Orientierung im Nihilismus – Luhmann meets Nietzsche 9783110481198, 9783110476163

Despite very different approaches to basic philosophical choices, Luhmann’s sociological systems theory and Nietzsche’s

199 92 3MB

German Pages 457 [458] Year 2016

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Table of contents :
Inhaltsübersicht
Vorwort
Einleitung
I Orientierung im Nichts: Nietzsches Nihilismus und Luhmanns Konstruktivismus
II Orientierung an sich selbst: Nietzsches und Luhmanns Perspektivismus
III Orientierung an der Zeit: Logik, Paradoxie und Theorie nach Nietzsche und nach Luhmann
IV Trennung der Orientierungen: Nietzsches und Luhmanns Subjektkritik
V Orientierung an Menschen: Luhmanns und Nietzsches Auflösung der Einheit des Menschen
VI Orientierung an anderer Orientierung: Nietzsche und Luhmann zu den Spielräumen des Verstehens und Missverstehens
VII Orientierungsmittel: Nietzsches und Luhmanns Ein- und Entgrenzung des Wissens
VIII Bindungen der Orientierung: Nietzsches und Luhmanns Begrenzung der Moral und Befreiung der Ethik
IX Überlegene Orientierung: Nietzsches, Luhmanns und Foucaults Entmoralisierung der Macht und die Kontexte der Demokratie
X Ausgleichende Orientierung: Nietzsches und Luhmanns Kontextualisierungen der Demokratie
XI Sich auszeichnende Orientierung: Persönlichkeit nach Hegel, Rang nach Nietzsche, Reputation nach Luhmann
XII Orientierung über Orientierung: Philosophie nach Nietzsche, Luhmann und Derrida
Anhang
Personenregister
Sachregister
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Orientierung im Nihilismus – Luhmann meets Nietzsche
 9783110481198, 9783110476163

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Werner Stegmaier Orientierung im Nihilismus – Luhmann meets Nietzsche

Werner Stegmaier

Orientierung im Nihilismus – Luhmann meets Nietzsche

ISBN 978-3-11-047616-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-048119-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-047970-6 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Den Kommenden gewidmet

Inhaltsübersicht Vorwort Einleitung

IX 1

I

Orientierung im Nichts: Nietzsches Nihilismus und Luhmanns Konstruktivismus 28

II

Orientierung an sich selbst: Nietzsches und Luhmanns Perspektivismus 60

III Orientierung an der Zeit: Logik, Paradoxie und Theorie nach Nietzsche und nach Luhmann 93 IV Trennung der Orientierungen: Nietzsches und Luhmanns Subjektkritik 121 V

Orientierung an Menschen: Luhmanns und Nietzsches Auflösung der Einheit des Menschen 141

VI Orientierung an anderer Orientierung: Nietzsche und Luhmann zu den Spielräumen des Verstehens und Missverstehens 173 VII Orientierungsmittel: Nietzsches und Luhmanns Ein- und Entgrenzung des 201 Wissens VIII Bindungen der Orientierung: Nietzsches und Luhmanns Begrenzung der Moral und Befreiung der Ethik 235 IX Überlegene Orientierung: Nietzsches, Luhmanns und Foucaults Entmoralisierung der Macht und die Kontexte der Demokratie X

272

Ausgleichende Orientierung: Nietzsches und Luhmanns Kontextualisierungen der Demokratie 302

XI Sich auszeichnende Orientierung: Persönlichkeit nach Hegel, Rang nach 348 Nietzsche, Reputation nach Luhmann

VIII

Inhaltsübersicht

XII Orientierung über Orientierung: Philosophie nach Nietzsche, Luhmann 376 und Derrida Anhang

403 429

Personenregister Sachregister

434

Vorwort „Luhmann meets Nietzsche“ – Luhmann hat in seinem Werk jeden Anschein vermieden, mit Nietzsche zu tun zu haben. Das hatte Folgen: Bis heute scheut Nietzsche, wer Luhmann kennt, und auch wer Nietzsche kennt, scheut Luhmann. Ihre Orientierungen scheinen füreinander abwegig zu sein: Philosophie hier, Soziologie dort, hier aphoristischer und bilderreicher Stil, dort hoch komplexe, konsequent gepflegte Theorie und zwischen beiden ein Jahrhundert, das die Welt von Grund auf verändert hat. Doch Luhmann könnte für das 21. Jahrhundert entfaltet haben, was Nietzsche im 19. Jahrhundert gedacht hat. Seine soziologische Systemtheorie bewegt sich in philosophischen Dimensionen, und Nietzsche hatte bereits soziologische Perspektiven auf die Gesellschaft entwickelt, die Soziologen vom Fach bald dankbar aufgenommen haben. Nietzsche und Luhmann zusammen lassen mit ihren radikal neuen Ansätzen die meisten Philosophien und Soziologien des 20. Jahrhunderts buchstäblich alt aussehen. Sie könnten Wegbereiter einer Philosophie für das 21. Jahrhundert sein, für eine gelassene Orientierung im verstörenden Nihilismus. Wenn man sie einander begegnen lässt. Luhmann setzte ‚Philosophie‘ gerne in Anführungszeichen. Er wollte „weder eine Erste noch eine Letzte Philosophie“ formulieren, „eine fachliche Zuordnung zu ‚Philosophie‘“ vermeiden. „Gleichwohl“, räumte er ein, „soll ein Zusammenhang nicht bestritten sein.“ (SS, 145) Denn eine Theorie der Gesellschaft, wie er sie entwickelte, erzwingt ein Instrumentarium hoch abstrahierter Begriffe, die Philosophie hat in Jahrtausenden an einem solchen Instrumentarium gearbeitet und sie ist fraglos Teil einer Gesellschaft und entwickelte sich mit ihr. Wie an Begriffe der Thermodynamik, Biologie oder Kybernetik, die sich durch wachsende Komplexität ebenfalls zu starken Abstraktionen veranlasst sahen, hielt sich Luhmann darum auch an Begriffe und Verfahren der Philosophie. Mit seinem Programm einer „Soziologischen Aufklärung“ schloss er, unter neuen Prämissen, an die Tradition der Philosophischen Aufklärung an. Er hatte nebenbei auch Philosophie studiert, kannte ihre Geschichte von ihren Anfängen bis zur Gegenwart so gut wie jeder Philosophieprofessor und ermunterte seine Disziplin, weiter „von den Theorieanstrengungen der Philosophie [zu] lernen“ (SS, 203). Er erschloss sorgfältig die Geschichtlichkeit ihrer Unterscheidungen, um dann neu über sie zu entscheiden. Philosophen wie Aristoteles, Cusanus, Descartes, Spinoza, Kant, Hegel, Whitehead, Cassirer, Husserl, Derrida blieben für ihn Referenzautoren. Am Ende des 19. Jahrhunderts bewegte sich die Philosophie ihrerseits in eine Richtung, die der Soziologie entgegenkam, rückte Sprache, Zeichen und Kommunikation ins Zentrum, die durch die Gesellschaft formiert werden. Als wichtigste ‚Drehscheibe‘ dorthin wirkte Nietzsche.

X

Vorwort

Er ging Luhmann, der ihn erkennbar ebenfalls gelesen hatte, in grundlegenden philosophischen Entscheidungen voraus, insbesondere in der für Luhmann ausschlaggebenden Umstellung von Einheit auf Differenz. Das macht ihn für Luhmanns Theorie besonders interessant, eben weil sich Luhmann von ihm fernhielt. Denn man kann seine Theorie so aus einer Perspektive beobachten, die er selbst nicht beachtete, mit seinen Worten sehen, was er nicht sah oder sehen wollte. Für Luhmann war das der Weg, neue Beobachtungsmöglichkeiten zu erschließen. Umgekehrt beobachtete Luhmann ein Jahrhundert später natürlich vieles,was Nietzsche noch nicht beobachtete und beobachten konnte. Lässt man beide einander begegnen, blickt man von Luhmann aus auf Nietzsche und von Nietzsche aus auf Luhmann, fällt nicht nur ins Auge, dass sie ihre philosophisch-soziologischen Grundentscheidungen miteinander teilen, sondern auch die Differenz, die ein solches meeting bisher offenbar verhindert hat, die Differenz von Aphoristik hier und Theorie dort. Da beide sich sehr bewusst für bestimmte Formen der Entwicklung und Darstellung ihres Denkens entschieden haben, kann man die Differenz nicht als zufällig oder äußerlich abtun. Aphoristik und Theorie sind, wie zu zeigen sein wird, alternative Konsequenzen aus ihren konvergierenden philosophisch-soziologischen Grundentscheidungen: Für beide trat, nach dem Vorgang Hegels, ‚die Theorie‘ in ein Stadium der Selbstreflexion ein, in dem sie sich selbst bekräftigen oder negieren kann. Für Luhmann hat den Ausschlag für die Theorie gegeben, dass er sich in der wissenschaftlichen Disziplin der Soziologie halten wollte, für Nietzsche den Ausschlag gegen die Theorie, dass in der „zerbrechlichen zerbrochnen Uebergangszeit“, die er gekommen sah, der Zeit des Nihilismus, das „Eis“ der scheinbaren „‚Realitäten‘“ und der Theorien, die an sie glauben machten, so tief einbrach (FW 377), dass die Theorie als solche ebenfalls fragwürdig, in ihrer stets begrenzten Geltung erkennbar wurde. Das bestätigte sich im 20. Jahrhundert. Man kann die schweren Menschheitskatastrophen, die es brachte, mit Nietzsche auch als Folgen des eingebrochenen Nihilismus und des Unglaubwürdig-Werdens philosophischer und soziologischer Theorien verstehen. Das 20. Jahrhundert brachte aber auch ökonomisches Wachstum, Wohlstand und schließlich auch mehr Frieden, wenn auch weiterhin brüchigen. Es zeigte vorher unbekannte Abgründe menschlicher Möglichkeiten und lehrte unter schweren Opfern zugleich, sich einigermaßen erfolgreich über ihnen zu bewegen, kurz: sich im Nihilismus zu orientieren. Eben dafür, für die Orientierung im Nihilismus, könnte Luhmann eine neue Art von Theorie geliefert und damit, wie er selbst beanspruchte, nicht nur die „Theoriekrise“ der Soziologie (SS, 7) überwunden, sondern auch neue Grundlagen für die Philosophie geschaffen haben.

Vorwort

XI

Der Begriff der Orientierung wird hier mit Bedacht gebraucht. In der Philosophie der Orientierung, 2008 erschienen, habe ich bereits vielfältige Impulse Nietzsches und Luhmanns aufgenommen. Nun eröffnet der Begriff die Perspektive, das Werk beider systematisch aufeinander zu beziehen. Orientierung operiert, philosophisch durchdacht, einerseits ‚aphoristisch‘, in vielfachen, nur begrenzt miteinander vernetzten Kontexten, und andererseits ‚theoretisch‘, mit weiten perspektivischen Überblicken. Sie kann, wenn die Situation es erfordert, zwischen beidem wechseln und so von Fall zu Fall situationsgerechte Orientierungsentscheidungen treffen. Sie hat darin Routine, und die Sicherheit dieser Routine absorbiert viel von der immer bleibenden Unsicherheit, dass jede Orientierung, sei sie sich ihrer auch noch so gewiss, jederzeit ihren Halt verlieren, ‚fallen‘ und ‚verfallen‘, in Desorientierung abstürzen, nach Nietzsche in die Abgründe des Nihilismus versinken kann. Nietzsche hat den Begriff der Orientierung gemieden, nicht in seinen Briefen, wohl aber in seinem Werk, offenbar weil Eugen Dühring, den er scharf angriff und mit dem er nicht verwechselt werden wollte, ihn extensiv verwendete. Luhmann dagegen gebrauchte den Begriff der Orientierung regelmäßig und besonders dann, wenn es um Richtungsentscheidungen von Theorien, auch und vor allem seiner eigenen, ging. Er differenzierte dazu ein ungewöhnlich reiches Vokabular aus. So sprach er z. B. schon in Funktionen und Formen formaler Organisation von „orientierungsnotwendigen Erwartungen“ (FFfO, 34), „sachlichem Orientierungsgerüst“ (FFfO, 64), „doppelgleisiger Orientierung“ (FFfO, 67) und „generalisierter Systemorientierung“ (FFfO, 84), in Grundrechte als Institutionen von „Orientierungsfaktoren“ (GI, 70), „Orientierungsaufgaben“ (GI, 81) und „Orientierungsmustern“ (GI, 190), in seiner programmatischen Antrittsvorlesung Soziologische Aufklärung von „Orientierbarkeit und Motivierbarkeit“ (SA, 69), verwendete in seinem Grundwerk Soziale Systeme Begriffe wie „Situationsorientierung“ (SS, 49), „Problemorientierung“ (SS, 276), „Umweltorientierung“ (SS, 277), „Personorientierung“, „Rollenorientierung“ (SS, 431), „Zweckorientierungen“, „Bedingungsorientierungen“ (SS, 432), „Funktionsorientierung“ (SS, 463 ff.) bzw. „funktionale Orientierung“ (SS, 465), unterschied generell „Orientierungsdimensionen“ (SS, 121), bildete in Die Wissenschaft der Gesellschaft weitere Begriffe wie „Orientierungsfunktion“ (WissG, 250), „Orientierungshilfe“ (WissG, 247), „verkürzte Orientierung“ (WissG, 245), „Kontextorientierung“ (WissG, 471) und „Zielorientierung“ (WissG, 521), gebrauchte den Orientierungsbegriff auch selbstbezüglich („sich an sich selbst orientieren“, SS, 617; „die Umorientierung orientieren“, FrA, 170) und handelte noch zuletzt von „Orientierungsgrundlagen“ (GG, 998), „Orientierungsbedarf“ (OuE, 8), „Orientierungswert“ (OuE, 78, 230), „Orientierungskapazitäten“ (OuE, 275), „Orientierungsnotwendigkeit“ (OuE, 115) und von der „Weltrelevanz der Orientierung“ (GG, 987). Die Liste ließe sich verlängern. Den-

XII

Vorwort

noch machte Luhmann den Begriff, abgesehen von einem marginalen Absatz in Soziale Systeme (SS, 362), nicht eigens zum Thema, sondern ließ sich, ganz untypisch für ihn, latent von ihm leiten. So eröffnete und schloss er sein erklärtes Hauptwerk mit geradezu poetischer Orientierungsmetaphorik. In seinem Vorwort kündigte er eine „Darstellung in ungewöhnlicher Abstraktionslage“ an: Der Flug muß über den Wolken stattfinden, und es ist mit einer ziemlich geschlossenen Wolkendecke zu rechnen. Man muß sich auf die eigenen Instrumente verlassen. Gelegentlich sind Durchblicke nach unten möglich – ein Blick auf Gelände mit Wegen, Siedlungen, Flüssen oder Küstenstreifen, die an Vertrautes erinnern; oder auch ein Blick auf ein größeres Stück Landschaft mit den erloschenen Vulkanen des Marxismus. Aber niemand sollte der Illusion zum Opfer fallen, daß diese wenigen Anhaltspunkte genügen, um den Flug zu steuern. (SS, 13)

Und er schloss mit der Erinnerung an Hegels „Eule der Minerva“, die immer nur das „Grau in Grau“ einer „alt gewordenen“, in der „einbrechenden Dämmerung“ schon verblichenen „Gestalt des Lebens“ zu sehen bekommt, und der erklärten Zuversicht, wir könnten „jetzt der Eule Mut zusprechen, nicht länger im Winkel zu schluchzen, sondern ihren Nachtflug zu beginnen. Wir haben Geräte, um ihn zu überwachen, und wir wissen, daß es um Erkundung der modernen Gesellschaft geht.“ (SS, 661) Luhmanns theoretischer Überflug ist ein Orientierungsflug. Die vorliegende Studie ist aus einer Reihe von Beiträgen entstanden, die ich über Jahre hinweg zunächst zu verschiedenen Gelegenheiten verfasst, dann aber immer stärker auf das zentrale Thema ‚Luhmann meets Nietzsche‘ ausgerichtet habe. Soweit die Beiträge veröffentlicht wurden, sind sie für dieses Buch zum Großteil von Grund auf überarbeitet worden und nun in XII thematisch geordneten Kapiteln konsequent aufeinander ausgerichtet. Die Kapitel sind, angesichts des Umfangs auch dieses Bandes, jedoch so gestaltet, dass sie sich, je nachdem, welches Thema interessiert, unabhängig voneinander lesen lassen.* Dafür werden zuweilen geringfügige Wiederholungen (mit entsprechenden Verweisen) in Kauf genommen. Viele haben das Luhmann-Nietzsche-Projekt mit Anregungen, Nachfragen und Einwänden auf Konferenzen, in Seminaren, in Briefwechseln und in Veröffentlichungen begleitet. Ich danke ihnen allen sehr herzlich, ohne sie im Ein-

* Die Vorfassungen stammen aus den Jahren  – . Zuvor erschienen die Beiträge: Nietzsches und Luhmanns Aufklärung der Aufklärung: Der Verzicht auf ‚die Vernunft‘ (); Differenzen der Differenz. Die Leitunterscheidungen der Hegelschen Phänomenologie des Geistes, der Husserlschen Transzendentalen Phänomenologie und der Luhmannschen Systemtheorie und ihre Leistungen (); Niklas Luhmann als Philosoph (); Die Autonomie der Orientierung (). Sie sind hier nicht wieder aufgenommen worden.

Vorwort

XIII

zelnen nennen zu können. Besonders hervorheben möchte ich jedoch die jungen Wissenschaftler(innen), die sich während zweier Werkstätten im Naumburger Nietzsche-Dokumentationszentrum mit eigenen Beiträgen auf das Projekt eingelassen haben: Die erste fand im Frühjahr 2014 zum Projekt im Ganzen, die zweite im Frühjahr 2015 zum Thema „Nietzsche, Luhmann und die Paradoxien der Demokratie“ statt. Die Trebuth-Stiftung zur Förderung des Nachwuchses im Fach Philosophie hat meine Arbeit mit Nachwuchswissenschaftler(inne)n viele Jahre hindurch mit bewundernswerter Großzügigkeit unterstützt. Dafür kann ich ihr und der Verwalterin der Stiftung im Stifterverband für die deutsche Wissenschaft, Frau Ulrike Johanning-De Abrew, nicht genug danken. Einen ganz persönlichen Dank möchte ich Mitgliedern unserer jungen und multinationalen Greifswalder Nietzsche-Forschungsgruppe aussprechen, die inzwischen in alle Welt verstreut ist, besonders Ekaterina Poljakova, Andrea Christian Bertino, Andreas Rupschus, Benjamin Alberts, Willie Gerloff und Reinhard Müller. Zu ihr gehörten auch die jungen brasilianischen Professoren Antonio Edmilson Paschoal, Jorge Viesenteiner, André Luis Muniz García, Bruno Martins Machado, Wander Andrade de Paula und Ricardo Bazílio Dalla Vecchia. Ebenso hat Phillip Roth meine Projekte stets mit großem Interesse verfolgt und einschlägige Tagungen organisiert. Nicht zuletzt aber danke ich Gertrud Grünkorn, die auch dieses Buch in das Programm des Verlags De Gruyter aufgenommen hat. Im Vertrauen auf das Vertrauen aller, die an ihm auf unterschiedlichste Weisen mitgewirkt haben, gebe ich es nun heraus. Greifswald, den 20. Dezember 2015

Werner Stegmaier

Inhalt Einleitung 1  Gemeinsame philosophisch-soziologische Grundentscheidungen Nietzsches und Luhmanns 1 . Methodischer Immoralismus 4 5 . Reflektierter Realismus der Beobachtbarkeit . Steigerung der Komplexität in Selbst- und Fremdbezügen der Beobachtung 7 . Entscheidung für Evolution und Funktionalität 8 9 . Wertentscheidungen in asymmetrischen Unterscheidungen . Paradoxien als Denkmittel 10 . Entscheidung für Entscheidbarkeit 11 12  Luhmanns eigene Bezüge und Nichtbezüge auf Nietzsche  Schriftstellerische Formen, Themenauswahl und Methoden 19  Überblick 22 I  . . .  . . . .  . . . . . .

Orientierung im Nichts: Nietzsches Nihilismus und Luhmanns Konstruktivismus 28 Der Weg vom sophistischen zum nihilistischen Nichts über den 28 Selbstbezug des Nichts Gorgias’ sophistisches Nichts 28 Hegels bloße Unterscheidung von Sein und Nichts 29 30 Nietzsches nihilistisches Nichts Der Weg vom nihilistischen zum konstruktivistischen Nichts über die Selbstüberwindung des Nihilismus 33 Der erste, nicht zu überwindende Nihilismus 33 Der zweite, zu überwindende Nihilismus 37 Die Selbstüberwindung des Nihilismus 39 Luhmanns konstruktivistisches Nichts 42 Der alltägliche Umgang mit dem Nichts in der menschlichen Orientierung 48 Der bewegliche Standpunkt der Orientierung 50 Die beweglichen Horizonte und Perspektiven der Orientierung 50 Die Anhaltspunkte und Spielräume der Orientierung 51 Die Oszillation der Perspektiven zur Gewinnung von Übersicht 52 Die Abkürzung der Orientierung durch den Gebrauch von Zeichen 53 Die Zeit der Orientierung 54

XVI

. . . .

Inhalt

Das Denken als Orientierungsleistung 55 56 Die Selbststeuerung der Orientierung Die Orientierung an anderer Orientierung 56 Die Routinen der Orientierung 57

II

Orientierung an sich selbst: Nietzsches und Luhmanns 60 Perspektivismus  Realität in der Perspektivität, Reflexivität und Rekursivität der 60 Orientierung  Reflexivität und Perspektivität als Grundzug der Philosophie der 65 Moderne  Perspektivität, Reflexivität und Rekursivität bei Nietzsche und Luhmann 68 68 . Perspektivität: Orientierung durch Perspektiven .. Nietzsche: Perspektiven auf Perspektiven 68 .. Dummheit als Halt im Perspektivismus 72 .. Luhmann: Identität der Erfahrung der Nichtidentität von 73 Perspektiven . Reflexivität: Orientierung an Perspektiven 77 .. Luhmann: Selbstreferentialität als Grundgesetz 77 78 .. Abgrenzung von ‚etwas‘ überhaupt .. Ausdifferenzierung, Autopoiesis, Autonomie 79 .. Evolution als Grundform prozessualer Reflexivität 81 .. Selbstreferentielle Beobachtung von Beobachtungen oder Beobach81 tung zweiter Ordnung .. Figuren der Selbstaufhebung bei Nietzsche: Organisationen von Willen zur Macht 82 .. Luhmanns Supertheorie und Nietzsches Perspektivierung des Inhalts durch die Form 85 . Rekursivität: Orientierung an sich selbst 87 .. Nietzsche: Die Realität der Perspektivität als Flüssigkeit des Sinns 87 .. Luhmann: Die Realität der Orientierung als Rekursivität 88 III Orientierung an der Zeit: Logik, Paradoxie und Theorie nach Nietzsche und nach Luhmann 93  Logik vs. Zeit, Zeit vs. Logik (Parmenides, Aristoteles) 93  Genealogie: Logik in der Zeit – externe Zeitlichkeit der Logik (Nietzsche) 96

Inhalt

   

XVII

Paradoxie: Zeit in der Logik – interne Zeitlichkeit der Logik 102 (Luhmann) Luhmanns Logik der Paradoxie 107 Nietzsches Umgang mit Paradoxien 113 Theorie als in sich zeitliches Orientierungsinstrument 115

IV Trennung der Orientierungen: Nietzsches und Luhmanns 121 Subjektkritik  Funktion des Subjekt-Begriffs bei Descartes und Kant: Denkbarkeit von Halt in Wissenschaft und Ethik 123  Nietzsches Ersetzung des Subjekt-Begriffs durch den Perspektiven128 Begriff: Denkbarkeit von Halt im Leben  Luhmanns Ersetzung des Subjekt- und des Perspektiven-Begriffs durch den Beobachtungs-Begriff: Denkbarkeit von Halt in der 133 Kommunikation der Gesellschaft  Ersetzung des Subjekt-, Perspektiven- und Beobachtungs-Begriffs durch den Orientierungs-Begriff: Denkbarkeit von Halt überhaupt – 138 auf Zeit V   . .   . . . 

Orientierung an Menschen: Luhmanns und Nietzsches Auflösung der 141 Einheit des Menschen Das Bedürfnis nach einem Wissen vom Menschen und seine Dilemmata 141 144 Luhmanns Auflösung der Einheit des Menschen Dissoziierung des Menschen in drei Systemtypen 145 Dislozierung des Menschen in die Umwelt der Kommunikation der Gesellschaft 148 Das Bedürfnis der Orientierung an Menschen 151 Nietzsches Auflösung der Einheit des Menschen 158 Gegen-Begriff des Übermenschen 160 Dislozierung des Menschen in die Tierwelt 163 Dissoziierung des Menschen in Orientierungstypen 167 Experiment Mensch 169

VI Orientierung an anderer Orientierung: Nietzsche und Luhmann zu den Spielräumen des Verstehens und Missverstehens 173  Verständigung unter Orientierungen 173 . Nietzsches Ideal verständigungsloser Verständigung 175 . Luhmanns Konstruktion der Kommunikation 180 . Orientierung an anderer Orientierung 184

XVIII

 . . . 

. . .

Inhalt

Spielräume der Verständigung: Verstehen, Missverstehen, 186 Andersverstehen Luhmann: Komplexität des Verstehensprozesses 186 Nietzsche: „Tummelplatz des Missverständnisses“ 191 Orientierung am Andersverstehen 194 Verständigung über die Spielräume der Verständigung: Kommunikation über Kommunikation und Nicht196 Kommunikation Nietzsche: Redliche Verständigung im Pathos der Distanz Luhmann: Paradox der Inkommunikabilität der Redlichkeit 199 Levinas: Orientierung von Angesicht zu Angesicht

196 198

VII Orientierungsmittel: Nietzsches und Luhmanns Ein- und Entgrenzung des Wissens 201  Die Wissenden 204 . Willen zur Macht, Willen zum Wissen 204 206 . Beobachtungssysteme . Evolutionäre Orientierungen 208  Das Wissen 210 . Wissen als Bestand und Selektion 210 216 . Wahrheit als Medium, Wissen als Orientierungsmittel . Orientierungssicherheit in souveräner Unwissenheit 218  Spielräume des Wissens der Wissenschaft als 221 Orientierungsmittel . Prämissen 221 . Eingrenzungen 224 . Entgrenzungen 231 VIII Bindungen der Orientierung: Nietzsches und Luhmanns Begrenzung der Moral und Befreiung der Ethik 235  Evolution der Moral 235  Die Not, die Notwendigkeit und die Paradoxie der Moral 238  Kontingentsetzung der Moral 240  Moral als Funktion 246  Gefahren der Moral 250  Die Wertesemantik als Entparadoxierung der Paradoxie der Moral 256  Die höhere Moral der Immoralität 261  Ethik der Distanz 265

Inhalt

XIX

IX Überlegene Orientierung: Nietzsches, Luhmanns und Foucaults 272 Entmoralisierung der Macht und die Kontexte der Demokratie  Situative Macht 272 . Max Webers Bestimmung der Macht 272 . Problematische Wesensbestimmungen der Macht 273 274 . Macht in der Orientierung . Macht der überlegenen Orientierung in Notsituationen 274 275 . Moralische Selbstbindung der Macht in Notsituationen . Moralische Ächtung der Macht in Konkurrenzsituationen 276 . Nietzsches außermoralische Konzeptualisierung der situativen Macht 277 als Wille zur Macht  Organisierte Macht 278 . Enttemporalisierung der situativen zur persönlichen Macht: Vertrauen, 279 Autorität und Gewalt . Entpersonalisierung der persönlichen zur organisierten Macht: Stellen in Organisationen 280 282 . Moralische Ächtung der organisierten Macht . Retemporalisierung und Repersonalisierung der organisierten Macht: Fluktuante Macht 283 . Luhmanns außermoralische Konzeptualisierung der organisierten 284 Macht als formbares Medium  Latente Macht 288 . Vergessen der Macht: Routinen 288 . Unmerkliche Gewalt sozialer Routinen: Macht als anonyme 289 Orientierungsmacht . Spielräume der Orientierung an anderer Orientierung: Neue Retemporalisierung und Repersonalisierung der Macht 290 . Foucaults außermoralische Konzeptualisierung der latenten Macht als Dispositiv 291  Die Machtkontexte der Demokratie 292 . Paradoxierung der Herrschaft in der antiken Demokratie 293 . Autonomisierung der Macht durch ihre moderne Demokratisierung 296 . Einflüsse auf die Demokratisierung der Macht seit dem 19. Jahrhundert 298

XX

X  . . . . .  . . .

Inhalt

Ausgleichende Orientierung: Nietzsches und Luhmanns 302 Kontextualisierungen der Demokratie Demokratisierung als funktionale Differenzierung des Politischen: Entstehung einer Weltgesellschaft 306 Die Unausweichlichkeit der Weltgesellschaft 306 313 Demokratische Neuformierung des Politischen Demokratische Funktionalisierung des Staates im politischen System 318 Demokratie als Umgründung der Politik auf Fluktuationen 324 Demokratisierung des politischen Systems als Steigerung seiner 328 Komplexität Demokratisierung als funktionale Differenzierung des Individuellen: Entstehung einer Schauspielergesellschaft 332 Verflüchtigung der individuellen Verantwortung in demokratischen 335 Gremienentscheidungen Differenzierung und wechselseitige Funktionalisierung 336 orientierungsbedürftiger und orientierender Individuen Generelle wechselseitige Selbstdarstellung der Individuen in der Schauspielergesellschaft 342

XI Sich auszeichnende Orientierung: Persönlichkeit nach Hegel, Rang nach 348 Nietzsche, Reputation nach Luhmann  Alltägliche Rangordnung: Orientierung an herausragenden 348 Personen  Persönlichkeit als Begriff des Begriffs (Hegel) 351  Persönlichkeit als Rang von Philosophen (Nietzsche) 356  Rangordnung als Ordnungsprinzip (Nietzsche vs. Luhmann) 363  Reputation als Rang von Wissenschaftler(inne)n (Luhmann) 368  Auszeichnung als Orientierungsfunktion von Rangordnungen 372 XII Orientierung über Orientierung: Philosophie nach Nietzsche, Luhmann und Derrida 376  Beschreibungen von Beschreibungen der Wirklichkeit: Der Wettbewerb von Philosophie und soziologischer Systemtheorie 377  Luhmann: Ablösung der Philosophie durch soziologische Systemtheorie 380  Nietzsche: Ausdehnung der Philosophie auf Soziologie und ‚große Politik‘ 383  Derrida: Das Recht der Philosophie 388  Das Pathos der Philosophie 391

Inhalt



 

XXI

Ununterscheidbarkeit von Philosophie und soziologischer Systemtheorie als Gesamtbeschreibungen von Beschreibungen der 396 Wirklichkeit Wirkung von Beschreibungen als Orientierungen 399 Schluss: Orientierung als Einheit der Unterscheidung von Luhmanns 400 Theorienähe und Nietzsches Theorieferne

Anhang 403 Nachweise früherer Veröffentlichungen Literaturverzeichnis 404 Schriften Nietzsches und Luhmanns Weitere Quellen 410 Weitere zitierte Literatur 411 429

Personenregister Sachregister

434

403 404

Einleitung 1 Gemeinsame philosophisch-soziologische Grundentscheidungen Nietzsches und Luhmanns Nietzsche hat 1886 neue Vorreden zu seinen früheren Aphorismenbüchern verfasst und dabei deren Sinn neu reflektiert. Er ging nun den persönlichen Bedingungen nach, unter denen er sein Denken entwickeln konnte, und suchte die „Aufgaben“ zu ermitteln, die ihn dabei „mit heimlicher Gewalt“ getrieben hätten. Er begann so: Es ist mir oft genug und immer mit grossem Befremden ausgedrückt worden, dass es etwas Gemeinsames und Auszeichnendes an allen meinen Schriften gäbe, von der „Geburt der Tragödie“ an bis zum letzthin veröffentlichten „Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“ [JGB]: sie enthielten allesammt, hat man mir gesagt, Schlingen und Netze für unvorsichtige Vögel und beinahe eine beständige unvermerkte Aufforderung zur Umkehrung gewohnter Werthschätzungen und geschätzter Gewohnheiten. Wie? Alles nur – menschlich-allzumenschlich? Mit diesem Seufzer komme man aus meinen Schriften heraus, nicht ohne eine Art Scheu und Misstrauen selbst gegen die Moral, ja nicht übel versucht und ermuthigt, einmal den Fürsprecher der schlimmsten Dinge zu machen: wie als ob sie vielleicht nur die bestverleumdeten seien? Man hat meine Schriften eine Schule des Verdachts genannt, noch mehr der Verachtung, glücklicherweise auch des Muthes, ja der Verwegenheit. (MA I Vorrede 1)

Luhmann charakterisierte 1984 in Soziale Systeme den Weg, auf dem er „das Problem der systemkonstituierenden doppelten Kontingenz“ künftig verfolgen wolle, so: Die Theorie, deren Ausarbeitung wir beginnen, ist nicht an Perfektion und Perfektionsmängeln orientiert, sondern an einem wissenschaftsspezifischen Interesse an Auflösung und Rekombination von Erfahrungsgehalten. Sie geht nicht davon aus, daß die Welt „in Ordnung“ ist, aber Mängel aufweist, denen man mit Hilfe von Wissenschaft abhelfen könnte. […] Es geht nicht um ein Anerkennungs- und Heilungsinteresse, auch nicht um ein Bestandserhaltungsinteresse, sondern zunächst und vor allem um ein analytisches Interesse: um ein Durchbrechen des Scheins der Normalität, um ein Absehen von Erfahrungen und Gewohnheiten und in diesem (hier nicht transzendentaltheoretisch gemeinten) Sinne: um phänomenologische Reduktion. Das methodologische Rezept hierfür lautet: Theorien zu suchen, denen es gelingt, Normales für unwahrscheinlich zu erklären. (SS, 162)

Auch Nietzsche hatte schon das Problem der doppelten Kontingenz vor Augen. Beide kannten es unter anderem aus den Erfahrungen mit ihren Veröffentlichungen. Danach bleibt in jeder Kommunikation kontingent, wie Beiträge zu ihr von anderen aufgenommen und beantwortet werden. Da alle das erfahren, stellen

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sie sich darauf ein und suchen unter dem Schein der Normalität mit Scheu und mehr oder weniger wachem Misstrauen zu erraten, in welche Schlingen und Netze sie sich und einander in der Kommunikation verwickeln könnten. Dabei wird jede Erwartung fester, unbedingter Bestände enttäuscht, sei es in Gestalt ontologischer, sei es epistemologischer oder axiologischer oder methodischer Aprioris; sie konnten und können alle bestritten werden. Nietzsche und Luhmann setzten sie schon gar nicht mehr voraus. Sie wollten nicht mehr vermeintliche Seins- oder Wissensbestände erhalten, gewohnten Wertschätzungen weitere Anerkennung verschaffen oder ihnen, wo sie bedroht schienen, wieder aufhelfen. Sie blieben skeptisch gegen eine Moral, die zur Annahme solcher Bestände nötigte. Stattdessen suchten sie die hoch geschätzten Normen und auf ihnen beruhenden Normalitäten zu durchschauen und mit analytischem Interesse und einem tiefen Verdacht gegen die Herrschaft von Moralen über das Denken die Bedingungen der Möglichkeit des scheinbar Normalen zu erschließen und dadurch neue Denk-, Handlungs- und Lebensmöglichkeiten zu entdecken. Beide wagten darin denkbar viel. Sie gingen nicht mehr davon aus, dass die Welt in irgendeiner Weise ‚in Ordnung‘ sei und nur noch in dieser oder jener Richtung verbessert werden müsse. Sie setzten stattdessen darauf, dass alle Ordnungen einmal entstanden waren und wieder zerfallen konnten, dass sie Nöten und Zwängen entsprangen, sich die Welt in irgendeiner Weise zurechtzulegen und erträglich zu machen, und darum unter anderen Nöten und Zwängen wieder obsolet werden konnten. Sie fragten, was solche Ordnungen, so unwahrscheinlich sie waren, wahrscheinlich gemacht haben könnte. Sie machten den Verdacht zur Methode, ohne endgültige Ergebnisse zu erwarten. Sie hatten den Mut zu einem verwegenen experimentellen Denken, das in neuen Erfahrungen, so schwer sie fallen und so folgenreich sie ausfallen mögen, neue Orientierungsmöglichkeiten erkunden will. „Ein experimentelles Verhalten“, sagte Luhmann in einem Interview, „ist grundlegend für mein Denken, sowohl im wissenschaftlichen wie übrigens auch im politischen Sinne“ (Auw, 128). Und Nietzsche hatte geschrieben: „ich mag von allen Dingen und allen Fragen, welche das Experiment nicht zulassen, nichts mehr hören.“ (FW 51) Nach den zitierten Textausschnitten ging Nietzsche seine Denkexperimente bewusst persönlich, Luhmann die seinen bewusst theoretisch an. Für das eine spricht, dass Orientierungsentscheidungen, soweit es sich um Entscheidungen unter Ungewissheit handelt, zuletzt durch persönliche Umstände bedingt sind, für das andere, dass dies für alle gilt und insofern theoriefähig ist. Beides schließt sich darin zusammen, dass Luhmanns Option für die Theorie aus nietzschescher Sicht wiederum persönlich bedingt war: „Es fällt mir schwer“, sagte er, „Wünsche zu haben“ (Auw, 140), „ich tue immer nur das, was mir leichtfällt“ (Auw, 145 f.), und leicht gefallen sei ihm eben die Arbeit an seiner Theorie. Nietzsche dagegen

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musste sich unter schwierigen persönlichen Bedingungen – chronisch krank, ohne festes Amt, heimatlos und einsam – erst zur Wunschlosigkeit seines amor fati durchkämpfen, suchte aber gerade dies für sein Denken fruchtbar zu machen. Beide rangen um Theorie, beide sahen deren Grenzen, zogen sie aber anders. Schließlich stellte sich der eine auf der einen, der andere auf der andern Seite der Grenze auf: Nietzsche distanzierte sich von Theorie, Luhmann hielt sich eng an sie. Die Alternativen schließen, wie sich zeigen wird, einander nicht aus, sie bringen einander in Bewegung. Wenn Luhmann von sich sagte, er wolle gern die biographische Lesart meiner Arbeiten aus den an diese Arbeiten anschließenden Verstehensprozessen heraushalten. Denn wenn jemand das braucht, um zu verstehen, was ich geschrieben habe, dann habe ich schlecht geschrieben (Auw, 19),

so entdeckte der mit Nietzsche gut vertraute Schriftsteller Rainald Goetz eben darin den persönlichen, ja existentiellen Hintergrund von Luhmanns Theorie: Mich ERSCHÜTTERT Luhmanns Totale, immer wieder, und zwar, weil ich finde, daß sie selbst so erschüttert ist. Es gibt in Luhmanns Welt nichts selbstverständlich Gegebenes. ALLES könnte auch ANDERS sein. Jedes letzte kleine Detail bebt von der Möglichkeit her, so unwahrscheinlich zu sein, dass es auch NICHT sein könnte. Deshalb lese ich in Luhmanns Darstellungen des Bestehenden ein ganz schweres Aufatmen mit, daß die Welt eben NICHT nicht ist, wie es ja viel wahrscheinlicher wäre, sondern eben genau so ist, wie sie ist. Bloß hat sich Luhmann angenehmerweise nie dafür interessiert, aus dem seinem Denken zugrunde liegenden existentiellen Beben eine Nummer zu machen, einen Auftritt. Im Gegenteil, als feiner, höflicher Mensch geht er über diese hochdramatische Basis seiner Theorie so unspektakulär wie möglich immer wieder hinweg. Und das auch nicht aus einem heroischen Entschluß heraus, sondern einfach, weil es Wichtigeres zu tun gibt, als in diesen fast schon privaten motivischen Momenten sich zu verlieren, nämlich eben diese Darstellung der Rekonstruktion der Gesellschaft zu leisten, die, mehr noch als er selber, seine Theorie vor Augen hat und vorführt. Und interessanterweise gibt es ja wirklich KEINEN einzigen anderen Denker, der ihm bei dieser Arbeit hilft.¹

Nietzsche, der „aus dem seinem Denken zugrunde liegenden existentiellen Beben eine Nummer, einen Auftritt“ machte wie kein anderer, könnte EINER sein, der diese Arbeit immerhin zu verstehen hilft – aus dem, was sie ausschließen will. Das wäre wiederum eine Denkfigur, die sich durch Luhmanns ganzes Werk zieht. Wir lassen alles Allzupersönliche zurück und setzen mit folgender These ein: So wie sich mit Luhmann Nietzsches Denken in eine Theorie für das 21. Jahrhundert umsetzen lässt, kann Nietzsches Denken deutlich machen, was Luhmann mit seiner soziologischen Systemtheorie philosophisch ins Werk setzte. Luhmanns Theorie-

 Goetz, Abfall für alle, .

