem 159: „Wenn wir unter Körper eine raumfüllende, ‚schwere‘ Stoffmasse verstehen, dann ist vielleicht der Leib der ‚Körper‘ eines Lebewesens; aber das Lebendige ‚hat‘ keine bloßen Körper (…). Das Lebendige lebt, indem es leibt.“

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im Christentum isolieren und seine Stellung innerhalb der Totalität „Leib“, in deren Getriebe es gleichsam nur ein Rädchen darstellt, nicht anerkennen will. So gesehen wären die descartschen Meditationen, während deren sich der Geist mit dem Selbst identifiziert, sich zur Substanz, den Leib hingegen bloß zum Akzidenz deklariert, als eine Perversion der Vernunft anzusehen, als ein Ausbund an Unvernunft, im Zuge dessen der Intellekt auch noch eminente Höhen erreicht. Der Geist verkennt seine Abhängigkeit vom Leib nicht nur in Betreff der Frage, wer hier wessen Attribut ist, sondern auch darin, dass die leiblichen Begierden und Triebe das Denken wesentlich bestimmen; und das auch dann, wenn das Denken den Leib verachtet: Noch in eurer Thorheit und Verachtung, ihr Verächter des Leibes, dient ihr eurem Selbst[dem Leib – E.B.]. Ich sage euch: euer Selbst selber will sterben und kehrt sich vom Leben ab./Nicht mehr vermag es das, was es am liebsten will:  – über sich hinaus zu schaffen. Das will es am liebsten, das ist seine ganze Inbrunst./Aber zu spät ward es ihm jetzt dafür: – so will euer Selbst untergehn, ihr Verächter des Leibes./Untergehn will euer Selbst, und darum wurdet ihr zu Verächtern des Leibes! Denn nicht mehr vermögt ihr über euch hinaus zu schaffen./Und darum zürnt ihr nun dem Leben und der Erde. Ein ungewusster Neid ist im scheelen Blick eurer Verachtung. (Z I Verächtern; KSA 4, 40f.)

Damit ist die Leibverachtung enttarnt. Sie ist Ausdruck der Dekadenz, Ausdruck eines Lebens in extremis, das sich in seiner Unmittelbarkeit nicht mehr zu bejahen weiß, das, willensschwach geworden, den Umweg über Gott nehmen muss, um sich selbst zu rechtfertigen. Hinter dieser mittelbaren, vermeintlichen Affirmation steckt indessen niemand anderes als der Wille zum Nichts. Auch ist die Leibverachtung eine Erscheinung des Ressentiments, ist sie doch die Folge eines Unvermögens, eines elementaren gar, nämlich der Unfähigkeit, etwas über sich hinaus schaffen zu können. Wer seinen Leib verachtet, zürnt dem Leben, weil er ihm letztlich nicht gewachsen ist und rächt sich am Leben, indem er mit dem Wert des Leibes auch den des Lebens bestreitet.³⁹⁸ Wie sieht nun aber die Verachtung des Leibes in den paulinischen Episteln aus? Tatsächlich ist hier viel vom Leib die Rede.³⁹⁹ Die Soma-Thematik spielt ohne Zweifel eine herausragende Rolle innerhalb der paulinischen Eschatologie. Auf den ersten Blick mag es überraschen, dass Paulus auch im Jenseits keineswegs auf den Leib verzichten will. Per antithetischer Analogie schließt er von der Existenz des irdischen Leibes auf die eines überirdischen: „Wenn es einen irdischen Leib gibt, gibt es auch einen überirdischen“ (1 Kor 15,44). Die ewige Existenz ist demnach auch weiterhin eine leibliche Existenz, jedoch offenbar die eines wenigstens veränderten, wenn 398 Auf den Themenkomplex „Geist und Leib“ bzw. „Ich und Selbst“, namentlich auf die Problematik, dass der Geist die Gesamtheit „Leib“, der er angehört, aus den Fugen und auf die Straße des Nihilismus bringt, wenn er sich über den Leib zu stellen gedenkt, wird noch zurückzukommen sein (vgl. Kapitel VIII). 399 Von insgesamt 142 Soma-Belegen im Neuen Testament finden sich 74 bei Paulus, 56 davon wiederum allein in den beiden Korintherbriefen.

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nicht sogar vollkommen neuen Leibes. Die Frage, ob Paulus im Fall des überirdischen Leibes an einen im Gegensatz zum irdischen Leib bloß veränderten oder an einen gänzlich neuen Leib denkt, kann deswegen nicht letztgültig entschieden werden, weil die entsprechenden Aussagen des Apostels nicht eindeutig sind. Sein Gedankengang hebt mit der Notwendigkeit des Sterbens als Bedingung für das neue Leben an, exponiert dies aber am Beispiel eines Samenkornes, wodurch der Eindruck entsteht, es gehe im Grunde genommen mehr um eine Verwandlung, einen Übergang oder ein Aufgehen, als um ein tatsächliches Sterben. Wie es sich damit aber auch immer verhalten mag, eines jedenfalls geht unmissverständlich aus Korintherbrief I hervor: „Fleisch und Blut können das Reich Gottes nicht erben; das Vergängliche erbt nicht das Unvergängliche“ (1 Kor 15,50). Deswegen auch kann der Leib, der den Ansprüchen des Reiches Gottes genügt, nicht der „leibliche Leib“ sein, der Leib aus Fleisch und Blut also, sondern es muss sich um einen Leib handeln, der sich aller Vergänglichkeit entledigt hat. Die Himmelspforten öffnen sich nur dem pneumatischen Leib, der bei der Auferweckung vom Tod an die Stelle des somatischen tritt: „Gesät wird ein irdischer Leib, auferweckt ein überirdischer[wörtlich: pneumatischer – E.B.] Leib“ (1 Kor 15,44). Und dennoch klingt dieses Zitat nicht unbedingt nach einer Leibverachtung, denn der irdische Leib scheint, indem er gesät wurde, in einer Kontinuität mit dem überirdischen Leib zu stehen. Man könnte aus obigem Satz auch eine Wertschätzung des irdischen Leibes herauslesen, zumindest in einer Lesart, die in ihm den Ermöglichungsgrund des pneumatischen Leibes erkennt. Allerdings geht aus demselben paulinischen Brief hervor, dass dem nicht so ist. Die Nachfahren des auferstandenen Christus werden wie dieser nicht mehr irdisch, sondern himmlisch sein. In der Tat spricht bei genauerem Hinsehen nur wenig dafür, im Korintherbrief I keine Leibverachtung zu sehen. Dies wird besonders deutlich, wenn man beachtet, dass Paulus die beiden unterschiedenen Kategorien von Leibern auf die für ihn so wichtigen Urtypen Adam und Christus zurückführt. Adam hat die Sünde in die Welt gebracht, Christus hingegen erlöst die Welt von der Sünde, indem er sie von ihrer aktuellen irdischen Gestalt befreit: Was gesät wird, ist armselig, was auferweckt wird, herrlich. Was gesät wird ist schwach, was auferweckt wird ist stark (…). Adam, der erste Mensch, wurde ein irdisches Lebewesen. Der letzte Adam wurde lebendigmachender Geist. (…) Der Erste Mensch stammt von der Erde und ist Erde; der Zweite Mensch stammt vom Himmel. Wie der von der Erde irdisch war, so sind es auch seine Nachfahren. Und wie der vom Himmel himmlisch ist, so sind es auch seine Nachfahren. Wie wir nach dem Bild des Irdischen gestaltet wurden, so werden wir auch nach dem Bild des Himmlischen gestaltet werden. (…) dann erfüllt sich das Wort der Schrift: Verschlungen ist der Tod vom Sieg. Tod, wo ist dein Sieg?/Tod, wo ist dein Stachel? Der Stachel des Todes aber ist die Sünde (…). Gott aber sei Dank, der uns den Sieg geschenkt durch Jesus Christus, unseren Herrn. (1 Kor 15,43–57)

Analog zu der hier deutlich zu Tage tretenden Abwertung des irdischen Leibes wird auch die Erde entwertet. Adam, der erste Sünder, ist Erde, heißt es da. Die gesamte

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irdische Schöpfung ist durch die Sünde korrumpiert und insofern nichtig. Einen Sinn hat sie nur dadurch, dass Christus in sie hineingeboren wird, damit er die Welt von der Sünde befreien kann. Der „Sinn der Erde“ (Z I Vorrede 3; KSA 4, 14), um einen Ausdruck Zarathustras aufzunehmen, ist demnach die Befreiung der Welt von sich selbst, der Untergang des Irdischen zugunsten des Überirdischen. Auf diese Weise steht er freilich quer zu dem „Sinn der Erde“, den Zarathustra verkündet: Der Übermensch ist der Sinn der Erde. Euer Wille sage: der Übermensch s e i der Sinn der Erde!/ Ich beschwöre euch, meine Brüder, b leib t d e r E rd e t re u und glaubt Denen nicht, welche euch von überirdischen Hoffnungen reden! Giftmischer sind es, ob sie es wissen oder nicht./Verächter des Lebens sind es, Absterbende und selber Vergiftete, deren die Erde müde ist: so mögen sie dahinfahren! (Z I Vorrede 3; KSA 4, 14f.)

Auch wenn der Übermensch erst später Gegenstand dieser Studie sein wird, dürfte eines schon jetzt feststehen: Der Sinn der Erde, wie Nietzsche ihn begreift, kann nur ein rein immanenter sein.

Kapitel VI Der Tod Gottes Bei ruhigem Wetter auf offenem Meere schwimmen ist für den Geübten nicht schwieriger als in der Kutsche spazierenfahren. Unerträglich ist nur das furchtbare Alleinsein. Wie schmerzhaft in der herzlosen Unendlichkeit das Ich sich in sich selbst zusammenzieht – o Gott, welcher Mund könnte das aussagen! (Herman Melville: Moby Dick)⁴⁰⁰ „Aber warum lässt du deLint dann Pemulis’ und Shaws Schuhe an die Linien[eines Tennisplatzes – E.B.] knoten, wenn die Linien keine Grenzen sind?“ „Ohne ist da etwas Größeres. Nichts, was Sinn inkludierte und gewährte. Einsam. Verstiegenheit.“ sinngemäß „einsames Wandern in verwüstetem, verwirrenden Gebiet jenseits aller kartierten Grenzen und Orientierungspunkte“, vermutlich. (David Foster Wallace: Unendlicher Spaß)⁴⁰¹

Nietzsche sieht die Geschichte der abendländischen Moral, d. h. die Geschichte des europäischen Nihilismus⁴⁰² auf einen Höhepunkt zusteuern, der zugleich der Endpunkt der ersten langen Phase der Geschichte des Nihilismus ist. Was meine ich mit erster Phase? Ich habe dabei nicht weniger als die Geschichte der abendländischen Metaphysik im Blick, die sich dadurch auszeichnet, dass in ihr das Seiende (nur) mittelbar, nämlich durch ein transzendentes, ein metaphysisches Seiendes gerechtfertigt wird. Nun ist man aber im Verlauf dieser Geschichte diesem tragenden Grund gegenüber misstrauisch geworden. Man hat ihn wenn auch nicht als funktional, so doch als ontologisch nichtig entlarvt. Aus diesem Grund sieht man sich gezwungen, ihn zu verwerfen. Insoweit es sich jedoch um einen tragenden Grund handelt, führt dessen Wegfall in fataler Konsequenz dazu, dass mit ihm auch die Geschichte der abendländischen Metaphysik fallen muss. Insofern der tragende Grund immer nur ein funktionales Sein besaß, also rein um der Rechtfertigung willen von den sinnbedürftigen Menschen gesetzt bzw. erdichtet wurde, war die Geschichte der abendländischen Metaphysik, im wahrsten Sinne des Wortes von Grund auf, immer schon nihilistisch. Es hat nur eine ganze Geschichtsphase gedauert, bis sie sich auf diesen Grund hin selbst durchsichtig geworden ist – mindestens ist sie dabei, sich solcherart durchsichtig zu werden. Diese Erkenntnis der eigenen Bodenlosigkeit führt aber dazu, dass sich

400 Melville 1977[1851], 420. 401 Foster Wallace 2011[1996], 121, 1427 (Anm. zu 121). 402 Um es noch einmal zu betonen: Diese Geschichte wird gewissermaßen vom Sokratismus – unter den ich ja auch Denker wie Parmenides und Anaxagoras rubriziert habe – angeschoben. Mit Sokrates selbst beginnt sie dann recht eigentlich, wenn anders man Sokrates als das erste moralische Subjekt bezeichnen kann (moralisch meint hier nicht nur ein gutes und gerechtes Handeln etc., sondern ein moralisch begründetes Handeln, vgl. Kapitel III.1.1), denn „die Geburt des moralischen Menschen ist der Anfang des abendländischen Nihilismus“ (Müller-Lauter 1971, 68).

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diese Geschichte selbst negiert. Und so bricht denn eine neue Geschichtsphase an, die aber ebenfalls nicht frei vom Nihilismus ist, weil sie mit der Erkenntnis beginnt, nicht, „daß überhaupt nichts ist, sondern daß es mit allem nichts ist“ (VolkmannSchluck 1991, 147) – eine unheimliche Einsicht zweifellos und eine nihilistische, so dass Nietzsche den Auftakt zu dieser neuen Geschichtsphase in die metaphorische Formel vom unheimlichsten aller Gäste, der vor der Tür steht, fassen kann. Dieser Gast ist eben der Nihilismus (vgl. NL 1885–1887, KSA 12, 2[127], 125). Wenn dieser unheimliche Gast aber vor der Tür steht, dann ist er logischerweise noch nicht eingetreten in die „gute Stube“, was er als Gast jedoch zweifellos beanspruchen darf. Einen Gast lässt man für gewöhnlich nicht vor der Türe stehen und tut man es doch, so wird das wohl daran liegen, dass man gar nicht weiß, dass er dort draußen steht. Just dieses Nichtwissen oder Nichtbemerken scheint mir nun auch der Grund dafür zu sein, dass er, statt bereits eingetreten zu sein, noch dort draußen steht, in der winterlichen Kälte, wie ich es mir vorstelle,⁴⁰³ während die Menschen es sich drinnen am Ofen gemütlich machen. Indessen steht soviel fest: Wenn der Gast schließlich eintritt, nachdem er endlich doch bemerkt wurde, wird er die Kälte gleich mit hineintragen, so dass es aus ist mit aller Gemütlichkeit. Einstweilen ist es aber noch nicht so weit. Dass sie sich innerhalb einer Geschichte des Nihilismus befinden, ja dass die erste Phase dieser Geschichte bereits zu einem Ende gekommen ist, wird, wie Nietzsche konstatiert, von seinen Zeitgenossen nicht registriert. Das entscheidende Ereignis dieser Geschichte, ihr Höhepunkt, ist den meisten Menschen, wenn auch irgendwie zu Ohren, so darum doch noch lange nicht auch schon zu Bewusstsein gekommen. Sonach handelt es sich um ein gehörtes aber unerhörtes Ereignis, derart, dass es in seiner eminenten Bedeutung weitgehend unbegriffen blieb, weswegen konsequenterweise auch seine Hörer davon unergriffen blieben. Aber was genau wurde hier nicht begriffen? Die Rede ist, man ahnt es schon, vom Tod Gottes.⁴⁰⁴ Für Nietzsche ist der Tod Gottes die logische Konsequenz des spätestens mit Sokrates begonnenen Sklavenaufstandes in der Moral mit seinen nihilistischen Werten und lebensverneinenden Hinterwelten. Der europäische Nihilismus (die erste Phase in der Geschichte des Nihilismus) ist, um es in aller Kürze zu sagen, die geschichtliche Bewegung, darin Gott zu Tode kommt. Weil Gott aber, aus seiner jenseitigen übersinnlichen Position heraus, dem Sein selbst einen Sinn verliehen hat, lässt sich der auf den Höhepunkt gekommene Nihilismus als das Ereignis fassen, in welchem das Sein – wenigstens vorläufig – seinen Sinn verloren hat. So auch Heidegger:

403 Nietzsche hat das Bild vom unheimlichen Gast im Winter 1885/86 entworfen. 404 Wenn ich oben sage, man wird den Gast einlassen, so er sich denn endlich bemerkbar gemacht hat, dann meine ich, dass er sich irgendwann tatsächlich bemerkbar machen wird, dass sein Eintreten also nur eine Frage der Zeit, nicht des Ob-überhaupt ist. Wenn er endlich eingelassen wird, ist die erste Phase der Geschichte des Nihilismus theoretisch abgeschlossen. Weiteres zum Verlauf der Geschichte des Nihilismus und zu den verschiedenen Erscheinungsformen des Nihilismus ist dem nächsten Kapitel (Kapitel VII) zu entnehmen.

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Nihilismus ist jener geschichtliche Vorgang, durch den das „Übersinnliche“ in seiner Herrschaft hinfällig und nichtig wird, so daß das Seiende selbst seinen Wert und Sinn verliert. (Heidegger 1961, Bd. 2, 33)

In unnachahmlicher Eindringlichkeit hat Nietzsche diesem umfassenden Sinnverlust in seiner bekannten Parabel Der tolle Mensch (FW 125) Ausdruck verliehen. Diese Parabel ist freilich bereits unzählige Male zitiert und auch, wenn man so will, beinahe schon notorisch interpretiert worden. Wer sich an einer eigenen Interpretation versucht, läuft dementsprechend Gefahr, gleichsam Eulen nach Athen zu tragen oder mindestens nur wenig Neues zur Nietzsche-Forschung beizutragen. Indessen kommt eine systematische Darstellung der Philosophie Nietzsches schwerlich an diesem Aphorismus vorbei; wenigstens dann nicht, wenn sie nicht Grundlegendes unterschlagen will. Eine Studie, die sich dem Problemfeld „Nihilismus“ bei Nietzsche verschrieben hat, kann aber unter gar keinen Umständen auf eine Auslegung der berühmten Parabel verzichten – hier ist also meine: In der Parabel erfährt der Leser von einem Menschen, der am helllichten Tage mit einer Laterne ausgestattet auf einen Marktplatz läuft und dabei unentwegt schreit: „Ich suche Gott!“ (FW 125; KSA 3, 480)⁴⁰⁵ Nicht nur auf Grund seines seltsamen Auftretens sorgt er bei den Beobachtern dieser bizarren Szene für spöttische Heiterkeit, sondern namentlich wegen seines in ihren Augen so lächerlichen wie sinnlosen Vorhabens; die umstehenden Menschen glauben nämlich nicht an Gott. Indes lässt sich der tolle Mensch nicht von den Reaktionen seines unfreiwilligen Publikums beirren. Er springt vielmehr mitten unter sie und verkündet von dort aus, unter den zum Hinblicken gezwungenen Augen aller Anwesenden, seine unheilvolle Botschaft, die zugleich eine schreckliche Anklage enthält: „Wohin ist Gott? (…) ich will es euch sagen! Wir hab e n i h n ge tö dte t  – ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir diess gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir die Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach

405 Die Anspielung auf die berühmte Anekdote des Diogenes von Sinope, der sich ebenfalls mitten am Tag mit einer entzündeten Laterne auf Menschensuche begibt, ist nicht zu übersehen (vgl. DL, I, VI, 39): Der Kyniker Diogenes will die Menschen mit seiner scheinbar sinnlosen Tat darauf hinweisen, dass man dort, wo man aufhört zu suchen und zu hinterfragen, weil man alles für selbstverständlich hält, den Dingen die Möglichkeit einer Entwicklung nimmt. Gerade bei den Dingen, die uns am vertrautesten zu sein scheinen, und die wir darum nicht mehr zum Thema machen, lassen sich womöglich noch unentdeckte Schätze heben. Einfacher ausgedrückt: Diogenes will die Menschen darauf stoßen, dass sie in ihrem alltäglichen Verhalten die Möglichkeiten des Menschseins auf sträfliche Weise unterbieten. Er will mit seiner scheinbar unsinnigen Handlung bewirken, dass der Mensch sich wieder selbst zum Thema wird. Nietzsche scheint nun, wofür Hödl 2009, 416 (Anm. 919), plädiert, mit seinem Rekurs auf die bekannte Anekdote etwas ganz Ähnliches im Sinn zu haben, nämlich die Frage „nach den Möglichkeiten des Menschseins nach dem Tode dessen, der sie bisher vorgegeben hat (…).“

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allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? (…) Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besass, es ist unter unseren Messern verblutet (…). Ist nicht die Grösse dieser That zu gross für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen?“ (FW 125; KSA 3, 480f.)

Die Zuhörer reagieren hierauf, mittlerweile doch eher erschreckt als belustigt, mit betretenem Schweigen. Der tolle⁴⁰⁶ Mensch aber entnimmt dieser Reaktion, indem 406 Es sei mir an dieser Stelle eine kleine Ausführung zur „Tollheit“, d. h. zum Wahnsinn des tollen Menschen gestattet. Man könnte den tollen Menschen ja auch statt für wahn- für feinsinnig halten, schließlich begreift er die epochale Bedeutung eines Geschehnisses, die den anderen entgeht. Wahnsinnig ist er aus der Sicht der weniger Feinsinnigen, der Marktbesucher, d. h. der Durchschnittsmenschen, wie Wahnsinn überhaupt eine Frage der Zuschreibung ist: „Den Wahnsinn findet man nicht im Naturzustand. Den Wahnsinn findet man nur in einer Gesellschaft, er existiert nicht außerhalb der Formen der Empfindsamkeit, die ihn isolieren, und der Form der Zurückweisung, die ihn ausschließen oder gefangen nehmen“ (Foucault 2001[1961], 236). Die Bürde des Wahnsinnigen ist es, nicht für voll, nicht ernst genommen, sondern stattdessen verlacht zu werden, und zwar sowohl für das, was er ist – wie er sich gebärdet: der unter die Menschen springende tolle Mensch und im Übrigen auch der im Gestus und Duktus des Propheten auftretende Zarathustra –, als auch für das, wovon er kündet: Man hält die Aussagen des Verrückten für unsinnig und ebenso für wert-, weil nutzlos. Man hält sie im besten Fall für erheiternd, im schlechtesten aber für aufdringlich. Letzteres gilt für die Aussagen des tollen Menschen in besonderem Maße, und es drängt sich der Verdacht auf, dass es vorzüglich an dieser Aufdringlichkeit liegt, dass man die betreffende Aussage und damit auch den Aussagenden für verrückt erklärt, so dass man das Gesagte nicht mehr ernst nehmen muss. Was der Wahnsinnige sagt, ist nicht wahr – also muss man sich auch nicht weiter damit befassen. Die Welt, in der der Wahnsinnige lebt, wird für falsch erklärt. Somit wird er gleichsam wie ein ungebetener Gast aus der „wahren“ Welt hinausgeworfen oder zumindest wie ein ungeliebtes Möbel, welches in der zeitgemäß-geschmackvollen, in der geordneten und ordentlichen Wohnung stört, ver-rückt, so dass es aus dem Blickfeld genommen ist – am besten man bringt es auf den Speicher oder wahlweise in den Keller. Der Wahnsinnige ist somit der Ver-rückte bzw. Verdrängte oder Hinausgedrängte. So gesehen ist Wahnsinn ein Gesellschaftsphänomen: Die Gesellschaft bestimmt, wer wahnsinnig ist, indem sie jemanden für wahnsinnig erklärt. Wahnsinn ist dann nicht irgendein ontologischer Zustand, der einem bestimmten Objekt wesensmäßig zukommt, sondern ein von außen kommendes Verhängnis, insofern er über das betreffende oder besser: betroffene Objekt verhängt wird. Der als wahnsinnig Gebrandmarkte wird solcherart aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Sein Wort hat jetzt kein Gewicht mehr. Derart ist er zum Schweigen verurteilt, gleichviel ob er es nun de facto tut oder nicht. Die Gesellschaft auf dem Marktplatz, mit der sich der tolle Mensch (genau wie Zarathustra) konfrontiert sieht, macht ihn also mundtot. Obschon die Marktplatzbesucher damit kaum ein faires Verhalten den Tag legen bzw. eine ausgesprochen harsche Taktik verfolgen, kann man ihnen in Rücksichtnahme ihrer Lage und ihrer mentalen Konstitution doch nicht allzu Gram sein. Es gab Phasen in der Menschheitsgeschichte, in der man, wie Michel Foucault ausgeführt hat, dem Wahnsinn wenigstens teilweise auch eine „Kundgabe- oder Offenbarungsfunktion“ (Foucault 2001[1961], 236) zugebilligt hat; man dürfe nicht vergessen, so Foucault, dass beispielsweise Lady Macbeth erst dann die Wahrheit zu sagen beginnt, als sie verrückt wird. Möglich also, dass auch der tolle Mensch (und genauso Zarathustra) etwas Wahres verkündet. Bedenkt man nun ferner die für das Denken Nietzsches so wichtige Ansicht, wonach es ein Wertmesser des Menschen sei, wie viel

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er seine Laterne zu Boden wirft, dass die Menschen noch nicht weit genug sind, um seine Botschaft vom Tod Gottes auch tatsächlich in ihrer ganzen Gravität und Tragweite zu begreifen:⁴⁰⁷ „Ich komme zu früh (…) ich bin noch nicht an der Zeit. Diess ungeheure Ereigniss ist noch unterwegs und wandert, – es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. (…) – Diese That ist ihnen noch immer ferner als die fernsten Gestirne, – und doch haben sie dieselbe gethan!“ (FW 1 2 5; KSA  3, 481 f . )

Nun ist diese Parabel, wie oben bemerkt, längst zu einer Art Klassiker unter den modernen Texten des Atheismus geworden. Das ist allerdings auch kein Wunder. Allein die Sprach- und Bildgewalt des Textes wären Grund genug, um seine Kanonisierung zu rechtfertigen. Andererseits darf man aber doch ein wenig erstaunt über seinen Status als Klassiker sein, insofern der Text ja keinerlei Argumente gegen die Existenz Gottes in Anschlag bringt, sondern dessen Ableben vielmehr kategorisch verkündet. Wohl wird die Faktizität von Gottes Tod vom Autor geschickt suggeriert, indem die Zuhörer des tollen Menschen diesen Tod bereitwillig als Faktum akzeptieren. Gott ist tot, scheint für sie ein ebenso wahrer Satz zu sein wie das analytische Urteil: „Regen ist nass“. Die Gültigkeit der Hypothese des Todes Gottes – denn nichts anderes als eine Annahme stellt sie unter argumentativem Gesichtspunkt dar  – ist deswegen allerdings noch nicht bewiesen. Allein darum geht es Nietzsche in Der tolle Mensch auch gar nicht, gleichwohl die Parabel, indem sie die Frage aufwirft, wie es überhaupt zum Tod Gottes hat kommen können, doch wieder mitten in die Problematik der Glaubwürdigkeit der Existenz Gottes hineinführt. Durch die in der Klage des tollen Menschen mitenthaltene universale Mordanklage erhält die Frage nach dem Wie des Todes Gottes eine bedeutsame Spezifikation. Verhandelt wird demnach ein Mordfall, bei dem nicht nach dem Täter gefahndet wird; was ja auch ein Unsinn wäre, ist dieser doch bereits ausgemacht. Stattdessen wird eine Rekonstruktion des Tathergangs angestrebt, die, wie sich zeigen wird, zudem das entscheidende Motiv der Tat freilegen wird. Das Urteil dieses Prozesses betrifft, genau wie die Anklage, zwar alle Menschen, jedoch werden es die Menschen, je nach ihrer individuellen Stärke bzw. Schwäche, entweder als Fluch oder als Segen erfahren. Denn durch das

Wahrheit er ertragen könne, ohne daran zu Grunde zu gehen (vgl. NL 1887–1889, KSA 13, 16[32], 492), dann wird man wohl vermuten dürfen, dass nach Nietzsches Dafürhalten der Wert der Menschen auf dem Marktplatz eben nicht dem Wert des tollen Menschen (und schon gar nicht dem Zarathustras) entspricht, dass diese „Durchschnittsmenschen“ schlechterdings nicht stark genug sind, um mit den durch Nietzsches Kunstfigur(en) offengelegten Wahrheiten fertig zu werden. Insofern diese Wahrheiten die durchschnittlichen Menschen auf dem Marktplatz dazu zwingen, Stellung zu sich selbst und der eigenen Lebenssituation zu nehmen, werden sie von ihnen als aufdringlich empfunden. Man will sie nicht hören. 407 Für sie gilt einstweilen das berühmte Wort Hegels: „Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt“ (Hegel 1970[1807], 35).

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Urteil wird der Mensch ganz und gar auf sich selbst verwiesen, indem er fortan, wie sich mit Anlehnung an ein berühmtes Wort Jean Paul Sartres pointiert formulieren lässt, „dazu verurteilt[ist], frei zu sein“ (Sartre 1994[1945], 155). Weil diese mit dem Tod Gottes einhergehende Freiheit⁴⁰⁸ aber auf Grund von allgemeiner Schwäche nur von den wenigsten Menschen auch als solche positiv ergriffen werden kann,⁴⁰⁹ prognostiziert Nietzsche für die nächste Zeit nach der Bewusstwerdung des Todes Gottes eine Abfolge fürchterlicher Katastrophen bzw. sagt eine katastrophale Zeit voraus. Um nun das Ungeheure des Ereignisses in seinem ganzen Umfang ermessen zu können, womit zugleich auch die Tollheit des tollen Menschen erklärt und in ihrer Berechtigung verstanden wäre, muss es nach drei Richtungen hin befragt werden: 1. Wer oder was genau ist da eigentlich zu Tode gekommen bzw. getötet worden? Und welche Konsequenzen wird diese unerhörte Tat zeitigen? 2. Wie war es dem Menschen möglich, Gott zu ermorden bzw. wie stellt sich der Tathergang im Einzelnen dar und welches ist das entscheidende Motiv der Tat? 3. Inwiefern bedeutet die Tat womöglich eine Chance für die Menschheit?

6.1 Der Tod Gottes als Tod zweier Götter: des Gottes der jüdischchristlichen Offenbarungsreligion und der obersten Idee der abendländischen Metaphysik Um eine Vorstellung davon zu erhalten, was Gott uns bedeutet resp. bedeutet hat und wessen wir folglich durch seinen Tod verlustig gegangen sind, werde ich die drei offensichtlich als Metaphern oder Chiffren für Gott eingesetzten Begriffe: (A) das Meer, (B) den Horizont und (C) die Sonne auf ihren Bedeutungsgehalt hin untersuchen. Dabei dürfen freilich die Handlungen, die an den Symbolbegriffen vollzogen werden (für (A) das Austrinken, für (B) das Wegwischen und für (C) das Losketten), nicht außer Acht gelassen werden, denn erst durch sie erhalten die Metaphern ihre eigentümliche Sinnspitze. Anders: Der jeweilige Symbolbegriff bildet erst im Verbund mit der ihm zugeordneten Handlung die eigentliche Metapher, die es zu interpretieren gilt. Alle drei Metaphern lassen sich, wie Hödl (2009, 427) richtig bemerkt, „auf die[ihrerseits bildhafte – E.B.] Formel ‚Sturz in das Nichts‘ zurückführen.“

408 Die positive Deutung des Todes Gottes als Befreiung zur Autonomie des Menschen ist so nicht aus dem hier zu interpretierenden Aphorismus 125 der Fröhlichen Wissenschaft zu extrahieren. Wohl aber ist sie aus dem Aphorismus 343 desselben Werkes abzulesen, der sich unzweifelhaft auf FW 125 bezieht. Dazu gleich mehr. 409 Bei Sartre ist der Gedanke ja auch, dass der Existenzialismus ein Humanismus ist und keine Barbarei, die sich, nachdem mit Gott der allgemeine Gesetzgeber einer Ethik gestorben ist, auf destruktive Art gebärdet, wie es ihr gefällt.

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(A): Das Meer symbolisiert das Unendliche und Unerschöpfliche, so wie eben auch das Sein Gottes als unendlich und unerschöpflich vorgestellt wird. In der Unendlichkeit Gottes ist alles Seiende einbezogen. Indem der Mensch nun das Meer austrinkt, nimmt er das Unendliche in sein endliches Dasein gleichsam hinein. Wenn das Meer als dasjenige, welches alles Seiende umfasst, ja als „das Ganze des Seienden als solchen“, vom Menschen ausgetrunken wird, dann wird alles Seiende zum Gegenstand des Menschen. Es wird „als das Objektive in die Immanenz der Subjektivität hinein getrunken“ (Heidegger 1977[1943], 241). Dieser, vom Menschen ausgehende, paradoxe  – wie sollte es dem Endlichen möglich sein, das Unendliche in sich „hineinzutrinken“? – Vorgang ist, wie man leicht einsieht, eine radikale Negation Gottes. (B): Den Horizont verstehe ich hier im Sinne des griechischen „péras“ als Grenze. Es ist natürlich kein Zufall, dass die Grenze, péras, das Gegenteil des Unendlichen, also des durch das Meer eingeführten „apeiron“ ist. Gott vereint als Symbiose alles Seins bzw. als das Ein-und-Alles eben auch das Gegensätzliche in sich. Der Horizont ist jedenfalls das Begrenzende, was jedoch nicht im Sinne eines negativ Begrenzenden gemeint ist, als ein Einschnitt in das menschliche Leben im Sinne einer Beschneidung der menschlichen Freiheit etwa, sondern, ganz im Gegenteil, als die Bedingung der Möglichkeit von Freiheit und menschlichem Leben überhaupt. Ich denke den Horizont hier als eine alles Seiende umschließende Grenze, vermittels welcher sowohl das jeweilige einzelne Seiende als auch die Welt überhaupt erst als Ganzes vorgestellt werden können. „Grenze“ meint demnach das „Prinzip, auf dessen Grund der Mensch sich selbst und seine Welt als Gestalt apperzipieren“ (Rohrmoser 1970, 249) kann.⁴¹⁰ Auf Grund eines solchen Prinzips wird eine Ordnung der Zwecke, wie sie der Mensch für gewöhnlich für sich ausbildet, damit sie ihm als Leitfaden seiner Handlungen dienen kann, allererst möglich.⁴¹¹ Ein auf ein letztes Ziel (wie das gelingende Leben) hin ausgerichteter Lebensentwurf bedarf eines solchen Horizontes, der das Ganze umschließt und gleichsam einfängt, so dass es überhaupt erst ein Ganzes wird. Ansonsten gäbe es schlicht kein gestalthaftes Ganzes, sondern nur ein irgendwie unförmiges, waberndes Unendliches (apeiron). So gesehen ist der Mensch auf Begrenzung angewiesen. Mit dem Wegwischen des Horizontes wird ihm daher eine seiner fundamentalen Lebensbedingungen entzogen.

410 „Gewiß aber sind Anfang und Ende die Grenzen eines jeden. – Wie sonst? Unbegrenzt also ist das Eins, wenn es weder Anfang noch Ende hat? – Unbegrenzt? Also auch ohne Gestalt (…)“ (Parm., 137d). 411 Wie Platon ausführt, ist die Grenze das Prinzip, welches nicht nur die Schlechtigkeit und Unüberschaubarkeit des Unbegrenzten (apeiron) im Bereich der Zahlen und Dinge, sondern auch im Bereich der Handlungen aufhebt und zwar in Schönheit, Gesetz und Ordnung (vgl. Phile., 25b). In diesem Sinne spricht auch Aristoteles von der Grenze, die den Dingen nicht nur ihre Form und somit allererst Erkennbarkeit verleiht, sondern auch „Ziel (der Zweck) eines jeden Dinges, ein solches nämlich, zu welchem die Bewegung und die Handlung hingeht“, ist (Met., 1022a).

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(C): Das Bild der Sonne evoziert im – philosophisch wenigstens einigermaßen bewanderten  – Leser beinahe zwangsläufig die Erinnerung an das platonische Sonnengleichnis. Mit diesem verhält es sich nun wie folgt: Die Sonne symbolisiert die Idee des Guten. Wie die Sonne den Dingen in der Welt Wachstum und Werden verleiht, ohne dabei ihrerseits dem Werden zu unterliegen, so verleiht die Idee des Guten den Dingen der intelligiblen Welt, den Ideen mithin, ihr Sein. Die Idee des Guten ist auf diese Weise sogar von noch höherem Rang als das ewige und unveränderliche Sein der Ideen – was die Bestimmung ihres ontologischen Status zu einer intrikaten Aufgabe macht. Es liegt durchaus nahe, die Idee des Guten, die hier offenbar als Existenzgrund des Seins fungiert, als eine Art Gott zu verstehen, zumal Platon wiederholte Male von den göttlichen Ideen spricht. Zugleich ist sie somit aber auch der Existenzgrund des irdisch Seienden, weil die sinnlichen Dinge ja als Abbilder der intelligiblen Ideen von diesen abhängig sind. Neben dieser ontologischen Bedeutung der Idee des Guten hat sie jedoch auch eine epistemologische Bewandtnis. Um zu verdeutlichen, wie die Vernunfterkenntnis der intelligiblen Ideen von statten geht, bemüht Platon das Modell der sinnlichen Wahrnehmung, genauer: des Sehens. Auch hier geht nichts ohne die Sonne. Sie verleiht dem Sichtbaren nämlich erst das Vermögen, überhaupt sichtbar zu sein. Die Sonne ist die Ursache der Helligkeit, ohne die dem Auge seine Sehkraft, die es im Übrigen ebenfalls der Sonne – als eine Art Ausfluss derselben – verdankt, nichts nützen würde. Die Helligkeit erfüllt den Raum zwischen dem Auge und dem Objekt des Sehens und ist sonach das zwischen beiden vermittelnde Medium. Nun aber die Analogie: So wie sich die Sonne im Bereich des Sichtbaren zum Gesichtssinn und zum Objekt des Sehens verhält, so verhält sich das Gute im Bereich der intelligiblen Welt, des Denkbaren also, zum Denkvermögen und zum Gedachten. Dasjenige aber, was wir denkend erkennen, ist das Wahre. Die Idee des Guten stellt demnach bei Platon „jene Kraft“ dar, „die den Objekten des Denkens die Wahrheit und dem erkennenden Subjekt die Kraft des Erkennens gibt“ (Rep., 508e). In einer Zusammenfassung der ontologischen und epistemologischen Bedeutung lässt sich die Idee des Guten also als der Grund der Existenz und der Wahrheit der Ideen begreifen. Von diesen Ideen aber sind die irdischen Dinge bekanntlich nur Abbilder. Streng genommen eignet letzteren also weder wahre Existenz noch sind sie wahrhaftig erkennbar.⁴¹² Allerdings lassen sie sich auf eine höhere Wahrheit zurückführen, die auch als solche erkannt werden kann. In diesem Sinne bedeutet Wahrheit

412 Bei der platonischen Ideenlehre hat man es mit einer Verschränkung von drei Ebenen zu tun, nämlich einer ontologischen, einer epistemologischen und einer axiologischen. Platon vertritt die Auffassung, dass die Dinge verschiedene Seinsgrade haben, wobei die irdischen Dinge von niederem Sein sind als die intelligiblen Ideen, die hingegen hinsichtlich ihres Seins von der Idee des Guten abhängig sind. Auf epistemologischer Ebene gilt die Regel: „je seiender, desto erkennbarer“, weil sich Sein und Wahrheit bzw. Wahr-Sein entsprechen. Unter axiologischem Gesichtspunkt gilt endlich: „je seiender, desto besser“ und damit korrespondierend: „je wahrer, desto besser“.

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also nicht Urteilswahrheit, sondern „die Erschlossenheit der einzelnen Idee“ (Krämer 1997, 185). Diese Erschließung ist indes nur durch die Idee des Guten möglich, die folglich als Ermöglichungsgrund der transzendenten Ideen noch über diesen steht und somit eine Art „Supratranszendenz“ darstellt. Die Erschließung dessen, was mit dieser Supratranszendenz gemeint ist, lässt sich nun, wie ich meine, überaus gewinnbringend bei der Interpretation von Nietzsches Parabel verwenden. Von daher muss als nächstes geklärt werden, was das eigentlich bedeuten soll, dass die Idee des Guten eine Supratranszendenz sei. Was also ist das von Sokrates verschwiegene Sein des Guten, von dem er, und das scheinbar widerwillig, nur einen „Spross“ (vgl. Rep., 506c) mitzuteilen bereit bzw. in der Lage ist? Einen wichtigen Hinweis zur Beantwortung dieser schwierigen Frage erhält man, wenn man die Idee des Guten mit der in Platons Politeia vielfach verwendeten Formel von Ordnung und Einheit in Zusammenhang bringt. Platons Auffassung, wonach die Herrscher des Staates Philosophen sein müssen,⁴¹³ wenn der Staat ideal (und das meint vorzüglich: gerecht) eingerichtet sein soll, ist hinlänglich bekannt. Platons Begründung ist prima facie gleichermaßen einfach und schlagend: Nur die (wahren) Philosophen haben die Idee des Guten geschaut, und nur wer dies getan hat, besitzt auch die Kompetenz, einen Staat im Sinne ebenjener höchsten aller Ideen zu führen. Selbst der Besitz oder die Einsicht in so wichtige Ideen wie die Gerechtigkeit und die Schönheit ist im Grunde belanglos, solange sie nicht in den rechten Zusammenhang gebracht sind, welcher nur dann hinreichend erfasst werden kann, wenn zuvor das Gute erkannt worden ist. Der Herrscher, der einen schönen und gerechten Staat anstrebt, muss demnach zuerst wissen, warum das Gerechte und das Schöne gut sind. Hat er aber das Gute erkannt, so wird die Verfassung auch „in richtiger Ordnung“ (Rep., 506a) sein.⁴¹⁴ Die Idee des Guten ist solchermaßen das Prinzip, das die Ideen erst in ihrem Zusammenhang, d. h. in ihrer Ordnung, erkennbar macht. Noch deutlicher wird der Ordnungscharakter der Gesamtheit der Ideen in einem früheren Abschnitt des sechsten Buches der Politeia: Denn wer sein Auge auf das Seiende[die Ideen – E.B.] richtet, (…) schaut und blickt auf Geordnetes, ewig Unverändertes, das untereinander weder Unrecht tut noch leidet, sondern in vernünftiger Ordnung ruht (…). (Rep., 500c)

Diese Stelle ist auch insofern bedeutsam, als hier neben den bereits angesprochenen ontologischen und epistemologischen Bedeutungen der Idee des Guten eine weitere Bewandtnis offenbar wird, nämlich die ethische: „Wenn der Philosoph mit dem Gött413 „Wenn nicht die Philosophen in den Staaten Könige werden oder die Könige (…) und Herrscher echte und gute Philosophen (…) gibt es (…) kein Ende des Unglücks in den Staaten“ (Rep., 473d). 414 Die richtige Ordnung aber bedeutet einen einheitlichen Staat, der, so Platon, allein würdig ist den Namen „Staat“ zu tragen. Die anderen Staaten aber sind es nicht, denn „ jeder von ihnen ist eine Staatenvielheit“ (Rep., 422e). Vgl. zur Einheit des Staates als das größte Gut für einen Staat ferner Rep., 461b.

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lichen und Geordneten umgeht, wird er selbst, soweit es ein Mensch kann, göttlich und geordnet“ (Rep., 500c). Wie der Staat durch die richtige Ordnung, d. i. die vernünftige, zu einem einheitlichen Staat und somit zu einem guten Staat wird, so hängt auch die Güte der menschlichen Seele wesentlich von ihrer Einheitlichkeit ab. Erst die Ordnung der verschiedenen Seelenteile⁴¹⁵ bewirkt eine Einheit in der Vielheit; die rechte Ordnung aber ist diejenige, darin der vernünftige Seelenteil die Herrschaft hat.⁴¹⁶ Der wahrhaft gerechte Mensch ist darum jemand, der „keinen der Seelenteile Unangemessenes verrichten“ lässt. Vielmehr „herrscht[er] über sich in Ordnung und Freundschaft zu sich selbst und stimmt die drei Seelenteile ab wie die Hauptsaiten der Lyra, die oberste, unterste und alles was dazwischen liegen mag, all das bindet er zusammen“, so dass „aus vielem wahrhaft einer“ wird (Rep., 443d). Damit ein Staat ein idealer Staat wird oder ein Mensch ein wirklich guter Mensch, bedarf es Platon zufolge also der durch Ordnung erlangten Einheitlichkeit. Diese kann indes im Bereich des Irdischen nur dann auch wirklich erreicht werden, wenn sie sich von der Ordnung des transzendenten Reiches der Ideen herleitet. Jene göttliche Ordnung aber verdankt sich wiederum eines Höheren, der von mir sogenannten „Supratranszendenz“. Und diese ist, wie gesagt, die Idee des Guten, d. h. jene Idee, die sich als „Grund und Ursprung von Einheitlichkeit ebenso wie von Ordnung“ (Krämer 1997, 189) auszeichnet. Alles in allem darf man also „bis zu einem gewissen Grade schon aus dem Gedankengang der Staatsschrift erschließen, dass das von Sokrates zurückgehaltene Wesen des Guten die Einheit selbst ist“ (Krämer 1997, 189).⁴¹⁷ Von hier aus erklärt sich endlich, inwiefern das Gute bzw. die Idee des Guten „über das Sein an Erhabenheit und Kraft hinausragt“ (Rep., 509b):⁴¹⁸ „Seiendes

415 In der Politeia ordnet Platon die Seele in drei Teile, einen vernünftigen (to logistikon), einen unvernünftigen, begehrenden (to epithymetikon) und einen zornmütigen (to thymoeides) (vgl. Rep., 439d). 416 In diesem Sinne verseht Platon auch den Ausdruck „sich selbst überlegen sein“: „Im Menschen selbst ist, was die Seele anbelangt, ein besserer und ein schlechterer Teil vorhanden. Wenn nun der von Natur aus bessere Teil Herr des schlechteren ist, dann sagt man: sich selbst überlegen“ (Rep., 431d). Der bessere Teil ist nach Platon freilich der vernünftige, der schlechtere der unvernünftige. 417 Die Relativierung des „bis zu einem gewissen Grade“ hebt Krämer dann im nachfolgenden Satz dadurch auf, dass er sich auf Platons sogenannte „ungeschriebene Lehre“ beruft: „Vom Text her bleibt dies zwar eine bloße Mutmaßung, die jedoch durch die Einbeziehung der indirekten Überlieferung ihren hypothetischen Status verliert. Dem Befund der Politeia entspricht nämlich in der ungeschriebenen Lehre (‚Über das Gute‘) die Bestimmung des Guten als Einheit (…)“ (Krämer 1997, 189). 418 Diese eminent wichtige Textstelle (im griechischen Originaltext: „epekeina tes ousias“) wird seit Anbeginn der Platon-Interpretation viel diskutiert. Wenn ich das Gute als ontologisch noch über den transzendenten Ideen stehend interpretiere, vertrete ich zwar keine exklusive Meinung, jedoch gibt es auch zahlreiche Interpreten, welche die Idee des Guten wohl als vor den anderen Ideen ausgezeichnet begreifen, ihr aber einen ontologischen Sonderstatus absprechen. Auch diese Interpreten haben natürlich ihre Gründe: Zum einen wird die Idee des Guten als größter Gegenstand des Wissens (megiston mathema, 504d) bezeichnet, zum anderen ist es möglich, auch von ihr eine Wesensbestimmung zu geben (logos tes ousias, 534b).

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ist  (…) als Begrenztes definiert und darum das Eine-Gute als Begrenzendes folgerichtig als diesem Status vorhergehend verstanden“ (Krämer 1997, 192). Das Gute ist mithin das positiv Begrenzende, ganz im Sinne des begrenzenden Horizontes, wie ich ihn in (B) beschrieben habe. Mit dem Bild der Sonne bringt Nietzsche sonach gegenüber der Metapher vom Horizont nicht einen gänzlich neuen Aspekt in seine Parabel ein. Die Metapher „Sonne“ ist vielmehr eine Ausgestaltung des Bildes vom Horizont. Deutlicher noch als vermittels der Metapher vom weggewischten Horizont wird im Bild der von ihrer Sonne losgeketteten Erde, wie dem Menschen seine (bisherigen) Lebensbedingungen entzogen werden, zumal hier besonders klar wird, dass mit dem Tod Gottes auch die Einheit von Sein und Wahrheit zerbrochen ist. Zum Verhältnis von (B) und (C): Dieser womöglich umständlich anmutende Weg über eine Interpretation des Sonnengleichnisses wird durch einen Blick auf die Entstehungsgeschichte⁴¹⁹ der Parabel gerechtfertigt. Bis zu ihrer definitiven Textgestaltung hat die Parabel einen bemerkenswerten Prozess von Erweiterungen und Umformungen durchlaufen. Schon in den frühen Stadien des Textes hebt das Fragen des tollen Menschen mit dem Metaphernpaar des ausgetrunkenen Meeres und des weggewischten Horizontes an. Erst im allerletzten Augenblick, bei der Fahnenkorrektur nämlich, findet die Loskettung der Erde von ihrer Sonne als dritte Metapher Eingang in den Text. Sie löst damit die Rede von der „Linie“ ab, die in einer Vorstufe der endgültigen Textfassung das Bild vom weggewischten Horizont fortgeführt hatte.⁴²⁰ Diese späte Aufwertung des Sonnensymbols  – die Sonne kam bis dato immerhin zweifach, wenn auch jeweils in negativem Modus vor, nämlich im Bild der Sonnenfinsternis sowie in der Rede von der Kälte – bringt fraglos einen ästhetischen Gewinn: Aus einem Metaphernpaar wird eine -trias, die einen sehr viel flüssigeren Übergang zu den Fragen ermöglicht, die an den Metaphernkomplex anschließen.⁴²¹ Außerdem erhält die Parabel jetzt eine deutliche gegen Platon und seine Zwei-Welten-Lehre gewendete Spitze. Wichtiger als der ästhetische Gewinn ist indes, dass die zusätzliche Metapher vor dem Hintergrund des Sonnengleichnisses auf die bereits angesprochene Auflösung der Einheit von Wahrheit und Sein verweist; eine Auflösung, die den Sturz in die absolute Orientierungslosigkeit, den Nietzsche als Folge des Todes Gottes prophezeit, erst zu einem solchen Sturz ins wahrhaft Bodenlose macht. Zu Recht

419 Vgl. hierzu Biser 1982, 57–71; Brusotti 1997, 404–424. 420 In besagter Vorstufe hieß es: „Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Ohne diese Linie – was wird nun noch unsere Baukunst sein! Werden unsere Häuser noch fürderhin fest stehen? Stehen wir selber noch fest?“ (KSA 14, 257). Die Linie führt offenkundig die Metapher des Horizonts weiter aus, ganz im Sinne des gestaltgebenden Prinzips, als welches ich den Horizont (péras) verstehe. Interessant ist außerdem, dass Nietzsches zuletzt gestrichene Rede von der Linie offenbar auf ein Tertullian-Zitat zurückzuführen ist, in welchem explizit Gott als „des Weltalls äußerste Linie (universitatis extrema linea)“ bezeichnet wird (vgl. Biser 1982, 70). 421 „Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend?“ (FW 125; KSA 3, 481).

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   Der Tod Gottes

weist Eugen Biser bei seiner Interpretation der Parabel darauf hin, dass ihre Deutung nicht bei der „zweifellos griffigsten Stelle“ des Sonnensymbols einsetzen darf, weil „die Entstehungsgeschichte ein eindeutiges Veto dagegen“ einlegt (Biser 1982, 62).⁴²² Sie muss stattdessen bei der Deutung des Bildes vom weggewischten Horizont einsetzen, als eines Bildes, das sich während der Entstehungsgeschichte kontinuierlich durchgehalten hat. Dabei darf aber keineswegs die Funktion des Sonnensymbols in seiner buchstäblichen Erhellung des Bildes vom Horizont übersehen werden. Erst vor diesem aus dem Zusammenhang der Metaphern gewonnenen Hintergrund kann Nietzsches spätere Rede vom freien, wenn auch nicht mehr hellen Horizont und vom offenen Meer vollends verstanden werden.⁴²³ Ich komme jetzt, nach der Dechiffrierung der Gotteschiffren, zur Ausgangsfrage zurück, also zu dem Problem, wer oder was eigentlich ermordet wurde. Endlich ist es möglich, eine Antwort darauf zu geben. Es handelt sich im Grunde genommen um zwei ermordete Götter: den Gott der jüdisch-christlichen Offenbarungsreligion⁴²⁴ und den Gott der Metaphysik bzw. die höchste Idee, auf welche sich die Metaphysik des Abendlandes stützt. Mit dem Fall dieser Idee erübrigt sich jede externe Orientierung für die Lebenswelt des Menschen. Mit dem dem Menschen gewissermaßen von außen gegebenen Zentrum der Welt ist es nun nichts mehr. Insofern dieses dem Menschen aber zugleich als Sinn des Lebens (als das Woraufhin des Lebens, wenn man so will) und Handlungsmaßstab diente, ist seine jetzt dezentralisierte Welt ihres (bisherigen) Sinns beraubt. Heidegger bezeichnet diesen Verlust als den „metaphysischen Sinn“ der Rede von Gottes Tod:

422 Das heißt allerdings nicht, dass sie gar nicht bei einer der drei Metaphern ansetzen darf, wie Brusotti 1997, 411, meint. 423 Anders sieht das Brusotti 1997, 411: „Wer den Kern des Aphorismus in den Gleichnissen sieht, mit denen der tolle Mensch Gott und dessen Tod beschreibt, misst diesen Bildern zuviel Gewicht bei. Die drei unmöglichen Handlungen (…) symbolisieren die scheinbar paradoxe Tat des ‚Mordes‘ an Gott; das Mißverhältnis zwischen dem Menschen und den ungeheuren Naturgrößen Meer, Horizont und Sonne gibt das Mißverhältnis des Mörders zum Ermordeten wieder. Die Bilder kommen einfach allmählich hinzu, um den Gottesverlust pathetisch auszudrücken.“ Bedacht werden sollte bei dieser unterschiedlichen Bewertung der Rolle der Bilder für eine angemessene Interpretation der Parabel, dass Brusotti mehr daran gelegen ist, die sich nach dem Tod Gottes für den Menschen ergebenden Möglichkeiten als den nihilistischen Effekt des unerhörten Ereignisses ins Licht zu rücken, während es mir umgekehrt mehr um Letzteres zu tun ist. 424 Während es, wie oben geleistet, einer gewissen interpretatorischen Anstrengung bedarf, um zu zeigen, dass es sich bei dem Verstorbenen um den Gott der Metaphysik handelt, versteht es sich beinahe von selbst, dass der Gott der jüdisch-christlichen Offenbarungsreligion gemeint ist. Spätestens mit dem Ende der Parabel sollten alle diesbezüglichen Zweifel beseitigt sein: „Man erzählt noch, dass der tolle Mensch des selbigen Tages in verschiedene Kirchen eingedrungen sei und darin sein Requiem aeternam deo angestimmt habe. Hinausgeführt und zur Rede gesetzt, habe er immer nur diess entgegnet: ‚Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?‘ –“ (FW 125; KSA 3, 482).

Die Folgen von Gottes Tod   

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Was vormals in der Weise von Ziel und Maß das Menschenwesen bedingte und bestimmte, hat seine unbedingte und unmittelbare und vor allem überallhin unfehlbar wirksame Wirkungsmacht eingebüßt. Jene übersinnliche Welt der Ziele und Maße erweckt und trägt das Leben nicht mehr. Jene Welt ist selbst leblos geworden: tot (…). Der übersinnliche Grund der übersinnlichen Welt ist, als die wirksame Wirklichkeit alles Wirklichen gedacht, unwirklich geworden. Das ist der metaphysische Sinn des metaphysisch gedachten Wortes „Gott ist tot“. (Heidegger 1977[1943], 234)

Man kann den Sinn des Wortes auch prosaischer fassen: Der Tod Gottes besagt, dass die obersten Werte sich entwerten bzw. sich bereits weitgehend entwertet haben. Solange keine neuen sinnstiftenden Werte an ihre Stelle getreten sind, bedeutet diese Entwertung der obersten Werte aber nichts anderes als Nihilismus.⁴²⁵

6.2 Die Folgen von Gottes Tod Im Zuge der Klärung der Frage nach dem Was des Todes Gottes oder exakter: dem Sein dessen, was da ermordet wurde, bin ich nun schon, mehr oder weniger unversehens, in die Analyse der Folgen dieser unerhörten Tat hineingeraten. Und genau darum soll es im Folgenden auch gehen. Die Welt wird sich, in diesem Punkt ist Nietzsche sich sicher, nach dem Ableben Gottes verändern. Die Frage ist nur, wie sie sich verändern wird. Eine vor allem psychologisch naheliegende Reaktion der Menschen auf das Verscheiden ihres ehemaligen Sinngaranten ist eine Art von nihilistischer Verzweiflung. Ob es nicht kälter geworden sei, jetzt, da die Erde von ihrer Sonne losgerissen sei, fragt der tolle Mensch. Und in der Tat: Der Tod Gottes kann sich leicht als ein Schatten auf das Gemüt des Menschen legen und dessen Seele verdüstern. Er kann den Menschen krank machen. In einem Nachlass-Notat stellt sich Nietzsche eine Peststadt vor, die nichts anderes als ein Bild für die Welt post deum ist. Das hoch infektiöse Bakterium, das hier blüht und gedeiht, ist der Nihilismus. Obschon Zarathustra davor gewarnt wird, sich in diese Stadt zu begeben, betritt er sie doch, furchtlos zwar, aber immerhin verhüllt. Dort wird er mit allen Arten des Pessimismus⁴²⁶ konfrontiert: Alle Arten des Pessimismus ziehen vorbei. Der Wahrsager d e u te t jeden Zug. Die Sucht zum Anders, die Sucht zum Nein, endlich die Sucht zum Nichts folgen sich. Zuletzt giebt Zarathustra die E rklärung: Gott ist todt, dies ist die Ur s a ch e der größten Gefahr: wie? sie könnte auch die Ursache des größten Muthes sein! (NL 1885–1887, KSA 12, 2[129], 128)

425 „Nihilism: es fehlt das Ziel; es fehlt die Antwort auf das ‚Warum?’ was bedeutet Nihilism? – d a ß d i e o b e r s te n We r t h e s i c h e n t we r t h e n“ (NL 1885–1887, KSA 12, 9[35], 350). 426 Zum Verhältnis „Pessimismus/Nihilismus“ bei Nietzsche vgl. Kapitel I.2 Anm. 8.

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   Der Tod Gottes

Die „größte Gefahr“, das ist für Nietzsche allzumal der Nihilismus, die Sucht zum Nichts, die Verneinung des Lebens, ein Wille, der das Nichts will. Wie gesehen ist dieser Wille bereits im Christentum, d. h. zu Lebzeiten Gottes, der heimliche Drahtzieher der westlichen Kultur gewesen. Es mag in Anbetracht dieses Umstandes zunächst überraschen, dass sich Nietzsche nach dem Tode Gottes ausgerechnet vor dem Nihilismus fürchtet. Ohne besondere Mühe lässt sich dagegen begreifen, wieso der Tod Gottes auch die Ursache des „größten Muthes“ sein kann, wie Zarathustra sogleich erkannt hat. Eben weil der Wille zum Nichts jetzt nicht mehr unter der Protektion des mächtigen Gottes steht. Endlich ist der Weg frei für eine Philosophie bzw. für eine Lebensform, die unter dem Panier des Lebens steht: „Der Wille zum Nichts ist tot, es lebe der Wille zum Leben!“ – so, oder so ähnlich, könnte die Losung nun lauten. Was Nietzsche bzw. Zarathustra befürchtet, ist derweil eine rapide Beschleunigung auf dem Weg der Abwärtsspirale, auf den die westliche Kultur spätestens seit dem Sklavenaufstand in der Moral geraten ist. Zwar hat der Wille zum Nichts mit Gott seinen mächtigen Beschützer verloren. Allerdings war Gott zur gleichen Zeit auch sein Bändiger. Das Christentum war ein Nihilismus auf Raten, wenn man so sagen darf, seine Geschichte die einer langsamen, gebremsten Talfahrt. Der Mensch wusste nichts von seiner Dekadenz, ahnte nicht, dass er sich dem Willen zum Nichts verschrieben hatte. Zunächst einmal wähnte er sich hingegen in ein sinnvolles Ganzes verwoben, in dem alles seinen sinnvollen Platz hatte. Dergestalt machte es für ihn wie selbstverständlich Sinn, ein sorgendes und planendes Leben zu führen, ein Leben, das er auf die ebenfalls im Rahmen des sinnhaften Ganzen verortete Zukunft hin entwarf. Mit dem Tod Gottes geht dieser Rahmen jedoch zu Bruch. Das Leben erscheint nun als Ganzes sinnlos. Nichts macht mehr Sinn. Das gilt auch für einen Willen, der noch etwas Bestimmtes will. Mit dem Sinn bzw. der Sinnhaftigkeit von etwas verhält es sich nämlich  – grob dargestellt  – so: Soll etwas sinnhaft sein, so muss es seine Sinnhaftigkeit von einem sinnverleihenden Sinn erhalten und dieser wiederum von einem solchen usw. Wilhelm Weischedel nennt dieses Verweisungsverhältnis „Sinnkette“ und meint damit, dass „wenn es überhaupt Sinnhaftes gibt“, dieses „innerhalb eines umfassenden Sinnzusammenhanges, in dem jedes einzelne Sinnhafte seine Sinnhaftigkeit von einem je höheren Sinnhaften her erhält“, stehen müsse (Weischedel 1983[1972], Bd. 2, 169). Soll diese Kette in „Richtung der Begründung (…) vom Sinngebenden zum Sinnhaften hin“ (Weischedel 1983[1972], Bd.  2, 170) nicht ad infinitum weiterlaufen und solcherart ins Nichts verlaufen, mithin in den Unsinn führen, dann muss es einen umfassenden, unbedingten, letzten Sinn geben.⁴²⁷ Gott war dieser unbedingte Sinn. Nietzsches Furcht vor einem sich vorzugsweise als Pessimismus äußernden Willen zum Nichts, der als Reaktion auf den Untergang dieses Sinns mächtig wird, ist also wohl begründet (und in diesem Sinne 427 Das heißt freilich nicht, wie Weischedel betont, dass es einen solchen Sinn in Wahrheit gibt, sondern nur, dass es ihn geben müsse, sofern es überhaupt einen Sinn geben soll (vgl. Weischedel 1983[1972], Bd. 2, 172).

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sinnvoll⁴²⁸). Was hier in seiner allgemeinsten Form beschrieben wurde, nämlich der allgemeine Sinnverlust durch die Absenz des alles zusammenhaltenden unbedingten Sinns, lässt sich natürlich in allen einzelnen Lebensbezügen nachweisen. Der Tod Gottes verändert vieles im Leben des Menschen. In einem Nachlass-Notat aus dem Jahr 1881 fasst Nietzsche die wesentlichen Konsequenzen, die der Tod Gottes für den Menschen mit sich bringt, in einer Reihe von Fragen zusammen. Bezeichnenderweise lassen alle diese Fragen nihilistische Antworten zu: Welches sind die tiefen Umwandlungen, welche aus den Le h re n kommen müssen, daß kein G ott für uns sorgt und daß es kein ewiges Sittengesetz giebt (atheistisch-unmoralische Menschheit)? daß wir T h iere sind? daß unser Leben vorbeigeht? daß wir unverantwortlich sind? (NL 1880–1882, KSA 9, 11[54], 461)⁴²⁹

Wenn kein Gott mehr für uns sorgt, sind wir auch nicht mehr in der Unendlichkeit Gottes aufgehoben. Wurde bei Paulus dem Tod der Stachel gezogen, so erhält dieser ihn nun wieder zurück. Die Unendlichkeit, die dem Menschen zunächst seine eigene Endlichkeit ausdrücklich vor Augen führt, hatte durch den Glauben an Gott ihren Schrecken verloren. Und mehr noch als das: Sie war sogar zur größten Hoffnung des Menschen geworden, der nun darauf bauen durfte, dass Gott ihn dereinst zu sich in seine Unendlichkeit und Ewigkeit hinaufheben werde. Durch den Tod Gottes jedoch entbehrt die Unendlichkeit jener persönlich sorgenden Dimension und wird so gleichsam zu einem alles Endliche verschlingenden schwarzen Loch – die nach der Transzendenz sich ausstreckende Hand des Menschen greift somit in das Leere eines antwortlosen Nichts. Einst hatte der Mensch mit Platon von einer befiederten Seele geträumt, die dazu in der Lage war, sich in das Reich des Ewigen hinaufzuschwingen, wenn sie sich erst aus dem Gefängnis ihres Körpers befreit hatte (vgl. Phdr., 245c–247c). Jetzt gleicht der Mensch jedoch viel eher dem spöttischen Bild einer flü-

428 Vgl. zum formalen Begriff des Sinns Weischedel 1983[1972], Bd. 2, § 118, 165–170. Vgl. außerdem Figal 2009, der festhält, dass es sich beim Sinn um einen „konstruktive[n] Zentralbegriff“ (Figal 2009, 149) handelt, der aber besonders schwer zu bestimmen sei, weil er so gehaltvoll und zugleich prima facie so leicht zugänglich sei: „[B]esonders schwer zu bestimmen ist das, zu dem man immer schon Zugang hat. Was im alltäglichen Verstehen keinen Widerstand bietet und so die Selbstverständlichkeit des Lebens ermöglicht, läßt sich, wenn es zum Gegenstand des Denkens wird, nur mit größter Mühe erkennen“ (Figal 2009, 148). Dieselbe Diagnose lässt sich, wie in der Einleitung dieser Arbeit gezeigt, auch für den Begriff „Nihilismus“ stellen, was, wie jetzt deutlich wird, daher rührt, dass der Nihilismus die negative Seite des Sinns darstellt, die ihrerseits die paradoxe Angewohnheit hat, sich dem philosophischen Fragen einerseits aufzudrängen, sich andererseits aber zugleich der Antwort zu entziehen (vgl. Figal 2009, 148). 429 Es soll aber nicht unerwähnt bleiben, dass Nietzsche durchaus einen Wink gibt, was sich verändern wird, einen Wink freilich, der sehr viel Interpretationsspielraum freigibt. So heißt es im oben zitierten Notat weiter: „d er Weise u n d d as T h ier werden sich n ä h e r n und einen neuen Typ u s ergeben!“

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   Der Tod Gottes

gellosen Eintagsfliege,⁴³⁰ das der griechische Komödiendichter Aristophanes geprägt hat. In diesem trostlosen Bild drückt sich das neue Selbstwert- oder besser: das neue Selbstunwertgefühl des Menschen aus. Er fühlt sich schlichtweg nichtig. Dieses neue Selbstverständnis muss umso ernüchternder wirken, als der Mensch sich dadurch, dass er von Gott geliebt wurde – und zwar nicht bloß als ein Exemplar einer bestimmten wertvollen Gattung, sondern jeder Einzelne als genau dieser bestimmte einzigartige Einzelne –, hinsichtlich seines Wertes absolut gesetzt fühlte. Jetzt aber ist es aus mit der Kindschaft und Ebenbildlichkeit Gottes. Der Mensch entdeckt sich stattdessen als Nachfahre des Affen und dergestalt als ein Wesen tierischer Provenienz: Ach, der Glaube an seine Würde, Einzigkeit, Unersetzlichkeit in der Rangabfolge der Wesen ist dahin, – er ist T h ier geworden, Thier, ohne Gleichniss, Abzug und Vorbehalt, er, der in seinem früheren Glauben beinahe Gott („Kind Gottes“, „Gottmensch“) war … Seit Kopernikus scheint der Mensch auf eine schiefe Ebene gerathen, – er rollt immer schneller nunmehr aus dem Mittelpunkte weg – wohin? in’s Nichts? in’s „durch b oh re n d e Gefühl seines Nichts“? (GM III 25; KSA 5, 404)⁴³¹

Wenngleich Nietzsche das Nichts und das Gefühl der totalen Bedeutungslosigkeit durch die Setzung des Fragezeichens am Ende des oben zitierten Textabschnittes nur als möglichen und nicht notwendigen Aufschlagspunkt des menschlichen Absturzes aus dem Zentrum des Kosmos in Aussicht stellt, so bleibt doch das Faktum, dass seit der „atheistischen kopernikanischen Wende“ (Lütkehaus 2003, 710) das Selbstwertgefühl des Menschen auf dem Spiel steht. Dem Menschen fehlt seitdem ein Rechtfertigungsgrund seiner Existenz. Neben dem Rechtfertigungsproblem entsteht durch den Tod Gottes aber auch ein Identifikations- oder Selbstverständnisproblem für den Menschen. Nietzsches von Zarathustra so vehement vorgetragener Ruf nach dem Übermenschen als neuem Sinn der Erde setzt genau hier an. Dass der Übermensch gerade dann auftritt, als Gott abtritt, ist alles andere als eine zufällige Koinzidenz. Denn mit dem Tod Gottes verliert der Mensch „seine traditionelle Stellung als ein zwischen Gottsein und Tiersein gestelltes Wesen“ (Löwith 1978[1941], 346). Somit ist die Bestimmung des Menschen zum Problem geworden (vgl. Löwith 1978[1941], 346). Sein eigenes bisheriges Selbstverständnis ist plötzlich antiquiert. Es taugt und trägt nicht mehr. Deswegen ist der Mensch dazu gezwungen, sich neu zu erfinden bzw. zu bestimmen. Genau das hat Nietzsche so deutlich wie kein Zweiter erkannt und folgerichtig seine philosophische Konzeption des Übermenschen ins Spiel gebracht. Der Preis für die unübertroffene Darstellung des neuen Identitätsproblems des Menschen gebührt meines Erachtens

430 „Die Menschen sind Eintagsfliegen, der Flügel beraubt“ (Vögel, V. 685f.). 431 Vgl. auch NL 1885–1887, KSA 12, 2[127], wo es heißt: „Seit Copernikus rollt der Mensch aus dem Centrum ins x“ (KSA 12, 127). Die Variable „x“ steht hier allerdings für einen offenen Möglichkeitsraum und nicht allein für das Nichts. Mit anderen Worten: Es ist nicht das unabwendbare Schicksal der Menschheit im Nihilismus zu versinken.

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aber einem anderen, und zwar dem amerikanischen Schriftsteller Donald Barthelme. In Über Engel, einer seiner zahlreichen Kurzgeschichten, macht er auf höchst originelle Art und Weise darauf aufmerksam, was der Tod Gottes für uns Menschen eigentlich bedeutet, indem er die Konsequenzen, die dieser Tod für die Engel hat, ins Licht rückt.⁴³² Auch für die Engel bedeutet der Tod Gottes die Notwendigkeit, sich selbst neu zu bestimmen: Der Tod Gottes versetzte die Engel in eine seltsame Lage. Plötzlich wurden sie von einer grundsätzlichen Frage überwältigt. Man kann versuchen, sich den Moment vorzustellen. Wie sahen sie aus, in dem Augenblick als die Frage sie überfiel, als sie das Engelsbewußtsein überflutete, sich ihrer mit erschreckender Gewalt bemächtigte? Die Frage lautet: „Was sind Engel?“ Unerfahren mit Fragen, nicht gewöhnt an Schrecken, ungeschickt im Alleinsein stürzen die Engel (wir nehmen es an) in Verzweiflung. (Barthelme 1972[1970], 151)

Verzweifelt machen die Engel sich also daran, sich selbst zu bestimmen, was in allerlei kuriosen Vorschlägen gipfelt, wie dem durchaus nihilistischen Versuch, sich über die Verweigerung zu definieren, und zwar über die radikalste Verweigerung überhaupt: die Seinsverweigerung. Indessen werden diese Vorschläge samt und sonders verworfen. Keine einzige der erwogenen Bestimmungen will den Engeln so recht passen. Deswegen befinden sie sich nach wie vor auf der verzweifelten Suche nach sich selbst: Ich sah einen berühmten Engel im Fernsehen. Seine Gewänder waren gleißend von Licht. Er sprach über die Situation der Engel heute. Engel, sagte er, sind in gewisser Hinsicht wie Menschen. Das Problem der Anbetung wird als zentral empfunden. Er sagte, daß die Engel eine Zeit lang versucht hätten, sich gegenseitig anzubeten, wie wir es tun, aber das schließlich als „nicht ausreichend“ empfunden hätten. Er sagte, sie wollten fortfahren, nach einem neuen Prinzip zu forschen. (Barthelme 1972[1970], 154)

Zwei weitere Folgen des Hinscheidens Gottes dürfen außerdem nicht unbedacht gelassen werden: Eben erst wurde gezeigt, wie aus einer unendlichen Fülle eine unendliche Leere entstehen konnte, wie aus einer Abstammung höchsten Adels eine Abstammung niederster Deszendenz wurde und wie sich ein durch göttliche Sorge wohlgeordnetes, teleologisches Weltgeschehen in ein Spiel des blinden Zufalls verwandelte. Das Resultat dieser fatalen Entwicklung ist der Verlust der Achtung des Menschen vor sich selbst. So gesehen verursacht der Tod Gottes einen Sturz auf axiologischer Ebene. Indessen wirkt er sich ebenfalls auf der ethischen und der erkenntnistheoretischen Ebene aus. Mit der gleichen Inbrunst, mit welcher der Mensch zuvor an den christlichen Gott oder die höchste Idee der Metaphysik geglaubt hat, glaubt

432 Dass er eigentlich oder mindestens zugleich über Menschen schreibt, teilt Barthelme seinen Lesern wie beiläufig mit: „Kurios, daß, sobald man über Engel schreibt, man sehr oft dazu kommt, über Menschen zu schreiben. Die Themen sind verschwistert“ (Barthelme 1972[1970], 153).

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   Der Tod Gottes

er jetzt – so will es die Psycho-Logik des Nihilismus – an deren Gegenteil.⁴³³ Genauer gesagt: Er glaubt an die Falschheit seiner bisherigen Überzeugungen. Von jetzt an gilt der paradoxe Glaubenssatz: „‚Nichts ist wahr, alles ist erlaubt‘“ (NL 1884–1885, KSA 11, 25[304], 88).⁴³⁴ Ein solches Credo ist aber sowohl ein „Anzeichen der größten Verwirrung“ (NL 1884–1885, KSA 11, 25[322], 95) als auch Anlass weiterer Verwirrung, wobei der Tod Gottes der Anlass der ursprünglichen Verwirrung ist. Sein Tod ist mithin das Einfallstor des Chaos in die bislang geordnete Welt. Zum einen bricht das Chaos in der Moral aus, denn „mit dem Wegfall des herkömmlichen Fixpunkts der Moral wird auch die Verpflichtung auf einen verbindlichen Kodex des sittlichen Verhaltens unterhöhlt“ (Kuhn 1992, 130).⁴³⁵ Das betrifft freilich nicht nur das tägliche Miteinander der Menschen, sondern spielt in alle Lebensvollzüge hinein, wirkt sich also auch auf die Politik, die Ökonomie und die Technik aus, deren expansive Bestrebungen durch die Moral immerhin ein wenig gezügelt wurden. Vor diesem Hintergrund muss Nietzsches Sorge bzw. seine Prognose, dass mit dem Nihilismus zugleich eine Katastrophe und Krise nahe, wie sie sich noch nie zuvor ereignet hat, gesehen werden. Das kommende nihilistische Zeitalter bedeutet nicht nur für den einzelnen Menschen, sondern auch für die Gesellschaft, in die er je eingebettet ist, ja sogar für das gesamte Abendland eine Zeit der Orientierungslosigkeit. Anarchismus und nicht zuletzt Krieg drohen über die westliche Zivilisation hereinzubrechen.⁴³⁶

433 „Die Zeit kommt, wo wir dafür b ezah len müssen, zwei Jahrtausende C h r i s te n gewesen zu sein: wir verlieren das S chwe rgewicht , das uns leben ließ, – wir wissen eine Zeit lang nicht, wo aus, noch ein. Wir stürzen jählings in die entgegenge s e t z te n Werthungen, mit dem gleichen Maaße von Energie, mit dem wir Christen gewesen sind (…)“ (NL 1887–1889, KSA 13, 11[148], 69). Vgl. auch NL 1885–1887, KSA 12, 5[71], 212. 434 Dieser sogenannte „Assasinenspruch“ taucht mehrfach und in verschiedenen Versionen in Nietzsches Schrifttum auf (vgl. NL 1884–1885, KSA 11, 25[322], 95; 26[25], 155; 31[51], 384; außerdem Z IV Schatten; KSA 4, 340). 435 Nietzsche lässt keine anderen Begründungen der Moral zu als Gott. So hält er es schlichtweg für „Naivetät“ anzunehmen, dass „Moral übrig bliebe, wenn der sanktionierende G ot t fehlt“ (NL 1885– 1887, KSA 12, 2[165], 148). Dies unterscheidet ihn bspw. von einem Denker wie Kant, der zwar einen Gott postulieren muss, um den menschlichen Glauben an einen Zusammenhang von Moral und Glückseligkeit zu retten, jedoch die Moral selbst für einen absoluten Wert hält und dergestalt auch die Würde des Menschen darin fundiert sieht, dass dieser ein zur Autonomie befähigtes Wesen ist; ein Wesen, ausgestattet mit einer (potenziell) selbstgesetzgebenden praktischen Vernunft. 436 Nietzsche prognostiziert als Folge auf „das größte neuere Ereignis, – dass ‚Gott todt ist‘“, eine „lange Fülle und Folge von Abbruch, Zerstörung, Untergang, Umsturz.“ Wie sich diese „Verdüsterung und Sonnenfinsternis, deren Gleichen es wahrscheinlich noch nie auf Erden gegeben hat“ im Einzelnen dann tatsächlich äußert, ist nur zu erahnen. Jedenfalls folgt auf den Tod Gottes, soviel steht für den Philosophen fest, eine „ungeheure[] Logik von Schrecken“ (FW 343; KSA 3, 573). Die Zeit, in der diese furchtbareLogik greift, ist durch den aktiv-destruktiven Nihilismus bestimmt (vgl. zu den verschiedenen Formen des Nihilismus Kapitel VII), der durch den Werteverlust und den Willen auch noch die letzten verbliebenen „Götzen“ zu stürzen, gekennzeichnet ist. Es ist die Zeit des Löwen aus Also sprach Zarathustra (vgl. Z I Verwandlungen), der die Zähne gegenüber dem „Du sollst“ fletscht.