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nähe und Nietzsches Theorieferne sind philosophisch mit Luhmanns Begriff funktionsäquivalent. Lockerer formuliert hilft es, durch Nietzsches Denken trainiert zu sein, um sich philosophisch auf Luhmann einzulassen, und andererseits Luhmanns soziologische Systemtheorie zu studieren, um Nietzsches Philosophie für das 21. Jahrhundert fit zu machen. Man erkennt dann folgende gemeinsame philosophisch-soziologische Grundentscheidungen Nietzsches und Luhmanns:

1.1 Methodischer Immoralismus Am offenkundigsten teilen Nietzsche und Luhmann den Willen, ihr Denken nicht von ‚moralischen Vorurteilen‘, wie Nietzsche sie nannte, leiten zu lassen. Nach Descartes’ methodischem Zweifel an der Wahrheit der Wissenschaften strengten sie einen methodischen Zweifel an der Moralität der Moral an. Beide sahen, dass Moral nicht erst das Verhalten, sondern schon das Denken normiert. Am engsten werden die moralischen Grenzen des Denkens in Bezug auf die Moral selbst; sie lassen es als selbstverständlich erscheinen, „daß es gut sei, zwischen gut und schlecht oder zwischen gut und böse zu unterscheiden“ (GG, 1040). So verdeckt Moral ihre eigenen Entstehungsbedingungen und Wirkungsweisen. Man sieht nicht mehr, was ist, sondern was sein soll. Nietzsche und Luhmann machten große Anstrengungen, um den philosophischen bzw. soziologischen Blick freizubekommen. Nietzsche widmete dem vor allem seine Abhandlungen Zur Genealogie der Moral, in denen er der Moral ihre eigene Immoralität nachzuweisen und sie so durch sich selbst aufzuheben suchte; Luhmann ging in seiner Soziologie der Moral schon von der Immoralität der Moral aus. Nietzsche wollte damit auf „geistige Freiheit“ überhaupt (MA II, WS 55 u. ö.), Luhmann auf die „höhere Amoralität“ (GG, 751 u. ö.) der Funktionssysteme der Gesellschaft hinaus, er hatte eine „moralfreie Theorie [auch] der Moral“ im Auge (MorG, 58). Nietzsche sah jedoch, dass die Wissenschaft als solche schon Moral voraussetzt, die Moral der Selbstlosigkeit, nach der nicht nur dem Guten verpflichtete Menschen, sondern auch der Wahrheit verpflichtete Wissenschaftler von ihren eigenen Belangen abzusehen haben; sofern ihnen das selbstverständlich geworden ist, sind auch sie „noch fromm“ (FW 344). Dieser Frömmigkeit setzte Nietzsche die ‚Fröhlichkeit‘ seiner Wissenschaft entgegen: Sie überschreitet die Grenzen der Wissenschaft, um die Bedingungen ihrer Möglichkeit sehen zu können. So entzieht sich die ‚fröhliche Wissenschaft‘ der moralischen Disziplin der Wissenschaft. Bei Luhmann, der sich auch mit seiner Wissenschaftssoziologie in den – nun sehr erweiterten – Grenzen der Wissenschaft hielt, blieb davon der Grundton fröhlicher Selbstironie: Er nahm sich, kaum unterscheidbar, selbst zugleich ernst und nicht ernst, also nie ganz ernst und sagte das auch.

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Soweit wir wissen, waren beide, Nietzsche und Luhmann, auf ihre je eigene Art hochanständige Menschen. Das machte ihnen den methodischen Immoralismus zugleich schwer und leicht. Luhmann hat darüber nicht gesprochen, Nietzsche schon. Moralischen Menschen fällt der methodische Immoralismus schwer, weil eine solche „feinere Immoralität einem noch kräftigen und herzhaften Gewissen Noth und Überdruss“ macht (JGB 23) und solche Immoralisten ebenfalls „‚Menschen der Pflicht‘“ sind (JGB 226). Er fällt ihnen leicht, weil solche Menschen nicht befürchten müssen und nicht verdächtigt werden, moralische Maßstäbe um eigener Vorteile willen zu verletzen. Luhmann sagte einmal selbstironisch: „Das kann eine Marotte von mir sein, das Moralische runterzuspielen, oder auch nicht.“ (Auw, 123) Nietzsche und Luhmann waren bereit, für ihren methodischen Immoralismus viel zu „riskiren“,² und ihr Werk ist denn auch bis heute heftigen moralischen Anfeindungen ausgesetzt.

1.2 Reflektierter Realismus der Beobachtbarkeit Nach dem aktuellen Begriff, den auch Nietzsche schon gebrauchte (AC 32), waren er und Luhmann ‚Anti-Realisten‘. Sie setzten, was sich in der Philosophie der Moderne lange angebahnt hatte, keine Realität ‚an sich‘ mehr voraus, die von den Zugängen zu ihr unabhängig wäre. Das machte einen Realismus anderer, komplexerer Art möglich – die ‚Realität‘ nicht mehr in etwas Vorgegebenem zu suchen, sondern in diesem Suchen selbst, der Suche nach Halt in der jeweiligen Orientierung, den sie, wenn sie ihn einmal gefunden zu haben glaubt, für ‚Realität‘ hält. Ein solcher reflektierter Realismus ist ein Anti-Idealismus: Er will die für jedes menschliche Leben notwendigen Fiktionen und Illusionen durchschauen, zu denen die spontane Suche nach Halt drängt. Darin führt er die Aufklärung fort, nun aber ohne die Voraussetzung, an der die Aufklärung der frühen Moderne noch festgehalten hatte, den Glauben an eine vorgegebene und allen gemeinsame Vernunft. Insofern zielt er auf eine „Abklärung der Aufklärung“ (SA, 66). Nietzsche brachte den reflektierten Realismus auf den Begriff des Perspektivismus (FW 354) – eine Perspektive zeigt eine zurechtgelegte ‚Realität‘, ist dabei selbst real, ohne diese Realität beobachten zu können –, Luhmann in eben diesem Sinn auf den Begriff des Konstruktivismus, der betont, dass man in seinen realen Konstruktionen der vermeintlichen ‚Realität‘ dann um deren Konstruktivität wissen kann, wenn man geeignete Unterscheidungstechniken – eine ‚Beobachtung zweiter

 NL , [], KSA ./KGW IX/, W II , .

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Ordnung‘ – dafür entwickelt.³ Der „Realismus des Konstruktivismus“ steht, so Luhmann, „auf sicheren Beinen“: „Die Frage ist dann nur: wie real operierende Systeme sich faktisch so weit gegen ihre Umwelt abschließen können, daß es ihnen möglich ist, sich nur an ihren eigenen Konstruktionen zu orientieren“ (SozA 5, Vorwort, 9 f.). Ein solcher reflektierter, auf Gewissheiten jenseits seiner eigenen Operationen verzichtender Realismus werde „überwiegend noch als zu schockierend abgelehnt“ (EpK, 37). Soweit sich auch die Philosophie davon schockieren lasse, die doch am ehesten für ihn offen sein könnte, sei sie „in eine wissenschaftliche Randposition, wenn nicht Isolierung geraten“ (EpK, 37). Nietzsches Perspektivismus führt Luhmann hier – ausnahmsweise – als „Ausweg“ an; er müsse jedoch, weil er noch zu sehr an Persönliches anknüpfe, konstruktivistisch „radikalisiert“ werden (EpK, 50). Nietzsche und Luhmann setzten auch nicht die Realität eines an sich bestehenden und a priori vorzugebenden ‚transzendentalen‘ Allgemeinen voraus. Sie verzichteten beide ausdrücklich auf die Unterscheidung transzendental/empirisch, die schon Kant nicht mehr ontologisch, sondern hypothetisch und konditional eingeführt hatte: Wenn man von Allgemeingültigkeit, Objektivität sprechen will, dann muss man transzendentale ‚Grundsätze‘ annehmen. Nietzsche und Luhmann arbeiteten stattdessen mit einer „vernatürlich[t]en“ (FW 109) oder „naturalistischen Epistemologie“ (SS, 10), die alle Erkenntnis von ‚natürlichen‘ im Sinn von kontingenten, nicht apriorischen Bedingungen abhängig macht. Sie verzichteten auch auf die alte griechische Unterscheidung von Denken und Wahrnehmen, auf der auch die Unterscheidung transzendental/empirisch noch beruht. Man hatte, um Metaphysik und Ontologie, später Transzendentalphilosophie und eine allgemeingültige Moral denkbar zu machen, das, was man dann ‚Denken‘ (lógos) nannte und das allen gleich zu Gebote stehen und für alle gleich gültig sein sollte, von der Wahrnehmung abgelöst, die offenkundig für jeden anders ausfallen kann. Doch Denken und Wahrnehmen lassen sich nur analytisch, nicht phänomenologisch trennen; wenn Kant sie noch trennte, gestand er zugleich ihre Untrennbarkeit ein („Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind“, KrV, A 51/B 75) und paradoxierte so die Unterscheidung. Das 19. Jahrhundert folgte dem durch Freilegung vielfacher physiologischer, psychologischer, historischer und kultureller Abhängigkeiten des Denkens, die Unterscheidung erodierte. Nietzsche gab sie vollends auf, Luhmann ersetzte sie durch den Begriff der Beobachtung. Mit ihm rekurrierte er nicht mehr auf scheinbar getrennt vorgegebene ‚Erkenntnisquellen‘, sondern fasste die Beob-

 Zu Luhmanns Einordnung und Nichteinordnung in die Bewegung des Konstruktivismus vgl. Scheffer, Art. Konstruktivismus.

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achtung als bloße ‚Operation‘ der Unterscheidung und Bezeichnung in der Kommunikation: Eine Beobachtung stellt ‚etwas‘, d. h. etwas Unterschiedenes und nach der jeweiligen Unterscheidung Bezeichnetes, zur Kommunikation oder, mit Nietzsches Begriff, zur „Mittheilung“ (FW 354) bereit (ob sie dann tatsächlich kommuniziert wird oder nicht). Nach Nietzsches Perspektivismus bzw. Luhmanns Konstruktivismus ‚gibt es‘ genau das, was auf diese Weise unterschieden und bezeichnet und gegebenenfalls mitgeteilt wird. So wird aus dem reflektierten Realismus ein Realismus der Beobachtbarkeit. Er schließt auch die Beobachtung der Beobachtungen selbst ein. Beobachtungen sind dann real, wenn sie sich beobachten lassen.

1.3 Steigerung der Komplexität in Selbst- und Fremdbezügen der Beobachtung Mit dem Beobachten des Beobachtens steigert sich die Komplexität des Beobachtens. Man sieht dann mehr, nämlich auch das, was andere nicht sehen, und das, was man selbst nicht sieht, wenn man andere dabei beobachtet, wie sie einen selbst beobachten. Die komplexe Beobachtung von Beobachtungen hatte Leibniz vorgedacht, er freilich noch unter der Voraussetzung eines göttlichen Beobachters und der von ihm ‚prästabilierten‘, im Voraus eingerichteten ‚Harmonie‘ aller Beobachtungen. Verzichtet man auch auf diese Voraussetzung, kann keine Beobachtung ihre Richtigkeit mehr garantieren, auch nicht die Beobachtung ihrer selbst. Ging Descartes noch von einem reinen Selbstbezug des Bewusstseins und seines Denkens aus, um in ihm eine unerschütterliche Gewissheit zu postulieren und ihn dann in alter Weise zu substantialisieren, so Nietzsche und Luhmann nun davon, dass Beobachtung seiner selbst nur auf dem Weg über die Beobachtung der Beobachtungen anderer möglich ist („Wir sind uns unbekannt, wir Erkennenden, wir uns selbst“; GM Vorrede 1). Selbstbezüge laufen über Fremdbezüge und Fremdbezüge über Selbstbezüge: Eine Beobachtung muss sich, um anderes unterscheiden zu können, dabei selbst von diesem Anderen unterscheiden können. Selbstbezüge aber lösen von unmittelbaren Bindungen an scheinbare Vorgegebenheiten, machen autonom. Weiterhin abhängig von vielfältigen Bedingungen, befreien Selbstbezüge zugleich zu unabhängigen Entscheidungen darüber, auf welche Fremdbezüge sie sich ausrichten, woran sie sich halten oder orientieren und auf welche Art und in welchem Maß sie sich daran binden wollen. Durch die Möglichkeit solcher Differenzierungen steigert sich die Komplexität der Orientierung weiter. In ihrer Angewiesenheit auf Fremdbezüge bleiben Selbstbezüge auch nicht leer, sondern reichern sich laufend mit neu beobachteter ‚Realität‘ an, ‚überwinden‘ sich in Nietzsches Sprache unablässig selbst, ohne die Überwindung gezielt zu steuern: Sie evoluieren.

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1.4 Entscheidung für Evolution und Funktionalität Aristoteles hatte seinen Begriff des Begriffs und seine Ontologie der Substanz noch auf die Beobachtung der Konstanz biologischer Arten gestützt, die in vergleichsweise kleinen Zeiträumen auch plausibel war. In hinreichend großen Zeiträumen, für die man sich erst in der Moderne zu öffnen begann, wird jedoch ein ständiger Wandel biologischer Arten beobachtet. Bezieht man darin „das Thier Mensch“ (GM III 28) ein, wird jede Annahme von ewigem Allgemeinem unrealistisch: Auch alles Allgemeine muss in Evolution und darum aus seiner zeitlich wechselnden Konstruktion verstanden werden. Nietzsche und Luhmann haben entschieden an die Evolutionstheorie angeschlossen, wenn auch, aus unterschiedlichen Gründen, nicht vorbehaltlos in ihrer darwinschen Gestalt. Sie stellten im Ganzen von Zeitlosigkeit auf Zeitlichkeit, von Substanz auf Funktion um, bezogen darin auch den Begriff des Begriffs ein. Er wird dann von der Operation der Unterscheidung her gedacht: Ein Begriff, stets die eine Seite einer Unterscheidung, der eine andere gegenübersteht, wird entschieden mit der Wahl einer Unterscheidung und dann der Wahl einer Seite der Unterscheidung. Evolution ist eine Kette kontingenter Selektionen oder Entscheidungen unter Variationen, die Evolution von Begriffen dann eine Kette kontingenter Entscheidungen für Unterscheidungen. Beim Begriff der Wahrheit z. B. kommt so auch die Unwahrheit als wählbare Alternative in Sicht: „Gesetzt, wir wollen Wahrheit: warum nicht lieber Unwahrheit? Und Ungewissheit? Selbst Unwissenheit?“ (JGB 1), heißt es bei Nietzsche und bei Luhmann: „Gibt es eigentlich eine Präferenz für den positiven und gegen den negativen Wert, für Wahrheit und gegen Unwahrheit, wenn zugleich akzeptiert werden muß, daß es falsch sein kann, etwas als wahr zu bezeichnen, und richtig sein kann, etwas als unwahr zu bezeichnen?“ (WissG, 200) Durch den Ansatz bei der Selektion oder der Entscheidung wird die Erwartung von alternativlos Realem und Wahrem verunsichert, und es tun sich wechselnde alternative Möglichkeiten auf. Der Sinn von Begriffen liegt dann nicht mehr nur in der Feststellung, sondern zugleich in der Möglichkeit der Umstellung: Sie können alternative Funktionen erfüllen. Nietzsche verband sie darin mit dem Macht-Begriff und den Macht-Begriff mit dem Interpretationsbegriff: alle Zwecke, alle Nützlichkeiten sind nur Anzeichen davon, dass ein Wille zur Macht über etwas weniger Mächtiges Herr geworden ist und ihm von sich aus den Sinn einer Funktion aufgeprägt hat; und die ganze Geschichte eines „Dings“, eines Organs, eines Brauchs kann dergestalt eine fortgesetzte Zeichen-Kette von immer neuen Interpretationen und Zurechtmachungen sein, deren Ursachen selbst unter sich nicht im Zusammenhange zu sein brauchen, vielmehr unter Umständen sich bloss zufällig hinter einander folgen und ablösen. (GM II 12)

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Wir werden uns an diesem Passus immer wieder orientieren. Luhmann rückte den Funktionsbegriff ins Zentrum und konnte Nietzsches Text dadurch stark abkürzen: Funktionen sind „Gesichtspunkte für die Beurteilung der Äquivalenz verschiedener Problemlösungen“ (ZuS, 120). Als Begriff dessen, womit und worin sich die Evolution, einschließlich der Evolution von Unterscheidungen vollzieht, gebrauchte Nietzsche noch den des Lebens. Leben kann, jedenfalls von Lebenden, nicht geleugnet werden, so wenig wie nach Descartes das Denken von Denkenden. Der Begriff des Lebens greift aber über den des Denkens hinaus und lässt auch nach dessen Funktion für das Leben fragen, erweitert also den philosophischen Fragehorizont. So machte er in der sogenannten Lebensphilosophie um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eine steile Karriere. Er ist dann selbst aber nur noch selbstbezüglich zu bestimmen, ist der Begriff eines Ganzen, das keinen Gegensatz hat (auch nicht den des Todes, denn Leben, wenn es nicht auf einzelne Lebewesen beschränkt wird, schließt deren Tod ein). So lässt er sich nicht abgrenzen. Nietzsche hat ‚Leben‘ denn auch nicht letztlich und eindeutig definiert, sondern dem Begriff selbst ‚lebendig‘ gehalten, indem er ihn immer wieder neu bestimmte. Luhmann hat dagegen solche gegensatzlosen und damit unabgrenzbaren Begriffe vermieden. Er ersetzte sie durch den Begriff der „haltlosen Komplexität“ (HK). ‚Komplexität‘ setzt kein Ganzes, keine Einheit und auch keine „Letztelemente“ voraus, sondern zeigt nur die „Verknüpfbarkeit“ (HK, 62) von Unterscheidungen an, eine wiederum ‚lebendige‘, d. h. nicht schon festgelegte und immer wieder überraschende Verknüpfbarkeit all dessen, was sich unterscheiden lässt. Für die Verknüpfung als solche verwandte Luhmann gelegentlich den Begriff der „Komplexierung“ (SS, 406), der wie ‚Leben‘ bei Nietzsche „Kontingenz“ und damit die Austauschbarkeit oder „Substitutionsmöglichkeit“ aller Verknüpfungen oder wiederum „Selektion“, also Evolution zulässt (HK, 65 f.).

1.5 Wertentscheidungen in asymmetrischen Unterscheidungen Mit dem Ansatz bei den Alternativen eröffnenden Unterscheidungen wird auch sichtbar, wodurch Unterscheidungen in der Orientierung Halt geben. Das tun sie dann, wenn sie asymmetrisch angelegt sind, wenn mit dem Gebrauch einer Unterscheidung schon klar ist, welche Seite der anderen vorzuziehen ist – z. B. Wahrheit der Unwahrheit, Gewissheit der Ungewissheit,Wissen der Unwissenheit. Man weiß dann schon, an welche Seite der Unterscheidung man ‚sich zu halten‘ hat, nämlich an den ‚positiven‘ und nicht an den ‚negativen‘ Wert; der ‚positive‘ Wert der Unterscheidung ist dann zugleich der ‚höhere‘ Wert. Mit dem ‚negativen‘ Wert dagegen droht Haltlosigkeit, Desorientierung. Nietzsche erwartete von Phi-

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losophen, Luhmann von Soziologen, dass sie das Experiment wagen und in ihrem Denken jeweils auch die negative Seite gerade der selbstverständlich gewordenen Unterscheidungen erproben. Durch „das freiwillige Aufsuchen {auch der} der furchtbaren verwünschten u. verruchten Seiten des Daseins“ werden, notierte Nietzsche, „{versuchsweise selbst die} Möglichkeit{en} des grundsätzlichsten Nihilismus selbst vorweg“ genommen.⁴ Denn nichts anderes bedeutet die ‚Entwertung von Werten‘ und, wenn es sich um philosophische Grundentscheidungen handelt, die Entwertung der „obersten Werthe“.⁵ Luhmann hat hier schlicht von „Asymmetrisierungen“ und „Re-Symmetrisierungen“ (SS, 177 u. ö.) von Unterscheidungen gesprochen. Er gebrauchte „‚Asymmetrisierung‘“ jedoch ebenfalls als „Grundbegriff: Er soll besagen, daß ein System zur Ermöglichung seiner Operationen Bezugspunkte wählt, die in diesen Operationen nicht mehr in Frage gestellt werden, sondern als gegeben hingenommen werden müssen“ (SS, 631). Es kann dann aber „fürs Beobachten erforderlich“ werden (GG, 50), Asymmetrisierungen zurückzunehmen, was dann wieder nur durch Unterscheidungen möglich ist, die ihrerseits asymmetrisiert und wieder re-symmetrisiert, in Nietzsches Sprache also umgewertet werden können. Re-symmetrisierungen sind im evolutionären Unterscheidungsprozess „nie endgültig“, sondern können „allenfalls vorläufig blockieren“ (WissG, 296).

1.6 Paradoxien als Denkmittel Die Zeit war seit den frühgriechischen Philosophen die Quelle aller Paradoxien: Dachte man das Sein und das Denken als zeitlos, schloss also die Zeit aus ihnen aus, konnte man das Sein der Zeit selbst nicht denken – und dennoch nicht leugnen, dass es die Zeit ist, in der sich das Denken vollzieht, in der es immer wieder beginnt und endet. Bestimmt man die Zeit als das bloße Jetzt und dies als Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft, so ist das Jetzt nach Aristoteles immer dasselbe und zugleich immer ein anderes und damit wieder paradox. Die Paradoxie der Zeit ist in der Zeit nicht zu beseitigen, nur zu verschieben. Aber Paradoxien sind für das Denken unerträglich und müssen entparadoxiert werden durch Begriffe, die sie unsichtbar machen, invisibilisieren, bis dann auch in ihnen Paradoxien auffallen: So geschah es schon in der Antike mit dem Begriff der Bewegung und im 19. Jahrhundert mit dem Begriff der scheinbar zeitlosen Substanz, die sich dann doch als zeitlich erwies.Will man die Evolution nicht leugnen,

 NL , [], KSA ./KGW IX/, W II , .  NL , [], KSA ./KGW IX/, W II , .

1 Gemeinsame philosophisch-soziologische Grundentscheidungen

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bleibt nur, sich der Paradoxierung durch die Zeit zu stellen. Aristoteles hatte auch in infiniten Regressen Zeichen des Falschen gesehen und aus dem Denken ausgeschlossen; in der Moderne hatte man sie erfolgreich für die Infinitesimalrechnung genutzt. Luhmann erkannte auch in Paradoxien statt einer bloßen Denkblockade ein Denkmittel. Dies dürfte aus philosophischer Sicht sein mutigster Schritt gewesen sein – und eben hier erkannte er Nietzsche auch ausdrücklich als Vorgänger an. Nietzsche seinerseits sagte von sich „ich bin Dynamit“ (EH Schicksal 1), und inzwischen nennt man eine Logik, die Paradoxien nicht mehr wegzuargumentieren, sondern produktiv mit ihnen zu arbeiten versucht, ‚explosive Logik‘.

1.7 Entscheidung für Entscheidbarkeit Paradoxien erzeugen wiederum logische Alternativen, zwischen denen man nicht mehr logisch entscheiden kann (wer sagt ‚ich lüge‘, lügt und lügt zugleich nicht). Sich für Paradoxien als Denkmittel zu entscheiden, heißt deshalb wiederum, sich für Entscheidbarkeit zu entscheiden – ebenso wie im Fall der Entscheidung für Beobachtbarkeit, für wechselnde Fremdbezüge der selbstbezüglichen Beobachtung und für Evolution und Funktionalität. Die Entscheidung für Entscheidbarkeit aber ermöglicht, in der Orientierung beides zugleich denkbar zu machen, Halt und Haltlosigkeit, sich wechselnd für das eine oder andere zu entscheiden und schließlich – paradox – sich an die Haltlosigkeit selbst zu halten, sich also im Nihilismus zu orientieren. Die alltägliche Erfahrung ist, dass das geht. Die philosophisch-soziologische Frage ist, wie es geht. Mit Nietzsche und Luhmann könnte es gehen.⁶

 Welche massiven Widerstände es nach wie vor gibt, mit ihnen mitzugehen, stellt, was Luhmanns Systemtheorie betrifft, Krause, Luhmann-Lexikon,  – , in einem knappen Überblick zusammen. Zu den notorisch divergierenden „Lesarten der Philosophie Nietzsches“ liegt seit  ein tief dringender Forschungsbericht von Alfons Reckermann vor, allerdings nur für die französische, italienische und anglo-amerikanische Nietzsche-Forschung (Reckermann, Lesarten der Philosophie Nietzsches). Aber gerade die deutsche Nietzsche-Forschung hat sich weit zu den genannten philosophischen Grundentscheidungen vorgewagt (vgl. Stegmaier, Nietzsche seit  Jahren). Zum aktuellen Stand der Hauptprobleme der internationalen Nietzsche-Forschung – was ist aus dem ‚Nihilismus‘, aus dem ‚Wert der Wahrheit‘, aus Nietzsches Moral-Kritik und seinen Anstößen zu einer neuen Moral, aus Nietzsches Religions-Kritik, aus seinem ‚Problem der Rangordnung‘, aus seinen Hoffnungen auf die Philosophie, aus seinem Ideal des ‚guten Europäers‘ und aus Nietzsches Denken der Zeit geworden? – vgl. die Debatten in: Stegmaier (Hg.), Nietzsches Zukunft in der Gegenwart. Grundfragen der Nietzsche-Forschung. – Das aktuelle Spektrum des Begriffs der Entscheidung umreißt philosophisch aufschlussreich und unter Angabe

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2 Luhmanns eigene Bezüge und Nichtbezüge auf Nietzsche Luhmann hätte, wenn die These der Konvergenz seiner philosophisch-soziologischen Grundentscheidungen mit denen Nietzsches zutrifft, unzählige Gelegenheiten gehabt, in seinem Werk direkt an Nietzsche anzuschließen, sei es affirmativ oder kritisch. Und dies über die Grundentscheidungen hinaus: Denn beide deckten das thematische Feld der Philosophie bzw. Soziologie denkbar weit ab.⁷ Genutzt hat Luhmann nur sehr wenige Gelegenheiten und diese nahezu stereotyp. Greifen wir beispielhaft einige Anschlussmöglichkeiten im Gang seines Werkes heraus, die sich besonders aufdrängen und auf die wir in den folgenden Kapiteln teilweise näher eingehen. In Grundrechte als Institutionen (1965) nahm Luhmann mit seiner Soziologie das Programm von Nietzsches „freien, sehr freien Geistern“ (JGB 44) auf: Die Soziologie sei bemüht, von den Realitätsverzeichnungen freizukommen, die in den teleologischen, wertmäßigen oder normativen Perspektiven des Handelns begründet sind. Nicht von Werten schlechthin macht sie sich frei, wie die unselige Formel [Max Webers] von der Wertfreiheit zu sagen versuchte, sondern von der Enge des Aktionshorizontes mit seinen gebundenen Orientierungen und seiner eigentümlichen Rechtfertigungslogik. (GI, 202)

Man könne, fuhr Luhmann ganz im Sinn von Nietzsches Aufforderung, „sich gerade die Verschiedenheit der Perspektiven und der Affekt-Interpretationen für die Erkenntnis nutzbar zu machen“ (GM III 12), fort, im Bewußtsein der Auswechselbarkeit der Perspektiven und der Mehrheit möglicher Systemreferenzen leben und handeln. Eine solche letzte Freiheit zu anderen Möglichkeiten ist unter den Denkvoraussetzungen der ontologischen Metaphysik, welche die Wahrheit des Seienden gerade im Ausschluß anderer Möglichkeiten suchte, nicht vorstellbar. (GI, 213)

der wichtigsten Literatur Hübner, Art. Entscheidung. Der Artikel behält sowohl die Ungewissheit von Entscheidungen als auch die Entscheidbarkeit des Begriffs der Entscheidung selbst im Blick. Dennoch sucht Hübner einen letzten Halt der Entscheidbarkeit in Normativität, die heute ihrerseits als entscheidbar erkennbar ist. Nietzsche und Luhmann berücksichtigt er nicht. – Im Folgenden konzentriere ich mich darauf, Funktionsäquivalenzen zwischen Nietzsches und Luhmanns Denken herauszuarbeiten, und verzichte auf Auseinandersetzungen mit Beiträgen, in denen Nietzsches und Luhmanns philosophisch-soziologische Grundentscheidungen lediglich abgewehrt wurden, um an scheinbaren Sicherheiten, die Nietzsche und Luhmann fragwürdig gemacht haben, festhalten zu können.  Entsprechend lebhaft wurde Nietzsche in der Soziologie rezipiert. Die Bezüge sind kaum zu übersehen. Vgl. u. a. Baier, Die Gesellschaft; Lichtblau, Nietzsche und die Soziologie; Piazzesi, Nietzsche und die Soziologie und Ökonomie; Günther/Holzer/Müller (Hg.), Zur Genealogie des Zivilisationsprozesses.

2 Luhmanns eigene Bezüge und Nichtbezüge auf Nietzsche

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Zweckbegriff und Systemrationalität von 1968, die Schrift, die Luhmann weithin bekannt machte, liest sich wie die Erfüllung eines schon von Nietzsche benannten Desiderats: „Man bedarf noch einer Kritik des Begriffs ‚Zweck‘.“ (FW 360) In seinem Aufsatz Komplexität und Demokratie von 1971 pflichtete Luhmann Nietzsches Vision bei, daß die heutige Gesellschaft und in ihr alle einzelnen Sozialsysteme den Menschen in die Lage versetzen, eine unendlich offene, äußerst komplexe und ontisch letztlich unbestimmte (kontingente) Welt zu entwerfen, auszuhalten und als Grundlage allen selektiven Erlebens und Handelns, als „Woraus“ kontingenter Wahl zu benutzen. (KuD, 37)

In Das Phänomen des Gewissens und die normative Selbstbestimmung der Persönlichkeit von 1973 betonte er die „Gefährlichkeit von Moralisierungen“ für die neuen Freiheiten in „unserer Moraltradition“ (PGP, 240), die Nietzsche durchgehend beschäftigt hat. In seinem weiteren Werk kam er immer wieder darauf zurück, ohne dabei je Nietzsche zu nennen. Etwa in Ethik als Reflexionstheorie der Moral (1989): „Der Verdacht, die Ethik könnte als Verschleierung von Strukturproblemen der Gesellschaft dienen, erschließt zahlreiche Forschungsfelder.“ (ERM, 443) Die Ethik habe, so Luhmann in Die Moral des Risikos und das Risiko der Moral (1993), „nie recht begriffen, daß es zu ihrer Aufgabe gehören könnte, vor Moral zu warnen“ (MRRM, 372). Auch für das „Standardwissen der modernen Gesellschaft, daß Fremdzwänge in hohem Maße durch Selbstzwänge ersetzt und verdrängt sind“ (MdS, 120 f.), zog Luhmann in Metamorphosen des Staates (1995) Freud, nicht Nietzsche und seine GM heran, deren Zweite Abhandlung davon ausführlich handelt, in Politik, Demokratie, Moral (1997) auch nicht dafür, dass die Unterscheidung von Gut und Böse nicht selbst schon gut ist (PDM, 177), den Gegenstand der Ersten Abhandlung von Nietzsches Zur Genealogie der Moral. Und auch dafür, dass es „vergeblich gewesen zu sein [scheint], daß die Philosophie gegen den in ihre ontologische Tradition eingebauten Humanismus protestiert hat“ (TüS, 158), berief sich Luhmann in Die Tücke des Subjekts und die Frage nach dem Menschen (1994) nicht auf Nietzsche, der hier der Erste, Entschiedenste und Wichtigste gewesen wäre, sondern auf Husserl, Heidegger und Derrida. Auf das Hauptproblem von Soziale Systeme (1984), die doppelte Kontingenz der Kommunikation, einschließlich der Kommunikation von Theorien der Kommunikation, hat Nietzsche in JGB aufmerksam gemacht. Danach gehört es, in Luhmanns Sprache, zu den schlimmsten Eigenschaften unserer Sprache (und die Gesamtdarstellung der Systemtheorie in diesem Buche ist aus diesem Grunde inadäquat, ja irreführend), die Prädikation auf Satzsubjekte zu erzwingen und so die Vorstellung zu suggerieren und schließlich die alte Denkgewohnheit immer wieder einzuschleifen, daß es um „Dinge“ gehe, denen ir-

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gendwelche Eigenschaften, Beziehungen, Aktivitäten oder Betroffenheiten zugeschrieben werden. (SS, 115)

Nietzsche sprach hier von einer „Fälschung des Thatbestandes“ (JGB 17) und vom „Bann bestimmter grammatischer Funktionen“ (JGB 20). Es sei darum „schwer“, einerseits sich verständlich zu machen, andererseits verstanden zu werden. Man bewege sich in einem „Spielraum und Tummelplatz des Missverständnisses“, worüber man mitunter „zu lachen“ habe (JGB 27). Bei Luhmann heißt es dann: „Dabei schließt Verstehen mehr oder weniger weitgehende Mißverständnisse als normal ein“ (SS, 196, vgl. 217). Später, in Die Realität der Massenmedien (1996), bringt er das auf die witzige Formel „Verstehen ist praktisch immer ein Mißverstehen ohne Verstehen des Miß.“ (RdM, 173) Den tieferen Grund dafür, in Nietzsches berühmter Wendung „Die Form ist flüssig, der ‚Sinn‘ ist es noch mehr …“ (GM II 12), beschrieb Luhmann als „Vorgang der laufenden Formveränderung von Sinnmaterialien“ (SS, 205). Dabei machten beide, Nietzsche und Luhmann, das Bewusstsein zur Funktion der Kommunikation. Hieß es bei Nietzsche nüchtern wissenschaftlich, „die Feinheit und Stärke des Bewusstseins“ stehe „immer im Verhältniss zur Mittheilungs-Fähigkeit eines Menschen (oder Thiers)“ (FW 354), so wurde in Luhmanns Vortrag Was ist Kommunikation? von 1986 daraus die für ihn ungewohnt poetische Formulierung „wie sehr das eigene Bewußtsein wie ein Irrlicht auf den Worten herumtanzt“ oder die ungewohnt geheimnisvolle Rede von der „eigentümlich-hintergründigen Tiefe der Bewußtseinsaktualität, auf der die Worte wie Schiffchen schwimmen, aneinandergekettet, aber ohne selbst das Bewußtsein zu sein: irgendwie beleuchtet, aber nicht das Licht selbst“ (WiK, 123). Und wenn bei Nietzsche in JGB 268 von der „Gewalt“ der Sprache über das Bewusstsein die Rede war, so hieß es bei Luhmann: „Das Bewußtsein, was immer es sich bei sich selbst denkt, [wird] von der Kommunikation in eine Situation des forced choice manövriert – oder so jedenfalls sieht es von der Kommunikation her gesehen aus.“ (WiK, 124) In Die Wissenschaft der Gesellschaft von 1990 wurde daraus die Theorie der „Co-Evolution von Kommunikation und Bewußtsein“ (WissG, 45). Auch Nietzsches Bild von den Schatten des toten Gottes in FW 108 leuchtet bei Luhmann nach, in seinen Beobachtungen der Moderne von 1992, wo es heißt, „die untergehende Sonne der Theologie wirft lange Schatten“ (BdM, 130) und hinterlässt „tiefe Hoffnungslosigkeiten, mit denen die meisten Menschen zurechtkommen müssen“ (BdM, 135). Die Aufzählung solcher möglichen, aber nicht verwirklichten Anschlüsse ließe sich nahezu unbegrenzt fortsetzen. Hin und wieder hat Luhmann indirekt auf Nietzsche Bezug genommen, indem er ihm, auch hier, ohne ihn zu nennen, Seitenhiebe austeilte. So sah er etwa in Soziologie der Moral von 1968 die Chance vergeben, nach funktionalen Äquiva-

2 Luhmanns eigene Bezüge und Nichtbezüge auf Nietzsche

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lenten der Moral zu fragen, „wenn man Moral schlechtweg als Kompensation für Lebensschwäche, Minderwertigkeitskomplexe, Ressentiments etc. begreift“ (SdM, 64/MorG, 123). Tatsächlich verwies nicht nur Luhmann, sondern auch schon Nietzsche hier auf Recht und Liebe. Luhmann machte sich auch nicht die Mühe, einem tieferen Sinn von Nietzsches ‚Willen zur Macht‘ nachzugehen und hakte ihn wie alle Welt als Irrationalität „in anthropologischer Verpackung“ ab (SS, 638; vgl. RmG, 197/98). In einem Beitrag Über Natur (ÜN) von 1995 brachte er ihn immerhin konstruktiv mit der paradoxen Denkbarkeit zugleich von Chaos und Ordnung, Entropie und Negentropie, Vergessen und Erinnern in Verbindung, las ihn dabei jedoch, wiederum paradox, zugleich mit Heidegger („pathetisch“) und gegen Heidegger („Antimetaphysik“): „Wir finden uns in der Nähe der von Nietzsche so pathetisch vorgetragenen Antimetaphysik: daß das Sein dem Werden durch einen ‚Willen zur Macht‘ aufgezwungen werde, um eine Wiederkehr des Gleichen zu ermöglichen.“ (GS 4, 20)⁸ Was im Sinn dieser Antimetaphysik als ‚Relativismus‘, ‚Historismus‘, ‚Postmodernismus‘, ‚Dekonstruktivismus‘ gelte, könne „nur als ‚fröhliche Wissenschaft‘ Aufsehen erregen“ (BdM, 65). Und in Nietzsches Feststellung des Nihilismus konnte Luhmann nur „Ermüdung“ der Philosophie sehen (WissG, 548) – und hier nannte er Nietzsche dann auch beim Namen. Das geschah gelegentlich auch im Zusammenhang mit anderen, etwa Vauvenargues, Heidegger oder Nietzsches Rezeption in der früheren Soziologie (TvK, 279; GI, 213, Fn. 18; SS, 586, Fn. 57). Das können wir hier beiseite lassen. An einigen wenigen Stellen griff Luhmann Nietzsche aber auch namentlich an, warf ihm „recht simple Theoriemanöver“ einer „Umkehrsophistik“ (RmG, 198) und zuletzt „theoretisch-hilflose Verlegenheit“ (GG, 35) vor. Doch immerhin könnten so „überraschende Perspektiven gewonnen werden“ (RmG, 198). Insoweit konnte Luhmann Nietzsche durchaus etwas abgewinnen, wenn auch nur im Kreise anderer. Er führte ihn stereotyp in zwei Trios auf, einem aus Nietzsche, Heidegger und Derrida, das den Mut zu Paradoxien und anhand ihrer zur „Dekonstruktion unserer metaphysischen Tradition“ (DBzO, 287) aufgebracht habe – „Man muß dann im Stile Nietzsche/Heidegger/Derrida mit der Paradoxie von sich selbst negierenden Unterscheidungen arbeiten und die expressiven Möglichkeiten des Vertextens nutzen, um genau dies mitzuteilen“ (WissG, 94) –, und einem zweiten,

 Das Notat NL /, [], KSA . [noch nicht in KGW IX]: „Dem Werden den Charakter des Seins aufzuprägen – das ist der höchste Wille zur Macht. / Zwiefache Fälschung,von den Sinnen her und vom Geiste her, um eine Welt des Seienden zu erhalten, des Verharrenden, Gleichwerthigen usw. / Daß Alles wiederkehrt, ist die extremste Annäherung einer Welt des Werdens an die des Seins: Gipfel der Betrachtung“ ist eine der Hauptreferenzen von Heideggers metaphysischer Nietzsche-Interpretation, bei der er freilich die mittleren Zeilen „Zwiefache Fälschung“ übergeht oder weginterpretiert. Vgl. Stegmaier, [Heideggers] Auseinandersetzung mit Nietzsche.

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dem wohlbekannten Trio der „Entlarvungssophisten“ (WissG, 668), nämlich Marx, Nietzsche und Freud (SA, 68; GG, 33). Ihre „entlarvende Aufklärung“ hat, so Luhmann, die „Vernunftaufklärung“ abgelöst, ist aber noch nicht zur „Distanz der Aufklärung über sich selbst“ gekommen, die erst Sache der „soziologischen Aufklärung“ sei, die er, Luhmann, sich zur Aufgabe machte (SA, 86). Beide Trios stimmen darin überein, dass sie zu ihren Paradoxierungen und Entlarvungen „inkongruente Perspektiven“ entwarfen – unter diesem Stichwort erwähnte Luhmann Nietzsche unter den seltenen Fällen am häufigsten. Es stammt jedoch nicht von ihm, sondern von Kenneth Burke (1897– 1993), der von der Literatur und der Musikkritik zu einer soziologisch und philosophisch ambitionierten, doch nicht schulgebundenen, eher essayistisch vorgetragenen Literatur-, Sprach- und Kommunikationstheorie überging. Er übt in den USA nach wie vor erheblichen Einfluss aus. Luhmann zitierte ihn immer wieder respektvoll und dankbar mit mehreren seiner Werke, besonders mit Permanence and Change von 1935,⁹ wo Burke neben Marx und Freud Nietzsche eben für seine „inkongruenten Perspektiven“ lobt. Und Burke vermittelte Luhmann offenbar nicht nur Nietzsche, sondern zugleich auch die Orientierungsbegrifflichkeit. Nietzsches „incongruously perspectival ways of reinterpreting the taxonomy of human vices and virtues“ (332) bewirkten nach Burke eine laufende Umorientierung: „Nietzsche knew that probably every linkage was open to destruction by the perspectives of a planned incongruity. Throughout his life he ‚undermined,‘ carefully qualifying his nouns by the juxtaposition of modifying matter that he had the ‚wrong‘ moral inclination.“ (91) „This inconsistency of human purpose seems to have plagued Nietzsche unceasingly.“ (197) Burke drängte auf Konsistenz und sah in Nietzsche den Anreger, aus Inkonsistenzen neue Konsistenz zu gewinnen, nicht Konsistenz nach einer vorgegebenen Logik, sondern Konsistenz einer „orientation“, die auch für neue Logiken offen ist. Burke arbeitete, irritiert von der krisenhaften Desorientierung, die er zu seiner Zeit beobachtete und die ihm Nietzsche und Spengler treffend beschrieben zu haben schienen, intensiv mit dem Begriff der Orientierung und gebrauchte ihn schon ziemlich differenziert. Unter „orientation“ verstand er eine „general view of reality“, ein „system of interpretation“, das „interferes with its own revision“ (3), ein „established set of expectancies and motives“ (108) „or Weltanschauung“ (262), ein „sense of ‚reality‘, with

 Kenneth Burke, Permanence and Change. Die folgenden Seitenangaben ohne Sigle beziehen sich auf dieses Werk (. Aufl. ). Luhmann berief sich schon in seinen frühesten Büchern auf Burke, etwa in FFfO,  f., und blieb dem treu bis GG, . In FFfO schrieb er noch, die Soziologie wende „die gleiche Erkenntnistechnik“, „‚perspective by incongruity‘“, an wie Marx, Nietzsche, Freud – und Husserl. Bei Nietzsche sah er einen „gewaltsamen Stil der Unfrömmigkeit“. Davon distanzierte er sich dann.

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corresponding sense of relationships“ (310, 369). Er unterschied „general patterns of orientation“ (100) und „schemes of orientation“ (111). Im Medium der Sprache wirke Orientierung daran mit, was in wechselnden Situationen als ähnlich erfahren wird (13), „people tend to round out their orientations verbally“ (11). Orientierung lasse in sich eine Pluralität von Orientierungen zu wie sexuelle, religiöse, wissenschaftliche, politische Orientierung. Sie arbeite ständig an sich selbst, sei largely a self-perpetuating system, in which each part tends to corroborate the other parts. Even when one attempts to criticize the structure, one must leave some parts of it intact in order to have a point of reference for his criticism. However, for all the self-perpetuating qualities of an orientation, it contains the germs of its dissolution. […] The ultimate result is the need of reorientation, a direct attempt to force the critical structure by shifts of perspective. (169)

Im 19. Jahrhundert aber, zu Nietzsches Zeit, „the attempts at reorientation were most intense and profuse“, nachdem „the orientation had broken into fragments“ (169). So verknüpfte Burke unmittelbar Nietzsche und den ‚need of orientation‘. Er wollte ganz im Sinn einerseits Nietzsches, andererseits Luhmanns fortschreiten „from orientation, through motivation, to communication“ (36). Und er dachte auch die Struktur aus Stabilisierung, Destabilisierung und Restabilisierung, die Luhmann für Evolution überhaupt geltend machte, in Begriffen der Orientierung: „such that orientation is to formation as disorientation is to de-formation as reorientation is to re-formation“ (308). Dennoch war für Burke orientation zuletzt „rationalization“ (26), und hier lag auch für ihn die Grenze Nietzsches. Durch die „incongruous perspectives“ würden die „categories of orientation“ verletzt (outraged): „Nietzsche exemplified the procedure consistently enough–but he did not, to my knowledge, give us a specific rationalization of it.“ (92) Luhmann schloss vor allem an dieses Urteil Burkes über Nietzsche an. Darüber hinaus hat ihn Nietzsche offenbar kaum mehr interessiert. Dazu mag beigetragen haben, dass Nicholas Rescher (*1928), den Luhmann ebenfalls regelmäßig zitierte und den er zuweilen als Referenz für die Philosophie seiner Zeit überhaupt anführte, Burkes Nietzsche-Bild weiter ins Negative wendete. Bei Rescher¹⁰ spielt Nietzsche vorzugsweise die Rolle des advocatus diaboli, der Inkonsistenzen unter den philosophischen Positionen so krass herauszustellen versteht, dass man dem umso mehr mit neuem Bemühen um Konsistenz begegnen muss. Auch er gebraucht dabei die Orientierungsbegrifflichkeit. Er plädiert für einen gelassenen „orientational pluralism“ der Philosophie im „Streit

 Rescher, The Strife of Systems, deutsch: Der Streit der Systeme.

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der Systeme“, fasst dabei den Orientierungsbegriff jedoch sehr eng, nämlich als „Wertorientierung“: Den unterschiedlichen philosophischen (nicht systemtheoretischen) ‚Systemen‘ lägen unterschiedliche, aber wechselseitig plausible und akzeptable „epistemische Werte“ zugrunde, die, meist ohne eigens reflektiert zu werden, zu den jeweiligen „Positionen“ führten. Reschers eigene Wertorientierung aber ist die Forderung nach „Konsistenz“: Die Wissenschaftlichkeit der (oder doch Reschers) Philosophie soll darin liegen, dass sie logische Inkonsistenzen unter ihren Systemen durch „Rationalisierung“ der Orientierung ausräumt. Rescher setzt damit weit traditioneller an als Luhmann selbst – und Nietzsche. Auf weitere Quellenforschungen können wir verzichten.¹¹ Anders als Nietzsche¹² hat sich Luhmann, nachdem sich die Standards der Quellenangaben in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts verändert und verschärft hatten, offen zu seinen Quellen, wie hier zu Burke und Rescher, bekannt und sie stets benannt.Wir dürfen daher annehmen, dass Luhmann Nietzsche wohl gelesen hatte – insbesondere für UB II und GM gibt es deutliche Anzeichen dafür (EpK, 50; GG, 35) –, in ihm aber keinen Ideengeber und schon gar nicht eine Quelle für seine Theorie fand. So bleibt das Feld weit offen.¹³

 Vgl. Jahraus u. a. (Hg.), Luhmann-Handbuch,  – ,  – . Nietzsche wird nicht oder nur marginal berücksichtigt.  Vgl. Stegmaier, Nietzsche zur Einführung,  – .  Versuche in der Literatur, Luhmann und Nietzsche aufeinander zu beziehen, sind spärlich. Nach Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, folgt Luhmann mit der „systemischen Selbstbehauptung“ oder „selbststeigernden Selbsterhaltung“ Nietzsches verwerflichem Wille-zurMacht-Denken ( f.). Die Theologin, Literatur- und Sozialwissenschaftlerin Maria Wimmer (So wirklich ist die Möglichkeit) stellt die drei „Konzepte“ der verloren gehenden „Wirklichkeit“ Konstruktivität, Funktionalität, Perspektivität lediglich nebeneinander. Der Soziologe Horst Baier (Götzendämmerung der soziologischen Systeme) reicht das „von Luhmann vergessene Kapitel der Soziologie“, Nietzsche, selbst nach, als Zitatenteppich aus dem . Hauptstück von Menschliches, Allzumenschliches, „Ein Blick auf den Staat“, und aus dem Lenzer Heide-Notat, mit dem Ergebnis: Luhmanns Systemtheorie läuft auf eine menschenlose „Mechanik des Sinns“ hinaus, Nietzsche markiert den Gipfel des europäischen „Voluntarismus und Aktivismus“ () und Luhmann den vorläufig höchsten Gipfel des von Nietzsche beschriebenen Nihilismus (). Eine theoretische Kontrapunktierung von Nietzsches und Luhmanns Konzepten versucht Baier nicht. Anders Stephan Körnig (Perspektivität und Unbestimmtheit in Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht) im Anschluss an Henry Kerger (Normativität und Selektivität der „Willens-Kausalität“ bei Nietzsche; Die institutionalistische Bedeutung der Relation bei Nietzsche und Luhmann). Für beide steht die „Orientierung an Differenzen“ in der funktionalen Äquivalenz von Nietzsches Willen-zur-Machtund Luhmanns System-Umwelt-Konzept im Mittelpunkt. Kerger kommentiert weitgehend Notate Nietzsches durch Theoreme Luhmanns. In seiner Monographie: Wille als Sprechakt und Entscheidung,  – , unterstellt er Nietzsche und Luhmann freilich eben solche „ontologischen und metaphysischen Annahmen“, wie beide sie ausdrücklich ablehnen. Körnig hängt noch am Subjekt, dem bei Luhmann nur noch bleibe, „all die kleinen Schalter umzulegen, die als Zustände

3 Schriftstellerische Formen, Themenauswahl und Methoden

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3 Schriftstellerische Formen, Themenauswahl und Methoden Statt Nietzsches und Luhmanns Werke im Ganzen aufeinander zu beziehen, was den Rahmen auch eines umfangreichen Buches sprengen würde, beschränken wir die Bezüge auf Themen. Themen fokussieren – auch dies hat Luhmann in seiner Theorie berücksichtigt (SS, 213 – 216) – die doppelt kontingente Kommunikation unter zwei Partnern, um die es sich auch hier handelt. Man kann ihnen deren unterschiedliche Beiträge so zuordnen, dass sie sich gegeneinander profilieren. Und Themen kann man vermehren oder vermindern, also in Grenzen halten. Die Orientierung an Themen lässt anderes jedoch zurücktreten: So können auf Luhmanns Seite sein erklärtes Programm, Äquivalenzen unter den Funktionssystemen der Kommunikation der Gesellschaft aufzuzeigen, auf Nietzsches Seite seine hoch differenzierten und entsprechend aussagekräftigen Formen philosophischer Schriftstellerei kaum berücksichtigt werden.¹⁴ Vom unterschiedlichen Grundton beider Werke, dem bewusst persönlichen, verschiedenste Rollen inszenierenden, Leser(innen) zu Dialogen herausfordernden, bald vollmundig pathetischen, bald selbstironisch gebrochenen, manchmal gelassenen, manchmal ausgelassenen, zuletzt aber zunehmend polemischen Grundton von Nietzsches literarisch ausgefeiltem und melodisch eingängigem Stil und dem begrifflich stets sorgfältig differenzierenden und konstruierenden, dabei gerne auch schmallippig ironischen, aber nichtsdestoweniger forschen, mitunter, wenn die Geduld mit Uneinsichtigen müde wird, eisigen und, wenn es um die anstehenden Aufgaben geht, schon auch einmal pathetischen Grundton von Luhmanns schmucklosem, aber stets um Klarheit und, soweit möglich, Einfachheit bemühtem Stil, war schon die Rede. Angedeutet haben sich auch schon die sehr unterschiedlichen Differenzierungsweisen und -grade der beiden Entwürfe und die Fähigkeit eines jeden, auf

das System determinieren“ (), und mit Bataille klagt er bei ihm eine „‚Ökonomie des Untergangs‘“ ein (). Das wird weder Nietzsche noch Luhmann gerecht. Jean Clam (Unbegegnete Theorie) registriert kaum weiterführende Bezüge zwischen der zeitgenössischen Philosophie und Luhmanns Systemtheorie, gibt selbst eine Übersicht für philosophische Anschluss-, Klärungsund Widerspruchsmöglichkeiten, erwähnt Nietzsche jedoch nicht. Detlef Horster, der Luhmann persönlich kannte, hatte immerhin „den Eindruck“, er habe sich von Nietzsches Gedanken darin leiten lassen, dass Ideale die Realität verstellt hätten (Horster, Niklas Luhmann, ; ähnlich Horster, Nachwort zu: Niklas Luhmann, Die Moral der Gesellschaft, ). Norbert Bolz (Ratten im Labyrinth) stellte zuletzt klar das Manko fest: „Zu den großen Denkern, die Luhmann nicht einmal ignoriert hat, gehört Nietzsche. Um so überraschender die Ähnlichkeiten.“ () Er findet dann aber nicht viel mehr als gemeinsamen „Antihumanismus“.Wo er an die „‚genialen‘ Denkansätze“ () erinnert, an die Luhmann anschließe: Heidegger, Weber, das romantische Paradoxieren, erwähnt er Nietzsche nicht.  Vgl. Stegmaier, Nietzsche zur Einführung,  – .

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seine Weise so zu irritieren, dass er fasziniert. Nietzsche fasziniert die meisten auf Anhieb – wenn er sie nicht gänzlich abstößt. Sein Werk scheint leicht zugänglich, irritiert jedoch immer stärker, je mehr man sich auf es einlässt. Luhmanns Theoriesprache, „die Unterkühltheit der theoretisch erzwungenen Abstraktionen“, die er „als Ausdrucksform wirken“ lässt, ist dagegen zunächst schwer zugänglich und manchmal führt sie „zu der Paradoxie, daß die Texte, weil zu schwierig, den Leser vom Mitdenken entlasten und dann nur noch dem Satzfluß folgend durchgelesen werden können“ (GG, 1129). Hat man sich aber einmal in sie eingelernt, wirkt sie nicht weniger faszinierend, und kaum jemand, auch in der Philosophie und der Literatur, hat mit seinem erklärten „Denken in Alternativen“ so irritierend „inkongruente Perspektiven“ vorgetragen wie er. Und auch er liebäugelte mit der „Kurzform“, wie sie Nietzsche mit dem Essay, vor allem aber dem Aphorismus pflegte, sah in ihnen, ganz im Sinn Nietzsches, die Chance, „daß man nicht alle Begriffe definiert oder die Interferenzen mit anderen Werken nicht expliziert“, und ein „Mittel, eine sehr komplexe Theorie manchmal an Einzelpunkten auszuprobieren“ (Auw, 95). Zugleich aber legte er, auch dies wie Nietzsche, „sicherlich sehr stark auf Genauigkeit der Wortwahl, des Begriffseinsatzes Wert“ und benutze „die Normalität der Worte als Stilmittel […], so daß die Normalität – was sie eigentlich meinen und sagen – auffällt im Text“ (Auw, 96). Wenn man von einem Grundcharakter der Werke beider sprechen kann, so sprühten beide vor Ideen zu alternativen Einsichten, konnten beide sehr rasch von scheinbar schlichtesten Oberflächen in komplexeste Tiefen gehen, neigten beide, auch Luhmann, dabei mehr zum Entwurf als zu pedestrischer Ausarbeitung, forderten beide deshalb geduldige Einarbeitung in ihre Schriften und umsichtigen Umgang mit ihnen. Gleichwohl waren beide auf blockierende Ressentiments gegen die Radikalität ihres Denkens gefasst und suchten sie, soweit möglich, zu unterlaufen. Was die Auswahl der Themen betrifft, nach denen die Werke Nietzsches und Luhmanns hier aufeinander bezogen werden sollen, so ist sie schwer vor allem darin, worauf zu verzichten ist. Denn beide befassten sich nicht nur mit groß angelegten Entwürfen und Theorien, sondern auch, wie Nietzsche sie nannte, mit den „nächsten Dingen“ (MA II, WS 350), „Menschlich-Allzumenschlichem“ der menschlichen Orientierung, das sie zuweilen von Grund auf verändern kann und daher jeder philosophisch-soziologischen Anstrengung wert ist. Luhmann nahm sich als Soziologe mit Vorliebe auch und gerade unter ‚kritischen‘ Philosophen schlecht beleumdeter Strukturen der Kommunikation der Gesellschaft wie Unternehmen, Märkte, Organisationen, Verwaltungen, Bürokratien, politischer Parteien, Lobbies an. Wir müssen uns auf die radikalsten Neuorientierungen beschränken, durch die Nietzsche und Luhmann die Philosophie an die Gegenwart des 21. Jahrhunderts heranführen, und wir thematisieren sie aus der Perspektive der Philosophie der Orientierung, zunächst (I) die grundlegenden Fragen des

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Bezugs von Nietzsches Nihilismus und Luhmanns Konstruktivismus (Orientierung am Nichts), (II) des Perspektivismus beider (Orientierung an sich selbst) und (III) der Paradoxie als Denkmittel (Orientierung an der Zeit). Dann folgen Kapitel zur (IV) Subjektkritik beider (Trennung der Orientierungen) und (V) zu ihrer unterschiedlichen Auflösung der Einheit des Menschen (Orientierung an Menschen). Von hier aus behandeln wir (VI) Nietzsches und Luhmanns zugleich konvergierende und divergierende Konzeptionen der Spielräume des Verstehens und Missverstehens (Orientierung an anderer Orientierung) und (VII) ihrer Ent- und Eingrenzung des Wissens (Orientierungsmittel). Der praktischen Philosophie gewidmet sind die Kapitel (VIII) zur Nietzsches und Luhmanns Begrenzung der Moral und Befreiung der Ethik (Bindungen der Orientierung) und (IX) zu ihren Konzeptionen der Macht (Überlegene Orientierung). Sie werden fortgeführt in Kapiteln zu den im Blick auf Nietzsche und Luhmann als besonders heikel geltenden Fragen (X) der Demokratie (Ausgleichende Orientierung) und (XI) des Rangs (Sich auszeichnende Orientierung). Abschließend gehen wir zu einer Beobachtung dritter Ordnung über, stellen (XII) Luhmanns und Nietzsches Einschätzungen des Rangs der Philosophie selbst einander gegenüber und prüfen deren Funktionsäquivalenz mit der soziologischen Systemtheorie. Sie wird, dann nicht mehr überraschend, in einer Philosophie der Orientierung sichtbar (Orientierung über Orientierung). Entfallen mussten nicht weniger Aufschluss versprechende Kapitel zu Kunst, Liebe und Gott. Die Methode kann und wird kein schlichter Textvergleich sein. Wir werden wohl, um beiden Seiten soweit wie möglich gerecht zu werden, immer auch Nietzsches und Luhmanns eigene Texte sprechen lassen. Um sie zueinander in Beziehung zu setzen, müssen wir uns aber zugleich über ihre unterschiedlichen Begrifflichkeiten hinwegsetzen und tun das, indem wir sie in Begrifflichkeiten der Philosophie der Orientierung übersetzen. Das bleibt seinerseits ein gewagtes philosophisches Unternehmen. Denn man kann hier von nichts fest Vorgegebenem mehr ausgehen, weder in den Sachen noch in den Methoden. Stattdessen perspektivieren wieder Nietzsches und Luhmanns Ansätze durcheinander und dies in einer dritten Perspektive, der Philosophie der Orientierung, ein Beobachtungsverfahren, das seinerseits von allen dreien nahegelegt wird. Ein perspektivisches Verfahren führt zu Fokussierungen, die Thematisiertes schärfer sehen lassen um den Preis, Zugehöriges auszublenden. Da die Kontexte aber beschränkt bleiben müssen, sind auch – zum Teil starke – Simplifizierungen unvermeidlich. Entstehen können dabei neue, philosophisch weiterführende Kontexte. Es geht, wenn man Nietzsche und Luhmann vor Augen hat, nicht um letzte Wahrheiten, auch nicht um höchste Allgemeinheiten oder tiefste Fundamente, sondern um ein Experimentieren mit dem philosophischen Anregungspotential beider, das sich verstärkt, wenn man beide sinnvoll aufeinander bezieht.

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Mehr wird nicht möglich, aber auch nicht nötig sein. Vorab geben wir einen Überblick. Er soll die Lektüreauswahl erleichtern und erübrigt zugleich eine Zusammenfassung.

4 Überblick Kap. I, Orientierung im Nichts: Nietzsches Nihilismus und Luhmanns Konstruktivismus, setzt bei dem Problem an, das sich aus Nietzsches Sicht zu seiner Zeit vor allem stellte und das er auf den Begriff des Nihilismus brachte. Er führte den Nihilismus nicht herbei, deckte ihn nur auf, nachdem er über Jahrtausende hinweg von Philosophie und Christentum verdeckt worden war. Er hielt den ‚radikalen‘ oder ‚grundsätzlichsten Nihilismus‘ für ‚einen normalen Zustand‘, der nicht zu überwinden ist, sondern dem man sich stellen muss. Weil er seine Verdeckung und deren ‚Selbstüberwindung‘ einbezieht, wird seine Bestimmung vielschichtig. Luhmann nahm den ‚radikalen‘ Nihilismus als ‚radikalen Konstruktivismus‘ auf, gab ihm nun einen ermutigenden Namen. Danach kann die menschliche Orientierung, ohne einen festen Halt außer ihr zu haben, sich den nötigen Halt selbst schaffen. Eine Orientierung im Nihilismus ist nicht nur möglich, sie gewinnt dabei auch bisher unerschlossene Spielräume im Denken und Handeln. Kap. II, Orientierung an sich selbst: Nietzsches und Luhmanns Perspektivismus, zeigt dann, wie die Orientierung im Nihilismus Halt findet: indem sie sich an sich selbst orientiert. Nietzsche und Luhmann arbeiteten, um das denkbar zu machen, mit der leitenden Denkfigur der Moderne, der Selbstbezüglichkeit, differenzierten sie jedoch durch die Fremdbezüglichkeit. Selbstbezüglichkeit und Fremdbezüglichkeit ermöglichen einander wechselseitig. Nietzsche dachte so ‚Willen zur Macht‘, Luhmann ‚Systeme‘ in Differenz zu ihrer ‚Umwelt‘ als Perspektiven oder Beobachtungssysteme, die sich unablässig mit anderen Perspektiven auseinandersetzen, in die eigene Perspektive einbeziehen oder ‚interpretieren‘ und sich dabei stets auch selbst verändern. Von der Perspektivität, der Orientierung durch Perspektiven, ausgehend, wird Reflexivität, Orientierung an Perspektiven, und schließlich Rekursivität, Orientierung an der Orientierung selbst, möglich. In ihr kommen Orientierungen jeweils zu ihrer Realität und Orientierungen miteinander jeweils zu einer gemeinsamen Realität, indem sie ihre Realitäten laufend miteinander abgleichen. Auf diese Weise kann die Orientierung und ihre Realität mit der Zeit gehen. Kap. III, Orientierung an der Zeit: Logik, Paradoxie und Theorie nach Nietzsche und nach Luhmann, bezieht in die Zeit auch die Logik ein. Parmenides und Aristoteles hatten sie dadurch begründet, dass sie die Zeit aus dem Denken ausschlossen, damit es ein zeitloses und darin wahres Sein denken konnte. So darf

4 Überblick

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nach Aristoteles’ Satz vom zu vermeidenden Widerspruch nicht ‚zugleich‘ Gegensätzliches von etwas ausgesagt werden; in der Zeit ist das jedoch problemlos möglich. Nietzsche versetzte darum zunächst die Logik in die Zeit zurück, wies ihre externe Zeitlichkeit auf, Luhmann ließ dann mit George Spencer Brown die Zeit in die Logik selbst ein, operierte mit ihrer internen Zeitlichkeit. Die Zeit aber paradoxiert, schon nach Parmenides und Aristoteles, das logische Denken: Auch das Denken des Zeitlosen hat seine Zeit, und indem das Denken die Zeit feststellt, macht es sie zeitlos. Luhmann erkannte in der Denkblockade der Paradoxie ein Denkmittel. Es macht denkbar, dass der Prozess des Unterscheidens selbst die Zeit generiert, eine dann ebenfalls perspektivische, konstruierte Zeit. Bezieht sich die Theorie schließlich auch selbst in den Unterscheidungsprozess ein, wird sie zu einem in sich zeitlichen Orientierungsinstrument. Nietzsche zeigte das statt durch eine Theorie mittels des Selbstbezugs von Gehalt und Gestalt in den reichen schriftstellerischen Formen seines Philosophierens. Kap. IV, Trennung der Orientierungen: Nietzsches und Luhmanns Subjektkritik, und Kap. V, Orientierung an Menschen: Luhmanns und Nietzsches Auflösung der Einheit des Menschen, machen deutlich, worauf man nun verzichten kann, um zu erfassen, was als Realität gilt: die Annahmen eines transzendentalen Subjekts und einer vorgegebenen Einheit ‚des‘ Menschen. Der Halt der Orientierung, nun ein Halt auf Zeit, lässt sich besser als aus dem Subjektbegriff aus Nietzsches Perspektivenbegriff, Luhmanns Beobachtungsbegriff und schließlich aus dem Orientierungsbegriff selbst verstehen. Indem er von der ‚großen Vernunft des Leibes‘ sprach, kehrte Nietzsche die alte philosophische Rangordnung von Leib, Seele (oder Bewusstsein) und Geist im Menschen um; nach Luhmann haben wir es beim Menschen mit drei unterschiedlichen, nicht hierarchisch geordneten, lediglich ‚strukturell gekoppelten‘ Systemtypen zu tun, physischen, psychischen und sozialen. Nietzsche entgrenzte ‚den Menschen‘ nicht nur zum Tier, sondern auch zu dem hin, was seine ‚Feststellung‘ mit der Zeit immer neu übersteigt und wofür er den Begriff ‚Übermensch‘ gebrauchte. Für beide, Nietzsche und Luhmann, wurde der scheinbar so gut dastehende Mensch zum evolutionären Experiment. Nichtsdestoweniger orientieren wir uns weiterhin an Subjekten und an Menschen: an Subjekten, um kontingentes Geschehen als beabsichtigtes Handeln fassen und dafür etwas oder jemanden verantwortlich machen zu können, an Menschen, um an ihnen Handlungsmöglichkeiten zu beobachten, die für die eigene Orientierung bedeutsam werden können. Beide aber sind nun als Konstruktionen erkennbar, die laufend wieder dekonstruiert werden. Mit Kap. VI, Orientierung an anderer Orientierung: Nietzsche und Luhmann zu den Spielräumen des Verstehens und Missverstehens werden nach den kritischen die konstruktiven Überlegungen weitergeführt. Zunächst stellt sich das Problem, wie als Orientierungen getrennte Orientierungen sich miteinander verständigen

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können, wenn nicht allen Menschen eine gemeinsame Vernunft unterstellt wird. Dieses Problem lösten Nietzsche und Luhmann auf signifikant unterschiedliche Weise. Während der junge Nietzsche noch von einem paradoxen Ideal der ‚Verständigung ohne Verständigung‘ in der Freundschaft ausging und dann schmerzlich einsehen musste, dass die Verständigung ein ‚Spielraum und Tummelplatz des Missverständnisses‘, im Verstehen Missverstehen unvermeidlich ist, setzte Luhmann mit dem Theorem der ‚doppelten Kontingenz der Kommunikation‘ gleich hier an. Verständigung ist dann als Kette wechselseitiger Selektionen zu begreifen, die sich in Kommunikationssystemen strukturieren und darin evoluieren. Sie wird so nicht schon auf Konsens ausgerichtet, denn gerade Dissens lässt eine weit aufschlussreichere, komplexere Verständigung zu. Sie kann gelegentlich eine Verständigung über die Spielräume der Verständigung selbst, eine Kommunikation zweiter Ordnung erfordern. Nach Nietzsche verläuft diese Verständigung im ‚Pathos der Distanz‘ unter den getrennten Orientierungen. Er suchte jedoch noch einen letzten Halt in der Redlichkeit, seiner Redlichkeit zu finden. Nach Luhmann riskierte er dadurch ein neues Paradox: Besteht jemand in der Kommunikation mit andern auf seiner Redlichkeit, macht er sie eben dadurch zweifelhaft. Kap. VII, Orientierungsmittel: Nietzsches und Luhmanns Ein- und Entgrenzung des Wissens, klärt, wie in den Spielräumen doppelt kontingenter Kommunikation unter ‚Willen zur Macht‘ oder ‚Beobachtungssystemen‘ auch Wissen umfassender und realistischer denkbar wird: nicht mehr unter der Voraussetzung einer gemeinsamen Vernunft transzendentaler Subjekte oder als Entdeckung und Wiedergabe einer scheinbar an sich schon bestehenden ‚wahren Welt‘, sondern durch Limitationen der selektiven Orientierung an anderer Orientierung. So wird nach Nietzsche und Luhmann die Funktion des Wissens erkennbar, auf Zeit hinreichende Orientierungssicherheit zu schaffen. Sie entsteht dadurch, dass in der Kommunikation zum Teil kurz-, zum Teil langfristig eingegrenzt wird, was als sicher gelten soll. Im Alltag geschieht das fallweise durch wechselseitige Plausibilitätskontrollen, im Wissenschaftsbetrieb durch langfristig standardisierte Faktoren. Zu ihnen gehören nach Nietzsche und Luhmann nicht nur eine bestimmte soziale Disziplinierung, Theorien, Methoden und Problemstellungen, sondern auch Rangordnungen der Probleme und derer, die sie stellen, Autoritäten, denen dabei gefolgt wird, und Bedingungen, unten denen Resultate publiziert werden können. Entsteht Wissen durch Begrenzung oder Limitation, sind stets auch Entgrenzungen oder De-Limitierungen möglich. So können eingespielte Orientierungssicherheiten auch gezielt verunsichert und entscheidbar gemacht und die Spielräume des Wissens dadurch erweitert werden. Darauf legten es Nietzsche und Luhmann an.