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Zum anderen ist es jetzt auch mit der Wahrheit nichts mehr, weil Gott der Garant der Wahrheit war, wenn nicht die Wahrheit selbst. Es war Gott, der selbst die Zweifel des radikalen Zweiflers René Descartes zerstreute. Erst unter Berufung auf den gütigen Gott war es Descartes möglich, sich über das für gewiss gehaltene Ego hinaus auch der Existenz der Außenwelt zu versichern. Erst mit „Gottes Hilfe“ konnte er die Möglichkeit zurückweisen, dass wir uns während unserer vermeintlichen Erkenntnisakte permanent irren. Es ist mehr noch Gott als das „ego sum, ego existo“ (Descartes 1992[1641], 44), der den französischen Denker davor bewahrt, in jenem Strudel des Zweifels zu versinken, in den er während seiner Meditationen über einen unbezweifelbaren Grund in den Wissenschaften nach eigenem Bekunden zeitweise hineingeraten war:⁴³⁷ Sodann entdeckte ich in mir eine gewisse Urteilsfähigkeit, die ich sicherlich (…) von Gott empfangen habe und die, da er mich nicht täuschen will, gewiß nicht so sein wird, daß ich jemals irren könnte, solange ich sie nur recht gebrauche. (Descartes 1992[1641], 99)

Nach dem Tod Gottes gibt es allerdings keine Garantie mehr dafür, dass wir uns nicht permanent irren. Dramatischer noch: Ab jetzt scheint sicher, wenn überhaupt noch irgendetwas gewiss ist, „daß wir in einer Welt der Täuschung leben“, in der das „Perspektivische (…) so tief[geht] als (…) unser ‚Verständniß‘ der Welt reicht“ (NL 1884– 1885, KSA 11, 40[39], 648). Die Welt gleicht somit einem „Scherbenhaufen der Perspektivität“, und es „gibt nichts Furchtbareres als die Unendlichkeit der Freiheit, die sich daraus ergibt“ (Kais 2006, 26).⁴³⁸ Denn diese Freiheit ist ohne jeden Halt und

Diese Zeit des aktiven Nihilismus ist das Zeitalter der Umwertung aller Werte, über das sich Nietzsche in seiner letzten Schaffensperiode so viele Gedanken gemacht hat: „In his last productive years, Nietzsche came to believe that the Great Noon was at hand. In the notes of this period, he even laid out a timetable for the future development of man. Year one of the new time reckoning is 1888, the date of the publication of the first book of the revaluation, The Antichrist. This is the date of the Great Noon that initiates the onset of active nihilism. It will last, according to Nietzsche, two hundred years. These centuries of war and destruction will produce a new group of harder, stronger, more disciplined human beings who will be able to bear Nietzsche’s teaching of the eternal recurrence“ (Gillespie 1999, 151). 437 Zu Beginn der zweiten Meditation bekennt Descartes die Verwirrung, in die ihn sein radikales Zweifeln (zeitweilig) gestürzt habe: „Die gestrige Betrachtung hat mich in so gewaltige Zweifel gestürzt, daß ich sie nicht mehr vergessen kann, und doch sehe ich nicht, wie sie zu lösen sind; sondern ich bin wie bei einem unvorhergesehenen Sturz in einen tiefen Strudel so verwirrt, daß ich weder auf dem Grund festen Fuß fassen, noch zur Oberfläche emporschwimmen kann“ (Descartes 1992[1641], 41). 438 Man denke auch an Nietzsches Aphorismus Im Horizont des Unendlichen (FW 124), welcher der Parabel Der tolle Mensch unmittelbar vorangeht und ebenso wie diese in den Kontext der „Gott-isttot-Problematik“ hineingehört. Dort heißt es: „Wir haben das Land verlassen und sind zu Schiff gegangen! Wir haben die Brücke hinter uns,  – mehr noch, wir haben das Land hinter uns abgebrochen! Nun, Schifflein! sieh’ dich vor! Neben dir liegt der Ocean, es ist wahr, er brüllt nicht immer, und mitunter liegt er da, wie Seide und Gold und Träumerei der Güte. Aber es kommen Stunden, wo du

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gleicht somit eher einem leeren Raum, in dem wir haltlos-frei schweben, als einem Bezirk bisher ungeahnter, mannigfaltiger, konkreter Möglichkeiten. Durch das Inuns-Hineintrinken des unendlichen Meeres und das Wegwischen des Horizontes ist uns die Welt „noch einmal ‚unendlich‘ geworden: insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, dass sie unendliche Interpretationen in sich schliesst .“ Angesichts dieser Möglichkeit „fasst uns der grosse Schauder“ (FW 374; KSA 3, 627) und es muss die Frage erlaubt sein, „ob nicht ein Dasein ohne Auslegung, ohne ‚Sinn‘ eben zum ‚Unsinn‘ wird“ (FW 374; KSA 3, 626).⁴³⁹

6.3 Der Tathergang des Gottesmordes Nach der Erörterung des Wesens des Mordopfers und der Folgen für die Täter bleibt noch nach dem Tathergang und dem Motiv des Mordes sowie nach den sich aus der Tat ergebenden Möglichkeiten zu fragen. Zuerst sollen Tathergang und Motiv in Augenschein genommen werden. Wie war es möglich, dass der Mensch Gott ermorden konnte  – eine eigentlich paradoxe Tat, insofern das Endliche das Unendliche

erkennen wirst, dass er unendlich ist und dass es nichts Furchtbareres giebt, als Unendlichkeit. Oh des armen Vogels, der sich frei gefühlt hat und nun an die Wände dieses Käfigs stösst! Wehe, wenn das Land-Heimweh dich befällt, als ob dort mehr Fre i h e i t gewesen wäre, – und es giebt kein ‚Land‘ mehr!“ (FW 124; KSA 3, 480). Dieser Aphorismus erinnert an eine Stelle aus Kants Kritik der reinen Vernunft. Auch Kant weist auf die Gefahr hin, die darin liegt, die Grenzen des gesicherten Wissens, das bedeutet: die Grenzen des reinen Verstandes, zu überschreiten. Wenn der Mensch die sinnlich wahrnehmbare Welt (die Welt der Phaenoma), d. h. den Herrschaftsbereich des Verstandes, auf die Welt des Noumenon hin, des sinnlich nicht wahrnehmbaren, bloß gedachten Dings an sich, überschreitet, begibt er sich in das Hoheitsgebiet der Vernunft. Und obschon die Vernunft das dem Verstand gegenüber höhere Vermögen ist, ist es ihr doch nicht möglich, das Ding an sich tatsächlich zu erkennen. Die Welt des Noumenalen, bei Platon noch die wahre Welt, wird sonach bei Kant zu einer Welt des Scheins – wenigstens für den Menschen – und ist folglich alles andere als eine Welt des fundierten Seins. In diesem unauslotbaren Gebiet des Scheins, droht der Mensch beständig durch leere Hoffnungen getäuscht zu werden: „Dieses Land[des reinen Verstandes – E.B.] aber ist eine Insel, und durch die Natur selbst in unveränderliche Grenzen eingeschlossen. Es ist das Land der Wahrheit (…), umgeben von einem weiten und stürmischen Ozeane, dem eigentlichen Sitze des Scheins, wo manche Nebelbank und manches bald wegschmelzende Eis neue Länder lügt, und, indem es den auf Entdeckungen herumschwärmenden Seefahrer unaufhörlich mit leeren Hoffnungen täuscht, ihn in Abenteuer verflechtet, von denen er niemals ablassen kann, und sie doch auch niemals zu Ende bringen kann“ (KrV, B 294f.). Auf diesem Ozean gibt es „überall keinen Boden (…), auf dem wir uns anbauen könnten“ (KrV, B 295). Während es bei Kant also immerhin noch eine Art Insel gibt, welche wir vermöge unseres Verstandes vermessen können, einen Bereich, in dem es einen Boden unter unseren Füßen gibt, sind bei Nietzsche alle Brücken zum Land abgebrochen bzw. es gibt überhaupt kein Land mehr. Gott ist und bleibt tot: Der Mensch ist ein für alle Male zu einer Reise ins Ungewisse, einer Reise ohne Wiederkehr auf dem Ozean des Scheins verurteilt. 439 Auf diesen Aphorismus werde ich im nächsten Kapitel (VII) näher eingehen.

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wohl für sich selbst verneinen, keinesfalls aber auslöschen kann? Und aus welchem Grund hat der Mensch überhaupt die schreckliche Schuld eines Gottesmordes auf sich genommen? Wie kam es zu dieser namenlosen Tat? Wie bereits festgestellt wurde, bietet FW 125 keinerlei Argumente gegen die Existenz Gottes. Da in besagtem Aphorismus jedoch behauptet wird, dass der endliche Mensch den unendlichen Gott ausgetilgt habe, drängt sich der Schluss auf, dass hier durchaus nicht von einem wahrhaftigen Gott die Rede ist. Vielmehr muss es sich um eine Erfindung des Menschen handeln. Im IV. Kapitel meiner Studie habe ich bereits gezeigt, dass der christliche Gott für Nietzsche ein antinihilistisch intendiertes Gedankenkonstrukt ist, das aber unglücklicherweise selber dem Nihilismus verhaftet ist. Zu diesem Ergebnis kommt Nietzsche auf dem Weg der Genealogie, d. h. er versucht der Gottesidee historisch und psychologisch auf den Zahn zu fühlen. Dabei ist er der festen Überzeugung, dass das Aufzeigen, „wie der Glaube, dass es einen Gott gebe, e n t s te h e n konnte und wodurch dieser Glaube seine Schwere und Wichtigkeit erhalten hat (…) ein[en] Gegenbeweis, dass es keinen Gott gebe, überflüssig“ macht (M 95; KSA 3, 86).⁴⁴⁰ Diese Formulierung von der Überflüssigkeit eines Gegenbeweises ist sehr geschickt gewählt, denn Nietzsche weiß, dass es überhaupt keinen solchen Gegenbeweis geben kann. Nach wie vor – und somit auch für Nietzsche – gilt das Wort Kants, dem zufolge man Gottes Existenz theoretisch weder beweisen noch widerlegen kann. Indessen bedeutet der Tod Gottes für Nietzsche, „dass der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist“ (FW 343; KSA 3, 573). Schon lange hat die Theodizeefrage⁴⁴¹ den Glauben an Gott auf eine harte Probe gestellt. Nicht umsonst bezeichnet Georg Büchner in seinem Stück Dantons Tod das Leid in Anspielung auf den Petersdom in Rom auch als den „Fels des Atheismus“ (Büchner 1988[1835], 107). Die radikalste Demontage des Glaubens betreibt in Nietzsches Augen indes die sogennante „kritische Historie“, auf deren Fährte auch FW 125 führt. Der tolle Mensch behauptet nämlich, dass „[d]as Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besass (…) unter unseren Messern verblutet“ sei (FW 125; KSA 3, 481). Nun handelt es sich bei diesen Messern um Instrumente, „die an sich wohl keine Mordwaffen, sondern Seziermesser bezeichnen dürften und die auf die heiße Spur der kritischen Historie

440 Als psychologische Ursachen für die Entstehung Gottes bietet er auf: das metaphysische Bedürfnis des Menschen sowie das überwältigende Gefühl der Macht, das uns plötzlich bei allen großen Affekten durchströmt und Zweifel an uns selbst als Urheber derselben aufkommen lässt. Außerdem vertritt Nietzsche, wie vor ihm Ludwig Feuerbach, die Theorie, dass wir unserer Wünsche in ein höheres Wesen hineinprojizieren. Ganz so einfach ist die Existenz Gottes allerdings nicht von der Hand zu weisen. Wilhelm Weischedel argumentiert gegen Nietzsche und im Übrigen auch gegen Feuerbach, wenn er schreibt: „Die Möglichkeit, die Religion und den Glauben an Gott psychologisch zu erklären, sagt noch nichts darüber aus, ob nicht in der religiösen Erfahrung eine Wirklichkeit begegnen könnte. Denn auch die Begegnung mit Wirklichem hat psychologische Voraussetzungen, ohne dass das in ihr Begegnende darum weniger wirklich wäre“ (Weischedel 1983[1972], Bd. 1, 436). 441 Vgl. dazu bei Nietzsche vor allem M 91 (Die Redlichkeit Gottes).

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zurückführen“ (Düsing 2006, 485). Mit der kritischen Historie hat sich Nietzsche eingehend in seiner frühen Schrift Vom Nachtheil und Nutzen der Historie für das Leben auseinandergesetzt. Es geht ihm in diesem Werk darum, einen das Leben unterstützenden Umgang mit dem im 19.  Jahrhundert florierenden historischen Wissen zu finden. Die Historienschrift fordert vehement, dass der Mensch lerne, „Historie zum Zwecke des Lebens zu treiben“ (UB II 1; KSA  1, 257), statt sie in hypertrophischer Manier zum Selbstzweck zu machen. Geschieht Letzteres, so deckt das Wissen um das Vergangene nur allzuleicht das Gegenwärtige zu und schnürt ihm gleichsam die Luft ab. Sowohl die Gegenwart als auch die Zukunft drohen auf diese Weise unter der Last des Vergangenen begraben zu werden und mit ihnen das Leben, das naturgemäß stets voran und nicht zurück will. Für den einzelnen Menschen besteht die konkrete Gefahr, dass er sich in einer Flut aus Faktenwissen selbst vergisst, indem er seine Gegenwart der gewussten Vergangenheit unterordnet, so dass er sich selber nicht mehr gegenwärtig ist und also seine eigentliche Aufgabe vergisst: sein eigenes Leben im Hier und Jetzt.⁴⁴² Damit es zu dieser fatalen Entwicklung gar nicht erst kommen kann, dürfe das Vergangene nur „aus der hö chs ten Kr a ft der Gegenwa r t “ (UB II 6; KSA 1, 293) gedeutet werden. Die Gegenwart kranke aber gerade an einem überzogenen Geschichtsbewusstsein, das nach Nietzsches Urteil alles andere als lebensdienlich ist und dem er solchermaßen mit entschiedener Kritik entgegentritt. Nietzsche unterscheidet eine „Dreiheit von Arten der Historie“ und zwar „eine monumentalistische, eine antiquarische und eine kritische Art“ (UB II 2; KSA 1, 258), die er einführt, um zu verdeutlichen, wie eine lebensdienliche⁴⁴³ historische Betrachtungsweise aussehen könnte. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass jede der „drei Arten der Historie (…) nur gerade auf Einem Boden und unter Einem Klima in ihrem Rechte“ sei, während sie „auf jedem anderen (…) zum verwüstenden Unkraut heran[wachse]“ (UB II 2; KSA 1, 264). Demnach sind selbst diese drei an sich positiv bewerteten Arten der Historie nur unter ganz bestimmten Umständen auch tatsächlich lebensdienlich. Im Zeichen einer Erneuerung der Kultur – und daran ist Nietzsche in dieser Schrift primär gelegen – bedarf es wohl einer Verflechtung aller drei Formen, so dass eine Inklusion verschiedenster Lebensweisen in der Kultur auf Basis eines multidimensionalen Geschichtsverständnisses möglich wird.

442 Die überbordende Historie führt sonach zu einer Kultur der Selbstvergessenheit im Sinne der unterlassenen Sorge um sich selbst. Bloßes Faktenwissen macht eben noch keine Bildung aus. Es darf, wie Kierkegaard treffend anmerkt, über alledem nicht vergessen werden, was es heißt, ein Mensch zu sein: „Ja, wie man zuweilen mit einer gewissen Erleichterung daran denken kann, daß Cäsar die ganze alexandrinische Bibliothek verbrennen ließ, so könnte man wirklich der Menschheit in wirklich guter Meinung wünschen, daß jener Überfluß von Wissen ihr wieder genommen würde, damit man wieder zu wissen bekommen könnte, was es heißt, als Mensch zu leben“ (Kierkegaard 1957[1846], 250). 443 Es geht bei der Lebensdienlichkeit insbesondere darum, ob sich das historische Bewusstsein positiv auf den Gestaltungswillen des Menschen auswirkt, ob es also seiner „plastische[n] Kr aft“ (UB II 1; KSA 1, 251) und somit seinem Handeln förderlich ist oder nicht. Die plastische Kraft ist freilich gerade jene Kraft, die benötigt wird, um sich selbst Gestalt zu verleihen.

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Für die Tod-Gottes-Thematik ist allerdings vorzugsweise die kritische Art der Historie von Bedeutung, weil sie im Gegensatz zur bewahrenden antiquarischen Historie und zur verewigenden monumentalen Historie eben auch „Vivisektionen bis hin zum Tötungseffekt des von ihr Untersuchten“ (Düsing 2006, 485) in ihrem Repertoire zu bieten hat. Was beim ersten Hören schrecklich zerstörerisch klingt, ist allerdings für das Leben als ewig schöpferischer Prozess unverzichtbar. Denn „zu jedem Leben gehört die Fähigkeit, etwas früheres von sich abzustoßen und sich von älteren, verbrauchten Formen zu trennen“ (Gerhardt 1999, 106). Als eine solche verbrauchte Lebensform begreift Nietzsche nun das Christentum. Es ist der kritischen Historie also zu Recht zum Opfer gefallen: Was man am Christenthume lernen kann, dass es unter der Wirkung einer historisirenden Behandlung blasirt und unnatürlich geworden ist, bis endlich eine vollkommen historische, das heisst gerechte Behandlung es in reines Wissen um das Christenthum auflöst und dadurch vernichtet, das kann man an allem, was Leben hat, studiren: dass es aufhört zu leben, wenn es zu Ende secirt ist und schmerzlich krankhaft lebt, wenn man anfängt an ihm die historischen Secirübungen zu machen. (UB II 7; KSA 1, 297)⁴⁴⁴

Ganz gleich aber, ob der Glaube an Gott von seinen psychologischen Prämissen⁴⁴⁵ her erklärt wird und demzufolge, wie Nietzsche meint, verneint werden muss oder ob er der kritischen Historie – wozu nicht zuletzt eine historisch-kritische Bibelexegese gehört – zum Opfer fällt, die treibende Kraft in diesen Auflösungsprozessen ist dieselbe: Es ist der Wille zur Wahrheit. Die Pointe ist nun, wie schon mehrfach angesprochen, dass dieser unbedingte Wille zur Wahrheit durch das Christentum selbst groß gezogen wurde. Er macht sogar insofern den Kern des Christentums aus, als die christliche Moralität ja ihren Grund in einem Gott hat, den sie als die Wahrheit selbst begreift. Um Gottes willen bzw. um der Wahrheit willen wendet sich die christliche Moral vermittels der Tugend der Wahrhaftigkeit gegen sich selbst. Der Mord an Gott ist die logische Folge des Glaubens an ihn, ist gewissermaßen durch Gott selbst autorisiert und in letzter Konsequenz die Erfüllung des zentralen moralischen Gebotes einer Religion, welche die Wahrheit zum höchsten Wert erhoben hat. Das sich selbst

444 Die „historischen Secirübungen“, von denen hier die Rede ist, meinen allerdings – darauf muss hingewiesen werden – die von Nietzsche kritisierte Überbewertung des Geschichtsbewusstseins, das zu einem Selbstzweck wird, statt sich in den Dienst des Lebens zu stellen. Auf diese Weise kommt es auch zu einer Perversion der Historie, die jetzt „nur zerstört, ohne dass ein innerer Bautrieb sie führt“ (UB II 7; KSA 1, 296). Wiewohl die Destruktion des Christentums im Sinne Nietzsches ist, kann eine zum Selbstzweck entartete (kritische) Historie auch zur größten Gefahr für das Leben werden. Die kritische Historie ist überhaupt immer „ein gefährlicher, nämlich für das Leben selbst gefährlicher Prozess.“ Hier „greift man mit dem Messer an seine Wurzeln“ (UB II 3; KSA 1, 270). 445 Auch die Genealogie der Moral gehört in diesen Kontext, zeigt sie doch, wie die Moral aus dem Geiste des Ressentiments geboren wurde  – und als Garant für den absoluten Anspruch der Moral fungiert freilich Gott.

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negierende Christentum samt seiner Moral wird für Nietzsche somit zum herausragenden Beispiel des Gesetzes des Lebens: Alle grossen Dinge gehen durch sich selbst zu Grunde, durch einen Akt der Selbstaufhebung: so will es das Gesetz des Lebens, das Gesetz der n ot hwe n d ige n „Selbstüberwindung“ im Wesen des Lebens, – immer ergeht zuletzt an den Gesetzgeber selbst der Ruf: „patere legem, quam ipse tulisti.“ (GM III 27; KSA 5, 410)

Eine knappe, aber überaus pointierte Schilderung der gewichtigen Rolle, die der Wille zur Wahrheit bzw. die Wahrhaftigkeit innerhalb der Geschichte des Nihilismus spielt, findet sich in einem der wichtigsten Texte aus Nietzsches Nachlass, dem Lenzer-Heide Fragment zum europäischen Nihilismus: Aber unter den Kräften, die die Moral großzog, war die Wa h r h a ft igke i t : d i e s e wendet sich endlich gegen die Moral, entdeckt ihre Te l e o l og i e , ihre i n te re s s i r te Betrachtung  – und jetzt wirkt die Einsicht in diese lange eingefleischte Verlogenheit, die man verzweifelt, von sich abzuthun, gerade als Stimulans. Zum Nihilismus. Wir constatiren jetzt Bedürfnisse an uns, gepflanzt durch die lange Moral-Interpretation, welche uns jetzt als Bedürfnisse zum Unwahren erscheinen: andererseits sind es die, an denen der Werth zu hängen scheint, derentwegen wir zu leben aushalten. Dieser Antagonismus, das was wir erkennen, nicht zu schätzen und das, was wir uns vorlügen möchten, nicht mehr schätzen zu dü r fe n : – ergiebt einen Auflösungsprozeß. (NL 1885–1887, KSA 12, 5[71], 211f.)⁴⁴⁶

Wenn der Wille zur Wahrheit allerdings auch sich selbst zum Gegenstand der Kritik macht, wie es sein Ethos von ihm verlangt, wird er erkennen müssen, dass jetzt, da Gott tot ist, auch sein eigener Wert hinterfragt werden muss. „Nachdem die christliche Wahrhaftigkeit einen Schluss nach dem andern gezogen hat“, schreibt Nietzsche in der Genealogie der Moral, „zieht sie am Ende ihren s tä rks ten Schlus s, ihren Schluss gegen sich selbst; dies aber geschieht, wenn sie die Frage stellt ‚was b e d e ute t aller Wille z u r Wahrheit?‘…“ (GM III 27; KSA 5, 410). Die Wahrhaftigkeit unterliegt also ihrerseits dem Gesetz des Lebens, wie Nietzsche es versteht: als das Gesetz der notwendigen Selbstüberwindung.

6.4 Der Tod Gottes als Eröffnung der Möglichkeit eines höheren, gottlosen Daseins Der Tod Gottes bedeutet, wie die bisherigen Überlegungen gezeigt haben, einen gravierenden existenziellen Einschnitt in das Leben der Menschen. Allerdings ist „das

446 Vgl. zum Gefahrenpotenzial des Willens zur Wahrheit FW 344 (Inwiefern auch wir noch fromm sind).

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grösste neuere Ereigniss“ (FW 343; KSA 3, 573) für Nietzsche⁴⁴⁷ keineswegs rein destruktiver Natur, sondern in höchstem Maße ambivalent. Der Wert von etwas hängt nun freilich, gesetzt es gibt keine absoluten Werte mehr (was ja eine Folge des Todes Gottes ist), wesentlich vom Bewertenden ab. Die äußersten Möglichkeiten der Bewertung im Kasus „Gottes Tod“ sind die nihilistische, d. i. die Deutung (und Empfindung) des Todes Gottes als Sturz ins Nichts, auf der einen und die Bewertung dieses Todes als Befreiungsgeschehen auf der anderen Seite. Der Nihilist benutzt in diesem Kontext das Wort „frei“ nur, um auf den freien Fall ins Bodenlose hinzuweisen. Der Philosoph, wie Nietzsche ihn sich wünscht, verwendet es indes zur Selbstcharakterisierung: Die freien Geister feiern den Tod Gottes als Befreiung ihres Geistes. Vor dem Tod Gottes mögen sie Freigeister gewesen sein, d. h. Geister, die um ihre intellektuelle Unabhängigkeit ringen. Nach diesem Ereignis sind sie indessen fürwahr frei geworden. Indem Gottes Stern sinkt, geht ihre Sonne auf: – und diese nächsten Folgen, seine Folgen für u n s sind, umgekehrt als man vielleicht erwarten könnte, durchaus nicht traurig und verdüsternd, vielmehr wie eine neue schwer zu beschreibende Art von Licht, Glück, Erleichterung, Erheiterung, Ermuthigung, Morgenröthe …. In der That, wir Philosophen und „freien Geister“ fühlen uns bei der Nachricht, dass der „alte Gott todt“ ist, wie von einer neuen Morgenröthe angestrahlt; unser Herz strömt dabei über von Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung, – endlich erscheint uns der Horizont wieder frei, gesetzt selbst, dass er nicht hell ist, endlich dürfen unsre Schiffe wieder auslaufen, auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes Wagniss des Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer, u n s e r Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch niemals ein so „offnes Meer“. – (FW 343; KSA 3, 574)⁴⁴⁸

Für den freien Geist ist mit Gott ein Gefängniswärter⁴⁴⁹ gestorben. Der Mensch ist jetzt gewissermaßen zu sich selbst befreit, genauer: zur Entfaltung seines bisher unausgeschöpften, weil unterdrückten Potenzials. Diese Freiheit zu sich selbst und über sich hinaus hat Nietzsche in einem eindrucksvollen Bild geschildert: im Gleichnis vom auslaufenden See, das hier in Gänze wiedergegeben sei: E xcels ior! – „Du wirst niemals mehr beten, niemals mehr anbeten, niemals mehr im endlosen Vertrauen ausruhen – du versagst es dir, vor einer letzten Weisheit, letzten Güte, letzten Macht stehen zu bleiben und deine Gedanken abzuschirren – du hast keinen fortwährenden Wächter und Freund für deine sieben Einsamkeiten – du lebst ohne den Ausblick auf ein Gebirge, das

447 Genauso wenig im Übrigen wie für den zumal an das Wort vom Tod Gottes anknüpfenden Existenzialismus. In der „Doppelfigur von Zerstörung und Neuaufbau“, wie sie dem Tod Gottes eignet, kündigen sich die beiden „Eckpfeiler“ (Galle 2009, 8) des Existenzialismus an – Pfeiler, die bereits Nietzsches Philosophie tragen. 448 Bemerkenswert an diesem Aphorismus sowie auch am gleich zu besprechenden Aphorismus FW 285 (Excelsior) ist, dass Nietzsche die nämlichen Metaphern (den Horizont, das Meer bzw. den See), die er in FW 125 „zur Schilderung des Sturzes ins Nichts verwendet (…) in diesen Texten dazu verwendet, eine neue Möglichkeit des Menschen, die erst durch den Tod Gottes freigesetzt worden ist, darzustellen“ (Hödl 2009, 441). 449 Vgl. Nietzsches Gleichnis WS 84 (Die Gefangenen).

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Schnee auf dem Haupte und Gluthen in seinem Herzen trägt – es giebt für dich keinen Vergelter, keinen Verbesserer letzter Hand mehr  – es giebt keine Vernunft in dem mehr, was geschieht, keine Liebe in dem, was dir geschehen wird – deinem Herzen steht keine Ruhestatt mehr offen, wo es nur zu finden und nicht mehr zu suchen hat, du wehrst dich gegen irgend einen letzten Frieden, du willst die ewige Wiederkunft von Krieg und Frieden: – Mensch der Entsagung, in Alledem willst du entsagen? Wer wird dir die Kraft dazu geben? Noch hatte Niemand diese Kraft!“ – Es giebt einen See, der es sich eines Tages versagte, abzufliessen, und einen Damm dort aufwarf, wo er bisher abfloss: seitdem steigt dieser See immer höher. Vielleicht wird gerade jene Entsagung uns auch die Kraft verleihen, mit der die Entsagung selber ertragen werden kann; vielleicht wird der Mensch von da an immer höher steigen, wo er nicht mehr in einen Gott ausflies st .“ (FW 285; KSA 3, 527f.)

Der Mensch soll immer höher steigen. Nicht mehr soll er wie einst der Kirchenvater Augustinus nach Gott als dem letzten Ziel suchen, als dem Ort, an dem das unruhige Herz endlich Frieden findet.⁴⁵⁰ Wer immer höher steigen soll, darf erst gar nicht auf die Idee kommen, nach einem Bestimmungsort als endgültigem Ziel seiner Suche Ausschau zu halten – Stillstand, der letzte Friede, ist des Übermenschen, der sich in diesem Aphorismus bereits deutlich ankündigt, Tod. Von jetzt an, ab dem Jahr Null post deum, ist der Weg das Ziel, gesetzt natürlich, es geht hinauf. Der neue, der steigende Mensch ist ein Entsagender. Die aufgebrachte Kraft, um sich den Glauben an Gott zu versagen, soll dabei helfen, den steilen Weg, der zu keinem Gipfelkreuz mehr führt, zu meistern. Sie soll helfen, den Verlust eines letzten, Glück und Ruhe versprechenden Zieles zu verwinden. Zwar kostet die Entsagung, die den Verzicht auf jeden metaphysischen Trost inkludiert, ein gewaltiges Maß an Kraft. Indessen setzt sie zugleich eine idealiter noch größere Menge an Kraft frei. Es ist, als würde sich der Gottesmörder in Anbetracht der ungeheuren Größe seiner Tat seiner eigenen ungeheuren Größe vergewissern. Das Gleichnis spricht allerdings, was nicht missachtet werden darf, mit tentativer Stimme, spricht im vorsichtigen Ton eines zweifachen Vielleicht. Auf diese Weise trägt Nietzsche dem Umstand Rechnung, dass er hier als freier Geist spricht. Freie Geister aber sind „geborene[] Räthselrater“, die „zwischen Heute und Morgen hingestellt und in den Widerspruch zwischen Heute und Morgen hineingespannt (…) Erstlinge und Frühgeburten des kommenden Jahrhunderts“ sind (FW 343; KSA 3, 574). Es handelt sich mit anderen Worten um wahre Philosophen, die nach der von Nietzsche adaptierten Auffassung Schopenhauers Geistesverwandte des tragischen Helden Ödipus sind, des großen Rätselraters und Sphinxbesiegers. Wie dieser zeichnen sie sich durch den Mut aus, „keine Frage auf dem Herzen zu behalten, ganz gleich, was sich daraus ergeben mag“ (Schopenhauer 1992, 16; Brief vom 11.11.1815). Und ebenso wie Ödipus laufen sie auf diese Weise Gefahr, mehr oder weniger offenen Auges in einen Abgrund zu stürzen. Freie Geister sind Philosophen, die am Beginn einer neuen Zeitrechnung stehen, der sie voller Hoffnung entgegenblicken, gleichwohl sie sich

450 Vgl. Kapitel III.1.

Der Tod Gottes als Eröffnung der Möglichkeit eines höheren, gottlosen Daseins   

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bewusst sind, dass es sich nicht zwangsläufig um ein Zeitalter des Aufstiegs zu einem höheren gottlosen Dasein handeln muss. Auch die Gefahr eines Abstiegs zum letzten Menschen droht. Die große Müdigkeit, die Sattheit am Leben, kurz: der Nihilismus⁴⁵¹ liegt, wie ich noch zeigen werde,⁴⁵² immer auf der Lauer. Nach dem Tod Gottes ist die Gefahr aber besonders virulent.

451 „In the ensuing vacuum,[nach dem Tode Gottes – E.B] we are confronted with two possibilities. We can descend toward the last man or ascend toward (…) ultimately the overman“ (Gillespie 1999, 148). 452 Vgl. Kapitel VIII.

Kapitel VII Typologie des Nihilismus „Ich halte Gastmann zu jedem Verbrechen fähig (…). Was mich an ihm fasziniert, ist nicht so sehr seine Kochkunst, obgleich ich mich nicht so leicht für etwas anderes mehr begeisterte, sondern die Möglichkeit eines Menschen, der nun wirklich ein Nihilist ist“ (…). „Es ist immer atemberaubend, einem Schlagwort in Wirklichkeit zu begegnen.“ (Friedrich Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker)⁴⁵³

In Erinnerung an Nietzsches Parabel vom tollen Menschen will ich einer viel zu selten gestellten Frage nachgehen: Warum eigentlich sind die Menschen auf dem Marktplatz, an die der tolle Mensch seine exaltierte Rede richtet, nicht verzweifelt? Immerhin ist der Tod Gottes für sie keine Neuigkeit, sondern, salopp gesagt, etwas, was gestern schon in der Zeitung stand, mithin ein längst akzeptiertes Faktum. Wie gezeigt, impliziert der Tod Gottes aber erhebliche Konsequenzen, auf die irgendeine Art nihilistischer Verzweiflung gewiss eine angemessene und prima facie sogar die nächstliegende Reaktion wäre. Warum also bleibt die Verzweiflung aus, oder anders gefragt: Was unterscheidet den tollen Menschen von den Marktbesuchern, so dass diese in aller Ruhe ihren alltäglichen Geschäften nachgehen, während jener eben toll wird? Der Grund für diese höchst unterschiedlichen Reaktionen liegt darin, dass der tolle Mensch und die Marktbesucher auf unterschiedlichen Stufen des Nihilismus stehen. Die Adressaten des tollen Menschen mögen wohl den Glauben an Gott verloren haben. Der Nihilismus als „das durchbohrende Gefühl des ‚Nichts‘“ (NL 1887– 1889, KSA 13, 11[228], 89) ereilt sie aber deswegen nicht, weil sie immer noch einem metaphysischen Glauben anhängen. Sie glauben nach wie vor, dass es eine unbedingte Wahrheit gibt⁴⁵⁴ und dass sich die Menschheit dieser beständig annähert. Sie

453 Dürrenmatt 1998a, 82. 454 Vgl. GM III 24 zum metaphysischen Status des Glaubens an die Wahrheit und zur metaphysischen Befangenheit selbst der „blassen Atheisten, Antichristen, Immoralisten, Nihilisten, (…) Skeptiker, Ephektiker, Hek tiker des Geistes“, die eben deswegen doch Metaphysiker bleiben, weil sie als die „letzten Idealisten der Erkenntnis“ (KSA 5, 398) immer „n o ch a n d i e Wa h r h e i t “ glauben (KSA 5, 399). Alle soeben Aufgezählten erweisen sich bei näherer Betrachtung als unvollständige Nihilisten. Diese unvollständigen Nihilisten und allen voran die Wissenschaftler geben sich zwar als freigeistig. Sie verstehen sich als „so losgelöst als möglich vom asketischen Ideale“. Aber sie missverstehen sich. In Wirklichkeit ist dieses Ideal „gerade auch ih r Ideal, sie selbst stellen es heute dar“ (GM III 24; KSA 5, 399). Somit sind sie keine Befreier des Geistes und des Lebens, sondern halten Geist und Leben ebenso, wenn auch auf andere Art, am Gängelband des asketischen Ideals wie das von ihnen überwunden geglaubte Christentum. Die Welt der Wissenschaft oder anders: die von der Wissenschaft diktierte Welt, ist also nach wie vor eine asketische Welt. Der Wissenschaftler gehört zur Priesterkaste. Wie der religiöse Priester verdankt er seine Macht einer für den „normalen“ Menschen unzugänglichen Wahrheit: „Zwar rühmt sie[die Wissenschaft – E.B.] sich zu zeigen, dass die christliche Denunziation als eitel und schuldhaft völlig bodenlos ist – aber sie gibt nicht zurück, was der Menschheit damit genommen worden war: Wirklichkeit und Selbstbewusstsein des irdischen Lebens. Stattdessen

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glauben an den Fortschritt in und durch die Wissenschaft, Politik und Ökonomie, welche Progression das Leben immer besser und lebenswerter (d. h. insbesondere beständig angenehmer und einfacher⁴⁵⁵) machen soll. Eine so „extreme Hypo -

verkündet sie erst recht wieder, dass die Menschen alle ihre Lebensäußerungen an einer ihnen selbst entzogenen Wahrheit zu kontrollieren hätten: ihre unordentliche, von Mythologemen durchzogene Rede an einem Ideal wissenschaftlicher Sprache; ihre Begierden an einer rationalen Ordnung von Zwecken; ihre sinnlichen Erfahrungen an den wissenschaftlich erforschbaren Ursachen von Empfindungen etc. Die erste Feststellung Nietzsches über die Wahrheit lautet also: Als wissenschaftliche Wahrheit verfehlt sie das Leben. In ihr ist genau die Intention am Werk, die sie abzuweisen vorgibt, ein Wille zur Verneinung des Lebens“ (Heinrich 2009, 88). Zum wissenschaftlichen Willen zur Wahrheit als Phänomen des Nihilismus vgl. auch Wirtz 2006, 264f. 455 Auf ironische Weise fängt dieses Bestreben des Menschen des 19. Jahrhunderts nach dem immer Leichteren Kierkegaard in der Unwissenschaftlichen Nachschrift I ein, einer Schrift, die er, wie zuvor die Philosophischen Brocken, deren Nachschrift sie sind, unter dem Pseudonym Johannes Climacus verfasst hat. Besagter Climacus berichtet dem Leser also, wie er eines Tages auf den Einfall verfiel, sich als Autor versuchen zu wollen. Wie gewöhnlich saß er, der bekennt, bisher zwar ein viel lesender Student, im Grunde genommen aber vor allem ein dandyhafter Flaneur gewesen zu sein, sonntags in einer Konditorei und rauchte Zigarren. Da kam ihm plötzlich der Gedanke, dass auch er, wie alle Welt, etwas tun müsse: „So saß ich also da und rauchte meine Zigarre, bis ich in Gedanken versank. Unter anderen erinnere ich mich an folgende: Du wirst nun, sagte ich zu mir selbst, allmählich alt, ohne etwas zu sein und ohne dir eigentlich etwas vorzunehmen. Dagegen siehst du überall, wo du dich in der Literatur oder im Leben umsiehst, die Namen und Gestalten der Gefeierten, siehst die teuren und mit Akklamation begrüßten Leute auftreten oder hörst von ihnen reden, den vielen Wohltätern der Zeit, die der Menschheit dadurch zu nützen verstehen, daß sie das Leben immer leichter machen, die einen durch Eisenbahnen, andere durch Omnibusse und Dampfschiffe, wieder andere durch das Telegraphieren, noch wieder andere durch leichtfaßliche Übersichten und kurze Mitteilungen von allem Wissenswerten, und schließlich siehst du die wahren Wohltäter der Zeit, die zu nützen verstehen, indem sie die Geistesexistenz kraft des Gedankens systematisch immer leichter und doch immer bedeutungsvoller machen: und was tust du?“ Dieser Gedankengang wird kurz unterbrochen, weil Climacus mittlerweile seine Zigarre zu Ende geraucht hat, so dass er sich selbstredend sofort wieder eine neue anzünden muss (irgendetwas muss er ja unternehmen). Mit dem Ein- und Ausamten des Rauches kommen indes auch die Gedanken wieder in Fahrt: „(…) da plötzlich fährt dieser Gedanke durch meine Seele: Du mußt etwas tun! Aber da es für deine beschränkten Fähigkeiten unmöglich sein wird, etwas noch leichter zu machen, als es schon ist, so mußt du, mit derselben menschenfreundlichen Begeisterung wie die anderen, dich der Arbeit unterziehen, etwas schwerer zu machen (…). Aus Liebe zur Menschheit, aus Verzweiflung über meine peinliche Lage, nichts getan und ausgerichtet zu haben und nichts leichter machen zu können, als es schon gemacht ist, aus wahrem Interesse für die, die alles leicht machen, verstand ich es da als meine Aufgabe: überall Schwierigkeiten zu machen (…), damit die Leichtigkeit nicht werde wie eine völlige Windstelle (…)“ (Kierkegaard 1957[1846], 177ff.). Die Schwierigkeit, die Kierkegaard/Climacus evozieren will, ist existenzieller Natur. Er will dafür sorgen, dass der Einzelne sich um sich selbst als ein einzelner, existierender Mensch sorgt, dass er es als Aufgabe sehen soll, sich selbst zu einem Selbst zu gestalten. Die Möglichkeit der Bewältigung dieser Lebensaufgabe im buchstäblichen Sinne ist allerdings nicht zuletzt dann fraglich, wenn der Mensch sich selbst vor lauter Bequemlichkeit gleichsam einschläfert. Es droht dann die Gefahr der allgemeinen Unterschreitung der menschlichen Möglichkeiten. Das Zeitalter des rasanten Fortschritts droht – mit Nietzsche gesprochen – zur Ära des letzten Menschen zu werden. Dementsprechend warnt auch Zarathustra ganz in Kierkegaards/Climacus’ Sinne vor der sich aus der Leichtigkeit allzu leicht entwi-

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t h e s e “ (NL 1885–1887, KSA 12, 5[71], 212) wie die Existenz Gottes haben sie, die den durchschnittlichen fortschrittsgläubigen Menschen des 19. Jahrhunderts repräsentieren, schlechterdings nicht mehr nötig. Die Menschen haben gleichsam einen prometheischen Sprung gemacht. Sie sind insbesondere dank der stetig sich verfeinernden und expandierenden Technik in der Lage, mehr und mehr Gewalt auch über die Gewalt der Natur auszuüben, so dass der von den tragischen Griechen noch so sehr gefürchtete Zufall ihnen keine Angst mehr macht – zumindest keine solche, die sich nur durch die Hypothese eines moralischen Gottes bändigen ließe. Insofern die Fortschrittsgläubigkeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Hochkonjunktur hat, erweist sich gerade das Zeitalter, in welches der Tod Gottes fällt, als Blütezeit des optimistischen Sokratismus. Der Sokratismus ist derweil ein heimlicher Nihilismus, der freilich geraden Weges darauf zusteuert, unheimlich zu werden, wenn anders es ihn aus dem Schatten ins Licht drängt. Wie oben dargelegt, fällt nämlich gemäß der Logik des Nihilismus erst Gott durch die Wahrhaftigkeit, bevor diese Hand an sich selbst legt. Der Auflösungsprozess ist also zuzeiten des Auftritts des tollen Menschen sehr wohl im Gange, ja bereits weit fortgeschritten – er ist allerdings noch nicht abgeschlossen. Das bedeutet für den Nihilismus, dass er noch nicht vollkommen, sondern vielmehr unvollständig ist. Und dieser unvollständige Nihilismus prägt, wie Nietzsche meint, seine eigene Zeit: „– [D]er unvolls tä ndige Nihilis m, seine Formen: wir leben mitten drin“ (NL 1885–1887, KSA 12, 10[42], 476). (A): Unvollständiger und vollkommener Nihilismus: Was Kierkegaard in der Krankheit zum Tode so feinsinnig fest- und herausgestellt hat, dass nämlich die meisten Menschen verzweifelt seien, freilich ohne es zu wissen, was wiederum gerade Ausdruck der sich in einem dialektischen Wechselspiel sowohl verbergen wollenden wie auch zur krisenhaften Offenbarung strebenden Verzweiflung sei (vgl. Kierkegaard 1985[1849], 39ff.), trifft auch auf die „Marktplatzmenschen“ zu. Auch sie sind unbewusst bzw. uneigentlich verzweifelt. Tatsächlich gibt es viele Berührungspunkte zwischen Nietzsches unvollständigen Nihilisten und Kierkegaards uneigentlich Verzweifelten.⁴⁵⁶ Die Gemeinsamkeit, auf die hier alles ankommt, ist jedoch der Mangel an Bewusstheit oder Luzidität, der die uneigentlich Verzweifelten und die unvollständigen Nihilisten eint. Von außen, d. h. vom Blickwinkel des Nihilismusdiagnostikers und -histockelnden Flaute, die dem Menschen den Wind aus den Segeln nimmt: „Ich sage euch: man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Ich sage euch: ihr habt noch Chaos in euch./Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch keinen Stern mehr gebären wird. Wehe! Es kommt die Zeit des verächtlichsten Menschen, der sich selber nicht mehr verachten kann“ (Z I Vorrede 5; KSA 4, 19). Auf dieses Zitat wird noch zurückzukommen sein. 456 Kierkegaards Überlegungen zur Verzweiflung, vor allem in Die Krankheit zum Tode, aber auch in Entweder Oder, eignen sich überhaupt sehr gut als Ergänzungslektüre zu Nietzsches Nihilismusanalysen. Zudem sei bei dieser Gelegenheit darauf hingewiesen, dass sich Nietzsches Philosophie – wie schon Karl Löwith bemerkt, allerdings nicht weiter ausgeführt hat (vgl. Löwith 1987[1933], 74 Anm.) – mit Kierkegaard als Musterbeispiel für die Verzweiflung des Trotzes lesen lässt.

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rikers aus gesehen, befinden sich die Marktplatzbesucher mitten im Nihilismus. Ihr optimistischer Glaube an die Wahrheit, zumal an die Erkennbarkeit der Wahrheit, kurz: ihr Sokratismus, ist, insofern er sich auf ein Nichts bezieht, ebenso nichtig wie der Glaube an Gott. Ihr Zustand ist solcherart potenziell desperat, weil er unaufhaltsam auf eine Krise zuläuft, d. h. auf einen Augenblick der erschreckenden Erkenntnis dieser Nichtigkeit. Dieser Moment ist gekommen, wenn sich ihr Luftschloss vom stetigen Fortschritt de facto auch als ein solches erweist und folgerichtig in Luft auflöst – ein Offenbarungsgeschehen, auf das der Sokratimus bekanntlich hinsteuert. Einstweilen jedoch wissen sie noch nicht über ihren verzweifelten Zustand Bescheid. Ihre eigene nihilistische Situation ist ihnen noch nicht durchsichtig geworden. Es ist dieser Mangel an Selbstverständnis, der sie bisher noch davor bewahrt, offen resp. ausdrücklich zu verzweifeln, obschon ihre Situation objektiv – d. h. hier wiederum: aus Sicht des Nihilismushistorikers, des Nihilismusfachkundigen sozusagen  – eine verzweifelte ist. Wie für Kierkegaards uneigentlich Verzweifelten ist auch für Nietzsches unvollständigen Nihilisten bezeichnend, dass er seine Situation vor sich selbst zu verbergen sucht. Er setzt also alles daran, den unbewusst in ihm präsenten Nihilismus nicht ins Bewusste durchbrechen zu lassen. Tatsächlich ist das Ausweichen vor dem Nihilismus ein Charakteristikum des unvollständigen Nihilisten. Dieses Ausweichen ist indes ein verzweifeltes Unterfangen, weil der unvollständige Nihilist, insofern er den Nihilismus nicht durchdacht und folgerichtig dessen Wirken in den alten Werten nicht erkannt hat, bei seinen Versuchen, dem Nihilismus zu entkommen, gerade auf die alten nihilistischen Werte setzt. Er sucht auch nach dem Tod Gottes immer noch Zuflucht bei der Wahrheit (vgl. GM III 24), was auf lange Sicht zwangsläufig in den dann bewussten Nihilismus münden muss: „– [D]ie Ver suche d e m N < i h i li s m u s> z u entgehn, ohne jene Werthe umzuwerthen: bringen das Gegentheil hervor, verschärfen das Problem“ (NL 1885–1887, KSA 12, 10[42], 476). Der tolle Mensch hingegen ist, was sein Wissen über sich selbst und die Situation, in der er steht, anbelangt, schon weiter. Er hat begriffen, dass die alten Werte nicht mehr tragen – und auch der Glaube an die Wahrheit ist ja noch ein alter metaphysischer Wert. Dieses Wissen ist der Grund seiner verzweifelten Verrücktheit. Was Kierkegaard für jede Form von Verzweiflung geltend macht, gilt selbstverständlich auch für die nihilistische Verzweiflung: dass das „Wissen über den eigenen Zustand je nach dem Grad der Klarheit die Verzweiflung potenziert“ (Pieper 2000b, 115). Obwohl er aber einerseits vom Nihilismus viel stärker durchdrungen zu sein scheint als der Großteil seiner Zeitgenossen, ist der tolle Mensch der Überwindung des Nihilismus auf der anderen Seite doch ein ganzes Stück näher als diese. Denn wer um seine Not nicht explizit weiß, wird auch nicht nach einem Ausweg aus ihr suchen. Für Nietzsches Nihilismusanalyse ist dasselbe Gesetz ausschlaggebend wie für Kierkegaards Verzweiflungsanalyse: Der Nihilismus bzw. die Verzweiflung müssen erst ganz durch-

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messen werden, bevor man ihrer Herr werden kann.⁴⁵⁷ Es ist allerdings keineswegs ausgemacht, dass es am Ende auch gelingt, die Verzweiflung bzw. den Nihilismus hinter sich zu lassen, wenn man sich nur erst auf ihre Fährte begeben hat. Vielmehr wohnt beiden miteinander verwandten Phänomenen – beides sind (negative) Weisen des Verhaltens zu sich selbst  – die Gefahr inne, sich endgültig in ihnen zu verlieren. Der tolle Mensch hat den Nihilismus bereits weit abgeschritten. Die Gefahr der Verlorenheit ist aber darum so reell für ihn, weil er auf seinem Weg an einen Punkt gelangt ist, von dem aus er so weit in die nihilistische Landschaft blicken kann, dass er den Nihilismus als einen sich im Gange befindenden Auflösungsprozess erkennt, jetzt aber nicht mehr weiß, wie es bzw. wie er weiter gehen soll. Womöglich hat er auch begriffen, dass er nur durch das autonome Setzen neuer Werte das Jammertal, in dem er sich befindet, auch wirklich hinter sich lassen kann. Diese Einsicht in eine entsprechende Tat zu verwandeln, vermag er unterdessen nicht. Er hat mit anderen Worten die Nichtigkeit der alten Werte begriffen, ist jedoch noch nicht so weit, auch den nächsten Schritt zu gehen und die jetzt so dringend benötigten neuen Werte zu schaffen. So befindet er sich gewissermaßen in einer anderen Periode als seine Zeitgenossen, in der „Periode der Klarheit“ (NL 1887–1889, KSA 13, 11[150], 71,⁴⁵⁸ wie sie Nietzsche einmal nennt. Das Charakteristikum und gleichzeitige Problem dieser Periode ist die angesprochene Kluft zwischen der theoretischen Erkenntnis von etwas existenziell Bedeutsamen (Nihilismus) und der Unfähigkeit zur angemessenen praktischen Entgegnung (Setzung neuer Werte) auf das Erkannte: Die Pe rio d e d er Klarheit: man b eg reif t , daß Altes und Neues Grundgegensätze sind: die alten Werthe aus dem niedergehenden, die neuen aus dem aufsteigenden Leben geboren,  –

457 Entsprechend äußert sich Kierkegaard: „Der Verzweifelte, der darüber unwissend ist, daß er verzweifelt ist, er ist, im Vergleich mit dem, der sich dessen bewußt ist, lediglich um ein Verneinendes weiter fort von Wahrheit und Erlösung. Die Verzweiflung selbst ist eine Negativität, und daß man über sie unwissend ist, eine neue Negativität. Um aber zur Wahrheit zu gelangen, muß man durch jegliche Negativität hindurch; denn hier gilt, was die Volkssage vom Aufheben eines gewissen Zaubers erzählt: das Stück muß ganz und gar von rückwärts durchgespielt werden, sonst wird der Zauber nicht behoben“ (Kierkegaard 1985[1849], 41f.). Und bei Nietzsche heißt es: „Denn man vergreife sich nicht über den Sinn des Titels, mit dem dies Zukunfts-Evangelium benannt sein will. ‚Der Wille zur Macht . Versuch einer Umwerthung aller Werthe‘ – mit dieser Formel ist eine G e gen b ewegu ng zum Ausdruck gebracht, in Absicht auf Princip und Aufgabe: eine Bewegung, welche in irgend einer Zukunft jenen vollkommenen Nihilismus ablösen wird; welche ihn aber vor au ssetz t , logisch und psychologisch, welche schlechterdings nur auf ihn und au s ih m kommen kann. Denn warum ist die Heraufkunft des Nihilismus nunmehr nothwendig? Weil unsere bisherigen Werthe selbst es sind, die in ihm ihre letzte Folgerung ziehn; weil der Nihilism die zu Ende gedachte Logik unserer großen Werthe und Ideale ist, – weil wir den Nihilismus erst erleben müssen, um dahinter zu kommen, was eigentlich der We r t h dieser ‚Werthe‘ war… Wir haben, irgendwann, n e u e Wer t h e nöthig…“ (NL 1887–1889, KSA 13, 11[411], 190). 458 Das negative Korrelat dieser Periode bildet selbstredend die „Pe r i od e d e r Unklarheit“ (NL 1887–1889, KSA 13, 11[150], 71), die wiederum eindeutig zur Sphäre des unvollständigen Nihilismus gehört.

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Erkenntniß der Natur und Geschichte uns nicht mehr solche „Hoffnungen“ gestattet, – daß alle alten Ideale lebensfeindliche Ideale sind (aus der décadence geboren und die décadence bestimmend, wie sehr auch im prachtvollen Sonntags-Aufputz der Moral) – wir ve r s te h e n das Alte und sind lange nicht stark genug zu einem Neuen. (NL 1887–1889, KSA 13, 11[150], 71)

Was ich oben „angemessene“ Reaktion genannte habe, bestünde mithin im Setzen neuer Werte, die dem Leben ein neues Ziel geben und es solcherart wieder sinnvoll erscheinen lassen. Auf eine metaphysische Absicherung müssen die neuen Werte allerdings verzichten, denn die Transzendenz hat sich als Lüge erwiesen.⁴⁵⁹ Gerade das ist jedoch der Haken an der Sache: Um ein Leben zu führen, das einzig und allein auf immanente Werte setzt, bedarf es einer ungeheuren, nachgerade übermenschlichen Stärke. Eine solche Stärke besitzt der tolle Mensch indes nicht. Es ist anzunehmen, dass die Periode der Klarheit eine ganze Weile andauern muss, bis die Menschen endlich stark genug zu jenem dem Alten diametral entgegengesetzten Neuen sein werden. Zunächst einmal hat die lange Herrschaft der alten Werte, wie ich gezeigt habe, Willensneurotiker hervorgebracht. Der menschliche Wille ist infolge der Regierungszeit des asketischen Ideals korrumpiert. Damit der Mensch wieder aristokratische Werte setzen kann, Werte, die der Welt des Werdens und nicht der erfundenen Welt des Seins entsprechen, muss erst sein Wille gesunden. Die Zeit, in welcher der Wille gesundet oder schlimmsten Falles auch nicht, ist eine gefährliche Zwischenzeit, in der alles in der Schwebe ist, weil die alten Werte keinen Halt mehr bieten und die neuen noch nicht gefunden bzw. gesetzt wurden.⁴⁶⁰ Es ist also auf einen Begriff gebracht die Zeit des Nihilismus, der hier als eine Übergangszeit erscheint, als eine „Zwischenperiode“,⁴⁶¹ wie Nietzsche sich ausdrückt.

459 Der tote Gott offenbart sich (dem tollen Menschen) als toter bzw. gestorbener Gott zunächst als Lügner, dann als nie Gewesener, so dass er auch kein Lügner sein konnte, sondern allenfalls ein Lügengebilde: „Wenn der Ewige (die ‚ewigen Werte‘) stirbt, heißt das, er lügt und ist gar nicht ewig (er ‚löst sich auf‘), also ist er nicht. Also war er nicht“ (Glucksmann 1986, 227). 460 Für Zarathustra ist es eine Zeit des Wartens. Er wartet bis seine Stunde schlägt, d. h. bis die Menschen bereit sind für sein Wort vom Übermenschen und der damit verknüpften heraklitschen Auffassung vom Sein als Werden aus Gegensätzen – so, als das Gegensätzliche in Einheit, verstehe ich jedenfalls das rätselhafte Zeichen, nach dem Zarathustra Ausschau hält: „Hier sitze ich und warte, alte zerbrochene Tafeln um mich und auch neue halb beschriebene Tafeln. Wann kommt meine Stunde?/ – die Stunde meines Niederganges, Unterganges: denn noch Ein Mal will ich zu den Menschen gehn./Dess warte ich nun: denn erst müssen mir die Zeichen kommen, dass es me i n e Stunde sei, – nämlich der lachende Löwe mit dem Taubenschwarme./Inzwischen rede ich als Einer, der Zeit hat, zu mir selber. Niemand erzählt mir Neues: so erzähle ich mir mich selber. –“ (Z III Tafeln 1; KSA 4, 246). 461 „Zwischenperiode des Nihilismus: bevor die Kraft da ist, die Werthe umzuwenden und das Werdende die scheinbare Welt als die Einzige zu vergöttlichen, gutzuheißen“ (NL 1885–1887, KSA 12, 9[60], 367). In einer viel beachteten Notiz gibt Nietzsche einmal einen Zeitrahmen für die Heraufkunft des Nihilismus vor: „Was ich erzähle, ist die Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte. Ich beschreibe, was kommt, was nicht mehr anders kommen kann: d ie Her au fku n ft d e s Ni h i l i s mu s. Diese Ge-

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In diesem Licht betrachtet herrscht in der Periode der Klarheit also alles andere als Klarheit, vor allem nicht hinsichtlich ihres Ausgangs. Der Kulminationspunkt dieser Periode, der höchste Punkt der Luzidität ließe sich sagen, ist nach Nietzsche der vollkommene Nihilismus. Vollkommen ist der Nihilismus aber erst dann, wenn er (sich) vollständig durchsichtig geworden ist. Das bedeutet, er muss in seinem Wesen als der Auflösungs- bzw. Entwertungsprozess, der er ist, durchschaut und überdies in Richtung auf seine mögliche Überwindung begriffen werden: „Erst der vollkommene Nihilismus erkennt die Notwendigkeit, neue Werte zu entfalten“ (Schönherr-Mann 2008, 54). Solcherart kann nur der vollkommene Nihilismus überhaupt zu einer Überwindung des Nihilismus führen,⁴⁶² die allerdings, dafür werde ich im nächsten schichte kann schon jetzt erzählt werden, denn die Nothwendigkeit ist hier am Werke“ (NL 1887–1889, KSA 13, 11[411], 189). 462 Der vollkommene Nihilist ist zu einem radikalen, einem schonungslosen Neuanfang bereit. Dieser Neubeginn impliziert das Fallenlassen des Vorangegangenen. Erst diese Bereitschaft eröffnet die Möglichkeit, den Nihilismus hinter sich zu lassen, insoweit sie eine neue Geschichtsschreibung beginnen und damit die alte Geschichte, die eine Geschichte des Nihilismus ist, hinter sich lassen will: „Der vo l l ko m m e n e Ni h i l i s t   – das Auge des N, d a s i n s H ä ßl i c h e i d e a l i s i r t , das Untreue übt gegen seine Erinnerungen ( – es läßt sie fallen, sich entblättern; es schützt sie nicht gegen leichenblasse Verfärbungen, wie sie die Schwäche über Fernes und Vergangenes gießt; und was er gegen sich nicht übt, das übt er auch gegen die ganze Vergangenheit des M nicht, – er läßt sie fallen“ (NL 1885–1887, KSA 12, 10[43], 476). Diese Konzentration auf das Neue führt dazu, dass der vollkommene Nihilist statt sich nihilistisch über das Vergangene oder das Gegenwärtige zu mokieren, lieber an der Überwindung des Nihilismus arbeitet: „Leopardi beklagt sich, hat Grund sich zu beklagen: aber damit gehört er nicht zu dem vollkommenen Typus des Nihilisten“ (NL 1887–1889, KSA 13, 11[229], 90). Der vollkommene Nihilismus gipfelt in eine Lehre, die – wie es oben heißt – „ins Häßliche idealisirt“, indem sie den tragischen agonalen Charakter des Lebens als absolut und ewig lehrt: „D e r vo l l komme n e Ni h i l i s mu s/Seine Symptome: die große Ve r a ch tu ng / das große M i t l e i d /die große Z e r s tö r u ng /sein CulminationsPunkt: eine Lehre, welche gerade das Leben, das Ekel, Mitleid und die Lust zur Zerstörung rege macht, als ab so lu t und e w ig lehrt“ (NL 1887–1889, KSA  13, 11[149], 70f., vgl. auch 16[32], 492f.). Von einer solchen Lehre scheint Nietzsche sich die Überwindung des Nihilismus zu versprechen. Der Überwinder des Nihilismus ist aber nicht bereits derjenige, der eine Lehre aufstellt, sondern ihr darüber hinaus auch standhält – auch Zarathustra wird nicht dadurch schon zum Übermenschen, dass er ihn bloß verkündet. Die Symptome des vollkommenen Nihilismus: Verachtung, Mitleid und Zerstörung bezeichnet Nietzsche als die „drei großen Affekte“ (NL 1887–1889, KSA 13, 11[150], 71), der Periode der Klarheit. Der vollkommene Nihilismus ist die Klimax der Periode der Klarheit, insofern der Nihilismus hier durchschaut wird. Sie ist Klarheit über den Nihilismus und bringt überdies auch Klarheit, nämlich für die Zukunft. Das will heißen: Sie ist eine Periode der Katastrophe, in der sich entscheidet, wer der Lehre des vollkommenen Nihilismus auch in der Praxis gewachsen ist und wer nicht. Im Sich-zur-LehreVerhalten liegt der Schlüssel zur Überwindung des Nihilismus. Die entscheidende Frage ist, wer sich als stark genug für diese Lehre erweist, wer sie also nicht nur zu formulieren oder nachzusprechen, sondern wirklich auch zu leben vermag: „Die  Period e  d er drei großen Affekte/der Verachtung/des Mitleids/der Zerstörung/D i e Pe r i o d e der Katastrophe/die Heraufkunft einer Lehre, welche/die Menschen au s s i e b t … welche/die Schwachen zu Entschlüssen treibt/und ebenso die Starken“ (NL 1887–1889, KSA 13, 11[150], 71).

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Kapitel argumentieren, niemals endgültig sein kann. – Die Überwindung des Nihilismus ist ein schweres und ermüdendes Geschäft, das dem Menschen nicht weniger Beharrlichkeit als entschlossene Tatkraft abverlangt. Neben dem unvollständigen und dem vollkommenen Nihilismus nennt und beschreibt Nietzsche in seinen Nachlass-Aufzeichnungen der späten 1880er Jahre eine ganze Reihe weiterer Nihilismen. Die Vielfalt ist verwirrend.⁴⁶³ Nichtsdestotrotz lässt sich mit Nietzsche eine Typologie des Nihilismus entwerfen. Die Unterscheidung zwischen dem unvollständigen und dem vollkommenen Nihilismus ist für eine solche Typologie grundlegend.⁴⁶⁴ Somit ist der Grundstein für meine nietzscheanische Typologie des Nihilismus bereits gelegt. Ich will im Folgenden versuchen, sie so klar wie

Ich meine also, anders als Alan White (vgl. White 1987, 34), dass der vollkommene Nihilismus nicht schon der überwundene Nihilismus ist. Ich denke, Nietzsche hat sich nicht umsonst als den ersten vollkommenen Nihilisten Europas bezeichnet, der, wie er hinzufügt, den Nihilismus aber schon überwunden habe (vgl. NL 1887–1889, KSA 13, 11[411], 190). Indessen wird man Zweifel anmelden dürfen, ob Nietzsche, der sich tatsächlich seit der Geburt der Tragödie an der Formulierung einer Lehre, wie sie der vollkommene Nihilist vertritt, versucht hat, ihr auch gewachsen war. Dass Nietzsche den Nihilismus wirklich überwunden haben sollte, glaubt wahrscheinlich einzig er selbst – wenn überhaupt. Für die Typologie des Nihilismus ist diese Frage jedoch unerheblich. Wer den Nihilismus wirklich überwinden will, der braucht mehr als Verachtung, Mitleid und Zerstörung, denn er muss vor allem ein schöpferischer Geist sein. Als solcher bezieht er seine Kraft aber nicht weniger aus der „grossen Liebe“ als aus der grossen Verachtung. Erst ein solcher Mensch bringt die Erlösung vom Nihilismus und ist eben kein vollkommener Nihilist, sondern ein „Antinihilist“ (vgl. GM II 24; KSA 5, 336). 463 Nietzsches Nachlass-Notizen, die den Nihilismus betreffen, stellen für den Leser und Interpreten eine große Herausforderung dar. Insbesondere die von Elisabeth Förster Nietzsche und Heinrich Köselitz (alias Peter Gast) unter dem Titel Der Wille zur Macht als angebliches Hauptwerk Nietzsches erstmals 1906 herausgegebenen Aufzeichnungen verwirren den Leser. Denn der Wille zur Macht „introduces bewilderingly many specific types of nihilism. ‚Active‘ and ‚passive‘ nihilism are paired, as are ‚theoretical‘ and ‚practical‘ nihilism, and ‚complete‘ and ‚incomplete‘ nihilism; other forms appear in relative isolation, including ‚authentic‘ nihilism, ‚contagious‘ nihilism, ‚ecstatic‘ nihilism, the ‚most extreme‘ nihilism, ‚first‘ nihilism, ‚final‘ nihilism, ‚fundamental‘ nihilism, ‚genuine‘ nihilism, ‚radical‘ nihilism, ‚religious‘ nihilism, ‚tired‘ nihilism, ‚suicidal‘ nihilism. Commentators have further complicated matters: Heidegger has added ‚clasical‘ nihilism as though it were a Nietzschean term, and Deleuze has done the same with ‚reactive‘ nihilism“ (White 1987, 29f.). Edith Düsing bemerkt treffend, dass das Verwirrende am Nihilismuskomplex bei Nietzsche im Durcheinanderlaufen der Gedankenlinien besteht: „Der Nihilismuskomplex ist bei Nietzsche vieldimensional, insofern er in ihm Zukünftiges prophezeit, bestehende Verhältnisse brandmarkt und glühend seine eigene Zukunftsvision inszeniert. Nietzsche argumentiert in zuweilen durcheinanderlaufenden Gedankenlinien als Diagnostiker, als säkularer Prophet, als Kulturkritiker, als Sinnvakuumstherapeut und biopsychischer Stratege“ (Düsing 2007, 188). 464 Darin sind sich die Interpreten weitestgehend einig. Duhamel 2006 unterscheidet allerdings grundsätzlich zwischen einem ersten, zweiten und dritten Nihilismus, wobei er die Distinktion zwischen unvollständigem und vollkommenem Nihilismus zwar der Sache nach bedenkt, jedoch nicht weiter auf die Bezeichnungen „unvollständig“ und „vollkommen“ eingeht (vgl. Duhamel 2006, 11–19).

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möglich⁴⁶⁵ weiterzuführen, wobei ich mir diese größtmögliche Klarheit von einer Konzentration auf die wesentlichen Nihilismustypen verspreche. (B): Zunächst wäre da der radikale Nihilismus, der zweifellos der Periode der Klarheit zuzuordnen ist. Die Entwertung der bisherigen höchsten Werte durch sich selbst hat er hellsichtig begriffen: Der r ad ikale Nih ilism u s ist die Überzeugung einer absoluten Unhaltbarkeit des Daseins, wenn es sich um die höchsten Werthe, die man anerkennt, , hinzugerechnet die E i n sicht , daß wir nicht das geringste Recht haben, ein Jenseits oder ein An-sich der Dinge anzusetzen, das „göttlich“, das leibhafte Moral sei. Diese Einsicht ist eine Folge der großgezogenen „Wahrhaftigkeit“: somit selbst eine Folge des Glaubens an die Moral. (NL 1885–1887, KSA  12, 10[192], 571)

Die Bestimmung der Position des radikalen Nihilismus gestaltet sich meines Erachtens als schwierig  – schwieriger als die überaus kurzen Ausführungen mancher Interpreten vermuten lassen. Rodion Ebbighausen vertritt beispielsweise die Auffassung, der radikale Nihilismus halte das Wertedenken selbst für unvertretbar, „weil jeder Wert über die Gegebenheit des Werdens hinausgeht und sich damit schon jeder rechtfertigbaren Begründung entzieht“ (Ebbighausen 2010, 76). Aus obiger Bestimmung des radikalen Nihilismus geht indessen keineswegs hervor, dass jede Art eines Wertedenkens unvertretbar sei. Der radikale Nihilist erklärt vielmehr „nur“, dass es keine absoluten Werte gibt bzw. dass wir kein Recht haben, die Existenz solcher Werte zu behaupten. Tatsächlich lässt sich ohne ein irgendwie geartetes Wertedenken gar nicht leben. Wir handeln immer nur, weil wir einer Handlung einen bestimmten Wert zuschreiben, weil wir sie auf irgendeine Art für sinnvoll halten. Anders ausgedrückt: Erst wenn wir einen Wert setzen, setzen wir uns überhaupt auch in Bewegung. Wenn Ebbighausen recht hat, dann ist der radikale Nihilist radikal lebensunfähig. Seine Überzeugung von der Unhaltbarkeit des Lebens wäre dann nur allzu verständlich. Er könnte sich noch nicht einmal „guten Gewissens“ dieses unhaltbare Leben nehmen, weil er damit einen Wert gesetzt hätte. Seine Situation wäre also völlig verfahren. Aber nicht nur seine Position wäre verfahren. Es käme sogar noch schlimmer: Auch seine Überzeugung von der Unhaltbarkeit des Daseins ist unter der Voraussetzung, dass das Wertedenken unvertretbar ist, unhaltbar, denn sie bewertet das Dasein ja. Zwar spricht diese Inkonsistenz des radikalen Nihilisten nicht gegen Ebbighausens

465 Eine besonders klare resp. systematische Darstellung der verschiedenen Nihilismusformen bei Nietzsche hat Kuhn 1992, 236–255, geleistet. Sie hat einen Stufenbau des Nihilismus bei Nietzsche entworfen, in dem alle einzelnen Nihilismen ihren Platz finden. Obschon Kuhns Darstellung sehr hilfreich ist, schließe ich mich der Kritik von Ebbighausen 2010, 76 (Anm.), an, der Kuhn entgegenhält, „dass es sich bei Nietzsche weniger um einen Stufenbau, als vielmehr um die Beschreibung und Klassifikationsversuche eines komplexen Phänomens handelt, in dem sich die einzelnen Teile überschneiden, bzw. aufeinander und ineinander wirken.“

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Meinung, insofern ein Nihilist sich keineswegs an Konsistenz halten muss; argumentativ/logisch sind die meisten nihilistischen Positionen irgendwie schief. Unterdessen wird man sich fragen dürfen, warum Nietzsche, wenn er gemeint hätte, der radikale Nihilist weise das Wertsetzen überhaupt zurück, ausdrücklich geschrieben hat, das Dasein sei unhaltbar, wenn es sich um die höchsten Werte handle. Warum also hat er sich die Mühe gemacht, diese Werte näher zu bestimmen, wenn er doch eigentlich alle Werte gemeint hat? Auf den ersten Teil der Bestimmung des radikalen Nihilismus, d. i. dessen Überzeugung von der Unhaltbarkeit der Welt unter bestimmten Voraussetzungen, geht Ebbighausen so wenig ein wie Elisabeth Kuhn. Dabei ist doch das Nihilistische am radikalen Nihilismus gerade seine spezifisch nihilistische Überzeugung. Kuhn handelt den radikalen Nihilismus in aller Kürze ab,⁴⁶⁶ wenn sie schreibt, er habe „die Entwertung der obersten Werte in Gestalt der Entwertung der moralischen Weltauslegung abgeschlossen“ (Kuhn 1992, 247). Ich hingegen glaube mit Alan White,⁴⁶⁷ dass dem nicht so ist. Und zwar hat der radikale Nihilist diese Entwertung deswegen nicht abgeschlossen, weil er klammheimlich, im negativen Modus, nach wie vor an den obersten Werten festhält. Wie ist das gemeint? Zunächst muss konstatiert werden, dass der radikale Nihilist überzeugt ist und dass er auf der Basis dieser Überzeugung ein Urteil fällt, das radikal ist: „Das Dasein ist unhaltbar!“ Wie kommt er aber zu diesem vernichtenden, diesem fürwahr und im Übrigen existenziell nihilistischen Urteil? Es ist ja keinesfalls zwingend.⁴⁶⁸ Daraus nämlich, dass sich die bisher geltenden Werte als zweifelhaft herausgestellt haben, folgt ja nicht ipso facto, dass das ganze Dasein verworfen werden müsste. Unhaltbar ist das Dasein jedoch dann, wenn man es weiterhin mit dem Maßstab der als ungerechtfertigt erkannten und darum nicht rechtfertigenden bzw. der für unhaltbar befundenen und darum nicht haltgebenden Werte beurteilt. Genau das tut der radikale Nihilist jedoch, dessen Position also – auch im Lichte dieser Interpretation – alles andere als konsistent ist. Der radikale Nihilismus erklärt sich, was bei nihilistischen Positionen zumeist der Fall ist, eher psychologisch als logisch; soll heißen: Er ist in erster Linie eine Position der Enttäuschung, erweist sich als eine zumal affektiv begründete Stellungnahme. Enttäuscht ist der radikale Nihilist aber zunächst in epistemologischer Hinsicht: Er hat sich von der Täuschung frei gemacht, dass die Werte, die für das Abendland solange verbindlich waren, absolute Gültigkeit besit466 Auch Hans-Martin Schönherr-Mann 2008, 57, kommentiert den radikalen Nihilismus äußerst knapp: „Dieser denkt den Niedergang der Werte an sein definitives Ende und fordert eine radikale Hinwendung zum Diesseits (…).“ 467 Mir scheint, dass White den Fokus ganz richtig auf das nihilistische Urteil des radikalen Nihilisten über die Welt richtet, welche Bewertung immer noch im Bann der alten Werte steht: „Radical nihilists continue to judge the world as a hole in terms of the traditional categories of value; they are then horrified by the verdict they are forced to draw, a verdict of absolute condemnation“ (White 1987, 31). 468 Dem korrespondiert, dass es aus einer Überzeugung heraus vertreten wird und nicht vom Standpunkt des Wissens.

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zen. Er hat erfasst, dass der Moral eine suizidale Tendenz eingeschrieben ist. Enttäuschung ist so gesehen das Ergebnis eines Erkenntnisprozesses. Die psychologische Reaktion hierauf ist dann das, was man allgemein unter Enttäuschung versteht, und zwar eine zutiefst verstimmende Ernüchterung. Die epistemologische Ent-täuschung mündet also in eine affektive Enttäuschung. Der Enttäuschte steht nun da mit leeren Händen – d. h., ganz leer sind sie nicht: Er hat zwar scheinbar die Werte verworfen, allerdings beurteilt oder besser: verurteilt er die nun vom Schleier der Täuschung entkleideten Werte nach ihrer eigenen Maßgabe, weswegen ihre „Lüge“ überhaupt so schrecklich scheint. Mit anderen Worten: Er hält in gewisser Weise noch immer an den alten Werten fest, jedoch nicht mehr an ihrer fundierenden und lebensanleitenden, sondern nur noch an ihrer richtenden Seite. Die Medaille hat quasi nur noch eine, und zwar eine negative Seite: Entwicklung des Pessim ism u s zu m Nih i l i s m./Entnatürlichung der Wer t h e . Scholastik der Werthe. Die Werthe, losgelöst, idealistisch, statt das Thun zu beherrschen und zu führen, wenden sich verurtheilend ge ge n das Thun. (…) Die ve r wor fe n e Welt, Angesichts einer künstlich erbauten, „wahren, werthvollen“/Endlich: man entdeckt, aus welchem Material man die „wahre Welt“ gebaut hat: und nun hat man nur die verworfene übrig und re chnet jene höchste Enttäuschung mit ein auf das Conto ihrer Verwerflichkeit/Damit ist der Nihilis m da: man hat die r i ch te n d e n Wer t h e übrig behalten – und nichts weiter! (NL 1885– 1887, KSA 12, 9[107], 396f.)

Insofern das radikale Urteil des radikalen Nihilisten, das eine Kontravalenz zwischen der Welt, wie sie ist und wie sie sein sollte, behauptet, auf einer heimlichen, sich nicht zuletzt als verzweifelte Sehnsucht äußernden Akzeptanz der verworfenen Werte basiert, kann der radikale Nihilismus nicht (direkt) zu einer Überwindung des Nihilismus führen, sondern muss, soll man nicht im Nihilismus stecken bleiben, seinerseits überwunden werden. Der radikale Nihilismus hat dementsprechend noch nicht die Notwendigkeit, neue Werte zu schaffen, erfasst. Er ist solcherart trotz seines fortgeschrittenen Nihilismusbewusstseins keine Form des vollkommenen Nihilismus, sondern gehört zu den Erscheinungsformen des unvollständigen Nihilismus: Der Nihilismus ist im radikalen Nihilismus eben noch nicht vollständig durchschaut, die epistemologische Enttäuschung ist auf halber Strecke stehen geblieben.⁴⁶⁹

469 Kuhn 1992 dagegen rubriziert ihn unter den vollkommenen Nihilismus. John Marmysz hält den radikalen Nihilismus – „this kind of nihilism (…) Nietzsche is the most preoccupied“ (Marmysz 2003, 77) – für den eigentlichen, in seinen Worten: authentischen Nihilismus (vgl. Marmysz 2003, 77). Er meint damit, dass der radikale Nihilismus der Welt, so wie sie ist, ein besonders verzweifeltes Nein entgegenruft, weil diese Welt seinen hohen, durch das alte Wertdenken geprägten Ansprüchen nicht genügt. Gerade im aus der Kluft zwischen Anspruch und Realität entspringenden Bannspruch über die Welt liege aber das, was Nihilismus eigentlich ausmache: „The world just doesn’t measure up to the highest criteria that the radical ‚nihilist‘ judges as the most excellent measures of worthiness. In the frustration and pain of facing up to the impossibility of actually realizing the superlative standard of worth, the nihilist gains an intuition into the fact that life consists of

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(C): Eine weitere wichtige und unter dem Gesichtspunkt der Luzidität besonders progressive Form des Nihilismus ist der extremste Nihilismus. Der extremste Nihilist vertritt der Wahrheit gegenüber einen extremen bzw.  – und von hier aus versteht sich auch Nietzsches superlativische Bezeichnung für diese Form des Nihilismus – den extremsten Standpunkt, den man ihr gegenüber einnehmen kann: Er hält die Wahrheit, so paradox es auch klingen mag, für einen Irrtum. Der extremste Nihilist behauptet, dass es die Wahrheit schlechterdings nicht gibt: Daß es keine Wahrheit giebt; daß es keine absolute Beschaffenheit der Dinge, kein „Ding an sich“ giebt/  – dies is t selb st ein Nih ilism , und z wa r d e r e x t re ms te . Er legt den We r t h der Dinge gerade dahinein, daß diesem Werthe kein e Realität entspricht und entsprach, sondern nur ein Symptom von Kraft auf Seiten der We r t h -A n s e t z e r, eine Simplification zum Z we ck des Lebens (NL 1885–1887, KSA 12, 9[35], 351f.)

Der extremste Nihilist erkennt, wie der zweite Teil des Zitats beweist, aber weit mehr als nur die Unhaltbarkeit der Wahrheit. Er versteht außerdem, dass die Unhaltbarkeit der Wahrheit ihrerseits problematisch ist, dass sie aus der Optik des Lebens betrachtet womöglich selber unhaltbar ist, weil die Wahrheit einen lebensdienlichen Zweck erfüllt. Der extremste Nihilist stößt solcherart auf das Dilemma der menschlichen Existenz überhaupt,⁴⁷⁰ dass sie nämlich der Wahrheit nicht entbehren kann, obgleich es mit der Wahrheit „in Wahrheit“ nichts ist. Ein weiteres Zitat hebt das Dilemmatische der menschlichen Situation noch deutlicher hervor: Was ist ein Glau b e ? Wie entsteht er? Jeder Glaube ist ein Fü r-wa h r-h a lte n ./Die extremste Form des Nihilism wäre: daß jed er Glaube, jedes Für-wahr-halten nothwendig falsch ist: weil es eine wahre Welt gar nicht giebt . Also: ein p e r spektivischer Schein, dessen Herkunft in uns liegt (insofern wir eine engere, verkürzte, vereinfachte Welt fortwährend n ö t h ig haben)/ – daß es das Maaß der Kraft ist, wie sehr wir uns die S ch e i n b a r ke i t , die Nothwendigkeit der Lüge eingestehn können, ohne zu Grunde zu gehn./I n s ofe r n kö n n te Ni h i l i s m, als Leugnung einer wahrhaften Welt , eines S eins, eine göttliche Denkweise s ein:  – – – (NL 1885–1887, KSA 12, 9[41], 354)

Auf die Wahrheit im Sinne des Für-wahr-Haltens kann der Mensch eigentlich nicht verzichten. Er muss immer irgendeinen Standpunkt wählen, „um nicht fortge-

vain and continous struggle. Authentic, radical nihilism is bound up with the battle between a desire for the ‚best‘ and the believe that the best is never attained. Those values that constitute the traditionally held highest final ends of humankind (…) are the internalized criteria by which the authentic nihilist can’t help but judge the world. Authentic, radical nihilism lies in the incongruity between the way that the world really is and the way that it should be according to the highest human standards. (…) nihilism in the fullest sense (…) involves more than just a description the way the world is. It also involves a desire for the world to be different than it is“ (Marmysz 2003, 77). Ein wahrer Nihilist, so Marmysz, „refuse[s] to abandon devotion to the ultimate“ (Marmysz 2003, 78). 470 Dieser Punkt ist für Ebbighausens Nihilismusinterpretation zentral, und er hebt ihn zu Recht hervor (vgl. Ebbighausen 2010, 74 und 78).

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schwemmt zu werden und sich nicht selbst zu verlieren“ (WL 2; KSA 1, 886) in der Welt des unablässigen Werdens; ein Standpunkt ist eben auch ein Halt-Punkt, d. i. ein Ort, der Halt (einen festen Stand) gibt und das Werden in gewisser Weise wenigstens eine Weile an- oder aufzuhalten scheint. Die Frage ist nur, inwieweit ein Standpunkt noch als Halt-Punkt taugt, wenn der Halt suchende Mensch erkannt hat, dass es dem Standpunkt sozusagen an festem ontologischem Boden mangelt. Anders formuliert: Wie soll etwas, das seiner Funktion nur dann gerecht werden kann, wenn wir es für wahr halten, seine Funktion noch erfüllen können, wenn wir begriffen haben, dass, wie Nietzsche oben schreibt, „jedes Für-wahr-halten nothwendig falsch ist“? Wenn besagte Funktion aber im Dienste des Lebens steht, ja für eine bestimmte Spezies von fundamentaler Bedeutung dafür ist, dass sie überhaupt leben kann, dann wird die nihilistische Dimension der Erkenntnis des extremsten Nihilisten in ihrem ganzen Extremismus offenbar. Denn „Wa h r h e i t i s t d i e A r t vo n I r r t h u m , ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte“ (NL 1884–1885, KSA 11, 34[253], 506). Ohne Wahrheit (Für-wahr-Halten) gibt es keine zielgerichteten Aktivitäten des Menschen. Es leidet also unter der Wahrheitslosigkeit seine positive Potenz, d. i. nach Byung Chul Han „die Potenz, etwas zu tun“. Unterdessen leidet aber auch seine negative Potenz, d. i. „die Potenz nicht zu tun, (…) Nein zu sagen“, weil nur derjenige, der einen Standpunkt hat, sich von anderen Punkten, die er für nicht standpunktwürdig, d. h. für falsch hält, abgrenzen kann. Bei aller berechtigten Aufmerksamkeit auf die affirmative Seite von Nietzsches Philosophie des Amor fati darf nicht übersehen werden, dass er der negativen Potenz eine Schlüsselrolle im Prozess des Lebens zuerkennt. So kann z. B. ein Standpunkt überhaupt nur kraft des Zusammenspiels der positiven und negativen Potenz eingenommen werden. Letzterer kommt dabei die Aufgabe zu, im Fluss des Werdens für eine gewisse Ordnung zu sorgen, indem ein Großteil der unzähligen auf das Individuum einströmenden Eindrücke abgewiesen wird. Sie nimmt also die Simplifikation zum Zweck des Lebens vor, von der Nietzsche immer wieder spricht: Wenn man ohne die negative Potenz, nicht wahrzunehmen, nur die positive Potenz, etwas wahrzunehmen, besäße, wäre die Wahrnehmung allen andrängenden und sich aufdrängenden Reizen und Impulsen hilflos ausgesetzt. (Han 2010, 44)⁴⁷¹

Der nihilistische Standpunkt des extremsten Nihilismus, so lässt sich in einer ersten Zusammenfassung sagen, unterminiert mithin die Möglichkeit der Standpunkteinnahme selber und stellt somit eine erhebliche Gefahr für das Leben des Menschen dar. 471 Dieses Zitat bezieht sich zwar nicht auf das Problem der Wahrheit bei Nietzsche, sondern gehört in den Kontext von Hans These, dass es unserem allzu positiven Zeitalter an Negativität mangele und dass die Folge dieses Mangels die neuen „Leitkrankheiten“ (Han 2010, 5) unserer Zeit sind, und zwar neuronale Erkrankungen wie die Depression oder das Burnout-Syndrom. Nichtsdestotrotz bezieht sich Han bei seinem Verweis auf die negative Potenz explizit auf Nietzsche und – was wichtiger ist – trifft außerdem en passent den Punkt, um den es mir hier zu tun ist.

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Damit ist jedoch noch nicht alles über den extremsten Nihilismus ausgesagt. Denn er zeigt noch ein anderes, ein gewissermaßen freundlicheres Gesicht. Der extremste Nihilismus ist, ich hatte es oben gesagt, ein besonders progressiver Nihilismus, der auch in den vollkommenen Nihilismus umschlagen kann und solcherart den Weg zur Überwindung des Nihilismus – soweit das eben möglich ist – ebnen kann. Wie soll das vonstattengehen? Der extremste Nihilismus fordert den Menschen zu einem radikal autonomen Leben auf, ein Leben im Zeichen des Perspektivismus, das ich hier das Leben des ausdrücklichen flüssigen Selbststandes nennen möchte. Zwar war im Grunde bereits der Standpunkt der Wahrheit ein Selbststand; allerdings ein klandestiner und kein ausdrücklicher. Solange man glaubte, auf sicherem Grund zu stehen, wurde dieser Grund auch nicht schwankend. Auf solcherart sicherem Grund sicher zu stehen, war des Menschen leichteste Übung. Der klandestine Selbststand nimmt sich aus wie ein Gehaltenwerden oder ein Gehaltensein, womit ich ein Gehaltenwerden durch das Sein (im platonisch-christlichen Sinne) meine. Das Sein zeichnet sich im Gegensatz zum Werden durch Stabilität aus. Es ist, mit Platon gesprochen, „immer sich gleich bleibend“ (Phd., 79a).⁴⁷² Der ausdrückliche flüssige Selbststand ist dagegen eher einem Balanceakt vergleichbar. Er verlangt vom Menschen, Halt zu finden im Haltlosen, das kein Halten, sondern immer nur ein Fließen, mitunter Strömen kennt. Die Welt des Werdens rauscht gleichsam am Auge des Betrachters vorbei, eines Betrachters der seinerseits Teil des allumfassenden Werdens ist. So ändert sich seine Perspektive auf sich und die Welt, indem er sich selbst und die Welt sich verändert. Dem extremsten Nihilisten nutzt die Vorstellung einer wahren Welt nichts mehr, weil er den Glauben an sie verloren hat. Die wahre Welt hat als Halt gebende „Institution“ ausgedient. Er sollte sich darum schleunigst von dem Gedanken an eine solche Welt des Seins verabschieden. Andernfalls spukt sie nur weiter in seinem Geist fort als ein nicht erreichbarer Maßstab, an dem er die Welt des Werdens messen und infolgedessen als nur scheinbare Welt⁴⁷³ verwerfen könnte. Er würde solcherart in einen ganz ähnlichen Nihilismus wie der radikale Nihilist hineingeraten und sich im Zuge dessen von der Bewältigung des Nihilismus immer weiter entfernen. Es gilt also überflüssigen Ballast so schnell wie möglich über Bord zu werfen, weil dieser andernfalls zur nihilistischen Last zu werden droht, einer so schweren Last, dass sie einen Absturz 472 Streng genommen geht es an dieser Stelle des Phaidon um zwei Arten von Seienden: um das unsichtbare, intelligible Sein und das sichtbare Seiende der phänomenalen Welt. Allerdings ist für Platon nur dasjenige Seiende auch im vollen Sinne seiend, das der intelligiblen Welt angehört, mithin das sich gleich Bleibende. Es ist ein Charakteristikum des platonischen Seins selbst, dass es unveränderlich ist. 473 Bloßer Schein wird sie durch den Maßstab des wahren Seins. Wird dieser Maßstab beseitigt, so gibt es auch keinen Grund mehr von der Welt des Werdens als der Welt des Scheins zu sprechen (jedenfalls nicht mehr in pejorativem Sinne): „Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt blieb übrig? die scheinbare vielleicht?… Aber nein! mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft!“ (GD Fabel; KSA 6, 81).

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bewirkt, wo doch prinzipiell ein Höhenflug (besagte „göttliche Denkweise“; NL 1885–1887, KSA 12, 9[41], 354) möglich wäre: Die „wahre Welt“ – eine Idee, die zu Nichts mehr nütz ist, nicht einmal mehr verpflichtend, – eine unnütz, eine überflüssig gewordene Idee, folglich eine widerlegte Idee: schaffen wir sie ab! (GD Fabel; KSA 6, 81)

Der extremste Nihilismus führt dann zu einer göttlichen Denkweise, wenn der Verlust der Wahrheit als weitaus reicherer Gewinn von etwas anderem betrachtet wird. Hier hat man es nicht nur mit dem gleichen Spiel zu tun wie beim Tode Gottes, der als schrecklicher Untergang jedes höheren Sinns empfunden werden kann oder, in entgegengesetzter Richtung, als eine ungeheure Befreiung zur menschlichen bzw. übermenschlichen Autonomie. Es ist sogar derselbe ambivalente Vorgang, nur dass diesmal die Perspektive als solche in den Fokus rückt. Wie erinnerlich spricht Nietzsche in Aphorismus Nr. 343 der Fröhlichen Wissenschaft (Was es mit unserer Heiterkeit auf sich hat) von einem frei gewordenen Horizont, von einem Meer, das dem Abenteurer der Erkenntnis nun, nach dem Tod Gottes, zu Füßen liege – ein Meer, so offen wie niemals zuvor. Jetzt entpuppt sich dieses offene Meer als das unendliche Feld möglicher Perspektiven auf die Welt und das Leben. Aber ich denke, wir sind heute zum Mindesten ferne von der lächerlichen Unbescheidenheit, von unsrer Ecke aus zu dekretiren, dass man nur von dieser Ecke aus Perspektiven haben dü r fe . Die Welt ist uns vielmehr noch einmal „unendlich“ geworden: insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, dass sie unendliche Interpretationen in sich schliesst . (FW 374; KSA 3, 627)

Die scheinbare, nach dem Tode Gottes bzw. nach dem Untergang der wahren Welt, allein übrig gebliebene Welt ist also eine Welt unendlicher Perspektiven. Sie ist nicht scheinbar im Gegensatz zu einem wahren Sein, sondern sie erscheint in zahllosen Perspektiven, von denen die menschliche nur eine ist. Das Entscheidende ist indes, dass jeder Mensch wiederum verschiedene Perspektiven auf die Welt einnehmen kann. Zwar unterliegt er als Mensch bestimmten transzendentalen Bedingungen des Erkennens, darin ist sich Nietzsche mit Kant einig,⁴⁷⁴ aber auf der Basis dieser episte-

474 Bei Kant heißt es zum Beispiel: „Was es für eine Bewandtnis mit den Gegenständen an sich und abgesondert von aller dieser Rezeptivität unserer Sinnlichkeit haben möge, bleibt uns gänzlich unbekannt. Wir kennen nichts, als unsere Art, sie wahrzunehmen, die uns eigentümlich ist, die auch nicht notwendig jedem Wesen, obzwar jedem Menschen, zukommen muß“ (KrV, B 59). Und Nietzsche schreibt: „Wie weit der perspektivische Charakter des Daseins reicht oder gar ob es irgend einen andren Charakter noch hat, ob nicht ein Dasein ohne Auslegung, ohne ‚Sinn‘ eben zum ‚Unsinn‘ wird, ob, andrerseits, nicht alles Dasein essentiell ein au s l e ge n d e s Dasein ist – das kann, wie billig, auch durch die fleissigste und peinlich-gewissenhafteste Analysis und Selbstprüfung des Intellekts nicht ausgemacht werden: da der menschliche Intellekt bei dieser Analysis nicht umhin kann, sich selbst unter seinen perspektivischen Formen zu sehn und n u r in ihnen zu sehn. Wir kön-

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mologischen Bestimmtheit ist er frei, die Welt verschiedentlich zu interpretieren. Er selbst vermag einen Sinn in die Dinge hineinzulegen. Die als Schöpfung des christlichen Gottes interpretierte Welt ist eine Perspektive, die für sich aber eine absolute Wahrheit reklamiert. Sie erhebt den Anspruch, die einzig wahre Perspektive zu sein, und bezichtigt derart alle anderen Perspektiven der Falschheit. Wohl hat sie der Welt einen Sinn verliehen und dem Menschen einen Standpunkt gegeben. Indessen hat sie zugleich den menschlichen Willen an die Kette gelegt, ihm seine Freiheit geraubt, indem sie ihm vermittels der Moral mit der Distinktion von wahr und unwahr im Sinne von gut und böse verboten hat, die Welt nach eigenem Gusto, d. h. irgendwie anders auszulegen. Der extremste Nihilismus besagt nun, dass dem Menschen in Wirklichkeit gar nichts anderes übrig bleibt, als die Welt zu interpretieren, weil sie wie ein rätselhafter literarischer Text ist, der sich niemals endgültig aufschlüsseln lässt. Und genau wie bei einem solchen Text gibt es zwar nicht die Interpretation – sehr wohl gibt es aber gute und schlechte Interpretationen. Eine gute Interpretation weiß einen Sinn in dem Text zu finden bzw. in ihn hineinzulesen. So gesehen wäre die christliche Interpretation eine gute Deutung des Textes. Allein Deutungen können sich überleben; auch sie sind im Grunde nur Treibgut im Fluss des Werdens. Es gebricht der christlichen Interpretation der Welt  – wie jeder Interpretation, die sich für absolut wahr hält (oder an die absolute Wahrheit glaubt wie der Sokratismus) – daran, dass sie starr ist und diese Starrheit der flüssigen Welt oktroyieren will. Der Sinn, den die christliche (wie jede sich für absolut wahr haltende) Interpretation der Welt einstiften resp. aufzwängen will, richtet sich auf diese Weise gegen das Leben. In diesem Licht betrachtet ist die christliche Interpretation schlecht.⁴⁷⁵ Obschon es die eine Wahrheit nicht gibt, sind die verschiedenen Perspektiven doch nicht gleichrangig, weil es sehr wohl noch einen Maßstab gibt, der über die Qualität einer Interpretation entscheidet, nämlich das Leben oder auch der Nihilismus. Das soll besagen: Eine Deutung der Welt ist nur dann wirklich gut, wenn sie dem Leben nützt, d. h. wenn sie zu seiner Steigerung beiträgt; und sie ist dann schlecht, wenn sie auf die Straße der Dekadenz führt, d. h. nihilistisch ist. Für die Perspektive des Perspektivismus, die, indem sie mit allen absoluten Wahrheiten aufgeräumt hat, für sich selber weder beanspruchen kann, wahr zu sein noch überhaupt wahr sein will, bedeutet dies, dass sie eine außer-

nen nicht um unsre Ecke sehn: es ist eine hoffnungslose Neugierde, wissen zu wollen, was es noch für andre Arten Intellekt und Perspektive geben kö n n te: zum Beispiel, ob irgend welche Wesen die Zeit zurück oder abwechselnd vorwärts und rückwärts empfinden können (womit eine andre Richtung des Lebens und ein andrer Begriff von Ursache und Wirkung gegeben wäre)“ (FW 374; KSA 3, 626f.). Auch Nietzsches Hinweis auf die Nutzlosigkeit unserer möglichen Überlegung, ob nicht irgendein anderes Wesen die Zeit in anderer Richtung empfinden könnte, beweist die Nähe zu Kant; schließlich betont dieser in der Transzendentalen Ästhetik der Kritik der reinen Vernunft, das dem Menschen apriorisch vorgegebene zeitliche Nacheinander unserer Empfindungen (wie auch das räumliche Nebeneinander). 475 „Die moralische Welt-ausdeutung endet in Weltverneinung (Kritik des Christenthums)“ (NL 1885– 1887, KSA 12, 2[117], 120).

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ordentlich gute Perspektive ist.⁴⁷⁶ Denn sie, d. h. ein Leben unter Verzicht auf die Wahrheit, fordert und fördert, wie der extremste Nihilist richtig erkannt hat, ein ganz erhebliches „Maaß der Kraft“ (NL 1885–1887, KSA 12, 9[41], 354). Wer die Perspektive des Perspektivismus einnimmt, verrät also schon eine außergewöhnliche Stärke. Damit ist indes eine generelle Schwierigkeit berührt, die das Hineinlegen eines am besten das Wachstum des Lebens befördernden Sinnes betrifft. Denn wenn jede Auslegung der Welt schon ein Ausdruck entweder der Stärke oder der Dekadenz ist, so wird man sich fragen dürfen, wie der bereits dekadente Mensch überhaupt zu einer antinihilistischen Interpretation der Welt und des Daseins kommen kann. Ins große Ganze übertragen steht man damit vor dem Problem, wie aus einer dekadenten eine gesunde Kultur werden kann: „Unendliche Ausdeutbarkeit der Welt: jede Ausdeutung ein Symptom des Wachsthums oder des Untergehens“ (NL 1885–1887, KSA 12, 2[117], 120). Das sinnstiftende Interpretieren der Welt ist für Nietzsche ein Willensakt. Worauf am Ende alles ankommt, ist jedoch nicht die bloße Interpretationsaktion. Vielmehr ist es die höhere, über das Hineinlegen eines eigenen Sinns in die Welt noch hinausgehende Aktion: die Umformung der Welt durch die Tat: „Die noch höhere Stufe ist ein Z i e ls e t z en und daraufhin das Thatsächliche einformen, also die Aus deutung der T h at und nicht bloß die begriffliche Umdichtung“ (NL 1885–1887, KSA 12, 9[48], 359).⁴⁷⁷ An diesem Punkt scheiden sich also nicht allein die Geister, sondern vorzüglich die Akteure. Es wird deutlich, dass der Nihilismus mehr ist als nur (fürwahr) graue Theorie. Er hat vielmehr eine theoretische und eine praktische Seite. Letztgenannte fängt Nietzsche mit seiner Unterscheidung zwischen passivem und aktivem Nihilismus ein, welche Nihilismen beide praktischer Natur sind, wenn anders es sich um nihilistische Verhaltensweisen handelt. Bevor ich mich aber der nihilistischen Praxis zuwende, seien noch einige abschließende Worte zum extremsten Nihilismus gesagt.

476 Gedanken über die Besonderheit der Perspektive des Perspektivismus hat sich Gerhardt 1989 gemacht. Gerhardt beschäftigt sich hier mit der „Aporie“ des Perspektivismus, die er darin erkennt, dass „man mit der Behauptung: ‚Alles ist perspektivisch!‘ notwendig außerhalb jeder Perspektive“ (Gerhardt 1989, 265) steht. Nietzsches These bzw. seine „metaphysische Aussage“, dass es nur ein perspektivisches Sehen und Erkennen gebe, sei aber gerechtfertigt, „wenn wir auf das Verfahren achten, das diese These legitimiert. (…) Soweit wir das erkennen, was wir ‚Leben‘ nennen, können wir nicht umhin, das, was wir als eine Grundbedingung des Lebens ansehen, als ‚perspektivisch‘ zu bezeichnen. Jede weitere Behauptung passt nicht zu den von uns erfahrenen Lebensbedingungen und ist daher im Zeichen des Perspektivismus zu kritisieren. Die Perspektive des Perspektivismus ist damit die einer kritischen Metaphysik, die es für keine geringe Aufgabe hält, unerweisliche Erkenntnisansprüche abzuwehren. (…) Die These des Perspektivismus verträgt sich daher gut mit Nietzsches Skeptizismus“ (Gerhardt 1989, 271). 477 Diese Bemerkung erinnert sehr an Karl Marx’ vielbemühte elfte Feuerbachthese: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern“ (Marx 1969[1845], 7). Allerdings besteht doch ein gewaltiger Unterschied zwischen den Vorstellungen der beiden Denker, wie diese Veränderung konkret aussehen soll.

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Der extremste Nihilismus kann infolge seines Abgesangs auf die Wahrheit sowohl in einen verzweifelten Nihilismus der Halt- und Bodenlosigkeit als auch in den vollkommenen Nihilismus führen. Der extremste Nihilist hat etwas für die Überwindung des Nihilismus Grundlegendes verstanden; und zwar „daß aller ‚Sinn‘ alle ‚Bedeutung‘ immer nur in Perspektiven entsteht“ (Gerhardt 1989, 263f.). Dergestalt ist ihm auch aufgegangen, dass Werte keine absolute Gültigkeit haben, sondern gesetzt werden und der Wert eines Dinges nichts über das Ding selbst, sondern etwas über den Wertsetzenden verrät: seine Stärke nämlich (vgl. NL 1885–1887, KSA  12, 9[35], 351f.). Im extremsten Nihilismus ist der Wille zur Macht sehr nahe daran, sich selbst als Wille zur Macht durchsichtig zu werden. Damit ist allerdings noch lange nicht ausgemacht, dass der extremste Nihilist auch wirklich dazu in der Lage ist, mit seinen Einsichten und seinen Einsichten gemäß zu leben. Es ist nicht gesagt, dass er es dauerhaft schafft, seine Existenz ohne eine höhere Wahrheit und damit ohne einen höheren Sinn, d. h. ganz aus sich selbst heraus, in der Autonomie des radikalen Selbststandes zu führen. Wie Kierkegaard ausdrücklich betont, verhält sich ein Mensch, der keine Macht über sich kennt, „ständig eigentlich bloß experimentierend zu sich selbst“ und „[e]s gibt in der ganzen Dialektik, innerhalb deren es[der Mensch bzw. das Selbst – E.B.] handelt, nichts Festes“ (Kierkegaard 1985[1849], 68f.). Das bedeutet: Der gelebte Perspektivismus läuft auf ein Leben in Freiheit, jedoch einer gewissermaßen nur schwer erträglichen Freiheit hinaus, weil ein solches Leben gänzlich ohne Bestimmtheit auskommen muss. Diese Freiheit hat keinen festen Grund, von dem aus sie sich abstoßen, keine Bestimmtheit, vor deren Hintergrund sie sich entfalten kann. Sie ist gleichsam einsam. Sie ist haltlos. Das Leben im Zeichen der einsamen, haltlosen Freiheit nimmt sich aus, wie ein unausgesetztes Experiment, dessen Sinn sich weder, wie bei herkömmlichen Experimenten üblich, in einem Ergebnis erfüllt, noch durch ein solches entschlüsselt werden könnte. Soll das Experiment dennoch sinnvoll sein, muss es selber sein Sinn sein. Es muss um seiner selbst willen gewollt und unternommen werden. Damit der Perspektivismus praktisch gelebt werden kann, bedarf es letztlich eben doch eines Standpunktes. Dieser Standpunkt muss aber bewusst gesetzt und eingenommen werden. Der Hintergrund dieses Setzens ist, wie Friedrich Kaulbach (seines Zeichens Vertreter eines philosophischen Perspektivismus) geltend gemacht hat, die „Lebens- und Willensverfassung“ (Kaulbach 1987, 354) des jeweiligen setzenden Subjekts  – mithin sein Interesse an der eigenen Existenz. Einem solchen Standpunkt kommt dann zwar keine „Objektwahrheit“ mehr zu, sehr wohl aber eine „Sinnwahrheit“, womit Kaulbach eine „Wahrheit je für mich“ meint (Kaulbach 1990, IX).⁴⁷⁸ Insofern der extremste Nihilismus keine absolute Wahrheit bzw. keine Objektwahrheit mehr zulässt, kommt alles auf die jeweilige Sinnwahrheit an. Es ist denkbar, dass sie die Lücke, welche Gott und die Wahrheit hinterlassen haben, ausfüllen kann; 478 Vgl. zur Unterscheidung zwischen einer „Objekt“- und einer „Sinnwahrheit“ Kaulbach 1990, vor allem 298–306.

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sie selbst und die Leidenschaft der Innerlichkeit, mit der sie vertreten wird. Gelingt es einem Subjekt die (jetzt gottlose) Welt in einer Perspektive zu betrachten, in deren Licht sie sinnhaft erscheint, dann wird diese Perspektive und mit ihr die entsprechende Welt für dieses Subjekt wahr.⁴⁷⁹ Auf dem Standpunkt einer solchen Wahrheit lässt es sich nun leben. Nichtsdestotrotz ist damit nicht ausgeschlossen, dass das Subjekt nicht bald schon wieder eine neue Perspektive wird suchen müssen, die es einzunehmen bereit ist. Denn es kann sein, dass gewisse Umstände dazu geführt haben, dass die erprobte „sinnwahre“ Perspektive ihre sinnstiftende Kraft verloren hat. Dann ist sie nicht mehr wahr für das Subjekt. Leben im Zeichen des Perspektivismus heißt daher, Ausschau halten auf dem Meer der Unendlichkeit, auf dem es allerdings und zum Glück allerhand zu sehen gibt – gesetzt natürlich, man will auch etwas sehen; denn unter den namenlosen Perspektiven ist auch diejenige zu finden, die auf dem Meer der Unendlichkeit nichts als die unendliche Leere erblickt. Wenn der extremste Nihilismus in einen sehen wollenden Perspektivismus führt, könnte er tatsächlich eine göttliche Denkweise sein, die den Nihilismus hinter sich gelassen hätte. Aber auch hier stößt man wieder auf eine altbekannte Unwegsamkeit. Basiert nämlich jede Sinnwahrheit tatsächlich auf einer entsprechenden Willensverfassung, stellt sich für die Überwindung des Nihilismus dasselbe Problem, das ich weiter oben bereits angeführt habe: Wenn die jeweilige Willensverfassung dekadent ist, wie sollte der Wille dann einen Standpunkt setzen können, von dem aus er den Nihilismus hinter sich lassen könnte. – Oder kann vielleicht das Wollen gelernt werden? (D): Ich komme jetzt zu den praktischen Formen des Nihilismus, dem aktiven und dem passiven Nihilismus. Hierbei handelt es sich, wie angedeutet, um nihilistische Verhaltensweisen, d. h. um die praktische Äußerung einer nihilistischen Einstellung. Diese nihilistische Einstellung ist die Folge der irgendwie wahrgenommenen Entwertung der höchsten Werte; sei es, dass dieser Auflösungsprozess nur gespürt, sei es, dass er sogar durchschaut wurde, so dass sich besagte nihilistische Einstellung als eine handfeste nihilistische Theorie darstellt. Um es auf den Punkt zu bringen: Der aktive und passive Nihilismus sind Reaktionen auf den mal mehr und mal weniger ausdrücklich erfahrenen Sinnverlust. Es wäre ein Irrtum zu meinen, es gäbe den aktiven oder den passiven Nihilismus. Es gibt sie schon alleine deswegen nicht, weil zu jedem Nihilismustypen – sei es der radikale, der extremste oder welcher auch immer denkbare Nihilismus – eine entsprechende Praxis gehört; schließlich sind auch Nihilisten Menschen mit einem

479 „Einer Perspektive wird ‚Wahrheit‘ für das Subjekt zugesprochen werden, wenn sie es vermag, ihm eine Welt zu verschaffen, in der er eine dem Charakter seiner Stellung zum Sein und seiner Sinnerwartung gemäße Sinngebung erkennen kann“ (Kaulbach 1990, VIII).

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eigenen Leben, das es zu vollziehen gilt.⁴⁸⁰ So kann „[d]er Nihilismus jeder Couleur (…) bei Nietzsche aktiv oder passiv sein“ (Ebbighausen 2010, 76), hinzugerechnet die Individualität des jeweiligen Vertreters eines bestimmten Nihilismustypus. Die möglichen Spielarten des aktiven und passiven Nihilismus sind also mannigfaltig. Ungeachtet dieser Pluralität ist für den aktiven Nihilismus eben seine Aktivität und für den passiven Nihilismus seine Passivität kennzeichnend. Um über eine bloß tautologische Bestimmung hinauszukommen: Die Aktivität des aktiven Nihilismus lässt sich genauer als eine Art Überspanntheit fassen, eine Form von angriffslustiger Wachheit, während umgekehrt die Passivität des passiven Nihilismus näher als eine Art Abgespanntheit, eine Form von resignativer Müdigkeit, bestimmt werden kann. Nietzsches Rede von einer „Kraft des Geistes“ (NL 1885–1887, KSA 12, 9[35], 350) auf der Seite des aktiven und einem „Rückgang der M acht des Geis tes “ (NL 1885–1887, KSA 12, 9[35], 351) auf der des passiven Nihilismus, trifft den Kern der Sache meiner Meinung nach nicht, weil sie den Eindruck erweckt, aktive Nihilisten seien geistig reger als passive Nihilisten. Dieser Eindruck erweist sich unterdessen bei genauerem Hinsehen als Trugschluss. Richtiger wäre es wohl von der Willensstärke des aktiven und der Willensschwäche des passiven Nihilisten zu sprechen. Tatsächlich liegt die Kraft des Geistes in der Regel eher in der Ruhe als in der Überspanntheit und es ist für einen passiven Nihilisten durchaus typisch, dass er sich vor der Hektik der Welt hinter den Türen der Kontemplation verschanzt. Der passive Nihilist, der den Zustand der Welt als nicht tragbar empfindet, wählt den Rückzug ins Innere, richtet sich weltabgewandt hinter den schützenden Mauern seiner inneren Burg ein. Er ist der Welt müde.⁴⁸¹ Der aktive Nihilist, der im sich auflösenden Hier und Jetzt ebenfalls keine Ruhe mehr findet, ergreift dagegen die Flucht nach vorn. Er wendet sich aktiv gegen die brüchigen und für ihn wertlos gewordenen Werte und greift auf diese Weise selber in den Auflösungsprozess ein, indem er ihn beschleunigt.⁴⁸² Es ist ihm, wie dem Löwen aus Also sprach Zarathustra (Von den drei Verwandlungen), darum zu tun, seinen Willen (sein „Ich-will“) gegen die alten Werte (das „Du-sollst“) durchzusetzen, wobei es ihm 480 Im Geiste Nietzsches muss dieser Feststellung eine Frage an die Seite gestellt werden, und zwar: Welcher Mensch ist eigentlich kein Nihilist? 481 Vgl. zu den „Welt-Müden“ Z III Tafeln 16,17,18; KSA 4, 258ff. 482 Nietzsches Werk ist in großen Teilen der Beschleunigungsversuch eines, wie Nietzsche meint, ohnehin unabwendbaren Prozesses, freilich mit dem Ziel – und an diesem Punkt geht es über den aktiven Nihilismus hinaus oder versucht es wenigstens –, am Ende etwas Neues aufzubauen. Nietzsches Schriften sind also verwoben in eine Dialektik aus Zerstörung und Neuaufbau, aus einer gewissen Grausamkeit und Liebe, welche Spannung er seine philosophisch-literarische Figur Zarathustra austragen lässt. Nicht ohne Schmerz ruft dieser einmal aus: „Oh meine Brüder, bin ich denn grausam? Aber ich sage: was fällt, das soll man auch noch stossen! Das Alles von Heute – das fällt, das verfällt: wer wollte es erhalten! Aber ich – ich w ill es noch stossen“ (Z III Tafeln 20; KSA 4, 261f.)! Zum Verständnis von Nietzsches Philosophie als Beschleunigungsversuch des unabwendbaren nihilistischen Auflösungsprozesses vgl. Dries 2008, der Nietzsches „questionable and inconsistent radicalization of becoming“ (Dries 2008, 117) in ihrer Funktion als „Gegenkraft“ (vgl. Dries 2008, 116ff.) gegen den Glauben an das Sein, den es in Nietzsches Augen unbedingt zu stürzen gilt, begründet sieht.

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zunächst einmal nur um diesen Rebellionsakt geht, nicht aber auch schon um das Schaffen neuer Werte. Der passive Nihilist versucht unterdessen seinen Willen bloß zu erhalten; statt dass er über den Weg der Konfrontation den Triumph seines Willens sucht, vermeidet er lieber die mögliche Niederlage und weicht dem Kampf aus, auch wenn er nicht mehr an die normative Kraft der alten Werte glaubt. Der aktive Nihilist erreicht die Höhe seiner Kraft im puren Dagegen. Seine Stärke mag als destruktive Kraft gewaltig sein – indessen handelt es sich um eine bloß relative Kraft, weil sie als negative Kraft an das Positive gebunden bleibt, welches sie zu zerstören sucht: Sein Maximum von relativer Kraft erreicht er als gewaltthätige Kraft der Zerstörung: als a k t ive r Nihilis m . Sein Gegensatz wäre der müde Nihilism, der nicht mehr angre i ft : seine berühmteste Form der Buddhismus: als passivischer Nihilism. (NL 1885–1887, KSA 12, 9[35], 351)

So ist der aktive Nihilismus, auch wenn er wie ein reinigendes Gewitter wirken kann, das, indem es das Alte wegschwemmt, dem Neuen den Boden bereitet,⁴⁸³ immer noch ein Stück weit von der Überwindung des Nihilismus entfernt. Tatsächlich verdankt sich seine Wucht, da, wo der Nihilismus sich als Zerstörung äußert, einem guten Teil dem Ressentiment, das er gegenüber den alten Werten angesammelt hat. Seine Aktion ist im Grunde eine Reaktion. Um jedoch den Nihilismus hinter sich zu lassen, ist nicht nur eine relative Willensstärke, sondern zumal ein freier Wille verlangt, wobei diese Freiheit nicht nur die Befreiung von den alten Werten meint, sondern unbedingt auch die Freiheit vom Ressentiment. Der aktive Nihilist ist wie Goethes Mephistopheles ein Geist, der stets verneint.⁴⁸⁴ Für den Überwinder des Nihilismus (den Antinihilisten) zählt jedoch, worauf ich später noch in aller Ausführlichkeit eingehen werde, einzig die dionysische Bejahung des Lebens, d. h. die allumfassende Affirmation, die sogar die alten Werte als Teil des ewigen Werdens und somit des Vergehens einbezieht: The path of the Dionysian thus has much in common with active nihilism, but active nihilism is ultimately a manifestation not of joy and superbundance but of negation and despair. The Dionysian or tragic man can affirm the active nihilist but the active nihilist cannot affirm the Dionysian stance toward life. Indeed, he cannot even affirm himself. His action is always reaction, and his reaction is always rejection and negation. While the active nihilist clears the ground in an act of convulsive self-destruction, he creates no future. The Dionysian man may be a destroyer but he is an innocent destroyer, untouched by the spirit of revenge. (Gillespie 1995, 180f.)

(E): Zum Abschluss meiner Typologie des Nihilismus bei Nietzsche sei noch auf einen letzten nihilistischen Gedanken verwiesen, der zum absoluten Kernbestand des Nihi483 Nietzsche erhofft sich vom aktiven Nihilismus (in Kombination mit der Lehre der Ewigen Wiederkunft), dass er zu einer Krise führe, die „z u ein er [ neuen – E.B.] R a ngo rd n u ng d e r K r ä fte , vom Gesichtspunkte der Gesundheit, den Anstoß giebt“ (NL 1885–1887, KSA 12, 5[71], 217). 484 Die Verneinung des aktiven Nihilisten ist freilich eine doppelte: eine des Urteils und sodann eine der Tat. Für ihn gilt: „Der Vernichtsung durch das Urtheil sekundirt die Ver-Nichtung durch die Hand“ (NL 1887–1889, KSA 13, 11[123], 60).

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lismus gehört. Dieser Gedanke befeuert namentlich den passiven Nihilismus derart, dass im passiven Nihilisten gerade kein Feuer mehr brennt, dass also die Flamme seiner Leidenschaft für das Leben erlischt und sich an ihrer Stelle der Wille zum Nichts breit macht. Dieser Gedanke besagt, dass alle unsere Mühen im Leben letztlich vergeblich sind. Es ist der Gedanke des großen Umsonst, welcher hauptverantwortlich dafür zeichnet, dass sich der Wille zum Nichts in der Gestalt einer großen Müdigkeit des Lebens bemächtigen kann. Wer vom Gedanken des großen Umsonst befallen ist, den zieht es hinab, dem wird alles schwer, auch er selbst, so dass er sich zu gar nichts mehr aufraffen mag.⁴⁸⁵ Es befällt ihn die Schwermut, die Romano Guardini so trefflich zu beschreiben weiß und zu Recht mit Nietzsches diabolischer Figur, dem Geist der Schwere, in Verbindung bringt: Sein Name sagt Schwer-Mut. Schwere des Gemüts. Eine Last liegt auf dem Menschen, die ihn niederdrückt, daß er in sich zusammensinkt; daß die Spannung der Glieder und Organe nachläßt; daß Sinne, Triebe, Vorstellungen, Gedanken erlahmen; der Wille schlaff, Drang und Lust zu Werk und Kampf matt werden. Eine innere Fessel legt sich vom Gemüt her auf alles, was sonst frei entspringt, sich rührt und wirkt. Die Spannfrische des Entschlusses, die Kraft der klaren und scharfen Umreißung, der mutige Griff der Formung – das alles wird müde, gleichgültig. Der Mensch meistert das Leben nicht mehr. (…) Aus solchem Erleben heraus hat Nietzsche den Geist der Schwere als den Dämon schlechthin bezeichnet. (Guardini 2003, 24)

Der Gedanke des großen Umsonst gewinnt im Zuge des Untergangs der christlichen Moral-Hypothese als der Interpretation des Daseins eine gewaltige Kraft. Als Geschöpf Gottes konnte sich der Mensch als solcher als wert- und seine Existenz als sinnvoll betrachten. Mit dem Tode Gottes schlägt das Pendel jedoch komplett um, denn „extreme Positionen werden nicht durch ermäßigte abgelöst, sondern wiederum durch extreme, aber u mge ke h r te “. Die umgekehrte Position, die nun eingenommen wird, ist die des großen Umsonst. Es ist die Position der absoluten Sinnlosigkeit des Daseins: „Eine Interpretation gieng zu Grunde; weil sie aber als die Interpretation galt, erscheint es, als ob es gar keinen Sinn im Dasein gebe, als ob alles

485 Manchmal, in seltenen und in gewisser Hinsicht glücklichen Fällen, kann sich die Schwermut jedoch auch künstlerisch entladen, so dass es der Schwermütige immerhin noch an den Schreibtisch schafft, um dort seiner Schwermut Ausdruck zu verleihen. Kierkegaards Diapsalmata sind das Ergebnis eines solchen seltenen und glücklichen Falles. Sie lassen sich gleichsam als eine Einführung in die Schwermut lesen. Einige Beispiele: „Ich mag schlechterdings nichts. Ich mag nicht reiten, das ist eine zu starke Bewegung; ich mag nicht gehen, das ist zu anstrengend; ich mag mich nicht hinlegen, denn entweder müßte ich liegen bleiben, und das mag ich nicht, oder ich müßte wieder aufstehn, und das mag ich auch nicht. Summa Summarum: ich mag schlechterdings nichts“ (Kierkegaard 1956[1843], 20). „Wenn ich morgens aufstehe, gehe ich gleich wieder ins Bett. Am wohlsten befinde ich mich des Abends, in dem Augenblick, da ich das Licht lösche, die Decke über den Kopf ziehe. Noch einmal richte ich mich auf, sehe mich mit unbeschreiblicher Zufriedenheit um in der Kammer, und alsdann gutenacht, hinunter unter die Decke“ (Kierkegaard 1956[1843], 27). „Meine Zeit teile ich folgendermaßen ein: die halbe Zeit schlaf ich, die andre halbe träum ich. Wenn ich schlafe, träume ich nie; es wäre Sünde, denn schlafen ist die höchste Genialität“ (Kierkegaard 1956[1843], 29).

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um s o n s t sei“ (NL 1885–1887, KSA 12, 5[71], 212).⁴⁸⁶ Damit ist aber das äußerste Ende des Nihilismus noch nicht erreicht. Es gibt einen Nihilismus bzw. einen Gedanken, der  – ungeachtet aller begrifflichen Zwänge  – noch extremer ist als der extremste Nihilismus, insofern er das Umsonst über die Gegenwart hinaus auf die Zukunft hin überschreitet. Dieser Nihilismus behauptet, dass es nicht nur jetzt, in der gegenwärtigen Situation nach dem Tode Gottes, so aussieht, als wäre alles sinnlos, sondern dass auch in Zukunft alles sinnlos sein wird. Ein Sinn kann demnach generell nicht mehr gefunden werden. Der Nihilist des gegenwärtigen und zukünftigen Umsonst, wie ich ihn nennen will, verneint die Möglichkeit einer sinnhaften Perspektive auf die Welt. Für ihn gibt es keine tragende Sinnwahrheit. Er schließt für sich grundsätzlich aus, eine solche einnehmen zu können. Was aber veranlasst ihn zu dieser äußersten nihilistischen Position? Es ist ein tiefer Argwohn und ein grundlegendes Misstrauen gegenüber jedwedem Sinn. Jeder Sinn wird von ihm sogleich mit einem nicht auszuräumenden Verdacht belegt, wonach der Sinn selber ein Komplize des Nihilismus ist. Das Entdecken oder Setzen eines Sinns erscheint dem Nihilisten des gegenwärtigen und zukünftigen Umsonst gerade kein sinnvoller, weil sinnstiftender Akt zu sein. Im Gegenteil hält er ihn für einen nihilistischen Akt, der das Leiden am Dasein bloß verlängert, statt es zu mildern oder aufzuheben. Dieser besondere Typ Nihilist betrachtet jeden Sinn als seinen Feind; als einen besonders perfiden Feind, weil dieser sich als Freund ausgibt. Bei seinem falschen Spiel kann dieser falsche Freund auf eine bedeutende Schwäche des Menschen rechnen: auf dessen Sinnbedürftigkeit. Dies gilt sogar für den das Spiel durchschauenden Nihilisten des gegenwärtigen und zukünftigen Umsonst. Auch dieser geht dem falschen Freund immer wieder auf den Leim, weil selbst der Generalverdacht gegen jeden Sinn ihn doch nicht von seinem Verlangen nach einem Sinn dispensiert. Ein solcher Nihilist muss sich vorkommen wie ein Gefangener, der jeden Tag Nachricht von seiner baldigen Befreiung erhält, wobei er im Grunde weiß, dass diese Nachrichten statt von einem heimlichen Verbündeten vom Gefängniswärter stammen, der dadurch nur die Leiden des Gefangenen vermehren will. Denn mit jedem Tag, an dem die Rettung ausbleibt, steigt die Frustration des Gefangenen, der wider besseres Wissen einfach nicht aufhören kann zu hoffen: Das Mißtrauen gegen unsere früheren Werthschätzungen steigert sich bis zur Frage „sind nicht alle „Werthe“ Lockmittel, mit denen die Komödie sich in die Länge zieht, aber durchaus nicht einer Lösung näher kommt?“ Die Dauer, mit einem „Umsonst“, ohne Ziel und Zweck, ist der lähmen d ste Gedanke, namentlich noch wenn man begreift, daß man gefoppt wird und doch ohne Macht , sich nicht foppen zu lassen. (NL 1885–1887, KSA 12, 5[71], 213)⁴⁸⁷

486 Stegmaier 1999, 300, kommentiert diesen Passus treffend, wenn er schreibt: „Das eingefleischte Sinnbedürfnis wird zu einer Art Phantomschmerz, von dem man weiß, daß es ein Phantomschmerz ist, und der dennoch schmerzt.“ 487 Der Vergleich mit dem Gefängniswärter beansprucht keineswegs für sich, glatt aufzugehen, sondern will nur die verzweifelte Situation des Nihilisten veranschaulichen. Er geht aber deswegen nicht ganz auf, weil er durch die Rede vom Gefängniswärter den Eindruck erweckt, als gäbe es noch eine

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Wie lässt sich aber einem solchen Nihilismus des Generalverdachts begegnen? Nietzsche verfällt auf ein lebensgefährliches Antidotum: den Gedanken von der ewigen Wiederkehr aller Dinge. Vermittels dieses Gedankens verlängert Nietzsche den Nihilismus in die Ewigkeit. Für den oben erwähnten Gefangenen würde das bedeuten, dass auch mit dem Tod nicht das Ende seines Leidens gekommen wäre, denn er müsste seine Gefangenschaft wieder und wieder durchleben: Denken wir diesen Gedanken in seiner furchtbarsten Form: das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend, ohne ein Finale ins Nichts: „die ewige Wiederkehr“. Das ist die extremste Form des Nihilismus: das Nichts (das „Sinnlose“) ewig! (NL 1885– 1887, KSA 12, 5[71], 213)⁴⁸⁸

Wie ausgerechnet dieser Gedanke, mithin die Überbietung des Nihilismus des gegenwärtigen und künftigen Umsonst, vom Nihilismus heilen soll, werde ich noch zeigen.⁴⁸⁹ Einstweilen ist es jedoch an der Zeit, die Frage nach der Wurzel des Nihilismus zu stellen. Gesucht wird jetzt also nach demjenigen X, das allen Formen von Nihilismus zu Grunde liegt.

Instanz über dem Gefangenen, die ihn gefangen hält. (Man könnte natürlich außerdem noch an einen dem Gefängniswärter übergeordneten Direktor denken, was aber alles noch unnötig komplizierter machen würde.) Tatsächlich ist es aber der Gefangene selbst, der sich als Sinnbedürftiger eigenhändig in Ketten legt. 488 Dass Nietzsche jetzt die ewige Wiederkunft (oder den Glauben an die ewige Wiederkunft) als die extremste Form des Nihilismus bezeichnet, während er an anderer Stelle bereits von einem extremsten Nihilismus gesprochen hat, der jedoch nichts mit der Wiederkunft zu tun hat, der Umstand also, dass Nietzsche die nämliche Bezeichnung für zwei verschiedene Nihilismen verwendet, muss den Interpreten frappieren. Der Grund für diese Unstimmigkeit liegt aber darin, dass Nietzsche eben keine ausgearbeitete Typologie des Nihilismus vorgelegt hat. Er hat sich, wie der Nachlass beweist, zwar über die Mannigfaltigkeit des Nihilismus den Kopf zerbrochen, jedoch ohne das Problem zu Ende denken zu können. Aus diesem Grund haben die Begriffe der Nihilismustypologie (unvollständiger, vollkommener, radikaler Nihilismus etc.) auch keinen Eingang in Nietzsches publizierte Schriften gefunden. 489 Vgl. Kapitel IX.2.

Kapitel VIII Selbsthaftigkeit als Grund des Nihilismus Die Beherrschung des Denkens, der ungeheuren Geschwindigkeit des Denkens, hebt den Menschen über alle anderen Lebewesen hinaus. Doch macht es ihn sich selbst und der Ungeheuerlichkeit der Welt gegenüber zum Fremden. (George Steiner: Warum Denken traurig macht)⁴⁹⁰ Mein Schicksal zwingt mich, über mein Leben nachzudenken, das ist so ziemlich das Übelste, was einem zustoßen kann. (Wilhelm Genazino: Das Glück in glücksfernen Zeiten)⁴⁹¹

Der Nihilismus ist, so schreibt Heidegger einmal, eine „geschichtliche Bewegung, auf die Nietzsche mit dem Wort ‚Gott ist tot‘ hinweist“ (Heidegger 1986[1940], 12). Diese Feststellung ist zweifelsohne richtig – sie ist allerdings nicht vollständig. Denn der Nihilismus ist mehr als bloß eine geschichtliche Bewegung oder ein sich auf das Abendland beschränkendes kulturelles Phänomen.⁴⁹² Er ist darüber hinaus etwas Grundlegenderes; er geht also über die bloß historisch-kulturelle Dimension hinaus, indem er darunter, d. h. ihr zugrunde liegt. Wer ihn allein im Hinblick auf seine historisch-kulturelle Dimension betrachtet, übersieht seine Basis. In solcher Perspektive übergeht man den Ursprung, bedenkt nicht die Quelle, sondern springt gleich mitten hinein in die Geschichte des Nihilismus. Wer dagegen tiefer gräbt, um die Wurzel des in Frage stehenden Phänomens freizulegen, wird erkennen, dass es nicht allein die Sache einer bestimmten Zeit und eines bestimmten Ortes ist. In Wahrheit geht der

490 Steiner 2008, 106. 491 Genazino 2007, 62. 492 So versteht z. B. Johan Goudsblom den Nihilismus als ein dezidiert westliches Phänomen, das sich aus der Herrschaft des unbedingten sokratischen Wahrheitsgebotes speise. Der sokratische „truth imperative“ (Goudsblom 1980, X et passim) habe in Kombination mit der Demokratisierung der westlichen Gesellschaft zu einer Art babylonischer Wahrheitsverwirrung geführt. Der demokratische Geist erlaube es jedermann, seine Wahrheit zu formulieren und auf den Markt zu werfen, wo sie zur Diskussion und letztlich auch zum Abschuss freigegeben sei. So komme es, dass unzählige und zudem häufig einander widersprechende Positionen auf dem Markt der Wahrheiten kursieren. Vor dem strengen Anspruch des sokratischen Wahrheitsimperativs könne jedoch keine von ihnen bestehen. Das moderne Individuum lerne auf diese Weise, dass alles wahr sein wolle, de facto aber nichts wahr sei; und doch müsse es eine Wahrheit wählen. Es verliere, indem es am generellen Glauben an die Wahrheit festhalte, den Glauben an die Wahrheiten, die sein Leben maßgeblich bestimmen, insofern zwischen ihnen gewählt werden müsse. Solcherart sei das moderne Individuum mit dem Nihilismus konfrontiert. – Tatsächlich knüpfen Goudsbloms Reflexionen zum Nihilismus an Nietzsche an. Allerdings handelt es sich bei seiner Engführung des Nihilismus auf ein Wahrheitsproblem um eine Verkürzung, die weder der Weite des Problemfeldes „Nihilismus“ generell noch dessen Behandlung bei Nietzsche im Speziellen gerecht wird. Goudsbloms Beschäftigung mit dem Nihilismus bei Nietzsche konzentriert sich entsprechend ausschließlich auf die Wahrheitsproblematik (vgl. Goudsblom 1980, 19–50).

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Nihilismus alle Menschen zu allen Orten und Zeiten an, weil er in jedem einzelnen Menschen selbst entspringt. Er betrifft den Menschen als solchen wesenhaft, indem er eine stets gegebene Möglichkeit des menschlichen Daseins ist. Dabei ist diese Möglichkeit überaus gefährlich für den Menschen, wenn anders sie dessen Sinn und Wert wie auch den der Welt als dem Ort der Existenz des menschlichen Individuums infrage stellt oder sogar bestreitet. Sie ist also, wie Stanley Rosen weiß, „a permanent danger to the human condition“ (Rosen 2000, 206). Auf eine vorläufige Formel gebracht handelt es sich beim Nihilismus um eine jederzeit und überall gegebene gefährliche Möglichkeit des Menschen.⁴⁹³ Ich werde im Folgenden versuchen, diese Formel zu begründen. Dabei stütze ich mich auf Nietzsches Bild des Menschen; auf seine Anthropologie, wenn man so will.

8.1 Nietzsches nihilistische Anthropologie Macht man sich daran, ein spezielles Thema bei Nietzsche systematisch in den Blick zu nehmen, so findet man sich, weil Nietzsche nun einmal kein klassisch-systematischer Denker ist, schon bald vor das Problem gestellt, dass man sich entsprechende Textabschnitte zunächst einmal „zusammensuchen“ muss; so auch bei der Anthropologie. Die im Weiteren behandelten Textabschnitte betrachten den Menschen im Hinblick auf folgende Momente: seine Stellung in der Welt bzw. zur Welt (A), seine Zeitlichkeit bzw. seine Endlichkeit als Individuum (B), seine Endlichkeit als Gattungswesen (bzw. seine Stellung im Kosmos) und als Erkenntnissubjekt (C), seine wesenhafte Selbsthaftigkeit (D) sowie seine ursprüngliche Bezogenheit auf das Nichts (VII.2). Soll Nietzsches Menschenbild erfasst werden, kommt man um diese Momente nicht herum. Dementsprechend dürfen die von mir ausgewählten Textabschnitte aus Die Geburt der Tragödie (A), Vom Nachtheil und Nutzen der Historie für das Leben (B), Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (C) und Also sprach Zarathustra (D)⁴⁹⁴ durchaus einen repräsentativen Anspruch anmelden. Damit wird freilich nicht behauptet, dass sich nicht anhand von anderen Textstellen ein ebenfalls repräsentatives nietzschesches Menschenbild zeichnen ließe (vorausgesetzt, sie nehmen ebenfalls besagte Momente in den Blick) oder dass nicht andere Momente für Nietzsches Anthropologie auch wichtig sein könnten,⁴⁹⁵ so dass sich womöglich ein vollständige493 Sie betrifft zuerst den einzelnen Menschen und dann möglicherweise eine ganze Kultur. Andererseits kann eine nihilistisch durchtränkte Kultur natürlich den Nihilismus des in ihr lebenden einzelnen Menschen befördern. Und dennoch: Zunächst ist der Nihilismus eine Möglichkeit des Individuums. 494 Nur einer dieser Texte, der Zarathustra, stammt wohlgemerkt aus der Zeit, in der Nietzsche bereits mit dem Begriff „Nihilismus“ operiert. Das zeigt einmal mehr, wie wichtig gerade die frühen Texte Nietzsches für ein möglichst vollständiges Verständnis des Nihilismus sind. 495 Richard Schacht 2009 stellt zum Beispiel die Wandelbarkeit bzw. Unfestgestelltheit des Menschen in den thematischen Mittelpunkt seiner Überlegungen, während er sich was das Textmaterial

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res Bild entwerfen ließe. Wenn aber, wie hier, die Frage darauf zielt, welche Momente den Menschen bis zu einem gewissen Grad zum Nihilismus disponieren, wenn es mit einem Wort um eine nihilistische Anthropologie geht, sind mit (A), (B), (C) und (D) die entscheidenden Momente genannt. (A): Ich habe die Geburt der Tragödie bereits eingehend behandelt. Auch die Stellung des Menschen zur Welt ist dabei berücksichtigt und als problematisch beschrieben worden. In diesem Kapitel will ich nun das ohnehin Problematische noch ein wenig problematischer machen. Zunächst sei aber in einer knappen Zusammenfassung ins Gedächtnis gerufen, was Nietzsche in seinem Tragödienbuch über das Sein des Menschen in der Welt festgehalten hat. Die Geburt der Tragödie stellt generell jedem innerweltlich Seienden eine betrübliche Diagnose: In seinem Wesenskern ist es ein Abbild des Urschmerzes des UrEinen, mithin jenes metaphysischen Grundes der Welt, der sich aus der Einheit in die Vielheit gleichsam ausgegossen hat, um seinen als Einheit unüberwindbaren Urwiderspruch endlich austragen zu können. Die Welt ist sonach im Grunde genommen nichts anderes als ein Teil und der Ort der Schmerztherapie für das Ur-Eine,⁴⁹⁶ wobei die Therapie in der Hauptsache darin besteht, den Schmerz des Einen durch das Leid der Vielen (der Individuationen) zu tilgen. Alles wird und vergeht; das Ur-Eine schleudert in unendlicher Verschwendungssucht die Individuationen nur so aus sich heraus und nimmt sie wieder in sich zurück und so weiter und so fort. Das eine stirbt um des anderen willen und auch dieses ist schon wieder dem Tod geweiht. Alles, was ist, ist an diese Mühle des Werdens geschmiedet und leidet darum,⁴⁹⁷ solange es ist. Kein Lebewesen leidet aber so sehr wie der Mensch, weil er seine heikle Stellung in der Welt reflexiv einholen kann. So leidet er nicht nur als physisch direkt vom zersetzenden Werdegeschehen betroffenes Wesen, sondern er leidet immer doppelt, indem ihm sein Leiden auch noch bewusst wird. Das Bewusstsein mag den Menschen auch noch betrifft vorzugsweise am späten Nietzsche, d. h. an Jenseits von Gut und Böse und an der Genealogie der Moral orientiert. Es steht außer Zweifel, dass die Unfestgestelltheit von elementarer Bedeutung für Nietzsches Menschenbild ist. Tatsächlich wird sie auch für meine anschließenden Überlegungen wichtig werden, und zwar wenn ich in (A) auf Günther Anders’ Kritik an Heideggers In-Sein eingehe; einer Kritik, die an Nietzsches Vorstellung vom Menschen als einem unfestgestellten Wesen anknüpft. Noch wichtiger als für Nietzsches nihilistische Anthropologie ist die Unfestgestelltheit allerdings für Nietzsches antinihilistische Anthropologie. Anders gesagt: Wenn es darum geht, den Nihilismus zu überwinden, rückt die Verwandlungsfähigkeit des Menschen in den Brennpunkt. Der Überwindung des Nihilismus widmet sich indessen erst das nächste Kapitel meiner Arbeit (vgl. Kapitel IX). 496 Ein Teil der Schmerztherapie ist die Welt, insoweit sie qua Schöpfung bereits zum Ausagieren des Urwiderspruchs im Ur-Einen gehört. Der Ort der Schmerztherapie ist sie, sofern sie die Möglichkeitsbedingung weiteren Ausagierens durch die Individuationen des Ur-Einen ist. 497 Leiden meint hier sowohl Passivität (dem Werden ausgesetzt sein) wie auch das Empfinden eines irgendwie gearteten Schmerzes. Freilich trifft nicht auf jedes Seiende zu, dass es in diesem zweifachen Sinn leidet. Ein Stein bspw. ist zwar dem Werden ausgesetzt, indessen leidet er (vermutlich) nicht in dem Sinne darunter, dass er Schmerz empfindet.

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so sehr gegenüber allem anderen Seienden auszeichnen  – es ist zugleich sein Verhängnis. Die Bewusstwerdung des Leidens geht nun Hand in Hand mit der Verwunderung über das Leid. Es scheint mindestens auf den ersten Blick kein tieferer Sinn hinter einem solchen maßgeblich durch die Agonie bestimmten Leben erkennbar.⁴⁹⁸ Nichtsdestotrotz findet sich der verwunderte Mensch in der Welt vor und grübelt also seiner Mission nach, wobei ihn stets der Verdacht beschleicht, dass es eine solche womöglich überhaupt nicht gibt. Sein Dasein in der Welt ist dem Menschen nicht selbstverständlich, sondern fragwürdig. Der Tod, das unumgängliche Schicksal jedes Lebewesens, bedroht das Leben des Menschen im Speziellen nicht nur als Ab- und endgültiger Wegbruch; nicht nur als tödliche, unüberbietbare Negation, indem er den Menschen vernichtet. Nein, der lange Arm des Todes greift schattenwerfend auch schon in das blühende Leben des Menschen hinein und sorgt dort für einen bitteren Geschmack. Denn „was das Leben vernichtet, stellt auch dessen Sinn in Frage; was das Sein zunichte macht, zerrüttet und verneint auch die Essenz dieses Seins“ (Jankélévitch 2005, 93). Nietzsche betont vor diesem Hintergrund die Absurdität des Daseins, die leicht einen regelrechten Daseinsekel im Menschen hervorrufen kann (vgl. GT 7; KSA 1, 57). Anders als etwa der leblose Stein ist der Mensch nicht einfach in der Welt; und im Unterschied zum schlicht seinen Instinkten folgenden Tier lebt er nicht einfach in der Welt. Vielmehr lebt er in einer gewissen Distanz zur Welt in der Welt. Das Herrliche am Rausch und damit an der antiken Tragödie besteht darin, dass er momentweise diese Distanz zur Welt und mit ihr die Fraglichkeit des Daseins und der Welt aufzuheben vermag. Weniger herrlich am Rausch ist jedoch seine flüchtige Natur, man könnte auch sagen: seine Dialektik. Denn auf den Rausch folgt die Ausnüchterung und ihr obligatorischer Begleiter, der Schmerz, wodurch der Daseinsekel erneut – und zwar verstärkt – ins individuelle Leben einkehrt. Diese von Nietzsche in der Geburt der Tragödie beschriebene Situation des Menschen in der Welt weist bemerkenswerte Gemeinsamkeiten mit Heideggers Existenzialanalyse des Daseins auf. Für Heidegger ist der Mensch, den er konsequent nur das „Dasein“ nennt,⁴⁹⁹ ein „geworfene[r] Entwurf“ (Heidegger 2006[1927], 223): Unge-

498 Hier entspringt freilich die Suche nach einem Sinn, die zwar häufig seltsame, mitunter aber auch besonders schöne Blüten treibt – Nietzsches Tragödienbuch ist eine solche schöne Blüte. Jankélévitch 2005, 93, sieht in der Initiierung der Sinnsuche immerhin noch einen mittelbaren Sinn des Todes: „Nur auf indirekte Weise und wie zufällig bekommt der Tod einen Sinn: indem er in die Mitte des Seins die Leere der Sinnlosigkeit eingräbt, zwingt er uns, für das Sein absolute Gründe zu suchen; die Unsterblichkeit, die in Ermangelung der Ewigkeit die letale Negation leugnen würde, dient uns dazu, die meontische Leere des Todes zu füllen, und bringt eine transzendentale Fülle in das Leben.“ Aller transzendentalen Fülle zum Trotz wird aber durch die spekulativen Sinnfiguren die Fragwürdigkeit des Daseins nicht aufgehoben. Selbst der Gottesgläubige sieht sich der ständigen Angefochtenheit durch das Nichts oder durch das Sinnlose (den Nihilismus) ausgesetzt. 499 Heidegger hebt durch diese Bezeichnung den besonderen Bezug des Menschen als jener „ontischen Gegenwart, die nach einer Beziehung des Verstehens zum Ontologischen, zum ‚Sein‘ selbst strebt“ (Steiner 1989, 136), hervor. Mit anderen Worten: Der Mensch ist jenes Seiende, dem sein Sein

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fragt in die Welt hineingeworfen (Faktizität), muss sich der Mensch nun selbst auf die Zukunft hin entwerfen (Existenzialität). Er ist also nicht einfach in der Welt vorhanden wie das Kleid im Schrank, sondern ist ein existierendes Wesen, das sich als solches stets zu seinem Sein verhalten muss.⁵⁰⁰ Ebenso geht es dem Menschen auch in Nietzsches Erstlingswerk; ebenso und noch schlimmer. Denn hier ist der Mensch sozusagen ein „abgestürzter Entwurf“, ist ein Vereinzelter, dem die Sehnsucht nach der ursprünglichen Einheit eingeschrieben ist und der es außerdem mit einer grausamen Werde-Welt zu tun hat, in der er sich immer schon vorfindet. Dieses sich Immer-schon-in-der-Welt-Vorfinden ist für Heidegger eine „grundsätzliche Seinsverfassung“ des Daseins, die er als „In-sein“ bezeichnet.⁵⁰¹ Der Mensch ist also, wie ja auch der Terminus „Dasein“ besagt, immer schon da – da ist er aber in der Welt. Soweit würde Nietzsche mit Heidegger durchaus mitgehen. Allerdings folgt aus dem da-Sein des Menschen noch lange nicht, dass er deswegen auch schon in ist; jedenfalls nicht, wenn man wie Heidegger „In-sein“ näher bestimmt als „Seinbei“, was wiederum so viel heißen soll wie „wohnen bei,… vertraut sein mit“ (Heidegger 2006[1927], 54).⁵⁰² Gegen eine solche Vertrautheit mit der Welt macht der ehemalige Heidegger Schüler Günther Anders mit Rekurs auf Nietzsches Bestimmung des Menschen als „n o ch nicht f e s tge s te l lte s T h i e r “ (JGB 62; KSA  5, 81) eine wesensgemäße Weltfremdheit des Menschen geltend. Der über sich und die Welt und das Verhältnis zwischen sich und der Welt nachdenkende Mensch sei eben nicht wie selbstverständlich in der Welt, sondern viel eher von ihr abgeschnitten (vgl. Dries 2009, 25) und generell nicht auf sie bzw. auf keine bestimmte Welt zugeschnitten. Genauso wenig sei er auf einen bestimmten Lebensstil festgelegt. So sei der Mensch recht eigentlich ohne Welt und derart darauf angewiesen, sich „in jeder Epoche, an jedem Orte, wenn nicht sogar tagtäglich, eine neue Welt und einen neuen Lebensstil zu besorgen oder zu schaffen“ (Anders 1984, XIV). Als nicht festgestelltes oder unfestgelegtes Tier bzw. als Wesen, dessen Natur gerade die Nichtfestgestelltheit bzw. die Künstlichkeit ist,⁵⁰³ fragwürdig ist, und dem sich, indem es nach dem Sinn seines Seins fragt, ein Zugang zur Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt eröffnet. 500 Das Sein des Daseins bestimmt Heidegger in seiner eigenwilligen Art mit der Sprache umzugehen, in seinem Jargon, wie folgt: „Das Sein des Daseins besagt: Sich-vorweg-schon-sein-in-(der-Welt) als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seienden)“ (Heidegger 2006[1927], 192). 501 Vgl. hierzu Heidegger 2006[1927], vor allem §§ 12, 13, 52–62. 502 Es muss hinzugefügt werden, dass Heidegger mit seiner Rede vom „In-sein“ als „Sein-bei“ letztlich auf unser Vertrautsein mit der uns umgebenden Zeugwelt (Dinge, die in unserem Gebrauch sind) zielt, eine Welt, die uns zunächst und zumeist im Modus der Unausdrücklichkeit begegnet und in der wir uns mit schlafwandlerischer Sicherheit bewegen. Noch einmal anders: Wir finden uns in unserem alltäglichen Sein so gut in der uns umgebenden Welt zurecht, dass uns die Dinge als Dinge gar nicht bewusst werden, weil sie als solche gar nicht in unseren Blick geraten genauso wenig wie die Welt als Welt. Als Agierender geht man also in der Welt auf. 503 „L’artificialité est la nature de homme et son essence est l’instabilité“ (Anders 1936/37, 22). („Die Künstlichkeit ist die Natur des Menschen und seine Essenz ist die Instabilität.” – Übers. E.B. „Instabilität“ meint hier freilich so viel wie Flexibilität.)

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sei er dazu allerdings auch in der Lage. Er könne sich, wie Nietzsche sagen würde, auf der einen Seite eine „zweite Natur“ (UB II 3; KSA 1, 270) zulegen und die Welt auf der anderen Seite nach seinen Vorstellungen umgestalten. Auf diese Weise gelinge es dem Menschen schließlich, die Kluft zur Welt zu überbrücken, um endlich doch bei der Welt zu sein, was aber kein Existenzial sei, wie Heidegger annimmt, sondern a posteriori geschehe und außerdem immer wieder aufs Neue vollbracht werden müsse. Das Schließen der Lücke ist eine lebenslange, mühevolle Aufgabe des Menschen, der demgemäß unablässig mit seiner ursprünglichen Weltfremdheit zu kämpfen hat.⁵⁰⁴ Nietzsches Übermensch geht nun in seiner Schaffens- und Gestaltungswut⁵⁰⁵ so weit, dass er sogar versucht, die Zeit zu seiner eigenen Zeit zu machen, sie in seine Verfügungsgewalt zu zwingen, um solcherart – wie man ein letztes Mal im heidegger504 Unterdessen soll nicht aus dem Blick geraten, dass die Weltfremdheit oder Unfestgestelltheit ein Doppelgesicht hat. Die Unfestgestelltheit bringt – und das ist nun ihre vitale Seite, ihr helles Gesicht sozusagen – eine prinzipielle Offenheit mit sich. Entsprechend konstatiert Dries 2012, 43f., für die anderssche negative Anthropologie, der Mensch vollführe „einen permanenten Pendelprozess zwischen prinzipieller Weltfremdheit und die Welt nachträglich einholender Weltoffenheit (…). Weltfremdheit und Weltoffenheit verhalten sich zueinander wie zwei Seiten derselben Medaille“. Die Weltoffenheit macht den Menschen zum Gestalter von Welten, welche die natürliche Welt überformen. Derart erhebt er sich über alle anderen Lebewesen (nicht zuletzt, indem er ihren natürlichen Lebensraum gravierend verändert oder gar völlig zerstört). Wie oben ausgeführt, leidet der Mensch jedoch auch unter der Weltfremdheit – hier zeigt sich ihr dunkles Gesicht. Hinzu kommt, dass es keineswegs ausgemacht ist, dass es ihm immer auch gelingt, die Kluft zwischen sich und der Welt zu überbrücken. Auch Nietzsche sieht diese in der Unfestgestelltheit liegende Ambivalenz von Vorzug und Mangel deutlich, wenn er im Frühjahr 1884 notiert: „Grundsatz: das, was im Kampf mit den Thieren dem Menschen seinen Sieg errang, hat zugleich die schwierige und gefährliche krankhafte Entwicklung des Menschen mit sich gebracht. Er ist das noch nicht f estge s te l lte T h i e r “ (NL 1884–1885, KSA 11, 25[428], 125). Endlich noch eine Bemerkung zur Formel „noch nicht festgestelltes Thier“, und zwar zum darin enthaltenen „noch“ im Speziellen: Die Unfestgestelltheit reicht, wenn ich recht sehe, soweit, dass nicht einmal sie selbst festgestellt ist. Aus diesem Grund schreibt Nietzsche, noch sei der Mensch nicht festgestellt, was impliziert, er könnte es eines Tages durchaus sein. Nietzsches Werk deckt immer wieder die Tendenz des Menschen auf, sich selbst festzustellen, insbesondere durch eine mit Absolutheitsansprüchen formulierte Moral. Ein Festgestelltsein würde dem Menschen die Last abnehmen, die darin liegt, sich beständig selbst überwinden zu müssen. Gerade der in Zarathustras Vorrede auftauchende letzte Mensch ist die Verkörperung und fatale Erfüllung ebenjener Tendenz. Zarathustras Warnung vor dem letzten Menschen, der nicht mehr im Stande ist, sich selbst in Richtung auf ein hohes Ziel zu überwinden, lässt sich zugleich als mahnende Erinnerung an das „noch“ der Formel lesen: „Es ist an der Zeit, dass der Mensch sich sein Ziel stecke. Es ist an der Zeit, dass der Mensch den Keim seiner höchsten Hoffnung pflanze./Noch ist sein Boden dazu reich genug. Aber dieser Boden wir einst arm und zahm sein, und kein hoher Baum wird mehr aus ihm wachsen können“ (Z I Vorrede 5; KSA 4, 19). Kommt indessen die Zeit (Nietzsche lässt seinen Zarathustra im Folgenden zwei Mal: „Wehe! Es kommt die Zeit…“, ausrufen), da der Boden unfruchtbar geworden ist, so dürfte das Tier Mensch festgestellt sein. 505 Ebenso wie Anders’ negative Anthropologie technisch geprägt ist (und auf eine Technikkritik hinausläuft), so ist es auch Nietzsches Anthropologie (vgl. Schönherr-Mann 2008, 40–46), der Anders nicht wenig verdankt.

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schen Jargon sagen könnte – nicht nur zeitlich, sondern in der Zeit zu sein, im Sinne des Seins-bei der Zeit.⁵⁰⁶ Denn wie der Mensch nicht wie selbstverständlich in der Welt aufgeht, so auch nicht in der Zeit. (B): In Vom Nachtheil und Nutzen der Historie für das Leben macht Nietzsche das Nicht-vergessen-Können für das Unglück des Menschen verantwortlich, weil ihm dadurch „das Aufgehen in der zeitlichen Dimension der Gegenwart versperrt bleibt“ (Geisenhanslüke 1999, 129). Die Schrift beginnt mit einem Vergleich zwischen Mensch und Tier: Betrachte die Heerde, die an dir vorüberweidet: sie weiss nicht was Gestern, was Heute ist, springt umher, frisst, ruht, verdaut, springt wieder, und so vom Morgen bis zur Nacht und von Tage zu Tage, kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augenblickes und deshalb weder schwermüthig noch überdrüssig. Dies zu sehen geht dem Menschen hart ein, weil er seines Menschenthums sich vor dem Thiere brüstet und doch nach seinem Glücke eifersüchtig hinblickt – denn das will er allein, gleich dem Thiere weder überdrüssig noch unter Schmerzen leben, und will es doch vergebens, weil er es nicht will wie das Thier. Der Mensch fragt wohl einmal das Thier: warum redest du mir nicht von deinem Glücke und siehst mich nur an? Das Thier will auch antworten und sagen, das kommt daher dass ich immer gleich vergesse, was ich sagen wollte – da vergass es aber auch schon diese Antwort und schwieg: so dass der Mensch sich darob verwunderte. Er wundert sich aber auch über sich selbst, das Vergessen nicht lernen zu können und immerfort am Vergangenen zu hängen: mag er noch so weit, noch so schnell laufen, die Kette läuft mit. Es ist ein Wunder: der Augenblick, im Husch da, im Husch vorüber, vorher ein Nichts, nachher ein Nichts, kommt doch noch als Gespenst wieder und stört die Ruhe eines späteren Augenblicks. Fortwährend löst sich ein Blatt aus der Rolle der Zeit, fällt heraus, flattert fort – und flattert plötzlich wieder zurück, dem Menschen in den Schooss. Dann sagt der Mensch „ich erinnere mich“ und beneidet das Thier, welches sofort vergisst und jeden Augenblick wirklich sterben, in Nebel und Nacht zurücksinken und auf immer erlöschen sieht. So lebt das Thier unhistorisch: denn es geht auf in der Gegenwart, wie eine Zahl, ohne dass ein wunderlicher Bruch übrig bleibt (…). (UB II 1; KSA 1, 248f.)

Der Mensch geht hingegen nicht auf diese nahtlose Weise in der Gegenwart auf: Bei ihm bleibt immer ein Bruch übrig, ein verwunderlicher, unaufgelöster Rest. Über diesen Rest kommt der Mensch zu einem Bewusstsein von sich selbst, und zwar als einem zeitlichen Wesen. Indem der Mensch sich erinnert,⁵⁰⁷ begreift er vergangene Augenblicke als Augenblicke, die er selbst erlebt hat. So gesehen erfasst er sie als seine Augenblicke, aus denen sich seine Geschichte, d. h. seine Identität, zusammensetzt.

506 Ich spiele hier auf das im Zarathustra wichtige Problem des rückwärtigen Wollens an. Mehr dazu in Kapitel IX.2. 507 Die Fähigkeit, sich überhaupt erinnern zu können, ist generell im Menschen angelegt. Es hat jedoch eine ganze Weile gedauert, bis der Mensch sie im Laufe der kulturellen Entwicklung derart ausgebildet hat, dass er jetzt sogar darunter leidet, nicht mehr vergessen zu können. Auch das Erlernen des Sicherinnerns begreift Nietzsche in der Genealogie der Moral als einen langen Leidensprozess. Der Weg des Erinnerns führe nämlich zunächst über den Schmerz (vgl. Kapitel V.3).

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Zugleich wird er jedoch gewahr, wie vergänglich jeder Augenblick ist: „[I]m Husch“ ist er vorüber, „vorher ein Nichts, nachher ein Nichts.“ In dieser Perspektive sind die Augenblicke nicht mehr seine, sondern ihm radikal entzogen. Der Mensch begreift also, dass sich, wenn jeder Augenblick letztlich ein Nichts ist, auch seine Geschichte, seine Identität aus, wenn man so will, lauter Nichts zusammensetzt. Er erkennt, dass das Wesen der Zeit Sukzession ist,⁵⁰⁸ und indem er diese Einsicht auf sich selbst als zeitliches Wesen anwendet, geht ihm auf, „was sein Dasein im Grunde ist – ein nie zu vollendendes Imperfectum“, weiter nichts als „ununterbrochenes Gewesensein (…), ein Ding, das davon lebt, sich selbst zu verneinen und zu verzehren, sich selbst zu widersprechen“ (UB II 1; KSA 1, 249). (C): Die Erfahrung des Nichts schildert Nietzsche auch in Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. In der berühmten „Fabel von den klugen Tieren“ am Anfang des kurzen Textes geht er schonungslos mit der Menschheit und ihrer unangebrachten Überheblichkeit ins Gericht: In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmüthigste und verlogenste Minute der „Weltgeschichte“: aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Athemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Thiere mussten sterben. – So könnte Jemand eine Fabel erfinden und würde doch nicht genügend illustrirt haben, wie kläglich, wie schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos und beliebig sich der menschliche Intellekt innerhalb der Natur ausnimmt; es gab Ewigkeiten, in denen er nicht war; wenn es wieder mit ihm vorbei ist, wird sich nichts begeben haben. Denn es giebt für jenen Intellekt keine weitere Mission, die über das Menschenleben hinausführte. Sondern menschlich ist er, und nur sein Besitzer und Erzeuger nimmt ihn so pathetisch, als ob die Angeln der Welt sich in ihm drehten. (WL 1; KSA 1, 875)⁵⁰⁹

508 „Wer die Gestaltung des Satzes vom Grunde, welche in der reinen Zeit als solcher erscheint und auf der alles Zählen und Rechnen beruht, erkannt hat, der hat eben damit auch das ganze Wesen der Zeit erkannt. Sie ist weiter nichts als ebenjene Gestaltung des Satzes vom Grunde, und hat keine andere Eigenschaft. Succession ist die Gestalt des Satzes vom Grunde in der Zeit; Succession ist das ganze Wesen der Zeit“ (WWV I, 9). 509 Man beachte die Ähnlichkeiten mit Schopenhauers Weltbetrachtung aus kosmischer Perspektive zu Beginn des zweiten Bandes der Welt als Wille und Vorstellung: „Im unendlichen Raum zahllose leuchtende Kugeln, um jede, von welchen etwan ein Dutzend kleinerer, beleuchteter sich wälzt, die inwendig heiß, mit erstarrter, kalter Rinde überzogen sind, auf der ein Schimmelüberzug lebende und erkennende Wesen erzeugt hat: – dies ist die empirische Wahrheit, das Reale, die Welt. Jedoch ist es für ein denkendes Wesen eine mißliche Lage, auf einer jener zahllosen im gränzenlosen Raum frei schwebenden Kugeln zu stehn, ohne zu wissen woher noch wohin, und nur Eines zu seyn von unzählbaren ähnlichen Wesen, die sich drängen, treiben, quälen, rastlos und schnell entstehend und vergehend, in anfangs- und endloser Zeit: dabei nichts Beharrliches, als allein die Materie und die Wiederkunft der selben, verschiedenen, organischen Formen, mittelst gewisser Wege und Kanäle, die nun ein Mal dasind“ (WWV II, 3).