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In Kap. VIII, Bindungen der Orientierung: Nietzsches und Luhmanns Begrenzung der Moral und Befreiung der Ethik, wird so auch die Moral fokussiert. So wenig wie Wahres gibt es nach Nietzsche und Luhmann Gutes an sich; gerade beim Guten geht es um Sicherheit in der Orientierung an anderer Orientierung, was verdeckt wird, wenn das Gute absolut gesetzt wird. Beide setzten darum auch die Moral kontingent, Nietzsche durch seine ‚Genealogie‘, Luhmann, indem er auch sie als Funktion zur Bewältigung der doppelten Kontingenz der Kommunikation analysierte. Beide führten die Moral auf außermoralische Ursprünge zurück, Nietzsche stärker historisch, Luhmann stärker soziologisch, beide sahen die Funktion der Moral darin, Menschen zu Funktionen der Gesellschaft zu machen. So wird deutlich, dass die Unterscheidung von gut und böse nicht selbst schon gut ist, sondern auch böse sein kann: Sie wird paradox, wenn man sie auf sich selbst bezieht, und gibt dann Alternativen frei. Moral kann auch für sich selbst Machtinteressen nicht ausschließen, gegen die sie im Übrigen angeht. Lag für Nietzsche die Gefahr der Moral vor allem im Verlust des Sinns für abweichende und außerordentliche Individuen, so für Luhmann in ihrer Streitbarkeit. Am gefährlichsten aber erschien beiden der Realitätsverlust, den starke moralische Simplifikationen mit sich bringen. Sie suchten darum bis heute wirksame moralische Denkblockaden zu lösen, um auch die Spielräume der Moral durch ethische Reflexion zu einer höheren Moral zu erweitern. Ein Mittel dazu sahen sie in der Wertesemantik, die einerseits die Entwertung von Werten, andererseits das Schaffen neuer Werte zulässt. Während Nietzsche sie aufs äußerste ausreizte, durchschaute sie Luhmann, wovor selbst Nietzsche noch schauderte, ebenfalls als paradox. Sie kamen wieder zusammen in einer Ethik der Distanz im Wissen um die Andersheit und Entscheidbarkeit auch von Moralen. Kap. IX, Überlegene Orientierung: Nietzsches, Luhmanns und Foucaults Entmoralisierung der Macht und die Kontexte der Demokratie, leitet über zu Kap. X, Ausgleichende Orientierung: Nietzsches und Luhmanns Kontextualisierungen der Demokratie, und Kap. XI, Sich auszeichnende Orientierung: Persönlichkeit nach Hegel, Rang nach Nietzsche, Reputation nach Luhmann. Die Kontingentsetzung der Moral ermöglicht auch eine Entmoralisierung der Macht und lässt die Kontexte der Demokratie dadurch realitätsgerechter verstehen. Ist in schwierigen Orientierungssituationen eine Orientierung anderen überlegen und folgen ihr darum die andern, begeben sich die Unterlegenen auf Zeit in die Macht der Überlegenen und heißen deren Macht dann durchaus gut. Nicht schon diese situative Macht, die Nietzsche mit seinem Wille-zur-Macht-Gedanken im Auge hatte, sondern erst die organisierte Macht, von der Luhmann vor allem handelte, wird, wenn sie von Orientierungsüberlegenen dauerhaft zu eigenen Vorteilen missbraucht wird, moralisch als böse beurteilt. Da organisierte Macht aber auf formale Machtapparate angewiesen ist, die gegenläufige informale Machtkreisläufe induzieren,

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wird auch sie paradox. Das bleibt jedoch weitgehend latent; Foucault ging so weit, die Diskurse der Gesellschaft im Ganzen auf latente und anonyme Machtdispositive zu gründen. In Luhmanns Sprache wird Macht dabei zu einem formbaren Medium, das am sichtbarsten von der Politik ausgeformt wird (Kap. IX). In diesem Spielraum bewegt sich auch die Demokratisierung der Politik, die Macht wieder durch moralische Vorgaben zu limitieren sucht. Nietzsche und Luhmann blieben darum skeptisch gegen sie, hielten sie aber beide für unaufhaltsam in einer kommenden Weltgesellschaft und beobachteten entsprechend nüchtern, wie sich das Politische selbst dabei neu formierte, Nietzsche im Vorblick, Luhmann auch schon im Rückblick auf die moderne Demokratie. Statt von einer sich vertiefenden Vernunft am Grund der Demokratie gingen sie von einer sich erweiternden Entscheidbarkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse aus. Beide rechneten dabei mit einer Funktionalisierung des Staates im politischen System und mit einer Umgründung der Politik auf Fluktuationen, die sie rascher orientierungsfähig und so auch umorientierungsfähig mache. Nietzsche setzte im Blick auf die Probleme der kommenden ‚Erdregierung‘ dabei noch auf außerordentliche Individuen: In der sich steigernden Komplexität der gesellschaftlichen Verhältnisse sind die meisten auf überlegene Orientierungen anderer angewiesen. Zugleich aber erkannte er, dass in einer sich immer weiter differenzierenden und demokratisierenden Gesellschaft die Individuen immer stärker zur Selbstdarstellung ebenso vor anderen wie vor sich selbst, d. h. zu Rollen in einer Gesellschaft von ‚Schauspielern‘ genötigt sein würden. Dies aber macht wiederum den kommunikativen Ausgleich ansonsten getrennter Orientierungen unter dem Label des Kompromisses möglich: Man kann die Rollen wechseln, und niemand hat das in seiner philosophischen Schriftstellerei so vorgeführt wie Nietzsche. Luhmann dagegen löste sich auch hier vom Fokus auf Personen, begriff die Politik als autonomes Funktionssystem und verstand die Demokratisierung unmittelbar als politische Ausformung der sich selbst vorantreibenden Evolution der Gesellschaft zu funktionaler Differenzierung. Das bedeutete auch für ihn eine Steigerung der Entscheidbarkeit (Kap. X.). Das Problem der Rangordnung, das Nietzsche sich vor allem zur Aufgabe machte, weil er in der Auszeichnung der Individuen voreinander den stärksten Antrieb zur Evolution auch demokratisierter Gesellschaften sah, nahm Luhmann nur im Rahmen des Funktionssystems der Wissenschaft auf, unter dem Namen der Reputation als orientierenden Code, der den konstitutiven Code der Wissenschaft, die Unterscheidung von wahr und falsch, überlagert und steuert (Kap. XI). Im Kap. XII, Orientierung über Orientierung: Philosophie nach Luhmann, Nietzsche und Derrida, wird abschließend in einer Beobachtung dritter Ordnung die Funktion von Nietzsches Philosophie und Luhmanns soziologischer Systemtheorie selbst für die Orientierung reflektiert. Beide stritten (Nietzsche im Blick auf die Soziologie seiner Zeit) um das vorrangige Recht ihres Fachs auf die maßge-

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bende Orientierung über die Orientierung, beide sahen sich aber auch von ihren eigenen Fächern enttäuscht. Man wird dann fragen, woher beide jenes privilegierte Recht für ihre eigenen Ansätze nehmen. Derrida antwortete: durch Selbstprivilegierung. In ihrem Selbstbezug hängt die Privilegierung nicht von Inhalten ab. So wird sie, mit Nietzsche, zum bloßen Pathos. Orientierung über Orientierung versucht Höhenflüge in eine Begrifflichkeit, in der, wie sie Musil beschrieb, „das Leben hängt wie der Adler in seinen Schwingen“. Sie lebt in und von dieser erhabenen Abstraktionshöhe. Deren Begriffe können dann unterschiedlich theorienah (Luhmann) oder theoriefern (Nietzsche) artikuliert werden. Orientierung lässt auch diese Orientierungsentscheidung zu.

I Orientierung im Nichts: Nietzsches Nihilismus und Luhmanns Konstruktivismus 1 Der Weg vom sophistischen zum nihilistischen Nichts über den Selbstbezug des Nichts 1.1 Gorgias’ sophistisches Nichts Der Sophist Gorgias, Zeitgenosse von Sokrates, berühmt und berüchtigt für seine Argumentationskunst, soll gesagt haben: 1. Es ist nichts. 2. Wenn etwas wäre, so wäre es nicht zu erkennen. 3. Wenn etwas wäre und es erkennbar wäre, so wäre es doch nicht mitzuteilen.¹⁵ Bis heute kann man kaum radikaler die Möglichkeit eines Seins, einer Erkenntnis eines Seins und einer Mitteilung einer Erkenntnis eines Seins in Frage stellen. Gorgias hat mit seinen drei Sätzen nicht nur die moderne kopernikanische Wende vorweggenommen, nach der wir nur unsere Vorstellungen vom Sein haben, ohne es selbst erkennen und ohne unsere Vorstellungen mit ihm vergleichen zu können, sondern auch schon die kommunikative Wende, nach der wir unsere Vorstellungen nur mittels Sprache und Kommunikation artikulieren können, auch hier, ohne sie mit den Vorstellungen anderer vergleichen zu können. Gorgias, vermutet man, wollte damals Parmenides treffen, der gelehrt hatte, es sei nur Sein und Denken und Sein seien dasselbe. Parmenides’ Satz kann man am besten so verstehen, dass es Aufgabe eines besonderen, eben des wissenschaftlich-philosophischen Denkens ist, das Sein unabhängig von Vorstellungen und Zeichen der einzelnen Menschen, die bei jedem andere sein bzw. etwas anderes bedeuten können, als eines und bleibendes zu denken. Dieses eine und bleibende Sein ist dann der alleinige Gegenstand jenes besonderen Denkens. Es ist seinerseits nur dazu gedacht, jenes Sein zu denken. Auf diese Weise sind Sein und Denken in der Tat dasselbe (tò gàr autò noeîn estín te kaì eînai, B 3): was ist, ist gedacht, und was gedacht ist, ist.¹⁶ So aber ist vom Sein und Denken alles ausgeschlossen, was nicht

 Gorgias von Leontinoi, hg.v. Th. Buchheim,  f.  Oder: Sein ist das Sein, das das Denken denkt, Denken ist das Denken, das das Sein denkt. Oder in Luhmanns Formulierung: „Das Denken, das sich vom Sein unterscheiden muß, um es beobachten und bezeichnen zu können, ist selbst die Unterscheidung von Denken und Sein. Es

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bleibt, also alles Zeitliche. Denn, so Parmenides’ berühmtes Argument, was zeitlich ist, kann zuvor noch nicht gewesen und später nicht mehr sein, schließt also ein Nicht-Sein ein. Auch für Denker des Seins kommt damit das Nichts ins Spiel.

1.2 Hegels bloße Unterscheidung von Sein und Nichts In seiner Wissenschaft der Logik begann Hegel wieder mit der Unterscheidung von Sein und Nichts, nun jedoch als bloßer Unterscheidung. So konnte er die Unterscheidung auf sich selbst beziehen, also mit Selbstbezüglichkeit oder Selbstreferenz arbeiten, die in der Moderne zur leitenden Denkfigur geworden war. So entstand, nach der Methode der ‚bestimmten Negation‘, die ‚Logik‘ des selbstbezüglichen oder selbstreferentiellen ‚Systems‘:Wird die Unterscheidung von Sein und Nichts, die nun zur bloßen Unterscheidung der Negation wird, immer neu auf sich selbst bezogen, ergeben sich immer differenziertere Unterscheidungen, die sich zum System schließen, auf seinen Anfang zurückführen und so den zunächst scheinbar willkürlichen Anfang bei Sein und Nichts als ‚notwendig‘ erweisen. Die anfängliche Unterscheidung von Sein und Nichts ist selbst das erste und stärkste Beispiel einer bestimmten Negation:Versucht man ‚Sein‘ zu bestimmen, zeigt sich, dass man es unterschiedslos von allem aussagen und deshalb nichts weiter über es selbst sagen kann, so dass es zugleich Nichts ist; auf der anderen Seite kann man dann auch vom Nichts, das durch nichts zu bestimmen ist, sagen, es sei. Das wussten schon die Griechen, doch Hegel verstand es nun als Ergebnis des selbstbezüglichen Unterscheidens. Durch die Selbstbezüglichkeit aber befreite er das wissenschaftlich-philosophische Denken von der Fixierung auf etwas, das vor allen Unterscheidungen gegeben sei, von einem scheinbar vorgegebenen Fremdbezug, und zu der Möglichkeit, durch den bloßen Selbstbezug von Unterscheidungen zu einer ‚Wissenschaft‘ zu kommen. ‚ist‘ ‚Denken‘.“ (BdM, ) Die Textgestalt des Satzes, seine Übersetzung und Auslegung bleiben umstritten (Kraus, Parmenides, ). Hölscher,Vom Wesen des Seienden, , nennt den Satz „das Grundaxiom der parmenideischen Philosophie“, Heidegger, Was heißt Denken?, , „das Grundthema des gesamten abendländisch-europäischen Denkens“. Kants oberster Grundsatz aller synthetischen Urteile a priori sei dessen „großartigste Variation“. Heidegger, der mit der Darlegung des Satzes schließt ( – ), übersetzt noeîn als „In-die-Acht-nehmen“. Inzwischen zieht man ‚Vernehmen‘, ‚Gewahren‘, ‚Bemerken‘, ‚eine Situation Realisieren‘ vor. Danach handelte es sich ursprünglich nicht um ein abstraktes Denken eines abstrakten Seins, von dem man noch keinen Begriff hatte. Nach Buchheim, Die Vorsokratiker,  – , ist das noeîn „rezeptiv“, also aufnehmend, „konzeptiv“, also begrifflich ordnend, und „protensiv“, also auf künftige Möglichkeiten ausgerichtet. Nach diesen Momenten ist es schon das ‚Sich-orientieren-Können‘.

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Indem Hegel die Abfolge der Unterscheidungen in seinem sich aus sich selbst entwickelnden System als notwendig, alternativlos, darstellte, gab er dem System einen Halt in sich und begriff darin auch Gott ein, der für die Religion jenseits allen Begreifens blieb. Nietzsche stellte gegen Ende des 19. Jahrhunderts fest, dass beides, das so verstandene System und Gott, ihre Glaubwürdigkeit verloren hatten, und fasste dies in den Begriff des Nihilismus. Den Begriff hatte schon am Ende des 18. Jahrhunderts der kämpferische Christ Friedrich Heinrich Jacobi gegen Kant und Fichte aufgebracht: Danach bleibe, wenn alle Bestimmung vom Subjekt ausginge, außer diesem nichts – es sei denn der Glaube.¹⁷ Der Begriff des Nihilismus sollte Angst hervorrufen und tut das bis heute, Angst vor einer vollkommenen Haltlosigkeit, mit der Gorgias zunächst nur gespielt hatte und mit der es nun Ernst geworden war. Nietzsche zog aus der Einsicht in den Nihilismus die Konsequenz, radikal auf Kontingenz und Evolution umzustellen.Vom Verlust alles absoluten Halts erwartete er lähmendes Entsetzen: Wo einmal überall Sinn und Halt gewesen zu sein schien, war nun keiner mehr.

1.3 Nietzsches nihilistisches Nichts Nietzsche hat das nihilistische Nichts, nach dem es mit allem absoluten Halt, an den sich Philosophen und Theologen bisher halten zu können geglaubt hatten, nichts ist, eher im Hintergrund seines Werks gelassen und mehr in seinen Notaten von ihm gesprochen.¹⁸ Denn von diesem Nichts kann man konsequenterweise gar

 Vgl. Müller-Lauter, Art. Nihilismus.  Hier hat er den Nihilismus vielfach differenziert, ohne die Differenzierungen wieder zusammenzuführen, was zu vielfältigsten, kaum mehr zu übersehenden Interpretationen geführt hat. Paul van Tongeren, Het Europese nihilisme, hat Nietzsches Ausführungen zum Nihilismus in seinem veröffentlichten Werk und in seinen Notaten zusammengestellt und sorgfältig in ihren Kontexten ausgewertet. Er ordnet die Formen des Nihilismus, die Nietzsche in seinen Notaten unterscheidet, mit Hilfe der leitenden Unterscheidungen, mit denen er in FW  seinen „dionysischen Pessimismus“ von Schopenhauers und Wagners „romantischem Pessismismus“ abzuheben sucht, in eine Kreuztabelle ein, stellt einige der einflussreichsten Interpretationen (Heidegger, Vattimo, Müller-Lauter) dar und verzeichnet weitere Literatur. Wir brauchen das also hier nicht wieder aufzunehmen. Zuletzt fragt auch van Tongeren, wie ein Leben im Nihilismus möglich sei. Seine – bewusst vorläufigen – Antworten sind, – dass wir uns, die wir überall noch in vielfältigen Arten von Glauben leben, im Sinn von FW  gar nicht vorstellen können, was das allmähliche Unglaubwürdigwerden des höchsten und bisher alle anderen tragenden Glaubens, des Glaubens an Gott, bedeuten wird, und es uns, solange wir einigermaßen bequem leben können, auch gar nicht vorstellen wollen (); – dass wir gar nicht begreifen können, dass wir selbst – nach FW  – Gott getötet haben sollen ();

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nicht sprechen. Zu Beginn eines seiner letzten Werke, der Götzen-Dämmerung von 1888, kann man lesen: Auch der Muthigste von uns hat nur selten den Muth zu dem, was er eigentlich weiss … (GD Sprüche 2)

Das Wort „weiss“ ist hervorgehoben, danach folgen Auslassungspunkte. Mut braucht man, wo Angst aufkommt. Nietzsche brauchte seinerseits lange, um den Satz auszusprechen und mitzuteilen.¹⁹ Zuletzt hatte er für sich notiert, was er zu wissen glaubte: dass er „von Grund aus bisher Nihilist“ gewesen sei, sich das aber lange nicht eingestehen konnte. Aber gerade die Aufgabe, den Nihilismus aufzudecken, habe ihn selbst vor der völligen Haltlosigkeit bewahrt: Man hat nur spät den Muth zu dem, was man eigentlich weiß. Daß ich von Grund aus bisher Nihilist gewesen bin, das habe ich mir erst seit Kurzem eingestanden: die Energie, der Radikalism, mit der ich als Nihilist vorwärts gieng, täuschte mich über diese Grundthatsache. Wenn man einem Ziele entgegengeht, so scheint es unmöglich, daß „die Ziellosigkeit an sich“ unser Glaubensgrundsatz ist.²⁰

Nietzsche hatte an der Notwendigkeit der Aufdeckung des Nihilismus lange noch seine Wahrheit, auch wenn sie die Wahrheit der möglichen Unwahrheit aller Wahrheit war.²¹ Aber eben mit der Erwartung einer solchen Wahrheit, gestand er – dass beim grenzenlos möglichen Experimentieren mit Menschenmöglichkeiten nach dem Tod Gottes auch und gerade der Humanitäts-Glaube nicht vor dem Nihilismus rettet, weil er ihm nach Nietzsche selbst entspringt (); – dass der Nihilismus vor das Paradox stellt, ihn noch gar nicht erreicht zu haben, solange man noch an ihm leidet,von ihm aber gar nichts wissen zu können,wenn man nicht an ihm leidet (); – dass die Literatur ihn darum eher zeigen als die Philosophie ihn denken kann (); – dass uns nichts anderes übrig bleibt, als das Leben als offenes Experiment zu begreifen und zu leben, so wie es Nietzsche vorgedacht und vorgelebt hat ( – ). Insbesondere an den letzten Punkt schließen wir an.  Vgl. Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie,  – .  NL , [], KSA . f./KGW IX/, W II , .  Porter, Nietzsche and the Impossibility of Nihilism, besteht, um die Paradoxie zu vermeiden, auf einer „affirmation of life“ in allem „denial of life“; einen Nihilismus, der das Leben verneint, betrachtet er als „self-refuting“ ( – ). Metzger, How Deep Are the Roots of Nihilism?, setzt den Nihilismus darum auch nur als „the loss of value and meaning, the enervation of humanity’s creative will“ an (). Nietzsche gehe es gerade darum, „the basic character of life“, „the basic conditions of existence“ zu klären und wahre, nicht nur interpretierende Aussagen darüber zu machen (). Der mainstream der anglo-amerikanischen Nietzsche-Forschung, der auf eine „naturalistic explanation“ () hinaus will, sträubt sich gegen einen tieferen, auch die gewohnte Logik noch angreifenden Nihilismus. Doch Nietzsche selbst hatte einen solchen durchaus erwogen: „Der Nihilism ist nicht nur eine Betrachtsamkeit über das ‚Umsonst!‘, und nicht nur der

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sich selbst ein, könnte man immer noch den alten metaphysischen und religiösen Sinngebungen folgen, mit denen es nun gerade nichts mehr auf sich haben könnte, könnte man immer noch dem ‚asketischen Ideal‘ verhaftet sein, das die Metaphysik und das Christentum den Europäern aufprägten und das im Glauben an eine jenseitige Wahrheit seinen letzten Halt hat. Die Wahrheit ‚des Lebens‘ könnte dagegen, mutig und illusionslos betrachtet, eben seine ‚Ziellosigkeit‘ sein, und erst wer sich dies, dass ‚das Leben‘ keinen irgendwie gearteten vorgegebenen ‚Sinn‘ hat, mit aller Konsequenz eingestehen kann, wäre wirklich beim Nihilismus angekommen. ‚Eigentlich‘ weiß man auch das schon seit Gorgias, aber indem man es als Wissen ausspricht, glaubt man schon wieder, etwas Festes und Sicheres in der Hand zu haben: Man hat das Nichts und den Nihilismus dann ihrerseits zu Gegenständen gemacht, mit denen man umgehen kann wie mit allen anderen, und so hatte sie auch Hegel noch behandelt. Als Gegenstände eines Wissens sind das Nichts und der Nihilismus schon kein Nichts und kein Nihilismus mehr, die Angst vor ihnen schwindet.²² Indem Nietzsche nun aber das Ziel der Aufdeckung des Nihilismus selbst in den Nihilismus einbezieht, nämlich so, dass man ihm eben dadurch immer noch entkommt, weil man immer noch einen Gegenstand vor sich hat, geht auch er zum Selbstbezug über, jetzt des Begriffs des Nihilismus selbst. Dieser selbstbezügliche Begriff des Nihilismus dementiert als Operation (seine Aufdeckung) deren Resultat (den scheinbaren Gegenstand). Nietzsches nihilistisches Nichts tut sich so immer dort auf, wo etwas, an das man sich letztlich zu halten versucht, sich der Vergegenständlichung entzieht, wo es sich weder denken noch aussprechen lässt, sondern schlechthinnige Ungewissheit bleibt, die Angst erregt. Es wird als beängstigende Desorientierung erfahren.²³ Weil er in keiner Glaube, daß alles werth ist, zu Grunde zu gehen: er legt Hand an, er richtet zu Grunde … Dies ist, wenn man will, unlogisch: aber der Nihilist glaubt nicht an die Nöthigung, logisch zu sein … Er ist der Zustand starker Geister u. Willen: u solchen ist es nicht möglich, bei dem Nein ‚des Urtheils‘ stehen zu bleiben: – das Nein der That kommt aus ihrer Natur. Der Ver-Nichtsung [!] durch das Urtheil sekundirt die Ver-Nichtung durch die Hand. / Die Heraufkunft des Nihilismus.“ (NL / , [], KSA . f./KGW IX/, W II , )  Vgl. den Schluss von GM: „lieber will noch der Mensch das Nichts wollen als nicht wollen …“ (GM III ). Man ist, so Nietzsche, noch im „asketischen Ideal“ befangen, wenn man wie Schopenhauer das Nichts will und es dabei vergegenständlicht.  Bejaht man das Nichts und strebt man es als solches an, wird man zum Mystiker. Lähmender Schrecken schlägt in erlösende Hoffnung um. Auch Nietzsche ist immer wieder für einen Mystiker gehalten worden, etwa von Lou Andreas-Salomé (Friedrich Nietzsche in seinen Werken). Sofern die Bejahung des Nichts aber seine Vergegenständlichung voraussetzt, hat Nietzsche sie durchschaut und bekämpft, etwa in Gestalt des ‚russischen Fatalismus‘ oder ‚Anarchismus‘. Ganz angstfrei wird der Nihilismus, wenn man ihn wie Sommer, Gott – Nihilismus – Skepsis, zum „negativen Dogmatismus“ erklärt, auf bloße Skepsis herabstuft und schließlich in „Kulturdiagnose“ münden lässt. Nach Düsing, Gottestod – Nihilismus – Melancholie, lässt der Nihilismus,

2 Der Weg vom nihilistischen zum konstruktivistischen Nichts

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Weise zu vergegenständlichen ist und schon bloße Benennungen Gegenstände vorspiegeln, hat Nietzsche in dem Satz, den er dann veröffentlichte, selbst den Namen ‚Nihilismus‘ weg- und nur Auslassungspunkte übriggelassen. So blieb er freilich auch den Leser(inne)n verborgen, sollte ihnen vielleicht verborgen bleiben, weil den meisten von ihnen kaum der Mut zuzutrauen war, von ihm wissen zu wollen.

2 Der Weg vom nihilistischen zum konstruktivistischen Nichts über die Selbstüberwindung des Nihilismus 2.1 Der erste, nicht zu überwindende Nihilismus Der Nihilismus im genannten Sinn ist nach Nietzsche „ein normaler Zustand“.²⁴ Er ist nichts, das zu ‚überwinden‘ wäre, wie gerne angenommen wird.²⁵ Bei Nietzsche gibt es dafür keinen Beleg.²⁶ Das spricht dafür, ihn auch als einen nicht zu als Gottesverlust verstanden, lediglich in Melancholie verfallen, die durch den Wiederkunftsgedanken therapierbar sei.  NL , [], KSA ./KGW IX/, W II , .  Vgl. zuletzt Reginster, The Affirmation of Life, und, unabhängig von ihm, Brock, Nietzsche und der Nihilismus.  Zahlreiche Kollegen, darunter beste Kenner der Textlage wie Paul van Tongeren, haben das bestätigt. Auch Burnham, The Nietzsche Dictionary, der in seinem Art. overcome sorgfältig Nietzsches Verwendungen des Begriffs registriert ( – ), erwähnt keine Verknüpfung mit dem Nihilismus. Die wichtigste Quelle für die Rede von der ‚Überwindung des Nihilismus‘ scheint Heidegger, Nietzsches Wort ‚Gott ist tot‘, und: Nietzsche,  Bde., zu sein, der ganz selbstverständlich und laufend von ihr spricht. Heidegger konnte den Nihilismus sogleich mit seiner Überwindung verbinden, weil er ihn zunächst anhand des Notats NL , [], KSA ./ KGW IX/, W II , , bestimmte, nach dem er bedeute, „{daß die obersten Werthe sich entwerthen}“ (Einl., .), was unmittelbar eine „neue Wertsetzung notwendig“ mache (Heidegger, Nietzsche, .). Später verallgemeinert er: Nietzsche „will die Überwindung des Nihilismus in jeder Form“ (Heidegger, Nietzsche, .; zur Gesamtkonstruktion Heideggers vgl. die prägnante Darstellung von Gregorio, Übermensch und Nihilismus in der Nietzsche-Auslegung Martin Heideggers). Doch vor die angegebene Stelle hat Nietzsche noch nachträglich eben jenes „{Der Nihilism ein normaler Zustand.}“ eingefügt. Auch dass der Nihilismus durch den Gedanken der ewigen Wiederkehr überwunden werden könne und solle, sagt Nietzsche nicht. Der Nihilismus wird durch das Gedankenexperiment im Gegenteil bekräftigt, extremer gedacht (NL /,  [], KSA ./KGW IX/, N VII , ). Im . der Nietzsche-Bände, inbesondere in dem umfangreichen Beitrag Der europäische Nihilismus, erweiterte Heidegger dann wohl das Spektrum des Nihilismus, setzte aber zugleich einen „‚klassischen Nihilismus‘“ bei Nietzsche an, in dem die Wahrheit der Metaphysik zu einem nichtigen Wert werde und wiederum die „Aufgabe einer neuen Wertsetzung“ stelle – die Heidegger als Nietzsches „eigene ‚Metaphysik‘“ vom Willen zur Macht

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I Orientierung im Nichts: Nietzsches Nihilismus und Luhmanns Konstruktivismus

überwindenden, sondern ‚normalen‘ zu verstehen, mit dem man leben muss und kann. Gleichwohl gehört ‚Überwindung‘ zu Nietzsches charakteristischen Begriffen, und er setzte ihn auch in komplexer Weise zum Nihilismus in Beziehung, jedoch zu dessen abgeleiteter, ihn verdeckender Gestalt, den ‚zweiten‘ Nihilismus, auf den wir gleich zurückkommen. Im Hinblick auf ihn unterschied er in seinem berühmten Lenzer Heide-Notat, dem er den Titel „Der europäische Nihilismus“ gab, den Nihilismus in seiner ursprünglichen Gestalt als den „ersten Nihilismus“.²⁷ Statt ihn überwinden zu wollen, muss man ihm standhalten und damit Halt im oder sogar am Haltlosen finden. Das gelingt am ehesten und besten,wenn man ihn

konstruierte, die den Nihilismus überbiete, indem sie ihn überwinden wolle (Heidegger, Nietzsche, .; vgl. .). Damit entfernte er sich noch weiter von Nietzsches Texten, auch den von Peter Gast und Elisabeth Förster-Nietzsche in Der Wille zur Macht kompilierten, an die er sich wider besseres Wissen hielt (Heidegger, Nietzsche, ., . f.). Er ging so weit, Nietzsche zu unterstellen, er habe „das verborgene Wesen des Nihilismus“ selbst nicht verstanden, weil es im Wertdenken als solchem liege (Heidegger, Nietzsche, .): „Aus dem Wesen des Nihilismus gedacht, ist Nietzsches Überwindung nur die Vollendung des Nihilismus.“ (Heidegger, Nietzsche, .) So wurde Heidegger die Überwindung und das Überwinden-Wollen seinerseits zweifelhaft (Heidegger, Nietzsche, . ff.). Müller-Lauter, Über den Nihilismus und die Möglichkeit seiner Überwindung, zeigte denn auch, wie Heidegger nach der Möglichkeit der Überwindung lediglich des von ihm gedachten Nihilismus sucht (). Dass jedoch Nietzsche selbst nicht von einer ‚Überwindung des Nihilismus‘ sprach, scheint auch ihm, einem der sorgfältigsten Nietzsche-Interpreten seiner Zeit und dem strengsten Kritiker von Heideggers metaphysischer Nietzsche-Interpretation, nicht aufgefallen zu sein. Im Gegenteil, auch er verwendet die Formel unbesehen für Nietzsche selbst (). Dass Nietzsche in Titelentwürfen vom „Kampf gegen“ bzw. „mit dem Nihilismus“ spricht (NL /, [], KSA ./KGW IX/, N VII , ; NL /, [], KSA . [noch nicht in KGW IX]), heißt noch nicht, dass der Nihilismus überwunden werden könne oder solle. Wohl aber kann sich nach Nietzsche der Nihilismus selbst überwinden.  NL /, [], KSA ./KGW IX/, N VII , . Mit „ersten“ ist offenbar zunächst der in Abschnitt  des umfangreichen Notats behandelte Nihilismus gemeint, auf den man in der europäischen religiösen und metaphysischen Tradition mit der „christlichen Moral-Hypothese“ reagiert hatte, insofern aber auch der ursprüngliche. – Das Lenzer Heide-Notat, das Nietzsche auf den . Juni  datiert hatte, ist die wichtigste, weil differenzierteste Nachlass-Quelle für seine Überlegungen zum Nihilismus. Er hatte sie so jedoch nicht veröffentlicht, vielleicht, weil er sie für nicht ausgereift, vielleicht auch, weil er die Leser(innen) nicht reif genug für sie hielt. So ist es, wie alle Notate aus dem Nachlass, nicht autorisiert, und man kann sich nur mit Vorbehalt daran halten (zur Problematik des Nachlasses gerade im Blick auf die Bestimmung des Nihilismus vgl. Born, Nihilistisches Geschichtsdenken,  – ). Die Vielfalt der Bestimmungen drängt immer wieder Typologien auf (vgl. etwa White, Nietzschean Nihilism; Kuhn, Friedrich Nietzsches Philosophie des europäischen Nihilismus,  – ; Brock, Nietzsche und der Nihilismus,  – ), die auch durchaus hilfreich sind. Da sie aber ihrerseits wieder ganz unterschiedlich ausfallen, sind sie nicht weniger verwirrend. White, Nietzschean Nihilism, lässt seine Typologie auf den „ersten“ Nihilismus zulaufen, rekonstruiert ihn aber wiederum als „belief“ und damit als „‚something to be overcome‘“ ().

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bewusst zur eigenen Orientierung nutzt. Nietzsche ist aus dieser Einsicht zu seinem Perspektivismus (Kap. II), Luhmann zu seinem Konstruktivismus gekommen. Im Angesicht des ersten, ursprünglichen, abgründigen, beängstigende Desorientierung auslösenden Nihilismus lassen sich Person und Philosophie nicht trennen; „denn heute“, schrieb Nietzsche in GM III 23, „ist das wissenschaftliche Gewissen ein Abgrund“, und „wenn du“, wie er zuvor bemerkt hatte, „lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein“ (JGB 146). Später nannte man eine solche, die Person des Philosophen selbst mitnehmende Bedrohung eine ‚existentielle‘. Im Persönlichen, in Briefen an Freunde und Verwandte vor allem aus den späten Jahren 1887– 88, konnte Nietzsche spielerisch, ironisch von ‚Nihilismus‘ und ‚Nihilisten‘ sprechen.²⁸ Aber er schrieb laufend auch von seiner „Tortur“,²⁹ von quälender Einsamkeit und tagelangen schweren Anfällen, die ihn an seinem Dasein verzweifeln ließen und immer wieder zu Suizidwünschen trieben, und schrieb dann auch, wie viel er „zu überwinden“, „welche Überwindung“, „Muth und Willenskraft“ er „nöthig hatte, um mir nicht die Melancholie eines Leidenden allzusehr anmerken zu lassen“. Schon gegen Wetter und Klima extrem empfindlich, machte er regelmäßig „Depressions-Zeiten“ durch, so dass es ihn „eine ernsthafte Überwindung [kostete], mit jedem einzelnen Tage fertig zu werden“: es giebt Zeiten, wo man nicht mehr Herr über sich ist und Dinge thut, die man beim ersten Sonnenstrahle kaum mehr begreift.³⁰

Nietzsche erlebte, und das war für ihn philosophisch von Bedeutung, Haltlosigkeit, Desorientierung buchstäblich am eigenen Leib. Soweit er darin den Nihilismus erfuhr, versuchte er nicht, ihn, sondern sich selbst zu überwinden, und das hieß für ihn, daran zu arbeiten, in solchen Depressionszeiten einen Halt in sich zu finden. Davon schrieb er dann in Ecce homo, einer seiner letzten von ihm zur Veröffentlichung vorbereiteten Schriften. Er wollte dort in einer Genealogie seines eigenen Denkens klären, wie gerade er zur Aufdeckung des Nihilismus und einem neuen philosophischen Anfang bei ihm fähig geworden war. Er beantwortete die Frage „Warum ich so weise bin“ mit seinem „Sieg über das Ressentiment“, in das  Vgl. die Briefe an Heinrich Köselitz in Venedig, Genua, . März , Nr. , KSB ., an Erwin Rohde in Heidelberg, Chur, . Mai , Nr. , KSB . f., an Heinrich Köselitz in Venedig, Nizza den . November , Nr. , KSB ., und an Elisabeth Förster in Nueva Germania, Nizza, . März , Nr. , KSB ..  Z. B. im Brief an Franz Overbeck in Basel, Nizza den . Februar , Nr. , KSB ..  Brief an Franziska Nietzsche in Naumburg, Nizza, . April , Nr. , KSB .; Brief an Elisabeth Förster in Asuncion, Chur, den . Juni , Nr. , KSB .; Brief an Franziska Nietzsche in Naumburg, Nizza, den . März , Nr. , KSB . f.

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ihn sein Leiden ständig zu treiben und das ihm mit Aversionen und Illusionen den Blick auf die Realität zu verstellen drohte. Tatsächlich habe die Schwere seines Leidens ihn aber, so versuchte er es im Rückblick zu verstehen, vom Ressentiment zu befreien vermocht – weil ihm, wenn er sich von ihm nicht überwinden lassen wollte, nichts geblieben sei als „Nichts überhaupt mehr annehmen, an sich nehmen, in sich hineinnehmen – überhaupt nicht mehr reagiren“ (EH weise 6). ‚Nichts‘ scheint hier in doppeltem Sinn gemeint zu sein. Indem Nietzsche schließlich gegen den quälenden, alles beherrschenden Schmerz fühllos wird, überwindet sich, was nur wenigen nachvollziehbar sein mag, der Schmerz selbst, wird zu einem Nichts, von dem nichts mehr ausgeht. Wenn „jede Thätigkeit“, wie sich Nietzsche zuvor notiert hatte, „ein Überwinden von Schwierigkeiten und Widerständen“ ist,³¹ so war hier kein Widerstand mehr und war darum auch nichts mehr zu tun. Das hieß: „Sich selbst wie ein Fatum nehmen, nicht sich ‚anders‘ wollen“ (EH weise 6). Wollen, so Nietzsche, ist immer schon Etwas-anders-habenWollen.Wenn man, durch dauernde schwerste Leiden fühllos gegen sie geworden, alles annimmt, was geschieht, wird das Wollen still und entgeht so dem paradoxen „das Nichts wollen“, dem „Willen zum Nichts“, der sich auf das Nichts, das ihn ängstigt, fixiert und es so vergegenständlicht (GM III 28). Im Still-Werden des Wollens bleibt das Nichts dagegen – Nichts.³² Es ängstigt auch nicht mehr. Nietzsche beanspruchte zuletzt, in seiner Person das schopenhauersche „Verlangen hinweg aus allem Schein, Wechsel, Werden, Tod, Wunsch, Verlangen selbst“, das Wollen überhaupt und damit auch den „Widerwillen gegen das Leben“, die „Auflehnung gegen die grundsätzlichsten Voraussetzungen des Lebens“ (GM III 28), für seine Person überwunden zu haben. Er habe gelernt, lernen müssen, in der Verzweiflung „ohne Revolte“ auszuhalten (EH weise 6), und erst so, darf man schließen – Nietzsche sagte es nicht mehr –, konnte er den ‚ersten‘ Nihilismus, den Nihilismus in seinem abgründigsten Sinn mutig zu Gesicht bekommen, ohne ihn überwinden zu wollen. Auch darin lag ein doppelter Selbstbezug: neben dem eines Schmerzes, der gegen sich fühllos macht, der eines Wollens, der kein Wollen mehr will. Damit war Nietzsche auch über den schopenhauerschen ‚romantischen Pessimismus‘ hinausgekommen.

 NL /, [], KSA . [noch nicht in KGW IX].  In AC hat Nietzsche am „Typus des Erlösers“ eine „evangelische Praktik“ ohne Willen zur Macht, ohne ein Anders-haben-Wollen überhaupt entworfen.Vgl. Stegmaier, Nietzsches Kritik der Vernunft seines Lebens, und Stegmaier, Beseligende Freiheit der menschlichen Orientierung.

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2.2 Der zweite, zu überwindende Nihilismus Im schopenhauerschen ‚Willen zum Nichts‘ erkannte Nietzsche auch einen Nihilismus, jedoch einen, der auf den ‚ersten‘ Nihilismus dadurch reagiert, dass er ihn verdeckt oder, wie im Fall Schopenhauers, bekämpft. Da Nietzsche den Unterschied zwischen diesem zweiten und dem ersten Nihilismus kaum deutlich machte, mussten Verwirrungen entstehen. Er bezeichnete den zweiten, reaktiven Nihilismus³³ am Ende der II. Abhandlung von GM eher verrätselnd („Ich schliesse mit drei Fragezeichen, man sieht es wohl“) und auch nicht geradewegs mit dieser Formel als „Nihilismus“ des „bisherigen Ideals“ (GM II 24).³⁴ In einem Notat von 1887, das auf das Lenzer Heide-Notat folgte und in dem sich Nietzsche erneut über das, was er „Nihilismus“ nannte, Übersicht zu schaffen suchte, ging er davon aus, dass der Nihilismus „zweideutig“ sei. Seine „Voraussetzung“ aber blieb: Daß es keine Wahrheit [,] keine absolute Beschaffenheit der Dinge, kein „Ding an sich“ giebt – dies ist selbst ein Nihilism, u. zwar der extremste. Er legt den Werth der Dinge gerade dahinein, daß diesem Werthe keine Realität entspricht u entsprach, sondern nur ein Symptom von Kraft auf Seiten der Werth-Ansetzung, eine Simplification zum Zweck des Lebens. ³⁵

In einem bald folgenden Notat nannte Nietzsche den ‚ersten‘ und ‚extremsten‘ den „radikalen“ oder „letzten Nihilismus“: Der radikale Nihilismus ist die {Überzeugung einer} absolute Unhaltbarkeit des Daseins vor der Moral, {wenn es sich um die höchsten Werthe, die man anerkennt, , hinzugerechnet die Einsicht, daß wir nicht das geringste Recht haben, ein Jenseits oder ein An-sich {der Dinge} anzusetzen, daß {worin} „göttlich“, das leibhafte Moral sei. Diese Einsicht ist eine Folge der großgezogenen „Wahrhaftigkeit“: somit {selbst} eine Folge des Glaubens an die Moral. […] Die Logik des Pessimismus bis zum letzten Nihilimus: was treibt da? Begriff der Werthlosigkeit, Sinnlosigkeit: in wiefern moralische Werthungen hinter allen sonstigen hohen Werthen stecken. […]³⁶

 Wir übernehmen Deleuze’ Begriff des „reaktiven Nihilismus“ (Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, ), ohne uns darum Deleuze’ Gesamtdeutung von Nietzsches Philosophie aus der Unterscheidung aktiv–reaktiv anzuschließen. Nach Deleuze wird nicht auf das ursprüngliche Nichts, sondern „gegen die übersinnliche Welt“ und deren „höhere Werte“ reagiert ().  „Dieser Mensch der Zukunft, der uns ebenso vom bisherigen Ideal erlösen wird, als von dem, was aus ihm wachsen musste, vom grossen Ekel, vom Willen zum Nichts, vom Nihilismus […]“ (GM II ). Der Anti-Typ zu diesem „erlösenden Menschen“ (GM II , s.u.) ist „der reaktive Mensch“ (GM II ).  NL , [], KSA . – /KGW IX/, W II , .  NL , [], KSA ./KGW IX/, W II , .

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Nicht auf moralische Wertungen, sondern auf die „Wahrheit“ des „Daseins“ überhaupt bezogen, erscheint der ‚radikale‘ und ‚letzte‘ schließlich als „grundsätzlichster Nihilismus“: Philosophie, wie ich sie bisher verstanden u. geübt {gelebt} habe, ist das freiwillige Aufsuchen der furchtbaren auch der fremden {verwünschten u. verruchten} Seiten des Daseins. […] Eine solche Denkweise Selbst Disciplin als Philosophie Denkweise {Experimental-Philosophie, wie ich sie lebe,} […] nimmt {versuchsweise selbst die} Möglichkeit{en} selbst des grundsätzlichsten Nihilismus selbst vorweg: Doch ist {ohne daß} damit nicht gesagt {ist wäre}, daß sie {bei einem Nein, bei einer Negation bei Nein beim} einem Willen zum Nichts enden {Nein} {stehen blieben wolle} müßte. Mein Instinkt {Sie} will vielmehr bis zum Umgekehrten hindurch – bis zu einem dionysischen Jasagen zur Welt, wie sie ist u war u sein wird, ohne Abzug, Ausnahme u Auswahl […] sie will {dieselbe Logik u Unlogik der Knoten.}³⁷

Der grundsätzlichste Nihilismus ist, weil man, wie in GD Sprüche 2, über ihn nur schweigen kann, ein Gedankenexperiment, zu dem die Aufdeckung des ‚zweiten‘, reaktiven Nihilismus nötigt. Das Ideal, das ihn über Jahrtausende aufrecht erhielt, das „asketische Ideal“, wie Nietzsche es in der III. Abhandlung von GM nannte, habe als asketisches auf ein strenges Absehen von der eigenen Person, auf „Selbstlosigkeit, Selbstverleugnung, Selbstopferung“ (GM II 18), auch hier also auf einen Selbstbezug hingewirkt. Was sich da auf sich selbst bezogen habe, sei eine tief sitzende Lust an Grausamkeit gewesen, die, durch die christlichen Religionsstifter gegen sich selbst gerichtet, zum christlichen Gewissen geworden sei. So habe es als Ideal auf eine jenseitige, zunächst religiöse, dann wissenschaftliche Wahrheit hin orientiert³⁸ und von der tatsächlichen Zweck-, Sinn- und Haltlosigkeit des Lebens abgelenkt. An die Stelle des beängstigenden tatsächlichen Nichts sei ein verführerisches Ideal getreten, das einen fiktiven, nur scheinbaren Halt gab, ein über das Nichts hinwegtäuschendes und darum noch nichtigeres Nichts. Von diesem Nihilismus des Ideals sprach Nietzsche bis zuletzt ausführlich in seinen Notaten und in seinen zur Veröffentlichung bestimmten Schriften. Und dieser Nihilismus war durchaus zu überwinden, aber wiederum nur durch sich selbst.

 NL , [], KSA ./KGW IX/,W II , . Die differenzierte Transkription der KGW IX macht deutlich wird, wie stark Nietzsche das Notat bearbeitet hat – die Wendung „grundsätzlichsten Nihilismus“ aber ließ er unberührt stehen, auch sie, ohne sie zu veröffentlichen. Es handelt sich um einen Entwurf zum . Abschnitt der Vorrede zu EH.  Vgl. Stegmaier, Nietzsches Genealogie der Moral.

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2.3 Die Selbstüberwindung des Nihilismus In einem weiteren Notat aus dem Jahr 1888,³⁹ einem Plan zu einem eigenen Buch über den Nihilismus, sprach Nietzsche ausdrücklich von der „Selbstüberwindung des Nihilismus“. Nach einem Teil „A. Von der Heraufkunft des Nihilismus“, in dem der moralische „Glaube an die Wahrheit“ und der „Niedergang dieses höchsten Werthes“ und „jeder Art Glaubens“, ferner der „Niedergang aller herrschaftlichen Typen“ zur Sprache kommen sollte, sah er einen Teil „B. Von der Nothwendigkeit des Nihilismus“ vor, in dem es um die „Herkunft der höchsten bisherigen Werthe“, um die Bedeutung der „Moralisten und Moralsysteme“ und die „Kritik der ästhetischen Werthe“ gehen sollte. Mit der „Nothwendigkeit“ scheint die der Herkunft des Nihilismus des Ideals aus dem ursprünglichen und schwer erträglichen Nihilismus gemeint zu sein. In einem Teil C wollte Nietzsche dann von der „Selbstüberwindung des Nihilismus“ und hier von der „Hypothese“ (JGB 36) des „Willens zur Macht“ handeln, die auf das Wahrheits-Ideal des zweiten, reaktiven Nihilismus zersetzend wirken sollte. Nietzsche sah hier eine „psychologische“, eine „physiologische“ und eine „historisch-sociologische Betrachtung“ vor, drei unterschiedliche Hinsichten, in die später auch Luhmann die vermeintliche Einheit des Menschen auflöste (Kap. V). Dem sollte sich ein letzter Teil „D. Die Überwinder und die Überwundenen“ anschließen mit den Abschnitten „Vom Vorrecht der Wenigsten“, „Der Hammer: Lehre von der ewigen Wiederkunft“ und „Von der Rangordnung der Werthe“: Nur die Wenigsten würden imstande sein, im Glauben an die Wahrheit mutig und konsequent, das heißt wiederum im Selbstbezug die Wahrheit der Haltlosigkeit dieses Glaubens und mit ihr unter dem Nihilismus des Ideals den grundsätzlichsten Nihilismus aufzudecken. Dazu könnten sie sich dem als ebenso abgründig gedachten Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen aussetzen und ihn im doppelten Sinn zum „Hammer“ werden lassen, einerseits zum Auskultationshammer, mit dem man die „Götzen“ des asketischen Ideals „aushorchen“ kann (GD Vorwort), andererseits zum Ambosshammer, unter dem sich der Mut zum grundsätzlichsten Nihilismus formen und festigen würde.⁴⁰

 NL , [], KSA . [noch nicht in KGW IX].  Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, nennt „‚Überwindung‘“ ein „Grundwort“ Nietzsches () und handelt ausführlich von der Überwindung der Zeitlichkeit der Zeit ( u.ö.), des Menschen ( u. ö.), der Schwere (), des „schuldhaften Daseins“ () u. a. und in diesem Zusammenhang auch von „Nietzsches Versuch einer Überwindung des Nihilismus im Dasein des endlichen Menschen“ durch die Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen, der „zugleich ein Versuch zur Überwindung der dem Zufall des endlichen Daseins eingeborenen Zeit“ sei (). Dies sei jedoch die Überwindung des „extremsten Nihilismus“ „durch sich selbst“ (). Löwith kritisiert Heidegger scharf dafür, dass er das nicht gesehen habe

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Der Grad, in dem jemand dazu fähig wäre,würde dann zum Maß der Rangordnung (Kap. XI). Er scheidet die ‚Überwinder‘, die über den Nihilismus des Ideals hinauskämen, von den ‚Überwundenen‘, die in ihm befangen blieben. Auch die Selbstüberwindung des Nihilismus des Ideals war für Nietzsche also ebenfalls Sache des Muts zu einer Einsicht, nun der Einsicht, dass das Ideal des Wahren und Guten, das über alle Macht erhaben scheint, selbst einem Willen zur Macht dient, nämlich dem, durch Religion und Moral vom Blick in den abgründigen Nihilismus abzuhalten und damit Religion und Moral zugleich zum letzten Halt zu machen. Der Wille zur Macht, den Nietzsche hypothetisch in allem Geschehen voraussetzte (GM II 12), übergreift beide Nihilismen; er wird in der ‚Heraufkunft‘ und in der ‚Selbstüberwindung‘ des Nihilismus des Ideals ebenfalls selbstbezüglich.Wenn es aber der Nihilismus selbst ist, der sich dabei überwindet, wird er von den Einzelnen, die das einsehen, weniger gewollt als durchlebt. So liest sich ein Notat von 1887/88, der Entwurf einer Vorrede zum damals noch geplanten Hauptwerk „Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werthe“. Nietzsche präsentierte sich dort als der erste vollkommene Nihilist Europas, der aber den Nihilismus selbst schon in sich zu Ende gelebt hat, – der ihn hinter sich, {unter sich, außer sich} hat …⁴¹

Im gleichen Heft notierte er: Ein Philosoph erholt sich anders u. in Anderem: er erholt sich z. B. im Nihilism Der Glaube, daß es gar keine Wahrheit giebt, {der Nihilisten-Glaube} ist ein großes Gliederstrecken für einen {Kriegsmann}, der {als Kriegsmann der Erkenntniß} unvermeidlich u. unablässig mit lauter häßlichen Wahrheiten kämpft u. im Kampfe liegt. Denn die Wahrheit ist häßlich.⁴²

Und bald danach: Für einen Kriegsmann der Erkenntniß, der immer im Kampf mit häßlichen Wahrheiten liegt, ist der Glaube, daß es gar keine Wahrheit giebt, ein großes {Bad u.} Gliederstrecken. – Der Nihilismus ist unsre Art Müssiggang …⁴³

(). Wieweit Löwiths Nietzsche-Deutung im Übrigen heute noch tragfähig ist, können wir hier offen lassen.  NL /, [], KSA ./KGW IX/, W II , .  NL /, [], KSA ./KGW IX/, W II , .  NL , [], KSA ./KGW IX/, W II , . – Constâncio, Arte e niilismo, , verweist mit diesen Notaten auf Nietzsches ‚fröhliche‘ Überwindung des schopenhauerschen Pessimismus.

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Die Selbstüberwindung des Nihilismus ergibt sich dem Einzelnen, kostet ihn keine Anstrengung, wenn er nur frei und mutig genug ist, sie einzusehen und, wie Nietzsche selbst, genug Routine hat, die eigenen Leiden zu überwinden. Er kommt dann zu einer Distanz, aus der sich der Nihilismus in seiner Verdeckung und der Überwindung dieser Verdeckung (fast) unpersönlich beobachten lässt. ‚Historisch-soziologisch‘ betrachtet, wird das leichter, wenn, wie Nietzsche wiederum in Lenzer Heide notierte, die äußere „‚Noth‘“ geringer wird: „‚Gott, Moral, Ergebung‘ waren Heilmittel, auf furchtbaren tiefen Stufen des Elends“. Jetzt, „bei relativ viel günstiger gestalteten Verhältnissen“, nachdem „das Leben […] nicht mehr dermaaßen ungewiß, zufällig, unsinnig [ist] in unserem Europa“ und bei „relativem Wohlleben“ auch einen „ziemlichen Grad geistiger Cultur“ erreicht hat, sind „Gegenmittel gegen den ersten Nihilismus nicht mehr so nöthig“.⁴⁴ Es muss einem einigermaßen gut gehen, wenn man sich mit den Abgründen seiner Orientierung konfrontieren will. Man kann dann eher über seine physiologischen und psychologischen Bedingtheiten hinaus- und, jedenfalls als experimentierfreudiger Philosoph, von der eigenen Person loskommen. „Was verlangt ein Philosoph am ersten und letzten von sich? Seine Zeit in sich zu überwinden, ‚zeitlos‘ zu werden“, schrieb Nietzsche im Vorwort zur späten Schrift Der Fall Wagner: Eine tiefe Entfremdung, Erkältung, Ernüchterung gegen alles Zeitliche, Zeitgemässe: und als höchsten Wunsch das Auge Zarathustra’s, ein Auge, das die ganze Thatsache Mensch aus ungeheurer Ferne übersieht, – unter sich sieht … (WA Vorwort)

Gemeint ist nicht mehr eine theoretische Überhebung alter Art, eine schlichte Leugnung der Zeit oder Abstraktion von ihr in der Weise der alten Metaphysik und auch nicht mehr die christliche Art, „die Welt zu überwinden“ (FW 353). Heruntergebrochen in die Sprache eines „Moralisten“ – „Aber der Philosoph liebt die Moralisten nicht … er liebt auch die schönen Worte nicht …“ – vollzieht sich die Selbstüberwindung des Nihilismus des Ideals als „‚Selbst-Überwindung‘“ und „‚Selbst-Verleugnung‘“, nämlich als Überwindung und Leugnung jenes moralischen Selbst, das einer gemeinsamen Vernunft verpflichtet sein sollte (WA Vorwort). Soweit Nietzsche bei der Selbstüberwindung des Nihilismus des Ideals an Einzelne dachte, erwartete er für die Zukunft einen „schöpferischen Geist“, der als „erlösender Mensch“, als „Antichrist und Antinihilist“, als „Besieger Gottes und des Nichts“ „die Wirklichkeit“ befreien könnte „von dem Fluche, den das bisherige Ideal auf sie gelegt hat“. Er könnte Bahn brechen für eine neue „Versenkung, Vergrabung, Vertiefung in die Wirklichkeit“ (GM II 24), eine unbefangenere Erschließung der Realität, als sie die europäische Philosophie jemals gesehen hat,  NL /, [], KSA . u. /KGW IX/, N VII ,  f. u. .

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I Orientierung im Nichts: Nietzsches Nihilismus und Luhmanns Konstruktivismus

einschließlich ihres Nichts, das dann nicht mehr ausgeschlossen würde. Er würde sich zum radikalen, grundsätzlichsten Nihilismus überwinden, der selbst nicht zu überwinden ist.

2.4 Luhmanns konstruktivistisches Nichts Der Topos der Selbstüberwindung war in Nietzsches Werk von langer Hand vorbereitet. In Z hatte er die Selbstüberwindung als „Geheimniss“ des Lebens wiederum selbstbezüglich vom „Leben selber“ verkünden lassen: „Siehe, sprach es, ich bin das, was sich immer selber überwinden muss.“ (Z II Selbst-Ueberwindung) In GM bekräftigte er im eigenen Namen „das Gesetz der nothwendigen ‚Selbstüberwindung‘“ als „das Gesetz des Lebens“ (GM III 27), des geistigen ebenso wie des biologischen. Hatte die Religion in Europa schon „Anstösse und Versuchungen genug [gegeben], die Wege zur höheren Geistigkeit zu gehen, die Gefühle der grossen Selbstüberwindung, des Schweigens und der Einsamkeit zu erproben“ (JGB 61), so wurde die „Selbstüberwindung“ des christlichen zum wissenschaftlichen Gewissen zur erfolgreichsten Errungenschaft Europas (FW 357): Mit der Rückwirkung der Wissenschaft auf das Leben wurde eine fortgesetzte „SelbstÜberwindung des Menschen“ und mit ihr eine „Erhöhung des Typus ‚Mensch‘“ (JGB 257) möglich. Vorbereitend hatte Nietzsche eine solche „Erhöhung der Menschen“ so umrissen, dass sie die „Überwindung engerer Interpretationen {mit sich bringt}, {daß Dank jede Vermehr erreichte Verstärkung u. Machterweiterung , welche neue Perspektiven giebt aufthut u an neue Horizonte glauben heißt} – dies“, setzte er hinzu, „geht durch meine Schriften“.⁴⁵ Es geht, nun in einer anderen Sprache, auch durch Luhmanns Schriften. Luhmann fing da an, wo Nietzsche aufgehört hatte. Er setzte Nietzsches radikalen, grundsätzlichsten Nihilismus voraus und ließ wie er den Nihilismus des Ideals zurück. Er hielt dabei jedoch auf wissenschaftliche Distanz, vermied pathetische Begriffe wie ‚Nihilismus‘, ‚Überwindung‘ und ‚Selbstüberwindung‘ und jeden existentiellen Bezug auf die eigene Person. Die Selbstüberwindung als ‚Geheimnis‘ des Lebens brachte er so distanziert wie nüchtern auf den Begriff der Evolution, deutete die Evolution wiederum als unablässige Variation von Variationen und Selektion von Selektionen unter ihnen, die im Ganzen zur Steigerung der Kapazität für Komplexität führen (SS, 589; GG, 451 ff.; Einl., 1.4), und die ‚Überwindung‘ engerer Interpretationen und die dadurch erreichte Verstärkung und Machterweiterung des ‚Geistes‘ als Steigerung der Komplexität von Theorien. Die

 NL /, [], KSA ./KGW IX/, W I , .

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Evolution setzt nichts voraus und lässt nichts zurück, was unbedingten Halt böte. Mit ihr konnte man inzwischen leben. Die beängstigende Rede vom ‚Nihilismus‘ wurde für Luhmann zu einer zurückliegenden historischen Episode (Einl., 2). Luhmann konnte den Nihilismus auch deshalb so herabstufen, weil er den Sinn des Begriffs stark beschränkte. Wo er ihn erwähnte, und das geschah vor allem in Die Wissenschaft der Gesellschaft, setzte er ihn bei der Selbstreflexion der wissenschaftlichen Erkenntnis an. Während er für Nietzsche ein Problem der Werte und der Erkenntnis war, zog Luhmann hier das epistemologische Problem heraus und behandelte das axiologische Problem getrennt in Abhandlungen zur Moral der Gesellschaft (Kap. VIII). In der Moderne sei klar geworden, dass die Erkenntnis selbst konstitutiv für das sei, was sie für ihre Gegenstände halte: In den von ihr konstituierten Gegenständen habe sie immer zugleich sich selbst, also nie eine von ihr unabhängige Realität vor sich. Damit blieben „das Problem der Referenz und mit ihm Begriffe wie Sinn und Wahrheit offen“ oder sie würden „in endlose Kontroversen zwischen Anti-Realisten und Realisten übergeleitet“ (WissG, 546). Geht die Referenz auf Gegenstände der Erkenntnis in Selbstreferenz der Erkenntnis über, wird sie von dieser aus entscheidbar, und so kommt es zur „Auswechselbarkeit aller Konditionierungen (aller Programme, aller Theorien, aller Methodologien)“: „Reflexion führt dann nicht mehr ohne weiteres zu Rationalitätsgarantien, geschweige denn zu Anweisungen an logisch oder methodologisch richtiges Verhalten.“ (WissG, 547) Sie kann und muss sich an nichts mehr jenseits ihrer selbst halten, sie wird in diesem Sinn nihilistisch. Werden Selbstbezüge unaufhebbar mit Fremdbezügen verknüpft (Einl., 1.3), gibt es auch in der wissenschaftlich-philosophischen Erkenntnis „keine Einheit als Ende“ mehr wie noch in Hegels Phänomenologie des Geistes, in dem „die Erkenntnis mit ihrem Gegenstand, die Vernunft mit der Wirklichkeit eins wird“ (WissG, 547). Im Begriff des Nihilismus sah Luhmann immer noch eine solche „Einheit als Ende“, auch bei Nietzsche: Die Philosophie sei im 19. Jahrhundert „nihilistisch geworden, um wenigstens dies noch als Einheit behaupten und ihre eigene Ermüdung (Nietzsche) reflektieren zu können“ (WissG, 548). Mit der im Nichts erreichten Einheit habe die Philosophie erkannt, dass sie selbst am Ende sei. Doch das schien selbst dem nietzscheskeptischen Luhmann verfrüht: „All dies könnte aber seinerseits Episode gewesen sein, die auf kein selbstvollzogenes Ende hindeutet, mit dem alles zu Ende wäre.“ (WissG, 548) Für Nietzsche war wohl der Nihilismus des Ideals zu Ende, die Einsicht in den ‚grundsätzlichsten‘ Nihilismus aber ein neuer Anfang, und das war er auch für Luhmann. Zum Abschluss von Die Wissenschaft der Gesellschaft schränkte Luhmann den Sinn des Nihilismus vollends auf das bloße „ontologische Bezugsschema“ (WissG, 719) ein. Nur in ihm habe die Unterscheidung von Sein und Nichts Sinn und dies auf der Basis der zweiwertigen Logik. Sie habe als „einzigen positiven Wert“ nur

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I Orientierung im Nichts: Nietzsches Nihilismus und Luhmanns Konstruktivismus

‚Wahrheit‘ zugelassen, deren ‚Referenz‘ das ‚Sein‘ sein sollte, und der „Referenzverlust als Wahrheitsverlust“ habe dann in die „Paradoxie des ‚Nihilismus‘“ geführt, „daß dann nur das Unwahre das Wahre sein könne. Die Logik war nicht strukturreich genug, um komplexere Verhältnisse darzustellen“ (WissG, 706). Aber Luhmann hatte hier nur noch Nietzsches Nihilismus des Ideals vor Augen, in dem er ebenfalls nur eine „Variation der religiösen Tradition“ sah, „am Unsichtbaren Halt zu suchen“ und es mit einem „Letztsymbol wie Unbeschreibbarkeit, Unsichtbarkeit, Latenz“ zu bedenken. Damit werde „nur die Kontingenz des Einsatzes aller Unterscheidungen“ reflektiert (WissG, 719). Sie aber machte für Nietzsche den ‚radikalen‘, ‚grundsätzlichsten Nihilismus‘ aus. Luhmann wählte für ihn einen anderen, nicht mehr beängstigenden, sondern ermutigenden Namen, den des ‚Konstruktivismus‘. Er verweist nicht mehr auf ins Nichts versunkene Werte, sondern darauf, dass mit Nietzsche gesprochen „Werthe […] erst geschaffen werden“ müssen⁴⁶ – geschaffen oder, in Luhmanns Sprache, konstruiert.⁴⁷ Auch für Luhmann ist die Frage nicht, ob es Realität oder Realitäten gibt – es gibt sie ja in jedem Fall in ihren beobachtbaren Beobachtungen und Beschreibungen –, sondern nur, wie es sie gibt. Im Sinn Descartes’ an der Realität schlechthin zu zweifeln, setzt ein Subjekt jenseits der Realität voraus, das diesen Zweifel anstellen kann und das Descartes dann wieder zur Substanz metaphysizierte. Sofern auch Luhmanns Konstruktivismus Beobachtbarkeit verlangt, steht dessen „Realismus […] „auf sicheren Beinen“ (SozA 5.9; Einl., 1). Den Begriff ‚Konstruktivismus‘, im Sinn von Nietzsches ‚radikalem Nihilismus‘ gesteigert zum ‚Radikalen Konstruktivismus‘, hatten unter anderen Ernst von Glasersfeld und Heinz von Foerster eingeführt, von denen ihn Luhmann übernahm. Sofern er geometrische Konstruktionen konnotiert und konstruierende Subjekte suggeriert, war Luhmann nicht ganz glücklich mit ihm und ironisierte den Radikalen Konstruktivismus so auch als „letzte Mode in der Erkenntnistheorie“ (EaK, 218). Was ihm an dem Begriff dennoch zusagte, war neben seiner maschinenhaften Nüchternheit die klare „De-Ontologisierung der Realität“ (EpK, 37), die er anzeigt, mit der Grundannahme: „Realität kann nicht erkannt oder repräsentiert, sondern nur im jeweiligen Beobachtungssystem systemintern konstruiert werden, basierend auf bestimmten Selbstbeobachtungs- und Unterscheidungsleistungen.“⁴⁸ Die Kon-

 NL , [], KSA ./KGW IX/, W I , .  Die epistemologische Seite von Nietzsches radikalem Nihilismus zeigt Remhof, Nietzsche on Objects.  Scheffer, Art. Konstruktivismus, . – Für einen radikalen, auch sich selbst noch konstruierenden Konstruktivismus ergeben sich Paradoxien, die Luhmann selbst benennt und auf die er sich auch bewusst einlässt (Kap. III, ): „Ein ‚radikaler Konstruktivismus‘ mag als Theorie überzeugen, ist aber praktisch unerreichbar. Er würde, ernst genommen, besagen, dass auch die

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struktion konstruiert aus dem Unbekannten, Ungewissen, Haltlosen, dem nihilistischen Nichts. Aus dem nihilistischen Nichts wird ein konstruktivistisches Nichts. Es ist nicht irreal, sondern das, aus dem das konstruiert wird, was dann als ‚die Realität‘ gilt. Der Sinn der systeminternen Konstruktion ist nach Luhmann jedoch erst durch die soziologische Systemtheorie hinreichend begreiflich zu machen. Er hat ihn in zwei einander ergänzenden Abhandlungen umrissen, Erkenntnis als Konstruktion von 1988 (EaK) und Das Erkenntnisprogramm des Konstruktivismus und die unbekannt bleibende Realität von 1990 (EpK); beide fallen in die Entstehungszeit von Die Wissenschaft der Gesellschaft. Danach kann man mit der „befreienden Radikalisierung“ des Konstruktivismus „zweitausend Jahre unnütze Reflexion abhängen“ (EaK, 220): In der Tradition des erkenntnistheoretischen Idealismus ging es um die Frage der Einheit in der Differenz von Erkenntnis und Realgegenstand. Die Frage lautete: wie kann die Erkenntnis einen Gegenstand außerhalb ihrer selbst feststellen? Oder: wie kann sie feststellen, daß etwas unabhängig von ihr existiert, wo doch alles, was immer sie feststellt, schon Erkenntnisleistungen voraussetzt und gar nicht unabhängig von Erkenntnis (das wäre ein Selbstwiderspruch) durch Erkenntnis feststellbar ist? Ob man nun transzendentaltheoretische oder dialektische Problemstellungen bevorzugte, das Problem lautete: wie ist Erkenntnis möglich, obwohl sie keinen von ihr unabhängigen Zugang zur Realität außer ihr hat. Der radikale Konstruktivismus beginnt dagegen mit der Feststellung: Erkenntnis ist nur möglich, weil sie keinen Zugang zur Realität außer ihr hat. (EaK, 219)

Das obwohl-Problem hängt daran, dass eine Beziehung zu einer Realität erkannt werden soll, die zugleich als unabhängig von ihr unterstellt wird. Die Reflexion der Erkenntnis verschließt den Zugang zu dem, was sie als Realität voraussetzt. Die weil-Feststellung macht aus der Not eine Tugend: Die Reflexion der Erkenntnis, ihr Selbstbezug, ermöglicht gerade, sich von der Unterstellung einer ihr vorgegebenen Realität unabhängig zu machen, sie abzuhängen, und die Realität selbst zu konstruieren.Was von der Realität jenseits der Erkenntnis dann noch bleibt, waren schon für Kant lediglich unstrukturierte ‚Daten‘, die das Erkenntnissystem zu seinen eigenen Strukturierungen ‚reizen‘ oder mit Luhmanns Begriff ‚irritieren‘. Auch Nietzsche hatte in seinem frühen erkenntnistheoretischen Entwurf Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinn den Begriff des Reizes gebraucht (die menschliche „Empfindung führt nirgends in die Wahrheit, sondern begnügt sich Reize zu empfangen und gleichsam ein tastendes Spiel auf dem Rücken der Dinge

Fremdreferenz nur Selbstreferenz ist und würde damit diese Unterscheidung in ihrem eigenen Paradox kollabieren lassen.“ (OuE, ) Der Kollaps wird jedoch vermieden durch die Unterscheidung von System und Umwelt oder Orientierung und Situation (Kap. II).