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Diese Fabel rückt die Endlichkeit des Menschen gleich in mehrfacher Hinsicht in den Fokus. Erstens führt sie vor Augen, wie flüchtig das menschliche Leben generell ist. Jedem einzelnen Menschen hält sie vor: Du, Du und auch Du, ihr alle seid als Menschen Morituri und unterscheidet euch im Grunde nicht wesentlich von der Eintagsfliege. Diese Feststellung gilt indes nicht nur für das Einzelexemplar, sondern bezieht sich auf die gesamte Gattung Mensch. Aus kosmischer Perspektive nimmt sich die Menschheitsgeschichte wie nur eine Minute aus – eine lächerlich kurze Zeit, wenn man bedenkt, wie viel Aufhebens die Menschen um sich selbst und ihre Spezies machen. Der Grund für dieses Aufheben ist der Intellekt, auf den der Mensch sich so viel einbildet. Die längste Zeit seiner überaus kurzen Geschichte hat er geglaubt, der Intellekt sei ihm von einer höheren Macht feierlich verliehen worden und er, der Mensch, partizipiere via Geist am Göttlichen und sei, wenn auch nicht als leibliches, so doch immerhin als geistiges Wesen unsterblich. Allein auch mit diesem Irrglauben räumt die Fabel auf: Der Mensch, der in Wahrheit auch nur ein Tier ist, hat das Erkennen selbst erfunden. Damit ist – wie Nietzsches Text im Weiteren zu entnehmen ist – wohl gemeint, dass sich der Intellekt im Laufe der Evolution als natürliche Kompensation für ein ansonsten mangelhaft ausgestattetes und kaum überlebensfähiges Tier erst entwickelt hat. Sonach ist der Intellekt kein göttliches, eigens der Krone der Schöpfung zugedachtes Geschenk und kann auch keine „weitere Mission“ für sich in Anspruch nehmen. Alles in allem könnte man die Fabel als einen kurzen, dabei aber erstaunlich umfassenden Text über die Kontingenz des menschlichen Daseins betrachten. Er beleuchtet nämlich sowohl die Kontingenz der Welt als auch die Kontingenz des Individuums, welche beiden Zufälligkeiten ganz und gar nicht zufällig zueinandergehören.⁵¹⁰ Überdies ist auch die Ratio des Animal rationale kontingent. Zwar ist sie prima facie ein äußerst sinnvolles Werkzeug des Menschen. Allerdings endet ihr Sinn mit dem Tod desjenigen Menschen, dessen Organon sie war. An diesem Punkt ist ihre Mission beendet und wird ihr Sinn negiert. Hier greift wieder Weischedels Argument von der Sinnkette, an das ich noch einmal erinnern möchte:⁵¹¹ Um sinnhaft zu sein,

510 Diese Zusammengehörigkeit hat Max Scheler hervorgehoben: „Der Mensch muß den eigenartigen Zufall, die Kontingenz der Tatsache, daß überhaupt Welt ist und nicht vielmehr nicht ist und daß er selbst ist und nicht vielmehr nicht ist, mit anschaulicher Notwendigkeit in demselben Augenblicke entdecken, wo er sich überhaupt der Welt und seiner selbst bewußt geworden ist (…)“ (Scheler 1976[1928], 68). 511 Vgl. Kapitel VI.1.2. Weischedels Argument ist im Übrigen keineswegs neu. Bereits im Rahmen von Aristoteles’ praktischer Philosophie stößt man auf die Forderung nach einem sinnhaften Abschluss der Sinnkette: In der Nikomachischen Ethik stellt Aristoteles einige formale Kriterien auf, die ein höchstes Gut als finales Ziel aller Handlungen erfüllen muss. Zu diesen Kriterien gehört die vollkommene Zielhaftigkeit. Was ist darunter zu verstehen? Aristoteles betont, dass jedes menschliche Tun ein Ziel verfolgt: „Jede Kunst und jede Lehre, ebenso jede Handlung und jeder Entschluss scheint irgendein Gut zu erstreben (…).“ Der Akteur einer Handlung verfolgt demnach etwas, was ihm zumindest als gut bzw. als ein Gut erscheint. Weiter heißt es in der Nikomachischen Ethik: „(…) weshalb man

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muss etwas durch etwas anderes auf höherer Stufe Sinnhaftes gerechtfertigt sein, welches wiederum in einen umfassenderen Sinn eingebettet ist. Ein Sinn verlangt sonach immer nach einem höheren oder umfassenderen Sinn, der ihn allererst sinnhaft macht, indem er ihm (s)einen Sinn verleiht und so fort. Damit die solcherart entstehende Sinnkette nicht ins Sinnlose verläuft, muss es einen finalen Sinn geben, der in sich selbst sinnhaft und also nicht rechtfertigungsbedürftig ist. Dieser finale Sinn verleiht der gesamten Sinnkette ihre Sinnhaftigkeit. Ohne ihn gleitet jeder auf der Sinnkette liegende Sinn in die Sinnlosigkeit oder freundlicher formuliert: Relativität hinab. Es gibt dann streng gesehen keine Sinnpunkte auf einer Sinnkette mehr, sondern nur noch Punkte auf einer Kette. Von einem letzten, allgemeine Sinnhaftigkeit stiftenden Sinn findet sich in Nietzsches Fabel aber keine Spur. Demnach ist die menschliche Ratio deswegen letztlich sinnlos, weil der sie vermeintlich rechtfertigende Sinn, nämlich der Mensch, seinerseits nicht durch einen größeren Sinn gerechtfertigt ist. Denn auch die Welt als möglicher Rechtfertigungskandidat ist der Fabel zufolge nur eines von unzähligen Gestirnen eines kosmischen „Ausgusses“, dem Weltall.⁵¹² – Nun, vielleicht ist ja der Ausguss der unbedingte Sinn. Aber es fällt das Gute treffend als dasjenige bezeichnet hat, wonach alles strebt“. An diesem Punkt seiner Ausführungen hat Aristoteles noch kein ganz bestimmtes Gut im Sinn, sondern denkt an eine Pluralität von Gütern resp. Zielen. Denn im Bereich der menschlichen Tätigkeiten gibt es Vieles, was die Menschen für ein Gut und folglich für ein erstrebenswertes Ziel halten: „Das Ziel der Heilkunst ist die Gesundheit, das der Schiffbaukunst das Schiff, das der Strategik der Sieg, das der Wirtschaft der Reichtum.“ Die Ziele sind allerdings nicht gleichen Ranges, sondern erweisen sich bei genauem Hinsehen als einzelne Glieder in einer hierarchisch geordneten Kette von erstrebten Zielen, in der sie nur als ein Medium zur Erreichung eines ihnen übergeordneten Gutes fungieren. Aristoteles verdeutlicht dies – wie so oft – an einem Beispiel: der Sattlerei: Die Sattlerei untersteht der Reitkunst, diese wiederum der Kriegskunst, welche sich endlich im Dienst der Strategik weiß. Wie im Falle einer téchne-Handlung, bei der die Tätigkeit dem durch sie erstrebten Werk untergeordnet ist, verhält es sich auch bei den hierarchischen Güterreihen: Die leitenden Künste sind jeweils vorzüglicher als die ihnen unterstellten Künste, werden letztere doch um ersterer willen verfolgt. Würden wir jedoch ausnahmslos ein Ziel wegen eines anderen höher eingestuften Zieles erstreben, hätte dies zur Konsequenz, dass unser Streben zu guter Letzt leer und sinnlos bliebe. Es käme zu einem endlosen Strebensprogress. Sofern unser Streben aber nicht sinnlos sein solle, müsse es ein vollkommenes Ziel geben: „Wenn es nun ein Ziel des Handelns gibt, das wir um seiner selbst wegen wollen, und das andere nur um seinetwillen, und wenn wir nicht alles wegen eines anderen uns zum Zwecke setzen – denn da ginge die Sache ins Unendliche fort, und das menschliche Begehren wäre leer und eitel –, so muß ein solches Ziel offenbar das Gute und das Beste sein“ (EN I, 1094a). Sowohl Weischedel als auch Aristoteles arbeiten mit einer „Wenn-Dann-Argumentation“: Wenn nicht alles sinnlos sein soll, dann muss angenommen werden, dass… Die Möglichkeit der prinzipiellen Sinnlosigkeit ist solcherart aber nicht ad acta gelegt. 512 Der philosophierende Medizin-Nobelpreisträger Jacques Monod behauptet in Zufall und Notwendigkeit, „[a]lle Religionen, fast alle Philosophien und zum Teil sogar die Wissenschaft zeugen von der unermüdlichen, heroischen Anstrengung der Menschheit, verzweifelt ihre eigen Zufälligkeit zu leugnen“ (Monod 1971, 54). Damit sei es aber, so Monod weiter, jetzt aus, denn der Mensch „weiß nun, dass er seinen Platz wie ein Zigeuner am Rande des Universums hat, das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen“ (Monod 1971, 151). Gerade Monods

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sehr schwer, sich diesen Sinn als irgendwie sinnhaft auf das Leben des einzelnen Menschen in dieser Welt bezogen vorzustellen; spätestens hier liegt Sinn nicht mehr in seinem „ersten und weitesten Aspekt“ vor, nämlich als „Verstehbarkeit“ (Weischedel 1983[1972], Bd. 2, 166). Doch damit nicht genug. Die Entzauberung des Intellekts in Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne geht noch weiter. Nietzsche begibt sich in eine erstaunliche Nähe zu Kants theoretischer Philosophie, wenn er die Finger in die Wunde der erkenntnistheoretischen Begrenztheit unseres Verstandes legt. Wir können die Dinge niemals so erfassen, wie sie an sich sind, weiß er sich mit Kant einig. Unser Anspruch auf objektive Erkenntnis, auf eine Erfassung der Wirklichkeit, wie sie an sich ist, ist völlig überzogen. Es bleibt uns allein, „gleichsam ein tastendes Spiel auf dem Rücken der Dinge zu spielen“ (WL 1; KSA 1, 876). Ähnlich wie Kant glaubt Nietzsche, dass der Mensch die Welt, bildhaft und vereinfacht gesagt, nur durch seine spezifisch menschliche Brille wahrnimmt, eine Brille, die er unter keinen Umständen abnehmen kann und die die Welt in ein ganz bestimmtes Licht taucht. Die Welt in einem anderen Licht zu sehen, ist dem Menschen prinzipiell nicht möglich. Er bleibt allzumal an seine menschliche Perspektive gebunden, wenngleich diese auch eine Binnenperspektivität zulässt; sei es, dass man die Welt mit den Augen des Künstlers, des Forschers, des Ökonomen usw. sieht – in allen diesen Fällen handelt es sich ja doch um die Sichtweisen eines Menschen. Unterdessen spricht rein gar nichts für die Annahme, die menschliche sei die einzig wahre Perspektive. Nietzsche bezweifelt in einem Passus, der besonders deutlich an Kants Transzendentalphilosophie erinnert, sogar den Wahrheitsstatus der Naturgesetze, welche der Mensch so gerne anführt, wenn es um vermeintlich objektive Wahrheiten geht: Dagegen[gegen den absoluten Wahrheitsanspruch der Wissenschaften  – E.B.] ist einmal zu sagen: hätten wir noch, jeder für sich eine verschiedenartige Sinnesempfindung, könnten wir selbst nur bald als Vogel, bald als Wurm, bald als Pflanze percipiren oder sähe der eine von uns denselben Reiz als roth, der andere als blau, hörte ein Dritter ihn sogar als Ton, so würde niemand von einer solchen Gesetzmässigkeit der Natur reden, sondern sie nur als ein höchst

berühmt gewordenes Bild vom Universums-Zigeuner bleibt, trotzdem es seinerzeit als erschreckend aufgenommen wurde, was seine Schrecklichkeit anbelangt, hinter Nietzsches Fabel genauso wie hinter Schopenhauers Rede von der Erde als schimmelüberzogener Kugel im grenzenlosen Raum zurück. Denn Monods Zigeuner mag ja, was durchaus nicht schön ist, aus dem Zentrum des Universums verbannt und an den Rand gedrängt sein. Immerhin weiß er aber noch, wo er sich befindet, nämlich in einem noch übersichtlichen, irgendwie strukturierten Raum, in dem es ein Zentrum und einen Rand gibt. Der Mensch besetzt in Monods Bildaufbau eine bestimmte und nicht bloß irgendeine unausweisbare Raum-Zeit-Stelle jenseits jeden Koordinatensystems. Monods Zigeuner ist also anders als zum Beispiel Nelly Sachs’ „Milchstraßenbettler“ nicht auf einen Blindenhund angewiesen – „Erde, Planetengreis (…) da du dich drehst und drehst auf deiner Sternenstelle, Milchstraßenbettler mit dem Wind als Blindenhund“ (Sachs 1963[1957], 32) – weil er sich noch aus eigener Kraft orientieren kann. Nietzsches und Schopenhauers Bilder sind Monods Metapher in Sachen Kontingenz insofern voraus bzw. radikaler, als sie die vollkommene räumliche Entwurzelung des Menschen darstellen.

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subjectives Gebilde begreifen. Sodann: was ist für uns überhaupt ein Naturgesetz; es ist uns nicht an sich bekannt, sondern nur in seinen Wirkungen (…) nur das, was wir hinzubringen, die Zeit, der Raum, also Successionsverhältnisse und Zahlen sind uns wirklich daran bekannt (…). Diese aber produciren wir in uns und aus uns mit jener Nothwendigkeit, mit der die Spinne spinnt; wenn wir gezwungen sind, alle Dinge nur unter diesen Formen zu begreifen, so ist es dann nicht mehr wunderbar, dass wir an allen Dingen eigentlich nur eben diese Formen begreifen (…). (WL 1; KSA 1, 885f.)

Ungeachtet dessen halten wir große Stücke auf unseren Trieb zur Wahrheit, wobei wir die Wahrheit unhinterfragt als ein unabschätzbares Gut, als den höchsten Wert taxieren. Vor diesem Hintergrund ist es nun besonders peinlich, dass wir, wie Nietzsche behauptet, epistemologisch von der Wahrheit abgeschnitten sind. Scharf formuliert klafft zwischen unserem moralischen Anspruch, der Wahrheit verpflichtet zu sein, und unserem erkenntnistheoretischen Vermögen eine gewaltige Lücke. Überhaupt ist die Wahrheit gemäß der in Ueber Wahrheit und Lüge vorgelegten kleinen Genealogie der Wahrheit originär nichts weiter als eine sprachliche Konvention gewesen und ist es im Grunde noch immer: „[D]ie Gesetzgebung der Sprache giebt auch die ersten Gesetze der Wahrheit (…)“ (WL 1; KSA  1, 877). Im Verlauf der von den vereinzelten Menschen als für das Überleben nützlich erkannten Sozialisation der Menschen hat es sich, wie Nietzsche ausführt, als unabdingbar erwiesen, sich aufeinander verlassen zu können. Die sprachliche Verlässlichkeit ist aber die Wurzel aller weiteren Stabilität. Den Dingen Namen zu geben, hat im Grunde nichts mit Wahrheit, sondern mit Nützlichkeit zu tun. Die Namensgebung bzw. Begriffsbildung dient dem Zweck, sich eine verstehbare Welt einzurichten, eine Welt, in der man (über)leben kann. Wirklich korrespondieren die Begriffe nicht mit den Dingen, die sie bezeichnen, sondern sind bloß beliebige Metaphern, die man für die Dinge gefunden hat,⁵¹³ wobei man über den individuellen Charakter der einzelnen Dinge geflissentlich hinwegsieht: Unseren sprachlichen Konventionen zufolge gleicht ein Blatt tatsächlich dem anderen, in der Realität hingegen nicht. So ebnet die Allgemeinheit der Begriffe die Besonderheit der Dinge willkürlich ein. Ähnliches wird ohne Rücksicht auf seine Einzigartigkeit zu Identischem erklärt.⁵¹⁴ Nach einer gewissen Zeit des Gebrauches dieser Metaphern

513 Genauso gut (oder schlecht) hätte man auch andere Metaphern für die Dinge wählen können. Unter anderen Bedingungen hätten diese sich ebenso durchsetzen können wie die Begriffe, die schließlich in Geltung gekommen sind. Mit einer wahren Essenz der Dinge hat das alles nichts zu tun: „Wir theilen die Dinge nach Geschlechtern ein, wir bezeichnen den Baum als männlich, die Pflanze als weiblich: welche willkürlichen Übertragungen! Wie weit hinausgeflogen über den Canon der Gewissheit! Wir reden von einer Schlange: die Bezeichnung trifft nichts als das Sichwinden, könnte also auch dem Wurme zukommen. Welche willkürlichen Abgrenzungen, welche einseitigen Bevorzugungen bald der bald jener Eigenschaft eines Dinges! Die verschiedenen Sprachen neben einander gestellt zeigen, dass es bei den Worten nie auf die Wahrheit, nie auf einen adäquaten Ausdruck ankommt: denn sonst gäbe es nicht so viele Sprachen“ (WL 1; KSA 1, 878f.). 514 „Denken wir besonders noch an die Bildung der Begriffe: jedes Wort wird sofort dadurch Begriff, dass es eben nicht für das einmalige ganz und gar individualisirte Urerlebniss, dem es sein Entstehen

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hat sich der Mensch endlich so daran gewöhnt, bestimmte Begriffe mit bestimmten Dingen zu verbinden und umgekehrt, dass er schlicht vergessen hat, dass es sich hierbei eigentlich „um eine Summe von menschlichen Relationen“ (WL 1; KSA 1, 880) handelt, mithin dass Wahrheit menschengemacht ist. Der Mensch hat sich als schöpferisches Subjekt vergessen. In einer berühmt gewordenen Wendung schreibt Nietzsche: „(…) Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind (…)“ (WL 1; KSA 1, 880f.). So bezeigen sich gerade unsere Wahrheiten als der ironische, in die Vergessenheit abgeglittene Beweis dafür, dass nicht der Trieb zur Wahrheit der originäre Trieb im Menschen ist, sondern der Trieb zur Täuschung. Im Menschen wohnt ein „Trieb zur Metaphernbildung“, der wesenhaft zum Menschen gehört, ein „Fundamentaltrieb (…), den man keinen Augenblick wegrechnen kann, weil man damit den Menschen selbst wegrechnen würde“ (WL 2; KSA 1, 887). Wie die Welt in Wahrheit ist, wissen wir also nicht. Und wenn wir ehrlich sind, dann wissen wir auch über uns selbst viel weniger, als wir zu wissen meinen; meint jedenfalls Nietzsche. Noch vor Freud vermutet Nietzsche in Ueber Wahrheit und Lüge, diesem so kurzen wie dichten Text, dass es Tiefenschichten im Menschen gibt, von denen er allenfalls etwas ahnt, über die er indes auch gar nicht mehr wissen wolle, denn sonst würde er sich vielleicht bewusst, dass der Mensch, obschon domestiziert, letztlich immer noch ein Raubtier ist, dass sein Raubtiercharakter sich nur für gewöhnlich im Unbewussten verborgen hält.⁵¹⁵ Das Bewusstsein ist also gewisserma-

verdankt, etwa als Erinnerung dienen soll, sondern zugleich für zahllose, mehr oder weniger ähnliche, d. h. streng genommen niemals gleiche, also auf lauter ungleiche Fälle passen muss. Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nicht-Gleichen. So gewiss nie ein Blatt einem anderen ganz gleich ist, so gewiss ist der Begriff Blatt durch beliebiges Fallenlassen dieser individuellen Verschiedenheiten, durch ein Vergessen des Unterscheidenden gebildet und erweckt nun die Vorstellung, als ob es in der Natur ausser den Blättern etwas gäbe, das ‚Blatt‘ wäre, etwa eine Urform, nach der alle Blätter gewebt, gezeichnet, abgezirkelt, gefärbt, gekräuselt, bemalt wären, aber von ungeschickten Händen, so dass kein Exemplar correkt und zuverlässig als treues Abbild der Urform ausgefallen wäre. Wir nennen einen Menschen ehrlich; warum hat er heute so ehrlich gehandelt? fragen wir. Unsere Antwort pflegt zu lauten: seiner Ehrlichkeit wegen. Die Ehrlichkeit! das heisst wieder: das Blatt ist die Ursache der Blätter“ (WL 1; KSA  1, 879f.). Was Nietzsche hier vorträgt, birgt wahrlich Zündstoff in sich. Er macht nämlich auf eine Vertauschung von Grund und Folge am Boden der Ideenmetaphysik aufmerksam. Eine solche Metaphysik behauptet, die einzelnen Gegenstände der sinnlichen Welt seien bloß Abbilder von Urbildern einer wahren übersinnlichen Welt. Die Einzeldinge bzw. das Individuelle, das demnach nur die Folge der Ideen bzw. des Allgemeinen wäre, gilt in seiner individuellen Verschiedenheit als unvollkommen im Verhältnis zu seinem Ursprung. Tatsächlich, d. h. Nietzsches Darstellung gemäß, ist das Allgemeine aber die Folge des Individuellen. Somit wäre das Allgemeine vom Individuellen abhängig. Wenn Nietzsche nach der Naturerkenntnis die Moral ins Spiel bringt, so unterstellt er dem metaphysischen System der moralischen Wertungen die gleiche Verwechselung von Grund und Folge. Summa summarum: Die Ideenmetaphysik ist nicht nur auf Lügen, sondern überdies auf fundamentalen Verwechslungen gebaut (vgl. dazu Hödl 1997, 89f.). 515 Er würde erkennen, „dass auf dem Erbarmungslosen, dem Gierigen, dem Unersättlichen, dem Mörderischen der Mensch ruht, in der Gleichgültigkeit seines Nichtwissens, und gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend“ (WL 1; KSA 1, 877).

Nietzsches nihilistische Anthropologie   

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ßen nur die Spitze des Eisbergs eines umfassenden Triebgeschehens, das sich größtenteils im Verborgenen abspielt. Der Mensch ist für Nietzsche identisch mit einem vielstimmigen Sich-zu-sich-selbst-Verhalten, das zusammengehalten wird in der und durch die Einheit des Leibes. Der Geist ist demnach nicht der Kern des Menschen. Unterdessen ist er ein eminent wichtiges Teil im Puzzlespiel der Selbsthaftigkeit. Über die Rolle des Geistes, die als Nächstes in Augenschein genommen werden soll, erfährt man Genaueres von Nietzsches poetischem Sprachrohr Zarathustra. (D): Zarathustra hält den Verächtern des Leibes entgegen: „Leib bin ich und Seele“ – so redet das Kind. Und warum sollte man nicht wie die Kinder reden?/ Aber der Erwachte, der Wissende sagt: Leib bin ich ganz und gar, und Nichts ausserdem; und Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe./Der Leib ist eine grosse Vernunft, eine Vielheit mit Einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Heerde und ein Hirt./Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft, mein Bruder, die du „Geist“ nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deiner grossen Vernunft./„Ich“ sagst du und bist stolz auf diess Wort. Aber das Grössere ist, woran du nicht glauben willst, – dein Leib und seine grosse Vernunft: die sagt nicht Ich, aber thut Ich./Was der Sinn fühlt, was der Geist erkennt, das hat niemals in sich sein Ende. Aber Sinn und Geist möchten dich überreden, sie seien aller Dinge Ende: so eitel sind sie./Werk- und Spielzeuge sind Sinn und Geist: hinter ihnen liegt noch das Selbst. Das Selbst sucht auch mit den Augen der Sinne, es horcht auch mit den Ohren des Geistes./Immer horcht das Selbst und sucht: es vergleicht, bezwingt, erobert, zerstört. Es herrscht und ist auch des Ich’s Beherrscher./Hinter deinen Gedanken und Gefühlen, mein Bruder, steht ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser – der heisst Selbst. In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er. (Z I Verächtern; KSA 4, 39f.)

Strukturell ist der von der klassischen Metaphysik gezogene Graben zwischen Leib und Seele damit zugeschüttet. Der Geist ist sublimierter Leib, ist „verfeinertes LeibGeschehen“ (Abel 1984, 15). Aber so einfach ist die Sache dann doch nicht. Dass der Graben überhaupt gezogen wurde, hat nämlich seinen guten Grund. Denn der Mensch ist zwar eine Einheit, empfindet sich jedoch darum nicht automatisch auch als solche. Das liegt an der besonderen Beschaffenheit dieser Einheit, handelt es sich doch um ein sich stets im Wandel befindliches Ganzes, in dem sich mannigfaltige, mitunter konkurrierende Kräfte zueinander verhalten. Aus diesem Grund läuft das Gleichgewicht des Menschen prinzipiell Gefahr, in jedem Augenblick in ein Ungleichgewicht umzuschlagen. Seine Vitalität verdankt der Leib der „Koordination von Spannung und Gegenspannung“. Gelingt diese Aussteuerung nicht, schlägt die Stunde der kleinen Vernunft: „Dann muß mit den Mitteln des Begriffs das Problem geklärt und eine praktikable Lösung gefunden werden, eine Lösung wohlgemerkt für den Leib“ (Pieper 2010, 156). Der weise Leib, der instinktiv genau weiß, was gut für ihn ist und was nicht, gibt dem Geist dabei das Lustprinzip als Orientierungshilfe für ein

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Handeln bzw. Nachdenken bzw. Urteilen in seinem Sinne an die Hand.⁵¹⁶ Auf diese Weise verhalten sich Leib und Geist (der sublimierte Leib) idealiter zueinander; nicht wechselseitig, sondern subordinativ (vgl. Pieper 2010, 156).

8.2 Selbsthaftigkeit ist der Grund des Nihilismus Ist es aber nicht in Wirklichkeit so, dass der Geist nur allzu oft nicht im Sinne der leiblichen Gesamtheit Mensch agiert? Der Nihilismus ist das beste Beispiel für ein solches Ego-istisches Verhalten, insofern er als eine Abwendung vom Leben zu verstehen ist. Im christlichen Asketismus etwa – dieser heimlichen, besonders mächtigen Spielart des Nihilismus – wendet sich der Geist, wie im Vorfeld angesprochen, gegen den Leib, aus dem er doch eigentlich herkommt und von dem er abhängig ist⁵¹⁷ – so gesehen könnte man dem Christentum vorwerfen, selbst eine Form von Hybris zu praktizieren (oder mindestens zu protegieren): den Hochmut des Geistes gegenüber dem Leib. – Der Geist setzt nun eigene Zwecke, erfindet eine metaphysische Welt, ein dem Diesseits übergeordnetes Jenseits,⁵¹⁸ das ganz und gar geistig gestaltet ist; nicht umsonst spricht man von der noumenalen Welt. Indem der Geist aber solcherart den Leib verleugnet, begeht er einen schrecklichen Selbstwiderspruch, denn er selber ist nichts anderes als sublimierter Leib. Die leibliche Einheit Mensch, das polyfone und fragile Selbstverhältnis, gerät somit in eine erhebliche Schieflage, wird endgültig zum Missverhältnis. Dem Menschen ist nun im buchstäblichen Sinne nicht mehr wohl in seiner Haut. Er fühlt sich immer weniger heimisch im Diesseits. Mit der Erfindung der noumenalen Welt durch den Geist ist allerdings der Ausgangspunkt des Nihilismus noch nicht getroffen, sondern es handelt sich um eine ihrerseits bereits aus dem Nihilismus geborene Aktion, die ursprünglich gerade als Reaktion auf und gegen den aus dem Leiden erwachsenen Nihilismus gedacht ist: Leiden war’s und Unvermögen  – das schuf alle Hinterwelten; und jener kurze Wahnsinn des Glücks, den nur der Leidendste erfährt./Müdigkeit, die mit Einem Sprunge zum Letzten will, mit einem Todessprunge, eine arme unwissende Müdigkeit, die nicht einmal mehr wollen will: die schuf alle Götter und Hinterwelten. (Z Hinterweltlern; KSA 4, 36)

516 „Das Selbst sagt zum Ich: ‚hier fühle Schmerz!‘ Und da leidet es und denkt nach, wie es nicht mehr leide – und dazu eben so ll es denken./Das Selbst sagt zum Ich: ‚hier fühle Lust!‘ Da freut es sich und denkt nach, wie es noch oft sich freue – und dazu eben s o l l es denken“ (Z Verächtern; KSA 4, 40). 517 „In Nietzsches Zarathustra findet sich schon die Formulierung vom Leib als einer ‚großen Vernunft‘, d. h. es gibt nicht eine Vernunft jenseits des Leibes, die in einem eigenen Bereich des Geistes angesiedelt wäre, sondern eine Vernunft, die dem Leib innewohnt“ (Waldenfels 2000, 22). 518 Dieses Jenseits ist, wie gesagt, eine bloße Erfindung, ein „Geistgespinst“ gewissermaßen, ein „Wolkenkuckucksheim“ oder, mit Zarathustras Worten: ein „himmlisches Nichts“ (Z I Hinterweltlern; KSA 4, 36).

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Es ist der Geist, der über diese Welt des Leidens, in der sich der Mensch immer schon vorfindet, das Urteil des Nihilismus verhängt und sich darum (einfach) eine andere Welt erfindet. „Ein Nihilist“, hält Nietzsche einmal fest, „ist der Mensch, welcher von der Welt, wie sie ist, urtheilt, sie sollte n i ch t sein, und von der Welt, wie sie sein sollte, urtheilt, sie existirt nicht“ (NL 1885–1887, KSA 12, 9[60], 366). Zu einem solchen Urteil kommt der Geist, weil er seine Stellung in der Welt, in der er eben nicht selbstverständlich aufgeht, kritisch reflektiert. Anders ausgedrückt: Er verhält sich als Geist zu sich selbst als der Gesamteinheit Leib, indem er sich als „In-sein in Distanz“⁵¹⁹ begreift. Aus dieser Distanz erhält er überhaupt erst einen Blick auf diese Welt, in die er nolens volens hineingestellt ist, erkennt in ihr einen agonalen Ort des fortlaufenden Werdens und Vergehens und fällt darum das Urteil, sie solle nicht sein. Das alles lässt sich aus (A) konstruieren. Aber damit zum Nihilismus nicht genug. Um seine Stellung in der Welt bedenken zu können, muss der Mensch natürlich erst einmal ein Selbstbewusstsein und eine Identität entwickeln. Dies geschieht, indem er lernt, sich zu erinnern. Mit dem Erinnern geht ihm indes auf, dass er zeitlich ist, d. h. er erfährt sich selbst als vergänglich. Auch hierzu muss er sich selbstverständlich verhalten. Das wurde in (B) gezeigt. Mit dem Begreifen der eigenen Zeitlichkeit und zumal mit dem Bedenken des eigenen Todes taucht die Möglichkeit, dass dies alles, das Ich und die Welt, gar nicht hätten sein müssen oder paradox formuliert: auch hätten nicht sein können, vor dem geistigen Auge des Menschen auf. Mensch und Welt sind modallogisch gesprochen zwar faktisch, jedoch nicht notwendig wahr. Es hätte auch gar nichts oder ein anderes Ich oder eine andere Welt sein können, eine Erkenntnis, die zugleich der Ursprung des nihilistischen Wunsches ist, anders zu sein, als man de facto ist.⁵²⁰ Der Mensch macht somit sowohl die Erfahrung des Nichts als auch die der Kontingenz⁵²¹. Dies hat Nietzsche in Ueber Wahrheit und Lüge (C) eindrucksvoll geschildert. Erst indem der Mensch

519 Anders zit. nach Dries 2009, 25 (Das Zitat entstammt dem unveröffentlichten Vortrag Die Weltfremdheit des Menschen (1930) von Günther Anders, einem Typoskript, das im Österreichischen Literatur Archiv ausliegt). 520 Es ist dies freilich insofern ein verzweifelter Wunsch, als man, wenn man tatsächlich anders wäre, als man ist, nicht mehr man selbst wäre. Mit anderen Worten: Es ist nicht möglich, anders zu sein, als man ist, ohne gleich ein anderer zu sein, als man ist. 521 Kontingenz bedeutet der klassischen Definition des Aristoteles gemäß: „[E]s kann etwas zwar vermögend sein zu sein und doch nicht sein oder vermögend nicht zu sein und doch sein“ (Met., 1047a). Unter metaphysischem Gesichtspunkt ist Gott das einzige nicht kontingente Wesen, weil „als ‚k[ontingent]‘ alles bezeichnet[wird], was nicht aus eigener ‚Wesensnotwendigkeit‘ heraus existiert“ (Wolters 1995, 455). Deutlicher als bei Aristoteles rückt bei einer weiteren „klassischen“, wenn auch bedeutend jüngeren Definition von Kontingenz die Möglichkeit des Anders-Seins in den Brennpunkt. So versteht Niklas Luhmann Kontingenz wie folgt: „Kontingent ist etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist. Der Begriff bezeichnet mithin Gegebenes (zu Erfahrenes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes) im Hinblick auf mögliches Anderssein; er bezeichnet Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen“ (Luhmann 1984, 152).

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begreift, dass die Welt prinzipiell auch nicht sein oder anders sein könnte, kann er überhaupt sein oben zitiertes nihilistisches Urteil über die Welt fällen. Das Gleiche gilt selbstredend auch für ihn selbst. Wenn, wie in (C) behauptet, das Erfassen der Weltkontingenz mit dem der Ichkontingenz einhergeht, dann liegt ein nihilistisches Urteil des Menschen über sich selbst genauso nahe, wie der Bannspruch über die Welt. Ein Nihilist wäre demnach – so müsste man Nietzsches oben zitierte Definition des Nihilisten ergänzen – der Mensch, welcher über sich selbst, wie er ist, urteilt, er sollte nicht sein, und über sich, wie er sein sollte, urteilt, er existiert nicht. Dieses Urteil des Geistes liegt vorzugsweise dann nahe, wenn der Mensch sich als ein Mängelwesen begreift (z. B. in epistemologischer Hinsicht (vgl. (C)). Die mangelhafte Art und Weise seines Soseins, d. h. seines als ungenügend empfundenen Bestimmtseins, spricht genauso wie die Erfahrung des den Menschen Staunen machenden sich nicht von selbst erklärenden Sich-in-der-Welt-Vorfindens gegen dessen ontische Autonomie – wäre er ontisch autonom, hätte er sich vermutlich anders und zwar irgendwie besser geschaffen. Der Mensch ist offenbar keine Causa sui, mithin kein Wesen, das absolut aus sich selbst heraus und allein durch sich selbst ist, was es ist.⁵²² Vielmehr gibt dem Menschen sein eigener Grund⁵²³ Rätsel auf.⁵²⁴ Konsequenterweise fragt er der Herkunft seines Seins nach. Dabei erweist sich

522 Überhaupt hält Nietzsche die Vorstellung einer Causa sui für blanken Unsinn: „Die causa sui ist der beste Selbst-Widerspruch, der bisher ausgedacht worden ist, eine Art logischer Nothzucht und Unnatur: aber der ausschweifende Stolz des Menschen hat es dahin gebracht, sich tief und schrecklich gerade mit diesem Unsinn zu verstricken. Das Verlangen nach ‚Freiheit des Willens‘, in jenem metaphysischen Superlativ-Verstande, wie er leider noch immer in den Köpfen der Halb-Unterrichteten herrscht, das Verlangen, die ganze und letzte Verantwortlichkeit für seine Handlungen selbst zu tragen und Gott, Welt, Vorfahren, Zufall, Gesellschaft davon zu entlasten, ist nämlich nichts Geringeres, als eben jene causa sui zu sein und, mit einer mehr als Münchhausen’schen Verwegenheit, sich selbst aus dem Sumpf des Nichts an den Haaren in’s Dasein zu ziehn“ (JGB 21; KSA 5, 35). Vgl. auch GD Vernunft 4; KSA 6, 76, an welcher Stelle Nietzsche den Glauben an die Causa sui und andere „‚höchste Begriffe[]‘“ als „Gehirnleiden kranker Spinneweber“ diffamiert. Hier stört er sich vor allem daran, dass die Menschen und insbesondere die Philosophen die Vorstellung nicht akzeptieren können, dass etwas von ihnen zu höchst Geehrtes aus etwas weniger Geehrtem hervorgegangen sein, ja dass es überhaupt geworden und gewachsen sein könnte. Stattdessen sind sie überzeugt: „Alles, was ersten Ranges ist, muss causa sui sein.“ Auch Nietzsches von mir in (C) angeführte Behauptung, der Mensch habe den Intellekt erfunden, kann als Argument gegen die menschliche Selbstsetzung genommen werden, wenngleich sie zunächst gerade der Selbstsetzung das Wort zu reden scheint. Der Intellekt ist etwas Gewordenes, genau wie der Mensch selbst, dessen Werkzeug der Intellekt ist. Er geht eben nicht als Setzung aus einer ursprünglichen Mächtigkeit des Menschen hervor, sondern ist ein herausragendes Beispiel dafür, wie gerade die Not erfinderisch macht. Der Intellekt ist die überlebensnotwendige Antwort auf einen Mangel, er ist sozusagen eine Kompensationsgeburt. 523 Mit Grund ist hier der Ursprung des Seins des Menschen gemeint, sein Von-Woher, wie sich in Anlehnung an Aristoteles formulieren lässt: „Grund ist das Erste, von woher etwas ist oder wird“ (Met., 1013a18). 524 Für Heidegger ist das Dass des Gesetztseins im Sinne der Geworfenheit das letzte Wort, wenn wir unserem Ursprung nachfragen. Hinter dem Dass, d. h. der Faktizität unseres Daseins, liegt der

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das Von-Woher des Menschen als ein blinder Fleck, als ein schwarzes Loch gewissermaßen, das alle Gewissheiten absorbiert und nur fragwürdige Möglichkeiten zurücklässt. Gott ist eine solche fragliche, mögliche Erklärung, die zudem anderen möglichen Seinsgründen gegenüber den Vorteil bietet, dem Leiden in der Welt einen Sinn zu geben. Aber Gott lässt sich nicht beweisen. Für Nietzsche steht sogar unumstößlich fest, dass Gott tot ist. Daraus ergibt sich bei Nietzsche die folgende Konstellation: Der Mensch verhält sich zu sich selbst und in diesem Sich-zu-sich-selbst-Verhalten verhält er sich immer auch zu dem, wodurch er in die Welt (aus)gesetzt worden ist als zu seinem Grunde. Soweit ist Nietzsche noch weitgehend mit Kierkegaard (mit dessen Schriften er freilich nicht vertraut war) auf Kurs, der das Selbst in der Krankheit zum Tode als eine durch ein Anderes gesetzte Synthese begreift. Im maßgeblichen Unterschied zum religiösen Denker Kierkegaard, für den dieses Andere Gott ist⁵²⁵ (die „Macht, welche es[das Selbst – E.B.] gesetzt hat“; Kierkegaard 1985,[1849], 10), ist der das Dasein bedingende Grund für Nietzsche aber der pure Zufall⁵²⁶ und damit letzten Endes nichts; zumindest wenn man in der Kategorie des Sinns denkt. Denn von diesem Grund aus und auf diesen Grund hin lässt sich kein Sinnhaftigkeit generierender Bezug zum Begründeten herstellen, das also so gesehen unbegründet, d. h. grundlos ist. Der Mensch ist, wie es Anders auf den Punkt gebracht hat,

Bereich des grundsätzlich Unergründlichen, mit dem sich nicht rechnen lässt: „Auch wenn Dasein im Glauben seines ‚Wohin‘ sicher ist oder um das Woher zu wissen meint in rationaler Aufklärung, so verschlägt das alles nichts gegen den phänomenalen Tatbestand, daß die Stimmung das Dasein vor das Daß seines Da bringt, als welches es ihm in unerbittlicher Rätselhaftigkeit entgegenstarrt“ (Heidegger 2006[1927], 136). 525 Kierkegaards bekannte Bestimmung des Selbst lautet: „Der Mensch ist Geist. Was aber ist Geist? Geist ist das Selbst. Was aber ist das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das an dem Verhältnisse, daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält. (…) Ein solches Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, ein Selbst, muß entweder sich selbst gesetzt haben, oder durch ein Andres gesetzt sein. Ist das Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, durch ein Anderes gesetzt, so ist das Verhältnis freilich das Dritte, aber dies Verhältnis, dies Dritte, ist dann doch wiederum ein Verhältnis, verhält sich zu demjenigen, welches das ganze Verhältnis gesetzt hat. Ein solches abgeleitetes, gesetztes Verhältnis ist des Menschen Selbst, ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, und, indem es sich zu sich selbst verhält, zu einem Andren sich verhält“ (Kierkegaard 1985,[1849], 8f.). Wie oben festgestellt, für Kierkegaard ist der Mensch durch Gott gesetzt. In einem entsprechenden Selbstverhältnis, welches das Verhältnis zu Gott explizit und affirmativ einbezieht, wird die Verzweiflung – bei Nietzsche der Nihilismus; die Verzweiflung ist eine nihilistische Befindlichkeit – gebannt. Der Mensch kann sich Gott jedoch auch verweigern. Weil der Mensch sich als Existierender wesensgemäß immer zu sich selbst verhält, und das bedeutet, auch dazu verhält, dass er sich nicht selbst gesetzt hat, besteht für ihn immerfort die Möglichkeit der Verzweiflung. Er kann daran verzweifeln, dass er eine Synthese ist, d. h. eine Einheit in Bewegung, genauer: eine Einheit aus sich widersprechenden Teilen. Er kann zu jeder Zeit an der Aufgabe verzweifeln, er selbst (d. i. eine einheitliche Einheit) zu werden, ein heiles Selbst. 526 Seit Kant spricht man im Deutschen von der Kontingenz auch als von der Zufälligkeit (vgl. Brugger 1976, 1032).

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der „Nichtgemeinte“ (Anders 2002[1980], 385) und steht als solcher wesensgemäß in einer Beziehung zum Nichts und zur Sinnlosigkeit. Damit ist noch nicht entschieden, wie er sich zum Nichts verhält, ob er dem Nihilismus anheimfällt oder nicht. Aber, wie gesagt, als äußerste Möglichkeit, sich zu sich selbst zu verhalten, ist der Nihilismus immer, in jedem Augenblick da.⁵²⁷ Um diese wesenhafte Bezogenheit des Menschen auf das Nichts weiß auch Zarathustra und er ist bereit, sein Wissen Preis zu geben. Mehr noch drängt es ihn dazu, ist er doch seiner „Weisheit überdrüssig, wie die Biene, die des Honigs zu viel gesammelt hat“. „[I]ch bedarf der Hände, die sich ausstrecken. Ich möchte verschenken und austheilen“ (Z I Vorrede 1; KSA  4, 11), lässt der Weise die Sonne  – seine Lehrmeisterin, die große Lebensspenderin und das erhellende Medium par excellence – wissen, bevor er aus der Höhe seiner Gebirgshöhle in die Tiefen des Tales hinabsteigt. Diese Bedürftigkeit des Überreichen ist überhaupt der Grund dafür, dass Zarathustra, nachdem er sich zehn Jahre seiner Einsamkeit erfreut hat, wieder zu den Menschen zurückkehrt. Nichtsdestotrotz ist seine sich verschenkende Weisheit nicht billig zu haben. Schließlich handelt es sich nicht einfach um irgendein (x-beliebiges) Wissen, das er der Welt zur Verfügung stellen will, sondern um eine existenzielle Weisheit. Zarathustras Epistéme (sein Sich-verstehen-auf) bezieht sich darauf, wie nach dem Tode Gottes zu leben sei. Seine Weisheit bzw. seine Lehren zielen darauf ab, ein Leben zu ermöglichen, das sich nicht in den Fängen des Nihilismus verstrickt. Dabei handelt es sich keineswegs um Lehren im klassischen Sinn; solche sind sie nicht und wollen sie auch gar nicht sein, wie schon der Untertitel von Also sprach Zarathustra indiziert: Ein Buch für Alle und Keinen. Traditionell zielen Lehren immer auf einen allgemeinen Sinn ab. Sie sollen idealiter „von allen auf möglichst gleiche Weise verstanden werden“ (Stegmaier 1997, 408). Dadurch aber, dass Nietzsche die im Zarathustra vorgetragenen Lehren in den Rahmen einer Handlung einbettet, erfolgt, worauf Werner Stegmaier eindringlich hingewiesen hat, eine Brechung des allgemeinen Sinns der Lehren am individuellen Sinn der Handlung. Wer nun glaubt, eine Lehre Zarathustras als Lehre, d. h. in ihrer allgemeinen Bedeutung, erfasst zu haben, der ist einem Trugschluss aufgesessen, besser noch: der hat kurzgeschlossen, denn tatsächlich hat er sie nur im Rahmen des individuellen Sinns verstanden, den er selbst der Lehre verliehen hat. Er „glaubt, die Lehre zu verstehen, und versteht doch nur sich selbst“ (Stegmaier 1997, 408).⁵²⁸ Zarathustras Lehren werden also nur dann wirklich verstanden, wenn sie derjenige, der sich beschenken lassen möchte, nicht nur verstehend

527 Dass der Nihilismus in der ursprünglichen Selbst- und Welterfahrung, in dem Gewahrwerden der Kontingenz, mit welcher der Mensch sich konfrontiert sieht, liegt, bemerkt auch Ansell-Pearson 1994, 203: „On one, deep level nihilism is something primordial which lies at the origins of the human experience of existence, in the sense that it denotes our recognition that our being-there rests on the possibility of our not being-there. This is our experience of the nihil (das Nichts) (…).“ 528 Dieser Einsicht folgend spricht Stegmaier auch nicht mehr von Zarathustras Lehren, sondern nur noch von dessen „Anti-Lehren“.

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nachvollzieht, sondern sie sich zudem aneignet. Auch Zarathustras das Nichts einbeziehende Definition⁵²⁹ des Menschen ist dementsprechend nicht als eine klassische, auf allgemeine Verständlichkeit abzielende Wesensbestimmung gemeint, die sich bemüht, objektiv festzustellen, was der Mensch ist. (In Wahrheit hat man es also gar nicht mit einer Definition zu tun.) Was sie für sich in Anspruch nimmt, ist weniger eine theoretische Gültigkeit als eine praktische Bedeutsamkeit: Der Mensch soll sich auf eine bestimmte Weise verstehen, die in eine bestimmte Praxis mündet. Mehr als alles andere ist Zarathustras Bestimmung des Menschen eine Aufforderung an den einzelnen Menschen, sich gemäß des vermittels der Bestimmung erzeugten (neuen) Selbstverständnisses zu verhalten  – ein „call to action“ (Rosen 2004, 41). Das von Zarathustra geprägte Bild vom Menschen als einem Seil über einem Abgrund, dem ich mich im Weiteren eingehend widmen möchte, ist somit buchstäblich ein Vorbild: ein Bild, das sich der einzelne Mensch als Orientierungshilfe für sein künftiges Handeln vorhalten soll. Nicht, was man ist, steht für Nietzsche/Zarathustra an erster Stelle, sondern wie man ist, wobei das Wie das Was letztlich bestimmt. Wie sich zeigen wird, geht Zarathustra nämlich davon aus, dass jeder Mensch es selbst in der Hand hat, ob er nun eher ein Tier, ein Mensch oder sogar ein Übermensch ist. Um sich auf eine ihm gemäße Weise mitzuteilen, d. h., um sich allen und niemandem verständlich zu machen, kleidet Zarathustra seine „Definition“ des Menschen in ein Bild, das er sich von der Situation, in der er sich gerade befindet, vorgeben lässt. Weil er möglichst viele Menschen mit seiner Weisheit beschenken möchte, hat er sich auf den Marktplatz als einem bevölkerten Ort begeben. Und er hat Glück. Heute gibt es hier etwas Außergewöhnliches zu sehen, weswegen sich besonders viele Menschen versammelt haben. Sie sind gekommen, um einen Seiltänzer bei seiner lebensgefährlichen Profession zu beobachten. Als der Seiltänzer das Seil endlich betritt, hebt auch Zarathustra zu sprechen an: Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch,  – ein Seil über einem Abgrunde./Ein gefährliches Hinüber, ein gefährliches Auf-dem-Wege, ein gefährliches Zurückblicken, ein gefährliches Schaudern und Stehenbleiben. (Z I Vorrede 4; KSA 4, 16)

Der Mensch ist also ein Seil, und zwar – was wichtig ist – ein gespanntes Seil. Weder liegt es einfach am Boden, noch ist es einseitig an irgendein Objekt gebunden, sondern zwischen zwei Enden geknüpft, die, da sie für die Spannung des Seils sorgen, aus der sich überhaupt erst eine gewisse Höhe und mit ihr der Abgrund ergibt, unbedingt mit zum Menschen gehören. Außerdem ist der Mensch „ein gefährliches Auf-dem-Wege“; gefährlich, insofern er von der Gefahr des Zurückblickens, des Schauderns und Stehenbleibens bedroht ist. Nun ist schwer einzusehen, wieso das Seil in Gefahr sein sollte. Was könnte einem, im Übrigen festgebundenen Seil zustoßen, selbst wenn es

529 In der Genealogie der Moral hält Nietzsche parenthetisch fest, „definirbar ist nur Das, was keine Geschichte hat“ (GM II 13; KSA 5, 317).

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sich lösen und auf den Boden fallen sollte? Die Knochen kann es sich jedenfalls nicht brechen. Sofern er das Seil ist, scheint der Mensch sonach nicht in Gefahr zu schweben. Die Gefahr, die Zarathustras Bild beschwört, ergibt sich in Wahrheit daraus, dass das Seil (der Mensch) statt unterwegs (auf dem Wege) zu sein, der Weg selbst ist. Denn über ein gespanntes Seil geht es sich nicht so einfach. Vielmehr muss man vorsichtig darüber balancieren, wenn man nicht herunterfallen möchte, was vor allen Dingen dann unbedingt vermieden werden sollte, wenn es kein Netz und keinen doppelten Boden gibt, welche den allezeit möglichen Absturz einigermaßen sanft stoppen würden, sondern allein einen gähnenden Abgrund, der den Stürzenden mit offenen, aber tödlichen Armen empfängt. Dass jedes Zurückblicken, Schaudern (vermutlich beim Blick nach vorne) und vor allem Stehenbleiben das ohnehin hohe Risiko des Absturzes noch zusätzlich erhöht, versteht sich von selbst. Das Seil ist also der gefährliche Weg. Und weil der Mensch das Seil ist, ist der Mensch der Weg. Wer ist aber auf dem Wege? Wer ist es, der da seinen stets vom Absturz bedrohten Weg vis-à-vis de rien geht? Kurzum: Wer ist der Seiltänzer? Es ist, was zunächst verwirrend klingen mag, niemand anderes als der Mensch. So ist denn der Mensch das Seil und der Seiltänzer zugleich. Das bedeutet, er ist sein eigener gefährlicher Weg und sein eigener Abgrund. Aber wie ist das nun wieder zu verstehen? Wie kann der Mensch zwei verschiedene Dinge zur gleichen Zeit sein? Ist das nicht eine befremdliche Vorstellung? Wie so oft bei Nietzsche liegt des Rätsels Lösung in der Perspektive. Nur derjenige wird Anstoß nehmen an dem Gedanken, der Mensch sei Seil und Seiltänzer in einem, der das Seil bzw. den Menschen verdinglicht und solcherart übersieht, dass der Mensch ein existierendes Wesen ist, das als solches im Werden steht bzw. richtiger: sich im Werden selber bewegt. Annemarie Pieper ist darin beizupflichten, dass man das Seil nicht „als dingliches Zeichen für etwas ebenfalls Dingliches“ auffassen dürfe, weil bei Zarathustra „Wörter wie Affe oder Tier, Mensch und Übermensch Namen für ein Tun, für eine von einem bestimmten Selbstverständnis geleitete Tätigkeit“ sind. Genauso „steht auch das Bild des Seils für ein Tun, für eine Anspannung und eine Aktivität“ (Pieper 2010, 64). Und diese Aktivität bringt allererst den Weg hervor, der abbricht, wenn der Mensch sein Ziel aus den Augen verliert, wenn er also zurückblickt, zaudert oder stehen bleibt. Der Seiltänzer geht auf dem Seil und über das Seil, das er ist, womit gesagt ist, dass er sich beständig überwindet und doch im selben Augenblick wieder neu hervorbringt. Man könnte auch sagen, er lasse sich immerfort hinter sich, um bei sich selbst anzukommen.⁵³⁰ Der Mensch als Seil und Seiltänzer ist ein Wesen, das sich durch eine immanente Transzendenz auszeichnet: Wenngleich der Seiltänzer sowohl für die reine Tätigkeit der Selbstüberwindung im geschilderten Sinne als auch für das Verlangen, sich zu übertreffen und zu verbessern⁵³¹ steht, so bleibt er dabei doch immer an das Seil gebunden. Das Seil ist der Weg, den er nicht verlassen 530 „Das Gehen des Weges ist mit jedem Schritt ein Weggehen und ein Ankommen“ (Pieper 2010, 65). 531 „The rope-dancer represents the desire to excel, to surpass, to overcome (überwinden)“ (Rosen 2004, 40).

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kann. Sein Ziel kann demnach nicht darin bestehen, „fliegen zu lernen, d. h. sich irgendwann einmal vom Seil loslösen zu können“, wohl aber darin, „das Seil immer besser[zu] beherrschen“ (Pieper 2000a, 98). Es ist dem Menschen nicht gegeben, sich als solchen zu transzendieren oder, um im Bild zu bleiben, über den unter dem Seil klaffenden Abgrund hinwegzufliegen. An Stelle dessen muss er mit den Füßen am Seil, das er selbst ist, bleiben und über sich hinwegschreiten (sich transzendieren), ohne sich dabei aber wirklich verlassen, d. h. endgültig überschreiten zu können, wie einen Fluss oder einen Berg, den man auf seinem weiteren Weg hinter sich lässt. Der Mensch ist also in seiner Selbsthaftigkeit buchstäblich unhintergehbar. Sehr wohl ist ihm unterdessen (potenziell) gegeben, es im Rahmen der immanenten Transzendenz zu einer solchen Meisterschaft zu bringen, dass er gleichsam über den Abgrund zu schweben scheint, indem er mehr tanzt als geht oder balanciert.⁵³² Worauf es bei der immanenten Transzendenz ankommt, ist also, wie man sich überschreitet. Die Bandbreite der Möglichkeiten des Sichüberschreitens reicht dabei vom Tanzen als der gelungensten bis zum Absturz als der misslungensten Variante. Indessen gehört zum Wie des Schreitens auch die Richtung, die man dabei einschlägt. Weiter oben habe ich gesagt, die Enden, an die das Seil geknüpft ist, sind genauso Teil von Zarathustras den Menschen meinenden Metapher wie das Seil und der Seiltänzer. Sonach kann der Mensch in zwei verschiedene Richtungen gehen. Er kann sich steigern, wenn er sich den Übermenschen zum Ziel nimmt und so gesehen nach vorne schreitet. Er kann sich jedoch auch verschlechtern, sich gewissermaßen unterschreiten, indem er zurück schreitet, in Richtung des Tieres. Dieser Weg zurück ist vermutlich nicht so beschwerlich wie der Weg nach vorn und schon allein aus diesem Grund verlockend.⁵³³ Deswegen ist er jedoch nicht weniger gefährlich; denn er führt direkt in die Dekadenz und damit, wenn auch still und heimlich, in den Nihi-

532 Bereits in der Fröhlichen Wissenschaft schwebt Nietzsche diese Meisterschaft als ein Ideal des Lebensvollzugs vor: „(…) umgekehrt wäre eine Lust und Kraft der Selbstbestimmung, eine Fre i h e i t des Willens denkbar, bei der ein Geist jedem Glauben, jedem Wunsch nach Gewissheit den Abschied giebt, geübt, wie er ist, auf leichten Seilen und Möglichkeiten sich halten zu können und selbst an Abgründen noch zu tanzen. Ein solcher Geist wäre der fre i e G e i s t par excellence“ (FW 347; KSA 3, 583). In diesem Aphorismus spricht Nietzsche allerdings von Seilen im Plural und nicht von dem einen Seil, das der freie Geist selbst ist. Einen Widerspruch zu Zarathustras „Definition“ des Menschen sehe ich darin jedoch nicht. Nietzsche bringt die Seile in Verbindung zu verschiedenen Möglichkeiten, denen wiederum jeweilige Abgründe zugeordnet werden können. Jedes Seil ist der Mensch auf seinem jeweils eingeschlagenen Weg, oder ist ein möglicher Weg, den er einschlagen könnte. Da das Selbstverhältnis Mensch immer davon bedroht ist, sich zu verfehlen, indem es zu einem Missverhältnis wird, kann es niemals einen sicheren Weg, d. h. einen Weg auf festem Boden geben. Wohin wir auch gehen, wir tragen unsere Abgründe immer mit uns, unter uns und vor uns her. 533 Der Weg nach vorn verlangt vom Menschen die permanente Selbstüberschreitung auf eine höhere Stufe (Übermensch) hin. Der Weg zurück läuft gewissermaßen auf eine permanente Selbstunterschreitung auf eine niedrigere Stufe (Tier, letzter Mensch) hinaus. Sowohl die Selbstüberschreitung als auch die Selbstunterschreitung sind aber Weisen der immanenten Transzendenz, für die es als solche unerheblich ist, in welche Richtung der Überschritt erfolgt. Es dürfte aber auf der Hand liegen, dass

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lismus. Der Weg zurück kann daher durchaus als eine eigene Art Absturz ins Nichts angesehen werden; eigentlich hat man es mit einem langsamen Abstieg ins Nichts zu tun, wobei die Vorstellung eines Abstiegs das Bild vom gespannten Seil natürlich strapaziert. Der Mensch ist das selbsthafte Wesen. Folglich ist er dazu in der Lage, sich selbst z. B. als Seiltänzer und Seil in einem zu begreifen, wofür er sich selbst jedoch erst einmal zum Thema machen muss. Geschieht dies, so hat er sich selbst transzendiert. Er ist auf Distanz zu sich selbst gegangen, mit dem Resultat, dass er sich selbst in den Blick bekommen hat. Was zeigt sich seinem inneren Auge? Natürlich ein Seiltänzer auf einem Seil, gespannt zwischen zwei Enden, über einem Abgrund. Das alles, das Seil, der Seiltänzer usw. ist er, der Blickende. Wenn er nun über sich selbst als den Blickenden nachdenkt, transzendiert er sich ein weiteres Mal. Was denkt bzw. sieht er jetzt? Natürlich einen Seiltänzer auf einem Seil, gespannt zwischen zwei Enden, über einem Abgrund, der auf einen Seiltänzer auf einem Seil, gespannt zwischen zwei Enden, über einem Abgrund blickt. Dieses Spiel lässt sich ad infinitum weiter treiben, wie jeder Philosophiestudent spätestens im dritten Semester weiß. Die Bekanntheit des Gedankens schmälert unterdessen keineswegs die Wucht seines Inhalts. Er besagt: Immer, wenn wir über uns nachdenken, überschreiten wir uns selbst und bekommen uns doch niemals endgültig in den Blick, geschweige denn, dass wir wirklich von uns los kämen. Wir sind als Menschen zur immanenten Transzendenz verurteilt. Aus dieser Erkenntnis lässt sich leicht ein erkenntnistheoretischer Nihilismus konstruieren, worum es mir aber nicht zu tun ist. Dahingegen kommt es mir darauf an, dass wir durch diese wesenhafte Selbsthaftigkeit immer wieder dazu verleitet werden, über uns selbst zu urteilen. Dieses Urteil kann im Extremfall vernichtend ausfallen. Wir können zu dem Ergebnis kommen, dass unsere Existenz nichtig ist. Dann entscheiden wir uns gegen uns selbst und für den Nihilismus, der freilich in uns selbst wurzelt. Der Nihilismus ist in seinem Kern ein negatives, mehr noch: vernichtendes Selbsturteil. Zarathustras Bild vom Menschen als Seil und Seiltänzer über einem Abgrund inkludiert den Nihilismus als gefährliche Möglichkeit der immanenten Transzendenz des Menschen. Es will sagen, der Mensch habe es als selbsthaftes, vernünftiges Wesen unbedingt mit dem Nihilismus zu tun. Er kann als Erkenntnissubjekt noch so unendlich weit hinter sich selbst zurücktreten – der Abgrund bleibt dennoch in seinem Blickfeld. Mehr noch: Er nimmt den Abgrund bei jedem Schritt mit. Auch das Erkenntnissubjekt geht auf einem Seil über einem Abgrund, während es sich als ein Seiltänzer auf einem Seil über einem Abgrund begreift; es kann niemals ein reines Subjekt der Erkenntnis sein, sondern ist als Erkenntnissubjekt nur ein Modus des Sich-zu-sich-selbst-Verhaltens eines existierenden Wesens (Mensch). Was bedeuten diese Überlegungen für die Möglichkeit einer Überwindung des Nihilismus? Insofern der Nihilismus im Menschen selbst wurzelt, scheint es unmöges sehr viel schwieriger ist und einen viel höheren Einsatz vom Einzelnen verlangt, sich zu steigern (Überschreitung) als sich zu verschlechtern (Unterschreitung), was wie von selbst geschieht.

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lich, das Übel mit der Wurzel herauszureißen. Ist der Nihilismus also unser Schicksal? Ja, im Sinne einer gefährlichen Möglichkeit ist er das tatsächlich; denn als denkendes Wesen kommt der Mensch nicht aus dem Denken heraus,⁵³⁴ und das impliziert, dass er nicht um das Urteilen – als einer wesentlichen Form des Denkens – herumkommt. Und weiter: Als selbsthaftes, denkendes Wesen kommt er nicht umhin, Urteile auch über sich selbst zu fällen. Auf diese Weise ist der Nihilismus also unaustilgbar. Er lässt sich nicht ein für alle Male zurückweisen und solcherart abschließend überwinden. Vielmehr muss er je aufs Neue negiert werden, indem der durch ihn angefochtene Mensch der Möglichkeit „Nihilismus“ die Transformation in die Wirklichkeit versagt. Dies gelingt indessen nur dann, wenn der Mensch sein Dasein bejaht, wenn er sich also nicht selbst verurteilt (oder die Welt, die er bewohnt). Konsequenterweise muss eine Philosophie, die den Nihilismus in die Schranken weisen will, eine Philosophie der Bejahung sein. Bekanntlich ist es aber eines, ein Problem und vielleicht sogar dessen Lösung zu erkennen, ein anderes hingegen, diese Lösung auch zu vollziehen. Das Sprichwort: „Gefahr erkannt, Gefahr gebannt“, ist gewissermaßen nur in transzendentaler Hinsicht wahr: Die Erkenntnis ist nur eine günstige Voraussetzung für die Lösung des Problems, keineswegs aber eine hinreichende Bedingung. Im Rahmen von Nietzsches Philosophie der Bejahung des Daseins, die zugleich eine Philosophie der Verneinung der Wirklichkeit des Nihilismus ist, wird dies besonders deutlich. Um die Bejahung wirklich und von ganzem Herzen zu vollziehen, womit gemeint ist: um leben zu können, muss der Mensch sich selbst überwinden, was vorzüglich eine Erweiterung seiner Perspektiven und seines Denkens bedeutet. Er muss über das rein begriffliche Denken hinauskommen und sich (wieder) als große Vernunft des Leibes begreifen. Der Mensch ist im Wesentlichen nicht allein Ratio, sondern genauso auch Emotio, wobei – ein Punkt, der Nietzsche sehr wichtig ist – die Letztgenannte das Denken motiviert. Darin, die Leidenschaften zu kultivieren, könnte der Schlüssel zur Bejahung des Daseins liegen. Wer die Welt und das bzw. sein Leben einzig mit den kalten Augen der Vernunft betrachtet (so weit das möglich ist), dem dürfte es, namentlich wenn er Nietzsche gelesen hat, tatsächlich schwerfallen, zu einem anderen Ergebnis zu kommen als zum Verdikt der Sinnlosigkeit. Zu schwer wiegt die

534 Wenn man einmal über die Unumgänglichkeit des Denkens nachdenkt, kann einem sehr wohl unheimlich zumute werden. Der unter den Menschen weitverbreitete Wunsch z. B. nach einem harten Arbeitstag oder einer längeren Periode erhöhter Konzentration eine Weile „abzuschalten“, womit gemeint ist, eine gewisse Dauer nicht nachdenken zu müssen, offenbart sich dem über das Denken Nachdenkenden als unerfüllbar. Es mag eine extreme Sichtweise sein, wenn man angesichts dieser Erkenntnis wie George Steiner von einer Art Tyrannei des Denkens spricht – haltlos ist sie unterdessen keineswegs: „Wie wir gesehen haben gibt es zwei Prozesse, die der Mensch zu seinen Lebzeiten nicht anhalten kann: Atmen und Denken. In der Tat können wir unseren Atem für länger anhalten als unser Denken (falls dies überhaupt möglich ist). Bei näherer Betrachtung bedeutet diese Unfähigkeit, das Denken zum Stillstand zu bringen, eine Pause vom Denken einzulegen, einen erschreckenden Zwang. Sie erlegt uns eine tyrannische, lastende Knechtschaft auf. In jedem Augenblick unseres Lebens, ob im Wachen oder Schlafen, bewohnen wir die Welt mittels des Denkens“ (Steiner 2008, 70).

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Last der Kontingenz. Indessen bewertet er das Leben nur mittels der gewohnten Vernunftkategorien „Zweck“, „Einheit“, „Sein“ (vgl. NL 1887–1889, KSA  13, 11[99], 48), welche Engführung des Blicks ihn dazu verleitet, die Welt und mit ihr sein Dasein zu verwerfen: Gesetzt, wir haben erkannt, in wiefern mit diesen d re i Kategorien die Welt nicht mehr au sge legt werden darf und daß nach dieser Einsicht die Welt für uns werthlos zu werden anfängt: so müssen wir fragen, wo h er unser Glaube an diese 3 Kategorien stammt – versuchen wir, ob es nicht möglich ist, ih n en den Glauben zu kündigen. Haben wir diese 3 Kategorien e n t we rthet , so ist der Nachweis ihrer Unanwendbarkeit auf das All kein Grund mehr, d a s A l l z u e n t we r t h e n . Resultat: der Glau b e an d ie Vern u n f t- Ka te go r i e n ist die Ursache des Nihilismus,  – wir haben den Werth der Welt an Kategorien gemessen, we l ch e s i ch au f e i n e re i n f i ng i r te Welt bez ieh en . (NL 1887–1889, KSA 13, 11[99], 48f.)

In diesem Nachlass-Notat ist sowohl die Ursache des Nihilismus genannt, nämlich das vernichtende Urteil aufgrund einer „Verkennung der Welt durch ein Messen ihrer möglichen Qualitäten mittels ihr fremder, bloß von der Vernunft geschaffener Kategorien“ (Strobel 2000, 31), als auch eine Gegenmaßnahme benannt: Besagten Kategorien muss der Glaube aufgekündigt werden.⁵³⁵ Letzteres ist aber leichter gesagt als getan, handelt es sich doch um Denkgewohnheiten und vielleicht sogar -notwendigkeiten. Sie ein für alle Male abzuwerfen, scheint ein Ding der Unmöglichkeit. Wenn es jedoch gelänge, den Glauben an die Vernunftkategorien zu relativieren, indem man den Horizont des Denkens erweiterte, wäre ein wesentlicher Schritt in die richtige Richtung getan. Wie gesagt, der Mensch soll wieder eine große Vernunft werden, ein 535 In FW 346 (Unser Fragezeichen) behandelt Nietzsche den Nihilismus ebenfalls vom Ausgangspunkt eines falschen Maßstabes, der an die Welt und das Selbst angelegt wird. Wenn wir an bestimmte Werte glauben, d. i. jene Welt, „in der wir bisher mit unsren Verehrungen zu Hause waren“, jedoch erkennen müssen, dass wir selbst diesen Werten gar nicht genügen, so dass jener ersten Welt eine „andre[] Welt, d ie w ir selb er sin d“ entgegensteht, haben wir es mit einem Missverhältnis zu tun, dass sich phänomenal als „Argwohn“ (FW 346; KSA 3, 581) äußert, der sich in uns breit macht. Dieser Argwohn kann sich, wenn er sich gegen uns selbst wendet, zu einem tödlichen Nihilismus zuspitzen. Er würde dann dazu führen, dass wir uns selbst abschafften, d. h. uns zu irgendeiner Form von Selbstmord treiben (vgl. NL 1887–1889, KSA 13, 14[9], 222). Wir könnten alternativ allerdings, wie schwierig es sich auch immer gestalten würde, mindestens prinzipiell auch unsere Verehrungen abschaffen. Fraglich ist indes, ob dies nicht gleichfalls Nihilismus wäre. Nietzsche stellt uns vor ein „furchtbare[s] Entweder-Oder“: „‚entweder schafft eure Verehrungen ab oder – euch s e l b s t !‘ Das Letztere wäre der Nihilismus; aber wäre nicht auch das Erstere  – der Nihilismus? Dies ist u n s e r Fragezeichen“ (FW 346; KSA 3, 581). Offenbar denkt Nietzsche hier einmal an den Nihilismus im Sinne des äußersten in die Tat der Selbstvernichtung führenden negativen Selbsturteils (dies wäre „Letzteres“) und zum anderen an einen positiven Nihilismus äußerster Stärke, der möglichst ohne Glauben auskommt (dies wäre „Ersteres“). Dieser Nihilismus der Stärke wäre der des freien Geistes par excellence, den Nietzsche im Folgeaphorismus (FW 347: Die Gläubigen und ihr Bedürfniss nach Glauben) ins Spiel bringt. Vgl. zur Interpretation von FW 346 Stegmaier 2012, 204–220.

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denkend-empfindendes Wesen, das leidenschaftlich in einer Welt lebt, die nicht bloß fingiert ist. Dafür muss er allerdings feinsinniger werden. Es tut not, dass wir unseren Horizont erweitern, verschiedene Perspektiven auf uns und die Welt probieren und nach neuen Möglichkeiten, uns selbst und die Welt wahrzunehmen und wertzuschätzen, suchen. Es ist an der Zeit, sich neue Ziele zu setzen, Ziele, die nicht allein einem kühlen Kopf entspringen, sondern gleichsam aus dem Herzen in die Wagschale des Lebens geworfen werden. Wir sollen „Dichter und Fortdichter des Lebens“ sein und uns daran machen, eine „vis creativa“ (FW 301; KSA 3, 540) zu leben: Wir, die Denkend-Empfindenden, sind es, die wirklich und immerfort Etwas mach e n , das noch nicht da ist: die ganze ewig wachsende Welt von Schätzungen, Farben, Gewichten, Perspectiven, Stufenleitern, Bejahungen und Verneinungen. (…) Was nur Wer th hat in der jetzigen Welt, das hat ihn nicht an sich, seiner Natur nach, – die Natur ist immer werthlos: – sondern dem hat man einen Werth einmal gegeben, geschenkt, und w ir waren diese Gebenden und Schenkenden! Wir erst haben die Welt, die den Menschen Etwas angeht , geschaffen! – Gerade dieses Wissen aber fehlt uns, und wenn wir es einen Augenblick einmal erhaschen, so haben wir es im nächsten wieder vergessen: wir verkennen unsere beste Kraft und schätzen uns, die Contemplativen, um einen Grad zu gering, – wir sind weder so stolz, noch so glücklich, als wir sein könnten. (FW 301; KSA 3, 540)

Darum, wie wir so stolz und glücklich als nur menschenmöglich sein können, so dass der Nihilismus keine Alternative mehr zu sein scheint, soll es im vorletzten Kapitel meiner Studie gehen.

Kapitel IX Überwindung des Nihilismus I will not Reason & Compare: my buisness is to create. (William Blake: Jerusalem)⁵³⁶

Der Nihilismus als kulturelles Phänomen lässt sich in aller Kürze „als Prozeß des Zuendegehens und der Überwindung einer (nämlich der moralischen) Auslegung verstehen“ (Figl 2000, 95). Das Resultat dieser nihilistischen Auflösungsbewegung ist der Zustand einer nie da gewesenen Desorientierung, die in eine allgemeine nihilistische Stimmung mündet. Es ist richtig, dass Nietzsche mit seiner Philosophie entschieden daran mitarbeitet, die alten Koordinaten von der Landkarte der menschlichen Lebensorientierung zu tilgen. Sein Denken hebt sogar darauf ab zu zeigen, dass es gar keinen festen Boden gibt, auf dem man als Mensch sicheren Stand gewinnen könnte. Die Weltkarte, die Nietzsches Philosophie zeichnet, unterscheidet sich von sämtlichen Landkarten, welche die Kartografie bisher hervorgebracht hat, grundlegend:⁵³⁷ Sie zeigt überhaupt kein Land mehr; überall stößt das Auge bloß auf ein unendliches Meer, auf dem zu treiben wir Menschen verurteilt sind. So gesehen ist diese Philosophie Wasser auf die Mühlen des Nihilismus. Und doch wäre es ein krasses Missverständnis zu meinen, Nietzsche ginge es um die Subversion als solche. Sein Anliegen ist es vielmehr, in der heillosen Desorientierung neue Orientierungen zu schaffen und solcherart den Nihilismus zu bannen. Er will dem zur endlosen Meerfahrt verurteilten Menschen zu Hilfe eilen, indem er gleichsam Seezeichen setzt, wohl wissend, dass es angesichts der Landlosigkeit nur noch um eine Orientierung auf dem grenzenlosen Meer gehen kann; zu einem sicheren Hafen führen die Seezeichen nicht. Der moderne Mensch erfährt sich selbst als fliegenden Holländer, dem anders als Odysseus, dessen Irrfahrt schon beschwerlich genug war, endlich aber mit der Rückkehr in die Heimat glücklich endete, eine Beendigung seiner Meerfahrt nicht gegönnt ist.⁵³⁸ Trotz oder gerade vor dem Hintergrund dieser intrikaten Lage des Menschen soll der Nihilismus in Form der Desorientierung bei Nietzsche nicht das letzte Wort behalten: Als Philosoph ging es ihm um eine entschiedene Neuorientierung nach der, wie er sie sah, schwersten Desorientierung in der Geschichte Europas, dem Unglaubwürdigwerden der Religion, dem Verschleiß der metaphysischen Systeme und der Durchsetzung des evolutionistischen Denkens, mit einem Wort: des Nihilismus. (Stegmaier 2011, 120)

536 Blake 1969[1804–1820], 629. 537 Ich denke hier nicht zuletzt an „Kartografien des Denkens“ wie sie z. B. Kant mit der bereits erwähnten bildhaften Rede vom Land des reinen Verstandes als einer Insel im Ozean des Scheins zeichnet (vgl. KrV, B 294, bzw. Anm. 438). 538 Vgl. zum Topos der Meerfahrt bei Nietzsche (zumal in der Fröhlichen Wissenschaft) Hufnagel 2008, der mit Manfred Frank den hier übernommenen Vergleich zwischen Odysseus und dem fliegenden Holländer zieht.

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Nietzsches Beitrag zur Überwindung dieser nihilistischen Gesamtsituation ist ein philosophischer. Als Philosoph kann er anders als ein führender Politiker keine allgemein verpflichtenden Gesetze erlassen, die zur Abwendung von der Dekadenz und zur Steigerung der europäischen Kultur beitragen sollen. Er kann weder eine Neuorientierung an der tragisch-agonalen Kultur der Griechen einfach befehlen⁵³⁹, noch den Übermenschen als den neuen Sinn der Erde ins Grundgesetz schreiben lassen.⁵⁴⁰ Es steht ihm, dem vornehmlich über Bücher kommunizierenden Philosophen, allein zu Gebote (was nicht wenig ist), sich an den einzelnen Leser zu wenden. Vor diesem kann er sein antinihilistisches kulturphilosophisches Programm entfalten – und wer weiß, wenn dieser und andere Leser es sich zu Herzen nehmen, könnte es sein, dass der Philosoph schließlich kulturell zu wirken beginnt, indem seine Schriften zum Stein des Anstoßes einer kulturellen Bewegung werden. Der Kampf gegen den Nihilismus wird aber zunächst (gemäß den vorgetragenen Überlegungen, denen zufolge der Nihilismus in erster Linie den einzelnen Menschen als solchen betrifft) nicht von einer bestimmten Kultur, sondern von einzelnen Menschen geführt. Nietzsches die Überwindung des Nihilismus betreffende Gedanken gelten dementsprechend vorzugs539 Der das antike Griechenland bestimmende Wettkampf brachte „nicht nur eine Auslese der körperlich Stärksten, sondern, auch und gerade im Krieg, der Klügsten und Besonnensten mit sich. Die homerischen Epen stellen das eine an Achill, das andere an Odysseus überaus deutlich heraus. Hier wird alles auf Wettkampf gesetzt, alles im Wettkampf erworben, für den Wettkampf alles, auch das eigene Leben, geopfert. Der Wettkampf der Griechen war, so Nietzsches Leitgedanke (…), ein Kampf um Auszeichnung des Einzelnen, Vornehmen, vor den Anderen; er war es, der sie ihren Gegnern überlegen machte und ihre Kultur ins ‚Große‘ steigerte“ (Stegmaier 2011, 122). Die Tragödie wiederum öffnete einen illusionslosen Blick in die tiefen Abgründe des Daseins, der dem Menschen viel Mut und große Tapferkeit abverlangte. Zugleich spornte er die ästhetische Kraft des Menschen an, der sich in den Tragödien immer wieder diesem Blick aussetzte, ihn zugleich aber ästhetisch überformte und auf diese Weise erträglich machte. In der Komödie schließlich, die stets am Ende der griechischen Tragödien-Festspiele stand, wurde der bittere Ernst ins Heitere gewendet. Solcherart machte ihre Kunst „den Athenern die abgründlichsten Realitäten erträglich, so konnten sie sich ihnen vorbehaltlos stellen“ (Stegmaier 2011, 123). Ebendies ist Nietzsche zufolge in der Situation des Nihilismus von einer Kultur gefordert: sich nach dem Zusammenbruch der metaphysischen Illusionssysteme den Abgründen zu stellen und Halt im scheinbar Haltlosen zu finden. Das kann aber nur gelingen, wenn die Kultur sich steigert, indem sie sich affirmativ auf den agonalen Grund des Lebens besinnt, welcher sodann zu gewärtigenden Aufwärtsbewegung, so Nietzsches Grundüberzeugung, jedoch der demokratische (bzw. sozialistische oder kommunistische) Gedanke, wonach alle Menschen gleich sind, im Wege steht. Auch der keine Hierarchien anerkennende Anarchismus taugt nach Nietzsche nicht, um aus dem Nihilismus herauszuführen. 540 Zarathustras Autorität ist die eines Weisen und nicht die eines Gesetzgebers. Entsprechend wird sie auch nicht von jedermann anerkannt, sondern nur von demjenigen, der dieser Weisheit etwas abgewinnen kann, ja, der sie überhaupt als Weisheit erkennt. Zarathustra wiederum ist weise genug, um hinsichtlich des Status’ seiner Autorität im Bilde zu sein. Folgerichtig wendet er sich bei seiner Verkündigung des Übermenschen als dem neuen Sinn der Erde im Optativ an seine Hörer. Für ihn selbst gilt: „Der Übermensch ist der Sinn der Erde“. Seinen Hörern gegenüber sagt er dagegen (mit einem nicht umsonst gesperrt gedruckten „sei“): „Euer Wille sage: der Übermensch s e i der Sinn der Erde“ (Z I Vorrede 3; KSA 4, 14)!