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zu spielen“, WL 1, KSA 1.876); Luhmann begriff „Reize“ (EpK, 36) als „Reizpunkte für folgenreiche Irritationen des Systems durch seine Umwelt“ (WissG, 685). Erkennen ist damit als ein für Fremdbezug offener Selbstbezug gedacht, dem das Fremde fremd, ungewiss bleibt. Luhmann unterschied so System und Umwelt und machte die Unterscheidung zur Leitunterscheidung seiner Systemtheorie: Die Umwelt wird, soweit sie von einem selbstbezüglichen System erkannt wird, von diesem strukturiert oder konstruiert und wird dadurch zur internen Welt des Systems; im Übrigen bleibt sie unbekannte Umwelt. Gegenüber Kant ist das insofern neu, als für die Strukturierung auf Formen a priori verzichtet und der Selbstbezug damit unendlich iterierbar wird, also evoluieren kann. So aber wird das Gehirn in seinen bloßen physiologischen und inzwischen beobachtbaren Funktionen zum stärksten Beleg für den Konstruktivismus:Von der wahrnehmbaren, gewöhnlich als real geltenden Umwelt abgetrennt, nimmt es selbst nicht wahr, sondern verarbeitet in seinem internen Netzwerk Informationen, die es der anders organisierten sinnlichen Wahrnehmung entnimmt. Analoges gilt von den Vorstellungen des Bewusstseins, das nur über Vorstellungen verfügt und seine Vorstellungen immer nur mit weiteren Vorstellungen, nie mit der ‚Realität draußen‘ vergleichen kann, die es sich dabei vorzustellen glaubt. Vorstellung und Erkenntnis ist, so Luhmann, „anders als die Umwelt, weil die Umwelt keine Unterscheidungen enthält, sondern einfach ist, wie sie ist“ (EaK, 223). Oder mit Hilfe des Begriffs der Projektion formuliert: „Die Erkenntnis projiziert Unterscheidungen in eine Realität, die keine Unterscheidungen kennt. Sie gibt sich damit eine Freiheit, die ebenfalls [in der Umwelt] nicht vorgesehen ist.“ (EaK, 233) Auch Negationen, Möglichkeiten, Zeithorizonte usw. gibt es in der ‚Realität draußen‘ nicht (EpK, 43). Die Frage nach der Erkenntnis oder der Referenz von Begriffen oder Begriffssystemen auf (scheinbar vorgegebene) Gegenstände muss so durch die Frage ersetzt werden, „wie unter der Bedingung kognitiver Schließung“ – und das heißt auch: Abschließung von der ‚Realität draußen‘ – „ein System Eigenkomplexität aufbaut und in diesem Sinne kognitive Leistungen steigert“ (EaK, 236). Erkenntnis konstruiert Realität aus etwas, das sie nicht kennt, und insofern aus dem Nichts. So ‚konstruiert‘ der Radikale Konstruktivismus seinerseits erscheint, für die ‚natürliche Einstellung‘, die die Welt fertig vor sich zu haben glaubt, er schließt gut an empirische Forschungen an und ist seinerseits, so Luhmann, „eine empirische Theorie“ (EaK, 227). Man kann inzwischen kaum mehr in Frage stellen, dass es vor dem Bewusstsein das Gehirn ist, das das scheinbar an sich Gegebene auf seine Weise als Gegebenes darstellt bzw. konstruiert (Nietzsches ‚physiologische Betrachtung‘), dass bewusste Vorstellungen von scheinbar bleibenden Gegenständen erst aufgrund einer komplexen zeitlichen Organisation zustande kommen (die dann von Husserl phänomenologisch ausgeleuchtete ‚psychologische Betrach-

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tung‘) und dass zur Reidentifikation solcher Gegenstände Sprache und zur Sprache die Kommunikation der Gesellschaft notwendig ist, die so letztlich das Gegenstands- und Realitätsbewusstsein leitet (Nietzsches ‚historisch-sociologische Betrachtung‘). Nietzsches wie Luhmanns Ansätze waren darauf ausgerichtet, an eben solche empirische Befunde anzuschließen und mit ihnen zurechtzukommen. Und nachdem Nietzsche schon die Reflexion der Erkenntnis in die Perspektive der Soziologie gerückt hatte, hieß es dann bei Luhmann: „Erst die Soziologie der Erkenntnis ermöglicht einen radikalen, sich selbst einschließenden Konstruktivismus.“ (EaK, 227) Es ist zuletzt die bei Sprache und Kommunikation ansetzende, sei es dann philosophische oder soziologische Betrachtung, die die Erkenntnis neu, nämlich aus der Konstruktion aus dem Nichts verstehen lässt. Luhmann kam dabei zu schärferen Unterscheidungen als Nietzsche – weil er bei den Unterscheidungen selbst ansetzte. Dabei kritisierte er Nietzsche auch wieder namentlich. Nietzsche habe, wie viele vor ihm, die Erkenntnis der Realität und die Realität der Erkenntnis noch in „Metaphern der Optik“ gefasst als „Vielheit von Perspektiven“: „Mehr Augen – und damit mehr Affekte, das war Nietzsches Postulat in der Genealogie der Moral.“ Das führe aber in „Schwierigkeiten“, „die sich aus einer Pluralität von […] Perspektiven ergeben“, nämlich wieder zu dem „Problem“, „trotzdem zur Einheit zu kommen“ (EpK, 50). Die Metapher einer Pluralität von Perspektiven, durch die Nietzsche Objektivität nicht nur hinreichend gewährleistet, sondern gegenüber der kantischen Konstruktion aus transzendentalen Formen noch bereichert sah, legt immer noch die Einheit von etwas nahe, in dem die Perspektiven zusammenlaufen oder auf das sie Perspektiven sind. Fasst man Perspektiven dagegen als Unterscheidungen, „die als Unterscheidungen Instrument des Erkennens“ und also selbst „Erzeugnis der Kognition“ sind“ (EpK, 50), löst man sich von der Ausrichtung auf eine vorgegebene Einheit. Nietzsche ist der Suggestion einer vorgegebenen Einheit durch den Perspektivenbegriff nicht erlegen (Kap. II), viele seiner Interpreten allerdings schon. Ihm war bereits klar, was Luhmann dann so formulierte: „Das Erkennen hat es mit einer unbekannt bleibenden Außenwelt zu tun, und es muß folglich lernen, zu sehen, daß es nicht sehen kann, was es nicht sehen kann.“ (EpK, 33) Nietzsche sprach hier von „Ecken“, aus denen stets gesehen wird und die man nur über andere Ecken zu Gesicht bekommen kann (Kap. II, 3.1). Luhmann formulierte es paradox – „Die Realität ist das, was man nicht erkennt, wenn man sie erkennt“ – und zog daraus den Schluss: „Wenn Erkennen Sinn erfordert so wie Sinn Unterscheidungen, muß die letzte Realität sinnlos gedacht werden.“ (EpK, 51) Damit muss man, damit kann man leben. Man muss und kann sich daran orientieren.

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I Orientierung im Nichts: Nietzsches Nihilismus und Luhmanns Konstruktivismus

Wie, versuchen wir abschließend kurz anhand der Philosophie der Orientierung kurz zu umreißen.⁴⁹

3 Der alltägliche Umgang mit dem Nichts in der menschlichen Orientierung Nicht nur Nietzsches Begriff des ‚radikalen‘ Nihilismus, auch Luhmanns Begriff des ‚Radikalen Konstruktivismus‘ beängstigt offensichtlich weiter, zumindest Philosophen; fürchtete man zu Zeiten des Postmodernismus noch Beliebigkeit, so jetzt Relativismus. In unserer alltäglichen Orientierung scheinen wir jedoch mit dem Nihilismus, Konstruktivismus und Relativismus leben zu können. Sofern alles Denken und Handeln mit Orientierung beginnt und jede Orientierung unvermeidlich von einem Standpunkt ausgeht und an ihn gebunden ist, gibt es zum so verstandenen ‚Relativismus‘ gar keine Alternative, es sei denn den Absolutismus, das Bestehen auf einem absoluten, nicht mehr in Frage zu stellenden Halt. Doch auch ein solcher Absolutismus wäre dann wieder nur die eine Seite einer Unterscheidung, so dass zwischen beiden entschieden werden kann, und so wird auch jeglicher Absolutismus wieder ‚relativ‘ im Sinn der Abhängigkeit von einer kontingenten Entscheidung von einem bestimmten Standpunkt aus. Und so werden Absolutismen heute in der Tat auch behandelt. Die Unterscheidung zwischen Absolutismus und Relativismus ist ebenfalls längst de-asymmetrisiert; man kann heute beiden folgen und, wo nötig, zwischen ihnen wechseln. Kein oberster Wert zwingt zum einen oder andern. Jedenfalls haben die alten religiösen, metaphysischen und moralischen Ideale, deren Bann Nietzsche zu lösen versuchte, deutlich an Bindekraft verloren und haben nüchterneren Erwartungen Platz gemacht.Wir scheinen uns inzwischen mehr an das Nichts im Sinn des nicht zu Vergegenständlichenden, sich dem Erkennen Entziehenden, notorisch Ungewissen, Haltlosen heranzutrauen. Dafür spricht schon der schlichte Befund, dass immer mehr von ‚Orientierung‘ gesprochen wird, im Alltag, in den Medien, in der Wissenschaft und auch in der Philosophie; ältere philosophische Begriffe wie Erkenntnis, Wissen, Wahrheit, Vernunft sind allmählich hinter dem Begriff der Orientierung zurückgetreten.⁵⁰ Der Grund dafür scheint in erster Näherung zu

 Soweit sie bekannt ist, kann dieser Abschnitt übersprungen werden.  Historisch ging nicht nur die Philosophie der Orientierung von Friedrich Heinrich Jacobis Ausrufung des Nihilismus aus. Als er Moses Mendelssohn drängte, sich im Spinozismus-Streit zwischen Vernunft und Glauben zu entscheiden, nahm Mendelssohn zum bis dahin nur in der Geographie gebräuchlichen Begriff des (Sich‐)Orientierens Zuflucht, und Kant übernahm ihn dann

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sein, dass die Orientierung mehr Freiheit lässt: Sie wahrt Distanz zu dem, was als Realität gilt, legt sich darin nicht fest, sondern hält sich an Anhaltspunkte und wählt von ihnen aus Perspektiven, behält sich in allem, worauf sie sich einlässt, Spielräume vor, um alles, was festzustehen scheint, wieder anders sehen und sich bei allem, was von ihr gefordert wird, so oder anders entscheiden zu können. Sie ist gebaut für eigene Sicht, eigenes Urteil und eigene Verantwortung in jeder Situation. Darin antwortet sie auf Nietzsches nihilistisches Nichts, auf die Unbestimmtheit jeder Situation und die daraus folgende Ungewissheit jeder Entscheidung in ihr. Sie macht die Not zur Tugend. In Luhmanns Sinn konstruiert die alltägliche Orientierung aus der unstrukturierten Umwelt unübersehbarer Anhalts- oder Reizpunkte alternative Entscheidungsmöglichkeiten und hält sich deren Spielräume für Handlungsmöglichkeiten offen, die sie, wenn neue Anhaltspunkte auftauchen, laufend revidieren kann. Sie baut darin überall Selbstbezüge ein (Kap. III) und geht mit der Zeit. Man kann sie daher als die Leistung definieren, sich in immer neuen Situationen zurechtzufinden und sie auf Urteils-, Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten hin zu erschließen und dadurch zu ‚bewältigen‘.⁵¹ Sie ist Bedingung all dessen, was lebendig ist, sich bewegen kann, darin Alternativen hat und zu deren Entscheidung der Orientierung bedarf. Sie geht auch allem menschlichen Denken und Handeln in jeder Situation voraus. Aus ihr wird man darum auch Nietzsches und Luhmanns Umgang mit dem Nichts am besten verstehen und einordnen können. Wie sehr die Orientierung der Zeit und dem Nichts ausgesetzt ist, zeigt die Rede vom ‚Halt‘ in der Orientierung. Halt braucht und sucht die Orientierung, weil sie, um die Metapher aufzunehmen, stets Gefahr läuft, zu ‚fallen‘, ‚auseinanderzufallen‘ oder in Desorientierung zu ‚verfallen‘. Das setzt voraus, dass sie selbst komplex strukturiert ist und ihre Struktur nur begrenzt stabil ist, eben weil sie stets für Umstrukturierungen offen bleiben muss. ‚Desorientierung‘ ist ein anderes Wort für das Nichts der Orientierung. Sie ist das, was die Orientierung stets zu verhindern sucht, die Gefahr, die sie abwehrt und von der sie in Gang gehalten wird. Es gibt keine definitive Sicherheit vor ihr, kann sie nicht geben, wenn die Orientierung nicht aufhören soll, mit der Zeit zu gehen. Pascal, der unser Leben so beschrieb, dass wir auf offenem Meer über schwankende Planken gehen, ermutigte darum, nicht gegen, sondern für das Ungewisse zu arbeiten (travailler pour l‘incertain),⁵² und das heißt, wenn die Orientierung es rundum zur Voraussetzung

zur Verteidigung seiner kritischen Philosophie (Stegmaier, Philosophie der Orientierung,  – ). Auf diese Weise wurde der Nihilismus zum Hintergrund einer Philosophie der Orientierung.  Stegmaier, Philosophie der Orientierung, .  Pascal, Pensées, Nr.  (Brunschwicg), S. /Gedanken, Nr.  (Lafuma), S. . Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung,  f.

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hat, an ihm zu arbeiten. Ich fasse die Struktur, in der das geschieht, in 10 Punkten zusammen, stets im Blick auch auf Nietzsches Philosophie und Luhmanns Systemtheorie. Es sind Prämissen, unter denen wir im Folgenden argumentieren werden.

3.1 Der bewegliche Standpunkt der Orientierung Die menschliche Orientierung arbeitet so, dass sie im Haltlosen etwas festhält und dabei für anderes, weiterhin Ungewisses Spielräume lässt. Das beginnt mit ihrem Standpunkt. Jede Orientierung geht unvermeidlich von einem Standpunkt aus, der vorerst feststeht, das Übrige aber offen lässt und offen hält. Ein Standpunkt ist nicht oder nicht nur ein Punkt, auf dem man körperlich steht; man ‚steht‘ auch politisch, moralisch, künstlerisch, wissenschaftlich, religiös, sexuell usw. auf einem Standpunkt. Dieser Standpunkt scheint so lange selbstverständlich, bis man auf andere Standpunkte stößt und erfährt, dass man von ihnen aus die Dinge auch anders sehen kann. Andere Standpunkte machen den eigenen wiederum ungewiss, ‚nichten‘ seine Selbstverständlichkeit, lassen ihn als blinden Fleck der eigenen Beobachtung erkennen. Von anderen Standpunkten aus kann man den eigenen als Standpunkt beobachten und kritisch beurteilen, und damit bringt man ihn auch schon in Bewegung, er wird zu einem Standpunkt auf Zeit. So ‚hat‘ man stets einen Standpunkt und hat ihn zugleich nicht; schon Standpunkte, die einer Orientierung ihren ersten Halt geben, sind danach paradox, die Orientierung beginnt mit einer Paradoxie. Aber eben diese Paradoxie schafft ihr Spielraum zur Bewegung, den Spielraum, sich auf die Zeit, damit auf immer neue Situationen und dabei auch auf immer neue Standpunkte einzulassen. Nietzsche und Luhmann haben der Metaphysik und der Transzendentalphilosophie als Behauptungen eines an sich bestehenden Allgemeinen den Boden entzogen, indem sie alle Beobachtung und Beschreibung an einen beobachtbaren Standpunkt banden.

3.2 Die beweglichen Horizonte und Perspektiven der Orientierung Die Beobachtung von einem Standpunkt aus ist durch einen Horizont begrenzt; alles, was wir beobachten, tritt vor dem Hintergrund eines Horizonts hervor. Gr. ‚horízein‘ heißt begrenzen; Horizonte begrenzen unsere Beobachtungen, lassen sie sich nicht im Unendlichen verlieren und geben ihnen dadurch ebenfalls Halt. Aber auch Horizonte stehen nicht fest, sie bewegen sich mit den Standpunkten, sind ebenfalls Horizonte auf Zeit. Man kann dann in demselben Horizont seinen

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Standpunkt und von demselben Standpunkt aus seinen Horizont verändern; sie sind zugleich voneinander abhängig und gegeneinander beweglich. Und auch Horizonte sind paradox: Sie sind Grenzen, die sich zurückziehen, wenn man sich ihnen nähert. Sie lassen sich darum nie feststellen und festhalten, es sei denn vor einem andern Horizont.⁵³ Sie sind Grenzen, die keine andere Seite haben, sondern ans Ungewisse, an das Nichts grenzen, sie grenzen das Ungewisse, das Nichts aus, ohne es einzugrenzen, zum Gegenstand zu machen. Das Gesichtsfeld zwischen Standpunkt und Horizont ist dann die Perspektive, und für sie gilt darum auch dasselbe wie für Standpunkt und Horizont: Perspektiven begrenzen die Beobachtung im Ganzen und geben ihr dadurch Halt, aber man kann nicht über sie hinaussehen, man erfährt sie als Perspektiven nur gegenüber anderen Perspektiven, die sie in Ungewissheit versetzen. Sofern man aber andere Perspektiven wieder nur in der aktuellen eigenen Perspektive beobachten kann, ist auch die Perspektive paradox: Andere Perspektiven sind dann andere in der eigenen Perspektive. Auch hier hält die Paradoxie die Perspektiven beweglich, macht sie zu Perspektiven auf Zeit. Nietzsche und Luhmann haben laufend von den Orientierungsbegriffen oder -metaphern Standpunkt, Horizont und Perspektive und ihren Paradoxien Gebrauch gemacht, Luhmann die Paradoxie zu einem expliziten Orientierungsmittel ausgebildet (Kap. III, 4).

3.3 Die Anhaltspunkte und Spielräume der Orientierung In einer Perspektive werden, wie schon erwähnt, von einer Situation zunächst Anhaltspunkte erfasst. Das deutsche Wort ‚Anhaltspunkt‘ ist sehr sprechend. Anhaltspunkte sind Punkte, an denen man bei der Suche nach Orientierung anhält, mit denen man sich kurz aufhält und die man festhält, jedoch nur so, dass man sie im Auge behält. Man hält sich zu ihnen auf Distanz, hält sich zurück, sie sogleich für haltbar zu halten, hält sie stattdessen gegen weitere Anhaltspunkte, um so über ihre Haltbarkeit zu entscheiden. Anhaltspunkte der Orientierung bleiben unter Vorbehalt, sie werden, bereits im Blick auf weitere Anhaltspunkte, immer nur ‚vorläufig‘, wie man treffend sagt, ‚berücksichtigt‘. Anhaltspunkte, die man um anderer Anhaltspunkte willen zur Disposition stellt, sind Anhaltspunkte

 Dies haben Horizonte der Orientierung mit dem mystisch verstandenen Gott gemein, wie Angelus Silesius schrieb: „Gott ist ein lauter Nichts, ihn rührt kein Nun noch Hier: Je mehr du nach ihm greifst, je mehr entwird er dir.“ (J. Scheffler, Cherubinischer Wandersmann , , zitiert nach Kobusch, Art. Nichts, Nicht-Seiendes, ) Das Sich-Entziehen beim Erfasst-Werden ist, vor aller Theologisierung und Mystifizierung, ein ganz alltägliches Phänomen.

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und doch keine, also wiederum paradox. Aber auf eben diese Weise schaffen sie Spielräume, mit der Zeit herauszufinden, welche Anhaltspunkte am ehesten zueinander passen, und je besser sie in der jeweiligen Perspektive zueinander passen, desto eher wird man sich an sie halten und auf sie hin handeln. Sie haben dann Sinn. Auch die Kriterien des Passens, nach denen sie Sinn ergeben, sind beweglich, man kann sie je nachdem, worum es geht, enger und weiter, lockerer und strenger handhaben. Hier bleiben, wie auch beim Zugriff auf die Anhaltspunkte selbst, erneut Spielräume der Entscheidung. Mit Entscheidungen schließt man Alternativen aus, Alternativen, die vielleicht viel weitergeführt hätten, nun aber im Ungewissen bleiben. Selbst bei sogenannten Lebensentscheidungen z. B. für einen Beruf oder eine(n) Partner(in) können schon kleinste Anhaltspunkte ausschlaggebend sein; hätte man sich an andere Anhaltspunkte gehalten, wäre das ganze weitere Leben vielleicht anders verlaufen. Und auch Entscheidungen, wenn es echte Entscheidungen sind, sind paradox. Echt sind sie gerade dann, wenn man kein letztes Kriterium für sie hat (ist ein Mann klug, charaktervoll, sieht gut aus und verdient auch noch beachtlich oder aber beschränkt, charakterlos, unansehnlich und ohne rechtes Einkommen, ist die Entscheidung leicht; was aber, wenn der Mann nur einen guten Charakter hat?). Hat man sich dann doch entschieden, kommt die nächste Paradoxie: denn nun sollte man die Entscheidung nicht wieder in Frage stellen, also keine neue Entscheidung über die alte Entscheidung treffen, sondern an dieser, wie man sagt, ‚entschieden‘ festhalten, wenn man nicht selbst als haltlos gelten will. So schafft man der Orientierung Halt durch Entschiedenheit. Und das heißt: Man schließt die Zeit nun bis auf weiteres aus, trifft nicht in jeder neuen Situation wieder eine neue Entscheidung. Aber auch das tut man nur auf Zeit. Man schließt die Zeit auf Zeit aus. Nietzsche und Luhmann haben nicht ausdrücklich von den Anhaltspunkten der Orientierung gehandelt, sie aber laufend vorausgesetzt und alles Wissen als bloße Anhaltspunkte behandelt, die in neuen Kontexten neuen Sinn bekommen können. Sie setzten bei der Frage nach dem Sinn von ‚Sinn‘ und Flüssigkeit des Sinns ein.

3.4 Die Oszillation der Perspektiven zur Gewinnung von Übersicht Um Entscheidungen unter Anhaltspunkten abzusichern, sucht die Orientierung möglichst Übersicht über die neue Situation zu gewinnen. Und auch hier tut sich eine Paradoxie auf, die bekannte Wald-Bäume-Paradoxie: man kann leicht vor lauter Bäumen den Wald und vor lauter Wald die Bäume nicht sehen. Das doppelsinnige deutsche Wort ‚übersehen‘ drückt das wiederum gut aus: Wenn man eine Situation übersieht, sieht man alles und übersieht dabei zugleich alles

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Einzelne. Da das Ganze aus dem Einzelnen besteht, geht das logisch nicht. Es geht aber doch, wieder mit Hilfe der Zeit: Um Übersicht zu gewinnen, oszilliert man zwischen dem Ganzen und dem Einzelnen, geht zwischen dem Wald und den Bäumen so lange hin und her, bis man sich in der Situation hinreichend zurechtzufindet und mit ihr zurechtzukommt. Man löst das Problem also unter Inanspruchnahme der Zeit und ihrem Nichts. Dabei steht die Orientierung fast immer unter Zeit- und Handlungsdruck. Es muss schnell gehen, und so laufen die Orientierungsprozesse, die Sichtung von Anhaltspunkten einer Situation, die Entscheidung für bestimmte von ihnen, die Oszillation, um aus ihnen Übersicht zu gewinnen, in der Regel blitzschnell, unwillkürlich und kaum bewusst ab. Wird man sich der Orientierungsprozesse bewusst, hat man entweder Schwierigkeiten mit ihnen oder ist Philosoph oder beides. Nietzsche und Luhmann haben alles Leben, Denken und Handeln bzw. Beobachten aus der Not des Zeitdrucks verstanden, unter dem es meist steht und der dann nur begrenzte Erschließungen der jeweiligen Situationen zulässt. Luhmann hat die Oszillation explizit als Operationsmodus von Beobachtungssystemen eingeführt.

3.5 Die Abkürzung der Orientierung durch den Gebrauch von Zeichen Die Orientierungsprozesse beschleunigen sich enorm durch den Gebrauch von Zeichen. Zeichen sind zunächst besonders auffällige, markante Anhaltspunkte, die gleichsam im Gedächtnis markiert werden.⁵⁴ Sie können sich dann von vorgegebenen Anhaltspunkten lösen, und man kann sie zu bewussten Markierungen verwenden, indem man z. B. etwas ankreuzt oder einkreist. So werden sie in wechselnden Situationen gezielt wiederverwendbar. Markierungen von Lauten können zu Buchstaben werden, die man auf Papier versammeln und in der Hand halten kann, als Landkarten und Schriften und Schriften auf Landkarten. Man hat dann die Orientierung als solche buchstäblich vor sich, bekommt dadurch Spielräume gegenüber der jeweiligen Situation und der Zeit, kann sich besondere Zeichenwelten schaffen und sich in ihnen orientieren. Die Orientierungskunst als Zeichenkunst, zu der alle Arten von Sprachen gehören, wird zur Weltabkürzungskunst,wenn eine Vielzahl von Zeichen wieder durch Zeichen abgekürzt wird. Diese Weltabkürzungskunst macht es möglich, weit über den in einer Situation gegebenen Weltausschnitt hinaus Welt im Ganzen zu erfassen – aber eben nur in

 Das entspricht gut dem aktuellen Stand der Hirnforschung. Vgl. Peter Thier, Warum sich Bewegung und Geist nur zusammen denken lassen.

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solchen Zeichen. Die andere Seite ist, dass die Zeichen die Welt entsprechend verkürzen und zum Gegenstand machen und dass man nun die Welt in solchen vergegenständlichenden und ihrerseits vergegenständlichten Zeichen unveränderlich, zeitlos zu haben glaubt. Aber weil die Zeichen die Welt verkürzen, können sie in neuen Situationen und neuen Kontexten immer wieder neu und anders verstanden werden; ihr Sinn ist ihrerseits beweglich. Je stärker aber Zeichen die Welt verkürzen, desto vager und sinnleerer werden sie. Am stärksten wird die Welt durch philosophische Begriffe verkürzt, die die allgemeinsten sind, und unter ihnen wieder am stärksten durch die Begriffe von Sein, Zeit und Nichts; sie führen als solche ins Nichts und helfen doch mit, über die Welt und das Leben in ihr im Ganzen Übersicht zu gewinnen. Schon Nietzsche hat von „Schematisir- u. Abkürzungskunst“ gesprochen,⁵⁵ Luhmann von „Orientierungsverkürzungen“, deren wichtigste die Sprache ist (Ma, 73 f.).

3.6 Die Zeit der Orientierung Zeichen unterscheiden; werden sie ihrerseits bestimmt, kommt man zu Begriffen, und in den Wissenschaften werden wiederum die Begriffe gezielt bestimmt (WissG, 124 f.). Begriffe aber ergeben sich, wie Nietzsche immer neu demonstriert und Luhmann eigens herausgestellt hat, aus Unterscheidungen, die immer eine andere Seite haben und damit Alternativen offenhalten (Einl., 1.4). Die Alternativen bleiben offen, auch und gerade wenn man sich nicht für sie entscheidet; sie bleiben damit im Ungewissen, im Nichts. So arbeiten wir, auch und gerade wenn wir begreifen, am Nichts und können das Nichts nie aufarbeiten. Denn mit jeder neuen Unterscheidung, die wir verwenden, und jeder Entscheidung für eine ihrer Seiten fällt wieder eine andere Seite, ein Nichts an, und so wird auch mit der Gewissheit, die wir uns durch Begriffe verschaffen, immer auch neue Ungewissheit erzeugt. Sucht man sich des Ungewissen zu vergewissern, muss man die Seite der Unterscheidung wechseln, und das braucht Zeit. So hat das Denken und Begreifen als Orientierungsprozess schon seine Zeit. Mit ihm wird, wie Luhmann gezeigt hat, sogar erst Zeit generiert: eben durch das Übergehen zur anderen Seite von Unterscheidungen (Kap. II). Das Denken fasst die Zeit und ihr Nichts nicht. Aber es kann sich, weil es sie generiert, in ihr halten und bewegen.

 NL /, [], KSA ./KGW IX/, N VII , .

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3.7 Das Denken als Orientierungsleistung Vom Denken erwartet man sich in Philosophie und Wissenschaft bis heute einen festen Halt an einem raum- und zeitlosen Sein in nicht räumlich und zeitlich begrenzten Theorien. Im alltäglichen Sprachgebrauch und so auch in der alltäglichen Orientierung ist Denken jedoch nicht auf dieses ‚logische‘ Denken eingeschränkt: Man kann vielmehr auch ‚an etwas denken‘, also nur darauf aufmerksam sein; ‚etwas bedenken‘, also berücksichtigen; ‚denken, dass etwas sich so und so verhält‘, also etwas glauben; ‚sich etwas denken‘, also vorstellen; ‚sich etwas ausdenken‘, also fingieren; ‚zurückdenken‘, also sich erinnern; ‚weiterund vorausdenken‘, also planen; ‚sich in jemand hineindenken‘, ihn also in seiner eigenen Orientierung zu verstehen suchen; ‚etwas überdenken‘, also mit dem Denken nochmals neu beginnen; ‚etwas zu tun gedenken‘, also etwas beabsichtigen, wollen usw. ‚Denken‘ umfasst danach ein weites Spektrum untereinander verwobener Orientierungsleistungen, und ‚über etwas nachzudenken‘ und es ‚durchzudenken‘, also die Weise des wissenschaftlich-philosophischen Denkens, ist nur eine unter ihnen, und selbst sie ist nicht der Wissenschaft vorbehalten. Alle genannten Weisen des Denkens haben jedoch etwas gemeinsam, sie schließen die unmittelbare Wahrnehmung aus, und hier setzte auch der philosophische Begriff des Denkens an. Danach ist es die Orientierungsleistung des Denkens, von der unmittelbar wahrnehmbaren Situation zu distanzieren, dadurch die Orientierungshorizonte zu erweitern und Zeit zu schaffen. So schiebt es das Handeln auf, plant vorgreifend und erübrigt dadurch vieles andere. Es kann sich methodisch Schritte vorgeben und sie im Nachhinein kontrollieren. Es macht die Orientierung dadurch im Ganzen effizienter. Weil man es als solches nicht wahrnehmen kann, scheint es körper-, standpunkt- und zeitlos zu sein und wird einem besonderen Sein, dem Bewusstsein, zugeschrieben. Aber auch dieses Bewusstsein, bei dem die Philosophie der Moderne neu eingesetzt hat, ist freilich kein Sein an sich, sondern taucht nur bei bestimmten Gelegenheiten auf, nämlich dann, wenn Orientierungsprozesse, Entscheidungen über Anhaltspunkte und Unterscheidungen, schwierig und darum eigens reflektiert werden. Man wird darum, wie Nietzsche vorgeschlagen hat, besser von fallweiser Bewusstheit sprechen. Und das macht dann auch denkbar, dass Denken in immer neuen Situationen immer neu und darum auch immer wieder anders einsetzen und so auch seine Begriffe, Methoden und Strukturen immer wieder umbilden, also die Zeit und ihr Nichts in sich einschließen kann. Nietzsche und Luhmann zählten es zu ihren wichtigsten Aufgaben, auch das Denken als solches zu entmetaphysizieren und zu enttranszendentalisieren, und waren Pioniere darin. Luhmann ersetzte den Begriff des Denkens gezielt durch den des beobachtbaren Beobachtens (Einl., 1.2).

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3.8 Die Selbststeuerung der Orientierung Dem Denken als Tätigkeit pflegen wir wiederum einen Denkenden als Täter zu unterstellen, der dann metaphysisch als Substanz (Descartes) und metaphysikkritisch als transzendentales, immer noch alles Erfahrbare überschreitendes Subjekt (Kant) gedacht wurde, in beiden Fällen als schlechthin autonom und zeitenthoben. Als solches sollte es Steuerungszentrum der menschlichen Orientierung im Ganzen sein. Denken muss man wohl als autonom, ‚selbstgesetzgebend‘, verstehen, doch nicht schlechthin, sondern nur gegenüber der unmittelbaren Situation, auf die es sich zugleich einlassen können muss. Dazu muss es auch kein Zentrum sein, durch das alle übrigen Orientierungsprozesse beherrscht werden; die Hirnforschung hat kein solches zentrales Steuerungselement entdecken können, und die meisten unserer Orientierungsprozesse laufen ohne das ab, was wir ‚Denken‘ nennen. Man kann in der menschlichen Orientierung ein transzendentales Subjekt unterscheiden, wie es Kant für die Zwecke der Transzendental-Philosophie tat, oder Identitäten anderer Art, die im Verkehr unter Menschen erwartet werden, aber auch das sind dann Orientierungsentscheidungen, die man unter anderen Orientierungsbedürfnissen anders treffen kann. ‚Subjekt‘ solcher Orientierungsentscheidungen kann zuletzt nur die Orientierung selbst sein, wie sie sich aus bestimmten Bedürfnissen und unter bestimmten Bedingungen zu einer bestimmten Zeit ausgebildet hat. Und darüber haben wir keine zeitenthobene Übersicht; wir könnten uns darüber wiederum nur sehr begrenzt und also unter hoher Ungewissheit orientieren. Nietzsche und Luhmann waren die entschiedensten und konsequentesten Kritiker des Subjekt-Begriffs (Kap. IV).

3.9 Die Orientierung an anderer Orientierung Unsere Identitäten erhalten wir weitgehend von anderen, in der Interaktion und Kommunikation mit ihnen. Durch Interaktion, dem Handeln in Bezug aufeinander, und Kommunikation, dem Gebrauch von Zeichen und Begriffen, bekommt die Orientierung weiteren Halt. Wir orientieren uns zumeist an andern, die für uns neue Situationen sichtlich schon beherrschen, wenn wir heranwachsen, an Eltern, Erziehern, Freunden usw., und später, wenn wir in eine unvertraute Situation geraten und uns umsehen, wie es die andern machen. Sicher, sie machen es anders, weil sie anders und in einer andern Situation sind, aber manches kann man doch übernehmen und Fehler, die andere offensichtlich machen, selbst vermeiden. Wir behalten uns auch hier lediglich Spielräume vor. Im Alltag ist unsere Orientierung dennoch weitgehend Orientierung an anderer Orientierung.

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Die Ungewissheiten unserer Orientierung und die Risiken der Desorientierung sind so stark, dass es beruhigt, wenn andere sich ähnlich orientieren. So entsteht ganz natürlich, was Nietzsche als Nihilismus des Herdenbewusstseins angeprangert hat: wenn alle sich auf andere verlassen, könnten alle bald ganz verlassen sein – in der beständigen Orientierung an anderer Orientierung wird die radikale Ungewissheit aller Orientierung, der Nihilismus, leicht vergessen. Doch auch bei der Orientierung an anderer Orientierung bleibt ein Vorbehalt: denn man kann wohl andere dabei beobachten, was sie tun, und hören, was sie sagen, es bleibt aber beunruhigend ungewiss, was sie sich dabei denken. Die Orientierungen bleiben auch in der Orientierung an anderer Orientierung getrennt und einander verschlossen. Umso mehr hat die Philosophie versucht und tut es noch, Instanzen apriorischer Übereinstimmung zu schaffen; doch auch solche Instanzen kann man so oder anders verstehen, auch sie muss man kommunizieren, auch sie blieben strittig. Eben weil wir nicht a priori einverstanden sind, müssen wir miteinander kommunizieren. Umso mehr brauchen wir Vertrauen; man kann nicht allem und allen misstrauen, wenn man weiterkommen will. Und darum braucht man Mut in der Orientierung, die Bereitschaft zum Risiko, es immer neu mit dem Ungewissen, auch und gerade in der Orientierung an anderer Orientierung, aufzunehmen. Nietzsche und Luhmann gingen beide von der Trennung der Orientierungen aus, die durch deren jeweilige Standpunkte, Horizonte und Perspektiven bedingt ist und die erst Kommunikation, dann jedoch doppelt kontingent bleibende Kommunikation notwendig macht, Kommunikation, in der die Antwort des jeweils Anderen, so sehr sie durch Regeln normiert sein mag, doch immer auch überraschen kann (Kap. VI).

3.10 Die Routinen der Orientierung Auch jemandem oder etwas zu vertrauen oder nicht, ist eine Orientierungsentscheidung, die man in unterschiedlichen Situationen unterschiedlich trifft. So hat unsere Orientierung ihren Halt zuletzt in sich selbst, in ihren Fähigkeiten, von Fall zu Fall die richtigen Entscheidungen zu treffen, um jeweils aus der Situation das Beste zu machen. Wir schätzen Menschen umso höher, je selbstständiger sie sich und je umsichtiger sie andere orientieren können, und wir schätzen am höchsten, wer sich und andere souverän orientieren kann, also jeder noch so schwierigen Situation gewachsen ist. Unsere Orientierung hat nicht nur ihren Grund und ihren Halt, sondern auch ihr Maß in sich selbst. Souveränität in der Orientierung aber setzt Routine voraus, geschmeidig eingespielte Orientierungsprozesse, die ermöglichen, jeweils spontan das Richtige

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I Orientierung im Nichts: Nietzsches Nihilismus und Luhmanns Konstruktivismus

zu tun. Entscheidungen brauchen dann kaum mehr Zeit, fordern keine langen Überlegungen mehr. Orientierung hält sich vor allem in ihren Routinen, und das können ebenso körperliche wie geistige, alltägliche wie wissenschaftliche, technische wie künstlerische sein. Und auch die Routine hat ihre Paradoxie: Routinen sind eben dann Routinen, wenn sie als solche vergessen werden, man ‚hat‘ sie nicht, man kennt sie oft nicht einmal, man folgt ihnen einfach, sie sind unmittelbar plausibel: Der stabilste Halt der Orientierung ist ein Halt im Nicht-Wissen. Solange ‚es funktioniert‘, vergisst man die Ungewissheit und geht selbstverständlich davon aus, dass alles so weitergeht wie bisher. Man ‚geht‘, wie man sagt, in seinen Routinen ‚auf‘; Routinen geben Zuversicht. Doch nur bis auf weiteres. Denn auch Routinen haben ihre Zeit; es können immer Situationen eintreten, in denen sie gestört werden und nicht mehr funktionieren. Werden sie nachhaltig gestört, weicht, eben weil man so wenig von ihnen weiß, die Zuversicht der Angst und vielleicht auch der Verzweiflung. Doch auch hier hat unsere Orientierung vorgebaut: Sie ‚fängt sich‘ meist mit der Zeit ‚wieder‘. Das wird eben dadurch möglich, dass sie nicht von einem einzigen Steuerungszentrum abhängt. In unserer hochdifferenzierten Welt differenzieren sich in unserer Orientierung unterschiedliche Orientierungswelten mit unterschiedlichen Routinen aus. Hat man in der einen zu tun, vergisst man solange die anderen, kümmert sich nicht um sie; es braucht dann besondere Anstöße, um sie zu wechseln (man sitzt konzentriert bei der Arbeit, und das Baby-Telefon klingelt), ist kurz desorientiert und findet sich dann rasch wieder in der nun aufgerufenen Orientierungswelt zurecht. Nietzsche hat laufend mit der Ausdifferenzierung unterschiedlicher Orientierungswelten gearbeitet, Luhmann hat sie in Gestalt der Funktionssysteme der Kommunikation der Gesellschaft zu einem Hauptthema seiner Theorie gemacht. In der alltäglichen Orientierung hat die Ausdifferenzierung unterschiedlicher Orientierungswelten langfristig eine heilsame Wirkung: denn Desorientierung bricht zunächst und zumeist nur in eine Orientierungswelt ein, und die andern ‚funktionieren‘ noch weiter. So kann man sich dennoch in vielem weiter orientieren. Stirbt ein Partner, mit dem man Jahrzehnte lang sein Leben geteilt und auf den man es weitgehend gestützt hat, scheinen alle Routinen einzubrechen. Doch es bleiben immer noch andere, die sich mit der Zeit besser einspielen, dadurch ein stärkeres Gewicht bekommen, die Lücke langsam wieder schließen können und neue Zuversicht schaffen. Man kann nun auf die andern Seiten seiner Unterscheidungen setzen, die man bisher im Ungewissen gelassen hat, und dort neue Anschlüsse finden. Hier zeigen auch die Zeit und ihr Nichts selbst ihre andere Seite: nicht die Angst erregende, sondern Vertrauen schaffende. Die Zeit und ihr Nichts, die schlechthinnige Ungewissheit, die sie mit sich bringen, die Ungewissheit, die die Metaphysik aus der Orientierung ausschließen wollte, ‚heilt‘

3 Der alltägliche Umgang mit dem Nichts in der menschlichen Orientierung

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auch. So leben wir nicht nur mit der Zeit und ihrem Nichts, sondern auch von der Zeit und ihrem Nichts. Orientierung ist die ursprünglichste und tiefste Lebenskunst: in der Haltlosigkeit Halt zu gewinnen. Mit Nietzsche und Luhmann lässt sich das leichter denken.