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weise dem Menschen als Einzelkämpfer. Dabei bleibt die historisch-kulturelle Dimension des Nihilismus jedoch keineswegs ungedacht und ausgespart, weil Nietzsche sich fragt, wie der ohnehin auf das (mögliche) Nichts verwiesene Mensch in der konkreten zeitgeschichtlichen Situation der Desorientierung gegenüber dem Nihilismus bestehen kann. Die Geschichte des europäischen Nihilismus hat die bisher gängige Ausweichpraxis, d. h. die Flucht vor dem drohenden Nihilismus in eine wie auch immer geartete Illusionswelt, nachhaltig diskreditiert. Die Illusionswelten haben sich als – zugegeben teilweise beindruckende – Bauten eines Ekels am Dasein, eines schöpferischen Willens zum Nichts erwiesen. Ihr ontologischer Gehalt entspricht nicht dem des Grundes, sondern des Symptoms einer Krankheit. Indem diese Krankheit nicht als solche erkannt wurde, konnte sie ungehindert wirken und den Menschen zunehmend kränker machen. Die Menschen sind, ich habe das ausgiebig dargelegt, Willensneurotiker geworden. Gerade jetzt kommt es aber auf Willensstärke an. Der „gute dumme Wille zum ‚Glauben‘“ (JGB 192; KSA  5, 113), der Bequemlichkeitswille, der sich aus Behäbigkeit auf das Gehorchen spezialisiert hat, darf nicht mehr länger der dominierende Wille sein. Statt sich brav an bereits Vorgegebenem zu orientieren, tut es not, sich selbst neue Ziele vorzugeben, namentlich dann, wenn alles heteronom Vorgegebene zu Staub zerfallen ist. Wer die Notwendigkeit nicht nur der Neuorientierung, sondern auch der Neuorientierung aus eigener Kraft, d. h. am Leitfaden selbstgesetzter Ziele, eingesehen hat, hat zugleich begriffen, dass jede Orientierung, jedes Ziel der Zeitlichkeit unterworfen ist: Ich weiß, indem ich mich als schöpferisches Subjekt erkenne, dass ein von mir gesetzter Wert keinen Absolutheitscharakter besitzt. Ich weiß, dass dieser Wert allein meiner eigenen schöpferischen Kraft entsprungen ist, so dass es sich um einen subjektiven Wert handelt. Ich weiß außerdem, dass ich diesen Wert in einer bestimmten Situation zu einer ganz bestimmten Zeit gesetzt habe, in einem Moment, da gerade dieser Wert mir wertvoll bzw. sinnhaft erschien. Ich weiß sonach endlich auch, dass der betreffende Wert in einer anderen Situation, zu einer anderen Zeit, seinen Sinn einbüßen kann. Sollte dies der Fall sein, bin ich gezwungen, abermals schöpferisch tätig zu werden und einen neuen Wert bzw. Sinn zu setzen. Kurzum: Sinn ist immer nur Sinn auf Zeit. Aber ein Sinn vermag den sinnbedürftigen Menschen nur dann auch wirklich zu tragen, wenn dieser an den jeweiligen Sinn glaubt. Das Kunststück, das vom Menschen in Zeiten des europäischen Nihilismus verlangt wird, besteht darin, jeden absoluten Anspruch eines gesetzten Sinns (Wertes, Zieles) zurückzuweisen, sich im selben Atemzug aber im Vertrauen auf den gesetzten Sinn ganz von diesem tragen zu lassen, indessen er in jedem Augenblick bereit sein muss, den Sinn, je nach Veränderung der Lage, über Bord zu werfen und durch einen neu gesetzten zu ersetzen. Insofern nicht immer auch sogleich ein neuer Sinn schon bei der Hand ist, wenn ein alter fällt, muss der Mensch als fliegender Holländer stets auf Stürme gefasst sein, ja sogar auf ein Kentern und Untergehen. Das Meer, in dem wir treiben, kennt keine Gewissheiten mehr. Es kennt nur mehr Vorläufigkeiten. Wer nicht auf letzte Gewissheiten verzichten kann, beweist damit seine Befangenheit im Nihilismus: „[E]s mag sogar puritanische Fanatiker des Gewissens geben, welche lieber

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noch sich auf ein sicheres Nichts als auf ein ungewisses Etwas sterben legen. Aber dies ist Nihilismus und Anzeichen einer verzweifelnden sterbensmüden Seele: wie tapfer auch die Gebärden einer solchen Tugend sich ausnehmen mögen“ (JGB 10; KSA 5, 23), schreibt Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse und geht damit so weit, sogar den Mut und die Tapferkeit eines Nihilisten, der entschieden alles auf Nichts setzt, zu relativieren. Wer das gewisse Nichts dem Nichtgewissen vorzieht, beweist auf diese Weise seine Lebensmüdigkeit, weil er der Herausforderung des Lebens, sich, d. h. in diesem Falle seinen Standpunkt, immer wieder infragestellen und überwinden zu müssen, aus dem Weg geht. Er nimmt dem Nihilismus seinen Möglichkeitscharakter, indem er ihn zur Wirklichkeit erklärt und drückt sich dadurch vor der lebenslangen Aufgabe, die Möglichkeit des Nihilismus nicht in die Wirklichkeit umschlagen zu lassen. Mit außerordentlichem psychologischen Scharfsinn bewaffnet, entwaffnet und enttarnt Nietzsche den selbsterklärten Nihilisten, der an nichts zu glauben meint, dabei jedoch an das Nichts glaubt, als willensschwachen Menschen. Wer einmal den nihilistischen Standpunkt des für gewiss gehaltenen Nichts eingenommen hat, kann es sich im Leben verhältnismäßig bequem machen. Insofern für ihn alles nichts gilt, kann er getrost den von außen vorgegebenen Werten folgen. Es nimmt sich nichts, ob er nun autonomen oder heteronomen Werten folgt, weil keinem Wert einem anderen gegenüber der Vorrang gebührt. Ein solcher Nihilist des gewissen Nichts enthebt sich also der mühseligen, für die Überwindung des Nihilismus jedoch zentralen Aufgabe der Selbstüberwindung und Neuorientierung innerhalb des, wie es scheint, irreduzibel fragwürdig Gewordenen (dem Leben). Er beugt sich vor dem Nihilismus, wenn anders er sich in ihm einrichtet, um leben zu können. Eine Überwindung des Nihilismus rückt solcherart natürlich in weite Ferne. Auch eine wirkliche Bejahung des Lebens sieht anders aus als diese resignative Halbherzigkeit. Für Nietzsche steht unterdessen fest, dass nur derjenige die beschwerliche Aufgabe der permanenten Selbstüberwindung und Neuorientierung wird auf sich nehmen können, der in der Lage ist, diese Welt, wie sie ist, und sich selbst, wie er ist, entschieden zu bejahen. Nietzsches Philosophie der Bejahung steht im Brennpunkt dieses Kapitels. Als wesentliche Eckpfeiler dieser affirmativen Philosophie behandele ich im Weiteren zunächst Nietzsches philosophisches Konzept des Übermenschen (9.1), schreite sodann das schwierige „Gedankengelände“ der ewigen Wiederkunft des Gleichen ab (9.2), um endlich auf Nietzsches Kunst der Transfiguration (9.3) zu sprechen zu kommen.

9.1 Der Übermensch „Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll“ (Z I Vorrede 3; KSA 4, 14) – so lautet einer der zentralen Sätze aus Also sprach Zarathustra. Streng genommen müsste es sogar heißen: „Der Mensch ist etwas, das überwunden werden muss“, denn vor

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   Überwindung des Nihilismus

dem Hintergrund der unhintergehbaren Prämisse des Zarathustra, dem Tod Gottes,⁵⁴¹ ist insbesondere eines nötig: dass der Mensch sich neu erfinde. Nicht mehr darf er sich verstehen als ein Wesen zwischen Tier und Gott, sondern als eines zwischen Tier und Übermensch, das es selbst in der Hand hat, wohin sein Weg es führt, mithin, ob es sich überwindet und somit den Pfad zum Übermenschen betritt (der, wie noch deutlich werden wird, eigentlich der Pfad des Übermenschen ist, insofern es sich um einen übermenschlichen Pfad handelt) oder ob es sich eher unterschreitet und ins Animalische hinabsinkt. Alles hängt davon ab, wie der Mensch sich verhält, wobei sein Verhalten wiederum an den Zielen hängt, an denen er sich orientiert. Tierisch verhält sich der bereits mehrfach angesprochene letzte Mensch, das negative Pendant des Übermenschen, insofern er sein Leben ganz an seiner Bedürfnisbefriedigung ausrichtet. Dabei geht der letzte Mensch keineswegs aufs hedonistische Ganze wie ein Catalina und verausgabt sich darüber. Er bleibt eben eher dem Tierischen verhaftet und die Ausschweifung ist nicht des Tieres, sondern des Menschen Sache. Der letzte Mensch ist auch bzw. treffender: nicht einmal im Auftrag der Lust dazu bereit, an seine Grenzen zu gehen, geschweige denn darüber hinaus. Die Gesundheit im Sinne der Abwesenheit des Schmerzes und der Anwesenheit der bequemen Wohligkeit geht ihm über alles⁵⁴² und erst recht über das mühevolle Geschäft der Selbstüberwindung, die (nicht nur) in seinen Augen quer zur Selbsterhaltung steht. Überhaupt bedeutet ihm die Selbsterhaltung innerhalb des Rahmens seines Selbstverständnisses als letzter Mensch ein logisches Gebot. Der letzte Mensch würde sich nämlich ohne Weiteres auch selbst als letzten Menschen bezeichnen, weil dieser Ausdruck für ihn jedweder negativen, pejorativen Resonanz entbehrt. Im Gegenteil, es schwingt für ihn etwas Auszeichnendes darin mit, begreift er sich doch als letzten Menschen „in dem Sinn, dass über ihn hinaus der Mensch nicht mehr zu steigern ist und er also den letzten, definitiven und damit also allgemeingültigen Begriff von ihm und dessen Bild an sich selber hat“ (Stegmaier 2011, 163). Für Zarathustra, den Verkünder des Übermenschen, ist der letzte Mensch dagegen „das Verächtlichste[]“ (Z I Vorrede 5; KSA 4, 19), weil dieser sich selbst nicht mehr verachten kann, womit einhergeht, dass ihm der Sinn fehlt für das, was wirklich groß ist am Menschen. Also spricht Zarathustra: Was gross ist am Menschen, das ist, dass er eine Brücke und kein Zweck ist: was geliebt werden kann am Menschen, das ist, dass er ein Übe rga ng und ein Untergang ist./Ich liebe Die, welche nicht zu leben wissen, es sei denn als Untergehende, denn es sind die Hinübergehenden./Ich liebe die grossen Verachtenden, weil sie die grossen Verehrenden sind und Pfeile der Sehnsucht nach dem andern Ufer. (Z I Vorrede 4; KSA 4, 16f.)

541 „Gott starb: nun wollen w i r, – dass der Übermensch lebe“ (Z IV Menschen 2; KSA 4, 357). 542 Für den letzten Menschen gilt: „Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit“ (Z I Vorrede 5; KSA 4, 20) – also geht die Gesundheit noch über das Lüstchen, was insofern nur konsequent ist, als die Krankheit für den letzten Menschen jeder Lust ein Ende bereitet.

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Groß ist der Mensch also nur insoweit, als er über sich hinausstrebt, sofern er im Überstieg untergeht und in sich selbst hinübergehend wieder aufgeht, freilich nicht, um auf der so erreichten neuen Stufe seiner selbst zu verharren, sondern um bald schon wieder unterzugehen und so fort. Die Selbstverachtung ist für diese Bewegung eine unentbehrliche, treibende Kraft, denn wer sich selbst als Angekommenen und Stillestehenden verachtet, wird eo ipso seinen eigenen Untergang vorantreiben. Indessen wäre es grundfalsch, diesen Untergang mit einer nihilistischen Bewegung zu verwechseln, die über die Verachtung nicht hinauskäme, weil es ihr nur um das Untergehen ginge. Nein, wirklich lebt die Selbstüberwindung genauso von der Selbstverehrung wie von der Selbstverachtung. Nur deswegen nämlich verachtet sich der Mensch, der sich als Brücke und nicht als Zweck begreift, weil seine Sehnsucht sich selbst als vor ihm liegende Aufgabe gilt. Dieses vor-liegende Selbst verehrt er, wenngleich auch nur solange, bis er es erreicht hat, denn als Erreichtes muss er es wieder verachten, um eines weiteren, höheren und verehrten Selbst willen. Für die Dynamik der Selbstüberwindung ist demnach ein dialektisches Wechselspiel aus Verachtung und Verehrung konstitutiv, wobei beide Momente, die Verachtung und die Verehrung, ihrerseits immer wieder überwunden werden müssen, damit der Überwindungsprozess nicht zum Erliegen kommt. Das vor-liegende verehrte Selbst stellt jeweils den Zweck des aktuellen Selbst dar, aber nur indem es vor dem aktuellen Selbst liegt. Sobald es eingeholt wird, verliert es seine Zweckhaftigkeit. Es sei denn, man wollte ihm den Zweck eines Gegenstandes der Verachtung zuerkennen, der zu einer Bewegung über sich hinaus motiviert. Aber auch dann verliert es seine vormalige Zweckhaftigkeit, die darin bestand, das Ziel einer Handlung zu sein, indem es jetzt zweckhaft ist, derart, dass es zum Abstoßpunkt einer Handlung wird. So oder so – einen Zweck an sich stellt somit auch das vor-liegende Selbst nicht dar. Der Mensch, der sich zum Übermenschen hinaufschwingen will, muss also lernen, seinen Untergang zu lieben und Abschied zu nehmen von Religionen und Moralen, die ihm einen absoluten Wert zuschreiben und ihn als Zweck an sich betrachten. Nicht, was der Mensch ist, sondern was er tut, verleiht ihm einen Wert bzw. macht ihn verehrenswert.⁵⁴³ Und nicht nur das: Es macht den Menschen als solchen aus, der sich gleichfalls von der Vorstellung seiner selbst als eines substanziellen Selbst trennen muss. Das Selbst des Menschen ist nicht a priori da, so dass der Mensch nur tief in sich selbst hineinhorchen und schauen müsste, um auf seinen eigenen Kern zu stoßen. Die Wahrheit des inneren Menschen ist die Wahrheit des Christentums, das sich als Lüge erwiesen hat. 543 In diesem Licht gesehen, mutet Nietzsche dem Menschen sogar mehr zu als Kant, dessen Ethik sicher nicht ganz zu Unrecht als rigoros gilt. Zwar stellt Kant sehr hohe Ansprüche an das moralische Handeln des Menschen, das, um wirklich moralisch zu sein, weder aus Neigung noch nur pflichtgemäß, sondern aus Pflicht zu erfolgen habe. Der Würde des Menschen tut es in Kants Augen jedoch keinen Abbruch, ob er diesen Ansprüchen genügt oder nicht. Zu einem Wesen, „dessen Dasein an sich selbst einen absoluten Wert hat“, mache den Menschen bereits das reine Vermögen (die Vernunft), moralisch zu handeln. So steht für Kant fest: „[D]er Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen existiert als Zweck an sich selbst (…)“ (GMS, 428).

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Wer den Übermenschen als Ziel akzeptiert, der begibt sich nicht auf eine Suche nach seinem Selbst, weil es bei dieser Suche nichts zu finden gibt, auf jeden Fall keine reale Essenz „Selbst“, sondern sucht es selbst zu gestalten und in seinem Handeln hervorzubringen. Wenn Gott tot ist, muss der Mensch sich gewissermaßen selbst erschaffen. Zwar ist er, wie gesagt, nicht ontisch autonom, er ist keine Causa sui; gleichwohl ist er „noch unausgeschöpft für die grössten Möglichkeiten“ (JGB 203; KSA 5, 127), für welche der Übermensch die Chiffre darstellt. Damit steht er zugleich für die zukünftige Aufgabe der „Selbsterschaffung“ (Rorty 1992[1989], 59), die wiederum die permanente Arbeit an der eigenen Gestalt (am eigenen Selbst) meint.⁵⁴⁴ Von hier aus versteht sich, warum Nietzsche keine Definition des Übermenschen vorgelegt hat, warum er seinen Zarathustra keine konkrete Gestalt des Übermenschen zeichnen lässt. Zarathustras Rede vom Übermenschen ist überaus rätselhaft. Vor allem anderen ist sie metaphorisch – der Übermensch wird unter anderem vorgestellt als Meer, Blitz und Wahnsinn (vgl. Z I Vorrede 3; KSA 4, 15f.)⁵⁴⁵ – und damit in begrifflicher Hinsicht unbestimmt. Diese Unbestimmtheit ist gewollt, mehr noch, sie ist philosophisch geboten. Denn der Übermensch ist das Gegenkonzept zum letzten Menschen, der erstens glaubt, es gäbe einen endgültig feststehenden Begriff des Menschen, wobei er großzügig übersieht, dass z. B. die Bestimmung des Menschen als Wesen zwischen Mensch und Gott mit dem Tode Gottes obsolet geworden ist, und der zweitens diese vermeintlich unumstößliche Definition des Menschen dazu benutzt, um sich vor seiner Individualität hinter die Allgemeingültigkeit der Definition zu flüchten,⁵⁴⁶ zu welchem Ausweichen 544 Sich selbst zu erschaffen, bedeutet in der Hauptsache, wie Rorty unablässig betont, sich neu zu beschreiben, heißt „seine eigene Sprache zu konstruieren, statt sich das Maß des eigenen Geistes durch die Sprache, die andere Menschen uns hinterlassen haben, vorgeben zu lassen“. Selbsterschaffung und -gestaltung meint also einen schöpferischen Akt auf der Basis eines Befreiungsaktes, nämlich des sich Losschneidens vom Gängelband der Metaphysik und ihrer feststellenden Beschreibungen des Menschen. Selbsterschaffung meint auch „die Konfrontation mit der eigenen Kontingenz“ (Rorty 1992[1989], 59), insofern das sich selbst (neu) beschreibende Selbst nicht nur die alten Festund Zuschreibungen der Tradition als kontingent erkennt, sondern von der prinzipiellen Kontingenz des Lebens überzeugt ist und also auch seine eigene Beschreibung als kontingent erfasst. Um eine „richtige Beschreibung“ (Rorty 1992[1989], 167) kann es demnach nicht mehr gehen, sehr wohl aber um eine eigene, die vor dem eigenen Urteil Bestand hat. Insofern die Neubeschreibung seiner selbst kontingent ist, ist sie solange unabgeschlossen, muss sie solange weitergeführt werden (Selbstüberwindung), bis das sich in eigenen Worten beschreibende Selbst stirbt (oder wie in Nietzsches Fall „geistig“ stirbt). Kritik an Konzepten der Selbsterschaffung überhaupt und vor allem mit Rekurs auf Nietzsche übt Zittel 2003. 545 Vgl. zur metaphorischen Rede über den Übermenschen Stegmaier 2010a. 546 „Nietzsche lässt Zarathustra das[dass man, falls und wo nötig, über jeden definitiven Begriff des Menschen hinausgeht – E.B.] in die Metapher vom ‚l e t z te n M e n s c h e n‘ fassen, die im Zusammenhang mit der des Übermenschen den Sinn des letzten, endgültigen, definitiven Begriffs oder kurz: einer allgemeingültigen Definition des Menschen bekommt, die Menschen nötig haben, um selbst unter sie zu fallen und dadurch ihre zeitweise schwer zu tragende Individualität loszuwerden“ (Stegmaier 2010a, 158).

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der letztmenschliche Glaubenssatz gehört, die Menschen seien alle gleich.⁵⁴⁷ Der Übermensch hingegen steht für die Überzeugung, dass es erstens keinen absoluten Begriff des Menschen gibt, dass sich zweitens die Individualität des Menschen nicht durch ein Allgemeines aufheben lässt⁵⁴⁸ und dass der Mensch drittens Konsequenzen aus den ersten beiden Punkten ziehen muss: Er darf sich selbst weder als Gattungswesen noch als individuelles Einzelexemplar Mensch für etwas halten, das ein für alle Male festgestellt wäre. Stattdessen muss er bereit und willens sein, sich immer wieder selbst zu überwinden, und diese Selbstüberwindung als Selbsterschaffung verstehen. Wie er selbst als sterbliches Wesen der Zeit unterworfen ist, so sind es auch alle seine Sinnentwürfe. Nichts steht fest, alles ist flüssig: Der Übermensch lebt mit dieser Einsicht; stärker noch: Er lebt sie. Es ließe sich mit Rekurs auf die oben wiederholt benutzte Meerfahrtsmetapher auch so sagen: Der Übermensch macht ernst mit einem Leben auf hoher See.⁵⁴⁹ Der Nihilismus, der, wie berührt, infolge der bewertenden Betrachtung des Lebens unter den Vernunftkategorien Zweck, Einheit und Sein entsteht, kann den Übermenschen sonach nicht ereilen. Zweck, Einheit und Sein sind

547 „Kein Hirt und Eine Heerde! Jeder will das Gleiche, Jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig in’s Irrenhaus“ (Z I Vorrede 5; KSA 4, 20). 548 Werner Stegmaier (2009, 12) hat darauf hingewiesen, dass sich Nietzsches Denken, gerade indem es evolutionistisch ist, gegen den metaphysischen Begriff des Begriffs, wie ihn Aristoteles geprägt hat, wendet. Es gibt, laut Nietzsche, in der belebten Natur nichts genau Gleiches und auch nichts ewig Gleichbleibendes, worauf Nietzsche, wie Stegmaier zurecht sagt, mit seinem Begriff des Willens zur Macht (bzw. der Willen zur Macht) reagiert, einem Begriff, der solcherart selbst für eine Verzeitlichung der Begriffe plädiert: „Aristoteles hatte seine Konzeption eines zeitlosen, unbedingten Allgemeinen noch an der vermeintlich immer gleichen Fortzeugung biologischer Arten gebildet und damit den metaphysischen und bis heute vorherrschenden Begriff des Begriffs geprägt, den Begriff vom ewig Gleichbleibenden. Nietzsche aber setzte entschieden auf die Evolution, und sie besteht letztlich darin, dass Individuen mit Individuen Individuen zeugen, Individuen, deren Begriff schlicht ausmacht, dass sie anders sind als andere. Und wie es darum in der belebten Natur nichts strikt Allgemeines und Zeitloses gibt, sondern alles sich immer neu an immer anderem formiert, gehen auch die Orientierungen mit der Zeit und formieren sich in immer neuen Situationen immer neu. Eben dafür hat Nietzsche seinen fröhlich gemeinten Begriff von den Willen zur Macht geprägt (…): dass alles sich unentwegt mit allem Übrigen immer neu auseinanderzusetzen hat, darum nichts feststeht und alles immer wieder zu neuem Schaffen offen ist.“ 549 Im letzten Aphorismus der Morgenröthe (Nr. 575) stellt Nietzsche den „Luft-S ch i fffa h re r [ n ] d e s G e i s te s “, d. h. jenen Geistern, die „dahin strebten, (…) wo alles nur noch Meer, Meer, Meer ist“, und unter die er sich hier selbst rechnet, die unbeantwortet gelassene Frage: „Und wohin wollen wir denn? Wollen wir denn ü b er das Meer? Wohin reisst uns dieses mächtige Gelüste, das uns mehr gilt als irgend eine Lust? Warum doch gerade in dieser Richtung, dorthin, wo bisher alle Sonnen der Menschheit untergegangen sind? Wird man vielleicht uns einstmals nachsagen, dass auch wir, nach Westen steuernd, ein Indien zu erreichen hofften, – dass aber unser Loos war, an der Unendlichkeit zu scheitern? Oder, meine Brüder? Oder? –“ (M 575; KSA 3, 331). Dort, wo ohnehin alles flüssig ist, macht es keinen Sinn mehr, über das Meer zu wollen, um neues Festland zu erreichen. Es gilt vielmehr, sich auf ein Leben auf hoher See einzurichten, mithin dort, wo der Horizont unendlich ist. Nicht derjenige scheitert an der Unendlichkeit, der sich ihr als Schifffahrer aussetzt, sondern wer sich auf ein bloß fingiertes Festland flüchtet, weil er die Unendlichkeit nicht aushalten kann.

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für ihn zwar nicht nichtig, aber wie alles andere auch flüssig. Auch sie gibt es immer nur auf Zeit. Jede metaphysische Weltdeutung, die Werte proklamiert, die nicht der Zeitlichkeit unterliegen, wird somit vom Übermenschen zurückgewiesen und mit ihr der Nihilismus, der auf dem Grund solchen Wertedenkens wohnt. Wenn der Übermensch aus philosophischen Gründen unbestimmt bleiben muss, dann kann mit ihm auch kein bestimmter Seinszustand gemeint sein, den man erreichen könnte. So gesehen ist der Übermensch prinzipiell unerreichbar. Nichtsdestotrotz gibt ihn Zarathustra als Ziel des Menschen aus. Demnach ist der Übermensch ein unerreichbares Ziel. Allein diese Unerreichbarkeit destruiert die Zielhaftigkeit nicht, sondern ist im Gegenteil bewusst einkalkuliert und ebenfalls aus philosophischen Gründen gefordert, weil sie dem Ziel „Übermensch“ erst dessen spezifischen Sinn verleiht, handelt es sich doch um ein Ziel, „dessen Funktion darin liegt, daß es als Ziel vorgegeben wird“ (Steinmann 2000, 201). Der Übermensch ist ein Ideal. Er steht für ein Dasein, „das sich nicht nach den Kriterien der Moral versteht (…), das in einem hohen Grad der Autarkie über jeden Zwang zur Konformität erhaben ist“ (Steinmann 2000, 200). Und diesem Ideal gilt es nachzueifern. Zarathustra wünscht sich von seinen Zuhörern, dass sie alles daran setzen, übermenschlich zu handeln. Es geht bei aller Rede vom Übermenschen nicht darum, dass man sich irgendwie in ein höheres Lebewesen transformiert, sondern um ein bestimmtes Sich-zu-sich-selbst-Verhalten, wozu gehört, sich selbst im Licht seiner höchsten Möglichkeiten zu sehen, um sich sodann daran zu machen, sich gleichsam nach dieser Höhe zu strecken bzw. auf diese Möglichkeiten hin zu schaffen. Am Horizont der bisher unverwirklichten (und auch in diesem Sinne übermenschlichen) Möglichkeiten des Menschen sieht Nietzsche ein Dasein, das auch ohne Orientierung an einem äußeren Maßstab, einer (bloß gemutmaßten) Transzendenz, zu leben vermag. Der Mensch ist generell dazu in der Lage, im Selbststand zu leben, d. h. sich autark Ziele zu setzen, ihnen nachzugehen und sie gegebenenfalls wieder fallen zu lassen. Er kann Wertetafeln beschreiben und zerbrechen; eigene Tafeln genauso gut wie fremde. Es ist menschenmöglich, sich immer wieder neu zu entwerfen und einzuholen und in diesem Verhalten, das ein Telos außerhalb seiner selbst weder in Anspruch nehmen kann noch will, genügend Sinn zu finden, um leben zu können – und das vielleicht besser als je zuvor. An die Stelle der bisher lebensleitenden Transzendenz tritt in einem solchen übermenschlichen Lebensentwurf das Transzendenzverhalten. Der Übermensch ist gleichsam der Leitstern eines Lebens, das auf die im Menschen selbst liegende Transzendenz oder Transzendenzfähigkeit setzt.⁵⁵⁰ Was den Übermenschen mehr als alles andere auszeichnet, ist sein schaffender Wille. Dieser ist es auch, der dem Menschen ein Leben in der gewissermaßen flüssigen Unendlichkeit gestattet, weil der Blick auf den unendlichen Horizont aus der Perspektive des willensstarken, zum Schaffen so bereiten wie moti550 Vgl. Steinmann 2000, 202, dessen „handlungstheoretische Deutung des Übermenschen“ ich, wie man leicht sieht, teile, eine Deutung, die insbesondere auf die übermenschliche Verlagerung von der Ausrichtung auf die Transzendenz hin zum Transzendenzverhalten aufmerksam macht.

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vierten Menschen nicht das Gefühl der Schwindel machenden Verlorenheit evoziert (des Nihilismus), sondern der größtmöglichen Freiheit. Die Welt, das Diesseits, liegt dem schaffenden Willen zu Füßen: Seht, welche Fülle ist um uns! Und aus dem Überflusse heraus ist es schön hinaus zu blicken auf ferne Meere./Einst sagte man Gott, wenn man auf ferne Meere blickte; nun aber lehrte ich euch sagen: Übermensch./Gott ist eine Muthmaassung; aber ich will, dass euer Muthmaassen nicht weiter reiche, als euer schaffender Wille./Könntet ihr einen Gott sch a ffe n? – So schweigt mir doch von allen Göttern! Wohl aber könnt ihr den Übermenschen schaffen. (Z II Inseln; KSA 4, 109)

Das Schaffen selbst ist das eigentliche Ziel des Übermenschen, und der auf den Übermenschen zielende Mensch zielt ebenfalls eigentlich auf das Schaffen, indem er auf den unerreichbaren Übermenschen zielt. Jetzt wird der spezifische Sinn, der dem Übermenschen als einem unerreichbaren Ziel zukommt, vollends deutlich. Mit dem Idealbild des Übermenschen kehrt Nietzsche das Verhältnis von Mittel und Zweck um: Das Mittel (die Selbstüberwindung bzw. das übermenschliche Sich-zu-sichselbst-Verhalten) ist das Punctum saliens, während der Zweck (der Übermensch) im Dienst der Ergreifung der Mittel steht. Dieter Thomä hat auf diese Inversion von Zweck und Mittel bei Nietzsche hingewiesen (Thomä 2003, 175) und gezeigt, dass der dieser Umkehrung zugrunde liegende Gedanke auch von Nietzsche eher fernstehenden Autoren wie John Dewey und Harry G. Frankfurt vertreten wird. Weil Frankfurt den Gedanken so pointiert zum Ausdruck bringt, sei er an dieser Stelle gewissermaßen als der unfreiwillige Anwalt Friedrich Nietzsches zitiert: Es wird oft gesagt, daß man „alles nur wegen irgendeines Ziels“ tut. Genauso kann man sagen, daß die Ziele nur um der Handlung willen da sind. Wir brauchen Ziele, um sinnvoll tätig zu werden. (Frankfurt zit. nach Thomä 2003, 176)

Vor diesem Hintergrund sei der weiter oben betonte Gedanke, dass es nicht das Sein, sondern das Tun ist, was rechnet, in leichter Variation noch einmal wiederholt: Nicht darauf, Übermensch zu sein, sondern übermenschlich zu handeln, sich übermenschlich zu verhalten, kommt es an. Den Vorrang des Handelns vor dem extrinsischen Ziel der Handlung stellt Nietzsche in einem Nachlass-Notat aus dem Entstehungsjahr des sogenannten ersten Zarathustra (1883, Z I) heraus, in dem es wohlgemerkt vornehmlich um den Übermenschen geht: Wor aus wird gehandelt? Das ist m ein e Frage. Das wozu? wohin? ist etwas Zweites. (…) Die Frage: wie soll gehandelt werden? wird gestellt: als ob mit dem Handeln erst etwas erreicht werden solle: aber das Nächste ist d as H an d eln selb e r a l s d e r E r fo lg, das Erreichte, abges ehen von den Folgen des Handelns. (NL 1882–1884, KSA 10, 7[77], 268)

Wer sich in seinem Leben auf den Lebensvollzug selbst konzentriert, verhindert eo ipso, dass sein Leben eine „falsche Form“ annimmt, die „in der Ausrichtung an Zielen

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außerhalb des Lebensvollzugs selbst[besteht], mit der Sinnbedürfnisse geweckt werden, die doch unerfüllbar bleiben müssen und insofern auch die Frage nach dem Sinn des Lebens ins Leere laufen lassen“, wodurch „das Nihilismusproblem“ auf den Plan tritt, und zwar „dadurch (…), daß sich das Leben von etwas außerhalb seiner selbst abhängig macht, welches dann ins Schwanken kommt“ (Thomä 2003, 175). Mit anderen Worten: Die übermenschliche Konzentration auf den Lebensvollzug selbst ist antinihilistisch. Nun braucht der Mensch aber, wie Frankfurt richtig feststellt, Ziele und Werte, um überhaupt tätig zu werden. Ganz ohne Ziele geht es also auch nicht. Somit kommt der Wahl der Ziele und Werte, denen ein Mensch in seinem Handeln folgt, trotz der Inversion von Mittel und Zweck, eine kaum zu überschätzende Bedeutung zu. Der Übermensch stellt insofern ein antinihilistisches Ziel dar, als es erstens unbestimmt ist, indem der Übermensch allen allgemeinverbindlichen Maßstäben eine Absage erteilt; und zweitens ist das Ziel „Übermensch“ ein Ideal und gerade kein ontologischer Zustand, auf den man sich (fest)stellen könnte, ja es verbietet das dauerhafte Stehenbleiben auf einer bestimmten Seinsstufe sogar. Der Übermensch setzt Ziele und Werte ausdrücklich selbst. Sie sind für ihn allein verbindlich und beanspruchen keinerlei darüber hinausgehende allgemeinere Gültigkeit. Ferner sind sie zeitlich und ihr Rechtfertigungsgrund ist er, der Setzende bzw. Schaffende selbst. Beim Übermenschen handelt es sich um das Ideal einer postmetaphysischen Lebensform der Selbstbestimmung, weshalb sich Zarathustras „Lehre“ vom Übermenschen in aller Kürze gesagt auch als ein Aufruf zur Autonomie jenseits des Christentums und jenseits des Sittengesetzes, mithin jenseits von Gut und Böse bezeichnen lässt. Zarathustra weist allen Glauben weit von sich und verlangt auch von seinen Hörern, jedem Glauben abzuschwören – ausgenommen den Glauben an sich selbst. Letzterer Glaube impliziert sogar die Abwendung von Zarathustra; wenigstens so lange, bis man zu sich selbst bzw. zum Glauben an sich selbst, womit im Wesentlichen das Vertrauen in die eigene Schaffenskraft gemeint ist, gefunden hat. Zarathustra macht seine Jünger darauf aufmerksam, dass eine autonome Schaffenskraft in ihnen wohnt, welchen Schatz zu heben eine Aufgabe ist, die kein Individuum dem anderen abnehmen kann, also auch nicht der Lehrer dem Schüler. So geht man sicher nicht fehl, wenn man in Zarathustra einen Mäeutiker erkennt. Sein Aufruf zur Autonomie – die eine Form der Selbstüberwindung ist, wenn anders ein Individuum sich selbst etwas befiehlt – steht quasi als Resümee am Schluss des ersten Zarathustra. Es ist dieser Aufruf, den er seinen Jüngern mit auf den Weg gibt, der explizit der ihre sein soll,⁵⁵¹ bevor er sich von ihnen trennt:

551 Der Gedanke, dass jeder seinen eigenen Weg zu gehen hat, spielt auch im dritten Buch von Also sprach Zarathustra noch eine wichtige Rolle. Zarathustra bringt ihn im zweiten Teil der Rede Vom Geist der Schwere in einer für ihn beinahe schon ungewöhnlichen Deutlichkeit zum Ausdruck: „Und ungern nur fragte ich stets nach Wegen, – das gieng mir immer wider den Geschmack! Lieber fragte und versuchte ich die Wege selber./Ein Versuchen und Fragen war all mein Gehen: – und wahrlich, auch antworten muss man lern en auf solches Fragen! Das aber – ist mein Geschmack:/ – kein guter,

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Ihr sagt, ihr glaubt an Zarathustra? Aber was liegt an Zarathustra! Ihr seid meine Gläubigen: aber was liegt an allen Gläubigen!/Ihr hattet euch noch nicht gesucht: da fandet ihr mich. So thun alle Gläubigen; darum ist es so wenig mit allem Glauben./Nun heisse ich euch, mich verlieren und euch finden; und erst, wenn ihr mich Alle verleugnet habt, will ich euch wiederkehren. (Z I Tugend 3; KSA 4, 101)⁵⁵²

Bei alledem wird man sich indes fragen dürfen: Täuscht Zarathustra seine Jünger nicht in die Autarkie hinein, indem er den Übermenschen als ein Ziel einführt, über das er manchmal so spricht, als handele es sich doch um ein konkret realisierbares Ziel, um eine bestimmte ontologische Stufe, zu der man tatsächlich hinaufsteigen könnte? Und steht eine solche Hineintäuschung nicht im Widerspruch zu dem, was durch sie bezweckt wird, d. h. zum souveränen, autonomen Individuum? Warum nimmt Zarathustra den Umweg über die interpretationsbedürftige, schwer verständliche Lehre bzw. Anti-Lehre des Übermenschen, anstatt klar zu sagen, worauf es jetzt, nach dem Tode Gottes, ankommt? Warum nimmt er in Kauf, dass sein Übermensch als ein höheres Wesen und damit falsch verstanden wird? Mir scheint, der Grund hierfür ist Zarathustras Weisheit. Anders gesagt: Zarathustra kennt die Menschen und nimmt zudem die Situation, in der sie sich befinden, ernst. Er weiß, dass das Wesen des Menschen keineswegs definitiv ist, dass z. B. das, was die Menschen ihre „Seele“ nennen und was die metaphysische Tradition für den eigentlichen Kern des Menschen hält, erst im Zuge langer historischer und soziologischer Prozesse geworden ist.⁵⁵³ Er hat verstanden, dass es, um mit einem Gleichnis Zarathustras zu reden, Zeit braucht, bis sich der menschliche Geist vom Kamel über einen Löwen bis hin zum spielenden Kind entwickelt. Der Übermensch lässt sich sozusagen nicht an einem Tag erschaffen. Zu lange war der schaffende Wille des Menschen durch das asketische Ideal in Ketten geschlagen, als dass er nun, da

kein schlechter, aber mein Geschmack, dessen ich weder Scham noch Hehl mehr habe./‚Das – ist nun m ein Weg, – wo ist der eure?‘ so antwortete ich Denen, welche mich ‚nach dem Wege‘ fragten. De n Weg nämlich – den giebt es nicht“ (Z III Schwere; KSA 4, 245). 552 Ganz offensichtlich ist diese Botschaft Nietzsche besonders wichtig, denn nicht nur stellt er den letzten Teilsatz gefolgt von einem weiteren Satz – „‚ – und erst, wenn ihr mich Alle verleugnet habt, will ich euch wiederkehren./Wahrlich, mit andern Augen, meine Brüder, werde ich mir dann meine Verlorenen suchen; mit einer andern Liebe werde ich euch dann lieben‘“ (Z II; KSA  4, 104)  – dem zweiten Buch des Zarathustra in einer Präambel voran. Außerdem zitiert er im Vorwort des Ecce homo einen langen Abschnitt aus der letzten Rede (Z I Tugend 3) des ersten Buches von Also sprach Zarathustra, der mit der Aufforderung der Verleugnung des Lehrers durch die Schüler endet, welcher Aufruf überdies, anders als noch im Zarathustra, extra hervorgehoben wird, indem er gesperrt gedruckt ist: „Nun heiße ich euch, mich verlieren und euch finden; und erst, wenn ihr mich alle verleugnet habt , will ich euch wiederkehren…“ (EH Vorwort 4; KSA  6, 261). Auch in der Morgenröthe gibt es einen Aphorismus (Nr. 484), der, wie bereits der Name zu erkennen gibt: „D e r e i ge n e Weg “ , demselben Thema gewidmet ist und der dessen Wichtigkeit unterstreicht, indem er das Antreten dieses Weges als den „entscheidenden Schritt“ (M 484; KSA 3, 287) bezeichnet. 553 Um die Entwicklung unseres Seelenlebens geht es bekanntlich in der Genealogie der Moral.

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die Ketten zerstört sind, sofort zu Höhenflügen ansetzen könnte. Genauso wenig, wie die Zerstörung besagter Ketten durch einen spontanen Akt des Losreißens vor sich gegangen ist, sondern eher durch eine allmähliche Korrosion, genauso wenig darf jetzt erwartet werden, dass der Mensch sogleich vor Kraft strotzt, nur weil die Ketten abgefallen sind. Tatsächlich muss er unter den veränderten Bedingungen erst wieder das Wollen lernen, wie derjenige, der lange Zeit nicht auf den eigenen Beinen gestanden hat und dessen Muskeln darum geschwunden sind, das Gehen. Deswegen zügelt Zarathustra die Erwartungen seiner Jünger, wenn er erklärt, sie müssten damit rechnen, dass wahrscheinlich nicht sie selbst oder vielmehr ihr schaffender Wille den Übermenschen schaffen könne. Sofort macht er ihnen aber auch wieder Mut, indem er ihnen ihre Möglichkeiten im Rahmen des Projekts „Übermensch“ vor Augen hält: „Aber zu Vätern und Vorfahren könntet ihr euch umschaffen des Übermenschen: und Diess sei euer bestes Schaffen!“ (Z II Inseln; KSA 4, 109). Der Übermensch ist also ein ideales Ziel, das ausgegeben wird, damit der Mensch an ihm seinen schwach gewordenen Willen gleichsam trainieren kann. Das Besondere an diesem Ziel besteht darin, dass zu seiner Realisierung genau das verlangt wird, was das Ziel in seinem Kern ausmacht: die fortgesetzte Selbstüberwindung. Damit wird das eigentlich unerreichbare Ziel in gewisser Weise doch eingelöst, und zwar dadurch, dass es aktiv angestrebt wird bzw. während es angestrebt wird. Im Unterschied zu dem Menschen, der dem Übermenschen nachjagt, ohne zu realisieren, dass es sich um ein Ziel handelt, das seinen Zweck erfüllt, indem es sich nicht erreichen lässt – so dass dieser Mensch, trotzdem er sich laufend selbst überwindet, eine gewisse Ähnlichkeit mit dem für seine Dummheit berühmten Esel aufweist, der sich nur dadurch in Bewegung setzt, dass er auf einen Trick hereinfällt, wenn er sich vergeblich darum bemüht, eine vor seiner Schnauze hängende Möhre zu erreichen – vermag das souveräne Individuum, das Nietzsches Hoffnung in der Genealogie der Moral ist,⁵⁵⁴ auf ein externes Ziel seines Handelns zu verzichten. Die Motivation zu handeln, verliert es dennoch nicht. Denn schon den bloßen Vollzug der Handlung hält es für sinnvoll, insofern es die Maßstäbe seines Handelns explizit selbst gesetzt hat, so dass es sich in diesem autonomen Handeln gewissermaßen selbst schafft. Wenn der Übermensch für Nietzsches Philosophie in der Zeit nach Also sprach Zarathustra keine Rolle mehr spielt, dann liegt das meines Erachtens nicht daran, dass Nietzsche den Gedanken, der hinter diesem Idealbild steht, aufgegeben hätte. Der Übermensch lebt vielmehr im souveränen Individuum fort. Anders als in der Genealogie geht es im Zarathustra jedoch nicht nur um die Gestalt eines dem Nihilismus trotzenden Menschen, sondern auch um eine Art pädagogisches Programm zur Entwicklung einer solchen Gestalt. Zarathustra fragt also nicht bloß, wie der Mensch beschaffen sein muss, um trotz des Wegbruchs aller metaphysischen Gewissheiten ein Leben zu führen, das dem Nihilismus widersteht, sondern zusätzlich, wie es

554 Vgl. Kapitel V.3.

Die ewige Wiederkunft des Gleichen   

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möglich ist, die dazu benötigten „Tugenden“ überhaupt zu entwickeln. Der Übermensch als neuer postmetaphysischer Orientierungspunkt, der dem Willen des Menschen auf die Sprünge helfen soll, auf dass dieser eines Tages die nötige Souveränität und Willensstärke erlangt, sich selbst Grund genug für eine Bejahung des Lebens zu sein, ist der eine Schlüssel zu einer solchen Entwicklung. Der andere Schlüssel ist der Gedanke der ewigen Wiederkunft. Der Wiederkunftsgedanke ist gleichfalls ein Probierstein für den menschlichen Willen und gehört so ebenfalls in den Rahmen des besagten pädagogischen Programms; zudem spielt er eine gewichtige Rolle bei der Befreiung der menschlichen „Seele“ vom Ressentiment, das einer Bejahung des Daseins ganz entschieden im Weg steht, da es das Leben mit seinem vergifteten und vergiftenden Nein besudelt.

9.2 Die ewige Wiederkunft des Gleichen als Probierstein des Willens und höchste Formel der Bejahung In Nietzsches publiziertem Werk wird die ewige Wiederkunft des Gleichen explizit in Aphorismus Nr. 341 (Das grösste Schwergewicht) der Fröhlichen Wissenschaft eingeführt. Der Wiederkunftgedanke „einer kosmischen Rotation aller Ereignisse“ (Gerhardt 1999, 192) taucht jedoch schon früher, in Aphorismus Nr. 109 (Hüten wir uns!) desselben Werkes, auf, wenn Nietzsche sich an einer Gesamtdeutung der Welt versucht: Der Gesammt-Charakter der Welt ist (…) in alle Ewigkeit Chaos, nicht im Sinne der fehlenden Nothwendigkeit, sondern der fehlenden Ordnung, Gliederung, Form, Schönheit, Weisheit, und wie alle unsere ästhetischen Menschlichkeiten heissen. Von unserer Vernunft aus geurtheilt, sind die verunglückten Würfe weitaus die Regel, die Ausnahmen sind nicht das geheime Ziel und das ganze Spielwerk wiederholt ewig seine Weise, die nie eine Melodie heissen darf (…). (FW 109; KSA 3, 468)

Dass die Welt ein ewiges, chaotisches und zielloses Werden sei, ist dem NietzscheLeser schon seit dem Tragödienbuch bekannt. Dass sich dieses Weltspiel ewig wiederholen soll, ist dagegen eine Neuigkeit. Sollte Nietzsche etwa seinem verehrten Heraklit untreu geworden sein, der bekanntlich verkündet, man könne „nicht zweimal in denselben Fluss steigen“ (DK, 22 B31)?⁵⁵⁵ Im Falle einer ewigen Wiederholung allen Geschehens sieht das freilich ganz anders aus. Nicht nur, dass man unter diesen Umständen sehr wohl zweimal in denselben Fluss steigen kann – es wird einem gar

555 Man ist sich, nebenbei bemerkt, in der Heraklit-Forschung nicht einig darüber, ob diese Aussage auch wirklich Heraklit zuzuschreiben sei, was jedoch nichts an der festen Verknüpfung des Namens „Heraklit“ mit der „Flusslehre“ ändert.

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nicht anderes übrig bleiben, als immer und immer wieder in denselben Fluss zu steigen.⁵⁵⁶ Was ist von diesem Gedanken zu halten? Er besagt in der Hauptsache, dass alles, was sich bisher ereignet hat, sich genauso wie alles, was sich noch ereignen wird, ewig wiederholt, so dass, wenn gewissermaßen bereits eine Ewigkeit vergangen ist, unser Zukünftiges schon jetzt unser Vergangenes ist und unser Vergangenes unser Zukünftiges. Diese Vorstellung ist janusköpfig. Die ewige Wiederkunft taugt geradezu als Musterbeispiel eines Vexierbildes. Einmal liegt in ihr die Möglichkeit, die Bejahung des Daseins zu verewigen und das Ressentiment zu überwinden; andererseits droht das Werden (des je einzelnen Seienden) unter der Voraussetzung einer ewigen Wiederholung endgültig zu einer Qual ad infinitum auszuarten, wäre dann doch auch der letzte Ausweg aus dem Leiden am Leben, das endgültige Vergehen in ein definitives Vergangensein, versperrt. Zunächst, in (A), werde ich den befreienden Aspekt des Wiederkunftsgedanken ins Auge fassen, und zwar im Hinblick auf das Ressentiment. Danach, in (B), geht es um die Schrecken des Gedankens, um seine nihilistische Sprengkraft sozusagen. Schließlich wird in (C) nach einem Umgang mit dem Gedanken oder nach einem Sichzu-ihm-Verhalten gesucht, das, statt seinen nihilistischen Implikationen zu erliegen, eine antinihilistische Wende einleitet. Es geht also in gewisser Weise um das alchemistische Zentralproblem, wie sich Blei in Gold verwandeln lässt.⁵⁵⁷ (A): Wie verhält es sich mit der ewigen Wiederkunft und dem Ressentiment? Nietzsche behandelt dieses Thema in seinem Zarathustra und zwar am Beispiel von dessen Hauptperson, also an Zarathustra selbst. Wirklich ist Also sprach Zarathustra ein Buch, das auch vom Kampf des Menschen gegen das Ressentiment erzählt. Was ist die Essenz von Zarathustras Ressentiment? Woran leidet der Weise vom Berge? Welcher Geist hat sich seines Inneren bemächtigt und droht seine Seele zu zerfressen? Es ist die Ohnmacht gegenüber der Vergangenheit, die Zarathustras schaffenden Willen auf eine harte Probe stellt. In der Episode Der Wahrsager konfrontiert Nietzsche seinen Titelhelden mit der pessimistischen Rede eines Wahrsagers, die Zarathustra schwer zusetzt. Der Wahrsager sieht eine Zeit auf die Menschen zukommen, in der sie ihre Schaffenskraft und ihren Zukunftswillen verloren haben werden, weil sie die Vergeblichkeit all ihres Strebens angesichts des vernichtenden Charakters der Zeit, die 556 Auf die Frage, ob man selbst unter der Bedingung der ewigen Wiederkunft überhaupt zweimal in denselben oder nicht vielmehr bloß in den exakt gleichen Fluss steigen kann, wird noch zurückzukommen sein. 557 In Vom Gesicht und Räthsel nennt der Geist der Schwere Zarathustra einmal spöttisch „Stein der Weisheit“ (Z III Räthsel 1; KSA 4, 198), womit er diesem indirekt eine Art Hybris vorwirft, nämlich den alten, gleichermaßen wahnsinnigen wie machthungrigen Traum der Alchemisten zu träumen, unter anderem Blei in Gold verwandeln zu können. Diese Verwandlung soll der Legende nach durch eine von den Alchemisten „Stein der Weisen“ genannte Substanz möglich sein, die auch als Universalmedizin einsetzbar ist, deren Einnahme zudem eine lange, wenn nicht gar ewige Jugend verspricht (vgl. Principe 1998, 215ff.).

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jeden Augenblick lebendiger Gegenwart unerbittlich in die tote Gewesenheit der Vergangenheit hinabzieht, eingesehen haben. Die Folge dieser abgründigen Einsicht ist eine fundamentale und zutiefst nihilistische Müdigkeit. Den Menschen ist ihre Schaffenskraft abhanden gekommen, wodurch sie schlimmer noch als scheintot, nämlich scheinlebendig, weiterexistieren; denn sie sind sogar zum Sterben zu müde:⁵⁵⁸ „– und ich sahe eine grosse Traurigkeit über die Menschen kommen. Die Besten wurden ihrer Werke müde./Eine Lehre ergieng, ein Glauben lief neben ihr: „Alles ist leer, Alles ist gleich, Alles war!“/Und von allen Hügeln klang es wieder: „Alles ist leer, Alles ist gleich, Alles war!“/Wohl haben wir geerntet: aber warum wurden alle Früchte uns faul und braun? Was fiel vom bösen Monde bei der letzten Nacht hernieder?/Umsonst war alle Arbeit, Gift ist unser Wein geworden, böser Blick sengte unsre Felder und Herzen gelb. (…) Wahrlich, zum Sterben wurden wir schon zu müde; nun wachen wir noch und leben fort – in Grabkammern!“ – (Z II Wahrsager; KSA 4, 172)

Schwer erschüttert durch diese Worte geht Zarathustra, obschon müde, tieftraurig drei Tage lang rast- und sprachlos umher, bis er endlich in einen tiefen, von seinen besorgten Jüngern bewachten Schlaf fällt, während dessen er einen schauerlichen Traum träumt. Nachdem er endlich, aufgeschreckt durch seinen eigenen Schrei, wieder aufgewacht ist, macht er sich, noch während er im Bett liegt, daran, den Jüngern von seinem Traum zu erzählen. Dieser sei ihm einstweilen noch ein Rätsel, dessen Sinn zu erraten, seine Freunde ihm helfen sollen. Im Traum ist Zarathustra ein Grabwächter, der von einem brausenden und pfeifenden Wind überrascht wird, der die Tore der Gruft aufreißt, dem erschreckten Zarathustra einen schwarzen Sarg entgegenwirft, der im Brausen des Windes zerschmettert und „tausendfältiges Gelächter (…) tausend Fratzen von Kindern, Engeln, Eulen, Narren und kindergrossen Schmetterlingen“ ausspeit, die den Totenwächter verlachen und verhöhnen. Noch bevor der Träumer selbst eine Deutung wagt, weiß „der Jünger, den er am meisten lieb hatte“ (Z II Wahrsager; KSA 4, 174), Rat, indem er mutmaßt, sein Meister habe seine eigenen Feinde geträumt, denen er gerade nicht als Totenwächter, sondern, in diametralem Gegensatz, als „Fürsprecher des Lebens“ jener pfeifende Wind und jener „Sarg voll bunter Bosheiten und Engelsfratzen des Lebens“ sei (Z II Wahrsager; KSA 4, 175). Tatsächlich lässt Zarathustra hiernach von seiner Traurigkeit ab (oder seine Traurigkeit von ihm). Weder versucht er sich im Weiteren selbst an einer Traumdeutung, noch äußert er sich zu der von dem Jünger vorgetragenen. Allerdings blickt er dem Traumdeuter lange ins Gesicht und schüttelt dabei den Kopf.

558 Das erfüllte Sterben, d. i. das Sterben zur rechten Zeit, welches einen Tod aus Fülle, einen „vollbringenden Tod“ (Z I Tode; KSA 4, 93; vgl. dazu Z III Tafeln 3; KSA 4, 249, wo der in seine Höhle zurückgekehrte Zarathustra erklärt: „Denn noch Ein Mal will ich zu den Menschen: unter ihnen will ich untergehen, sterbend will ich ihnen meine reichste Gabe geben!“) meint, ist ein wichtiges Thema im Zarathustra, womit Nietzsche an die antike, und zwar besonders an die stoische Philosophie anknüpft (vgl. Vivarelli 2001, 80f.).

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Ein Kopfschütteln muss nicht zwangsläufig als eine Geste der Ablehnung verstanden werden. Es kann auch der erstaunt anerkennende mimische Kommentar über eine Idee bzw. eine Aulegung sein. Zarathustras Anti-Lehren, Gleichnisse, Träume, Rätsel und Lieder sind generell interpretationsbedürftig. Wenn ein Anderer sich an eine Auslegung wagt, reagiert Zarathustra zumeist mahnend; er weist den Interpreten darauf hin, dass dieser es sich nicht zu leicht machen solle.⁵⁵⁹ Der Vorwurf des Zu-leichtMachens besagt meines Erachtens, dass gerade derjenige, der wesentliche Aspekte von etwas Auszulegendem begriffen hat, der also tatsächlich ein gewisses Verständnis hinsichtlich des betreffenden Gegenstandes erreicht hat, sich hüten sollte, diesen fortan so zu betrachten, als sei er eben durch dieses Verstandensein erledigt. Wahr ist dagegen nicht nur, dass sich Gegenstände, gerade wenn es sich um Geistesgegenstände wie ein Gleichnis oder einen Traum handelt, prinzipiell auslegungsoffen sind und somit immer wieder neu und anders verstanden werden können – wahr ist auch, dass über das Erfassen eines bestimmten Sachgehaltes die existenzielle Dimension, die ein Gegenstand (möglicherweise) aufweist, nicht unterschlagen werden darf. Das Zu-leicht-Machen ist ein Zu-leicht-Nehmen. Ebendas ist der Fehler, dem Zarathustras Mahnung in erster Linie gilt; und genau darin liegt, wie mir scheint, auch der Mangel der Traumdeutung des Jüngers. Konkret gesagt: Der Gedanke, dass auch der Fürsprecher des Lebens mit dem Ressentiment gegenüber der Macht der Zeitlichkeit, welches vergiftende Gefühl das Leben zu töten vermag, noch bevor es wirklich erlischt, zu kämpfen hat, bleibt in der Auslegung des Jüngers weitgehend ungedacht. Und die Möglichkeit, dass Zarathustra in diesem Kampf auch unterliegen könnte, wodurch seine Mission als Fürsprecher des Lebens gescheitert wäre, bleibt sogar gänzlich ausgespart. Der Jünger zieht dies anders als der existenziell betroffene, durch den eigenen Angstschrei erwachte Zarathustra nicht in Betracht. Die lineare Struktur der Zeit, der zufolge jeder Augenblick unwiederbringlich in das (Toten-)Reich der Vergangenheit fällt,⁵⁶⁰ auf das der Mensch nur noch vermöge der Erinnerung zugreifen, das er jedoch nicht mehr im Modus des Schaffens betreten kann, so dass sein schaffender Wille vor der Schwelle dieses Reiches stehen bleiben muss, ist für Zarathustra ein Problem. Wenn es um das Wollen der Vergangenheit geht, erfährt der Wille zur Macht seine eigene Ohnmacht. Die Erfahrung, dass alles, was man tut, am Ende doch gleichgültig ist, weil es ja doch nur dem „Es war“ anheim fällt, auf das der Wille keinen Einfluss mehr hat, lähmt den Willen. Er bindet sich gleichsam an das festgestellte, definitive „Es war“, wodurch er selber nicht mehr von der Stelle kommt. Die Erlösung des Vergangenen wird somit zu einer zentralen

559 Das gilt vornehmlich für Auslegungen der ewigen Wiederkunft (vgl. Z III Räthsel 2; KSA 4, 200 und Z III Genesende 2; KSA 4, 272f.). 560 „Das Gesetz der Zeit“ besteht darin, dass diese, wie der antike Mythos vom Titanen Kronos zeigt, „ihre Kinder fressen muss“. Dies ist „der Zeit Begierde – das ist des Willens einsamste Trübsal“ (Z II Erlösung; KSA 4, 180).

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Aufgabe für Zarathustra, weil mit ihr die Loslösung bzw. Befreiung des Willens verbunden ist: Die Vergangnen zu erlösen und alles „Es war“ umzuschaffen in ein „So wollte ich es!“  – das hiesse mir erst Erlösung!/Wille – so heisst der Befreier und Freudebringer: also lehrte ich euch, meine Freunde! Und nun lernt diess hinzu: der Wille selber ist noch ein Gefangener./Wollen befreit: aber wie heisst Das, was auch den Befreier noch in Ketten schlägt?/„Es war“: also heisst des Willens Zähneknirschen und einsamste Trübsal. Ohnmächtig gegen Das, was gethan ist – ist er allem Vergangenen ein böser Zuschauer./Nicht zurück kann der Wille wollen; dass er die Zeit nicht brechen kann und der Zeit Begierde, – das ist des Willens einsamste Trübsal./Wollen befreit: was ersinnt sich das Wollen selber, dass es los seiner Trübsal werde und seines Kerkers spotte?/Ach, ein Narr wird jeder Gefangene! Närrisch erlöst sich auch der gefangene Wille./Dass die Zeit nicht zurückläuft, das ist sein Ingrimm; „Das, was war“ – so heisst der Stein, den er nicht wälzen kann./Und so wälzt er Steine aus Ingrimm und Unmuth und übt Rache an dem, was nicht gleich ihm Grimm und Unmuth fühlt./Also wurde der Wille, der Befreier, ein Wehethäter: und an Allem, was leiden kann, nimmt er Rache dafür, dass er nicht zurück kann./„Diess, ja diess allein ist Rache selber: des Willens Widerwille gegen die Zeit und ihr „Es war.“ (Z II Erlösung; KSA 4, 179f.)

Der Wille zur Macht ist es nicht gewohnt, die passive Rolle eines Zuschauers einzunehmen. Er ist viel lieber ein Akteur auf der Bühne des Lebens. Wenn es aber um die Vergangenheit geht, findet er sich plötzlich im Zuschauerraum vor, von wo aus er nicht aktiv in das Leben eingreifen kann. Seine passive Rolle widerstrebt ihm wesensgemäß, weil er als Wille will, d. h. auf seinen Vollzug ausgerichtet ist. Es geht ihm stets um die Aktualisierung seiner Macht. Mit anderen Worten: Der Wille zur Macht ist nicht nur ein mächtiger Wille, d. i. ein reines Vermögen, sondern ein Wille, der zur Macht will, den es also über den Zustand der bloßen Potenzialität hinausdrängt. Das Zuschauen ist ihm sonach wesensfremd, so dass er als Zuschauer zwangsläufig zum – wie es oben im Zitat heißt – „bösen Zuschauer“ wird. An diesem Punkt fließt das Gift des Ressentiments, und der Wille, der eigentlich ein Befreier sein sollte,⁵⁶¹ wird zum „Wehetäter“, der ganz vom Geist der Rache, diesem durch und durch reaktiven Geist, erfüllt ist. Der Widerwille gegen die Zeit spricht sich in einem Handeln aus, das sich ganz auf die Vergangenheit konzentriert, an der es insofern Rache üben will, als es bemüht ist, sie auszulöschen. Rache, wie sie im Zarathustra thematisiert wird, ist „nicht bloß die spätere Sanktion gegen eine Verletzung oder auch nur gegen eine unerwünschte Tat, die von anderen Personen begangen wurde“; sie ist allgemeiner zu verstehen, als „der Versuch, Getanes oder Geschehenes durch ein neues Tun irgendwie ungeschehen zu machen“ (Stekeler-Weithofer 2003, 73). So gibt der Geist der Rache die Gegenwart um die Vergangenheit Preis, wenn anders er den Augenblick, d. h. ausgerechnet jenen Punkt, an dem Zukunft gestaltet werden kann, an die

561 So wie er sich in Von den drei Verwandlungen z. B. als Löwe, der sagt: „ich will“, gegen den Drachen, der befiehlt: „du sollst“, erhebt, um sich aus dessen Klauen zu befreien (vgl. Z I Verwandlungen; KSA 4, 30).

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Vergangenheit hingibt, wodurch er zugleich die Zukunft, um die es dem Willen zumal gehen sollte, aus dem Blick verliert.⁵⁶² Wer auf diese Weise vom Ressentiment durchströmt wird, ist schier unendlich weit vom Ideal des Übermenschen entfernt, verlangt es doch vom Menschen, dass er sich an die Gegenwart um der Zukunft und nicht um der Vergangenheit willen halte. So führt der Geist der Rache den Menschen überall hin, nur nicht in Richtung des Übermenschen.⁵⁶³ Auf dessen Fährte wird er sich solange definitiv nicht begeben – oder, gesetzt er sei einstmals auf den Spuren des Übermenschen gewandelt, nicht zurückbegeben  –, wie sich der Widerwille gewordene Wille nicht vom Geist der Rache befreit. Dazu muss sich der reaktive Widerwille in einen aktiven Willen transformieren, welche Verwandlung sich freilich, da sie ein Akt ist, selbst voraussetzt. Somit befindet sich der Wille in einem Dilemma. Was nun? Gibt es einen Ausweg aus dieser Bedrängnis?⁵⁶⁴ Um sich selbst zu erlösen, was vom Willen gefordert ist, da niemand anderes für ihn wollen kann, muss der Wille das Zurückwollen lernen. Was soll das aber bedeuten, „zurückwollen“? „Alles ‚Es war‘ ist ein Brüchstück, ein Räthsel, ein grauser Zufall – bis der schaffende Wille dazu sagt: ‚aber so wollte ich es!‘“, sagt Zarathustra. Es reicht demnach nicht, das Vergangene zu bejahen, indem man sich hier und jetzt dazu bekennt und im Brustton der Überzeugung sagt: „Ich will das, was war, so, wie es war.“ Zurückwollen ist schwieriger. Denn das aktuelle Bekenntnis zum Vergangenen kann einer spontanen Laune entsprungen sein, einem momentweisen Hochgefühl, das schon bald wieder verfliegen könnte, wobei es die Bejahung gleich mit davon trüge. Hinzu kommt: Wenn man etwas Geschehenes jetzt will, damals, als es geschah, aber nicht wollte, dann mag man – was schon viel ist – zwar jetzt mit der Vergangenheit versöhnt sein, allerdings bleibt die damalige Ohnmacht des Willens davon unberührt. Dem Willen zur Macht genügt die Versöhnung aber nicht: „Höheres als alle Versöhnung muss der

562 Pirmin Stekeler-Weithofer schlägt vor, den Widerwillen gegen die Zeit als „fehlgeleitete Sorge“ zu interpretieren: „Als Sorge kann sie nur zukunftsgerichtet sein. Wenn man sie auf das Vergangene bezieht, macht man daher einen hoffnungslosen, weil kategorialen, Fehler. Das Vergangene kann nur als Tatsache anerkannt werden. Es kann nicht ungeschehen gemacht werden. In Bezug auf die Vergangenheit ist Gelassenheit, nicht der Geist der Rache die richtige Haltung“ (Stekeler-Weithofer 2003, 74). 563 Es ist ein wesentliches Merkmal des Übermenschen, frei von Ressentiment zu sein, weswegen er auch nicht auf die Idee käme, das eigene Machtgefühl zu steigern, indem er andere leiden lässt. Letzteres aber tut der Geist der Rache, der versucht, sich möglichst schadlos zu halten, indem er, um die eigene Ohnmacht zu verdecken, Rache nimmt „an Allem, was leiden kann“ (Z II Erlösung; KSA 4, 180): Diese Taktik ist allerdings alles andere als gut gewählt, insofern sie den Willen keineswegs vom Ressentiment wird befreien können: „Although Zarathustra does not say so explicity, it is clear why he thinks the will’s revenge-strategy is foolish. For in ensuring that others suffer as it does, the will does not thereby feel any less impotence with respect to time, and hence does not diminish any of its own suffering“ (Loeb 2010, 176). 564 Um es gleich an dieser Stelle zu sagen: Soweit ich sehe, findet sich in Also sprach Zarathustra keine wirkliche Auflösung des Dilemmas, es sei denn, man akzeptiert als Lösung die Vorstellung, der Wille könne motiviert durch den Wiederkunftsgedanken gewissermaßen ins Schaffen springen.

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Wille wollen, welcher der Wille zur Macht ist (…)“ (Z II Erlösung; KSA  4, 181). Die Befreiung des Willens vom Leiden am Vergangenen gelingt nur, wenn das Vergangene auf allen Zeitebenen bejaht wird. Es soll gewollt worden sein, ferner jetzt gewollt und endlich auch zukünftig gewollt werden.⁵⁶⁵ Das ist leichter gesagt als getan. Eine der zentralen Tätigkeiten und Fähigkeiten des Willens zur Macht ist jedoch das Interpretieren. Er kann verschiedene Perspektiven auf das Leben einnehmen. So erscheinen die Geschehnisse in verschiedenem Licht. Was in der einen Perspektive in einem trüben Licht aufgeht, kann von einem anderen Blickwinkel gesehen schon sehr viel freundlicher erscheinen und wieder von einer anderen Warte aus betrachtet sogar erfreulich. Vermittels dieser Fähigkeit des Willens hat er tatsächlich auch eine gewisse Macht über die Vergangenheit, denn er ist dazu im Stande, sie neu zu interpretieren. In Nietzsches Worten: „[W]as i ch n i ch t vorher gewo llt hab e, da s muß ich nachher wo l l e n (gut-machen, einfügen  – eindämmen  – aber zusehen, ob ich’s kann!“ (NL 1882–1884, KSA 10, 17[38], 550f.). Solches Gut-machen des Vergangenen durch den Willen ist ein Zurückwollen. Doch Gut-machen muss streng unterschieden werden von selbstbetrügerischem Verfälschen. Wenn ich mich als Wollender in der Vergangenheit ohnmächtig erfahren habe, mache ich die Vergangenheit nicht gut, indem ich die Ohnmacht schlicht leugne. Wenn ich, um ein Beispiel zu geben, eine Stelle, um die ich mich beworben habe, nicht bekommen habe, weil mir eine für den Posten geeignetere Person vorgezogen wurde, dann mache ich mir das Geschehene nicht gut, indem ich es uminterpretiere, derart, dass ich mir selbst einrede, ich hätte die Stelle im Grunde ja doch nicht gewollt und sei darum im Bewerbungsgespräch nicht entschlossen genug aufgetreten. In Wahrheit sei ich aber der beste Kandidat gewesen und hätte, wenn ich nur wirklich gewollt hätte, die Stelle auch bekommen. Von Ohnmacht könne also nicht die Rede sein. Einen so billigen – wenn auch zum Teil überlebensnotwendigen – psychologischen Trick hat Nietzsche mit dem Zurückwollen nicht im Sinn. Das geschilderte Verhalten macht das entsprechende Kapitel des eigenen Lebens nicht gut, sondern radiert das Vergangene vielmehr aus, um die nun wieder freigewordenen Seiten neu zu beschreiben. Damit stellt es sich aber in den Dienst des Geistes der Rache, denn die Rache ist – wie oben ausgeführt – bemüht, das vergangene Geschehen oder die getane Tat durch ein neues Tun zu tilgen. Was Nietzsche „Gut-machen“ nennt, ist etwas anderes, etwas, das mit Nietzsches Überzeugung, wonach jeder Mensch die Summe seiner Handlungen und Erfahrungen ist, zusammenhängt. Somit ist jede unserer Erfahrungen und Handlungen für das, was wir sind, oder für die Person, die jeder von uns ist, bedeutsam. Wir müssen lernen, uns als ein aus Vielem bestehendes Ganzes zu betrachten. Nur ein einziges aus dem Mosaik unseres Selbst entferntes Teil bewirkt die Zersplitterung des gesamten Bildes. Wenn wir zulassen, dass der Geist der Rache Gewalt über uns gewinnt, zerstören wir

565 Entsprechend erklärt Zarathustra, alles „Es war“ bleibe solange ein „Bruchstück (…) – [b]is der schaffende Wille dazu sagt: ‚Aber so will ich es! So werde ich’s wollen!‘“ (Z II Erlösung; KSA 4, 181).

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uns selbst und die ganze Welt gleich mit, sofern alles mit allem verwoben ist. Nietzsche hat sich diesen Gedanken notiert: Der Begriff „verwerfliche Handlung“ macht uns Schwierigkeit: es kann nichts an sich Verwerfliches geben. Nichts von Alledem, was überhaupt geschieht, kann an sich verwerflich sein: d e n n man dürfte es nicht weghaben wollen: denn Jegliches ist so mit Allem verbunden, daß irgend Etwas ausschließen wollen, Alles ausschließen heißt. Eine verwerfliche Handlung: heißt eine verworfene Welt überhaupt. (NL 1887–1889, KSA 13, 14[31], 234)

Dieses Notat ist insofern wichtig, als es die Kehrseite eines Gedankens ist, den Nietzsche in seinem publizierten Werk stark macht, wenn es um die Bejahung des Daseins und der Welt sowie um die Versöhnung mit der Vergangenheit geht. Während der Geist der Rache den Nihilismus vollzieht, wenn er mit der expliziten Verneinung auch nur eines Teils der Vergangenheit das Dasein und die Welt im Ganzen verwirft, vermag ein mit der Vergangenheit versöhnter Wille sich selbst und die Welt als Ganze gutzuheißen, mithin den Nihilismus zu überwinden, wenn er auch nur einen Teil der Vergangenheit explizit bejaht. Es ist Zarathustra, der uns dies wissen lässt: Sagtet ihr jemals Ja zu Einer Lust? Oh, meine Freunde, so sagtet ihr Ja auch zu a l l e m Wehe. Alle Dinge sind verkettet, verfädelt, verliebt, –/– wolltet ihr jemals Ein Mal Zwei Mal, spracht ihr jemals „du gefällst mir, Glück! Husch! Augenblick!“ so wolltet ihr A l l e s zurück!/– Alles von neuem, Alles ewig, Alles verkettet, verfädelt, verliebt, oh so l i e b te t ihr die Welt, –/– ihr Ewigen, liebt sie ewig und allezeit: und auch zum Weh sprecht ihr: vergeh, aber komm zurück! D e n n alle Lu st w ill – Ew igkeit! (Z IV Nachtwandler-Lied 10; KSA 4, 402)

Wenn ich also mich und die Welt als ein solcherart Ganzes betrachte, wenn ich bedenke, dass ich nicht der wäre, der ich bin, wäre ich nicht auch gewesen, wer ich war bzw. hätte ich nicht erfahren, was ich erfahren und getan, was ich getan habe, und ferner, würde ich auch nicht der sein, der ich sein werde – dann befinde ich mich auf der richtigen Spur, sofern es darum geht, das Vergangene gut zu machen. Denn es gut zu machen bedeutet, das Vergangene im Licht der Gegenwart und Zukunft gut zu heißen. Die Alternative hierzu ist der Nihilismus. Der Wille zur Macht kann aber nicht nur die Vergangenheit interpretieren und perspektivieren, sondern auch die Zeit selbst. Wie wäre es, wenn die Zeit nicht linear verlaufen würde, sondern stattdessen einen Kreis beschriebe? Wäre damit nicht die Vergangenheit erlöst, sofern sie nicht mehr auf ewig ins Totenreich gehörte, sondern jeder Augenblick wie die Sonne zwar untergehen müsste, aber nicht versunken bliebe, sondern schließlich wieder aufginge? Müsste der augustinische Satz über die Zeit: „Nichts wird vom Vergangenen zurückgerufen, das Künftige wird als Vorübergehendes erwartet“ (Augustinus zit. nach Heidegger 1992[1951/52], 63), dann nicht umgeschrieben werden, so dass es hieße: „Alles ist ein Wiederkehrendes“? Und wäre dieser umgeschriebene Satz nicht tröstlicher als der ursprüngliche? Nun, selbst wenn man das ewige Wiederkehren als eine Erlösung des Vergangenen betrachtet, was man

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durchaus nicht muss,⁵⁶⁶ so ist mit dieser Vorstellung das Problem des Willens, nicht zurückwollen zu können, doch keinesfalls behoben. Vielmehr scheint das Gegenteil der Fall zu sein. Zunächst geht es ja nicht um die Erlösung der Vergangenheit, sondern um die des Willens zur Macht, der unter der definitiven Vergangenheit leidet, insofern sie ihm die Grenzen seiner Macht aufzeigt. Wenn die Zeit zirkulär gedacht wird, so dass sich alles ungewollt Geschehene ewig wiederholt, dann wird auf diese Weise auch die Ohnmacht des Willens verewigt. Kein Wunder also, dass Zarathustra, in dem der Gedanke der ewigen Wiederkunft schon länger schlummert, ja beinahe auf der Lauer liegt, sich beharrlich weigert, den Gedanken heraufzubeschwören. Zarathustra leidet schon genug unter dem unbewusst wirkenden Gedanken, der seine Träume bestimmt und seine Stimmung trübt. Vor dem Ausdrücklichwerden des Gedankens fürchtet er sich aber erst recht, denn er befürchtet, der Gedanke könnte seine Kräfte übersteigen.⁵⁶⁷ Macht die ewige Wiederkunft dann also alles nur noch schlimmer? Ja – es sei denn, der Wille will die ewige Wiederkunft wirklich. Als gewollte, aber nur als solche, wird sie zum Schlüssel, der die Ketten, durch die der Wille an den Geist der Rache geschmiedet ist, löst: Zarathustra muß die Kraft und den Mut finden, die ewige Wiederkunft „heraufzubeschwören“ und sie bewußt „anzuschauen“. Er muß den Gedanken der ewigen Wiederkunft „heraufrufen“, um zurückwollen zu lernen. Daß alles Ungewollte ewig wiederkehrt, ist für den Willen die furchtbarste Möglichkeit. Aber wenn er diese Möglichkeit will, dann hat er zurückwollen gelernt, denn er will nun, was er ursprünglich nicht gewollt hatte, mit der höchsten denkbaren Intensität – er will sogar dessen ewige Wiederholung. Es gibt für ihn insofern kein Ungewolltes mehr. (Brusotti 2000, 151)

So ist es die ewige Wiederkunft, die den Willen das Zurückwollen und damit Höheres als alle Versöhnung lehrt. Sie ist aber auch die größtmögliche Kraftprobe für den

566 Sich ewig wiederholen zu müssen, könnte auch als ein Zustand angesehen werden, von dem man sich eine Erlösung wünscht. 567 Aus diesem Grund weigert sich Zarathustra beharrlich, den Gedanken der ewigen Wiederkunft aus dem Unbewussten ins Bewusstsein zu rufen. Er verdrängt aber nicht nur den Gedanken, sondern, soweit wie möglich, bereits die Verdrängung des Gedankens vor sich selbst. Nietzsche zeigt dies besonders deutlich im zweiten Buch des Zarathustra im Kapitel Die stillste Stunde. Bezeichnenderweise ist es abermals ein Traum – der ‚Ort‘, an dem das Unbewusste gleichsam zuhause ist – während dessen Zarathustras „stillste S tu n d e“ (Z II Stunde; KSA 4, 187), d. i. seine „furchtbarste Herrin“, sich an den Weisen wendet. „Furchtbar“ ist sie ihm, weil sie als paränetische Stimme Furchtbares von Zarathustra verlangt. Er soll das so lange Unterdrückte nicht nur deutlich für sich selbst denken, sondern es darüber hinaus auch anderen verkünden. Zarathustra indessen sträubt sich:„‚Du we i s s t e s, Z ar athus tr a?‘ (…) ‚Du weisst es Zarathustra, aber du redest es nicht!‘ – /Und ich antwortete endlich gleich einem Trotzigen: ‚Ja, ich weiss es, aber ich will es nicht reden!‘/Da sprach es wieder ohne Stimme zu mir: ‚Du w illst nicht Zarathustra? Ist diess auch wahr? Verstecke dich nicht in deinen Trotz!‘ – /Und ich weinte und zitterte wie ein Kind und sprach: ‚Ach, ich wollte schon, aber wie kann ich es! Erlass mir diess nur! Es ist über meine Kraft!‘“ (Z II Stunde; KSA 4, 188).

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Willen, der an ihr, gesetzt er nimmt die Probe an, entweder gesundet oder endgültig zerbricht. (B): Allein selbst wenn im Gedanken der ewigen Wiederkunft die Möglichkeit einer Befreiung des Willens zur Macht vom Ressentiment liegt, so scheinen doch Zweifel angebracht, ob man die ewige Wiederkunft denn wirklich guten Gewissens und bei klarem Verstand wollen kann; immerhin handelt es sich um „die extremste Form des Nihilismus“ (NL 1885–1887, KSA 12, 5[71], 213). Aber was macht den Gedanken eigentlich so schrecklich? Einen ersten Grund habe ich oben bereits angeführt: Die Wiederkunft verunendlicht das Leben und damit das Leid. Eine Erlösung vom Leben bzw. vom Leiden ist damit ausgeschlossen. Die Tragödie unseres Lebens bleibt ohne Finale, der Vorhang wird nie endgültig geschlossen.⁵⁶⁸ Das ist aber noch nicht alles. Im Lenzerheide-Fragment wird die Wiederkunft deswegen zur extremsten Form des Nihilismus erklärt, weil sie die Sinnlosigkeit verunendlicht (vgl. NL 1885–1887, KSA 12, 5[71], 213). Dies tut sie, indem sie jede Form von Teleologie zurückweist, gleichviel ob diese nun religiöser oder säkularer Natur (wie z. B. die gesellschaftlichen „Reich-GottesHoffnungen des Sozialismus“; Anders 1981, 214) ist. Wenn sich alles ewig wiederholt, kann es keinen End- oder Zielzustand geben, der dem vorangehenden Geschehen im Sinne von Weischedels Sinnkette oder Aristoteles’ vollkommenem Ziel einen Sinn gibt. Somit ist alles sinnlos, gerade weil es ewig ist, und obendrein besteht die Sinnlosigkeit auch noch ewig. Doch auch damit der Schrecken nicht genug. Betrachten wir, um noch tiefer in den Abgrund, der sich durch und im „abgründlichen Gedanken“ (Z III Räthsel 2; KSA 4, 199) der Wiederkunft auftut, hineinzuspähen, einen besonders bekannten Abschnitt aus Also sprach Zarathustra; betrachten wir die zweite Rede des dritten Buches, Vom Gesicht und Räthsel, darin Zarathustra den Wiederkunftsgedanken zur Abwehr eines auf seiner Schulter sitzenden Zwerges einsetzt. Dieser Zwerg ist der Geist der Schwere, Zarathustras ganz persönlicher Genius malignus, der „genius gravitationis“, d. i. der Geist, „durch den alle Wesen und Dinge – fallen“ (NL 1882–1884, KSA 10, 3[1], 58).⁵⁶⁹ Er ist ein nihilistischer, gefährlicher Geist, denn er ist dazu fähig, dem Menschen die Lust am Leben zu nehmen, ihm dasselbe „abspenstig zu machen“.⁵⁷⁰ Er ist gleichsam der Wurm, der im Selbst sitzt, an diesem nagt und es

568 „Mensch! Dein ganzes Leben wird wie eine Sanduhr immer wieder umgedreht werden und immer wieder auslaufen – eine große Minute Zeit dazwischen, bis alle Bedingungen, aus denen du geworden bist, im Kreislaufe der Welt, wieder zusammenkommen“ (NL 1880–1882, KSA 9, 11[148], 498). 569 Im Ganzen heißt es dort: „‚Hast du deinen Teufel gesehen?‘  – Ja, schwer ernst tief gründlich pathetisch: so stand er da, recht als genius gravitationis, durch den alle Wesen und Dinge – fallen.“ Dass der Geist der Schwere identisch mit dem genius gravitationis ist, wird endgültig klar, wenn man eine Stelle aus Also sprach Zarathustra neben dieses Nachlass-Notat hält: „Und als ich meinen Teufel sah, da fand ich ihn ernst, gründlich, tief, feierlich: es war der Geist der Schwere, – durch ihn fallen alle Dinge“ (Z I Lesen; KSA 4, 49). 570 So Nietzsche in einer ersten Variante des Kapitels Vom Lesen und Schreiben (vgl. KGW VII/4.1, 63). Während für Descartes, den wohl zunächst zweifelnden, zuletzt aber optimistischen Erkenntnistheo-

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morsch macht. Seine so große, destruktive Macht verdankt er dem grundlegenden Umstand, dass das Leben „schwer zu tragen“ (Z I Lesen; KSA 4, 49) ist. Ausgerechnet gegen diesen maßgeblichen Repräsentanten des Nihilismus, gegen dessen rechte Hand sozusagen, führt Zarathustra den Nihilismus in seiner extremsten Form ins Treffen, darauf vertrauend, dass selbst der Genius gravitationis dem Wiederkunftsgedanken nicht gewachsen ist. Die Auseinandersetzung zwischen Zarathustra und dem Zwerg ist aber nur der erste Teil eines Rätsels, das den Rahmen für die Einführung der ewigen Wiederkunft durch Zarathustra bildet. Zu Vom Gesicht und Räthsel gehören außerdem eine Rahmenhandlung und der zweite Teil des Rätsels. Ich werde zunächst kurz auf die Rahmenhandlung eingehen. Zarathustra hat soeben die glückseligen Inseln und damit zugleich seine Freunde und Schüler verlassen, um per Schiff in sein Gebirge zurückzukehren. Er hat beschlossen, einmal mehr die Einsamkeit zu suchen, um endlich reif zu werden für den Wiederkunftsgedanken, der selber längst in ihm herangereift ist: „Oh Zarathustra, deine Früchte sind reif, aber du bist nicht reif für deine Früchte“ (Z II Stunde; KSA 4, 189), unterrichtete ihn seine stillste Stunde zwei Tage zuvor, womit sie nur das ausgesprochen hatte, was der Weise insgeheim schon länger selber wusste. Infolge der Einsicht der Zwecklosigkeit allen Widerstrebens leistet er ihrem Befehl schließlich, wenn auch zähneknirschend, Folge: „So musst du wieder in die Einsamkeit: denn du sollst noch mürbe werden (…)“ (Z II Stunde; KSA 4, 190). Zarathustra ist also an Bord eines Schiffes. Zu Beginn der Reise isoliert er sich, schon jetzt ganz auf die ihn bereits erwartende Einsamkeit eingestimmt, von den anderen Reisenden, was ihn jedoch nicht davon abhält, den an Bord geführten Gesprächen zu lauschen. Endlich, nachdem er „viel Seltsames und Gefährliches“ gehört hat, geht ihm aber auf, dass er unter Gefährten ist. Zarathustra erkennt in seinen Mitreisenden „kühne [] Sucher []“ und „Versucher []“, die sich mit „listigen Segeln auf furchtbare Meere“ einschiffen (Z III Räthsel 1; KSA  4, 197). Sonach befindet er sich also unter freien Geistern und demzufolge weniger unter Mitreisenden, als vielmehr unter Reisegefährten. Insofern sie sich freiwillig auf das offene Meer begeben haben, scheinen auch sie nach Antworten auf den Tod Gottes und die Situation des Nihilismus zu suchen. In diesen Menschen meint Zarathustra die richtigen Adressaten vor sich zu haben, um seinem bis hierher bewusst unter Verschluss gehaltenen schweren Gedanken zumindest ein wenig Raum zu geben. Indem er ihnen den Gedanken als Teil eines Rätsels vorlegt, öffnet Zarathustra den Verschluss ein Stück weit, aber keineswegs ganz. Zweierlei gilt es zu dieser besonderen Darstellungsform zu bemerken. Erstens erweist sie sich als ein Hieb gegen das klassische diskursive Verfahren der

retiker, gerade das Täuschen das Böseste darstellt, was ein Genius malignus tun kann, mithin dasjenige, was ihn allererst böse macht, muss für Nietzsche, den selbsterklärten Bejaher des Lebens und Überwinder des Nihilismus die Verneinung des Lebens das Schlimmste nur Vorstellbare bedeuten. Insofern ist der Geist der Schwere sein Genius malignus und Zarathustras Erzfeind.

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akademischen Philosophie,⁵⁷¹ wodurch sie implizit auf die existenzielle Bedeutung der ewigen Wiederkunft hindeutet – wer diesem Gedanken wirklich gerecht werden will, muss darauf als ganzer Mensch gleichsam mit Herz und Verstand reagieren. Zum Zweiten beweist sie, dass Zarathustra tatsächlich noch nicht reif genug ist, um den Gedanken mit letzter Konsequenz heraufzubeschwören. Wohl stellt er ihn dar, aber in das Gewand eines Rätsels gehüllt, wodurch er teilweise verhüllt bleibt. Hinzu kommt: Ein Rätsel ist etwas, was man erraten muss. Etwas zu erraten, ist wiederum ein spielerischer Akt. So relativiert oder federt Zarathustra den Ernst von etwas ab, vor dem er sich so sehr fürchtet, das aber wirklich furchtbar (und fruchtbar) nur dann ist, wenn es – wie noch deutlich werden wird – ernst genommen wird. Zuletzt erfolgt die Darstellung des Gedankens in Gesellschaft. Auch dieser Umstand ist nicht unerheblich. Es scheint, Zarathustra nutze die Gelegenheit, sich unter Gefährten zu befinden, um seinen Wiederkunftsgedanken in einer Art Teilbeschwörung heraufzurufen, was als eine Art Propädeutikum zu dessen vollständiger Heraufbeschwörung in aller Einsamkeit verstanden werden kann. Dergestalt vorbereitet, könnte ihm das Schwerste in der Einsamkeit, also dort, wo der Weise erbarmungslos auf sich selbst zurückgeworfen ist, vielleicht ein wenig leichter fallen. Soweit der Rahmen. Jetzt aber der erste Teil des Rätsels selbst: Düster gieng ich jüngst durch leichenfarbne Dämmerung,  – düster und hart, mit gepressten Lippen. Nicht nur Eine Sonne war mir untergegangen./Ein Pfad, der trotzig durch Geröll stieg, ein boshafter, einsamer, dem nicht Kraut, nicht Strauch mehr zusprach: ein Berg-Pfad knirschte unter dem Trotz meines Fusses./Stumm über höhnischem Geklirr von Kieseln schreitend, den Stein zertretend, der ihn gleiten liess: also zwang mein Fuss sich aufwärts. (Z III Räthsel 1, 198)

Zarathustra berichtet seinen Rätselfreunden von einem beschwerlichen Aufstieg, den er jüngst unternommen haben will. Das Ziel des Aufstiegs bleibt dabei im Ungewissen. Immerhin lässt er seine Zuhörer wissen, dass er sich auf einem „Berg-Pfad“ befunden habe. Entscheidend für die Eingangspassage des Rätsels ist aber ohnehin

571 Marco Brusotti bemerkt zum Rätselcharakter der ersten Darstellung der ewigen Wiederkunft im Zarathustra: „Zarathustra, der sich selbst (…) auch als ‚Rätselrather‘ bezeichnete, hat nun sein rätselhaftes Gesicht zu lösen und wendet sich an die Räthsel-Trunkenen, die zu erraten lieben  – die einen dichten Symbolismus entziffern wollen und sich auf eine schwierige Auslegung einzulassen wagen  – und sich nicht darauf beschränken wollen, einer deduktiven Argumentation und einem durchsichtigen logischen Faden zu folgen. Er weist also den Leser darauf hin, daß seine Erzählung in eine komplexe metaphorische Textur gekleidet ist“ (Brusotti 1997, 596). Es muss aber unbedingt festgehalten werden, dass es Nietzsche, dessen Texte ja auch immer wieder Argumente enthalten und logisch aufgebaut sind, nicht um eine generelle Verwerfung der klassischen Form von Philosophie geht. Auf jeden Fall will er sich darauf nicht beschränken lassen. Insbesondere im Zarathustra versucht sich Nietzsche an einer neuen, literarisch-poetischen Form von Philosophie. Und diese Form ist einem Gedanken wie der ewigen Wiederkunft, sofern es um dessen existenzielle und nicht etwa um dessen im Übrigen eher unwesentliche kosmologische Bedeutung und Begründung geht (ich komme darauf noch zurück), eben angemessener.

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nicht das Ziel des steinigen Weges, vermutlich gibt es ein solches überhaupt nicht,⁵⁷² sondern die Situation des den Bergpfad Hinaufsteigenden selbst. Sie wird näher bestimmt durch die düstere Landschaftsbeschreibung und die nicht minder düstere Stimmung des mit aufeinander gepressten Lippen verbissen kämpfenden, sich den Bergpfad hinaufzwingenden Zarathustra. „[N]icht nur Eine“ Sonne sei ihm untergegangen, beschreibt er seine Gemütslage metaphorisch. Das Bild von der untergegangenen Sonne ruft natürlich die Parabel vom tollen Menschen und somit den Tod Gottes auf den Plan.⁵⁷³ Zarathustras Rede von untergegangenen Sonnen im Plural indiziert außerdem, dass – wie ich im Zuge meiner Interpretation der Parabel festgestellt habe – mit Gottes Tod zugleich auch die absolute Moral und die absolute Wahrheit von der Bildfläche verschwunden sind. Somit deutet alles daraufhin, dass Zarathustra zu Beginn seines Rätsels die Situation des Nihilismus, d. i. die Situation, mit welcher der zeitgenössische Mensch konfrontiert ist, heraufruft. So öde und trostlos wie die an den Tod gemahnende Berglandschaft ist im Grunde genommen die ganze Welt geworden. Angesichts des Nihilismus hat sie sich in einen derart unwirtlichen Ort verwandelt, dass hier nicht einmal mehr so genügsame Gewächse wie „Kraut“ oder „Strauch“ Wurzeln schlagen.⁵⁷⁴ – Wie sollte sich erst der Mensch in einer solchen lebensfeindlichen Umgebung heimisch fühlen können? Einzig der Geist der Schwere weiß sich auf diesem Terrain zuhause. Kein Wunder also, dass er die Szene betritt. Unter Aufbietung seiner versammelten Kräfte zwingt sich Zarathustra aufwärts, derweil der Geist der Schwere ihm den Aufstieg bzw. das Leben so schwer wie möglich macht:

572 Das Ziel des Aufstiegs bleibt nicht etwa deswegen unbestimmt, weil Zarathustra es nicht preisgeben will, sondern weil seine Erzählung im Grunde den Bericht einer Art Vision darstellt, in der ein bestimmtes Ziel des Aufstiegs, etwa der Berggipfel, überhaupt nicht vorkommt. 573 Es sei bei dieser Gelegenheit erwähnt, dass ursprünglich Zarathustra für die Rolle des tollen Menschen als Verkünder des Todes Gottes vorgesehen war. Eine Vorstufe zu FW 125 (Der tolle Mensch) beginnt wie folgt: „Einmal zündete Z am hellen Vormittage eine Laterne an, lief auf den Markt und schrie: ich suche Gott! Ich suche Gott! (…)“ (KSA 14, 256). 574 Der Unwirtlichkeit der Berglandschaft korrespondiert die Unwirtlichkeit der Wüste, die Nietzsche metaphorisch andernorts als Ort des Nihilismus inszeniert: „Die Wüste wächst: weh dem, der Wüsten birgt!/Stein knirscht an Stein, die Wüste schlingt und würgt. Der ungeheure Tod blickt glühend braun/und kau t ,  – sein Leben ist sein Kaun…“ (DD Wüste 3; KSA 6, 387). Heideggers Kommentar zu Nietzsches Wort von der wachsenden Wüste arbeitet den darin enthaltenen Hinweis auf den Nihilismus deutlich heraus: „Man findet, die Welt sei nicht nur aus den Fugen, sondern sie rolle weg ins Nichts des Sinnlosen. Nietzsche sagt, alldem weit vorausblickend aus höchstem Standort, bereits in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts dafür das einfache, weil gedachte Wort: ‚Die Wüste wächst‘. Das will sagen: die Verwüstung breitet sich aus. Verwüstung ist mehr als Zerstörung. Verwüstung ist unheimlicher als Vernichtung. Die Zerstörung beseitigt nur das bisher Gewachsene und Gebaute; die Verwüstung aber unterbindet künftiges Wachstum und verwehrt jedes Bauen. Die Verwüstung ist unheimlicher als die bloße Vernichtung. Auch diese beseitigt und zwar auch noch das Nichts, während die Verwüstung das Unterbindende und Verwehrende gerade bestellt und ausbreitet“ (Heidegger 1992[1951/1952], 18).

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Aufwärts:  – dem Geist zum Trotz, der ihn abwärts zog, abgrundwärts zog, dem Geiste der Schwere, meinem Teufel und Erzfeinde./Aufwärts: obwohl er auf mir sass, halb Zwerg, halb Maulwurf; lahm; lähmend; Blei durch mein Ohr, Bleitropfen-Gedanken in mein Hirn träufelnd. (Z III Räthsel 1; KSA 4, 198)

Der Genius gravitationis will Zarathustra am Aufstieg hindern. Wie ein Bleigewicht lastet er auf dem menschlichen Willen, mit dem Ziel, den Menschen klein zu halten. Aber der Verkünder des Übermenschen und des Gebotes der Selbstüberwindung will sich nicht kleinhalten lassen. Entschlossen stellt er sich dem teuflischen Souffleur entgegen. Im Zeichen der Einsicht, dass Mut der beste Totschläger sei,⁵⁷⁵ legt es Zarathustra auf eine Entscheidung an, auf ein Entweder-Oder: „Halt! Zwerg! sprach ich. Ich! Oder du! Ich aber bin der Stärkere von uns Beiden – : du kennst meinen abgründlichen Gedanken nicht! Den – könntest du nicht ertragen!“ (Z III Räthsel 2; KSA 4, 199). Und Zarathustra macht ernst. Als die beiden Kontrahenten an einen Torweg gelangen, der den Augenblick der Entscheidung symbolisiert, konfrontiert Zarathustra seinen Erzfeind tatsächlich mit dem „abgründlichen“ Gedanken: „Siehe diesen Thorweg! Zwerg! (…) der hat zwei Gesichter. Zwei Wege kommen hier zusammen: die gieng noch Niemand zu Ende./Diese lange Gasse zurück: statt, die währt eine Ewigkeit. Und jene lange Gasse hinaus – das ist eine andre Ewigkeit./Sie widersprechen sich, diese Wege (…) und hier, an diesem Thorwege, ist es, wo sie zusammenkommen. Der Name des Thorwegs steht oben geschrieben: „Augenblick“./Aber wer Einen von ihnen weiter gienge – und immer weiter (…) glaubst du, Zwerg, dass diese Wege sich ewig widersprechen?“ (Z III Räthsel 2; KSA 4, 199f.)

Indem Zarathustra in Aussicht stellt, dass die beiden endlosen Wege (Vergangenheit und Zukunft), die vom Augenblick (Gegenwart) abzweigen und also fortan getrennte Wege zu sein scheinen, sich in ihrem Lauf doch nicht ewig widersprechen müssen, dass sie vielmehr in einer gewissen Ferne wieder aufeinander zulaufen könnten, solange bis sie sich wieder kreuzen, stellt er die lineare Zeitstruktur in Frage und plädiert stattdessen für ein zyklisches Zeitverständnis. Den Zwerg scheint diese neue Perspektive auf die Zeit zunächst nicht sonderlich zu beeindrucken. Er begreift deren Folgen nicht, weil er nicht versteht, welche Konsequenzen das neue Zeitverständnis für den Torweg, d. h. für den Augenblick, sowie für denjenigen, der am Torweg steht, mit sich bringt. Der Zwerg stellt lapidar fest, die Zeit sei dann eben ein Kreis: „Alles Gerade lügt (…). Alle Wahrheit ist krumm, die Zeit selber ist ein Kreis“ (Z III Räthsel 2; KSA 4, 200). Doch so einfach ist die Sache nicht. Sein allzu oberflächliches Verstehen des Gedankens der Wiederkunft ist das Resultat seiner Perspektive auf die Zeit. Er blickt wie von außerhalb auf den Kreis, so als stünde er selber nicht mitten

575 „Aber es giebt Etwas in mir, das ich Muth heisse: das schlug bisher mir jeden Unmuth todt. Dieser Muth hiess mich endlich stille stehn und sprechen: ‚Zwerg! Du! Oder ich!‘ – /Muth nämlich ist der beste Todtschläger,  – Muth welcher angreif t: denn in jedem Angriffe ist klingendes Spiel“ (Z III Räthsel 1; KSA 4, 198f.). Diese Stelle betont die Aktivität des Mutes als Willensakt.

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darin. Doch wie sollte er je außerhalb der Zeit stehen können? Für Zarathustra ist der Gedanke unter anderem deswegen so Furcht einflößend, weil er im Unterschied zum Zwerg um seine Eingeflochtenheit in das Rad des werdenden Seins weiß. Dementsprechend richtet er seinen Blick ausdrücklich aus der Perspektive des Augenblicks auf die Zeit. Eigentlich sieht von den beiden Kontrahenten nur Zarathustra in diesem Moment den Augenblick wirklich, denn „[d]en Augenblick sehen, heißt: in ihm stehen“ (Heidegger 1961, Bd. 1, 312). Aber nicht jeder, der im Augenblick steht, sieht den Augenblick auch tatsächlich. Das Stehen im Augenblick ist nur die notwendige und im Übrigen unumgängliche, nicht aber bereits die hinreichende Bedingung für das Sehen des Augenblicks. Der Zwerg ist das beste Beispiel für ein geflissentliches Übersehen des Augenblicks. Er erweist sich, wie man sagen könnte, nicht als kurz-, sondern als weitsichtig, indem er seine eigene zeitimmanente Position übergeht. Der Augenblick ist sein blinder Fleck, wodurch ihm entgeht, inwiefern der Wiederkunftsgedanke den Augenblick und infolgedessen auch ihn, den Zwerg selbst, betrifft. Um welche Konsequenzen aber handelt es sich? Inwiefern betrifft der Wiederkunftsgedanke sowohl den Augenblick als auch den in ihm Stehenden? Der Augenblick fungiert als Zäsur des Zeitstroms, von der ausgehend überhaupt erst eine Unterscheidung der beiden sich treffenden Gassen und folglich zweier Zeitrichtungen vorgenommen werden kann. In Zarathustras Perspektive wird er nun selbst in die Zeit hineingenommen. D. h., er wird in jene Zeit integriert, in der das Vergangene immer wiederkommt und das Zukünftige immer schon war, und partizipiert an beidem. Sonach wird er ebenfalls ewig wiederkommen und immer schon gewesen sein. Auf diese Weise verliert er aber seinen Status als Zäsur, weil er ja selbst ewig auf dem Wege ist, durch diese niemals enden wollende Gasse, die Zeit. Mithin bedeutet der konsequent zu Ende gedachte Wiederkunftsgedanke – und damit ist ein weiterer Schrecken des Gedankens bezeichnet – nicht weniger als den Verlust der Gegenwart: Die Verzeitlichung des Augenblicks ist gleichbedeutend mit dem Verlust der eigenen Gegenwart – und letztlich jeder Gegenwart, da jede vorstellbare Zeitmarke in der verabsolutierten Zeit verschwindet. Die Gegenwart des eigenen Lebens wird zu einem Geschehen, das man wie von außen betrachtet, ohne noch sagen zu können von woher. So geht die Zeit selbst verloren, zumindest als erfahrbare und erfahrene Zeit, und auch das Geschehen lässt sich nicht mehr vorstellen, nachdem die Zeit es verschlungen hat. Die Vorstellung ist wie ein Zerren in die reine Äußerlichkeit, aus der es zudem keine Erlösung gibt. Weil jedes Geschehnis „ewig wiederkommen wird“, ist man eingesperrt in die ewig sinnlose Äußerlichkeit des Werdens. (Figal 1999, 273f.)⁵⁷⁶

Zarathustra will den Zwerg nicht so einfach davon kommen und die gewaltige Kraft des Wiederkunftgedankens nicht so ohne Weiteres verpuffen lassen. Also lenkt er die 576 Der Verzeitlichung des Augenblicks trägt auch die Rahmenhandlung Rechnung: „Wichtig scheint mir für den Passus über Gesicht und Räthsel, dass sich Zarathustra auf einem Schiff befindet, also in Bewegung ist, wie einst Odysseus (…). Mit der Schiffahrt werden, gemäß der Tradition des Topos, verschiedene Modelle des Denkens von Zeit angesprochen. Zarathustras Situation ist, in Bewegung zu sein und damit einen zeitlichen Verlauf zu erfahren“ (Naumann 2001, 49).

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Aufmerksamkeit seines Widersachers explizit auf den Augenblick, damit auch dem Geist der Schwere endlich die Brisanz des Gedankens klar werde. Zugleich macht Zarathustra deutlich, dass sein Gedanke tatsächlich die Wiederkehr eines jeden Augenblickes, folglich auch dieses exakt gleichen (vielleicht sogar selben⁵⁷⁷) Momentes am Torweg inkludiert: Siehe, sprach ich weiter, diesen Augenblick! Von diesem Thorwege Augenblick läuft eine lange ewige Gasse rückwär ts: hinter uns liegt eine Ewigkeit./Muss nicht, was laufen ka n n von allen Dingen, schon einmal diese Gasse gelaufen sein? Muss nicht, was geschehn ka n n von allen Dingen, schon einmal geschehn, gethan, vorübergelaufen sein?/Und wenn Alles schon dagewe-

577 Bernd Magnus plädiert dafür, dass man wohl von einer ewigen Wiederkunft des Gleichen, nicht aber von ewigen Wiederkunft desselben handeln könne. Er argumentiert wie folgt: „To take but a single illustration, a closer look at the cosmological version which some commentators have asked us to imagine should suggest rather quickly, that the concept of eternal recurrence requires a notion of linear time to distinguish a specific configuration from its recurrence – the very mundane conception of time the doctrine allegedly contests and displaces. The state-of-the-universe at this instant, for example, will recur, if it is to recur, on some other identical December 5, 1997. But if this state of the universe can occur at some other time, on some other December 5, 1997 then it is not a recurrence of the same but a recurrence of the exactly similar – an argument already anticipated by Isaac Newton when he remarked that even if all particles in the universe were one day to achieve the identical configuration they exhibit today these would not be identical states, since the time of their occurrence would differ. As I argued elsewhere (…), either occurrence is the case or circular time is he case; but if circular time, then only a single cycle; hence occurrence again rather than recurrence“ (Magnus 2000, 298f.). Schon Kierkegaard hat scharfsinnig die Dialektik der Wiederholung erkannt, der zufolge es eine Differenz zwischen dem Wiederkehrenden und der Wiederkehr selbst gibt, durch die via Wiederkehr etwas Neues in das immer Gleiche Eingang findet: „Die Dialektik der Wiederholung ist leicht, denn was sich wiederholt, ist gewesen, sonst könnte es sich nicht wiederholen; aber eben dies, daß es gewesen ist, macht die Wiederholung zu dem Neuen“ (Kierkegaard 1991[1843], 22). Gegen Magnus wendet Paul Loeb im Zuge seiner Analyse von FW 341 (Das grösste Schwergewicht) ein, eine Wiederkunft desselben sei nicht nur möglich, sondern von Nietzsche sogar ausdrücklich gemeint, weil es keine absolute, von den einzelnen Wiederholungen unterschiedene Zeit gebe, die dann Unterscheidungen zwischen den einzelnen Wiederkünften überhaupt ermöglicht. Tatsächlich kehre nämlich im Wiederkunftsgeschehen die Zeit selbst ewig wieder: „For the demon explicitly says that the very moment (Augenblick) in which he speaks must return to me[und ebendas äußert ja auch Zarathustra dem Zwerg gegenüber: dass sie sich immer wieder an diesem selben Torweg (Augenblick) begegnen werden usf. – E.B]. So it is a consequence of the demon’s thought that time itself reccurs (…) and that the temporal moments recur along with those events. This means that the demon denies the existence of any absolute or universal time independent of, and outside, the recurrences wherein they can be succesively ordered and differentiated. (…) Time, therefore, cannot be said to introduce any qualitative difference among recurrences, and eternal reccurrence is not be imagined as an infinite number of cosmic cycles (or spirals) succeeding each other in a linear time. Instead, Nietzsche encourages us to imagine just a single finite (though unbounded) circular course (Kreislauf) in which is represented, not just the reccurence of all things, but also of all those moments of time that cannot exist independently of those things. Since for Nietzsche time just is a series of those moments, it follows that time itself is destroyed, re-created, and repeated along with everything else.Thus, when I am re-created so as to relive my identical life, the time at which I am re-created and live my life is always exactly the same“ (Loeb 2009, 181f.).

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sen ist: was hältst du Zwerg von diesem Augenblick? Muss auch dieser Thorweg nicht schon – dagewesen sein?/Und sind nicht solchermaassen fest alle Dinge verknotet, dass dieser Augenblick alle kommenden Dinge nach sich zieht? A lso   –  – sich selber noch?/Denn, was laufen kann von allen Dingen: auch in dieser langen Gasse h i n au s  – mu s s es einmal noch laufen! – / Und diese langsame Spinne, die im Mondscheine kriecht, und dieser Mondschein selber, und ich und du im Thorwege, zusammen flüsternd, von ewigen Dingen flüsternd – müssen wir nicht Alle schon dagewesen sein?/ – und wiederkommen und in jener anderen Gasse laufen, hinaus, vor uns, in dieser langen schaurigen Gasse  – müssen wir nicht ewig wiederkommen?  – (Z III Räthsel 2; KSA 4, 200)

Noch während Zarathustra zu dem Zwerg hinredet, immer leiser werdend, weil er sich vor seinem eigenen Gedanken fürchtet, hört er plötzlich das nahe Geheul eines Hundes. Dieses grässliche Heulen erinnert ihn an ein Erlebnis aus seiner Kindheit. Es ist anzunehmen, dass diese Kindheitserinnerung der Grund dafür ist, dass Zwerg und Torweg plötzlich verschwunden sind, dass sich das ganze Szenario aufgelöst hat, nachdem Zarathustra aus der Erinnerung in die Gegenwart zurückgefunden hat. Denn die Erinnerung zieht die Perspektive vom Torweg-Augenblick ab, so dass dieser von der Bildfläche verschwindet. Jetzt hat es Zarathustra mit einer anderen Gegenwart zu tun, in der er den Grund des Geheules erfährt. Vor ihm liegt nämlich ein Mensch, ein junger Hirte, der, wie Zarathustra sogleich erkennt, sich in einer Notlage befindet. Der Hund springt um den Hirten, seinen Herren offenbar, herum, wobei das Geheul sich als eine Mischung aus Hilferuf und Klage erweist. Die Lage seines Herren ist in der Tat heikel; es geht um Leben und Tod: Einen jungen Hirten sah ich, sich windend, würgend, zuckend, verzerrten Antlitzes, dem eine schwarze schwere Schlange aus dem Munde hieng./Sah ich je so viel Ekel und bleiches Grauen auf Einem Antlitze? Er hatte wohl geschlafen? Da kroch ihm die Schlange in den Schlund – da biss sie sich fest. (Z III Räthsel 2; KSA 4, 201)

Um zu verstehen, was sich hinter der schwarzen Schlange verbirgt, ist ein Vorausblick auf das spätere Kapitel Der Genesende unerlässlich. Dort beschreibt Nietzsche die langsame Erholung Zarathustras von den Folgen der mittlerweile vollzogenen Heraufbeschwörung des Gedankens der ewigen Wiederkunft, der ihn  – wie den Hirten, der niemand anderes als Zarathustra selbst ist – fast erstickt hätte. Hier löst Zarathustra also endlich wenigstens zum Teil das auf dem Schiff gestellte Rätsel, das nach dem „Gesicht des Einsamsten“ (Z III Räthsel 1; KSA 4, 197) gefragt hatte.⁵⁷⁸ In Der Genesende teilt Zarathustra seinen Tieren mit, was ihn (den Hirten) so gewürgt hatte: 578 „Denn ein Gesicht war’s und ein Vorhersehn: – was sah ich damals im Gleichnisse? Und wer ist es, der einst noch kommen muss?/Wer ist der Hirt, dem also die Schlange in den Schlund kroch? Wer ist der Mensch, dem also alles Schwerste, Schwärzeste in den Schlund kriechen wird“ (Z III Räthsel 2; KSA 4, 202). Das unmittelbar nächste Zitat im Haupttext zeigt, dass der Hirte Zarathustra selbst ist. Somit hat der Weise sein eigenes Gesicht vorhergesehen. Er hat aber zugleich das Gesicht eines jeden Menschen gesehen, der sich wirklich auf den Wiederkunftsgedanken einlässt, weil jedem Menschen,

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Der grosse Überdruss am Menschen – d er würgte mich und war mir in den Schlund gekrochen: und was der Wahrsager wahrsagte: „Alles ist gleich, es lohnt sich Nichts, Wissen würgt.“ (…) „ach, der Mensch kehrt ewig wieder! Der kleine Mensch kehrt ewig wieder!“ (…) Allzuklein der Grösste! – Das war mein Überdruss am Menschen! Und ewige Wiederkunft auch des Kleinsten! – Das war mein Überdruss an allem Dasein!/Ach, Ekel! Ekel! Ekel! (Z III Genesende 2; KSA 4, 274f.)

Das Abgründige des Wiederkunftgedankens besteht also in einer nihilistischen Gemengelage, deren Gemisch giftig genug ist, um einen gefährlichen Welt- und Daseinsekel hervorzurufen, dem eine fatale Logik zu Grunde liegt: Wenn alles ewig wiederkehrt, dann wird eben auch alles Niedrige, Missratene, Menschlich-Allzumenschliche wiederkehren.⁵⁷⁹ Alles Reden von der Überwindung des Menschen, jede unternommene und für die Zukunft beschlossene Anstrengung, sich selbst zu überwinden, können dem keine Abhilfe leisten.⁵⁸⁰ Der Gedanke der ewigen Wiederkunft ist summa summarum darum so abgründig, weil er dem auf eine Überwindung des Nihilismus hoffenden und drängenden Menschen unerbittlich die Grenzen seines Hoffens und Drängens aufzeigt. (C): Der Hirt windet sich, würgt und zuckt  – und erstickt am Ende doch nicht. Es gelingt ihm, sich von der Schlange zu befreien, indem er ihr den Kopf abbeißt. Zwar hat der Hund, auf seine Hundeart, um Hilfe gerufen, wodurch es ihm in der Tat gelungen ist, die Aufmerksamkeit Zarathustras zu erregen, der auch sofort bereit ist zu helfen. Indessen erweisen sich Zarathustras Hilfsversuche als ohnmächtig. Gleichviel wie sehr er sich auch bemüht, die Schlange aus dem Rachen des Hirten zu reißen, es will ihm einfach nicht gelingen. Zu fest hat sie sich bereits in den Hirten verbissen. Tatsächlich kann in dieser Situation einzig und allein der Hirte sich selbst helfen. Es ist die Aufgabe eines jeden Einzelnen, der würgenden Schlange des Werdens den

der die Wiederkunft ernst nimmt, die für alles „Schwerste“ und „Schwärzeste“ stehende Schlange in den Schlund kriechen wird. Wer ist derjenige, der einst noch kommen muss? Es ist derjenige, der diesen Gedanken nicht nur erträgt, sondern sogar dazu im Stande ist, ihn zu bejahen. 579 Im Ecce homo wird Nietzsche schließlich sehr konkret, wenn er bekennt, was ihn persönlich würgen macht: „Aber ich bekenne, dass der tiefste Einwand gegen die ‚ewige Wiederkunft‘, mein eigentlich abgründlicher Gedanke, immer Mutter und Schwester sind“ (EH weise 3; KSA 6, 268). 580 Marie Luise Haase (1985) hat nachgewiesen, dass Nietzsche seinen Wiederkunftsgedanken vor der Konzeption des Übermenschen entwickelt hat und letztere gerade wegen ersterem ins Spiel gebracht hat, und zwar um den Wiederkunftsgedanken überhaupt erträglich zu machen. So wirkt die Aussicht auf die ewige Wiederkunft des Übermenschen wie ein Gleichgewicht gegenüber der Aussicht auf die ewige Wiederkunft des „kleinen“ Menschen. Wie oben ausgeführt, gerät aber auch der Übermensch in den Sog des Nihilismus, wenn er zwar ewig wiederkehrt, indes auch ewig wieder vergeht. Das Bemühen um den Übermenschen rückt somit in die Nähe einer Sisyphusarbeit und seine Inauguration als Gegengewicht in die der Fraglichkeit. Anders ausgedrückt: Vielleicht macht die Konzeption des Übermenschen die ewige Wiederkunft nicht erträglicher, sondern viel eher noch unerträglicher, wenn anders sie weiteres Frustrationspotenzial einführt. – Allem Anschein nach ist aber auch das vor allem eine Frage der Perspektive.

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Biss zu nehmen. Als Zarathustra dies erkennt, ruft er dem Hirten augenblicklich zu, er solle zubeißen.⁵⁸¹ Geistesgegenwärtig befolgt der Hirt diesen Rat als das letzte und einzige Mittel, um sein Leben zu retten: „– Der Hirt aber biss, wie mein Schrei ihm rieth; er biss mit gutem Bisse! Weit weg spie er den Kopf der Schlange –: und sprang empor“ (Z III Räthsel 2; KSA  4, 202). Der gute Biss des Hirten kann als das Setzen einer Zäsur innerhalb der durch die ewige Wiederkunft verabsolutierten Zeit verstanden werden. Er käme damit einer Rückeroberung des Augenblicks als der eigenen Gegenwart gleich, die im Zuge der Verzeitlichung des Augenblicks verloren ging. Ohne Zeitmarken verliert die Zeit jede Richtung oder richtiger: der Mensch als zeitliches Wesen jede Orientierung. Soll der Mensch aber ein Schaffender sein, benötigt er einen freien Blick, der sich vom Augenblick ausgehend auf die Offenheit der Zukunft richtet.⁵⁸² Und auch die Vergangenheit kann per Überwindung des Geistes der Rache für den (und durch den) Willen nur gewonnen werden, wenn allererst der Augenblick zurückerobert wurde. Ebendies gelingt dem Hirten durch sein beherztes Zubeißen, das sicherlich als ein höchster Akt der Selbstüberwindung interpretiert werden darf, wenn man bedenkt, wie viel Willensanstrengung es einen Menschen wohl kosten mag, einer Schlange den Kopf abzubeißen. Es ist dem Hirten nichts Geringeres als die Überwindung seines Ekels gelungen. Genauer noch: Der Hirte hat im Augenblick des Zubeißens zugleich den Augenblick für sich gewonnen und den Daseinsekel überwunden. Wie verwandelt springt er empor: Nicht mehr Hirt, nicht mehr Mensch,  – ein Verwandelter, ein Umleuchteter, welcher lachte! Niemals noch auf Erden lachte je ein Mensch, wie er lachte!/Oh meine Brüder, ich hörte ein Lachen, das keines Menschen Lachen war, – – (…). (Z III Räthsel 2; KSA 4, 202)

581 Selbstverständlich kann auch ein Ruf als Hilfestellung verstanden werden, insbesondere dann, wenn es sich dabei, wie im vorliegenden Fall, um eine Handlungsanweisung handelt. Folglich könnte man einwenden, der Hirte, der sich erst dann aus seiner Not befreien kann, als er Zarathustras Handungsanweisung befolgt, habe sich doch nicht ganz allein retten können. Wirklich habe zwar er selbst zur entscheidenden Tat schreiten müssen, ohne Zarathustras hilfreichen Beistand wäre er aber nicht auf die Idee gekommen, so zu handeln, wie er schließlich handelte. Dieser Einwand kann jedoch durch die Feststellung zurückgewiesen werden, dass Zarathustra der Hirte und der Hirte Zarathustra ist. Dazu komme ich gleich. 582 Nietzsche verwendet nebenbei bemerkt den Ausdruck „ewige Wiederkunft“ bei Weitem häufiger als den Ausdruck „ewige Wiederkehr“. Möglicherweise lässt sich der Unterschied zwischen beiden Ausdrücken, falls Nietzsche einen solchen überhaupt machen sollte, vom Augenblick her begreifen. Wie berührt stellt der Augenblick eine Zäsur dar, von der ausgehend eine ewige Vergangenheit und eine ewige Zukunft gewonnen werden. Wer sich nun im Augenblick in Richtung der Vergangenheit orientiert, z. B. indem er sich vom Geist der Rache leiten lässt, wählt gewissermaßen die falsche Richtung, d. i. eine Richtung des Niedergangs. Er versteht sich nämlich nicht als Schaffenden, der sein Leben auf die Zukunft ausrichtet, und diese im Zeichen des noch zu Schaffenden aktiv angehen will. Die Wiederkehr betont das Vergangene, die Wiederkunft das Künftige. Vgl. hierzu Skirl 2000, 223, der unter der hypothetischen Voraussetzung, dass Nietzsche einen terminologischen Unterschied zwischen Wiederkunft und -kehr macht, anregt, die Wiederkehr als eine „Abirrung der Wiederkunftslehre und des -Gedankens“ zu betrachten, „etwa als nihilistische Schwester der Wiederkunft“.

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Das Lachen des Hirten liegt ganz auf übermenschlicher Linie, insofern es Ausdruck einer gelungenen Selbstüberwindung ist  – und nicht nur irgendeiner, sondern der Selbstüberwindung, die geleistet werden muss, wenn der Nihilismus überwunden werden soll. Hier lacht jemand, der die sich via Daseinsekel geradezu aufdrängende Möglichkeit des Nihilismus abgewiesen hat. Die ewige Wiederkunft, als eine mögliche Perspektive auf die Welt und das Dasein genommen, birgt fürwahr ausreichend Implikationen in sich, um zu dem nihilistischen Urteil zu verleiten, die Welt und das Dasein, so wie sind, nämlich ewig wiederkehrend, sollten nicht sein. Sollte die ewige Wiederkunft in dieses Urteil münden, dann hätte sie über den mit ihr ringenden Menschen triumphiert. Wenn hingegen der Wiederkunftsgedanke affirmiert wird, indem der scheinbar an die Zeit verlorene Augenblick als eigener angenommen, d. h. nicht nur akzeptiert, sondern zudem in Angriff genommen und auf solche Art zurückerobert wird, dann ist der Bejahende siegreich. Das Ergebnis eines solchen Sieges insbesondere über den schwersten Gegner ist, wie Nietzsche bereits 1874 in der Unzeitgemässen Betrachtung III (Schopenhauer als Erzieher) weiß, eine „wirkliche erheiternde Heiterkeit“ (SE 2; KSA 1, 348), denn: „Im Grunde nämlich giebt es nur Heiterkeit, wo es Sieg gibt“. Der Sieg setzt indes einen Kampf voraus, wohlgemerkt einen echten, während dessen man sich seinem Gegner wirklich stellt. Solche authentischen Kämpfe sind allerdings nicht die Regel. Lieber weichen die Menschen ihren Gegnern, vorzüglich ihren schwersten Gedanken, aus und führen allenfalls Scheingefechte. Doch die Heiterkeit des Siegers eines Scheingefechts ist genauso unecht (ebenso scheinbar) wie das vorangegangene Gefecht. Den scharfsichtigen Beobachter solcher Kämpfe macht die Heiterkeit derjenigen, die nur vorgeben, ihre Dämonen bekämpft und besiegt zu haben, ein Phänomen, „welche[s] man bei mittelmässigen Schriftstellern und kurzangebundenen Denkern mitunter antrifft, (…) elend“ (SE 2; KSA 1, 349). Und auch dem Sieger solcher im Grunde gefahrlosen Schattenkämpfe selbst nutzt sein Lachen nichts. Denn wirklich hat er nichts gewonnen, weil er überhaupt nicht gewonnen hat. Es ist sogar anzunehmen, dass gerade ihm eines Tages das Lachen im Hals stecken bleiben wird, wenn seine schwersten Gedanken aus der Ecke, in die sie verdrängt wurden, aus dem toten Winkel ins Gesichtsfeld treten und ihn herausfordern, so dass er einem wirklichen Kampf nicht mehr aus dem Weg gehen kann. Die Heiterkeit des Hirten verdankt sich indessen einem grandiosen Sieg, der sowohl ihn selbst als auch seinen schwersten Gedanken verwandelt hat. Aus einem beinahe am Daseinsekel Zugrundegerichteten ist ein „Umleuchteter“ (Z III Räthsel 2; KSA  4, 202) und aus einem ersticken machenden Gedanken eine lebensspendende Lichtquelle geworden, die das Dasein entsprechend in Szene setzt. Diese im Wiederkunftsgedanken enthaltene Macht der Transformation soll am Beispiel von Das grösste Schwergewicht, einem von Nietzsches bekanntesten Aphorismen, noch deutlicher herausgestellt werden. Dieser Aphorismus aus der Fröhlichen Wissenschaft sei an dieser Stelle seiner herausragenden Bedeutung wegen vollständig zitiert:

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Das grösste Schwergewicht . – Wie, wenn dir eines Tages oder Nachts, ein Dämon in deine einsamste Einsamkeit nachschliche und dir sagte: „Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen; und es wird nichts Neues daran sein, sondern jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles unsäglich Kleine und Große deines Lebens muss dir wiederkommen, und Alles in der selben Reihe und Folge – und ebenso diese Spinne und dieses Mondlicht zwischen den Bäumen, und ebenso dieser Augenblick und ich selber. Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer wieder umgedreht  – und du mit ihr, Stäubchen vom Staube!“  – Würdest du dich nicht niederwerfen und mit den Zähnen knirschen und den Dämon verfluchen, der so redete? Oder hast du einmal einen ungeheuren Augenblick erlebt, wo du ihm antworten würdest: „du bist ein Gott und nie hörte ich Göttlicheres!“ Wenn jener Gedanke über dich Gewalt bekäme, er würde dich, wie du bist, verwandeln und vielleicht zermalmen; die Frage bei Allem und Jedem „willst du diess noch einmal und noch unzählige Male?“ würde als das grösste Schwergewicht auf deinem Handeln liegen! Oder wie müsstest du dir selber und dem Leben gut werden, um nach Nichts me h r z u verlangen, als nach dieser letzten ewigen Bestätigung und Besiegelung? – (FW 341; KSA 3, 570)

„Wie, wenn“  – der konditionale Irrealis zeigt deutlich genug an, dass Nietzsche hier eine Art Gedankenexperiment⁵⁸³ im Sinn hat, auf das der Leser eingehen soll. Diesem ist es also aufgegeben, sich das in obigem Aphorismus geschilderte Szenario vorzustellen, mehr noch: Er soll sich in die Rolle desjenigen hineinversetzen, dem der Dämon erscheint. Das Gedankenexperiment zeigt als solches generell an: Der in ihm vorgetragene Wiederkunftsgedanke hat einen „experimentell-hypothetischen Charakter“, so dass er „nicht mit dem Anspruch auftritt, allgemein begründbar zu sein“ (Gerhardt 1999, 199). Zwar steht, was der Dämon sagt  – und er ist es ja, der den ultimativ schwergewichtigen Gedanken der Wiederkunft vorträgt  –, nicht im Konjunktiv, sondern im Indikativ. Allerdings werden seine Äußerungen „von konjunktiven Formen umrahmt“, was zur Folge hat, dass sie „ebenso[wie das gesamte Szenario  – E.B.] in den Status einer Aussage über eine Möglichkeit und nicht über die Wirklichkeit gehoben“ werden (Born 2010, 134). Nichtsdestoweniger bleibt der Indikativ bedeutsam, indiziert er doch, dass das Gedankenexperiment ernst genommen werden will. Innerhalb des Experiments gibt es keine Relativierungen. Damit es

583 Von einem „Gedankenexperiment“ sprechen auch Figal 1999, 261 und Zittel 2000, 201; Born 2010, 134, verwendet in selber Absicht den Terminus „Gedankenspiel“. Zittel hält den Aphorismus, in dem „eine mehrfach gebrochene, fiktive Szenerie entworfen wird“ (Zittel 2000, 200) für eine Fabel, wodurch auch der in ihm ausgesprochene Wiederkunftsgedanke in den Bereich der Fabel verwiesen werde (vgl. Zittel 2000, 200). Unter Berufung auf CV 1 (und zum Zwecke der Zurückweisung von Salaquardas Behauptung, der Dämon sei eine Art sokratisches Daimonion), wo in der Tat ebenfalls ein Dämon auftaucht, um eine Fabel zu erzählen, behauptet Zittel 2000, 202: „In erster Linie ist der Dämon (…) als Fabelwesen aufzufassen, das als solches dadurch charakterisiert ist, dass es Fabeln erzählt.“ Mir ist allerdings nicht klar, warum in FW 341 unbedingt eine Fabel erzählt werden soll. Eher scheint mir Nietzsche eine Art Offenbarungserlebnis zu schildern, so wie er es im Fall der ewigen Wiederkunft selbst erlebt haben will. Offenbarung also „in dem Sinn, dass plötzlich, mit unsäglicher Sicherheit und Feinheit, Etwas sich tb a r, hörbar wird, das Einen im Tiefsten erschüttert und umwirft“ (EH Zarathustra 3; KSA 6, 339).

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seine existenzielle Wirkung entfalten kann, muss das Mögliche als Wirkliches genommen werden. Ein wissenschaftlicher Beweis der ewigen Wiederkunft, durch den sie den Status einer kosmologischen Lehre erhielte, wie ihn Nietzsche in verschiedenen Notizen, nie aber in seinem publizierten Werk versucht hat, ist dann nicht mehr nötig. Denn der Zweck des Wiederkunftsgedanken liegt in der Aktualisierung der lebensbejahenden Kraft, die er freizusetzen in der Lage ist; und dazu reicht es aus, wenn er als reelle Möglichkeit ins Auge gefasst wird: „[A]uch der G eda nke einer Möglichkeit kann uns erschüttern und umgestalten (…). Wie hat die M öglichkeit der ewigen Verdammnis gewirkt“ (NL 1880–1882, KSA 9, 11[203], 523f.). Den Denkenden umzugestalten bzw. zu verwandlen, darauf kommt es beim Gedanken der ewigen Wiederkunft in erster Linie an. Die angesprochene Erschütterung ist derweil die notwendige Bedingung für diese Verwandlung. Während die Wucht der Konfrontation mit dem abgründigen Gedanken in Vom Gesicht und Räthsel dadurch abgebremst wird, dass Zarathustra ihn in ein Rätsel bettet und außerdem in Gesellschaft vorträgt, fehlt in Das grösste Schwergewicht jede derartige Pufferzone. Der Moment in bzw. der Ort, an dem der Dämon erscheint, wird als „einsamste Einsamkeit“ (FW 341; KSA 3, 570) beschrieben. Der Dämon taucht also dann und dort auf, wenn und wo der Mensch allein auf sich zurückgeworfen ist, ohne durch die Sphäre des Allgemeinen und Anonymen, mit Heidegger gesprochen: das „Gerede des Man“, beeinflusst zu werden. Ganz bewusst sucht uns der Dämon nicht in der Öffentlichkeit, sondern in der Innerlichkeit auf. Denn die Öffentlichkeit ist der Ort, an dem oberflächlich über die Dinge hinweggegangen wird, an dem das Individuelle eingeebnet und seiner Einzigkeit beraubt wird. Sie ist ein Ort, an dem akute Verdunkelungsgefahr herrscht: „Die Öffentlichkeit verdunkelt alles und gibt das so Verdeckte als das Bekannte und jedem Zugängliche aus“ (Heidegger 2006[1927], 127). Aber der Dämon will Licht ins Dunkel bringen, folgerichtigt erscheint er uns dort, wo wir die Dinge nicht durch die nivellierende und solcherart verzerrende Optik des Man wahrnehmen, dort, wo uns das Man nicht die Verantwortlichkeit abnimmt, indem es immer schon für uns über die Dinge geurteilt und entschieden hat. In der Innerlichkeit wiegen die Dinge also schwerer, weil hier der Einzelne als solcher mit ihrem Gewicht konfrontiert wird, nicht zuletzt dadurch, dass er selbst höchstpersönlich aufgerufen ist, sie zu wiegen und zu gewichten.⁵⁸⁴ Dem Erscheinen des Dämons in unserer einsamsten Einsamkeit korrespondiert sein Anliegen: Er will den Einzelnen zu einer Stellungnahme zu dessen eigenem

584 Zur „Seinsentlastung“ durch das Man vgl. Heidegger 2006[1927], § 27, 126–130. Zur Einsamkeit und ihrer erhellenden Wirkung sich selbst und den Dingen gegenüber vgl. das Kapitel Die Heimkehr aus Also sprach Zarathustra, darin Zarathustras Einsamkeit den von den Menschen in seine Höhle zurückgekehrten Weisen wie einen verlorenen Sohn empfängt: „‚Oh Zarathustra, Alles weiss ich: und dass du unter den Vielen verlassen er warst, du Einer, als je bei mir! (…)/‚Hier aber bist du bei dir zu Heim und Hause (…). /‚Aufrecht und aufrichtig darfst du hier zu allen Dingen reden (…)“ (Z III Heimkehr; KSA 4, 231f.). Vgl. außerdem JGB 284.

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Leben bewegen, indem er ihm die ewige Wiederkunft als eine Tatsache präsentiert. Dabei beinhaltet das Sich-Verhalten-zur-Wiederkunft nicht nur ein Sich-Verhalten-zusich-selbst, sondern auch zur Welt, in deren Zusammenhang das Dasein unauflösbar eingebunden ist: Jeder Augenblick des Daseins, also auch die unsere Augen für die Wiederkunft öffnende Begegnung mit dem Dämon, kommt ewig wieder.⁵⁸⁵ Aber jeder Augenblick des Daseins findet in der Welt statt und kann nicht von ihr getrennt werden. Es gibt keine weltlose Wiederkunft des Daseins. Die Welt und das Dasein bleiben auf ewig aneinander geschmiedet. Die Welt kommt wieder, „wie sie als Ganze in diesem Augenblick ist; nur wenn die Welt, in die man gehört, wiederkommt, kann man selbst so, wie man jeweils ist, wiederkommen“ (Figal 2008, 57). Der Dämon nötigt den Menschen also zu einer Auseinandersetzung mit sich selbst und der Welt (bzw. seiner Welt, d. h. der Welt, in die er gehört und die ihm zugleich angehört, die wesentlich zu ihm gehört). Dabei bedeutet die Mitteilung des Dämons eine Zäsur im Leben des einzelnen Menschen (zumal Nietzsche in seinem Gedankenexperiment scheinbar nur zwei Reaktionsweisen auf den Wiederkunftsgedanken zulässt: Entweder man zerbricht oder erstarkt daran, keineswegs aber lässt er sich mittels eines gleichgültigen Achselzuckens einfach abtun). Von jetzt an, unter dem Zeichen der ewigen Wiederkunft, wird ihm das Leben entweder zu einer unerträglichen Last oder zu einer großartigen Aufgabe, die er fortan mit vermehrtem Eifer verfolgen wird. Wenn ihn das größte Schwergewicht zermalmt, ist eo ipso ausgedrückt, dass er über sich selbst, seine Geschichte und die Welt negativ befindet: Er will sein Leben nicht noch einmal leben. Wenn er jedoch die Botschaft des Dämons als ein Evangelium, als frohe Botschaft begrüßt, hat er auf diese Weise das größtmögliche Bekenntnis seinem Leben gegenüber ausgesprochen: Er will es noch einmal und immer wieder leben. Summa summarum stellt uns das Gedankenexperiment vor eine radikale existenzielle Alternative, die lautet: Bekenntnis oder Verdammnis. Allein wo bleibt bei alledem die Verwandlung des Einzelnen durch den Wiederkunftsgedanken? Zunächst einmal scheint die Botschaft des Dämons nur eine Offenbarung zu sein, durch die dem Einzelnen seine Grundeinstellung zu seinem Leben vor Augen geführt wird. Derart wird aber nur das explizit, was implizit ohnehin bereits der Fall war. Verwandelt ist der Einzelne deswegen aber noch lange nicht. Es lässt sich zwar leicht vorstellen, wie der lebensfreudige Mensch sich über die Nachricht des Dämons freuen und wie vernichtend sie auf der anderen Seite den lebensmüden Menschen treffen würde.⁵⁸⁶ Ihre entschei585 Vgl. dazu auch die Vorarbeiten zu FW 341: NL 1880–1882, KSA 9, 11[148], 498; 11[206], 524. 586 Ein Blick auf die direkte Nachbarschaft von Das grösste Schwergewicht ist aufschlussreich, weil er den beiden polaren Reaktionsweisen auf den schwersten Gedanken ein Gesicht gibt. In FW 340 (Der sterbende Sokrates) stellt Nietzsche Sokrates als einen Pessimisten dar, der am Leben gelitten habe. Die Gelassenheit, ja heimliche Freude, mit der er dem nahenden Tod entgegen sieht, rühre ebendaher. Der Tod wird als der lang ersehnte Ausgang aus einem Jammertal begrüßt. Man stelle sich nun vor, wie dieser pessimistische Sokrates auf die Worte des Dämons reagieren würde, die ihm prophezeien: „Du Sokrates wirst immer und immer wieder am Leben leiden, denn den von dir ersehnten Ausweg aus dem Leben gibt es nicht!“ Es ist anzunehmen, dass der Gedanke (diesen) Sok-

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dende Wirkung, die Verwandlung des Benachrichtigten, ist damit jedoch noch nicht erklärt. Bisher ist einzig ihre bekräftigende Wirkung zum Ausdruck gekommen. Geht es um das Transfigurationspotenzial der Wiederkunft, muss zuerst danach gefragt werden, wen der Gedanke eigentlich verwandeln soll: denjenigen, der sie unter Freudentränen begrüßt (der den Dämon als Gott und seine Botschaft als göttlich preist), oder denjenigen, den sie in Tränen der Verzweiflung ausbrechen lässt (den sie zermalmt) oder vielleicht sogar beide? Dem Erstgenannten ist die Lehre eine, wie es im Aphorismus heißt, „Bestätigung“ und „Besiegelung“ dafür, dass der Gedanke in gewisser Weise bereits Gewalt über ihn hat und nicht erst noch bekommen muss. Tatsächlich ist der Erstgenannte sich selbst und dem Leben bereits „so gut geworden“, wie Nietzsche sich ausdrückt, dass er den Wiederkunftsgedanken bejahen kann. Folgerichtig braucht er nicht verwandelt zu werden. Umso verwandlungsbedürftiger ist indes derjenige, der die Wiederkunft verneint. Soll sie ihn nicht als das größte Schwergewicht niederdrücken, so dass er resigniert und unter der Last des niemals endenden Daseins kaum mehr dazu im Stande ist, sich zum Handeln aufzuraffen, dann muss er von jetzt an sich selber und dem Leben so gut werden, dass auch er nach nichts mehr verlangt als nach der ewigen Wiederkunft. Dies ist der eigentliche Nukleus der Aufforderung des Dämons: Die Aufforderung, sein Leben zu hinterfragen, ist nur der erste Schritt auf dem Weg, aus dem Ergebnis dieser fundamentalexistenziellen Befragung die richtigen Schlüsse zu ziehen, nämlich entweder sein Leben auch weiterhin so zu leben, dass man es immer wieder will,⁵⁸⁷ oder genau das ab sofort zu tun. Mit einem Wort: Der Dämon ruft dazu auf, sich selber und dem Leben so gut zu werden wie nur möglich.⁵⁸⁸ Die ewige Wiederkehr fungiert dabei zunächst

rates tatsächlich zermalmen würde. Eine ganz andere Reaktion legt FW 342 (Incipit tragoedia) nahe. Der Protagonist dieses in Also sprach Zarathustra eingegangenen Aphorismus ist der dreißigjährige, vor Schaffenskraft strotzende Zarathustra, der beschließt, aus seiner Höhle hinabzusteigen, um die Menschen an seinem Überreichtum teilhaben zu lassen. Es lässt sich leicht vorstellen, mit welcher Begeisterung dieser Zarathustra die Prophezeiung des Dämons aufnehmen würde. 587 Oder zu versuchen, es fortan, unter dem psychologischen Einfluss des Wiederkunftsgedanken, noch intensiver zu leben. Wo Steigerung möglich ist, soll sie auch angestrebt werden. 588 Nietzsche behauptet mit Vehemenz, der Gedanke der ewigen Wiederkunft sei sein Gedanke, seine Schöpfung gleichsam. In Wahrheit ist der Gedanke nicht so neu, wie Nietzsche glauben machen will. Heraklit, die Stoa und die Phytagoreer können mit einigem Recht als Vorläufer des Gedankens betrachtet werden – was Nietzsche auch weiß. So schreibt er z. B. in EH GT 3; KSA 6, 313: „Die Lehre von der ‚ewigen Wiederkunft‘ (…) diese Lehre Zarathustra’s kö n n te zuletzt auch schon von Heraklit gelehrt worden sein. Zum Mindesten hat die Stoa, die fast alle ihre grundsätzlichen Vorstellungen von Heraklit geerbt hat, Spuren davon. –“. Und in UB II 2; KSA 1, 261, bringt er den Gedanken mit den Phythagoreern in Verbindung: „Im Grunde ja könnte das, was einmal möglich war, sich nur dann zum zweiten Male als möglich einstellen, wenn die Pythagoreer Recht hätten zu glauben, dass bei gleicher Constellation der himmlischen Körper auch auf Erden das Gleiche, und zwar bis auf’s Einzelne und Kleine sich wiederholen müsse: so dass immer wieder, wenn die Sterne eine gewisse Stellung zu einander haben, ein Stoiker sich mit einem Epikureer verbinden und Cäsar ermorden und immer wieder bei einem anderen Stande Columbus Amerika entdecken wird.“

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als Probierstein, vermöge dessen der einzelne Mensch Klarheit über sein Selbst- und Weltverhältnis gewinnt und sodann als Orientierungshilfe und Maßstab für eine gute, den Nihilismus zurückweisende Lebensführung. Es scheint beinahe überflüssig zu betonen, dass dieses gute Leben nichts mit einer herkömmlichen Moral zu tun hat, die allgemeinverbindliche Handlungsweisen befiehlt, sondern Sache des je Einzelnen und seiner Autonomie ist. Auch negiert der Wiederkunftsgedanke jeden transzendenten Sinn des Lebens ganz entschieden, so dass er das größte Schwergewicht vom Jenseits auf das Diesseits verlegt, wodurch dieses höchste Bedeutsamkeit erlangt.⁵⁸⁹ Im Zuge dessen verlagert sich auch „der ‚Schwerpunkt‘ des Sinnschaffens“ (Kaulbach 1990, 310) auf den einzelnen Menschen, der dem Leben so gut werden soll, dass er es als in sich selbst sinnhaft begreifen kann, welchen Sinn aber einzig er selbst dem Leben verleihen kann.⁵⁹⁰ Bei seiner Aufgabe, derart gut zu leben, ist er außerdem gefordert, sich selbst immer wieder zu hinterfragen und daraufhin zu prüfen, was das für ihn persönlich Gute ist: Meine Lehre sagt: s o leben, daß du wünschen mußt, wieder zu leben ist die Aufgabe – du wirst es jedenfalls! Wem das Streben das höchste Gefühl giebt, der strebe: wem Ruhe das höchste Gefühl giebt, der ruhe; wem Einordnung Folgen Gehorsam das höchste Gefühl giebt, der gehorche. Nur möge er b ew u ßt d arü b er werd en , was ihm das höchste Gefühl giebt und ke i n Mittel scheuen! Es gilt d ie Ew igkeit! (NL 1880–1882, KSA 9, 11[163], 505)

Die ewige Wiederkunft kann also durchaus eine daseinsverändernde Potenz sein. Ihr entsprechendes Vermögen löst sie dann ein, wenn sie den einzelnen Menschen zu einer veränderten Sichtweise auf sich selbst bewegt, die in eine individuelle Ethik des Sich-gut-Werdens mündet. Wie oben ausgeführt, ist das Sich-Verhalten-zur-ewigenWiederkunft zugleich ein Sich-zu-sich-selbst- und Sich-zur-Welt-Verhalten. Da der Dämon uns über die Konfrontation mit der Wiederkunft eigentlich die existenziell zugespitzte Hamlet-Frage stellt, welche lautet: „sein wollen oder nicht sein wollen?“, bringt er uns vor die Alternative zwischen dem Verfallen an die Möglichkeit des NihiBei den antiken Vorbildern steht jedoch die kosmologische Seite der Wiederkunft im Vordergrund, während Nietzsche vor allem an deren existenzieller Seite gelegen ist. Sein Gedanke ist die Wiederkunft in der Tat, insofern er sie „im Hinblick auf den psychologischen Effekt der Daseinsbewältigung durch die autogene Bejahung der Wiederkunft“ (Meyer 2005, 106) existenziell fruchtbar zu machen versteht. Die existenzielle Bedeutung steht im Zentrum von Nietzsches Überlegungen zur Wiederkunft. Dementsprechend wird sie, und nicht (oder kaum) die kosmologische Seite des Gedankens in Nietzsches publiziertem und autorisiertem Werk behandelt. Dabei drückt der hier besprochene Aphorismus FW 341 die existenziell wirksame Kraft des Gedankens vielleicht deutlicher aus als alle anderen Stellen in Nietzsches Werk, wo es um die Wiederkunft geht. 589 Nietzsche denkt also in FW 341 an die doppelte Bedeutung des Begriffs „Schwergewicht“, der nicht nur für Belastung, sondern auch für Bedeutsamkeit steht. Vgl. auch AC 43; KSA 6, 217: „Wenn man das Schwergewicht des Lebens nicht in’s Leben, sondern in’s ‚Jenseits‘ verlegt – in’s Nich t s  –, so hat man dem Leben überhaupt das Schwergewicht genommen.“ 590 „Das aber ist Der, welcher des Menschen Ziel schafft und der Erde ihren Sinn giebt und ihre Zukunft: Dieser erst s chaf f t es, d ass etwas gut und böse ist“ (Z III Tafeln 2; KSA 4, 247).

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lismus und die in der Bejahung des Gedankens vollführte Verneinung derselben, mithin die – freilich niemals endgültige – Überwindung des Nihilismus. Insofern der Wiederkunftsgedanke die Welt und das Dasein ewig zusammenschweißt, kann er tatsächlich zur „höchste[n] Formel der Bejahung, die überhaupt erreicht werden kann“ (EH Zarathustra I; KSA 6, 335) avancieren, denn seine Bejahung negiert den Nihilismus in dessen ganzer Bandbreite, wie sie vermittels der beiden im vorangegangenen Kapitel angeführten Nihilsmusformeln, deren erste sich auf die Welt und deren zweite sich auf das Dasein bezieht,⁵⁹¹ ausgefaltet wurde.

9.3 Nietzsches Philosophie der Bejahung oder: vom Schönmachen aller Dinge Der Welt und dem Dasein so gut zu werden, dass man die Wiederkunft als nachgerade göttlich empfindet, ist durchaus keine leichte Aufgabe. Insofern es sich aber um eine der Hauptaufgaben, wenn nicht sogar um das Herzstück von Nietzsches Lebensbejahungsphilosophie handelt, duldet die Frage, wie sich die Herausforderung solch umfassender Bejahung bewältigen lässt, keinen Aufschub. Das Rezept zur Einlösung dieser wahrhaftigen Lebensaufgabe lässt sich auf eine Maxime bringen, die Nietzsche sich selbst angelegentlich des Jahreswechsels 1881/82 vorhält: „Ich will immer mehr lernen, das Nothwendige an den Dingen als das Schöne sehen: – so werde ich Einer von Denen sein, welche die Dinge schön machen“ (FW 276; KSA 3, 521). Die Umsetzung dieses Neujahresvorsatzes wird nicht allein behandelt im vierten Buch der Fröhlichen Wissenschaft, das ganz unter den Auspizien ebendieses Vorsatzes steht. Sie ist Dreh- und Angelpunkt auch des Ecce homo, an dem Nietzsche bis zuletzt, d. h. bis zu jenem Zeitpunkt, da er in geistige Umnachtung fiel, gearbeitet hat. In diesem merkwürdigen Buch,⁵⁹² darin Nietzsche sich in Form eines von Dankbarkeit getragenen Rückblicks sein Leben selbst erzählt⁵⁹³ und das dennoch keine Autobiografie 591 Zur Erinnerung die beiden Formeln: 1. Nietzsches: „Ein Nihilist ist der Mensch, welcher von der Welt, wie sie ist, urtheilt, sie sollte n i ch t sein, und von der Welt, wie sie sein sollte, urtheilt, sie existirt nicht“ (NL 1885–1887, KSA 12, 9[60], 366) und 2. meine Modifikation: „Ein Nihilist ist der Mensch, welcher über sich selbst, wie er ist, urteilt, er sollte nicht sein, und über sich, wie er sein sollte, urteilt, er existiert nicht.“ 592 In einem Brief an Meta von Salis vom 14.11.1888 bezeichnet Nietzsche seinen Ecce homo als „ein sehr unglaubliches Stück Litteratur“ (KSB 8, 471). 593 Die Präambel des Ecce homo: „An diesem vollkommnen Tage, wo Alles reift und nicht nur die Traube braun wird, fiel mir eben ein Sonnenblick auf mein Leben: ich sah rückwärts, ich sah hinaus, ich sah nie so viel und so gute Dinge auf einmal. Nicht umsonst begrub ich heute mein vierundvierzigstes Jahr, ich du rf te es begraben, – was in ihm Leben war, ist gerettet, ist unsterblich. Die Umwer t h u ng a l l e r Wer t h e , die Dio nyso s- Dithyr a mb e n und, zur Erholung, die G öt z e n -D ä mm erung – Alles Geschenke dieses Jahrs, sogar seines letzten Vierteljahrs! Wi e sollte ich nicht m einem gan zen Leb en d an k b ar sein? Und so erzähle ich mir mein Leben“ (EH Motto; KSA 6, 263).

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ist, sondern vorzüglich ein philosophischer Text, „der das eigene Ich bzw. das eigene schreibende Subjekt zum Gegenstand macht“ (Langer 2005, 9), zeigt Nietzsche, wie das Zufällige als das Notwendige und das Notwendige als das Schöne gesehen werden können, wodurch er sich schließlich die Dinge schön macht. Das Ergebnis solchen Schönmachens ist der Amor fati, die Liebe zum Schicksal, die das Leitmotiv sowohl des vierten Buches der Fröhlichen Wissenschaft als auch des Ecce homo bildet, zweier Bücher der Bejahung und der Dankbarkeit. In Warum ich so weise bin, dem ersten Kapitel des Ecce homo, behauptet mit Nietzsche ausgerechnet der Philosoph des Perspektivismus, der als solcher genau weiß, dass es niemanden gibt, der für sich mit Recht reklamieren könnte, einen neutralen Blick auf das Leben zu haben, er selbst zeichne sich durch „Freiheit von Partei im Verhältniss zum Gesammtprobleme des Lebens“ (EH weise 1; KSA 6, 264) aus. Ein Widerspruch ist das aber entgegen dem ersten Eindruck nicht. Nietzsche will mit dieser Aussage nämlich nicht behaupten, er sei dazu befähigt, derart aus sich herauszutreten, dass er von einem neutral-unbeteiligten, alles überschauenden Standpunkt auf das Leben herabblicken könnte. Natürlich weiß der Philosoph, dass er aus seiner Haut nicht herauskann, mithin zum Gesamtproblem des Lebens nur aus einer daseinsimmanenten Perspektive Stellung beziehen kann. Nur sieht er darin kein Problem. Die immanente Perspektive genügt ihm voll und ganz, um sich hinsichtlich des Lebens „parteilos“ äußern zu können, weil er die beiden für das Leben maßgeblichen Parteien: die lebensverneinende, absteigende und die lebensbejahende, aufsteigende, ganz genau kennt. Er ist, wenn man so will, Mitglied beider Parteien, ein verblüffender Umstand, den Nietzsche durch seine Herkunft begründet. Seiner Darstellung zufolge haben sich die Morbidität des früh verstorbenen Vaters und die Gesundheit der noch lebenden Mutter beide Platz in seinem Wesen zu schaffen gewusst, und zwar ohne sich wechselseitig zu durchlaufen und sich gegenseitig relativierend zu vermischen. So kenne er also beides, ja sei sogar beides: einerseits „ein décadent“ und andererseits „dessen Gegensatz“ (EH weise 1; KSA 6, 265). Ich habe die Eingangspassage des Ecce homo im Zuge von Nietzsches Auseinandersetzung mit Sokrates und dem Sokratismus bereits ausgiebig behandelt. Trotzdem komme ich an dieser Stelle noch einmal darauf zurück, weil sich an ihr exemplarisch zeigen lässt, wie Nietzsche sich die Dinge gut und schön macht. Jetzt betrachte ich die Eingangspassage also in einem anderen Kontext als zuvor, wodurch sich auch meine Perspektive auf sie verändert. Ebendarum dreht sich aber alles bei Nietzsches philosophischem Verschönerungsprogramm: um das Vermögen, zwischen erprobten Perspektiven zu wechseln und bei Bedarf neue aufzusuchen.  – Laut Nietzsche haben alle großen Erkenntnisse einen „Doppelblick“ (EH MAM 6; KSA  6, 328). Da Nietzsche selbst ein doppeltes Wesen hat, ist gerade er dazu prädestiniert, mit einem solchen Doppelblick in die Welt zu sehen und große Erkenntnisse zu erlangen. Eine der größten und wichtigsten Erkenntnisse, die Nietzsche sich selbst zugutehält, ist die Einsicht in die Notwendigkeit einer Umwertung aller Werte. Soll der Nihilismus auf kultureller Ebene geschlagen werden, müssen die alten nihilistisch durch-

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tränkten Werte abgeschafft und durch neue nicht derart kontaminierte Werte ersetzt werden. Die wirkliche, entschlossene Inangriffnahme einer solchen Ersetzung oder Umwertung ausgerechnet jener Werte, die bisher als maßgebliche Orientierungspunkte eine lebensleitende Funktion erfüllten, ist jedoch eine unerhörte Forderung an die Menschheit. Unerhört insbesondere deswegen, weil der Mensch erstmalig in seiner Geschichte eine Umwertung ohne die Hilfe eines Gottes vollziehen soll. Nach dem Tod Gottes ist eine Umwertung notwendig geworden, die allen Absolutheitsansprüchen entsagt und die neuen Werte bewusst in den Horizont des Wertewandels stellt. In Anbetracht dessen klingt es schon viel weniger überzogen, als man beim ersten Lesen denken mag, wenn Nietzsche von der schwersten Forderung, „die je an sie[die Menschheit – E.B.] gestellt wurde“, spricht (EH Vorwort 1; KSA 6, 257). Das Los, mit dieser ungeheuerlichen Forderung an die Menschheit heranzutreten, sei aber auf ihn gefallen, und das aus gutem Grund. Die zufällige, nicht in eigener Hand liegende Bedingung seiner Herkunft, zumal die an sich betrachtet eher negativ anmutende vererbte Morbidität, nimmt im Licht dieser Herkulesaufgabe plötzlich eine ganz andere Gestalt an. Das Zufällige wird zu einem Notwendigen, das denjenigen, dem es zugefallen ist, aus der Menge der Menschen heraushebt und vor den anderen auszeichnet, indem es ihn allererst dazu befähigt, der Größe der Aufgabe gerecht zu werden. Mit anderen Worten: Nietzsche konnte nur aufgrund seiner zufälligen Herkunft zu einem Schicksal werden,⁵⁹⁴ nämlich zu demjenigen Menschen und Philosophen mit dem doppelten Wesen, welches das Fundament seines extraordinären Perspektivenreichtums bildet, dessen die Menschheit jetzt notwendig bedarf: Ich habe es jetzt in der Hand, ich habe die Hand dafür, Per s p e k t ive n u mz u s te l l e n : erster Grund, weshalb für mich allein vielleicht eine „Umwerthung der Werthe“ überhaupt möglich ist. – (EH weise 1; KSA 6, 266)

Zwar empfindet Nietzsche Hochachtung für seinen Vater; das erste Kapitel des Ecce homo intoniert streckenweise nachgerade einen Lobgesang auf den kränklichen Mann, den Nietzsche kaum kennenlernen durfte.⁵⁹⁵ Dafür kommt die Mutter umso schlechter weg. Im dritten Abschnitt des ersten Kapitels zieht Nietzsche eine äußerst scharfe Trennlinie zwischen sich, seiner Mutter und Schwester und stellt sich in den die Blutsverwandtschaft degradierenden größeren Herkunftszusammenhang mit den „gro s s e n Individuen“. Solcherart entfernt er sich sogar vom geliebten Vater: „[I]ch verstehe es nicht, aber Julius Cäsar könnte mein Vater sein – o der Alexander, dieser leibhafte Dionysos…“ (EH weise 3; KSA 6, 269). Für die Abscheidung von Mutter und Schwester findet er deutlichere Worte. Er spannt den Abstand zwischen sie und sich

594 Der Titel des Schlusskapitels des Ecce homo lautet bekanntlich Warum ich ein Schicksal bin. 595 Ein Beispiel: „Ich betrachte es als ein grosses Vorrecht, einen solchen Vater gehabt zu haben: die Bauern, vor denen er predigte – denn er war, nachdem er einige Jahre am Altenburger Hofe gelebt hatte, die letzten Jahre Prediger – sagten, so müsse wohl ein Engel aussehn“ (EH weise 3; KSA 6, 267f.).

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ins Unermessliche, wenn er in antithetischer Manier von gleichzeitiger Fremderniedrigung und Selbsterhöhung festhält: „– mit solcher canaille mich verwandt zu glauben wäre eine Lästerung auf meine Göttlichkeit“ (EH weise 3; KSA  6, 268). Nietzsches Demarkationswut gipfelt schließlich in der bereits vermerkten Aussage, seine Mutter und Schwester seien ihm der gravierendste Einwand gegen die Wiederkunft. Rechnet man zu alledem die Morbidität als Erbe des Vaters hinzu, wird verständlich, warum Nietzsche auf seine elterliche Herkunft anspielend im ersten Satz von Warum ich so weise bin von einem Verhängnis spricht. Ein hermeneutisches Verhängnis würde man freilich provozieren, betrachtete man das Wort „Verhängnis“ in diesem Satz isoliert. Der Sinngehalt des Satzes hängt nämlich daran, dass in ihm die Wörter „Verhängnis“ und „Glück“ ein ungewöhnliches Paar bilden. Was prima facie paradox erscheint, ist in Wahrheit ein Beispiel dafür, wie man die Dinge verwandelt und schön macht. Denn Nietzsche weiß, dass sein Glück ohne dieses Verhängnis nicht möglich wäre, so dass sein Verhängnis ein Glück ist: „Das Glück meines Daseins, seine Einzigkeit vielleicht, liegt in seinem Verhängniss (…)“ (EH weise 1; KSA 6, 264). Diese Kunst der Verwandlung, für die Nietzsche in der Vorrede zur zweiten Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft (1887) auf den treffenden Ausdruck „Kunst der Transfiguration“ (FW Vorrede 3; KSA 3, 349) verfällt, womit neben der Verwandlung der ausschlaggebende, nämlich der verklärende Aspekt jener Kunst gleich mitbenannt wird, ist zugleich eine Kunst, sich vom Ressentiment schadlos zu halten. Indem man die Dinge transfiguriert, d. h. „[a]lles, was wir sind, beständig in Licht und Flamme verwandel[t], auch Alles, was uns trifft“ (FW Vorrede  3; KSA  3, 349f.), besiegt man seine Ohnmacht durch seine Freiheit. Wie ist das zu verstehen? Der einzige Zugriff, den wir auf das Faktische⁵⁹⁶ (wie z. B. unsere Herkunft) haben, ist die Perspektive, in die wir es hineinstellen. Wenn es uns gelingt, eine Einstellung zu finden, die es uns ermöglicht, das Faktische als das von uns Gewollte zu sehen, ist das Ressentiment gebannt. Die Souveränität eines Individuums ist nie absolut. Souveränität gibt es nur innerhalb eines Raumes der Bedingtheit und Notwendigkeit. Schon diese Einsicht, die den gleichermaßen notwendigen wie konstruktiven Platz der Bedingtheit im Geschäft der Freiheit erkennt und anerkennt, ist Ausdruck der Souveränität eines Individuums, das die Kunst der Transfiguration mindestens bis zu einem gewissen Grad beherrscht. Wie aber lässt sich die Kunst der Transfiguration lernen? Eine Herausforderung, die umso schwerer scheint, wenn man nicht wie Nietzsche als bzw. mit einem Doppelwesen gleichsam dafür geboren wurde. Die Grundvoraussetzung der Verklärungskunst ist der Perspektivismus. Will man den Dingen ihre schönen Seiten abgewinnen, muss man diese Seiten selbstredend überhaupt erst in den Blick bekommen. Das Subjekt der Erkenntnis muss demnach seinen Horizont erweitern, was geübt 596 Insofern solches Faktische ein Produkt des Zufalls und der Zeit ist, ist es seiner „Herkunft“ nach kontingent. Es ist ein Zufälliges, das zur Notwendigkeit geworden, einen Gegenstand für uns bedeutet, mit dem wir uns unweigerlich auseinandersetzen müssen.

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werden kann, indem es sich bei der Betrachtung der Dinge versuchsweise auf verschiedene Standpunkte stellt. Es sind vor allem die ungewöhnlichen, unzeitgemäßen Standpunkte, die Erstaunliches zu Tage fördern. Nietzsche hat dies schon sehr früh begriffen und bspw. im Vorwort seiner zweiten Unzeitgemässen Betrachtung (Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben) von 1874 auch thematisiert. Freilich geht es ihm dort weniger um Verklärung als um Aufklärung über ein Phänomen, das der Zeitgeist mit stolzer Einseitigkeit zu betrachten gewohnt ist. Statt etwas Unschönes zu verklären, will Nietzsche etwas Verklärtes von dessen unschöner Seite zeigen, damit es in Zukunft in seiner bisher unbedachten Ambivalenz begriffen und behandelt werden kann. Indem er „etwas, worauf die Zeit mit Recht stolz ist, ihre historische Bildung, hier einmal als Schaden, Gebrechen und Mangel der Zeit zu verstehen versuch[t]“ (UB II Vorwort; KSA 1, 246), mithin aus einer quer zum Zeitgeist stehenden Perspektive ins Auge fasst, kommt er zu einem umfassenderen Ergebnis als der Zeitgeist: Während dieser die Historie aufgrund einer auf dem kritischen Auge blinden Verehrung über-treibt, wenn er sich in ziel- und wahlloser Wissensakkumulation ergeht, ist es Nietzsches perspektivierendem Blick nicht entgangen, inwiefern eine derartige hypertrophe Beschäftigung mit der Vergangenheit dem Menschen zum Schaden gereicht. Erst wenn auch die dunkle Seite eines Phänomens in Augenschein genommen wird, lässt sich die Strahlkraft seiner hellen Seite wirklich ermessen. So erkennt Nietzsche durchaus an, dass die Historie dem Leben nutzen kann, ja im Grunde unverzichtbar für dasselbe ist. Nur wandelt der Mensch, gleichviel ob als Individuum oder Gattungswesen, stets auf einem schmalen Grat zwischen Fluch und Segen, wenn es um die Beschäftigung mit seiner Vergangenheit geht. Soll die Historie ihre lebensspendende Kraft wirklich zum Nutzen des Lebens in dasselbe einbringen, muss man wissen, an welchem Punkt der Nutzen in Schaden umschlägt, was man allerdings nur dann abschätzen kann, wenn man nicht nur eine Seite, sondern die ganze Medaille kennt.⁵⁹⁷ Es ist sicher nicht falsch, wenn man die zweite Unzeitgemässe Betrachtung oder richtiger: wenn man alle vier Unzeitgemässen Betrachtungen unabhängig von ihren

597 Als Ermöglichungsgrund seines unzeitgemäßen Betrachtens hebt Nietzsche auch seine akademische Ausbildung zum klassischen Philologen hervor, welches Lob von der philologischen Zunft seiner Zeit, namentlich nach dem Tragödienbuch, als ein weiterer Affront gegen ihr eigenes Philologieverständnis empfunden werden musste, da es die Philologie zu einem bloßen Hilfsmittel des Perspektivismus herabsetzt: „Auch soll zu meiner Entlastung nicht verschwiegen werden, dass ich die Erfahrungen, die mir jene quälenden Empfindungen[gegenüber der Historienversessenheit – E.B.] erregten, meistens aus mir selbst und nur zur Vergleichung aus Anderen entnommen habe, und dass ich nur sofern ich Zögling älterer Zeiten, zumal der griechischen bin, über mich als ein Kind dieser jetzigen Zeit zu so unzeitgemässen Erfahrungen komme. So viel muss ich mir aber selbst von Berufs wegen als classischer Philologe zugestehen dürfen: denn ich wüsste nicht, was die classische Philologie in unserer Zeit für einen Sinn hätte, wenn nicht den, in ihr unzeitgemäss – das heisst gegen die Zeit und dadurch auf die Zeit und hoffentlich zu Gunsten einer kommenden Zeit – zu wirken“ (UB II Vorwort; KSA 1, 246f.).