II Orientierung an sich selbst: Nietzsches und Luhmanns Perspektivismus Eine Orientierung im Nichts wird dadurch möglich, dass die Realität in der Orientierung selbst konstruiert wird. Das geschieht von einem Standpunkt aus vor einem Horizont in einer Perspektive. Nietzsche nannte das „Perspektivismus“ (FW 354; Einl., 1.2). Luhmann suchte mit dem systemtheoretischen Begriffsinstrumentarium über die optische Metaphorik hinauszukommen. Danach ist die perspektivische Realität von Beobachtungssystemen durch ihre Reflexivität und Rekursivität zu denken, die ihrerseits durch das Zugleich von Selbstreferentialität und Fremdreferentialität möglich werden (Einl., 1.3). Orientierungen oder Beobachtungssysteme reichern sich laufend mit Realität an, halten sie, wo sinnvoll, fest und lassen sie, wo sinnvoll, wieder fallen. Sie haben so eine stets sinnvolle und stets sich wandelnde Welt vor sich und können sich an sie halten, immer auf Zeit.

1 Realität in der Perspektivität, Reflexivität und Rekursivität der Orientierung Perspektivität, Reflexivität und Rekursivität sind konstitutiv für alle Orientierung. Sie hat in ihnen ihre ‚innere‘ Realität und schafft durch sie die Realität, die als ‚äußere‘ gilt, ohne dass sie da in der Regel selbst einen Unterschied sehen würde. Im Begriff Perspektivität wird gefasst, dass alle Möglichkeit, ‚etwas‘ zu ‚sehen‘, an einen ‚Gesichtspunkt‘ oder ‚Standpunkt‘ gebunden und durch einen ‚Horizont‘ begrenzt ist. Die optische und räumliche Metaphorik symbolisiert komplexe, begrifflich schwer fassbare Strukturen. Sie geht vom Durchsehen (lat. perspicere) durch ein ‚Perspektiv‘ aus, wie einst das jetzt sogenannte ‚Spektiv‘ oder ‚Beobachtungsfernrohr‘ hieß: Es verschärft die Sicht, indem sie sie verengt (das gilt ebenso von ‚Teleskopen‘ wie von ‚Mikroskopen‘). In nicht-metaphorischer, luhmannscher Begrifflichkeit spezifizieren ein Perspektiv und seine Perspektive durch Selektion: Sie fokussieren oder selektieren ‚etwas‘, das erst dadurch als ein ‚etwas‘ sichtbar wird, dass es anderes ausschließt. Dem folgt alle Beobachtung, ‚Beobachtung‘ mit Luhmann als ‚Bezeichnung durch Unterscheidung‘ oder mit George Spencer Brown als ‚indication through distinction‘ verstanden.⁵⁶  Vgl. Luhmann, WissG,  – , und, kurz gefasst, SdR, : „Unter Beobachtung soll daher verstanden werden die Benutzung einer Unterscheidung zur Bezeichnung der einen (und nicht der anderen) Seite, gleich welche empirische Realität diese Operation durchführt, sofern sie nur unterscheiden (also zwei Seiten zugleich sehen) und bezeichnen kann. Mit George Spencer Brown

1 Realität in der Perspektivität, Reflexivität und Rekursivität der Orientierung

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Wenn eine Beobachtung nur in einer Perspektive möglich ist, so ist die Perspektive in der Perspektive selbst oder der Vollzug der Beobachtung für die jeweilige Beobachtung selbst nicht beobachtbar. Beobachtet wird etwas, das scheinbar außerhalb der Perspektive bzw. der Beobachtung liegt, tatsächlich aber von ihr selbst selektiert wird. Wenn dann die Perspektive sich selbst zu fokussieren, die Beobachtung also sich selbst zu beobachten versucht, kann sie in der Perspektive nicht zugleich etwas anderes fokussieren bzw. beobachten. Sie ist nach der gängig gewordenen Metapher, die auch Luhmann weiterhin benutzt, selbst ihr ‚blinder Fleck‘ (Kap. I, 3.1). Standpunkt und Horizont können sich jedoch verändern, räumlich gesprochen verschieben, und auf diese Weise kann sich die Perspektive auch selbst beobachten. Standpunkt und Horizont sind dann wohl noch dieselben, zugleich aber auch andere geworden. Der ‚Standpunkt‘ ist kein Standpunkt und der Horizont, gr. horízon, ‚das Begrenzende‘, keine feststehende Grenze. Mit dem Einzug der Zeit in sie werden sie paradox (Kap. III), aber durch die zeitliche Metaphorik der ‚Verschiebung‘ oder ‚Bewegung‘ wird die Paradoxie zugleich verdeckt, unsichtbar gemacht, invisibilisiert. So werden Perspektiven mit der Zeit für sie selbst einerseits paradox, andererseits beobachtbar. Eine Per-

ist dabei vorauszusetzen, daß Unterscheidung und Bezeichnung eine untrennbare Einheit bilden, da nur Unterscheidbares bezeichnet werden kann und Unterscheidungen nur zu Bezeichnungen verwendet werden können“.Vgl. Spencer Brown, Laws of Form, Kap. : Die Form, , und dazu die Kommentare von Schönwälder/Wille/Hölscher, George Spencer Brown,  – , und Lau, Die Form der Paradoxie,  – . Der erste Kommentar ist eher einführend angelegt, der zweite mehr an Luhmanns Systemtheorie orientiert. – Mit seinem Anschluss an ihn hat Luhmann Spencer Brown erst in soziologischen und philosophischen Kreisen bekannt gemacht. Hölscher, Niklas Luhmanns Systemtheorie, findet bei Luhmann eine sehr selektive und deshalb in Teilen missverstehende Rezeption der Laws of Form. Luhmann werde, so der Hauptvorwurf, deren Eigenkomplexität nicht gerecht. Das entspricht freilich Luhmanns Hauptgedanken, dass Systeme, die ihre Umwelt beobachten (hier: Luhmann, der Spencer Brown liest), unweigerlich deren Komplexität im eigenen Sinn reduzieren. Worin und in welche Richtung Luhmann Spencer Browns Theorie produktiv weiterführt, bleibt bei Hölscher im Hintergrund. Nach Schönwälder-Kuntze, Luhmann und Spencer-Brown, sind die „(Denk‐)Figuren ‚Form der Unterscheidung‘ und ‚Reentry‘“, die Luhmann vor allem von Spencer Brown aufnimmt, „im eigentlichen Sinne keine ‚Quellen‘ seines systemtheoretischen Denkens […], sondern vielmehr später hinzugekommene Ausdrucksmittel“ (). Anders als Spencer Brown bei einer von ostasiatischen Religionen inspirierten Leere oder dem Nichts (wu) setzt Luhmann bei der System-Umwelt-Differenz und damit bei der Unterscheidung der Umwelt als der Funktion eines Beobachtungssystems an (vgl. Lau, Die Form der Paradoxie,  – ). Spencer Brown versteht seine Laws of Form als Grundlegung einer neuen Mathematik und formuliert sie in „Anweisungen“ (injunctions), bestimmte Schritte zu vollziehen. Auf diese Weise setzt er nichts als schon bestehend voraus – es bleibt dem Leser überlassen, ob und wie er den Anweisungen folgen will oder nicht. So macht er deutlich, „dass Erkenntnisleistungen immer Konstruktionsleistungen sind“, gerade in der Mathematik (Lau, Die Form der Paradoxie, ).

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II Orientierung an sich selbst: Nietzsches und Luhmanns Perspektivismus

spektive kann, nachdem sie beim Beobachten von anderem ihren Standpunkt und Horizont verschoben hat, sich selbst als frühere und spätere unterscheiden, also auch sich selbst beobachten. Sie wird dann reflexiv: Der Begriff der Reflexivität geht ebenfalls von einer Bewegungsmetapher, der der ‚Zurückbiegung‘ (lat. reflectere), aus. In einer anderen Metapher erscheint sie als Selbstbezug oder Selbstreferenz (von lat. referre, ‚zurücktragen, zurücklenken, ausrichten, beziehen‘). Die reflexive Perspektive kann zwischen der Beobachtung von anderem und der Beobachtung ihrer selbst hin und her wechseln, zwischen ihnen oszillieren. Selbstbezüglichkeit oder Selbstreferenz wurde bis zur Moderne gescheut. Denn sie kann unendlich wiederholt werden (Selbstreferenz der Selbstreferenz, Selbstreferenz der Selbstreferenz der Selbstreferenz …) und so zu infiniten Regressen oder, in der Bewegungsmetaphorik, in die Haltlosigkeit führen. Zudem macht ein Selbstbezug es auch möglich, sich selbst zu negieren, und wirft so eine neue Paradoxie auf, denn er ist dann und ist zugleich nicht (Kap. I, 1.1). Diese Paradoxie kann darum nicht mit der Zeit, durch Oszillation, sondern muss gleichzeitig entparadoxiert werden. Das geschieht durch die Reflexivität, die Selbstbezüglichkeit oder Selbstreferenz selbst, die sich durch ihren bloßen Vollzug vom Fremdbezug unterscheidet: Eine Perspektive oder Beobachtung muss sich stets von dem, was sie beobachtet, unterscheiden können, sonst wäre sie keine Beobachtung, und damit sie sich von anderem, dem, was sie beobachtet, unterscheiden kann, muss sie sich zugleich auf sich selbst beziehen. Kurz: Eine Beobachtung unterscheidet sich beim Beobachten vom Beobachteten, Fremdbezug wird nur durch Selbstbezug möglich, der Selbstbezug hat seinen Sinn aber im Fremdbezug.⁵⁷ Das heißt nicht, dass eine Perspektive sich ständig selbst beobachtet, sondern nur, dass ihr immer die Möglichkeit der Selbstbeobachtung bleibt, sie sich also, wenn nötig, des Unterschieds ihrer Beobachtung von dem Beobachteten versichern kann. Sofern sie diese Möglichkeit hat, hat sie auch Alternativen des Beobachtens, kann sie von sich aus einmal dieses, einmal jenes beobachten. Sie kann sich auf anderes ausrichten, sich also orientieren. Darum ist ihre Selbstbezüglichkeit nicht schon Subjektivität. Einer Perspektive muss kein identisch bleibendes Subjekt zugrunde liegen (Kap. IV). Richtet sich die Perspektive oder Beobachtung auf anderes aus, wird sie dabei auch selbst eine andere. Ihre Selbstreferenz unterscheidet sich bei jeder Fremdreferenz. Eben deshalb kann sie auf frühere Selbstund Fremdreferenzen zurückgehen (lat. recurrere) und sie mit gegenwärtigen abgleichen: Sie wird rekursiv. Im Begriff der Rekursivität wird gefasst, dass Re-

 Vgl. Luhmann, Die operative Geschlossenheit psychischer und sozialer Systeme (GpsS),  u.ö.

1 Realität in der Perspektivität, Reflexivität und Rekursivität der Orientierung

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flexivität nicht nur in einem formalen Selbstbezug besteht, sondern ihr Selbstbezug sich mit immer neuen Fremdbezügen anreichert. So wird sie welthaltig, entsteht Realität in der Orientierung. Im Begriff der Orientierung kommen Perspektivität, Reflexivität und Rekursivität zusammen. Orientierung orientiert sich in Perspektiven, die sie wechseln, ausrichten, aufeinander beziehen und ineinander aufnehmen kann. Sie ist darum mehr als eine Perspektive: in Nietzsches Sprache das Vermögen, Perspektiven „aus- und einzuhängen“, also gerade ihre Verschiedenheit nutzbar zu machen (GM III 12), in Luhmanns Sprache Selektion von Beobachtungen oder Unterscheidung von und Entscheidung für Unterscheidungen und Bezeichnungen. ‚Orientierung‘ ist ihrerseits eine Metapher, nun eine geographische (von lat. oriri, ‚aufgehen‘, nämlich der Sonne im Osten, die so den Anhaltspunkt für die Ausrichtung auf bestimmte Himmelsrichtungen gibt). Sie nimmt als solche die Raum-, Zeit- und Bewegungsmetaphorik der Perspektivität auf und ist ihrerseits kaum nicht-metaphorisch zu benennen, ohne ihre Plausibilität zu verlieren. ‚Orientierung‘ ist eine ‚absolute Metapher‘ im Sinn von Hans Blumenberg, eine Metapher, die nicht mehr in scheinbar unmetaphorische Begriffe, sondern wieder nur in Metaphern übersetzt werden kann, inzwischen aber, wie es Nietzsche in seinem frühen Entwurf Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinn formuliert hat, zu einem Begriff geronnen und in ihm verblasst ist (WL 1, KSA 1.881). So ist es beim Begriff ‚Orientierung‘ geblieben. Wie nahezu jedermann, so benutzt auch Luhmann ihn laufend zur Plausibilisierung seiner begrifflichen Abstraktionen (Vorw.). Orientierung versichert sich in der laufenden Beobachtung der unablässig wechselnden Situationen durch rekursive und damit kontinuierliche und kontrollierte Bewegungen ihrer Perspektiven der Realität. Sie prüft sie laufend in selbstbezüglicher Fremdbezüglichkeit oder fremdbezüglicher Selbstbezüglichkeit ab. ‚Realität‘ ist dann ihre jeweilige Realität, so wie sie sich in ihrer jeweiligen Perspektive auf sie bezieht und dies stets veränderlich und ebenso der Paradoxie der Zeit unterworfen. Sie besteht oder ‚steht‘ zugleich und ‚steht‘ oder besteht nicht. Festeren Stand gewinnt sie durch die Einbeziehung von anderen Perspektiven – auf dem Weg der Kommunikation mit anderen Orientierungen oder der Orientierung an anderer Orientierung. Auch dazu braucht sie nicht als transzendentales, alle räumlichen und zeitlichen Bedingungen überschreitendes (lat. transcendere) Subjekt gedacht zu werden und darf auch nicht so gedacht werden; denn so wäre sie eine selbst nicht beobachtbare und damit auch nicht reale, sondern fiktive Beobachtung. Andere Perspektiven und Orientierungen werden ebenfalls in der Perspektive einer Orientierung beobachtet, die sich ihrerseits in einer weiteren Perspektive einer anderen Orientierung beobachten lässt. Das kann man wiederum logisch ins Unendliche, in einen infiniten Regress treiben. Tatsächlich kommt es jedoch in einem begrenzten Netzwerk von Beobachtungen, wie

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II Orientierung an sich selbst: Nietzsches und Luhmanns Perspektivismus

schon Aristoteles formulierte, ‚zum Stehen‘.⁵⁸ Das Netzwerk wird damit zu einem ‚Halt‘ in doppeltem Sinn: Der Regress hält irgendwo an und wird dadurch zu etwas, an das man sich halten kann. Und wo ein solches Netzwerk sich einspielt, wird unter den Beteiligten etwas gemeinsam für ‚Realität‘ gehalten. Man muss darum nicht eine allen Perspektiven gemeinsame Realität als eine schon vorgegebene unterstellen. Damit würde man den Perspektivismus der Beobachtungen wieder eliminieren. Im Gegenteil: Je weniger man eine vorgegebene Realität unterstellt, desto realitätsgerechter kann man mit den Realitäten der verschiedenen Orientierungen umgehen und ihnen neue Perspektiven für die jeweils eigene Realität abgewinnen. Und das ist es, was, wenn man das nun noch so unperspektivisch sagen darf, tatsächlich geschieht. Nietzsche und Luhmann haben einem solchen realistischen Realitätsverständnis wie niemand sonst in der Philosophie und Soziologie vorgearbeitet. Wie Luhmann zum „Konstruktivismus“ (Kap. I, 2.4), so hat sich Nietzsche ausdrücklich, in seinen veröffentlichten Schriften, zum „Perspektivismus“ bekannt (FW 354).⁵⁹ Beide bestritten natürlich nicht, dass es Realität in irgendeiner Weise gibt (denn schon dieses Bestreiten wäre ja unbestreitbar real). Sie bestanden lediglich darauf, dass das, was man ‚Realität‘ zu nennen pflegt, eine in unfassbar unterschiedlicher und komplexer Weise perspektivierte oder konstruierte Realität ist, und erkannten an, dass der Stand insbesondere der evolutionsbiologischen, physiologischen, psychologischen, ethnologischen und sprach-, sozial- und moralwissenschaftlichen Forschung eben das belegt und keinen anderen Ausgangspunkt auch für die Philosophie mehr zulässt.⁶⁰

 Aristoteles, Met., XII , a – . Vgl. Phys., VII , b f.  Auch wenn für Nietzsches Gebrauch der Begrifflichkeit des Perspektivischen sein zeitweiliger Basler Kollege Gustav Teichmüller eine wichtige Quelle gewesen zu sein scheint, hat er den Begriff „Perspektivismus“, soweit bisher zu sehen ist, selbst geprägt. Auch der Begriff eines „dionysischen Pessimismus“, zu dem er nach FW  vorzustoßen hoffte, um sich vom „romantischen Pessimismus“ Schopenhauers und Wagners zu lösen, war seine eigene Schöpfung. Small, Nietzsche in Context, , bestreitet, dass es sich bei Nietzsches Begriff ‚Perspektivismus‘ um die Bezeichnung einer philosophischen Richtung und nicht vielmehr um die eines Sachverhalts handle (wie ‚Astigmatismus‘ oder ‚Rheumatismus‘), also denselben Sinn wie ‚Perspektivität‘ habe (so dann auch Dellinger, Aufklärung über Perspektiven). Unsere Deutung ist mit beiden Verwendungen des Begriffs vereinbar.  Vgl. bei Nietzsche vor allem die „Anmerkung“ zu GM I . Luhmann hat, ein Jahrhundert später, darüber hinaus besonders die Forschungen Ilja Prigogines zum physikalisch-chemischen Fließgleichgewicht, die Systembiologie Humberto Maturanas und Francisco Varelas, die Kybernetik zweiter Ordnung Heinz von Foersters, die formale Polykontexturalitätstheorie Gotthard Günthers und den mathematischen Formenkalkül George Spencer Browns geltend gemacht, ohne die die Komplexität des inzwischen erreichten Realitätsverständnisses nicht mehr nachzuvollziehen sei. Auch die physikalische Realität ist mikrophysikalisch erwiesenermaßen eine per-

2 Reflexivität und Perspektivität als Grundzug der Philosophie der Moderne

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2 Reflexivität und Perspektivität als Grundzug der Philosophie der Moderne Es dauerte Jahrhunderte, bis man sich in der Philosophie zum Perspektivismus durchrang. Nachdem im Spätmittelalter theologische, philosophische und naturwissenschaftliche Bezugnahmen auf ‚die‘ Realität zunehmend widersprüchlicher wurden, begann man vorsichtig, die Annahme einer an sich bestehenden Realität fallen zu lassen. Das hieß nicht und konnte nicht heißen, die Realität zu leugnen, denn schon dieses Leugnen wäre ja selbst ein Stück Realität gewesen. Mit dem, was man später Perspektivismus nannte, war der Realitätsbezug lediglich komplexer zu fassen. Als stärkste Anhaltspunkte galten zunächst Kopernikus’ berühmter Perspektivenwechsel bei der mathematischen Berechnung der Umläufe der Gestirne am Himmel und die Entwicklung der Zentralperspektive in der Malerei. Sie zeigten die unmittelbar erfahrene Realität wissenschaftlich bzw. bildtechnisch nun ‚richtig‘, doch unter komplexeren, die ‚natürliche‘ und seither naive Einstellung irritierenden Vorannahmen. Vor aller Behauptung einer Anmessung (adaequatio) der Erkenntnis oder nun vorsichtiger: der Repräsentation an deren Gegenstand wurde prinzipiell eine Standpunktbestimmung der Erkenntnis bzw. Repräsentation nötig. Dabei konnte man sich wieder auf einen Standpunkt festlegen, aber auch eine unbegrenzte Vielfalt von Perspektiven zulassen. Philosophisch wurde damit die platonisch-aristotelische Ontologie abgelöst, die zunächst von Parmenides noch als Hypothese der Einheit von Denken und Sein formuliert (Kap. I, 1.1), dann aber über Jahrtausende selbstverständlich geworden war und ihren Namen erst erhielt, als sie sich auflöste.⁶¹ Als Descartes seinen radikalen Zweifel an ‚der‘ Realität riskierte, ließ er als einzig gewisse Realität den bloßen Selbstbezug des Denkens zurück; die Realität im Übrigen wurde zu einem Andern, Fremden, zur ‚Außenwelt‘, und der Bezug des Denkens zu ihr sollte nur physiologisch, über die Hirnanhangsdrüse, verlaufen. Zugleich aber begriff Descartes den Selbstbezug des Denkens als bloß zeitlichen Vollzug, der nicht als räumlich, ausgedehnt gedacht werden könne, und stellte damit grundlegend von gegenständlicher auf prozessuale Orientierung um. Die Umorientie-

spektivische Realität, nämlich abhängig von den jeweiligen Messverfahren, die zudem nur statistische Resultate zulassen. So ist auch hier „statistische Realität“ von „realer Realität“ zu unterscheiden oder die „fiktionale Welt der Induktionsschlüsse und begründeten Vermutungen von dem, was sich dann tatsächlich zeigt“ (ÜN, GS , ).  Der Begriff ‚Ontologie‘ wurde erst zu Lebzeiten Descartes’ geprägt. Vgl. Kremer/Wolf, Art. Ontologie. Von aktuellen Neuverwendungen des Begriffs sehen wir hier ab. Mit ‚Ontologie‘ ist im Folgenden stets ‚metaphysische Ontologie‘ gemeint, also die Annahme eines Seins an sich durch ein Denken an sich ohne Nachfrage nach der möglichen Beobachtung beider.

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II Orientierung an sich selbst: Nietzsches und Luhmanns Perspektivismus

rung wurde dadurch erleichtert, dass Descartes das Denken weiterhin als aristotelische Substanz dachte, hierin sich also an die Tradition hielt. Von der denkenden Substanz aus waren nun die übrigen Substanzen, die ausgedehnte und die göttliche, zu denken und in ihrer Realität erst zu beweisen. Damit wurde die denkende Substanz, ohne dass Descartes den Begriff schon benutzte, zur Perspektive aller andern. Indem er ferner für die prozessuale und perspektivische Orientierung eine Methode vorschlug, die jeder in gleicher Weise nachvollziehen könnte sollte, wurde die Orientierung konstruktiv und die Perspektive, wenn sie denn alle übernahmen, wieder allgemein gültig, Wahrheit also erneut möglich, nun aber als eine perspektivische und reflexiv konstruierte. Das wurde dadurch plausibler, dass Descartes die denkende Substanz mit dem Bewusstsein als Selbstbewusstsein (conscience) identifizierte, man sich also wieder an ein Sein, nun an das Bewusstsein halten konnte (Kap. IV, 1). Das ließ auch die Elemente der Orientierung neu denken: Sie waren nun nicht mehr Dinge der Welt, sondern Vorstellungen des Bewusstseins (idées) und damit notorisch flüchtige Ereignisse, die reflexiv durch kontrollierte methodische Vorkehrungen zum Stehen gebracht werden mussten. Da aber unter diesen Prämissen auch Unterscheidungen und Begriffe nur als zeitliche Vorstellungen des zeitlichen Bewusstseins existieren konnten, verlor auch das begriffliche Allgemeine vollends seine Selbstständigkeit und Selbstverständlichkeit und stand für Orientierungsentscheidungen offen. Spinoza führte dann den Perspektivenbegriff als solchen (sub specie) in die Philosophie ein⁶² und konnte so das Bewusstsein ins Sein reintegrieren. Indem er es als Teil eines Ganzen betrachtete, der nur aus diesem Ganzen verstanden werden konnte, ohne dass dieses Ganze selbst überschaut, sondern eben nur perspektivisch erfasst werden konnte, wurde das Bewusstsein auf neue Weise, durch die nun notwendige Oszillation zwischen Teil und Ganzem, selbstbezüglich. Auch jenes Ganze dachte Spinoza noch mit Hilfe des aristotelischen Substanzbegriffs, und er identifizierte es zugleich mit dem letztlich unbegreiflichen jüdischchristlichen Gott (deus sive natura). So musste der Teil oder modus der allumfassenden substantia sich adäquat zu dieser zu verhalten suchen, konnte das aber letztlich nicht, und eben darin zeigte sich ihm die Begrenztheit seiner Perspektive. Für diese Begrenztheit hatte Spinoza einen starken Anhaltspunkt, die affektive Abwehr anderer Perspektiven – Nietzsche wird daran anschließen. Die Affekte mussten durchschaut und dadurch abgebaut werden, wenn man zum Ganzen, zu Gott kommen wollte, und soweit das geschah, nahm jeder Modus, jeder Teil des

 Im Art. Perspektive, Perspektivismus, perspektivisch, des Historischen Wörterbuchs der Philosophie (Autor: G. König) wird das übergangen, in der Internet Encyclopedia of Philosophy dagegen unter dem Stichwort ‚Spinoza‘ ausführlich behandelt (Autor: Nels Dockstader).

2 Reflexivität und Perspektivität als Grundzug der Philosophie der Moderne

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Ganzen, an dessen affektfreiem Selbstbezug teil, der sich dann als amor Dei intellectualis, als alles durchschauende Liebe Gottes zu sich selbst begreifen ließ. So, unter dem Gesichtspunkt der Ethik (Ethica), wurden die Metaphysik und ihre Theologie zu einer reflektierten Ewigkeitsperspektive (sub specie aeternitatis) für jeden intelligenten Modus. Leibniz zog daraus die Konsequenz, die Realität im Ganzen als perspektivisch, das heißt: als Relation von Perspektiven auf Perspektiven zu denken.⁶³ Die Beobachtungen (perceptions), wie schon Leibniz sie nannte – Nietzsche wird zunächst, in WL, mit dem Begriff „Weltperceptionen“ (KSA 1.884) arbeiten –, beobachten einander und können sich dabei mehr oder weniger selbst beobachten (apperception). Das sollte nicht auf das Denken beschränkt sein, und Fremdbeobachtung sollte auch schon für Leibniz nur durch Selbstbeobachtung möglich sein. Perspektiven, hieß das für ihn, bleiben in sich eingeschlossen, sind ‚fensterlose Monaden‘, können aber anhand ihrer eigenen ‚inneren‘ Veränderungen auf Veränderungen in der ‚äußeren‘ Umwelt schließen – dieser Spur wird Luhmann folgen, unter Verzicht auf die Zentralmonade Gott, die bei Leibniz noch eine erfolgreiche Kommunikation unter Perspektiven durch eine im Voraus eingerichtete (préétablie) Harmonie garantieren musste. Damit war der Grundriss des modernen Perspektivismus entworfen. Die zunehmend unglaubwürdige Annahme eines alles regelnden Gottes ersetzte Kant durch die des transzendentalen Subjekts, das selbst die Vorgaben seiner Subjektivität als Bedingungen der Möglichkeit von Objektivität reflektiert. Als Voraussetzung der ‚transzendentalen Methode‘, mit der Kant die Objektivität einer ‚reinen Naturwissenschaft‘ zu sichern suchte, übernahm er, wie vor allem die Einleitung zu seiner regelmäßig gehaltenen Logik-Vorlesung zeigt, fraglos den Perspektivismus,wie ihn die Leibniz-Schule tradiert hatte.⁶⁴ So betrachtete er auch die Wissenschaft als Perspektive mit einem besonderen „Horizont“,⁶⁵ in dem durch die Annahme transzendentaler ‚Formen‘ der Erkenntnis individuelle Perspektiven abgearbeitet und schließlich ausgeschlossen werden sollten, auf dem Weg einer (paradoxen) Selbstobjektivierung der Subjekte.⁶⁶ Dieser Selbstobjektivierung der Subjekte gingen dann die sogenannten ‚deutschen Idealisten‘ immer weiter nach – die Perspektivität trat hinter der Reflexivität des transzendentalen Subjekts zurück. Indem Hegel jedoch die Reflexivität beim ‚Begriff‘ selbst ansetzte

 Vgl. Stegmaier, Substanz, Teil III.  Vgl. Kaulbach, Philosophie des Perspektivismus.  Vgl. Kant, Logik, AA IX, : „Endlich können wir uns auch noch einen Horizont der gesunden Vernunft und einen Horizont der Wissenschaft denken, welcher letztere noch Principien bedarf, um nach denselben zu bestimmen, was wir wissen und nicht wissen können.“  Vgl. Stegmaier, Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft.

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II Orientierung an sich selbst: Nietzsches und Luhmanns Perspektivismus

und den ‚Geist‘ als konsequent selbstbezügliche Unterscheidung von Unterscheidungen begriff, die sich im ‚notwendigen Gang‘ einer ‚Bewegung des Begriffs‘ zur Einheit eines vollständigen ‚Systems‘ schließen sollte, drang er zur Figur der Rekursivität vor, und Schelling, indem er zuletzt das Unterscheiden des Unterscheidens an den Punkt seiner Indifferenz heranführte, entdeckte die Realität in ihrer bloßen Ununterschiedenheit. All dies, einschließlich der Kantianismen und Hegelianismen des 19. Jahrhunderts, blieb noch auf dem Boden von Aristoteles’ metaphysischen Grundunterscheidungen Substanz/Akzidens (Descartes), Form/Inhalt (Kant) und der ihre eigenen Möglichkeiten verwirklichenden Entelechie (Hegel), d. h. noch auf Einheit und deren dauernden Bestand ausgerichtet. Beides wird durch Darwins Evolutionsgedanken unhaltbar. An die Stelle der zeitlosen Einheit trat die zeitliche Selektion von Selektionen: Nietzsche verfolgte, wie er im Einzelnen auch zu Darwin gestanden haben mag, gerade den Selektionsgedanken entschieden weiter.⁶⁷ Nach ihm beruhen auch Philosophien und alles, was sie als Realität ausweisen, auf Selektionsentscheidungen. Und damit wird der Perspektivismus akut.

3 Perspektivität, Reflexivität und Rekursivität bei Nietzsche und Luhmann 3.1 Perspektivität: Orientierung durch Perspektiven 3.1.1 Nietzsche: Perspektiven auf Perspektiven Als Nietzsche sein Philosophieren als „Phänomenalismus und Perspektivismus“ einordnete, fügte er sogleich hinzu, „wie ich ihn verstehe“ (FW 354). Zunächst hatte er nur von „Phänomenalismus“ gesprochen und den bisherigen Gebrauch dieses Begriffs kritisiert: „Kritik der neueren Philosophie: fehlerhafter Ausgangspunkt, als ob es ‚Thatsachen des Bewußtseins‘ gäbe – u keinen Phänomenalismus in der Selbst-Beobachtung“.⁶⁸ Man kann, so Nietzsche, von keinerlei Gegebenheiten mehr ausgehen – außer denen der „Beobachtung“ und im Fall des Bewusstseins von dessen „Selbst-Beobachtung“. Auch die Gegebenheit des ‚Ich‘, das bewusst ‚denke‘, und schließlich ‚das Denken‘ selbst, die man beide nur

 Vgl. Stegmaier, Darwin, Darwinismus, Nietzsche, Richardson, Nietzsche’s New Darwinism, und Johnson, Nietzsche’s Anti-Darwinism. Die zeitgenössische Modifikationen des Evolutionsgedankens, die Nietzsche sorgfältig zur Kenntnis genommen und intensiv reflektiert hat, stellten den Evolutions- als Selektionsgedanken für ihn nie in Frage.  NL /, [], KSA . f./KGW IX/, W I , . – Zum Gebrauch des Begriffs „Phänomenalismus“ um  vgl. Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie,  – .

3 Perspektivität, Reflexivität und Rekursivität bei Nietzsche und Luhmann

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bedingt beobachten kann, steht für Nietzsche in Frage; Ich, Bewusstsein und Denken sind zunächst nicht mehr als Unterscheidungen in einer Perspektive. Der Phänomenalismus muss darum ein Perspektivismus sein; „die Welt der ‚Phänomene‘“ oder die „Phänomenal-Welt“ sieht in jeder Perspektive anders aus.⁶⁹ Die Perspektive mit ihren Standpunkten und Horizonten gibt der „Phänomenal-Welt“ erst eine „Struktur“, durch die sie fassbar wird. Auch diese Struktur kann sich verschieben, und nur eine solche „Strukturverschiebung“ kann man erfahren und erkennen, „nichts mehr“.⁷⁰ Nietzsche gebraucht den Begriff ‚Perspektive‘ schon früh, ohne ihm zunächst besonderes philosophisches Gewicht zu geben, erprobt ihn dann mehr und mehr in seinen Notaten, spricht 1884 etwa von einem „Perspectiv-Apparat“, „der 1) ein gewisses Stillestehen 2) ein Vereinfachen 3) ein Auswählen und Weglassen möglich macht“, also Fixieren, Simplifizieren und Selektieren, und von „perspektivischer Illusion“ und „Welt der Perspective“.⁷¹ 1885 verbindet er schließlich das „‚Perspektivische‘“, „das Vereinfachen u. Fälschen“, mit dem Gedanken der Willen zur Macht und dehnt es auf das „Reich[] des Unorganischen“, der Physik, aus.⁷² Dabei wird „die perspektivische innere Vielheit, welche selber ein Geschehen ist,“ zum „Wesentlichen des organischen Wesens“.⁷³ Auch mit der Formel des Willens oder der Willen zur Macht schlägt Nietzsche keine neue Ontologie, vielmehr eine Anti-Ontologie vor, den paradoxen Begriff einer Einheit von bloßen Differenzen, eines durch nichts festgelegten Seins, in

 NL , [], KSA . f./KGW IX/, W II , .  NL , [], KSA .. – Wir fügen hier und im Folgenden unveröffentlichte Gedankensplitter aus weit entfernten Jahren zusammen. Das ist hier (ausnahmsweise) möglich, weil Nietzsche stets am ‚Phänomenalismus und Perspektivismus‘ festgehalten hat, auch wenn er ihn nicht immer so nannte. Zu Nietzsches veröffentlichten Texten zum Perspektivismus s.u.  NL , [], KSA .; NL , [], KSA .; NL , [], KSA ..  NL , [], KSA ./KGW IX/, N VII , ; NL , [], KSA . f./KGW IX/, W I , ; NL , [], KSA ./KGW IX/, W I , ; NL , [], KSA . f./KGW IX/, W I , . Vgl. das Notat von , [], KSA . f./KGW IX/, W II , : „das Atom, das sie [die Physiker] ansetzen, ist erschlossen nach der Logik jenes BewußtseinsPerspektivism, – ist somit {auch} selbst eine subjektive Fiktion. Dieses Weltbild, das sie entwerfen, ist durchaus nicht wesensverschieden von dem Subjektiv-Weltbild: es ist nur mit weitergedachten Sinnen construirt, aber durchaus mit unseren Sinnen … Und zuletzt haben sie in der Constellation etwas ausgelassen, ohne es zu wissen: eben den nothwendigen Perspektivism, vermöge dem jedes Kraftcentrum – u nicht nur der Mensch – von sich aus die ganze übrige Welt construirt d. h. mit {an} seiner Kraft mißt, betastet, gestaltet … Sie haben vergessen, diese Perspektiven-setzende Kraft in das ‚wahre Sein‘ einzurechnen … […] Der Perspektivismus ist nur eine complexe Form der Spezifität“. Im Zusammenhang mit der Physik spricht Nietzsche auch – nur dies eine Mal – von „Perspektivität“ (NL , [], KSA ./KGW IX/, W I , ).  NL /, [], KSA ./KGW IX/, N VII , .