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jeweiligen Themen allein aufgrund ihrer Unzeitgemäßheit als Propädeutik der Kunst der Transfiguration begreift. Die zweite Unzeitgemässe sticht allerdings unter den vier Abhandlungen insofern heraus, als sie die neue, überraschende, dem Gewöhnlichen die Stirn bietende Betrachtung eines Gegenstandes zur philosophischen Methode erhebt. Deren Anwendung soll in erster Linie zu neuen Erkenntnissen führen, die zwar dem Leben des Erkennenden dienen sollen – von einer Verwandlung des Erkennenden ist hier jedoch nicht explizit die Rede. Indessen wird durch die Anwendung dieser Methode der Grundstein für die Kunst der Transfiguration gelegt, indem sie die Perspektivierungsfähigkeiten des Anwenders schult. Diese Schule des Sehens ist zugleich eine Schule der Freiheit, deren Besuch für einen philosophischen Kopf obligatorisch ist, wie Nietzsche bereits als 17-jähriger Schüler in einer kurzen philosophischen Abhandlung mit dem Titel Fatum und Geschichte vermerkt: Wenn wir mit freiem, unbefangenem Blick die christliche Lehre und Kirchengeschichte anschauen könnten, so würden wir manche den allgemeinen Ideen widerstrebende Ansichten ausspre(c)hen müssen. Aber so, von unsern ersten Tagen an eingeengt in das Joch der Gewohnheit und der Vorurtheile, durch die Eindrücke unsrer Kindheit in der natürlichen Entwicklung unsers Geistes gehemmt und in der Bildung unsres Temperaments bestimmt, glauben wir es fast als Vergehn betrachten zu müssen, wenn wir einen freieren Standpunkt wählen, um von da aus ein unparteiisches und der Zeit angemessenes Urtheil über Religion und Christentum fällen zu können. Ein solcher Versuch ist nicht das Werk einiger Wochen, sondern eines Lebens. (BAW 2, 54)

Das soll heißen, wir beginnen die Fahrt unseres Lebens immer schon in festgestellten Geleisen, mithin auf einer größtenteils vorbestimmten Strecke, die nur ein ganz bestimmtes Blickfeld überhaupt zulässt. Erst wenn uns diese präfigurierte Einschränkung bewusst wird, können wir auf die Idee kommen, die Weichen eigenmächtig zu stellen, um vom gewohnten, gewöhnlichen Weg abzubiegen. Diese Einsicht ist indes nur der erste Schritt auf dem Weg zu einem umfassenderen Sehen. Die größere Hürde stellt der zweite Schritt dar, die eigentliche Tat, d. h. das wirkliche Heraustreten aus den gewohnten Bahnen. Nicht nur, dass wir nicht wissen können, wohin die Reise geht, wenn wir uns in unbekannte Gefilde wagen, so dass wir es schon beim bloßen Gedanken, eigene Wege zu gehen, leicht mit der Angst zu tun bekommen.⁵⁹⁸ Sogleich steht uns die drohende Gefahr vor Augen, auf dem eigenen Weg verloren zu gehen, noch ehe wir uns selbst gefunden haben:

598 Das Geheimnis der Angst ist, dass sie sich anders als die Furcht auf keinen konkreten Gegenstand bezieht, sondern wesentlich unbestimmt ist bzw. sich am Unbestimmten entzündet. Darauf hat namentlich Kierkegaard aufmerksam gemacht: „(…) ich muss darauf aufmerksam machen, daß er[der Begriff Angst – E.B.] gänzlich verschieden ist von Furcht und ähnlichen Begriffen, die sich auf etwas Bestimmtes beziehen, während Angst die Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit für die Möglichkeit ist“ (Kierkegaard 1991[1844], 40).

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Sich in das Meer des Zweifels hinauszuwagen, ohne Kompaß und Führer ist Thorheit und Verderben für unentwickelte Köpfe; die Meisten werden von Stürmen verschlagen, nur sehr wenige entdecken neue Länder. (BAW 2, 55)

Als weitere Schwierigkeit kommt hinzu, dass, wie der junge Nietzsche hellsichtig bemerkt, die Gewohnheit des Denkens in vorgegebenen Bahnen sich bereits auf unser Temperament ausgewirkt hat, uns also auch affektiv (vor)bestimmt. Auf diese Weise hat sich eine Abneigung gegen das Verlassen des Festumrissenen tief in uns eingelassen, weshalb wir uns innerlich dagegen sträuben, den Rahmen des Bildes, das wir von der Welt und uns selbst haben, zu sprengen. Mit uns steht es nicht besser als mit Platons Höhlenbewohnern, die ihre Befreiung aus der an sich zwielichtigen Atmosphäre und vermutlich stickigen Luft der Höhle, in der sie ihr gesamtes bisheriges Leben verbracht haben, eben nicht als Wohltat, sondern als ein Ärgernis empfinden, gegen das sie sich mit Händen und Füßen wehren. Das Gewohnte ist uns zu einer Art zweiten Natur geworden, die moralische Züge trägt: Den freieren Standpunkt zu wählen, erscheint uns beinahe als Vergehen, schreibt Nietzsche und fügt hinzu, dieser Emanzipationsversuch werde vermutlich ein Leben lang dauern. So wäre denn die Schule des Sehens nicht nur eine Schule der Freiheit oder Befreiung, sondern darüber hinaus eine (lebenslange) Schule des Lebens. Auch der erwachsene, zu großen Teilen bereits durch die Schule des Lebens gegangene Nietzsche betont rückblickend die Mühsal und die Dauer des als Schüler thematisierten und damit recht eigentlich schon begonnenen Weges. Es ist dies ein Weg der Abnabelung, der in der Tat eine schrittweise größer werdende Freiheit zeitigt. Nichtsdestotrotz ist diese Freiheit um den Preis des Schmerzes bitter erkauft, weil ein freier Geist nur werden kann, wer auch Liebgewonnenes hinter sich lässt. In Nietzsches Fall sind das vor allem der Glaube an den Gott seiner Kindheit, die geistige Heimat, die ihm Schopenhauer bereitet hatte, sowie die Freundschaft mit Wagner. Eine jede solche, von einem „Hass auf die Liebe“ (MA I Vorrede 3; KSA 2, 16) begleitete Trennung nennt Nietzsche in der Vorrede zur Neuausgabe von Menschliches, Allzumenschliches (1886) eine „grosse[ ] Lo s lö s ung“ (MA I Vorrede 3; KSA 2, 15), die er als einen plötzlichen „Ausbruch von Kraft und Willen zur Selbstbestimmung, Selbst-Werthsetzung“, als „Wille zum f reien Willen“ (MA I Vorrede 3; KSA  2, 16f.) beschreibt. Durch eine Reihe solcher Loslösungen entsteht der „freie[], immer freiere[] Geist[]“, der zu Beginn seiner schrittweisen Befreiung nicht wusste, wie ihm geschah, dem sich endlich aber doch „das Räthsel jener grossen Loslösung[die jetzt als Zusammenfassung der einzelnen Emanzipationsschritte als ein großer Prozess verstanden wird – E.B.] zu entschleiern beginnt“ (MA I Vorrede 6; KSA 2, 20). Der Sinn der großen Loslösung liegt in der Freiheit, „seine Perspektiven auf das Leben ‚aus- und wieder einzuhängen‘“ (Stegmaier 2011, 65). Im Verlauf des Loslösungsprozesses hat der zur souveränen Handhabung seiner Perspektiven befreite Mensch gelernt, „das Perspektivische in jeder Werthschätzung[zu] begreifen“ und „die no thwendige Ungerechtigkeit in jedem Für und Wider“ zu erfassen. Er hat schließlich „die Ungerechtigkeit

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als unablösbar vom Leben“ erkannt. Ihm ist klar geworden, dass das Leben selbst „durch das Perspektivische und seine Ungerechtigkeit“ bedingt ist. Damit ist nicht wenig gewonnen: Der Mensch hat als Herr seiner jetzt wirklich eigenen Perspektiven „Gewalt über[s]ein Für und Wider“ (MA I Vorrede 6; KSA 2, 20)⁵⁹⁹ erlangt. Er ist mit einem Wort dazu in der Lage, sich die Dinge schön zu machen. Nichts und niemand außer ihm selbst kann darüber bestimmen, in welchem Licht, von welcher Seite, aus welcher Nähe oder Distanz er etwas zu betrachten und zu bewerten hat. Die einzig wahre, absolute und moralisch unbedingt gebotene Perspektive auf das Leben gibt es nicht. Jede Perspektive rückt einen oder einige Aspekte einer Sache in den Brennpunkt, während sie andere ausblendet. Keine Perspektive vermag für sich genommen das Ganze einer Sache, schon gar nicht des Lebens, zu erfassen. In diesem Sinne ist das Perspektivische wesensgemäß ungerecht, was wiederum zur Folge hat, dass wir als Menschen den Dingen, der Welt, dem Leben gegenüber notwendigerweise ungerecht sind, weil das Perspektivische nun einmal den nicht transzendierbaren Rahmen unseres Erkennens und Wertens bildet. So etwas wie eine absolute Gerechtigkeit ist uns nicht gegeben. Die größtmögliche Gerechtigkeit, die wir den von uns in Augenschein genommenen Dingen angedeihen lassen können, die „Genialität (…) der Gerechtigkeit“, besteht darin, eingedenk der unhintergehbaren Ungerechtigkeit in allem Erkennen, „jedes Ding in das beste Licht“ zu stellen. Die Gerechtigkeit ist derart nach Nietzsches Verständnis des Begriffs keine absolute Norm, kein transzendenter Maßstab, welcher der Immanenz seinen Stempel aufdrückt, sondern ein menschliches Vermögen. Gerechtigkeit ist die Kunst des (multi)perspektivischen Sehens. Um „Jedem, sei es ein Belebtes oder Todtes, Wirkliches oder Gedachtes, das Seine[zu] geben“, geht sie „um dasselbe mit sorgsamem Auge herum“ (MA I 636; KSA 2, 361). Die Ungerechtigkeit wiederum zeigt sich uns aus der Perspektive solcher aktiver Gerechtigkeit als etwas, das keineswegs verteufelt werden sollte. Wenn wir mit dem gerechten, sorgsamen und d. h. nicht zuletzt: um die Dinge besorgten Auge auch um sie herum gehen, erkennen wir leicht ihre positive Seite. Die Ungerechtigkeit erscheint nun als die notwendige Voraussetzung dafür, dass wir etwas erstens überhaupt erkennen und zweitens schätzen können. Nur im umhegten Horizont des absehenden Hin-

599 Nietzsche betont die eminente Bedeutung der Gewalt über sein Für und Wider an anderer Stelle auch in Bezug auf die Affekte. Zur (vollendeten) Kunst der Transfiguration gehört neben der Beherrschung des Perspektivismus ebenfalls das Wissen darum, wie man sich seine eigenen Affekte zu Nutze macht. Ob ich dazu fähig bin, mir etwas schön und gut zu machen, was gemeinhin nicht als schön, vielleicht sogar als hässlich oder unheimlich empfunden wird, hängt nicht zuletzt auch mit meiner jeweiligen Gemütsverfassung zusammen. Ich muss sonach wissen, in welcher Stimmung ich der Betrachtung eines bestimmten Gegenstandes oder Faktes gewachsen bin und in welcher nicht. Ausgehend davon kann ich mich, oder sollte ich mich sogar, der Betrachtung stellen oder nicht. Gute Stimmungen muss man ausnutzen, schlechte eher aushalten: „Seine Affekte, sein Für und Wider willkürlich haben und nicht haben, sich auf sie herablassen, für Stunden; sich auf sie s e t z e n , wie auf Pferde, oft wie auf Esel: – man muss nämlich ihre Dummheit so gut wie ihr Feuer zu nützen wissen“ (JGB 284; KSA 5, 231).

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sehens bekommen wir die Dinge zu fassen – man muss sie aber auch lassen können. Nichts ist dem Leben abträglicher als es unter Absolutheitsansprüche zu stellen, weil mit dem unbedingten Anspruch der Richterspruch Hand in Hand geht. Dem Leben wird man aber laut Nietzsche gerade dann nicht gerecht, wenn man sich als dessen Richter aufspielt; ein Gedanke, der Nietzsche in die Nähe von Jesus Christus, vorzüglich auch seines im Antichristen dargestellten Jesus (ohne Christus) rückt.⁶⁰⁰ Vielmehr setzt man auf diese Weise den Nihilismus in die Welt, der, wie gesehen, in nuce das Resultat eines negativen Richterspruchs über sich selbst und die Welt bzw. das Leben ist. Der Nihilismus ist kurz gesagt die höchste Zuspitzung des richtenden Neinsagens. Nietzsches Amor fati offenbart sich vor diesem Hintergrund als antinihilistische Formel. Wer den Amor fati zu seiner Lebensmaxime macht, gestattet sich nur noch eine einzige Form des Neinsagens, nämlich das zwar ungerechte, im obigen Sinne jedoch gerechtfertigte – nicht umsonst durch Sperrdruck hervorgehobene – Wegsehen: Amor fati: das sei von nun an meine Liebe! Ich will keinen Krieg gegen das Hässliche führen. Ich will nicht anklagen, ich will nicht einmal die Ankläger anklagen. Wegs e h e n sei meine einzige Verneinung! Und, Alles in Allem und Grossen: ich will irgendwann einmal nur noch ein Ja-sagender sein! (FW 276; KSA 3, 521)

Auf das richtende Urteil weiß der in Nietzsches Sinne gerechte Mensch, der wie Jesus nicht einmal mehr die Ankläger anklagen will,⁶⁰¹ zu verzichten. Statt den Stab über etwas zu brechen, das er (noch) nicht zu bejahen in der Lage ist, sieht er (einstweilen)

600 In Menschliches, Allzumenschliches II unterscheidet Nietzsche zwischen „G erecht s e i n wo llen und Richter sein wollen“ (MA II 33; KSA 2, 395) und unterstellt dem Menschen einen Hang, das Leben aus einem moralischen Gesichtswinkel zu betrachten, was ihn sogleich dazu verführt, für alles Geschehene einen verantwortlichen Urheber, moralisch gefasst: einen Schuldigen, zu finden. Dem Menschen sei eher daran gelegen, etwas oder jemanden zu verurteilen, als etwas oder jemandem gerecht zu werden. Ein Philosoph müsste sich von diesem Hang distanzieren können und in diesem Falle Jesus Christus zum Vorbild nehmen: „Der Irrthum steckt nicht nur im Gefühle ‚ich bin verantwortlich‘, sondern eben so in jenem Gegensatze ‚ich bin es nicht, aber irgendwer muss es doch sein.‘ – Diess ist eben nicht wahr: der Philosoph hat also zu sagen, wie Christus, ‚richtet nicht!‘ und der letzte Unterschied zwischen den philosophischen Köpfen und den andern wäre der, dass die ersten ge re cht sein wollen, die andern R i ch te r sein wollen“ (MA II 33; KSA 2, 396). 601 Auch Zarathustra will im Namen der Gerechtigkeit lieber freisprechen als verurteilen. Bis zu einem gewissen Grad wandelt auch er in Sachen Gerechtigkeit auf den Spuren Jesu, wenngleich er in seinem Vergebungswillen nicht ganz so weit geht wie der Nazarener, wenn er von einer Gerechtigkeit träumt, die jeden, abgesehen von den Richtenden, freispricht: „Ich mag eure kalte Gerechtigkeit nicht; und aus dem Auge eurer Richter blickt mir immer der Henker und sein kaltes Eisen./Sagt, wo findet sich die Gerechtigkeit, welche Liebe mit sehenden Augen ist?/So erfindet mir doch die Liebe, welche nicht nur alle Strafe, sondern auch alle Schuld trägt!/So erfindet mir doch die Gerechtigkeit, die Jeden freispricht, ausgenommen den Richtenden“ (Z I Natter; KSA 4, 88)! Zarathustras Gerechtigkeitsvorstellung ist allerdings paradox, insofern sie in dem Augenblick, da sie die Richtenden schuldig spricht, selbst zu einer Richtenden wird und ipso facto auch sich selbst verurteilen muss.

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lieber von ihm ab; jedoch nicht in negierender – buchstäblicher – Ab-sicht, sondern in Hin-sicht auf etwas anderes, dem er sich nun zuwendet. Gut möglich, dass er eines Tages auch dasjenige, über das er vormals hinweggesehen hat, ins Auge zu fassen und zu bejahen weiß. Auf jeden Fall ist es Nietzsches erklärtes Ziel, eines Tages „nur noch ein Ja-sagender[zu] sein“. Das bedeutet, er will an die Stelle des Richtens das Lieben setzen und endlich alles so lieben können, wie es eben ist. Man darf Nietzsches Worten vielleicht hinzufügen, er wolle eines Tages nicht einmal mehr ein Wegsehender sein. Im „dionysischen Jasagen zur Welt, wie sie ist, ohne Abzug, Ausnahme und Auswahl“, was dem „[h]öchste[n] Zustand, den ein Philosoph erreichen kann“ (NL 1885–1887, KSA 13, 16[32], 492), entspricht, ist der Nihilismus überwunden. Dieses allumfassende Lieben wäre die Verwirklichung des Größten am Menschen: Meine Formel für die Grösse am Menschen ist am o r f a t i : dass man Nichts anders haben will, vorwärts nicht, rückwärts nicht, in alle Ewigkeit nicht. Das Nothwendige nicht bloss ertragen, noch weniger verhehlen – aller Idealismus ist Verlogenheit vor dem Nothwendigen –, sondern es lieben… (EH klug 10; KSA 6, 297)

Der Überwinder des Nihilismus will nichts anders haben, als es ist. Dadurch unterscheidet er sich fundamental von dem über das Leben richtenden Nihilisten, der das Leben ja gerade deswegen verneint, weil es nicht so ist, wie er es will. Der Nihilist will es also anders haben, und falls das nicht möglich ist, will er es lieber gar nicht haben, was freilich auch nur wieder ein anderer, wenn auch extremer Modus des Andershaben-Wollens ist. Zusammengefasst: Nietzsches Formel „Amor fati“, enthält zwei entscheidende antinihilistische Aspekte: In der Fröhlichen Wissenschaft betont sie das Wegsehen als einzige Form der Verneinung und im Ecce homo das Nichts-anders-haben-Wollen. Derart weist sie sich als die Formel der Überwindung des Nihilismus aus, insofern das richtende Urteilen und das Anders-Haben-Wollen die konstitutiven Momente des Nihilismus bilden. Nun ist gerade das Nichts-anders-haben-Wollen ein bemerkenswertes philosophisches Konzept, oder vorsichtiger formuliert: ein erstaunlicher philosophischer Wunsch, insbesondere, wenn er von Nietzsche, dem Philosophen des Willens zur Macht, stammt. Was nämlich bedeutet es, nichts anders haben zu wollen, wenn nicht, dass man nichts mehr will? Wollen ist nämlich „zu bestimmen als Streben, einen IstZustand in Richtung auf einen Soll-Zustand zu verändern“ (Weimer 1984, 45). Wenn aber alles genau so ist, wie es sein soll, kann man eigentlich das Wollen nicht mehr wollen. Bedeutet dies etwa, dass Nietzsche am Ende seines Philosophierens  – den Amor fati als letztes Wort genommen – den Willen zur Macht, der immer mehr haben will, als er hat, zurückweist? Das Wollen selbst wird jedenfalls nicht aufgehoben, denn auch das Nicht-Wollen muss gewollt werden. Anders ausgedrückt: Selbst das Nicht-Wollen bleibt zwangsläufig ein Wollen. Vielleicht gelingt dem Willen zur Macht

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aber auch im paradoxen „Wollen des Nicht-Wollens“ (Stegmaier 2011, 195), d. h. in der Überwindung des Nihilismus, sein eigentliches Meisterstück, in einem seiner Natur scheinbar widerstrebenden Wollen, das seine Kraft auf die äußerste Probe stellt.

Kapitel X Nihilismus heute – von der großen Müdigkeit Die Presse, die Maschine, die Eisenbahn, der Telgraph sind Prämissen, deren tausendjährige Conclusion noch Niemand zu ziehen gewagt hat. (Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches)⁶⁰² Der moderne Pessimismus ist ein Ausdruck von der Nutzlosigkeit der mo d e r n e n Welt, – nicht der Welt und des Daseins. (Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente)⁶⁰³

In den vorangegangenen Kapiteln wurde das große Thema „Nihilismus“ bei Nietzsche mit der Absicht einer wechselseitigen Erhellung in Angriff genommen: Im Verlauf einer werkgenetischen Untersuchung von Nietzsches Philosophie sollte einerseits der schillernde Begriff „Nihilismus“ durch seine Verwendung im Werk des Philosophen Kontur gewinnen. Andererseits sollte dieses Werk selbst am Leitfaden des behandelten Begriffs verständlicher werden. Im düsteren Licht des Nihilismus erscheint Nietzsches, in inhaltlicher, methodischer und stilistischer Hinsicht, so vielfältiges Oeuvre plötzlich als ein großer Wurf zur (Ehren)Rettung des (Da)Seins; freilich in vielfachen Anläufen, mitunter auch in einem verzweifelten Anrennen. Im Zuge meiner Interpretationen dieser verschiedenen Anläufe hat sich ergeben, dass der Nihilismus ein mehrdimensionales Phänomen ist. Er weist insgesamt drei Dimensionen auf: eine kulturelle, eine anthropologische und schließlich, da es sich um ein negatives Selbsturteil handelt, auch eine existenzielle. Nietzsches Überlegungen dringen weit in alle drei Dimensionen vor. Aus diesem Grund nimmt der vom Glauben abgefallene Pfarrerssohn bis zum heutigen Tag, mit Fug und Recht, eine exponierte Stellung innerhalb des Nihilismus-Diskurses ein; ja er ist (nach wie vor) dessen Schlüsselfigur.⁶⁰⁴ Von Nietzsche haben wir gelernt: Die Zufriedenheit mit sich (vgl. FW 290) ist die Negation des Nihilismus.⁶⁰⁵ Der Nihilismus resultiert (oder resultiert gerade nicht)

602 WS 278; KSA 2, 674 603 NL 1885–1887, KSA 12, 1[194], 54. 604 Als repräsentativ für die neueste Nihilismus-Forschung sei hier der Stimme Shane Wellers Gehör verschafft: „(…) Friedrich Nietzsche (…) is undoubtedly the most important figure in the history of the deployment of the concept of nihilism (…)“ (Weller 2011, 3). 605 Zufriedenheit ist ein Gefühl. Der Nihilismus ist nach meiner Definition ein Urteil über das Selbst und/oder die Welt. Jedoch, so könnte man einwenden, ist es überhaupt zulässig, ein Urteil mittels eines Gefühls zurückzuweisen? Ja, Urteile lassen sich durch Gefühle sehr wohl zurückweisen oder auch: Bestimmte Urteile werden aufgrund bestimmter Gefühle gar nicht erst gefällt, kommen überhaupt nicht in Betracht. Denn Gefühle sind für Urteile grundlegend. Genauer gesagt sind Gefühle selbst Urteile – Gefühlsurteile eben, die reflexive Urteile wesentlich beeinflussen (aber auch quer zu ihnen stehen können): „Gefühlsurteile sind grundlegend. Sie finden weder Deutungen oder Wertungen bezogen auf unsere Welt vor noch Anlässe der Furcht oder Abscheu, des Trotzes und der Liebe, der Bindung oder Trennung, der Über- oder Unterordnung: sie erschaffen sie. Auch wenden sie nicht

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aus einem bestimmten Verhältnis zu sich selbst oder auch: Er ist ein bestimmtes Selbstverhältnis – eben ein nihilistisches. Dieses Selbst, das sich zu sich selbst verhält, führt aber keine Findlings-Existenz, ist keine freischwebende Entität wie die cartesische Res cogitans, die unabhängig von den Einflüssen der Außenwelt für sich bestehen soll, sondern eine psychophysische Einheit, die es nolens volens in der Welt mit anderen psychophysischen Einheiten zu tun hat. Von daher hängt die mögliche Zufriedenheit mit sich selbst immer auch vom Zustand der Welt als dem Lebens- und Begegnungsraum des Selbst ab. Grundsätzlich sind Zustände jenes Lebensraumes denkbar, die der Zufriedenheit des Selbst mit sich selbst eher entgegenkommen und solche, die ihr eher entgegenstehen.⁶⁰⁶ Wenn es nun um die Virulenz des Nihilismus in unserer Zeit geht, muss dieser Lebensraum, muss insbesondere unsere Gesellschaft, also die Sozialwelt, daraufhin befragt werden, wessen Saats Nährboden sie ist – des Nihilismus oder der Zufriedenheit mit sich selbst.⁶⁰⁷ Um meinen Befund vorwegzunehmen: Ich halte die Spätmoderne⁶⁰⁸ eher für den Nährboden des Nihilismus. Sie scheint mir ein Ferment zu sein, darin der Nihi-

bloß Deutungs- und Wertungsnormen auf das Erleben an, sondern steuern sie bei. (…) Wir leben nicht in der Realität, sondern in einer Surrealität, einer Welt, geprägt durch Wertungen und Ängste, Gewinn und Verlust, Lohn und Strafe, Vertrautheit und Fremdheit. Wenn Leidenschaften – und besonders Gefühle – diese Welt herstellen, so setzen sie den Rahmen, in dem Tatsachen überhaupt Bedeutung oder ‚Relevanz‘ für uns haben können. Emotionen sind also insofern grundlegende Urteile, als sie unsere Surrealität nicht vorfinden, sondern bilden (…). Emotionen sind selbsttragende Urteile über uns und unsere Welt (…)“ (Solomon 2000, 183f.). 606 Und selbstverständlich gibt es auch Charaktere, die apriori, d. h. aufgrund ihrer charakterlichen Disposition, eher zur Zufriedenheit mit sich und der Welt neigen und solche, bei denen dies eher nicht der Fall ist. Es gibt, mit anderen Worten, Menschen, die sich naturgemäß eher von der Welt getragen fühlen und solche, die sich naturgemäß eher geworfen fühlen. Vgl. Rosa 2013, 374–413. 607 Einen in diesem Kontext interessanten wissenschaftlichen Ansatz verfolgt Hartmut Rosa, der die Frage „wie wir uns als moderne Subjekte in die moderne Welt gestellt fühlen (…) insbesondere inwiefern wir uns in dieser Welt getragen fühlen oder aber geworfen fühlen“, zum Ausgangspunkt einer zu entwickelnden „Soziologie der Weltbeziehungen“ (Rosa 2013, 374) nimmt. 608 „Der (…) Begriff der Moderne bezeichnet einen (‚westlichen‘) Kulturkreis, der durch eine Entfesselung und kumulative Entfaltung der Fähigkeiten des Menschen zum rationalen Denken und Handeln bestimmt ist.“ Daraus folgt: „Die Moderne muss sich aus sich selbst heraus begründen und legitimieren, der Mensch wird für sein eigenes Schicksal selbst verantwortlich (gemacht) und entwickelt sich hin zu mehr Autonomie und Individualität.“ Es bildet sich ein entsprechendes Wertesysteme der Moderne aus, „das durch die Betonung von individueller Freiheit, Rationalität, Solidarität, aktiver Weltgestaltung und Universalismus gekennzeichnet ist“ (Degele/Dries 2005, 15). Während die Modernisierung den (westlichen) Gesellschaften, vorzüglich nach dem zweiten Weltkrieg, Wohlstand und Lebensqualität in ungeahntem Ausmaß beschert hat, erhält die Modernisierungseuphorie in den 1970er Jahren erste Risse. Die Kehrseite der Modernisierungsmedaille drängt sich in den Gesichtskreis der modernen Subjekte, d. h. die negativen Folgen der Modernisierung (von der Überforderung des Einzelnen bis zu Wirtschaftskrisen und der nicht mehr zu übersehenden Umweltverschmutzung) treten ans Licht. Ich bezeichne als Spätmoderne jene Epoche, in der die Modernisierung sich als zutiefst ambivalent offenbart (vgl. Degele/Dries 2005, 38f.) und in der sie selbst, die scheinbare Problemlöserin par excellence, problematisch wird.

Wettbewerbsgesellschaft   

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lismus gären kann; wohlgemerkt: der Nihilismus in einer speziellen Ausprägung, nämlich als müder bzw. als Erschöpfungsnihilismus. Wieso das? Sie ist durchzogen von zufriedenheitserodierenden Tendenzen, setzt das Individuum in ungekanntem Maße Kontingenzerfahrungen aus, schafft ein Klima des permanenten Leistungsdrucks und liefert keine befriedigenden Antworten auf das vorzüglich seit dem Tod Gottes chronisch unbefriedigte Sinnbedürfnis des Menschen. Vom Übermenschen als dem neuen Sinn der Erde fehlt bislang jede Spur. Vielmehr verdichten sich die Anzeichen, dass sich Nietzsches Besorgnis einer Verkleinerung des Menschen infolge der Regentschaft des letzten Menschen erfüllen könnte. Jedenfalls wächst vieler Orten die Sehnsucht nach dem Glück des letzten Menschen, einem dumpfen, sanft-hedonistischem Entlastungsglück. Zu allem Überfluss scheint es angesichts der herrschenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen immer schwerer, gerade jene Fähigkeiten zu kultivieren, ohne die an eine Kunst der Transfiguration als probates Mittel, dem Nihilismus die Stirn zu bieten, nicht zu denken ist. Um mein kulturkritisches Urteil zu erhärten, will ich im Weiteren einige Wesenszüge der spätmodernen Gesellschaft im Hinblick auf die ihnen innewohnende nihilistische Drift analysieren.

10.1 Wettbewerbsgesellschaft Die spätmoderne Gesellschaft ist „vor allem eine Wettbewerbsgesellschaft, weil sie nahezu alle zentralen Sozialsphären wettbewerbsförmig organisiert und daher die Herstellung oder Aufrechterhaltung von Wettbewerbsfähigkeit als dominantes Handlungsziel individueller und kollektiver Akteure festschreibt“ (Rosa 2013, 324).⁶⁰⁹ Nun ist Wettbewerb nicht per se schlecht  – ohne die kräftige Mithilfe unserer agonalen Triebe hätten sich viele unserer kulturellen Errungenschaften nie ins Werk setzen lassen. Es wäre jedoch verfrüht, daraus zu schließen, Wettbewerb sei als solcher gut. Nüchtern betrachtet, erweist sich eine wettbewerbsgesteuerte Gesellschaft zunächst in zweifachem Sinn als Leistungsgesellschaft. Zum einen kurbelt sie die kreativen Potenziale ihrer Mitglieder auf ungeahnte Weise an, welche freigesetzten Energien sich schließlich produktiv entladen. Die Leistungsgesellschaft erzeugt also Leistungen (Waren, Ideen, Erfindungen, Innovationen, Informationen etc.). Andererseits entpuppt sie sich als Anspruchsgesellschaft, insofern sie von ihren Mitgliedern permanente Leistungsbereitschaft verlangt, eine Einstellung, die sich vorzüglich durch

609 „In der Spätmoderne entwickelt das Wettbewerbsprinzip zumindest in der vorherrschenden Ideologie geradezu einen Totalanspruch: Alle noch nicht wettbewerbsförmig organisierten Sozialsphären (gesetzliche Krankenkassen, Universitäten als Bildungseinrichtungen, Wasserwerke und neuerdings sogar Gefängnisse und Sicherheitskräfte) geraten unter massiven Druck und gelten als chronisch ineffizient und hoffnungslos anachronistisch. Das Diktum, dass der Wettbewerb ‚in Zukunft‘ noch viel härter werde und noch viel härter werden müsse, ist geradezu zum unhinterfragten Allgemeinplatz und zu einem Synonym für ‚Globalisierung‘ geworden (…)“ (Rosa 2013, 329).

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tatsächlich erbrachte Leistungen nachweisen lässt.⁶¹⁰ Wer in einem Wettbewerb bestehen will, macht sich am besten das Leistungsprinzip zu eigen, droht er doch andernfalls durch den sozialen Rost zu fallen. Dramatischer noch: Innerhalb einer Wettbewerbsgesellschaft droht solches Fallen naturgemäß, weil der Konkurrenzkampf per definitionem nicht nur strahlende Sieger, sondern immer auch niedergeschlagene Verlierer hervorbringt. Das Leistungsprinzip als persönliches Credo stellt somit nur die notwendige, nicht aber die hinreichende Bedingung für gesellschaftlichen Erfolg dar. Die Wahl eines alternativen Prinzips der Lebensausrichtung verspricht hingegen mehr Sicherheit, allerdings in negativem Sinn, nämlich als beinahe schon zureichende Bedingung des Misserfolgs. Wenngleich unser Zeitalter prima facie unter dem Zeichen einer nie dagewesen Freiheit zu stehen scheint,⁶¹¹ bewirkt die Herrschaft des Leistungsprinzips als verkappter kategorischer Imperativ klammheimlich eine Zusammenschrumpfung des Horizontes der Lebensmöglichkeiten des spätmodernen Menschen. So bezeigt sich der sozusagen „hyperplurale“ Möglichkeitsraum der Spätmoderne bei näherem Hinsehen als seltsam eindimensional. Und auch „klimatisch“ sieht es in der Spätmoderne anders aus, als man zunächst meinen sollte. Ich habe es oben bereits angedeutet: Wo alles auf Wettbewerb und Leistung

610 Was als eine Leistung gilt, wird heute vorwiegend durch die Richtlinien der Ökonomie bestimmt, wobei drei Kriterien hervorzuheben sind: „1. Leistungen sind zielgerichtete, zweckrationale Handlungen, wobei das Ziel klar definiert und scharf umrissen zu sein hat. (…) 2. Leistungen sind mit Anstrengungen verbunden. Sie werden unter Verzicht und durch körperliche oder geistige Anstrengung vollbracht. Erst diese Anstrengung macht das Ergebnis zu einer einem Individuum zuschreibbaren Leistung. (…) 3. Schließlich müssen Leistungen messbar sein, wobei in der Regel das Ergebnis der Leistung gemessen wird, dass mit dem ursprünglich gesteckten Ziel identisch sein sollte“. Was im Rahmen der Ökonomie durchaus Sinn macht, wird indes dann heikel, wenn „diese im Kontext der Ökonomie erlernten und verfeinerten Kriterien zum Maßstab werthaltigen Handelns überhaupt“ werden, weisen doch z. B. „private Ziele in der Regel nicht annähernd den gleichen Konkretheitsgrad (…) wie berufliche Ziele“ (Mahayni 2010, 64) auf. Die zunehmende Privilegierung des Beruflichen gegenüber dem Privaten ist nicht zuletzt auch eine Entscheidung für das Konkretere, das sich klarer definieren und darum auch gezielter in Angriff nehmen lässt. Die im Sektor des sogenannten „Zeitmanagements“ verbreitete vermeintliche Gegenmaßnahme zur Stärkung des Privatlebens läuft in letzter Konsequenz auf die Vollendung der „Ökonomisierung des Privatlebens bzw. des Denkens und Handelns“ hinaus, denn sie besteht darin, „private Ziele auf den gleichen Konkretheitsgrad herunter zu brechen“, indem man „sich beispielsweise eine Zahl von mindestens einem gelesenen Buch und fünf Freundkontakten pro Monat zum Ziel“ (Mahayni 2010, 65) setzt. 611 Um nur einige Beispiele anzuführen: Wir leben in einer Demokratie, was Wahlfreiheit und ein Stück weit Partizipation an politischen Entscheidungsprozessen für jedermann impliziert. Anders als zu früheren Zeiten steht unser Lebensweg nicht bereits von Beginn an, je nach dem gesellschaftlichen Stand unserer Eltern, schon großenteils fest, sondern wir dürfen z. B. selbst entscheiden, mit wem wir zusammenleben wollen und in welcher Form: Ehe, „wilde Ehe“, gleichgeschlechtliche Ehe usf. Auch genießen wir Religionsfreiheit oder auch Freiheit von Religion. Überdies liegt die Wahl unseres Berufes mehr denn je in unserer eigenen Hand. Ferner bietet sich uns im Zuge der Globalisierung die Möglichkeit, vergleichsweise leicht andere Länder und Sitten kennenzulernen, und das nicht nur über den Fernseh- oder Laptopbildschirm, sondern indem wir sie bereisen, dort studieren oder arbeiten.

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ausgerichtet ist, wachsen die Ansprüche und Anforderungen an den Einzelnen in erheblichem Maße. So liegt heutzutage weniger der süße Duft der Freiheit⁶¹² in der Luft, als dass letztere gleichsam tonnenschwer auf der Brust der Menschen lastet. Wir alle müssen uns unsere soziale Position während eines unerbittlichen Konkurrenzkampfes erstreiten und wehe, wir wollten uns auf den Lorbeeren eines einmal erreichten Status ausruhen. Der Sinnspruch, wonach sich nichts schneller ändert als die Lage, bedarf, um „up to date“ zu bleiben, nämlich der Ergänzung um die Feststellung: Niemals zuvor änderte sich die Lage so schnell wie heute. Entsprechend schwer gestaltet sich natürlich die Erfüllung des lebenspraktischen Ideals, jederzeit Herr der Lage zu sein. Mit anderen Worten: Die Landkarten der Verteilung und der Anerkennung werden immer wieder neu gezeichnet in Abhängigkeit von den Positionen, welche die Subjekte besetzen oder erobern. Welcher Status, welcher Reichtum, welche Privilegien und Positionen einem Subjekt zustehen, hängt wesentlich davon ab, wie erfolgreich es sich im sozialen Wettbewerb bewegt. (…) Im 21. Jahrhundert reicht es nicht mehr aus, im Konkurrenzkampf eine bestimmte Position anzustreben und zu erreichen. Beschäftigungs- und Familienverhältnisse ebenso wie politische und religiöse Orientierungen sind nicht mehr auf lebenslange Sicht hin angelegt. Deshalb reicht es nicht mehr aus, ein Manager, Chefredakteur oder Professor (am oberen Ende der sozialen Schichtung) oder auch eine Reinigungskraft, ein Wachmann oder Pförtner (am anderen Ende des Spektrums) zu sein: Anerkennung, Reichtum, Sicherheit und die entsprechenden Privilegien werden nun in Abhängigkeit von der jeweiligen Performanz verteilt. (Rosa 2013, 280f.)

„Panta rhei“ (Alles fließt) und „polemos panton pater esti“ (Der Krieg ist der Vater aller Dinge) – wir leben fürwahr in einem heraklitischen Zeitalter. Wettbewerb, so sagte ich, ist nicht an sich schlecht. Solange eine Gesellschaft sich des Wettbewerbsprinzips als eines besonders effizienten Mittels „zur Realisierung substantieller gesellschaftlicher Ziele  – wirtschaftlicher Wohlstand, wissenschaftliche Erkenntnisse, technische Innovationen, kulturelle und sportliche Höchstleistungen etc.“ (Rosa 2013, 336) – bedient, tut ihr der Wettbewerb gut. Nietzsche erkennt in der affirmativen Einstellung der antiken Griechen gegenüber dem Agon ein Schlüsselmoment ihrer kulturellen Höhe. Es war, so seine Überzeugung, der „Wettkampf der Griechen (…), der sie ihren Gegnern überlegen machte und ihre Kultur ins Große steigerte“ (Stegmaier 2011, 122). Ohne die Energie des Agons ist eine Gesellschaft dem Verfall geweiht. Dementsprechend herrscht die „Nothwendigkeit des Wettkampfes, wenn anders das Heil des Staates bestehen soll“. Tatsächlich identifiziert Nietzsche den Wettkampf als „ewige[n] Lebensgrund des hellenischen Staates“  – und diese Gleichsetzung leuchtet auch ein, sofern dahinter der Gedanke steht, dass sich „an

612 Die Rede vom Duft der Freiheit ist womöglich mehr als nur eine Metapher. Dass es so etwas wie einen Duft der Freiheit wirklich geben könnte, legen die Ausführungen Byung-Chul Hans nahe, der qua Rekurs auf die berühmte Madeleine-Szene aus Marcel Prousts Jahrhundertroman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit nachzuweisen sucht, inwiefern die Zeit duftet. Vgl. Han 2009, 47ff.

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jeder großen Tugend (…) eine neue Größe“ (CV 5; KSA 1, 788) entzündet. Bei all dem agonalen Treiben geht es, was nicht übersehen werden darf, dem einzelnen Griechen unterdes nicht in erster Linie um die Vermehrung des eigenen Ruhmes; sondern sein Wettkampfstreben verfolgt je schon ein ganz bestimmtes, die Selbstsucht überschreitendes Ziel, wodurch das Streben kanalisiert und in gewisser Weise auch gezähmt, jedenfalls daran gehindert wird, sich auf radikal destruktive Weise Bahn zu brechen. So steht der im alten Griechenland bereits durch agonale Erziehung frühgeförderte Wettkampf unter dem guten Stern der „Wohlfahrt des Ganzen, der staatlichen Gesellschaft“ (CV 5; KSA 1, 789): Jeder Athener z. B. sollte sein Selbst im Wettkampfe soweit entwickeln, als es Athen vom höchsten Nutzen sei und am wenigsten Schaden bringe. Es war kein Ehrgeiz in’s Ungemessene und Unzumessende, wie meistens der moderne Ehrgeiz: an das Wohl seiner Mutterstadt dachte der Jüngling, wenn er um die Wette lief oder warf oder sang; ihren Ruhm wollte er in dem seinigen mehren (…). Jeder Grieche empfand in sich von Kindheit an den brennenden Wunsch, im Wettkampf der Städte ein Werkzeug zum Heile seiner Stadt zu sein: darin war seine Selbstsucht entflammt, darin war sie gezügelt und umschränkt. (CV 5; KSA 1, 789f.)

Die griechische Selbstsucht kennt also Grenzen, deren Einhaltung kulturellen Aufschwung garantiert und vor Zerstörung bewahrt. Wird indessen, wie in der Spätmoderne geschehen, infolge einer fatalen Inversion der Wettbewerb zum Selbstzweck, welchen zu erfüllen die Gesellschaft nun sämtliche Kräfte mobilisiert, dann werden aus Menschen bloße Instrumente (Kants Horrorvorstellung⁶¹³), die an ihrer Verdinglichung gleich selbst mitwirken, indem sie sich über ihre Produktionskraft als „human resource“ definieren. Dort, wo die Wettbewerbs- oder Steigerungslogik, aller darin liegenden Absurdität zum Trotz,⁶¹⁴ zur Logik überhaupt erhoben wird, werden die

613 Kant hält fest: „Der Mensch aber ist keine Sache, mithin nicht etwas, das bloß als Mittel gebraucht werden kann, sondern muß bei allen seinen Handlungen jederzeit als Zweck an sich selbst betrachtet werden.“ Dieser Grundüberzeugung gemäß formuliert Kant seinen kategorischen Imperativ auch in der sogenannten Zweck-an-sich- oder Selbstzweckformel: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“ (GMS, 429). Wohlgemerkt: Nicht allein die Degradierung anderer Menschen zu bloßen Mitteln widerspricht dem kategorischen Imperativ, sondern auch die scheinbar autonome Selbstherabsetzung vom Zweck zum Mittel. 614 Im Ausgang von Albert Camus’ Phänomenologie des Absurden (Der Mythos des Sisyphos) versucht Gerhard Schulze auf die eigentlich auf der Hand liegende Absurdität der unsere Gesellschaft prägenden Vorstellung, Steigerung sei ein Wert oder Zweck, hinzuweisen. Zugleich bemüht er sich zu erklären, wieso wir dennoch keinen Anstoß an dieser Vorstellung nehmen: „Auf den ersten Blick scheint es sinnlos, das bloße Steigern zum Wert zu erheben: Wozu sollte man sich für Steigerung engagieren, wenn man nichts weiter damit im Sinn hat? Wozu etwas tun, ohne sich sonderlich für die Früchte seines Tuns zu interessieren? (…) Zwei Gründe sind es, die den Widerstand dieses Gefühls[hier ginge etwas Absurdes vor sich – E.B.] überwinden und Steigerung als Wert an sich erscheinen lassen. Zum einen schafft diese Auffassung Einheitlichkeit in einer Welt, in der abertausend Einzelzwecke auseinanderstreben. Ausgerüstet mit der Weltformel reiner Steigerungsvernunft meint

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Menschen zu Dienern eines verschwenderischen Götzen, der Anbetung selbst dann verlangt, wenn sie den hohen Preis des sozialen „Wärmetodes“ (Entropie) kostet.

10.2 Zeitnot Die Zeit bloß für eine physikalische Größe zu halten, die als ein äußeres Faktum hingenommen werden muss, greift zu kurz. Als das Straßenkind Momo in Michael Endes Märchen- und Zeit-Roman Momo Meister Horas in der Niemals-Gasse gelegenes Nirgend-Haus betritt, traut sie ihren Augen und Ohren kaum: In einem riesigen Saal ticken, schnurren und klingeln unzählige Uhren in verschiedenen Rhythmen, ohne dabei aber enervierend zu lärmen. Momo kommt sich vor wie in einem „Uhr-Wald“. Nachdem Meister Hora sich dem staunenden Kind als Verwalter der Zeit, die einem jeden Menschen bestimmt ist, zu erkennen gegeben hat, möchte Momo von ihm wissen, ob die Uhren, die alle verschiedene Zeiten anzeigen, ebendiesem Zweck der Zuteilung dienen: jede Uhr für einen Menschen. Doch der Zeitverwalter wiegelt ab. So bedeutsam seien die Uhren in Wirklichkeit gar nicht. Eigentlich handele es sich um eine bloße Liebhaberei. Die Uhren seien „nur höchst unvollkommene Nachbildungen von etwas, das jeder Mensch in seiner Brust hat.“ Und Hora präzisiert: „Denn so wie ihr Augen habt, um das Licht zu sehen und Ohren, um die Klänge zu hören, so habt ihr ein Herz, um damit die Zeit wahrzunehmen.“ In den Worten des Meisters liegt: Weniger die Uhr ist das wahre Wahrnehmungsorganon der Zeit als vielmehr das Herz. Jedoch, so Hora: „[E]s gibt leider blinde und taube Herzen, die nichts wahrnehmen, obwohl sie schlagen.“ Was passiere, wenn ihr Herz zu schlagen aufhöre, will Momo wissen. In diesem Fall „hört auch die Zeit für dich auf“ (Ende 1988[1973], 153), entgegnet ihr der Uralte. Von Meister Hora lernen wir also erstens: Zeit ist eine Sache des Herzens und zweitens: Wichtiger als die physikalische Zeit ist die Lebenszeit, die man besser wahrnehmen und nutzen sollte, ehe es dafür zu spät ist. Indes was heißt hier nutzen? Endes Roman ist, auf einen Begriff gebracht, ein fantasiereiches Plädoyer dafür, ein möglichst erfülltes Leben zu führen. Er macht ferner deutlich, dass dieses hehre Ziel für denjenigen nicht realisierbar ist, der sich von der Zeit versklaven lässt. Mit der Zeit im Herzen lebt es sich besser als gegen die Zeit der Uhr. Wir erfahren: Das Leben der Zeitökonomen und Zeitsparer (Motto: Zeit ist Geld⁶¹⁵) ist so farb- und freudlos wie die Anzüge von Momos Gegenspielern: den Grauen Herren. man, alles zu verstehen. Man wird zum Weltbürger, überall anschlussfähig. (…) Zum anderen liegt die reine Steigerungsvernunft psychologisch gesehen nahe. (…) Wer sich auf einem Steigerungspfad vorwärts bewegt, kann ein Sinngefühl empfinden. Wie auch immer das objektive Ergebnis der Steigerung zu bewerten sein mag, man weiß jedenfalls, was zu tun ist. Im Weitermachen lässt sich die Sehnsucht nach tieferen Sinnerlebnissen vergessen. Man verschafft sich philosophische Befriedigung durch das Gefühl, Aufgaben zu lösen“ (Schulze 2003, 45f.). 615 In Momo findet sich folgende Gegenformel: „(…) Zeit ist Leben“, ergänzt durch den Satz: „Und das Leben wohnt im Herzen“ (Ende 1988[1973], 59, 72).

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Auch (oder gerade) 40  Jahre nach seinem ersten Erscheinen trifft Momo noch immer den Nerv der Zeit. Tatsächlich ist die Lebensqualität des „spätmodernen Leistungssubjekts“ (Han 2010, 37) massiv durch die Zeit beeinträchtigt, genauer: durch Zeitknappheit oder zumindest durch das Gefühl, nicht genug Zeit zur freien Verfügung zu haben. Dass dem so ist, indizieren unsere Sehnsüchte: „Befragt man die Deutschen nach ihren Wünschen, so steht ‚mehr Zeit haben‘ ganz weit vorne auf ihrer Liste“ (Weiguny 2013, 21).⁶¹⁶ Dabei ist das Gefühl, permanent gehetzt zu sein und niemals zur Ruhe zu kommen, keineswegs ein deutsches Spezifikum. In der Tat „kann es wenig Zweifel daran geben, dass ebendiese Zeitwahrnehmungen in allen westlichen Industriestaaten seit dem Beginn entsprechender Erhebungen in den 1960er-Jahren nahezu kontinuierlich dominanter geworden sind“ (Rosa 2005, 214).⁶¹⁷ Um es in ein Bild zu kleiden: Einem unbeteiligten Beobachter müsste der idealtypische spätmoderne Mensch vorkommen wie das weiße Kaninchen aus Lewis Carolls Alice im Wunderland: Immer in Eile, hektisch auf die Uhr blickend und stets besorgt, zu spät zu kommen, schlägt er gleichsam Haken, angetrieben von der Furcht, Langsamkeit könne ihn den Kopf kosten. Tatsächlich ist Furcht ein wesentlicher Beweggrund innerhalb unserer Bewegungsgesellschaft, worauf Hartmut Rosa ausdrücklich hinweist, der neben dem „Anpassungszwang“ die „Verpassensangst“ als weiteren maßgeblichen Faktor bei der Entstehung des Gefühls der Zeitnot anführt (Rosa 2005, 218). Was hat es mit der Verpassensangst auf sich? Den Tod nennt man bekanntlich auch „Schnitter“. Indem er den Lebensfaden abschneidet, trennt er den Menschen obendrein auch noch vom schier unendlichen Optionenraum, der sich vor diesem während seines Lebens (zumal in kapitalistischen Konsumgesellschaften) ausfaltet. Wie viele Möglichkeiten zur Selbstentfaltung lassen wir brach liegen, wenn wir sterben? Wir mögen ja eine Menge erlebt haben – aber was haben wir derweilen nicht alles verpasst? Darum gilt: Je effizienter wir uns unsere Lebenszeit einteilen und je weiter wir an der Schraube unseres Lebenstempos drehen, desto mehr Optionen lassen sich realisieren. In einer Gesellschaft, in der der Glaube an ein Leben nach dem Tod weitgehend seine kulturwirksame Kraft eingebüßt hat, wird „die Erhöhung des Lebenstempos zur modernen Antwort auf den Tod“. Sie ist das Ergebnis einer verheißungsvollen, postmetaphysischen, glücksversprechenden Logik: „Wer unendlich

616 Die Autorin stützt sich auf eine Forsa-Familienstudie von 2012, bei der es um die Vorsätze der Befragten für das kommende Jahr 2013 geht. Von 3019 Befragten gaben 52% an, sich mehr Zeit für die Familie und für Freunde nehmen zu wollen (Platz 2), während immerhin noch 48% auf mehr Zeit für sich selbst (Platz 4) bauten. Auf dem ersten Platz rangiert der Vorsatz, Stress zu vermeiden oder abzubauen (59%). Es ist dies ein Vorsatz, der ebenfalls integral mit der Zeitproblematik verwoben ist, da Stress heutzutage nicht zuletzt dadurch entsteht, unverhältnismäßig viele Aufgaben in relativ kurzer Zeit bewältigen zu sollen/müssen. 617 Verweise auf entsprechende Statistiken finden sich ebenda.

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schnell wird, braucht den Tod als Optionenvernichter nicht mehr zu fürchten (…)“ (Rosa 2005, 292).⁶¹⁸ Ebenso wie die Verpassensangst⁶¹⁹ gründet auch der Anpassungszwang in Furcht: der Furcht, den Anschluss zu verlieren. Diese Furcht ist wohl begründet. Eine der Wettbewerbs- und Steigerungslogik ergebene Gesellschaft nimmt selbstverständlich keine Rücksicht auf die „Auszeiten“ ihrer Mitglieder. Auch der technische Fortschritt wartet nicht auf uns. De facto können wir uns Mußestunden immer weniger leisten (und sie eo ipso immer weniger genießen), weil der Müßige Gefahr läuft, beruflich den Anschluss zu verlieren und aus seinen sozialen Bezügen zu fallen. So unterliegen wir in nicht unerheblichem Maße dem Zwang, mit dem Strom zu schwimmen oder besser: zu hasten.⁶²⁰ Doch wie nimmt sich eine Kultur der Hast vor dem (kultur)kritischen Auge des Philosophen aus, der nach Nietzsches Maßgabe „das schlechte Gewissen seiner Zeit zu sein“ (WA Vorwort; KSA 6, 12) hat?

618 Dumm nur, dass das „akzelerationsimplizite ‚Glücksversprechen‘ notwendig scheitern“ muss. Denn „dieselben Erfindungen, Techniken und Methoden (…), welche die beschleunigte Realisierung von Weltmöglichkeiten erlauben und damit die Gesamtsumme der in einem Leben verwirklichten Optionen ansteigen lassen, vermehren auch die Zahl und Vielfalt der verwirklichbaren Optionen (…) und zwar (…) auf nicht selten exponentielle Weise“ (Rosa 2005, 293). Dergestalt bleibt am Ende nur die traurige Feststellung: „Das (spät)moderne Subjekt kommt niemals an den Punkt, ‚alt und lebensgesättigt‘ zu sterben, die Lebenszeit also mit der Weltzeit versöhnt zu haben (…), weil alles, was es erlebt hat, längst überholt worden ist, durch neue und gesteigerte Erlebnis-, Ereignis- und Erfahrungsmöglichkeiten“ (Rosa 2005, 294). 619 Aus existenzphilosophischer Sicht lässt sich die Verpassensangst durchaus existenzial begründen. Sie gründet in der existenzialen Schuld. Schuldsein meint hier: „Grundsein einer Nichtigkeit“ (Heidegger 2006[1927], 283). Indem das Dasein zwar geworfen ist, sich aber in seinem Existieren selbst entwirft, zeichnet es verantwortlich für den eigenen Lebensweg. Derart trägt es aber nicht nur die Verantwortung für die Möglichkeiten, die es tatsächlich realisiert hat, sondern ist eben auch schuld daran, andere Möglichkeiten nicht ergriffen zu haben. Indem das Dasein etwas wählt, weist es zugleich etwas anderes ab. Es ist dies eine Schuld, die mit dem Existieren notwendig einhergeht. 620 Unter dem Titel Hauptmangel der thätigen Menschen legt Nietzsche in einem Aphorismus aus Menschliches, Allzumenschliches nahe, den tätigen im Sinne des hastenden Menschen als heimlichen Sklaven zu betrachten, ungeachtet dessen, welche gesellschaftliche Position er bekleidet oder wie frei er sich auch immer wähnen möge. Zum Sklaven wird er, indem er über sein alltägliches, besorgendes, akkumulierendes Tätigsein sich selbst bzw. die höhere, nämlich die individuelle Tätigkeit vergisst: „Den Thätigen fehlt gewöhnlich die höhere Thätigkeit: ich meine die individuelle. Sie sind als Beamte, Kaufleute, Gelehrte, das heisst als Gattungswesen thätig, aber nicht als ganz bestimmte einzelne und einzige Menschen; in dieser Hinsicht sind sie faul. – Es ist das Unglück der Thätigen, dass ihre Thätigkeit fast immer ein Wenig unvernünftig ist. Man darf zum Beispiel bei dem geldsammelnden Banquier nach dem Zweck seiner rastlosen Thätigkeit nicht fragen: sie ist unvernünftig. Die Thätigen rollen, wie der Stein rollt, gemäss der Dummheit der Mechanik. – Alle Menschen zerfallen, wie zu allen Zeiten so auch jetzt noch, in Sclaven und Freie; denn wer von seinem Tage nicht zwei Drittel für sich hat, ist ein Sclave, sei er übrigens wer er wolle: Staatsmann, Kaufmann, Beamter, Gelehrter“ (MA I 283; KSA 2, 231f.).

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Fast ist es ihm, als ob er die Symptome einer völligen Ausrottung und Entwurzelung der Cultur wahrnäme, wenn er an die allgemeine Hast und zunehmende Fallgeschwindigkeit, an das Aufhören aller Beschaulichkeit und Simplicität denkt. (SE 4; KSA 1, 366)

Die genauere Beschreibung der Folgen dieser allgemeinen Hast, der zunehmenden Akzeleration und wachsenden Komplexität aller menschlichen Lebensvollzüge, die Nietzsche im Anschluss an diese Zeilen liefert, beziehen sich freilich auf das ausgehende 19., hätten aber material ebenso gut aus der Feder eines Kulturkritikers des beginnenden 21. Jahrhunderts stammen können: Die Gewässer der Religion fluthen ab und lassen Sümpfe oder Weiher zurück; die Nationen trennen sich wieder auf das feindseligste und begehren sich zu zerfleischen. Die Wissenschaften, ohne jedes Maass und im blindesten laisser faire betrieben, zersplittern und lösen alles Festgeglaubte auf; die gebildeten Stände und Staaten werden von einer grossartig verächtlichen Geldwirthschaft fortgerissen. Niemals war die Welt mehr Welt, nie ärmer an Liebe und Güte. Die gelehrten Stände sind nicht mehr Leuchtthürme oder Asyle inmitten aller dieser Unruhe der Verweltlichung; sie selbst werden täglich unruhiger, gedanken- und liebloser. (…)[S]ie [die einzelnen Menschen – E.B.] denken mit einer Hast und Ausschliesslichkeit an sich, wie noch nie Menschen an sich gedacht haben, sie bauen und pflanzen für ihren Tag, und die Jagd nach dem Glück wird nie grösser sein als wenn es zwischen heute und morgen erhascht werden muss: weil übermorgen vielleicht überhaupt alle Jagdzeit zu Ende ist. Wir leben die Periode der Atome, des atomistischen Chaos. (SE 4; KSA 1, 366f.)

Wie gefährlich die immer weitere Kreise ziehende „Krankheit der würdelosen Hast“ (SE 6; KSA 1, 392) wirklich ist, wird vollends ersichtlich, wenn man sie in Verbindung mit dem Nihilismus bringt. Tatsächlich wirkt sie nämlich auf die antinihilistischen Abwehrkräfte des Menschen verheerend und das auf zweierlei Weise. Einmal befällt sie den Menschen als Schätzenden, zum Zweiten als Wahrnehmenden, welcher zweifache Befall sich in einer zerstörerischen Verbindung auf das transfigurative Vermögen des Menschen niederschlägt. Zum ersten Punkt: Geld ist das Abstraktum par excellence für Wert. Mit Geld lassen sich nicht nur Güter erwerben. Das Geld trägt selbst Gutscharakter (vgl. Weber 1974, 225). Hat der Satz: „Zeit ist Geld“, innerhalb einer Gesellschaft erst axiomatischen Status erlangt,⁶²¹ kann man davon ausgehen, dass im Gegenzug „die Schätzung des beschaulichen Lebens abgenommen hat“ (MA I 284; KSA 2, 232). Nietzsche erkennt als charakteristischen Zug seines Zeitalters sogar die über die Abnahme der Achtung hinausgehende Verachtung der Vita contemplativa; statt wie früher mit Achtung, stellt er fest, begegnet man ihr mittlerweile

621 Die Ägide der Gleichung „Zeit = Geld“ treibt konsequenterweise eigentümliche emotionale Blüten, nämlich, wie Nietzsche feststellt, eine – im Übrigen nicht durch Geldmangel zu erklärende, weit verbreitete „furchtbare Ungeduld darüber, dass das Geld sich zu langsam häuft“ (M 204; KSA 3, 180). Nietzsche wäre freilich nicht Nietzsche, würde er (im selben Aphorismus) nicht als der psychologisierende Philosoph, der er ist, eine weitere Gleichung als Wurzel der Geld-Zeit-Gleichung ausfindig machen: Geld = Macht.

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mit Ächtung (vgl. FW 329; KSA 3, 557). Für die Kultur indes hat die Verwerfung der Weile zugunsten der Eile dramatische Folgen. Es graut Nietzsche vor dem Advent einer neuen Barbarei: Nach dem Westen zu wird die moderne Bewegtheit immer grösser (…). Diese Bewegtheit wird so gross, dass die höhere Cultur ihre Früchte nicht mehr zeitigen kann; es ist, als ob die Jahreszeiten zu rasch auf einander folgten. Aus Mangel an Ruhe läuft unsere Civilisation in eine neue Barbarei aus. Zu keiner Zeit haben die Thätigen, das heisst die Ruhelosen, mehr gegolten. Es gehört desshalb zu den nothwendigen Correcturen, welche man am Charakter der Menschheit vornehmen muss, das beschauliche Element in grossem Maasse zu verstärken. (MA I 285; KSA 2, 232)⁶²²

Barbarisch ist zumal die Einebnung alles Individuellen, insofern bei all der hektischen Betriebsamkeit, bei all der ubiquitären Tätigkeit ausgerechnet die individuelle als die „höhere Thätigkeit“ unter den Tisch fällt. Nicht mehr „als ganz bestimmte einzelne und einzige Menschen“, sondern nur mehr als „Gattungswesen“, die in bestimmten gesellschaftlich vorgegebenen Mustern und Rollen („Beamte, Kaufleute und Gelehrte“; MA I 283; KSA  2, 231) aufgehen, ist man tätig. Alle und alles ist in Aufruhr, jedoch nicht wie „ein aus sich rollendes Rad“ (Z I Verwandlungen; KSA 4, 31), sondern „wie der Stein rollt“, ist man in Bewegung, d. h.: „gemäß der Dummheit der Mechanik“ (MA I 283, KSA 2, 231). Mechanisch geworden ist unter der Voraussetzung einer Beschleunigung aller Lebensvollzüge gerade auch die Denk- und Wahrnehmungstätigkeit des Menschen. Als hätte man an bestimmten Stellschrauben im Gehirn des Menschen gedreht, stellt sich dessen Denk- und Wahrnehmungsperspektive um. Es entfällt sozusagen der Weitwinkel: „Weil Zeit zum Denken und Ruhe im Denken fehlt, so erwägt man abweichende Ansichten nicht mehr: man begnügt sich, sie zu hassen.“ (MA I 282; KSA 2, 231) Das Denk- und das Wahrnehmungsfeld sind mithin kleiner geworden. Wer nun aber meint, dafür hätten im selben Atemzug die Urteile und das Sehen an Schärfe gewonnen, der sieht sich getäuscht. In Wirklichkeit verengt sich nicht nur der Denk- und Wahrnehmungshorizont, sondern das Urteilen und das Sehen werden überdies zunehmend oberflächlich; im Zuge der allgemeinen Akzeleration erfahren sie gleichsam eine doppelte Halbierung: der Weite und der Schärfe, was der Mensch als Gewöhnungstier allerdings ohne Weiteres hinnimmt, eben weil er es in der Regel gar nicht erst wahrnimmt: 622 Dass er aber als würdelos hastender in gewisser Weise an einer Krankheit leidet, geht dem Hastenden solange nicht auf, wie er in der Hast befangen ist. Damit sich ein kulturkritischer Blick entwickeln und entfalten kann, bedarf es der Muße, die der Hastende weder hat, noch zu schätzen weiß und folglich auch nicht anvisiert. In dieser Verfahrenheit kann eine (traditionelle) Krankheit heilende Wirkung zeigen, indem sie den Hastenden zur Ruhe zwingt, womit, in günstigem Fall, zugleich die die Hast vor dem kritischen Blick abschirmenden Scheuklappen fallen: „Wer th d e r K r a n k h e i t .  – Der Mensch, der krank zu Bette liegt, kommt mitunter dahinter, dass er für gewöhnlich an seinem Amte, Geschäfte oder an seiner Gesellschaft krank ist und durch sie jede Besonnenheit über sich verloren hat: er gewinnt diese Weisheit aus der Musse, zu welcher ihn seine Krankheit zwingt“ (MA I 289; KSA 2, 234).

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Bei der ungeheuren Beschleunigung des Lebens wird Geist und Auge an ein halbes oder falsches Sehen und Urtheilen gewöhnt, und Jedermann gleicht den Reisenden, welche Land und Volk von der Eisenbahn aus kennen lernen. (MA I 282; KSA 2, 231)

Der doppelt halbierte Mensch wird freilich, wie schon erwähnt, der Kunst der Transfiguration kaum fähig sein. Die akzelerierte Gesellschaft ist offensichtlich nicht der Ort, an dem das Individuum jenes auf Weite und Weile angelegte Sehen und Urteilen entwickeln könnte, deren die Kunst der Transfiguration unbedingt bedarf. Nihilistisch ist eine solche Gesellschaft also unter anderem in dem Sinne, dass sie die Kultivierung antinihilistischer Kräfte sabotiert.

10.3 Invasive und expansive Technik oder: von der Technisierung von Welt und Mensch Wie glaubt der spätmoderne Mensch seine Probleme am besten lösen zu können? A forteriori durch technische Mittel/Innovationen. Es sei ein (trauriges, aber erhellendes) Beispiel genannt: Im März 2000 erschoss in Mount Morris (Michigan/USA) ein sechsjähriger Junge eine Mitschülerin mit einer als gestohlen gemeldeten Waffe während des Unterrichts. Er hatte sich am Vortag mit ihr gestritten. Im Zuge der Berichterstattung über diesen entsetzlichen Fall kam außerdem an die Öffentlichkeit, dass, quer über die USA verteilt, schon des Öfteren Kinder Schusswaffen mit in die Grundschule gebracht hatten. Das war (und ist) natürlich ein Problem. Kein Mensch möchte seine Kinder solcher Gefahr ausgesetzt sehen. Also verfiel der damalige Präsident Bill Clinton auf die Idee, das Problem durch die Entwicklung „intelligenter“ Waffen zu lösen. Intelligent sollten die Waffen insofern sein, als sie sich einzig von ihrem registrierten Besitzer abfeuern ließen. Es ist fraglich, ob dieser Vorschlag in Sachen Intelligenz mit derartigen Waffen mithalten kann. Auf jeden Fall zeugt er von einem erheblichen Misstrauen gegenüber der Intelligenz und dem Empathievermögen des (gegenwärtigen) Menschen. „In dem Maße“ nämlich, „wie die Menschen dümmer und unsensibler werden“, so die unausgesprochene Grundidee des Vorschlags, „sollen die Dinge klug und sensibel werden“ (Eisenberg 2001, 63). Mit anderen Worten: Das Denken sollten wir den Dingen überlassen, sie haben im Zweifel die leistungsfähigere „Festplatte“. Zugegeben, die Entwicklung technischer Innovationen setzt nach wie vor menschliche Intelligenz voraus. Und auch Fantasie ist gefragt. Doch entfalten sich Intellekt und Fantasie nur mehr innerhalb des technischen Paradigmas. Ihre systemexogene Anwendung bleibt dabei auf der Strecke. Nun sehe ich in obigem Beispiel mehr als nur einen vielleicht kurios anmutenden Einzelfall eines technisierten Denkens, das von Transzendenzarmut zeugt, insofern es sich als Gefangener eines bestimmten Paradigmas erweist. Die Technisierung der Welt und des Menschen scheint mir viel eher ein Charakteristikum der Spätmoderne zu sein. Der weit verbreitete Glaube, die Technik sei einzig dazu da, unser Wohl zu

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befördern und verbessere unser Leben, indem sie unsere Handlungen erleichtere oder effizienter mache und insgesamt den menschlichen Möglichkeitsraum erweitere, ist in Wahrheit ein Wunschtraum. Und gerade weil die Technikgläubigkeit auf dem Schlafsand eines Wunschtraumes baut, droht sie sich als Ideologie in unseren Köpfen festzusetzen: Wenn sie [die Technikentwicklung – E.B.] ideologisch legitimiert werden soll, dann geschieht das immer durch das Nutzenargument: Technik soll nützlich sein – natürlich für den Menschen, wie er ist, und die Gesellschaft, wie sie ist. Doch im Ergebnis wird das menschliche Leben nicht besser – sondern anders. (Böhme 2009/10, 46)

Natürlich erweitert die Technik unsere Möglichkeiten. Wer wollte das allen Ernstes bestreiten? Denken wir nur an jemanden, der einen Herzschrittmacher trägt. Er schuldet der Technik viel, in gewissem Sinne sogar alles, schließlich verdankt er ihr, überhaupt noch über Möglichkeiten zu verfügen. Indessen schränkt sie die menschlichen Möglichkeiten zugleich auch ein, und zwar indem sie ihnen ihre Form vorgibt: „Technik definiert durch ihr Eindringen in menschliche Verhaltensweisen und Verhältnisse, was diese jeweils sind.“ So ist etwa „das Einschlafen mit einer Schlaftablette strukturell ein anderes Einschlafen als das träumerische Wegdämmern im sich-Verlieren in Bildern“ (Böhme 2008/09, 295). Zu meinen, die moderne Technik sei etwas dem Menschen Äußerliches, über das dieser nach Belieben verfügen könnte, ist naiv. Wirklich ist sie invasiv. Ihrem invasiven Charakter entsprechend, befindet sie sich auf dem Vormarsch und ist bereits in weite Teile unserer Lebenswelt, in unseren Leib ebenso wie in unser Denken und Fühlen einmarschiert. Längst schon ist die Technik eine „Infrastruktur des Lebens geworden“ (Böhme 2009/10, 43). Darin liegt: Sie ist es, die uns, zwar nicht in allen Bereichen, aber doch in weiten Teilen unseres Lebens und mit steigender Tendenz, den Rhythmus vorgibt. Die Technik bestimmt – wie der Herzschrittmacher  – weitgehend den Takt unseres Lebens, indem sie die Strukturen schafft, die den Rahmen unseres Handelns, Denkens, Empfindens und Wertens bilden.⁶²³ 623 Böhme 2008/09, 296, schlägt deshalb vor, die moderne invasive strukturell wirkende Technik als ein „materielles Dispositiv“ zu begreifen. Dieser Begriff „bestimmt Technik als Ermöglichungsgrund und Formierungsprinzip[worin eben auch Einschränkung liegt – E.B.] von menschlichen Verhaltensweisen und Verhältnissen, insofern sie nicht durch Disziplin, Erziehung oder Strategien der Selbstbildung oder durch Konventionen bestimmt sind, sondern durch materielle Arrangements. Dabei darf man materiell nicht in zu engem Sinne fassen, also nur als Hardware, weil natürlich solche Arrangements gerade in der Software bestehen können. Entscheidend ist die Fixierung, durch die sie nämlich von dem einzelnen Menschen unabhängig ist, der sich das entsprechende Arrangement als Kompetenz angeeignet haben mag.“ Ich will auch hier wieder ein Beispiel bemühen, das die Technik als ein kommunikatives Dispositiv ausweist: Eine an der University of Michigan von Michael Sivak und Brandon Schoettle durchgeführte Studie (Recent Changes in the Age Composition of Drivers in 15 Countries) registriert einen deutlichen Rückgang junger Fahranfänger zumal in den USA, aber auch in anderen Ländern (u. a. in Deutsch-

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Die entscheidende Frage ist nun, ob wir diese fortschreitende Technisierung unserer selbst wirklich wollen, ob sie sich mit unserem Selbstverständnis als Mensch überhaupt in Einklang bringen lässt.⁶²⁴ Das Widerstreben gegen die schleichende Technisierung des eigenen Selbst fällt indessen umso schwerer, als die moderne Technik nicht nur von invasiver, sondern auch expansiver Wesensart ist. Besonders eindringlich hat Günther Anders bereits ab den 1950er Jahren auf den ungezügelten Expansionsdrang der Technik aufmerksam gemacht. Anders liebt es, düstere Szenarien zu malen. Mitunter lesen sich seine Überlegungen wie der vorweggenommene philosophische Kommentar zu den bekannten Terminator-Filmen des Hollywood-Regisseurs James Cameron. Diese Nähe rührt daher, dass sich beide, der Philosoph ebenso wie der Regisseur, an einem Blickwinkel sub specie res technicae versuchen, um die den Apparaten innewohnenden Tendenzen frei zu legen. Im Zuge dessen stößt Anders auf das Prinzip der Maximalleistung. Von hier aus denkt er weiter: Da die raison d’être der Maschinen in Leistung, sogar in Maximalleistung, besteht, benötigen sie, und zwar jede von ihnen, Umwelten, die dieses Maximum gewährleisten. Und was sie benötigen, das erobern sie auch. Jede Maschine ist expansionistisch, um nicht zu sagen „imperialistisch“, jede verschafft sich ein eigenes (aus Zulieferern, Bedienungsmannschaften, Konsumenten usw. bestehendes) Dienst- und Kolonialreich. Und von diesen „Kolonialreichen“ verlangen sie, daß sie sich ihnen (…) anverwandeln (…) „mitmaschinell“ werden. (Anders 2002[1964], 50)

Selbst wenn man Anders’ „Dingpsychologie“ (vgl. Anders 2002[1980], 60), die aufzudecken beansprucht, dass das Endziel der Apparate „von Anfang an ‚Totaleroberung‘“ (Anders 2002[1964], 51) heißt, als überzeichnet oder gar hysterisch abtun wollte, wird man doch nicht umhin können, eine zunehmende Technisierung unserer Umwelt zu konstatieren. Dieser Transformationsprozess bringt indes spezifische Probleme mit sich, die freilich nicht alle gleichermaßen auch als Probleme empfunden oder bewertet werden. Während die Ausbeutung- und Verschmutzung der Natur allgemein für ein Problem gehalten wird, das sich überdies in Zukunft noch dringlicher als bisher als ein solches melden wird, gibt es durchaus Stimmen, welche die sukzessive Anpassung des Menschen an die Technik begrüßen. Vor allem im Rahmen der Debatte um das sogenannte „human enhancement“ kreuzen Befürworter und Gegner der Technisierung die Klingen der Argumentation. Doch unabhängig davon, wie diese Debatte ausgeht, mithin unabhängig von der Konstellation auf dem Feld der Theorie, weist

land), und zwar gerade in solchen, in denen das Internet besonders viel genutzt werde. Neben einigen anderen Faktoren heben die beiden Forscher vor allem den Einfluss sozialer Netzwerke auf die Jugendlichen heraus. Es liege nahe, so Michael Sivak, „dass der virtuelle Kontakt über elektronische Medien bei jungen Menschen das Bedürfnis nach wirklichem Kontakt reduziert“ (zitiert nach tz 2012). 624 Zugespitzt könnte diese Technisierung bedeuten: „Die Identität des Menschen als genetischer Fingerabdruck, die Biographie eines Menschen als seine gesundheitliche E-Card, Lernen als Umgang mit Datenspeichern, Gesellschaft als Vernetzung von PCs“ (Böhme 2009/2010, 46).

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die Praxis klar in eine bestimmte Richtung. Und diese wird durch die Technik vorgegeben. Wer in der spätmodernen Welt zurechtzukommen will, kann sich der sozialen und politischen Macht, zu der die Technik längst avanciert ist, nicht auf Dauer entziehen. Denn die Welt wird de facto immer technischer. Möchte man nicht gleichsam aus ihr herausfallen, muss man auf der Höhe der technischen Entwicklung bleiben. Letzten Endes ist der spätmoderne Mensch, so scheint es jedenfalls, gezwungen, sein Denken und Handeln Stück für Stück zu technisieren. Doch genau wie im Falle des Wettbewerbsprinzips droht auch bei der Technisierung die bereits von Nietzsche antizipierte Gefahr eines stillschweigenden Umschlags vom Nützlichen ins Absurde, oder vom Lebensfördernden ins Lebensbedrohliche, nämlich dann, wenn sich das Zweck-Mittel-Verhältnis zwischen Mensch und Technik zu Ungunsten des Menschen verkehrt.⁶²⁵ Der im fortgeschrittenen Stadium technisierte Mensch wird daran freilich keinen Anstoß mehr nehmen.⁶²⁶ Er wird nicht erkennen, dass er sich von außen betrachtet – gemeint ist ein weniger technisierter Blickwinkel – wie der Gegenstand eines bitteren Witzes ausnehmen muss: Die Menschheit verwendet schonungslos jeden Einzelnen als Material zum Heizen ihrer grossen Maschinen: aber wozu dann die Maschinen, wenn alle Einzelnen (das heisst die Menschheit) nur dazu nützen, sie zu unterhalten? Maschinen, die sich selbst Zweck sind, – ist das die umana commedia? (MA I 585; KSA 2, 337)

10.4 Von letzten Menschen und Selbstunternehmern Die unter den Punkten X.1–3 angestellten Überlegungen sollten veranschaulichen, dass das Leben in der Spätmoderne in weiten Teilen repressiv ist. Das spätmoderne Subjekt ist in ein engmaschiges, kaum zu überblickendes Netz aus Zwängen eingeflochten. Es ist außerdem einem gewaltigen Leistungsdruck ausgesetzt. Weiterhin sind die Kontingenzerfahrungen in der Spätmoderne im Verhältnis zu früheren Epochen ungleich intensiver – wie bereits angedeutet, verstehe ich die Spätmoderne als das eigentlich heraklitische Zeitalter, in dem man nicht nur nicht zweimal in den selben Fluss steigen kann, sondern kaum mehr den Fluss vor lauter Wasser sieht. So droht man vom Strom der Ereignisse mehr oder weniger orientierungslos bald hierhin, bald dorthin gespült zu werden, sofern man es nicht schafft, sich an irgendwelche An-halts-punkte zu klammern. Allein die Spätmoderne geizt mit solchen Halt gebenden Punkten, obschon sie die Individuen mit Sinnfindungs- und Selbstverwirk625 Wenn es also auf eine „Verwerkzeugung“ (NL 1885–1887, KSA 12, 2[204], 167) des Menschen hinausläuft. 626 Und zwar umso weniger, als der Mensch die Maximen der ihn umgebenden technischen Welt zunehmend internalisiert. Auf einen ähnlichen Gedanken stößt man beim Durchforsten von Nietzsches späten (1888) Aufzeichnungen: „Nutzbarmachung des Menschen durch die Tugend: Maschinen-Tugend“ (NL 1887–1889, KSA 13, 12[1], 201).

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lichungsangeboten geradezu überschüttet. Nur lässt sich deren Hohlheit zumeist nicht lange durch die Aufdringlichkeit überdecken, mit der sie sirenenhaft beworben werden.⁶²⁷ Die Sinnsurrogate, mit der die Spätmoderne die durch den Zerfall traditioneller Glaubensinhalte und Bindungen im Menschen entstandene Leere zu füllen gedenkt, zünden bislang nicht: So irrt der Mensch unserer Zeit – trotz massenhafter Kommunikationsmöglichkeiten – vereinsamt und frustriert in einem spirituellen Niemandsland umher, mal als nützlich umworben, bald übersehen, schnell wieder vergessen. (Payk 2010, 57)

Das Zitat deutet eine scheinbare, für unsere Zeit typische, Ungereimtheit an: Zwar wird auf allen Kanälen (Facebook, Twitter etc.) massenhaft und permanent kommuniziert. Wohl basteln die Menschen in den sozialen Netzwerken fieberhaft an ihrem Selbstbild, indem sie, sozusagen als die Autoren ihres eigenen Lebens, ein bestimmtes, für alle „Freunde“ und „Follower“ sichtbares Bild ihrer selbst entwerfen. In ein Zeitalter des allgemeinen Glücks, der Solidarität und der groß angelegten Selbstverwirklichung sind wir aber dennoch nicht eingetreten. Möglicherweise trifft Kierkegaard gerade mit Blick auf das rezente Selbstverwirklichungsprogramm den Nagel auf den Kopf, wenn er in Die Krankheit zum Tode schreibt, die in Verzweiflung mündende „Sünde“ bestehe darin, „zu dichten anstatt zu sein“ (Kierkegaard 1985[1849], 75). Jede Zeit hat ihre spezifischen Leiden. Die der Spätmoderne sind vornehmlich psychischer (und psychosomatischer) Natur,⁶²⁸ wobei sich „die Depression als die am meisten verbreitete psychische Störung“ (Ehrenberg 2008, 13) hervortut. Soweit die Diagnose. Aber wie steht es mit der Therapie? Tatsächlich ist das Therapieangebot, wenigstens in quantitativer Hinsicht, enorm. Die Ratgeberliteratur für ein möglichst stressfreies (oder mindestens: weniger stressiges), entschleunigtes Leben boomt. Ferner haben auch die Unternehmen registriert, dass sie ihre Angestellten nicht ad libitum belasten können, weil dies auf längere Sicht gerade nicht zu einem Plus an Produktivität, sondern vielmehr zu Überlastung und endlich zu Arbeitsausfall führt. Um dem vorzubeugen, werfen sie mittlerweile ausgeklügelte Entlastungsprogramme als Gegengewichte in die Waagschale:⁶²⁹ „Sie bieten den Mitarbeitern Naturerlebnisse auf Firmenkosten an,

627 Vgl. zum exponentiellen Anstieg der Werbekontakte, mit denen es ein Mensch in Deutschland heute täglich zu tun hat sowie zur steigenden Aufdringlichkeit des Charakters der Werbung Mahayni 2008/09, 346f. 628 Dementsprechend beobachten Psychiater seit Jahren eine „stetige Zunahme seelischer Leiden einschließlich psychosomatischer Beschwerden, d. h. körperliche Symptome, die wesentlich durch psychosoziale Stressoren mitbedingt werden“ (Payk 2010, 7). 629 Eine wirkliche Lösung des Problems sollte man sich freilich von dieser systemimmanenten Strategie nicht erhoffen: „Da diese Maßnahmen der Motivation entspringen, aus der zur Verfügung stehenden Arbeitskraft nachhaltig maximale Leistung zu gewinnen, ist Skepsis angebracht, ob hieraus tatsächlich ausgewogenere Lebensformen resultieren können“ (Mahayni 2010, 67).

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Slow-Food-Seminare, ‚Gesund und Fit‘-Tage mit Olympiasiegern, Psychotherapeuten oder Entspannungstherapeuten.“ Natürlich springt auch die Freizeit- und Urlaubsindustrie auf den Leidenszug unserer erschöpften Gesellschaft auf: „Jedes Hotel wirbt heute mit Entschleunigungsoasen, mit ‚Donothing‘-Wochenenden und Achtsamkeitstagen“ (Weiguny 2013, 21). Wenn es wirklich stimmt, dass in der Spätmoderne eine Art depressiver Müdigkeit um sich greift,⁶³⁰ dann kann es nicht verwundern, dass sich der mit relativ wenig Aufwand verbundene Griff zu schnell wirksamen stimmungsaufhellenden Mitteln besonderer Beliebtheit erfreut. Ich denke dabei durchaus nicht allein an Alkohol und Marihuana als weit verbreitete, mehr oder weniger gesellschaftlich gelittene Rauschmittel. Vielmehr ist es heutzutage – in technisierten Zeiten, da der Mensch immer mehr auf die Funktionen seines Gehirns reduziert wird – üblich, dass auch psychisch weitgehend gesunde (vorsichtiger: im Alltag „funktionierende“) Menschen zu Antidepressiva greifen.⁶³¹ Sie tun dies in der Hoffnung auf einen raschen Glücksgewinn. Dabei sind sie durchaus bereit, mögliche Persönlichkeitsveränderungen in Kauf zu nehmen.⁶³² Die Attraktivität von Antidepressiva gründet unter anderem in der geringen Resilienz des einer zunehmenden Fluktuanz alles Seienden ausgesetzten spätmodernen Menschen. Man könnte durchaus von einer allgemein schwindenden Befähigung oder Bereitschaft, dem Leben offen ins Gesicht zu blicken, sprechen.⁶³³ Insofern es dem einzelnen Menschen als solchem kaum möglich ist, am

630 So spricht etwa Polednitschek 2003, 13, von einer lähmenden „Sübjektmüdigkeit“, auf die er in seiner Funktion als Psychotherapeut und philosophischer Praktiker bei seinen Klienten zunehmend stoße. In ihr erkennt er gar „den Spiegel oder das Symptom eines objektiven Störungsbildes in unserer Gesellschaft“. Auch Byung-Chul Han benennt die Müdigkeit als Signum unserer Zeit bzw. unserer Gesellschaft. Allerdings will er zwischen einer lähmenden und einer inspirierenden Müdigkeit unterschieden wissen, wobei letztere (die „fundamentale Müdigkeit“), wie er in Aussicht stellt, das Antidot zur ersten (der „Erschöpfungsmüdigkeit“) sein könnte (vgl. Han 2010, 60f.). 631 Insofern es sich bei den Antidepressiva bzw. „Stimmungsaufhellern“ um bewusstseinsverändernde Substanzen handelt, gehören allerdings auch die Antidepressiva in den Kontext der Drogen und Rauschmittel. 632 „Moderne Antidepressiva sind dazu in der Lage, nicht nur eindeutig depressive Menschen von ihrer Erkrankung zu heilen oder diese zumindest zu lindern. Sie werden vielfach auch in leichteren Fällen eingesetzt, in denen eine Medikation auf den ersten Blick nicht notwendig erscheint. Ihre Wirkung besteht dann in einem gesteigerten Glücksempfinden und oftmals in einer veränderten Persönlichkeit“ (Runkel 2010, 265). Mit Kierkegaard könnte man an dieser Stelle aber festhalten, dass sich gerade in der Bereitschaft, eine Persönlichkeitsänderung einzukaufen, die Erkrankung ausspricht. Denn der Wunsch (hier die Bereitschaft, hinter der sich wiederum der Wunsch verbergen könnte), nicht man selbst, sondern irgendwie anders, womöglich gar ein ganz anderer zu sein, ist für ihn der Kern der Verzweiflung (vgl. Kierkegaard 1985[1849], 8). Dass Psychiater zum Teil sehr schnell, d. h. auch bei leichten depressiven Zuständen, dazu bereit sind, Antidepressiva zu applizieren, hat indessen einen guten Grund: das Selbstmordrisiko depressiver Patienten (vgl. Ehrenberg 2008, 34). 633 Lieb/Frauenknecht/Brunnenhuber 2012, 149f., stellen – über Deutschland sprechend – fest, dass in den letzten Jahrzehnten vor allem die Häufigkeit leichter Depressionen ständig zugenommen habe,

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Zustand der Welt wesentliche Korrekturen vorzunehmen, d. h. am Objekt der Betrachtung selbst etwas zu ändern, wählt man eben den anderen, den gangbaren Weg: Man manipuliert den Blick des betrachtenden Subjekts, so dass das in Augenschein genommene Objekt (das natürlich auch das betreffende Subjekt selbst sein kann) in einem ganz anderen, nämlich freundlicheren Licht erscheint. Diese wohlfeile Welt(und Selbst-) Verschönerungstaktik hat Nietzsche schon in Also sprach Zarathustra als ein wichtiges Moment der Glücksstrategie des bereits mehrfach angesprochenen letzten Menschen, der die Kraft und den Willen, sein Leben aktiv selbst zu gestalten, längst verloren hat, herausgestellt.⁶³⁴ Das Glück des letzten Menschen erweist sich bei genauem Hinsehen als Entlastungsglück. Vornehmlich ist ihm die „Befreiung aus der Mündigkeit“⁶³⁵ gelungen, mithin die Entlastung von der existenziellen Aufgabe schlechthin: ein Selbst zu sein (oder zu werden) bzw. – mit Nietzsche gesprochen – zu werden, wer man ist. Mit der dystopischen Figur des letzten Menschen hat Nietzsche einer nihilistischen Tendenz seines Zeitalters plastischen Ausdruck verliehen und zugleich das Bravourstück vollbracht, eine Gestalt zu zeichnen, die statt mit dem Voranschreiten der Zeit zu veralten, nur immerzu aktueller, man könnte auch sagen: realer wird. Dabei steht der letzte Mensch auf eigentümliche Weise zwischen den Stühlen der Diagnose und Therapie des spätmodernen Leidens. Auf der einen Seite lassen sich nämlich gemäß der Methode, „von der Art der Befriedigung auf die Art der Noth zu schliessen“ (WB 11; KSA 1, 506), die spezifischen Leiden der Spätmoderne am Beispiel der spezifischen Sehnsüchte des letzten Menschen ins Bild setzen – der letzte Mensch ist dann die Figur gewordene Diagnose. Andererseits kann der letzte Mensch als das Resultat einer unbewusst vollzogenen Schmerztherapie betrachtet werden, in deren Verlauf die Agonie durch die Herbeiführung eines leidensunterschreitenden Nihilismus beseitigt wird. Im Gegensatz zum philosophischen Konzept des Übermenschen wird hier das Leid also gerade nicht über-, sondern unterwunden. Hinter Nietzsches kulturphilosophischer Zentralbefürchtung: der Verkleinerung des Menschen, als deren Kristallisationspunkt der seinerseits alles klein machende (vgl. Z I Vorrede 5; KSA  4, 19) letzte Mensch begriffen werden kann, steht gleichsam ein freundlicher Nihilismus, der die erschöpften Leistungssubjekte fröhlich heranwinkt, das Versprechen eines jedermann zugänglichen, glücklichen Lebens auf den Lippen. Auch das letztmenschliche Glück untersteht als solches konsequenterweise der Logik des was sie insonderheit durch „veränderte[] Lebensbedingungen“ (in der Spätmoderne) erklären, aber auch durch eine – und darauf kommt es mir an dieser Stelle an – „zunehmend geringere Bereitschaft, psychisches Unwohlsein zu ertragen“. 634 Beachtenswert ist die methodische Nähe zwischen dieser, wie ich sie nenne, „wohlfeilen“ Verschönerungstaktik und Nietzsches antinihilistischer Kunst der Transfiguration, die in der Spätmoderne, worauf ich gleich noch näher eingehe, aus Gründen mangelnder Rahmenbedingungen einen besonders schweren Stand hat, derart, dass sie sich immer weniger realisieren lässt. 635 So der glänzend treffende Titel eines von Axel Honneth herausgegebenen Buches (vgl. Honneth 2002).

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Kleinmachens. Es handelt sich in der Tat eher um ein kleines Glück, das der letzte Mensch anstrebt, um ein mildes Wohlgefühl, dessen glückhafter Kern sich ebenfalls dem Kleinmachen verdankt: Glücklich ist demnach, wer möglichst wenig leidet. Oder auch: Das kleine Leid ist das große Glück. Das Lebenskonzept des letzten Menschen orientiert sich insbesondere am Niederhalten (Kleinmachen) des Schmerzes, der vom (leidenden) Individuum eben nicht als notwendiger Teil des Lebens angesehen und akzeptiert oder idealerweise sogar produktiv anverwandelt wird, so wie es eine tragische Philosophie nach Nietzsches Geschmack vorsieht. Aus letztmenschlicher Sicht muss eine tragische Philosophie dagegen rückständig wirken. Sie erscheint hier als Relikt einer Zeit, die noch davon ausging, dass da zu sein naturgemäß ein schmerzvoller Prozess, dass das Dasein eine „ewige Wunde“ ist. Indes, so die Überzeugung des letztmenschlichen Lebensmodells, das Dasein mag zwar eine Wunde gewesen sein, doch muss und wird das nicht so bleiben. In Wirklichkeit heilt die Zeit alle Wunden, ja sie heilt idealerweise sogar die Verwundungsanfälligkeit des Menschen  – eine Überzeugung, die selber heilsame Kraft besitzt, wenn sie gegenwärtig zu ertragendes Übel lindert, indem sie ihm einen Platz innerhalb einer (säkular)eschatologischen Erzählung vom Ende allen Leidens einräumt. Diese heilsame Überzeugung gründet auf zwei Prämissen: der Gleichsetzung des Voranschreitens der Zeit mit Fortschritt sowie einem eigentümlichen Verständnis von Fortschritt als sukzessiver „Correctur der Welt“ (GT 17; KSA 1, 115), womit im Wesentlichen die Heilung „der ewige[n] Wunde des Daseins“ (GT 18; KSA 1, 115) gemeint ist. Der letzte Mensch passt also ganz und gar nicht in das Programm einer tragischen oder, um die Trennlinie noch deutlicher zu ziehen, dionysischen Philosophie, deren Verbundenheit mit dem Leid mittelbar schon ihr Name verrät, indem sie mit Dionysos auf einen Gott verweist, „der als Mensch leidet, der in Orgien gequält, zerfleischt, zerrissen wird“, der dies alles jedoch erträgt und verwindet, um daraus stets wieder neu zu entstehen  – das „Symbol eines sich ewig erneuernden Lebens“ (Stegmaier 2010b, 16). An Stelle dessen ist der letzte Mensch gewissermaßen die faulste Frucht am Baum des Sokratismus, dessen theoretischen Optimismus er unkritisch übernommen und internalisiert hat als den „Glaube[n] an das Erdenglück Aller“ (GT 18; KSA 1, 117). Zarathustra wartet mit einem Abriss des letztmenschlichen Glücks auf: „Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern?“  – so fragt der letzte Mensch und blinzelt./(…) „Wir haben das Glück erfunden“ – sagen die letzten Menschen und blinzeln./Sie haben die Gegenden verlassen, wo es hart war zu leben: denn man braucht Wärme. Man liebt noch den Nachbar und reibt sich an ihm: denn man braucht Wärme./Krankwerden und Misstrauen-haben gilt ihnen sündhaft: man geht achtsam einher. Ein Thor, der noch über Steine oder Menschen stolpert!/Ein wenig Gift ab und zu: das macht angenehme Träume. Und viel Gift zuletzt, zu einem angenehmen Sterben./Man arbeitet noch, denn Arbeit ist eine Unterhaltung. Aber man sorgt, dass die Unterhaltung nicht angreife./Man wird nicht mehr arm und reich: Beides ist zu beschwerlich. Wer will noch regieren? Wer noch gehorchen? Beides ist zu beschwerlich./Kein Hirt und Eine Heerde! Jeder will das Gleiche, Jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig in’s Irrenhaus./„Ehemals war alle Welt irre“ – sagen die Feinsten und blinzeln./Man ist klug und weiss Alles, was geschehn ist: so hat man kein Ende zu spotten. Man

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zankt sich noch, aber man versöhnt sich bald – sonst verdirbt es den Magen./Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit./„Wir haben das Glück erfunden“ – sagen die letzten Menschen und blinzeln. – (Z I Vorrede 5; KSA 4, 19f.)⁶³⁶

Natürlich hat Annemarie Pieper recht, wenn sie bemerkt, Nietzsche habe „hier unverkennbar eine Parodie auf alle utilitaristischen und sozialistischen Slogans Zarathustra in den Mund gelegt“ und zugleich mit dem „größte[n] Glück der größten Zahl,[mit] Brüderlichkeit und Gleichheit für alle (…) Schlagwörter der ethischen und politischen Theorien seiner Zeit“ verspottet (Pieper 2010, 71). Aber der philosophische Wert dieser Parodie erschöpft sich nicht in solcher offenkundigen Kritik am Zeitgeist des 19. Jahrhunderts. Vielmehr zeugt gerade die Figur des letzten Menschen von einer der „Enormitäten“ des Philosophen Friedrich Nietzsche; davon nämlich, „daß es nicht gelingt, ihn als das Kind seiner Zeit festzustellen“ (Sloterdijk 2009, 52). Auch nach Nietzsches eigener Einschätzung sprengt sein Zarathustra den Rahmen des Zeitgemäßen und zwar gleichsam nach vorn. Es öffnet sich, meint Nietzsche, dem verständigen Leser dieses Buches „für alle und keinen“ ein abgründiger Aus- und Vorausblick – ein „Abgrund der Zukunft“ (KSB 6, 487), wie es in einem Brief des Philosophen an Heinrich Köselitz vom März 1884 heißt. Das Wort vom Zukunftsabgrund passt, wenn man so sagen darf, wie die Faust aufs Auge insbesondere des letzten Menschen. Denn dieser ist eben  – alles andere als antiquiert  – das Inbild einer ernstzunehmenden Dystopie. Ernst zu nehmen deshalb, weil das drückende Klima der Spätmoderne der Sehnsucht nach dem letztmenschlichen Glück tatsächlich ein Stück Plausibilität verleiht, insofern es sich als Antwort auf ein zusehends raumgreifendes Unglück: das Leiden an ebenjenem Klima, interpretieren lässt. Vor der Folie dieses Unglücks oder Unbehagens mag es nicht wenigen spätmodernen Menschen ebenso ergehen wie Zarathustras Zuhörern, die das Glück des letzten Menschen für so attraktiv halten, dass sie sich ohne viel Federnlesens dazu bereit erklären, dem in ihren Augen verschrobenen Einsiedler a limine jeden Wunsch zu erfüllen, sofern Zarathustra sie nur

636 Der letzte Mensch fällt durch eine Art Tick auf: Jedes Mal, nachdem er etwas gesagt hat, blinzelt er. Womöglich handelt es sich bei dieser Eigentümlichkeit um einen „tic signalling inner degeneration“ (Burnham/Jesinghausen 2010, 24). Genauer gefasst, erscheint mir das Blinzeln ein Ausdruck des schon im Rahmen der Weltverschönerungstaktik durch Stimmungsaufheller angesprochenen Unwillens oder auch Unvermögens, der Welt wachen Auges zu begegnen. Ebenso gut lässt es sich aber auch als Ausdruck der bereits erfolgten Umsetzung ebenjener Weltverschönerungstaktik verstehen. Eine ähnliche Lesart des Blinzelns verfolgt auch Pieper 2010, 71f. „Diese Geste des Blinzeln sagt alles über die Lebenseinstellung des letzten Menschen. Zum einen blinzelt er vor Behagen und drückt damit sein Verständnis von Glück aus. Zum anderen weist das ständige Blinzeln daraufhin, daß der letzte Mensch es gar nicht mehr schafft, die Augen richtig zu öffnen. Es ist ihm zu beschwerlich, die Welt offenen Auges wahrzunehmen. Er verträgt das Licht nicht mehr, vor dem er seine Augen schützen muß, wenn er nicht geblendet werden will. Im Schutz der Wimpern erzeugt er eben jenes Hell-Dunkel, das für seine gesamte Lebensform charakteristisch ist. Der letzte Mensch erträgt das Geistige nur noch in abgeblendeter Form.“

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in letzte Menschen verwandle: „‚Gieb uns diesen letzten Menschen (…) mache uns zu diesen letzten Menschen! So schenken wir dir den Übermenschen!‘“ (Z I Vorrede 5; KSA  4, 20), rufen die entgeistert-begeisterten „vorletzten“ Menschen aus. Dass sie Zarathustra hier einen unsinnigen Tauschhandel vorschlagen, der prinzipiell nicht vollziehbar ist, weil sich der Übermensch aus dem letzten Menschen gerade nicht hervorbringen lässt,⁶³⁷ entgeht ihnen freilich in ihrer blinden Gier nach dem Glück. Inwiefern könnte nun das letztmenschliche Glück ausgerechnet den spätmodernen Menschen verlocken? Ich habe den beklemmenden Charakter der Spätmoderne unter den Rubriken „Wettbewerb“, „Zeitnot“ und „Technisierung“ bereits darzustellen gesucht. Ein weiteres, für unser Thema höchst bedeutungsvolles, Stichwort ist allerdings bislang noch nicht gefallen, obschon es inhaltlich in X.1–3 verschiedentlich berührt wurde. Gemeint ist: „Individualismus“ (und damit verbunden: „Autonomie“ und „Selbstverwirklichung“). Dass ich den problematischen Themenkomplex, der sich hinter diesem Rubrum verbirgt, nicht direkt im Anschluss an X.3 behandelt habe, sondern erst jetzt, im Kontext des letztmenschlichen Glückes, ausdrücklich zur Sprache bringe, hat folgenden Grund: Die Lebensform des letzten Menschen lässt sich als ein fortgesetztes Agieren im Sinne existenzieller Notwehr interpretieren (im Grunde genommen also als ein Re-agieren), wobei hier die Wehr jener Not gilt, die im Kielwasser des für die Spätmoderne so bezeichnenden „Prozess[es] einer generalisierten Aufwertung von Autonomie“ (Ehrenberg 2011, 53) aufgeworfen wird. Der letzte Mensch sträubt sich, so meine These, durch seine letztmenschliche Lebensführung instinktiv dagegen, von der im Verlauf der Entwicklung der individualistischen modernen Gesellschaft immer schwerer wiegenden Last der Autonomie bzw. der Eigenverantwortlichkeit erdrückt zu werden. Er versucht, einem Erschöpfungsnihilismus aus dem Wege zu gehen, der heute auf den Namen „Depression“⁶³⁸ hört. Bevor ich aber der „Familienzugehörigkeit“ der Depression zum Nihilismus weiter nachgehe, sei auf die Zunahme der Last der Autonomie in Zeiten des Individualismus⁶³⁹ eingegangen. 637 Vgl. Kapitel IV.1.3.2. 638 Interessanter-, aber auch konsequenterweise steht der Begriff „Depression“ dem Begriff „Nihilismus“ in nichts nach, wenn es darum geht, dem engen Korsett einer verbindlichen Definition zu entschlüpfen. Dazu gleich mehr. 639 Unter Individualismus verstehe ich mit Hartfiel 1982, 328, jene „grundlegende Lehre bzw. Auffassung, die das Individuum in den Mittelpunkt stellt bzw. die Vorrangigkeit seiner Interessen, Bedürfnisse, Rechte, Entwicklung usw. gegenüber der sozialen Umgebung hervorhebt.“ Nietzsches dritte Unzeitgemäße Betrachtung (Schopenhauer als Erzieher) kann in weiten Teilen als eine Eloge auf den Individualismus gelesen werden, einen heroischen Individualismus, um präzise zu sein, der dem durch das Gewissen vermittelten Motto unterstellt ist: „Sei du selbst!“ – auch und gerade wenn das Selbstsein besondere Mühsal bedeutet: „Im Grunde weiss jeder Mensch recht wohl, dass er nur einmal, als ein Unicum, auf der Welt ist und dass noch kein so seltsamer Zufall zum zweiten Mal ein so wunderlich buntes Mancherlei zum Einerlei, wie er es ist, zusammenschütteln wird (…). Der Mensch, welcher nicht zur Masse gehören will, braucht nur aufzuhören, gegen sich bequem zu sein; er folge seinem Gewissen, welches ihm zuruft: ‚sei du selbst! Das bist du alles nicht, was du jetzt

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Jeder Mensch ist in letzter Konsequenz radikal für sich selbst verantwortlich. Jedem Menschen ist die Sorge um sich selbst aufgegeben als eine existenzielle Obliegenheit, die sich nicht abgeben lässt. Natürlich soll damit nicht geleugnet werden, dass uns andere Menschen in unserem Leben helfen können, indem sie uns manches abnehmen. Derart fürsorglich umsorgt, werden wir dann in unserer Sorge um uns selbst entlastet. Richtig ist selbstredend auch, dass wir in Verhältnisse geraten können, vielleicht sogar uns freiwillig hineinbegeben, in denen unser Leben wesentlich fremdbestimmt wird.⁶⁴⁰ Aber auch diese Einwände ändern nichts daran, dass Existenz zuletzt schlechterdings unvertretbar ist.⁶⁴¹ Jeder Mensch ist sozusagen mit sich selbst geschlagen. Es ist ihm immerfort aufgetragen, Möglichkeiten abwägen, wählen und realisieren zu müssen, wodurch er sie sich zu eigen macht und fortwährend in praktischem Selbstbezug und -vollzug an seinem Selbst arbeitet. In diesem breiten Sinne ist Autonomie kein Novum der Spätmoderne, sondern etwas Grundlegenderes: Menschenschicksal, wenn man so will. Positiv betrachtet, kann man darin eine große Herausforderung oder – mit einer Prise Anthropozentrismus – sogar eine Auszeichnung sehen. Negativ gewendet, erscheint diese „existenziale Autonomie“ als Last. Als Zwischenfazit zeigt sich folglich: Autonomie ist sowohl ein Schicksal (Können müssen) als auch eine Fähigkeit (Können können). Doch spätestens seit der Aufklärung erscheint Autonomie noch als etwas anderes: als ein Bedürfnis (Können wollen). Sie meldet sich als das Verlangen des Einzelnen, sein Leben in größtmöglicher Unabhängigkeit selbstbestimmt zu führen. Es geht bei der Autonomie in dieser Perspektive also um den Wunsch, ein eigenes Leben zu führen.⁶⁴² Damit dieses Bedürfnis nicht nur entstehen, sondern darüber hinaus

thust, meinst, begehrst.‘ (…) Es giebt kein öderes und widrigeres Geschöpf in der Natur als den Menschen, welcher seinem Genius ausgewichen ist und nun nach rechts und nach links, nach rückwärts und überallhin schielt“ (SE 1; KSA 1, 337f.). 640 Möglich ist unterdessen auch, dass Fürsorge zu Heteronomie führt, sofern es sich um eine bestimmte Art von Fürsorge handelt, die Heidegger näher beschrieben und als „einspringend-beherrschende Fürsorge“ bezeichnet hat: „Diese Fürsorge übernimmt das, was zu besorgen ist, für den Anderen. Dieser wird dabei aus seiner Stelle geworfen, er tritt zurück, um nachträglich das Besorgte als fertig Verfügbares zu übernehmen, bzw. sich ganz davon zu entlasten. In solcher Fürsorge kann der Andere zum Abhängigen und Beherrschten werden, mag diese Herrschaft auch eine stillschweigende sein und dem Beherrschten verborgen bleiben.“ Von dieser vereinnahmenden Form der Fürsorge unterscheidet Heidegger dann eine „vorspringend-befreiende“ Fürsorge, die dem anderen soweit hilft, dass dieser sozusagen frei wird zur eigenen Freiheit; sie „verhilft dem Anderen dazu, in seiner Sorge sich durchsichtig und für sie frei zu werden“ (Heidegger 2006[1927], 122). 641 Besonders eindrucksvoll hat dies Sartre im Unterkapitel Freiheit und Verantwortlichkeit von Das Sein und das Nichts geschildert (vgl. Sartre 1991[1943], 950–955), dabei betonend, dass auch die Flucht in die Unaufrichtigkeit, d. h. der Versuch, die Eigenverantwortlichkeit vor sich selbst zu leugnen, um die drückende Last der Freiheit zu mildern, auf einem eigenen Entschluss beruht und also ausgerechnet das voraussetzt, was es zu negieren bemüht ist. 642 Man könnte auch von einem Leben in Eigenregie sprechen oder, mit Nietzsche, vom Willen, der wirkliche Steuermann seines Daseins zu sein: „Wir haben uns über unser Dasein vor uns selbst zu ver-

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auch eine Schlagkraft entwickeln kann, mit deren Hilfe es der Autonomie schließlich gelingt, sich zu einem Ideal bzw. obersten Wert aufzuschwingen und zu etablieren, bedarf es selbstverständlich spezifischer, historischer und geistesgeschichtlicher Voraussetzungen. Ohne diesen Bedingungen hier im Einzelnen nachgehen zu können,⁶⁴³ sei immerhin ein Schlaglicht auf die Einführung einer folgenreichen Idee gegen Ende des 18. Jahrhunderts geworfen, die mittlerweile „ganz tief in das moderne Bewußtsein eingedrungen“, die Unterschiedlichkeit zwischen den Menschen moralisch auflädt. Gemeint ist die Überzeugung, es gebe „eine bestimmte Weise, Mensch zu sein, die meine ist“, eine Weise, der ich in meinem Inneren nachzuspüren habe, um sodann „mein Leben in ebendieser Weise zu führen“, würde ich doch andernfalls den Sinn meines Lebens verfehlen, insofern mir entginge, „was das Menschsein für mich bedeutet“ (Taylor 1995, 38).⁶⁴⁴ Der unsere Zeit leitmotivisch bestimmende Gedanke, im Leben komme es auf Selbstverwirklichung an, rückt offenbar bereits hier in das gesellschaftliche Bewusstsein, wo er sich nicht allein fest-, sondern schlussendlich auch durchsetzt. Die kulturelle Bedeutung des Selbstverwirklichungsgedankens kann gar nicht hoch genug geschätzt werden. Michael Theunissen kommt im Anschluss an Daniel Bell sogar zu dem Ergebnis: „Der Modernismus[d. i.Bells Begriff für die kulturelle Entwicklung Europas und der westlichen Welt seit ca. 1800 – E.B.] ist im Ganzen und im Grunde die Ideologie der Selbstverwirklichung“ (Theunissen 1982, 1f.). Wohlgemerkt: Es handelt sich um die Ideologie der individualistischen oder persönlichen Selbstverwirklichung, die nicht verwechselt werden darf mit einer anderen Idee von Selbstverwirklichung, die auf die „Verwirklichung des Menschen als Menschen“ zielt, mithin „Selbstverwirklichung als Menschwerdung“ definiert und, sofern realisiert, „eine Humanisierung des Individuums“ (Theunissen 1982, 6) bedeutet. Wenn ich also sage, Autonomie sei mittlerweile ein oberster Wert geworden, dann spreche ich offensichtlich nicht von jener Art am Allgemeinen ausgerichteter Autonomie, an der Kant so viel gelegen ist. Für Kant, der den Menschen als einen Zweck an sich begreift, ist der einzelne Mensch nämlich nicht aufgrund seiner ganz eigenen Weise, Mensch zu sein, derart wertvoll, sondern es ist in seinen Augen „das Subjekt des[streng allge-

antworten; folglich wollen wir auch die wirklichen Steuermänner dieses Daseins abgeben und nicht zulassen, dass unsere Existenz einer gedankenlosen Zufälligkeit gleiche“ (SE 1; KSA 1, 339). 643 In aller zusammenfassenden Kürze: „Voraussetzung für die aktive Entfaltung menschlicher Freiheit waren eine Vielzahl sozialer, kultureller sowie innovativer Prozesse in Wissenschaft und Technik, aber auch auf dem Gebiet der Staatsbildung, die oft schon im 12. Jahrhundert ihren Ursprung nahmen. Dazu gehören eine europaweite Bevölkerungszunahme, die Ausbreitung des (Fern-)Handels und der damit verbundenen Fernbeziehungen, die zunehmende Verstädterung, und, infolgedessen, stärkere Arbeitsteilung, die Zentralisierung politischer Macht sowie eine allmähliche Erschütterung traditioneller Autoritäten durch wissenschaftliche Innovationen“ (Degele/Dries 2005, 74). 644 Prominent wird diese Idee insbesondere von Johann Gottfried Herder vertreten, der davon spricht, dass jeder Mensch sein eigenes „Maß“ („Jeder Mensch hat ein eigenes Maß, gleichsam eine eigne Stimmung aller seiner sinnlichen Gefühle zu einander.“ Herder zit. nach Taylor 1995, 38) habe. Vgl. hierzu auch SE 1; KSA 1, 337f.

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meingültigen – E.B.] moralischen Gesetzes, welches heilig ist, vermöge der Autonomie seiner Freiheit“ (KpV, 87).⁶⁴⁵ Die Autonomie, die heute den exzeptionellen Rang eines höchsten Wertes bekleidet, ist dahingegen individualistisch geprägt und keineswegs auf den Bereich des Moralischen eingeschränkt. Das Individuum soll sein eigener Herr in allen Lebensbereichen sein. Es verwirklicht sich idealerweise selbst im Auftrag von und qua persönlicher Autonomie verstanden als „die Vorstellung einer Entfaltung der je eigenen Individualität“ (Theunissen 1982, 2). Die solcherart aspirierte Selbstverwirklichung ist augenscheinlich experimentellen Charakters, denn auf die teleologische Rückversicherung und (Vor)Ausrichtung einer allgemeinverbindlichen Bestimmung des Menschen kann und will sie sich, anders als das oben skizzierte teleologische Alternativmodell der Selbstverwirklichung als Menschwerdung, nicht mehr beziehen. Wie wir gesehen haben, ist die Bestimmung des Menschen mit dem Tod Gottes zu einem Problem geworden, dem Nietzsche durch seine Antilehre vom Übermenschen gerecht zu werden sucht.⁶⁴⁶ Für den Übermenschen ist allein das Prinzip der permanenten Selbstüberwindung bestimmend, worin die Verwerfung jedweder substanziell gearteter Bestimmung des Menschen beschlossen liegt, was gravierende Folgen für den menschlichen Selbstwerdungsprozess impliziert. Das jeweilige Selbst muss sich nun gleichsam auf einen endlosen Stufenweg begeben, wobei jede Stufe zwar durchaus ein Telos darstellt, jedoch immer nur ein relatives, ein Telos auf Zeit gewissermaßen, das, weit entfernt davon, Zweck an sich zu sein, sobald es erreicht ist, seine Teloshaftigkeit sogleich wieder verliert bzw. zu Gunsten der nächst höheren Stufe abzutreten hat.⁶⁴⁷ Indem Nietzsche einer derart teloslosen Selbstwerdung oder -verwirklichung das Wort redet,⁶⁴⁸ erweist er sich als Kronphilosoph des 645 Bei der Autonomie im Sinne Kants geht es, formal gesprochen, um die freiwillige subjektive Umsetzung des Objektiven; der Einzelne orientiert sich affirmativ am Allgemeinen (dem Sittengesetz), in dessen Verwirklichung er zugleich seine eigene Bestimmung erkennt. 646 Vgl. Kapitel VI.1.2. 647 Vgl. Kapitel IX.1. 648 Wenn ich bezogen auf Nietzsche einigermaßen widerstrebend den Terminus „Selbstverwirklichung“ gebrauche, dann meine ich weder ein philosophiefernes, hedonistisches oder karrieristisches Grundprinzip, worauf man angesichts des heutigen Sprachgebrauchs leicht verfallen könnte, sondern einen philosophischen oder psychologischen Begriff, der „mehr oder weniger bewußt an die Begriffe ‚Entelechie‘ und ‚perfectio‘ an[schließt]“ und „die wesensadäquate Entfaltung oder Aktualisierung von Potenzen“ (Gerhardt 1995, 556) im Auge hat. Es ist ebendieser Hintergrund, vor dem Walter Kaufmann behauptet, Nietzsche vertrete eine „Ethik der Selbstverwirklichung“ (Kaufmann 1988, 186). Wegen seiner Nähe zu Nietzsches Konzeption des Willen zur Macht besonders interessant ist der psychologische Ansatz Carl Rogers’, der, im Verbund mit Abraham Maslow, zur Verbreitung des Selbstverwirklichungsgedankens in Amerika wesentlich beigetragen hat (vgl. dazu Illouz 2012, 71f.). Rogers erkennt in der Selbstverwirklichung die Grundkraft des Lebens: „Ob man dies eine Tendenz zur Entfaltung, einen Drang zur Selbstaktualisierung oder eine sich vorwärtsentwickelnde Gerichtetheit nennt, es handelt sich um die Haupttriebfeder des Lebens (…). Es ist der Drang, der sich in allem organischen und menschlichen Leben zeigt: sich auszuweiten, auszudehnen, zu entwickeln, autonom zu werden, zu reifen; die Tendenz, alle Fähigkeiten des Organismus in dem Maße auszudrücken und zu aktivieren, in dem solche Aktivierung den Organismus sich entfalten läßt oder das Selbst steigert“

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Modernismus, sofern dieser die Menschen programmatisch auf eine ungewisse Individualisierungsreise schickt, die sich anstelle einer „fortschreitende[n] Realisierung eines vorgegebenen Zwecks (…) immer mehr als ein Mit-sich-Experimentieren, als ein eigentlich zielloser Weg, auf dem das Individuum erst erfährt, was es ist“ (Theunissen 1982, 2), bezeigt. Nietzsches philosophische Konzeption „Übermensch“ ist seine gleichermaßen radikale wie konsequente Antwort auf eine von den meisten seiner Zeitgenossen noch lange nicht begriffene Frage,⁶⁴⁹ die wiederum eine zutiefst nihilistische Fragwürdigkeit aufwirft, die sich mit dem Verlust der Bestimmung des Menschen ergeben hat. Zur Debatte steht: „Was ist der Mensch, wenn er nicht das ist, wofür er sich selbst bis dato hielt?“ Wo das allgemeinverbindliche und leitende Telos wegfällt, wo der Mensch im Grunde nicht mehr weiß, wer oder was er ist, noch, wozu er da ist und ob es überhaupt gut ist, dass er ist,⁶⁵⁰ wo sich, wie Kierkegaard diagnostiziert, eine (vom Fortschrittsoptimismus grob verdeckte) Verzweiflung darüber breit macht, Mensch zu sein,⁶⁵¹ dort erklärt Nietzsche kurzerhand den Verlust zum Gewinn: Zwar ist nichts (mehr) wahr, dafür jedoch ist (endlich) alles erlaubt. Unbestritten verliert das je eigene Leben an Sicherheit, insofern es mit dem Wegfall der bisweilen gültigen lebenspraktischen Koordinaten zu einer Art Terra incognita geworden ist. Aber immerhin darf diese unbekannte Welt nun endlich frei erkundet werden. Außerdem gewinnt das postteleologische Leben dank seiner Verwandlung in ein Experimentierfeld eine moderne künstlerische Dimension: „Denn alle wirklich moderne Kunst inszeniert das Experiment, das der sich unbekannte Mensch mit sich selbst macht“ (Theunissen 1982, 10). Soweit Nietzsches euphorisches Plädoyer für die übermenschliche Selbstverwirklichung im Angesicht der Unbestimmtheit des Menschen. Einfach wird es indes ganz bestimmt nicht, den Ansprüchen dieses Selbstverwirklichungsprogramm auch im tatsächlichen Leben zu genügen; immerhin wird hier verlangt, einen Salto mortale ohne Absicherung (eben im nihilistischen Raum) in den Selbst-

(zit. nach Illouz 2012, 71f.). Lindner 2012, 56, kommentiert diesen Passus: „Selbstverwirklichung hat hier zwei Dimensionen. Zum einen die Suche nach persönlicher Entfaltung, was man als Selbstbestimmung fassen kann. Und zum anderen die Selbstüberschreitung.“ Für Nietzsche ist freilich die zweite Dimension von entscheidender Bedeutung. 649 Fraglich auch, ob wir sie mittlerweile wirklich erfasst haben. Vgl. van Tongeren 2012, 177–203, bzw. Kapitel II.2 der vorliegenden Studie. 650 Der Verlust der Bestimmung des Menschen ist zugleich der Verlust der Garantie menschlichen Seinsollens, worauf Plessner 2003[1937], 42f., aufmerksam macht: „Wenn ihre alten metaphysischen und ontologischen Garantien nicht mehr fraglos gelten, dann werden auch Menschheit und Menschlichkeit moralisch zum Problem. (…) So ist ihm, wenn er den Zweifel an der erschütterten Überlieferung so ernst wie nur möglich nimmt, sein Menschsein als Tatsache und Aufgabe zum Problem geworden.“ 651 „Jede Zeit hat die ihre[die besondere Unsittlichkeit des Zeitalters – E.B.] (…). Mitten in allem Jubel über unsere Zeit und das neunzehnte Jahrhundert erklingt im Verborgenen der Ton einer verborgenen Verachtung dessen: Mensch zu sein; mitten in der Wichtigtuerei der Generation findet sich eine Verzweiflung darüber: Mensch zu sein“ (Kierkegaard 1989[1846], 59f.).

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stand zu vollführen. Sehen wir zu, welches Selbstverwirklichungsprogramm mittlerweile an der Tagesordnung ist und welche Schwierigkeiten es mit sich bringt. Wir haben es heute mit dem seltsamen Phänomen des „Kollektivindividualisten“ zu tun, einem hybriden Konstrukt, das seine Entstehung vornehmlich zwei nicht immer offen ausgesprochenen, indes tief in das Selbstverständnis der spätmodernen Gesellschaft eingegrabenen und dementsprechend wirksamen Geboten darstellt: dem der Selbstverwirklichung und dem der Marktgängigkeit.⁶⁵² Deren Vereinigung bringt ein Selbst hervor, dessen Sorge um sich selbst zu großen Teilen auf den Bereich unternehmerischer Tätigkeiten fokussiert ist, so dass es „gewiss nicht dem Werther ähnlich[sieht], sondern eher seinem bürgerlichen Gegenpol, einer manageriellen Seele, nämlich der Figur des Unternehmers seiner Selbst“ (Reese-Schäfer 2007, 42). Um sein Unternehmen, das es selbst ist, möglichst erfolgreich zu gestalten, orientiert sich dieses selbstunternehmerische Selbst, kurz: der „Selbstunternehmer“ (Reese-Schäfer 2007, 43), am besten an einem entsprechenden kuranten, medial eifrig geförderten, erfolgsverheißenden Idealbild, dessen  – wenigstens approximative – Verwirklichung einen schweißtreibenden Gang durch eine Art Selbstverwirklichungsräderwerk bedeutet. Wer diese Tretmühle erfolgreich durchläuft,⁶⁵³ erstrahlt in neuer Schönheit. Der schöne neue Mensch ist schöngeistig: er hat das Abitur und sogar studiert; ist körperlich schön: er macht Fitness und hat einen schönen Teint; ist moralisch schön: er engagiert sich sozial. Bei alledem ist er schön zielstrebig, schön schnell und vor allem schön flexibel.⁶⁵⁴ Ist er hingegen nicht auf solche Weise schön, so ist es vermutlich auch sein Leben nicht. Tatsächlich stellt das Ideal des Selbstunternehmers eine erhebliche Gefahr für den Menschen dar. Gefährlich wird es zum einen, wenn es als eine Schreckensgestalt wahrgenommen wird, vor der der Einzelne erstarrt wie das Kaninchen vor der Schlange, mithin in eine Art Schockzustand ver-

652 Auch Honneth 2002, 151f., weist bei der Klärung der Frage, „warum der Anspruch auf Selbstverwirklichung im Zuge des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts zunehmend in eine institutionelle Forderung verkehrt worden ist“, auf den wichtigen Zusammenhang von Selbstverwirklichung und Marktgängigkeit hin: „[Z]unächst zögerlich, dann schließlich massiver werden die Individuen nun nämlich mit der Erwartung konfrontiert, sich als biographisch flexible, veränderungsbereite Subjekte präsentieren zu müssen, um beruflich oder gesellschaftlich Erfolg haben zu können.“ 653 Strenggenommen müsste es heißen: durchläuft und mutatis mutandis immer wieder durchläuft, denn die Selbstverwirklichung des Selbstunternehmers ist in ihrer Orientierung an der Marktgängigkeit unausgesetzt zu leisten: Es geht schließlich nicht allein darum, marktgängig zu werden, sondern es außerdem auch zu bleiben. 654 Zum Leiden des Menschen unter der für den modernen Kapitalismus charakteristischen Forderung der Flexibilität vgl. Sennett 2010. Richard Sennett geht in seiner mittlerweile beinahe schon zu einem modernen Klassiker avancierten Studie Der fexible Mensch nicht allein davon aus, dass die Menschen unter dem Flexibilitätszwang des modernen Kapitalismus, dessen Kardinalimperativ lautet: „nichts Langfristiges“ (Sennett 2010, 25), leiden, sondern dass das Flexibilitätsgebot grundsätzlich den Charakter verdirbt (vgl. den Originaltitel des Werkes: The Corrison of Charakter), insofern es „ein verhängnisvolles Rezept für die Entwicklung von Vertrauen, Loyalität und gegenseitiger Verpflichtung“ (Sennett 2010, 28) darstellt.

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fällt und in vollendeter Passivität verharrt. Es ist dies die Reaktion desjenigen, der sich von vornherein nicht zutraut, dem Ideal auch nur ansatzweise zu genügen. Er kommt sich angesichts des ihm zur Drohgestalt mutierten Ideals defizitär vor; als jemand, dem die Trauben prinzipiell zu hoch hängen. An ein Sichstrecken, d. h. an Eigeninitiative und Aktivität, ist solcherart gar nicht zu denken. Das eigene Bemühen würde, so scheint es, ja doch nicht belohnt und daher zwangsläufig in Frustration als einem unliebsamen Zustand münden, in dem sich der Abgeschreckte ohnehin schon befindet, sofern er sich mit dem Ideal als einem Vorbild konfrontiert sieht, dem sein eigenes Bild nicht entspricht. Gefährlich wird dieses Vorbild zum anderen, wenn es als solches bewusst an- und in Angriff genommen wird, wenn sich der Selbstunternehmer also eilfertig in das Selbstverwirklichungsräderwerk zu Nachbildungszwecken einspannt, sich dabei jedoch früher oder später müde läuft und endlich geradezu ausbrennt. Auch in diesem Fall bekommt es das Selbst mit Frustration, Niedergeschlagenheit und Antriebslosigkeit zu tun. Zwischen diesen äußersten Gefahrenpolen der gewissermaßen apriorischen Niedergeschlagenheit und der aposteriorischen Erschöpfung erstreckt sich das große Reich der Kollektivindividualisten, die sich in ihren Lebensvollzügen mehr oder minder bewusst am allgemeinmaß-geschneiderten Ideal der Selbstverwirklichung entlanghangeln; aktiv genug, um gesellschaftlich und beruflich irgendwie zu bestehen und gelassen genug, um nicht auszubrennen. Während Nietzsche auf einen „normativen Individualismus“ setzt, der „alles Werten in das Individuum selbst“ (Kron/Horacek 2009, 120) verlegt, das vermöge dezidiert eigener Wertsetzung und aufgrund eigener Entschlüsse seine Selbstwerdung im teloslosen Raum betreibt, feiert die Fremdbestimmung heute weitgehend unbemerkt im Kollektivindividualismus fröhliche Urstände, wobei sie häufig genug am Entstehen weniger fröhlicher Zustände beteiligt ist. Neben niedergeschlagenen und ausgebrannten Individuen stehen also die Kollektivindividualisten. Was Nietzsche in der 1874 publizierten zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung schreibt, hat bis zum heutigen Tage nichts an diagnostischer Valenz eingebüßt: Während noch nie so volltönend von der „freien Persönlichkeit“ geredet worden ist, sieht man nicht einmal Persönlichkeiten, geschweigen denn freie, sondern lauter ängstlich verhüllte Universal-Menschen. (UB II 5; KSA 1, 281)

Ängstlich verhüllt ist heute das Innere des Menschen durch ein marktgängiges Äußeres, mit dem man sich sehen lassen kann. Furchtsam ist der Mensch gewesen, als er noch unter der Knute der Moral und Disziplin stand, als er Angst hatte, durch die Übertretung des allgemeingültigen moralisch Gebotenen Schuld auf sich zu laden. Doch furchtsam ist der Mensch auch heute noch, in Zeiten, da das „ideale Individuum[] nicht mehr an seiner Gefügigkeit“ gemessen wird, „sondern an seiner Initiative“ (Ehrenberg 2008, 19). Es fürchtet sich, den Ansprüchen der Eigenverantwortlichkeit nicht zu genügen. Es graut ihm vor der Erfahrung der eigenen Unzulänglichkeit. In gewisser Weise ist heute jedermann aufgefordert, übermenschlich zu leben. Stark

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genug, diese Lebensform auch wirklich durchzuhalten, sind dagegen die wenigsten. Somit ist die Furcht vor der Erfahrung der eigenen Unzulänglichkeit begründet. Was zunächst uneingeschränkt positiv klingt, kann sich ins Negative verkehren: Souveränität kann ermüden und das Individuum unter Umständen sogar über den Rand des psychisch Erträglichen hinaustreiben. In seiner viel beachteten Studie Das erschöpfte Selbst erklärt Alain Ehrenberg die Souveränitätsverpflichtung für jedermann zum kausalen Faktor der Depression: Die Depression ist ein Laboratorium für die Ambivalenzen einer Gesellschaft, in der der Massenmensch sein eigener Souverän ist. (Ehrenberg 2008, 20) Das Individuum, das sich, von der Moral befreit, selbst erzeugt und zum Übermenschlichen neigt, das auf seine eigene Natur einwirken, über sich selbst hinausgehen, mehr als es selbst sein will, ist für uns inzwischen Realität geworden. Doch es hat nicht die Kraft der Herren, es ist zerbrechlich, ihm fehlt es an Sein, es ist von seiner Souveränität erschöpft und beklagt seine Erschöpfung. Es hat weder Nietzsches fröhliche Wissenschaft noch sein Lachen. Die Depression (…) ist die unerbittliche Kehrseite des Menschen, der sein eigener Herr ist. (Ehrenberg 2008, 289)⁶⁵⁵

10.5 Depression und Nihilismus Wo also eine Norm regiert, „die jeden zu persönlicher Initiative auffordert: ihn dazu verpflichtet, er selbst zu werden“ (Ehrenberg 2008, 15) und wo dies obendrein mit einem kaum zu verwirklichenden Idealbild der Selbstwerdung verknüpft ist, da wächst und blüht das seelische Unbehagen. Ein solcher Ort ist gleichsam das soziale Biotop der Depression. Nicht, dass wir mit der Herrschaft jener Norm die hinreichende Bedingung für das Entstehen einer Depression in Händen hielten. Und selbst wenn wir die in X.1–3 erörterten, das Seelenleben des Menschen zweifelsohne stark belastenden spätmodernen Lebensbedingungen hinzurechnen, ist die Genese einer Depression nicht hinreichend erklärt. Überhaupt gibt es bislang „kein für alle depres-

655 Ähnlich diagnostiziert auch Han 2010, 20ff., dass aus der Freiheit der Herrschaftslosigkeit schnell eine ungekannte Unfreiheit werden kann. Seiner Meinung nach übersieht Ehrenberg jedoch die entscheidende Rolle des für spätmoderne Gesellschaften typischen Leistungsdrucks bei der Entstehung von Erschöpfungsdepressionen. Es ist der Leistungsdruck, so Han, der den Menschen dazu drängt, seine Freiheit freiwillig aufzugeben, indem der Mensch sich ganz dem Leistungsgedanken unterwirft: „Nicht der Imperativ, nur sich selbst zu gehören, sondern der Leistungsdruck verursacht die Erschöpfungsdepression. (…) Der depressive Mensch ist jenes animal laborans, das sich selbst ausbeutet (…). Der Wegfall der Herrschaftsinstanz führt nicht zur Freiheit. Er lässt vielmehr Freiheit und Zwang zusammenfallen. So überlässt sich das Leistungssubjekt der zwingenden Freiheit oder dem freien Zwang zur Maximierung der Leistung. Der Exzess der Arbeit und Leistung verschärft sich zu einer Selbstausbeutung. Diese ist effizienter als die Fremdausbeutung, denn sie geht mit dem Gefühl der Freiheit einher.“ Erinnert sei an dieser Stelle an Nietzsches Beobachtung von der inflationär gebrauchten Rede von überall einhergehenden freien Persönlichkeiten bei gleichzeitiger, großflächiger Freiheits- und Persönlichkeitsabwesenheit (vgl. UB II 5; KSA 1, 281).

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siven Störungen verbindliches bzw. zutreffendes Konzept zu den Ursachen, zur Entwicklung und zur aktuellen Entstehung einer Depression“. Nicht dass man völlig im Dunkeln tappen würde. „[Ü]ber eine Reihe von modelhaften und zum Teil gut belegten Konzepten“ psychologischer und neurobiologischer Natur verfügt man sehr wohl, „jedoch gelten diese eben nicht für alle depressiven Störungen“ (Wolfersdorf 2010, 76). Allgemein versteht man Depressionen derzeit „als Ergebnis komplexer Wechselwirkungen aus Veranlagung, (biographischen) Erfahrungen, körperlicher Gesundheit und sozialer Situation“ (Lindner 2009, 59). Allein die Zurückweisung einer monokausalen Erklärung ändert nichts daran, dass die Lebensbedingungen, denen der Einzelne untersteht und zu denen maßgeblich der gesellschaftliche Rahmen gehört, der das einzelne Individuum umgibt, einen entscheidenden Faktor für dessen seelisches Wohlbefinden darstellen. Somit ist es höchst plausibel, den „Anstieg der Depressionserkrankungen in den westlichen Industrieländern (…) mit zunehmenden psychischen und sozialen Belastungen[wie ich sie in diesem Kapitel eingehend geschildert habe – E.B.] in Zusammenhang“ (Payk 2010, 56) zu bringen.⁶⁵⁶ Nun ist aber die Spätmoderne, indem sie ein soziales Biotop für die Depression ist, zugleich auch der Nährboden für den Nihilismus, genauer: den müden Nihilismus, dessen Kern die Erlahmung des Willens bzw. das Versiegen der Schaffenskraft des einzelnen Menschen ist. Insofern in der Depression die Schaffenskraft des betroffenen Einzelnen massiv in Mitleidenschaft gezogen wird, in extremen Fällen so sehr, dass selbst der Wille zum Nichts dem willensmüden Depressiven ein Zuviel an Willen abzufordern scheint, ist die Depression selbst nihilistisch – es handelt sich um eine Erscheinung des niedergehenden Lebens. Aber was genau ist überhaupt eine Depression? Diese Frage lässt sich nicht eindeutig durch eine allgemeinanerkannte Definition beantworten, denn auf eine solche

656 Will/Grabenstedt/Völkl/Banck 2008, 192f., verweisen zur Klärung der Frage, ob es depressive Gesellschaftsstrukturen gibt, auf eine ethnopsychoanalytische Studie Franz Rengglis hin, der das verhalten trusekischer Mütter gegenüber ihren Kindern im ersten Lebensjahr mit einer „ausgeprägten, oral-depressiven Struktur der erwachsenen Bevölkerung“ in Verbindung bringt. Die Mütter behandeln ihre Kinder, salopp gesagt, je nach ihrer mütterlichen Lust und Laune, stillen die Kinder zwar oft, aber unregelmäßig und zu kurz, als dass diese wirklich satt werden könnten. Die Kinder können sich derart auf nichts verlassen, auch auf die Wirkung ihrer eigenen Aktionen, ihrer Gesten und ihres Schreiens nicht. Sie werden, kurz gesagt, einer radikalen Kontingenzerfahrung ausgesetzt. Renggli schildert die Gesellschaftsstruktur der Trukesen als „durchgängig depressiv[]“. Vor allem leiden die Trukesen an einer enormen Angst vor Selbstständigkeit. Mit Blick auf unsere westliche Gesellschaft kommen Will, Grabenstedt, Völkl und Banck schließlich zu der Einschätzung: „Die Gesellschaften westlichen Zuschnitts weisen einen anderen narzisstischen Habitus auf. Hier steht nicht so sehr die Angst vor der Selbstständigkeit und dem Verlassenwerden, sondern vor der Wert- und Bedeutungslosigkeit im Vordergrund. Dazu trägt bei, dass unsere westliche Sozialisation das Individuum mit seinen Größen- und Allmachtsphantasien alleine lässt und verlangt, dass es sie einlöst, während in traditionellen Gesellschaften die Gemeinschaft dem einzelnen einen Teil dieser Allmachtsphantasien abnimmt.“ Der Einschätzung des Autorenkollektivs zufolge gibt es mithin depressive Gesellschaftsstrukturen.

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hat man sich innerhalb des zuständigen Fachbereiches, der Psychiatrie, bislang nicht einigen können.⁶⁵⁷ Nach dem gegenwärtigen Stand der Dinge bezeichnet der Begriff „Depression“ quasi-definitionsgemäß eine „vielfältige Symptomatik“ (Summer 2008, 16). Was eine Depression ist und wann man es mit einer solchen zu tun hat, wird demzufolge anhand bestimmter Symptome ermittelt, von denen sich, soll eine Person offiziell für depressiv befunden werden, eine bestimmte Mindestmenge während eines gewissen Mindestzeitraumes bei der jeweiligen Person feststellen lassen müssen.⁶⁵⁸ Vor diesem Hintergrund scheint von einem Wesen der Depression zu sprechen, begrifflich nicht ganz sauber. Desungeachtet ist Theodor R. Payks Wesensbestimmung der Depression durchaus imstande, einiges Licht in das depressive Dunkel zu bringen: Das Wesen einer Depression besteht in einer unerklärlichen Schwermut,⁶⁵⁹ die mit einem quälenden Empfinden von Leere, Sinnlosigkeit und Erschöpfung einhergeht. Typische Kennzeichen sind Niedergeschlagenheit, Antriebsverlust, Ängste, Grübeleien und Müdigkeit. (Payk 2010, 29)⁶⁶⁰

Oben habe ich erklärt, die Depression sei nihilistisch. Die payksche Wesensbestimmung der Depression lädt allerdings dazu ein, eine Schlussfolgerung auch in die Gegenrichtung zu ziehen, mindestens dann, wenn es um eine bestimmte Form des Nihilismus geht: den Nihilismus des großen Umsonst. Wer sich, wie der Nihilist des großen Umsonst, im Würgegriff des quälenden und niederdrückenden Gedankens befindet, alle Mühe im Leben lohne nicht, ja das Leben selbst sei wert- nutz- und sinnlos, hat es ganz offensichtlich mit ebenjenen Symptomen zu tun, die als Hauptmerkmale der Depression veranschlagt werden.⁶⁶¹ So würde man dem Nihilisten des großen Umsonst heute mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine

657 „In der Psychiatrie hat die Depression die Rolle eines vagen Sammelbegriffs, und das aus gutem Grund: Die Psychiater können sie nach wie vor nicht definieren“ (Ehrenberg 2008, 14). Und auch das aus gutem Grund: der Heterogenität und der Universalität des im Brennpunkt stehenden Phänomens. Von daher ist es auch unwahrscheinlich, dass man sich in absehbarer Zeit auf eine Definition wird einigen können. Ehrenberg spricht sogar von der „Unmöglichkeit, die Depression zu definieren“ (Ehrenberg 2008, 104). 658 Vgl. Summer 2008, 15–21; Payk 2010, 45, sowie die Ausführungen der World Health Organisation (WHO) im sogenannten ICD-10 (International Classification of Diseases Nr. 10) (http://www.who.int/ classifications/icd/en/bluebook.pdf, v. a. F 3, 4, 32, 33), vgl. wiederum dazu recht übersichtlich Lindner 2009, 51ff. 659 Unerklärlich meint hier nicht, dass man sich prinzipiell keinen Reim auf die Schwermut der Person machen könnte. Wäre dem so, würden alle hier unternommenen Versuche, die Häufung depressiver Zustände in der spätmodernen Gesellschaft auf bestimmte äußere Ursachen zurückzuführen, von vornherein unsinnig sein. Unverständlich meint vielmehr, dass die Schwermut physiologisch nicht erklärt werden kann, dass sie also aus physiologischer Perspektive Grund-los erscheint. 660 Vgl. ausführlicher Will/Grabenstedt/Völkl/Banck 2008, 55ff. 661 Vgl. meine Typologie des Nihilismus (Kapitel VII., Abschnitt (E)).

Depression und Nihilismus   

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Depression attestieren. Ausgehend von dieser Diagnose würde man dann in einem nächsten Schritt versuchen, den als Depression klassifizierten und folglich pathologisierten Nihilismus zu therapieren, wozu man freilich nicht allein auf psychologische, sondern gerade auch auf biologische Mittel vertraute. Der Nihilismus wäre – zumindest als Nihilismus des großen Umsonst – jetzt eben nicht mehr primär eine philosophische, sondern vorzüglich eine medizinische oder psychiatrische Größe, die es klein zu machen gilt. Die Kunst der Transfiguration hätte unter diesen Umständen weniger das nihilistische Individuum vermöge eigener Kraft zu leisten als vielmehr der Psychiater für das Individuum. Nicht das Individuum müsste sich die Dinge schön machen, indem es ihre schönen Seiten mittels des angewandten Perspektivismus aufsuchte. Es würden stattdessen qua Neuro-Enhancement biochemische Prozesse im Individuum in Gang gesetzt, als deren Folge ihm die Dinge schön erschienen. Mit einem Wort: Sie würden ihm schön gemacht. Eine bestimmte, nicht nihilistische Weltund Selbstsicht würde ihm von außen angestoßen innerlich aufgehen. So scheint die Kunst der Transfiguration gut hundert Jahre nach Nietzsche gleichsam aus der philosophischen Art geschlagen vor allem eine pharmazeutische Angelegenheit geworden zu sein. Wenn es darum geht, unser Zeitalter als nihilistisch zu begreifen, ist indes wichtiger noch als die psychiatrische Klassifikation des Nihilisten des großen Umsonst die Freilegung des nihilistischen Kerns der Depression. Dieser ist, wie ich schon sagte, eine tiefe Schaffensmüdigkeit. Gleichgültig mit welcher Art Depression man es zu tun hat, sie alle eint ein Rückgang der Aktivität der Betroffenen.⁶⁶² Diese regredieren in Sachen schöpferischer Kraft. Sie schaffen nichts, was über sie hinausginge  – im Grunde schaffen sie gar nichts mehr. Sie sind wie gelähmt. Als Gestalter ihres Lebens kommen sie solcherart nicht in Betracht. Wie sehr müsste Nietzsche als Vertreter einer „großen[n] Philosophie des Fließens“ (Stegmaier 2007, 111), die nicht allein Flüsse fließen lässt, sondern auch die sie überspannenden Brücken (vgl. Z III Tafeln 8; KSA 4, 252), angesichts der aktuellen Konjunktur depressiver Zustände und darin liegt: angesichts einer Periode des Versiegens in mitten allen Fließens, nicht erschrecken? Wo nämlich die Schaffenskraft erlischt, richtet sich der Geist der Schwere häuslich ein. Er errichtet sein Domizil gleichsam in Wüsten und Trockengebieten, hervorgerufen durch die Ebbe der großen Flut des Übersichhinausschaffens (vgl. Z I Vorrede 3; KSA 4, 14).

662 „Zu jedem depressiven Syndrom oder jeder depressiven Episode gehören auch Antriebsstörungen“ (Wolfersdorf 2010, 71).

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Index Es werden im Index nicht alle im Rahmen der Studie zitierten oder erwähnten Personen aufgeführt, sondern nur die Namen derjenigen Personen, die besonders häufig zitiert werden bzw. für die Studie von besonderer Bedeutung sind. absurd, das Absurde, Absurdität 1, 36, 64, 96, 99–100, 119, 177–178, 244, 248, 294, 315, 340, 367–370, 421, 423, 427–428, 431 Affirmation, affirmativ 29,43, 49–50, 54, 95–96, 102, 127, 136, 257–258, 300, 308, 329, 339, 341, 391, 410, 422–423 Akzeleration, Beschleunigung 274, 395–398, 432 Amor fati 11, 33, 39–41, 50, 67, 247–248, 300, 377, 384–385 Apollo, das Apollinische, apollinisch 82–84, 89–97, 99–105, 108–109, 113, 122, 129, 138, 145, 146, 150–151, 154, 162, 167–168, 171, 181, 201–203, 207, 402, 432 Askese 53, 64–65, 77, 92, 216 asketisches Ideal 11, 34, 210–224, 226–227, 230–231, 234–236, 288, 293, 349 Augustinus, Aurelius 59–64, 66, 113, 255, 286, 358, 425, 430–431 Autonomie, autonom 40, 189–190, 194, 228, 234–235, 266, 278, 292, 301–302, 305, 328, 341, 344, 348–350, 375, 388, 392, 407–410 Bejahung 3, 5, 29, 33, 39, 41, 50, 54–55, 65, 67–68, 76–77, 96, 112–113, 115, 129, 159, 214, 226, 229–230, 232, 247–248, 254, 257–258, 308, 335, 337, 341, 351–352, 356–358, 361, 368, 370, 372, 374–377, 384–385, 420 Bekehrung 59–60, 63, 65–66 Camus, Albert 2, 13, 34–41, 169, 392, 422, 425, 430, 432 Dekadenz, décadence 10, 44, 74, 132, 157–165, 208, 211–212, 226, 231, 255, 258, 274, 293, 303–304, 333, 339, 421, 423 Descartes, René 6–7, 20, 34, 40, 48–49, 257, 360, 425 Dionysos, das Dionysische, dionysisch 44, 47, 54–55, 77–80, 82–109, 111–118, 121–124, 126–127, 129–132, 143, 146,

150–151,153–154, 162, 167, 169, 171, 173, 181–182, 201, 203, 207, 211, 247, 308, 376, 378, 385, 405, 419–422 Dürrenmatt, Friedrich 175–178, 183–184, 288, 425–431 Düsing, Edith 6, 41–42, 45–47, 208, 282–283, 295, 419 Ekel, Daseinsekel 1, 36, 64, 96, 99–100, 119, 132, 177–178, 242,-244, 248, 294, 315, 340, 367–370, 421, 423, 427–428 Euripides 103, 106, 133, 151–154, 162, 165–168, 171–172 ewige Wiederkehr 126, 311, 358, 369, 374, 418, 424 ewige Wiederkunft 3, 39, 96, 286, 308, 311, 319, 341, 351–352, 354–356, 359–362, 364–376, 379, 418 Gillespie, Michael Allen 6, 10, 41–42, 46–49, 279, 287, 308, 420 Heidegger, Martin 3–4, 13, 20–26, 30–31, 36, 45, 64, 74, 78, 120, 131, 212, 225, 257, 262–263, 267, 272–273, 295, 312, 314–317, 328–329, 358, 363, 365, 372, 395, 408, 419, 422–424, 426, 431–433 Horizont, péras (Grenze), unendlicher H. 22, 26–28, 88, 263, 266–267, 271–272, 279–280, 285, 302, 327, 336–337, 345–346, 378–379, 383, 390, 397 Illusion, Lüge, Täuschung 25, 55, 91–92–95, 100–101, 170, 174, 178, 181–183, 185–187, 198–200, 202, 204–205, 236, 238, 240, 252, 279–280, 284, 293, 297–299, 313, 322–324, 327, 339–340, 343, 349, 361, 420 Jaspers, Karl 6, 13–20, 36, 421, 426–427, 432 Jesus 46, 61, 185, 236–251, 253, 255–256, 259, 384

436   

   Index

Kant, Immanuel 2–3, 37, 66, 72, 75, 77, 83, 85, 116–117, 124, 136, 169–171, 178, 215, 234–235, 278, 280–281, 302–303, 322, 329, 338, 343, 392, 409–410, 419, 421, 423, 427 Kierkegaard, Sören 14, 36, 65, 158, 177, 219,282, 289–292, 305, 309, 329, 366, 381, 402–403, 411, 420, 427–432 Krise, existenzielle K., Lebenskrise, Orientierungskrise, Sinnkrise, Willenskrise, K. der Moderne 4, 42, 46, 50, 60, 62, 135–136, 179–180, 213, 227–228, 278, 290–291, 308, 388, 431 Kuhn, Elisabeth 41–45, 163, 278, 296–298, 421 Leid, Leiden, leiden 4–5, 17, 32, 34, 37–38, 45, 47, 52–54, 57, 59, 63–65, 68–70, 73–81, 86–87, 93–96, 101, 103, 106–107, 110–124, 126–130, 133, 135, 148–150, 158, 164, 166, 169, 183, 185, 188–189, 196–197, 200–204, 210, 213–214, 217–229, 238, 244, 246–247, 250, 252–256, 269, 281, 300, 310–311, 314–315, 317–318, 321, 326–329, 352, 355–357, 359–360, 373, 397, 402–406, 412, 415, 431 logon didonai 145, 153 Meer 7, 68,74, 91, 105, 155, 180, 210, 261, 263, 266–267, 271–272, 280, 285, 302, 306, 338, 340, 344–345, 347, 361, 382, 420, 423–424 Mitleid, mitleiden 47, 75–76, 87, 98, 150, 224, 227, 415, 431–432 Moral, Moralität, moralisch 6, 18, 30–34, 36, 40–42, 50–51, 55, 67–69, 75, 80, 92, 98, 116, 134, 137, 143–144, 146–149, 152–153, 161, 169–170, 172, 181, 185–188, 190–195, 198–200, 203–207, 211, 216–218, 221–224, 226–235, 245, 248, 251, 261–262, 274–275, 278, 283–284, 288, 290, 293, 296–298, 303, 309, 313–314, 317–319, 322–324, 331, 338, 343, 346, 349–350, 363, 375, 382–384, 409–414, 418–425, 428, 431 – Herrenmoral 420 – Sklavenmoral 198, 200, 206, 420

– Unmoral, Unmoralität, Immoralität, amoralisch, unmoralisch 67–69, 80, 92, 227, 275, 288, 419 – vormoralisch 147, 187, 192–195, 223 Nihilismusformen 288–311 – aktiver Nihilismus 11, 44, 278–279, 304, 306–308 – europäischer Nihilismus 10–11, 31–33, 42–45, 58, 133, 157, 160, 169, 211, 217, 235, 261–262, 284, 340, 419, 421, 426 – extremster Nihilismus 44, 295, 299–306, 310–311, 360–361 – Nihilismus des gegenwärtigen und zukünftigen Umsonst 311 – passiver Nihilismus 11, 44, 110, 295, 304–309 – radikaler Nihilismus 296–298 – unvollständiger Nihilismus 11, 44, 288, 290–292, 295, 298, 311 – vollkommener Nihilismus 6–7, 11, 44, 58, 290, 292, 294–295, 298, 301, 305, 311 Nishitani, Keiji 13, 26–34, 428, 430, 432 Ohnmacht, ohnmächtig 193–194, 196, 198–199, 203, 206, 218–219, 237, 242, 249, 251–254, 352, 354–357, 359, 368, 379 Pathos der Distanz 188–191, 195, 199, 209–210, 212, 221, 224, 227, Paulus 60–61, 66, 80, 221, 236–240, 250–259, 275, 420, 429, 432 Perspektivismus, perspektivisch, verschiedene Perspektiven u.ä. 44–45, 87, 97, 118, 120–122, 124–128, 132, 146, 159, 187, 232, 279, 301–306, 322, 335, 337, 357–358, 377–383, 397, 417–422, 424 Platon, Platonismus 3, 21–22, 29, 53, 64, 66–67, 79, 91–92, 112, 121, 124, 129, 136–137, 140–143, 149–151, 155, 166–167, 200–205, 207, 211, 253, 257, 267–271, 275, 280, 301, 382, 419, 421, 426, 428, 430–433 Priester 138, 204, 207, 209–213, 217–221, 223, 228, 236–238, 240, 244, 251, 288 Psychoanalyse, -analytiker, -analytisch 104, 181, 228, 232, 415, 426, 428, 431

Index   

Rausch 78, 88–89, 91, 99–100, 108, 132, 152–153, 220, 315, 403, 419 Rechtfertigung, ästhetische R., R. des Daseins/ Lebens/Leids und der Welt 5–6, 32, 53–54, 66–67, 69, 78–81, 83, 88–89, 91, 94–96, 98, 102–103, 109–110, 112–113, 116–118, 121–124, 156, 162, 172, 195, 261, 276, 321 Ressentiment 186–187, 190, 193–200, 203–206, 208–209, 214, 218–221,223–225, 237–238, 240–242, 244, 248–251, 258, 283, 308, 351–352, 354–356, 360, 379, 418–419, 424, 428 Schleier der Maja 91, 96, 101, 247 Schopenhauer, Arthur 5, 35, 53, 59–60, 62–78, 80–81, 83–86, 89–91, 94, 97–98, 110, 112, 119, 122, 126, 178, 204, 217, 229–230, 257, 286, 319, 322, 370,382, 407, 419–421, 424, 428–431, 433 Selbst 16–17, 19, 31, 34, 84, 206, 219, 257–258, 289, 305, 325–326, 329, 336, 343–344, 357, 360, 364, 368, 388, 392, 400, 404, 408, 410, 412–414 Selbst(auf)opferung 213, 218 Selbstaktualisierung 410 Selbstaufhebung 168, 284 Selbstausbeutung 414 Selbstbegründung 25 Selbstbeherrschung 150, 161, 222 Selbstbejahung, -affirmation 257 Selbstbeschneidung 224 Selbstbeständigung 23 Selbstbestimmung 116, 333, 348, 382, 408 Selbstbewusstsein 19, 34, 75, 139, 288, 327 Selbstbild, -sicht 92, 180, 402, 417 Selbstbildung 399 Selbstdeutung 90 Selbstentfaltung 108, 394 Selbsterfahrung 330 Selbsterhaltung 25, 164, 241, 342 Selbsterhöhung, -überschätzung, Hybris 126, 147, 221, 326, 352, 379 Selbsterkenntnis 66, 76, 105, 138, Selbsterlösung 88, 356 Selbstermächtigung 49 Selbsterschaffung 344–345 Selbstgeißelung 213

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Selbstgesetzgebung 195, 228, 234, 278 Selbstgestaltung, Stilgebung 92, 162, 234 Selbstgewissheit 159 Selbsthaftigkeit 312–337 Selbstherabsetzung 392 Selbstherrlichkeit 80 Selbstidentität 27 Selbstinsistenz 28 Selbstlosigkeit 30, 210 Selbstmord, -tötung, Freitod, Entselbstung 2, 35–37, 127–128, 133, 214, 336, 403 Selbstsein 28, 403, 407 Selbstsetzung 328, 350 Selbststand, -ständigkeit 231, 301, 305, 346, 411–412, 414 Selbstsucht 192, 392 Selbsttäuschung, -betrug, -verlogenheit 187, 199, 205–206 Selbstüberwindung, -überschreitung, -steigerung 25, 33, 44, 96, 230, 231, 248, 284, 317, 332, 333, 341–350, 369, 370, 410–411 Selbstunternehmer (Unternehmer seiner selbst) 400, 412–413 Selbsturteil 163, 334, 336, 376, 384, 387, Selbstverehrung 343 Selbstverfügung 24–25 Selbstvergessenheit 14, 282, 395 Selbstvergiftung 197–198 Selbstverhältnis, Sich-zu-sich-selbstVerhalten (und Sich-zur-Welt-Verhalten), Selbstbezug 61, 325–326, 329, 333–334, 346, 347, 373, 375, 388, 408 Selbstverneinung, -achtung, -negation, -verleumdung 14, 217, 229, 343 Selbstverschönerung 404 Selbstverständnis 47, 56, 189–190, 252, 276, 291, 331–332, 342, 400, 412 Selbstverwirklichung, -verwirklichungsprogramm 401f., 404, 409–413 Selbstwerdung 17, 410, 413–414 Selbstwert, -unwert 276, 382 Selbstwiderspruch 185, 212–213, 217, 326, 328 Selbstzerstörung, -vernichtung 186–187, 216, 219, 336 Selbstzufriedenheit (Zufriedenheit mit sich selbst) 388 Selbstzweck 282, 283, 392

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   Index

Sonne 66–67, 72, 76, 90–91, 157, 263, 266, 268, 271–273, 285, 319, 330, 345, 358, 362–363, 376 Sonnengleichnis 268, 271, 431 Sokrates 63, 87, 124, 129–133, 135–151, 153–168, 170–172, 180, 192, 204, 208, 211, 235, 252, 261–262, 269–270, 373, 377, 430–432 Sokratismus, sokratisch 10, 42, 55, 82, 123, 129, 133–134, 136, 151–154, 157, 165, 167–175, 178–182, 184, 186, 202, 207, 215–217, 261, 290–291, 303, 312, 371, 405, 421, 429 Sorge, Fürsorge, sich sorgen, besorgen 27, 78–79, 119–120, 138–139, 226, 274–275, 277–278, 282, 289, 300, 316, 331, 356, 395, 408, 412 Souveränität, souverän, souveränes Individuum 25, 149–150, 200, 234–235, 248, 349–351, 379, 382, 414 Stegmaier, Werner 3, 6, 45, 50, 189, 208, 236, 239, 310, 330, 336, 338–339, 342, 344–345, 382, 385, 391, 405, 417, 419, 423 Tongeren van, Paul 13, 41, 43, 55–58, 159, 162–163, 411, 423 Tragödie 5–6, 10, 63, 66, 71, 73, 77–83, 85, 87–92, 94–98, 100, 102–115, 117–124, 127, 132–135, 137, 145–157, 162, 165–166, 168–169, 171–172, 174, 176–180, 182–183, 192, 201,210, 215, 235, 295, 313–315, 339, 351, 360, 380, 419–420, 422–423, 426, 432 Transfiguration 101, 110, 341, 347, 379, 381, 383, 389, 398, 404, 417 Transformation 48, 127, 144, 335, 370, 400

Traum 87–89, 91, 100–101, 110, 168, 175–176, 178, 180, 202, 216–217, 232, 242, 279, 309, 324, 352–354, 359, 399, 405, 428 Übermensch 25, 27, 119, 180, 195, 234, 248, 260, 276, 286, 293–294, 317, 331–333, 339, 341–351, 356, 364, 368, 370, 389, 404, 407, 410–411, 413–414, 420, 422–423 Umwertung, Umwertung der Werte 24, 26, 52–54, 199, 203–204, 206–207, 212, 238, 242, 251–252, 279, 377–378, 422 Unendliches, Unerschöpfliches, unendliche Fülle/Leere, unendliche Interpretationen u. ä. 267, 277, 279–280, 302, 304, 306, 394 Verzweiflung 18–20, 25, 29, 42, 50–54, 60–61, 65–66, 101, 126, 150, 180, 183, 219, 249, 273, 277, 288–292, 329, 374, 402–403, 411 Weiser, dionysisch 106, 112–116, 118, 121, 123–124, 126 Weisheit, dionysische W., stoische W., tragische W. 66, 79, 87,-88, 95–97, 102, 106–107, 109, 112–115, 123, 126, 129,131, 139, 158, 168–169, 173, 178, 181, 201, 253, 285, 330, 339, 349, 351–354, 397, 430 Wille zum Leben, Willensmetaphysik 59–60, 62–63, 65, 68–78, 81, 182, 274 Wille zur Macht 20, 24–26, 44, 47, 50, 53–55, 83, 179, 212, 221, 225–226, 231, 238, 248, 292, 295, 305, 354–355, 357–358 Wille zum Nichts, Wille zur Verneinung 163, 185–186, 217, 224–226, 258, 274, 289, 309, 415, 418 Wille zur Wahrheit 3, 283–284, Willensneurose, -neurotiker 228, 231, 234, 293, 340