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II Orientierung an sich selbst: Nietzsches und Luhmanns Perspektivismus

dem alles sich unablässig mit allem auseinandersetzt und sich dabei laufend verändert, auch das, was dabei buchstäblich ‚festgestellt‘ wird.⁷⁴ Willen zur Macht sind als Perspektiven in ihrem Gegeneinander gedacht, die eine „als zeitweilige Existenz-Bedingung“ der andern. In einer solchen „Umkehrung des Perspektivischen Blicks“ zeigen sich „‚Ich‘ ‚Subjekt‘“ als „eine perspektiv. Illusion“, als „scheinbare Einheit, in der wie in einer Horizontlinie alles sich zusammenschließt“.⁷⁵ Von da aus vollzieht Nietzsche die äußerste Abstraktion – mit der Luhmann dann beginnen wird: „Sinn“ überhaupt könnte bloßer „Beziehungssinn“ und als solcher „Perspektive“ sein.⁷⁶ In dieser denkbar hohen Abstraktion wird in den veröffentlichten Texten zunächst „das Perspektivische, die Grundbedingung alles Lebens“ (JGB Vorrede), dann die „Perspektiven-Optik des Lebens“ (JGB 11), schließlich der „Perspektivismus“ zum Terminus (FW 354).⁷⁷ Statt des Gegensatzes einer „scheinbaren“ und einer „wahren“ Welt lässt Nietzsche nur noch „Stufen der Scheinbarkeit“ (JGB 34), also Differenzierungen der Perspektivität zu. So schließt etwa „die moralische Perspektive“ (JGB 201) die „HeerdenPerspektive“ (FW 354) ein, die sich wiederum in eine Vielfalt von „christlich-asketischen Moral-Perspektiven“ (FW 357) ausdifferenzieren kann.⁷⁸ Nietzsche hat in seinen Notaten wohl Ansätze zu einer Theorie des Perspektivismus gemacht, in seinen veröffentlichten Schriften aber offenbar bewusst keine solche Theorie geliefert. In FW 374 verdeutlicht er auf seine Weise, was er unter Perspektivismus versteht – ohne den Begriff noch einmal zu gebrauchen. Er suspendiert ausdrücklich die ontologische Fragestellung:⁷⁹ „ob […] alles Dasein

 Vgl. Stegmaier, Nietzsche zur Einführung,  – . Meyer, Reading Nietzsche through the Ancients, nennt das (wie viele andere) dann wieder eine herakliteische ‚Ontologie‘.  NL , [], KSA ./KGW IX/,W I , ; NL /, [], KSA ./KGW IX/, W I , ; NL /, [], KSA ./KGW IX/, W I , .  NL /, [], KSA ./KGW IX/, W I , .  Nach FW  taucht der Begriff „Perspektivismus“ jedoch nur noch in Notaten auf, z.T. gesperrt, z.T. in Anführungszeichen, z.T. ohne weitere Kennzeichnung: NL , [], KSA ., und [], KSA . [noch nicht in KGW IX]; NL , [], KSA ./KGW IX/, W II , ).  Zur Ontologisierung auch von Nietzsches Perspektivismus vor allem in der angelsächsischen Forschung vgl. Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie,  f., Fn. . So hat auch Conant, The Dialectic of Perspectivism, die These vorgetragen, Nietzsche habe sich in seiner mittleren Phase mit seinem Perspektivismus in „Konfusionen“ eines Anti-Realismus verirrt, sich zuletzt aber besonnen und die Möglichkeit von valider Erkenntnis und Wahrheit wieder bejaht. Eine Perspektive ohne realen Gegenstand außer sich sei leer. Das gilt nicht, wenn, wie es für Nietzsche und Luhmann der Fall ist, die Perspektive den Gegenstand erst erzeugt oder ‚konstruiert‘. Conant erwägt nicht, dass schon nach Leibniz Perspektiven Perspektiven auf Perspektiven und eben darin real sein könnten.  Vgl. Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie,  – .

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essentiell ein auslegendes Dasein ist [oder nicht] – das kann, wie billig, auch durch die fleissigste und peinlich-gewissenhafteste Analysis und Selbstprüfung des Intellekts nicht ausgemacht werden“. So bleibt, auch für sein eigenes Philosophieren und auch an dieser Stelle, als Ausgangspunkt, dass „der menschliche Intellekt bei dieser Analysis nicht umhin kann, sich selbst unter seinen perspektivischen Formen zu sehn und nur in ihnen zu sehn“; er kann nicht wissen, „was es noch für andre Arten Intellekt und Perspektive geben könnte“. Das gilt, auch wenn Nietzsche „wir“ sagt, für jeden einzelnen Intellekt. Nichtsdestoweniger erfährt eine Perspektive ihre Perspektivität in ihrer Begrenztheit durch einen Standpunkt und einen Horizont. Nietzsche sagt „Ecke“ (Kap. I, 2.4): „wir sind heute zum Mindesten ferne von der lächerlichen Unbescheidenheit, von unsrer Ecke aus zu dekretiren, dass man nur von dieser Ecke aus Perspektiven haben dürfe.“⁸⁰ Im Anstoß an Ungewissheiten kann man darauf aufmerksam werden, dass man in einer begrenzten Perspektive operiert: Man kann die Ungewissheiten immer weiter reflektieren, kommt dabei aber nicht zu Gewissheiten. Nietzsche drückt das so aus: „Die Welt ist uns vielmehr noch einmal ‚unendlich‘ geworden: insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, dass sie unendliche Interpretationen in sich schliesst.“ (FW 374) Nietzsche geht auch selbst, jedoch unauffällig, von der optischen Metapher ‚Perspektive‘ zu einer nicht-optischen, der philologischen Metapher der ‚Interpretation‘ über. Interpretiert werden zunächst Texte, und die ‚Welt‘ erscheint jetzt als unendlich interpretierbarer Text.⁸¹ Unmittelbar zuvor, in FW 373, hat er ausführlich von „Welt-Interpretationen“ gehandelt,⁸² kennzeichnet aber nicht näher, was nun ‚unendlich‘ bedeutet, einmal in, einmal ohne Anführungszeichen. Er spricht nur vom „grossen Schauder“, der uns hier fasst (FW 374). Damit meint er zunächst wohl Pascals berühmten Schauder vor dem Unendlichen der physikalischen Welt im Großen und Kleinen, in dem sich jeder Halt verflüchtigt.⁸³ Doch die physikalische Perspektive gibt als klar begrenzte immer noch einen Halt; „noch einmal ‚unendlich‘“ wird die Welt, wenn auch diese Begrenzung philosophisch noch unterlaufen wird. Dann wird offenbar, dass es nicht nur unendlich viele andere Interpretationen oder Lesarten all dessen geben könnte, was man selbst erfährt, sondern dass auch die eigenen Interpretationen in der eigenen Perspektive unendlich vielfältig reflektiert und interpretiert werden könnten, dass also die Welt einer Perspektive wiederum aus unendlich vielen Perspektiven besteht, die

 Zur Metapher der Ecke vgl. Nietzsche Research Group, Art. Eckensteher.  Vgl. JGB , JGB , JGB .  Vgl. Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie,  – , und Dellinger, Von der Selbstkritik des Intellekts zur Perspektivierung des ‚Perspektivismus‘.  Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung,  f.

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II Orientierung an sich selbst: Nietzsches und Luhmanns Perspektivismus

einander unendlich vielfältig interpretieren können. Dadurch steigern sich die Ungewissheiten in einem schauderhaften Maß. Es bleibt dann nichts mehr, woran man sich letztlich – aber nur letztlich – halten kann, außer Perspektivierungen der eigenen Perspektive, und das heißt in Luhmanns Begriffen: ihre Selbstdifferenzierung. Während Pascal und Leibniz den Schauder noch durch den Halt in einem allwissenden und allmächtigen Gott beruhigen konnten, hat dieser Gott nun seine Glaubwürdigkeit verloren (vgl. FW 343), und wer hätte nun noch „Lust, dieses Ungeheure von unbekannter Welt nach alter Weise sofort wieder zu vergöttlichen“, „das Unbekannte“ durch „‚den Unbekannten‘“ zu ersetzen und diesen „anzubeten“, also alle Ungewissheit einfach bei ihm zu hinterlegen. Das geht nun, so Nietzsche, gegen den Geschmack: Man erwägt es schon gar nicht mehr, gibt sich nicht mehr mit solchen durchschaubaren Manövern der Erleichterung, Beruhigung und Tröstung ab, kann nun scheinbaren Gewissheiten die Ungewissheit vorziehen.

3.1.2 Dummheit als Halt im Perspektivismus Denn man weiß nun hinreichend oder kann doch wissen, wie sehr man mit solchen Gewissheiten betrogen werden und sich selbst betrügen kann: „Ach, es sind zu viele ungöttliche Möglichkeiten der Interpretation mit in dieses Unbekannte eingerechnet, zu viel Teufelei, Dummheit, Narrheit der Interpretation, – unsre eigne menschliche, allzumenschliche selbst, die wir kennen …“ Diese „Teufelei, Dummheit, Narrheit“ hat Nietzsche schon zuvor, in JGB und in FW 344, angesprochen und wird sie bald darauf, in GM, breit ausführen. Mit „Narrheit“ dürfte er auf Fiktionen und Illusionen anspielen, mit denen man sich in der Regel wider besseres Wissen begnügt, und Nietzsche bezieht darin erkennbar auch sein eigenes Werk seit MA ein („– unsre eigne menschliche, allzumenschliche selbst“), in dem er an der Aufklärung der – durchaus lebensnotwendigen (vgl. JGB 4) – Fiktionen und Illusionen gearbeitet hat. Mit „Dummheit“ dürfte der unvermeidliche Abbruch infiniter Regresse in einer solchen Erkundung von Ungewissheiten der Interpretationen gemeint sein. „Wenn der Entschluss einmal gefasst ist“, hatte Nietzsche in JGB 107 geschrieben, „das Ohr auch für den besten Gegengrund zu schliessen: Zeichen des starken Charakters. Also ein gelegentlicher Wille zur Dummheit“. In JGB 188 nannte er „Dummheit“ unmittelbar „die Verengerung der Perspektive“, „das Bedürfniss nach beschränkten Horizonten“, das „eine Lebensund Wachsthums-Bedingung“ sei, und in JGB 231 sprach er schlicht von der „grossen Dummheit, die wir sind“. „[Z]um Perspektivischen gehört“, schrieb er dann in MA I Vorrede 6, „auch das Stück Dummheit in Bezug auf entgegengesetzte Werthe und die ganze intellektuelle Einbusse, mit der sich jedes Für, jedes Wider bezahlt macht.“ In GD Streifzüge 40 wird er dann zuspitzen: „Über gewisse Dinge

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fragt man nicht: erster Imperativ des Instinktes.“ Der Perspektivismus der unendlichen Interpretationen zwingt nicht zu einer Ontologie, wohl aber zum Abbruch der Interpretationen, wo Lebensbedürfnisse dazu nötigen, und dieser Abbruch kann dann z. B. auch die Annahme einer Ontologie sein. Das Wort von der „Teufelei“ schließlich, die Nietzsche zuerst nennt, könnte nicht nur auf die Priester im Dienst des großen Unbekannten zielen, sondern auch auf seine eigene Teufelei: nämlich einen Gegen-Gott, den „Gott Dionysos“, als Gott seines Philosophierens ausgerufen zu haben (JGB 295): Dionysos als Gott, der über die Möglichkeit unendlicher Interpretationen nicht beruhigt, sondern im Gegenteil immer neu an sie erinnert. Nietzsche ‚konstruiert‘ ihn aus der Perspektive seines Perspektivismus als Gott seines Perspektivismus – damit besetzt er vorsorglich die Stelle, die sonst rasch anderweitig wieder besetzt würde. Die Ausrufung des Dionysos zum Gott des Philosophierens soll wappnen, lebensnotwendige Dummheiten und Narrheiten, wo man nicht umhin kann, sich ihnen zu ergeben, wieder zu reflektieren („kommen wir unserm ‚Gotte‘ mit allen unsern ‚Teufeln‘ zu Hülfe!“) und so die „Redlichkeit“ zu kräftigen (JGB 227).

3.1.3 Luhmann: Identität der Erfahrung der Nichtidentität von Perspektiven Luhmann gebraucht den Begriff Perspektive häufig, etwa in SGS (51) bei der Einführung der „sozialen Dimension“ von „Sinn“, in SS, WissG und GG dann zunehmend häufiger, doch bis zuletzt unterminologisch. Von „Perspektivität“ spricht er nur in Zitaten anderer. Er nutzt den Begriff jedoch, um plausibel zu machen, dass Systeme, wie er sie versteht, nicht über sich hinaussehen können, sondern das, was sie als ihre Umwelt sehen, nach ihren eigenen Bedingungen konstruieren. Luhmann konzipiert, weit expliziter als Nietzsche, einen leibnizschen sich selbst perspektivierenden Perspektivismus ohne Gott: „Das Gesamtsystem wird rekonstruiert als interne Differenz von Teilsystem/Teilsystemumwelt, und dies für jedes Teilsystem auf je verschiedene Weise. Je nach interner Schnittlinie ist das Gesamtsystem dann mehrfach in sich selbst enthalten. Es multipliziert seine eigene Realität.“ Dieser Perspektivismus schließt auch seine eigene Theorie ein. Jedes Teilsystem, „indem es sich nur an der eigenen System/ Umwelt-Differenz orientiert, [rekonstruiert] mit dieser […] das Gesamtsystem für sich“; es befindet sich in einem „ständigen Perspektivenwechsel“ zwischen sich als Teilsystem und dem für es unfassbar bleibenden Gesamtsystem als seiner Umwelt (SS, 262). Denn die Systemtheorie ist nach ihrem Selbstverständnis ihrerseits ein Teilsystem des Teilsystems Wissenschaft; durch sie wird den übrigen Teilsystemen oder Perspektiven kein gemeinsamer Gegenstand unterlegt. „Beobachterperspektiven“ sind black boxes, also ‚fensterlos‘ gegeneinander: „Sie bleiben getrennt, sie verschmelzen nicht, sie verstehen einander nicht besser als

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II Orientierung an sich selbst: Nietzsches und Luhmanns Perspektivismus

zuvor; sie konzentrieren sich auf das, was sie am anderen als System-in-einerUmwelt, als Input und Output beobachten können, und lernen jeweils selbstreferentiell in ihrer je eigenen Beobachterperspektive.“ (SS, 157) Man kann wohl „in der Sachdimension“ an der gemeinsamen Unterstellung einer gemeinsamen Sache festhalten – ohne dass es sie darum auch geben müsste. Die „soziale Schematisierung“ der Perspektiven, die von der Kommunikation erzwungen wird, ermöglicht dann „beiden Partnern, beide Perspektiven, die des Ego und die des Alter, miteinander oder nacheinander zu verwenden und jeweils zu entscheiden, in wessen Perspektive was gemeint ist“ (SS, 126). Solche unterstellten Gemeinsamkeiten können sich aber rasch wieder auflösen, und so erfahren beide Seiten „mit der Nichtidentität der Perspektiven“ lediglich „die Identität dieser Erfahrung“ der Nichtidentität (SS, 172). Perspektiven sind, auch das ein Paradox, identisch nur in ihrer Nichtidentität.⁸⁴ So langt Luhmann bei einer „radikalen De-Ontologisierung der Perspektive auf Gegenstände schlechthin“ an (SS, 243; vgl. EpK, 37; Kap. I, 2.4). Wofür Nietzsche noch gekämpft hat, ist für ihn selbstverständlich geworden. Luhmann hält nicht nur den Perspektivenbegriff auch für seine eigene Theorie fest, spricht etwa von „Theorieperspektiven“, die daraufhin zu überprüfen seien, ob sie „sich als übernehmbar erweisen“ (SS, 203), oder von seiner eigenen „unüblichen Theorieperspektive“ (GG, 846). Wie bei Nietzsche Perspektiven ausund eingehängt werden (MA I Vorrede 6, GM III 12), so werden in Luhmanns Systemtheorie „Sinn-“ oder „Orientierungsdimensionen“ aus- und „eingeschaltet“ (SS, 121). Und der Perspektivenbegriff führt Luhmann auch, in einem der wenigen Fälle in seinem Werk, zu einer namentlichen Auseinandersetzung mit Nietzsche.Werde der Perspektivenbegriff nur „eingesetzt, um die Subjektivität und Relativität aller Sichtweisen zu bezeichnen“, bleibe er „eher unergiebig“ (WissG, 90). Dem geht er ebenfalls (Kap. I, 2.4) in der Abhandlung Das Erkenntnisprogramm des Konstruktivismus und die unbekannt bleibende Realität genauer nach. Er unterscheidet dort innerhalb des Perspektivismus „Objektivisten“ und „Subjektivisten“; beide – Luhmann nennt zunächst keine Namen – suchten „noch einmal klassische Auswege“ aus dem Konstruktivismus: Objektivisten konnten sagen, die Realität sei vielseitig, so daß sie von keinem einzelnen Beobachtungsstandpunkt aus komplett eingesehen werden könne. Was man sehe, verberge das,was man nicht sehe. Man müsse sich mit einem Wechsel des Beobachtungsstandpunktes helfen, also sequentiell bzw. arbeitsteilig beobachten. Subjektivisten konnten statt dessen von einer Vielheit von Perspektiven sprechen, die ein jeweils konditioniertes Sehen er-

 Die Figur erscheint bereits am Ende des Geist-Kapitels (BB/VI) von Hegels Phänomenologie des Geistes.

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möglichen, aber zugleich auch das Sehen der Perspektive, mit der man sieht, ausschließen oder doch erschweren. (EpK, 50)

Danach gehen Objektivisten unter den Perspektivisten weiterhin von Objekten aus, deren Objektivität sich jedoch nur in Perspektiven, durch immer mehr Perspektiven aber immer schärfer erfassen lasse, Subjektivisten unmittelbar von Perspektiven, die in ihren Perspektiven verbleiben, ohne sich mit anderen vergleichen zu können, einfach, weil sie sie gar nicht sehen können, dafür aber ihre eigene Perspektive differenzieren und so in sich perspektivieren. Für Objektivisten bleibt immer etwas an den Objekten, für Subjektivisten bleiben immer die Perspektiven anderer verborgen. Für Letztere zitiert Luhmann Nicholas Rescher („Perspectives are diaphanous, and one tends not to see them as such“)⁸⁵ und verweist zugleich auf Nietzsche („Mehr Augen – und damit mehr Affekte, das war Nietzsches Postulat in der Genealogie der Moral“), um dann festzustellen: „Der Konstruktivismus überschreitet diese Positionen“ – also die des Objektivismus ebenso wie des Subjektivismus – „dadurch, daß er das Verhältnis von Erkenntnis und Gegenstand radikalisiert.“ Es gehe nicht mehr nur um Schwierigkeiten, die sich aus einer Pluralität von Seiten oder Perspektiven ergeben, und das Problem liegt auch nicht darin, trotzdem zur Einheit zu kommen.Vielmehr ist diese Pluralität, sei es als Pluralität von Seiten, sei es als Pluralität von Perspektiven, ihrerseits ein Erzeugnis der Kognition, bedingt durch bestimmte Arten von Unterscheidungen, die als Unterscheidungen Instrument des Erkennens sind. (EpK, 50)

Luhmann unterläuft so Nietzsches mit Metaphern der Optik arbeitenden Perspektivismus durch Unterscheidungstheorie. Doch es bleibt (erstens) fraglich, ob man diesen Perspektivismus sinnvoll in einen Objektivismus oder Subjektivismus unterscheiden kann und ob er, im Fall der Zuordnung zum Subjektivismus, auf Einheit hinauswill. Es ist (zweitens) höchstens halb richtig, dass Nietzsche ein „Postulat“ aufstellt, und es ist (drittens) zu vermuten, dass Nietzsche Luhmanns Radikalisierung schon vorweggenommen hat.Worauf Luhmann sichtlich anspielt, ist eine unter Nietzsche-Kennern berühmte Passage aus GM III 12: Es giebt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches „Erkennen“; und je mehr Affekte wir über eine Sache zu Worte kommen lassen, je mehr Augen, verschiedne Augen wir

 Rescher, Der Streit der Systeme, . Bei Rescher steht der Satz in Parenthese. Im Kontext fragt er nach der Wahrheit einer Perspektive, die wieder nur in einer Perspektive zu beantworten sei. Mit „diaphanous“ meint er offenbar, dass man Perspektiven wie Glas nicht sieht, wenn man durch es hindurch sieht – ohne sehen zu können, wie weit das Glas die Sicht bedingt.

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II Orientierung an sich selbst: Nietzsches und Luhmanns Perspektivismus

uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger wird unser „Begriff“ dieser Sache, unsre „Objektivität“ sein. (GM III 12)⁸⁶

Das wird man ebenso ‚objektivistisch‘ wie ‚subjektivistisch‘ oder weder so noch so verstehen können: Nietzsche setzt seinen durch eine Pluralität von Perspektiven bestimmten Begriff von Objektivität (Kap. I, 2.4) in Anführungzeichen, womit er anzuzeigen pflegt, dass er seinen Sinn verschiebt. Ob andere Perspektiven dann als andere gegenüber der eigenen oder gleich in der eigenen Perspektive angesetzt werden, bleibt sich gleich – in einem konsequenten Perspektivismus, auch dem Reschers und Luhmanns, sind sie letztlich nur in der eigenen Perspektive beobachtbar. Der Unterschied zwischen ‚objektivistischem‘ und ‚subjektivistischem‘ Perspektivismus ist also in der Zeitdimension nur der eines Vorher oder Nachher, in der Sachdimension (nach Luhmanns Begriffen) einer von Umwelt und System (oder von äußerer und im System strukturierter, also innerer Umwelt). Kant, von dessen „resoluten Umkehrungen der gewohnten Perspektiven und Werthungen“ Nietzsche in GM III 12 unmittelbar zuvor gehandelt hat, hatte diese eine Perspektive auf den Begriff des transzendentalen Subjekts gebracht, das sich selbst objektivieren oder entperspektivieren sollte. Lässt man, wie Nietzsche und auch Luhmann, dieses transzendentale Subjekt zurück (Kap. IV), macht auch dessen Selbstobjektivierung und damit die Unterscheidung von Objekten und Subjekten und Objektivisten und Subjektivisten keinen Sinn mehr. Es bleiben nur Perspektiven auf Perspektiven, die dann stets wieder Perspektiven einer oder in einer Perspektive sind. Objektivität in Kants Sinn setzt ein Sollen voraus – das Subjekt soll, um zur Objektivität zu kommen, sich selbst objektivieren; ansonsten bleibt es allein in seiner subjektiven Perspektive. Auch Nietzsche hatte zuvor, in MA I Vorrede 6, seinen Perspektivismus noch als ein Sollen, d. h. als ein moralisches Postulat formuliert, das dann an jemanden adressiert werden musste (einem ‚Du‘ wie in Kants kategorischem Imperativ), als „Du solltest Gewalt über dein Für und Wider bekommen und es verstehn lernen, sie aus- und wieder einzuhängen, je nach deinem höheren Zwecke“. In GM III 12 spricht er dann aber von einem Können, das einleitend schon angeführte „Vermögen, sein Für und Wider in der Gewalt zu haben und aus- und einzuhängen: so dass man sich gerade die Verschiedenheit der Perspektiven und der Affekt-Interpretationen für die Erkenntnis nutzbar zu ma-

 Auch Rescher, Der Streit der Systeme, , zitiert die Stelle, jedoch ohne die „Affekte“. Er hat offenbar Luhmanns Augen auf Nietzsche gelenkt, und Luhmann muss, um die Affekte zu entdecken, in Nietzsches Text selbst nachgesehen haben, wenn er ihm nicht ohnehin geläufig war. Ansonsten nennt auch Rescher Nietzsche nur nebenbei und unter andern.

3 Perspektivität, Reflexivität und Rekursivität bei Nietzsche und Luhmann

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chen weiss“.⁸⁷ Mit dem „man“ dieses Könnens ist wiederum keine irgendwie fassbare Einheit gemeint, schon gar nicht erneut ein kantisches Subjekt. Denn Nietzsche schließt unmittelbar an: „Hüten wir uns nämlich, meine Herren Philosophen, von nun an besser vor der gefährlichen alten Begriffs-Fabelei, welche ein ‚reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntniss‘ angesetzt hat“. Er setzt der ‚Fabelei‘ die Rede von anonymen und latenten „aktiven und interpretirenden Kräften“ entgegen, die das „Sehen“ ausrichten und sein Gesichtsfeld begrenzen, so dass es „erst ein Etwas-Sehen wird“. Was außer ihnen selbst ihr Zusammenwirken, also ihre Einheit, organisiert, bleibt auch für Nietzsche offen und muss offen bleiben. Und so lässt Nietzsche das Sehen dann auch stehen, als bloßes „perspektivisches Sehen“, das ohne Objekt und Subjekt ist und zu dem man sich beides, einerseits eine „Sache“, auf die „verschiedne Augen“ blicken, andererseits ein „wir“, das diese „Augen“ hat, lediglich hinzudenkt oder hinzufingiert, in Luhmanns Sprache erst konstruiert. Damit war Nietzsche schon dorthin gekommen, wo Luhmann hinwollte, zu einer bloßen Unterscheidung von Perspektiven, die ihrerseits nur Namen für unterschiedliche Unterscheidungen sind.

3.2 Reflexivität: Orientierung an Perspektiven 3.2.1 Luhmann: Selbstreferentialität als Grundgesetz Hatte die philosophische Tradition versucht, über die Perspektivität hinauszukommen, indem sie von der sichtlich perspektivischen ‚sinnlichen Wahrnehmung‘ ein nicht-perspektivisches, aber nicht, zumindest nicht unmittelbar beobachtbares ‚Denken‘ unterschied, in dem dann alle übereinstimmen sollten, so verzichtete Nietzsche implizit, Luhmann explizit auf diesen Ausweg. Alles Beobachten sollte seinerseits beobachtbar sein, aber alles beobachtbare Beobachten beobachtet perspektivisch, das Denken und das Gedächtnis eingeschlossen.⁸⁸ Weil aber Beobachtung, um sich vom Beobachteten unterscheiden zu können, selbstreferentiell sein muss, rückt für Luhmann der Selbstbezug oder die Reflexivität ins Zentrum, nun jedoch nicht mehr als die Reflexivität von Subjekten, sondern als die von Perspektiven. Luhmann versteht die Reflexivität oder Selbstreferenz in diesem Sinn als das „Zentrum der Systemtheorie“ (SS, 593), als ihr „Grundgesetz“ (SS, 64) – und, mit Blick auf die philosophische Tradition, als

 Dieser Übergang vom Sollen zum Können wird schon am Ende von MA I Vorrede ,vorbereitet: „und auch, was er jetzt kann, was er jetzt erst darf …“  Vgl. Stegmaier, Wie denken Organisationen und wie zeigt sich, dass sie denken?

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II Orientierung an sich selbst: Nietzsches und Luhmanns Perspektivismus

ihren „Explosivstoff“ (SS, 656). Er beginnt mit ihr Soziale Systeme, die Grundlegung seiner Theorie, und führt die Theorie auch wieder auf sie hinaus. Wenn es nun nicht mehr durch schlichte Gleichsetzung in einem nicht beobachtbaren Denken geschehen kann, wie wird dann denkbar, dass Perspektiven sich auf andere Perspektiven beziehen, dass Perspektiven, wenn konsequent perspektivistisch gedacht werden soll, andere Perspektiven einbeziehen? Um die Frage mit Luhmann zu beantworten, sind einige hochabstrakte und schwierige Zwischenschritte nötig. Sie führen von der selbstreferentiellen Abgrenzung von ‚etwas‘ überhaupt über die Theoreme der selbstreferentiellen Ausdifferenzierung und Grenzbildung, der evolutionären Selektion von Selektionen beim Beobachten von Beobachtungen zu alternativen Möglichkeiten des Einschließens und Ausgrenzens von Perspektiven oder zur selbstreferentiellen Perspektivierung bei der Fremdreferenz auf andere Perspektiven. Das etwa ist der Weg, auf dem Luhmann die alte Ontologie auflöst, die von der Einheit von Denken und Sein ausging, und Orientierung freisetzt, die Entscheidungen über alle Unterscheidungen denkbar macht.

3.2.2 Abgrenzung von ‚etwas‘ überhaupt Die Abgrenzung von ‚etwas‘ überhaupt, so der Grundgedanke, ist nur durch Reflexivität oder Selbstreferenz möglich, nun jedoch gedacht in Differenz zu Fremdreferenz. Die Einheit eines ‚etwas‘ ist – hier steckt der Explosivstoff – nicht ontologisch als immer schon gegebenes und bleibendes ‚Wesen‘, sondern aus der Differenz zu verstehen, die jeweils neu vollzogen wird. Luhmann scheint zwar, indem er ontologische Ansprüche abwehrt, zugleich neue zu erheben: Wenn der Begriff Selbstreferenz behauptet, „daß Einheit nur durch eine relationierende Operation zustandekommen kann; daß sie also zustandegebracht werden muß und nicht als Individuum, als Substanz, als Idee der eigenen Operation immer im voraus schon da ist“, „definiert [er] nicht nur, er enthält auch eine Sachaussage“ (SS, 58). Dass diese „Sachaussage“ wieder eine ontologische Wesensaussage ist, scheint der berühmte Satz zu Beginn des Hauptteils von Soziale Systeme zu bekräftigen, „daß es Systeme gibt“, „reale Systeme der wirklichen Welt“ (SS, 30), und am Ende heißt es noch einmal: „Der Systembegriff steht (im Sprachgebrauch unserer Untersuchungen) immer für einen realen Sachverhalt. Wir meinen mit ‚System‘ also nie ein nur analytisches System, eine bloße gedankliche Konstruktion, ein bloßes Modell“, das „auf eine wissenschaftliche Operation beschränkt sein soll“ (SS, 599 f.). „Zustandegebracht“ wird ein ‚System‘ in Luhmanns Sinn aber durch zeitliche Operationen, die immer neu zu vollziehen sind, und das heißt für Luhmann durch selbstreferentielle, sich selbst von andern unterscheidende Unterscheidungen. Systeme ‚sind‘ lediglich solche selbstreferentiellen Unter-

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scheidungen, ‚etwas‘ ist nur, kommt nur zustande, sofern es sich unterscheidet, durch eine Differenz von Selbstreferenz und Fremdreferenz. Als Differenz von System und Umwelt scheint sie wiederum ontologisiert zu werden. Aber Luhmann de-ontologisiert oder perspektiviert sie zugleich, indem er schlicht geltend macht, dass auch der ontologisierende Blick eine Differenz von Selbstreferenz und Fremdreferenz oder ein System in Differenz zu seiner Umwelt voraussetzt, das als Beobachtungssystem seinerseits beobachtbar sein muss und dieses Beobachtungssystem von einem weiteren Beobachtungssystem und so fort.⁸⁹ Ontologisierung und De-Ontologisierung oder Perspektivierung sind dann ihrerseits Operationen von beobachtbaren Beobachtungssystemen, Ontologie ist nichts Letztes mehr, sondern selbst eine den europäischen Denkgewohnheiten geschuldete Perspektive.⁹⁰ Ein Beobachtungssystem, das etwas für real oder nicht real hält, das ontologisiert oder perspektiviert, kann aber nicht anders als seine jeweilige Beobachtung, seine eigene Operation, für real zu halten, es kann deren Vollzug im Zug dieses Vollzugs nicht bestreiten. Der Vollzug ist real, ohne dass er ontologisch gedeutet, ihm ein Wesen an sich unterstellt werden müsste. So wird jenseits der traditionellen Ontologie Realität als Realität einer selbstreferentiellen Unterscheidung von anderem denkbar.Wollte man das erneut ontologisch formulieren, so wäre ‚Sein‘ ein Selbst-im-Unterschied-von-anderem-Sein oder kurz DifferenzSein. Wiederum de-ontologisiert hieße das: Nicht ein Sein ist, sondern eine Differenz, die ein Sein unterscheidet, und diese Unterscheidung setzt nichts voraus als wieder eine Unterscheidung, die sie als solche unterscheidet, also ein selbstreferentielles Unterscheiden.

3.2.3 Ausdifferenzierung, Autopoiesis, Autonomie Luhmann fasst dieses selbstreferentielle Unterscheiden durch sein Theorem der Ausdifferenzierung. Jede Unterscheidung wird als Unterscheidung wieder einer Unterscheidung, als Differenzierung selbstreferentieller Differenzen gedacht, ohne dass es hier einen absoluten Anfang oder ein absolutes Ende geben muss; Ausdifferenzierung ist, wenn man so will (Luhmann gebraucht den Begriff nicht), Autodifferenzierung. Nur mit dieser Denkfigur lässt sich eine ontologische Überschreitung des Differenz-Seins vermeiden. Selbstreferentielle Differenzen oder Systeme differenzieren sich, wenn sie durch Fremdreferenzen, also durch ihre  Luhmann selbst gebraucht den Begriff des „Beobachtungssystems“ eher selten, aber an wichtigen Stellen wie WissG, , und EpK, .  Vgl. Fuchs, Der Sinn der Beobachtung,  – . Fuchs lässt jedoch „fungierende“, bestimmten Funktionen dienliche Ontologien zu.

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Umwelt dazu angeregt, ‚irritiert‘ werden. Das geschieht, so Luhmann, unterschiedlich auf unterschiedlichen Stufen der Komplexität: Es beginnt bei „basaler Selbstreferenz“ von „Elementen“ auf ihre „Relationen“, setzt sich fort in „prozessualer Selbstreferenz“, sofern Zeit, d. h. eine „Unterscheidung von Vorher und Nachher“, einbezogen wird – diese Selbstreferenz nennt Luhmann „Reflexivität“ in einem engeren Sinn –, und mündet in einer Selbstreferenz, der bereits „die Unterscheidung von System und Umwelt zu Grunde liegt“ und die man darum ‚systemische‘ nennen kann. Hier wird, so Luhmann, „Reflexion“ als ihrerseits unterschiedene Operation möglich (SS, 600 – 602). Die drei „Formen“ sind als Bedingungen der Möglichkeit der Operation von Systemen, nicht als Stadien eines Entstehungsprozesses zu verstehen. Zusammengefasst relationieren sich in Systemen danach Elemente in zeitlichen Prozessen, Elemente, die nicht als vorgegebene anzunehmen sind, sondern wiederum vom System selbst unterschieden und als solche ausdifferenziert werden, so wie Lebendiges Zellen ausdifferenziert. Luhmann belegt das mit dem aus Humberto Maturanas und Francisco Varelas Theorie der Biologie übernommenen Begriff der ‚Autopoiesis‘. Deren Ausgang liegt „gleichsam im Bodenlosen“ (SS, 609): Als zeitliche Ereignisse verschwinden Elemente und mit ihnen die Systeme sogleich mit ihrem Entstehen wieder; sie müssen sich also laufend wiederherstellen (anschaulichstes Beispiel dafür ist neben einer organischen Zelle die soziale Kommunikation), können sich so aber auch jeweils differenziert wiederherstellen. Bleiben sie aneinander anschlussfähig, können sich dauerhaftere Strukturen bilden, in denen regelmäßige Prozesse ablaufen, und je mehr sich die Strukturen dadurch festigen, desto unabhängiger werden sie von Ereignissen ihrer Umwelt, desto größere Autonomie gewinnen sie, bis hin zur Reflexion ihrer System-Umwelt-Differenz selbst. Das sich ausdifferenzierende System, von dem Luhmann ausgeht und als Soziologe ausgehen muss, ist das System der Kommunikation der Gesellschaft, in dem er, selbstbezüglich, auch seine Theorie formuliert. Alle Systeme müssen als ‚Teilsysteme‘ des Systems der Kommunikation der Gesellschaft aufgefasst werden. Dessen selbstreferentielle Ausdifferenzierung ist jedoch weder logisch als Begründung noch kausal als Verursachung zu verstehen, sondern als evolutionäre Autonomisierung oder ‚Grenzbildung‘. Durch sie werden lediglich bestimmte Abhängigkeiten oder Interdependenzen blockiert und andere verstärkt: „Die Grenzbildung unterbricht das Kontinuieren von Prozessen, die das System mit seiner Umwelt verbinden.“ (SS, 54) Luhmanns bevorzugtes Beispiel sind hier Immunsysteme, die sich bei gegebenen Anlässen autonom ein- und ausschalten und so als Teilsysteme von Systemen deren Umweltzugänge kontrollieren. Das setzt doppelte Selbstreferenz, die des Systems und des Teilsystems, und deren Reflexion aneinander voraus – „die Grenze selbst ist durch das System bedingt, so daß die Differenz des Systems zur Umwelt ihrerseits als Leistung des Systems

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reflektiert, nämlich in selbstreferentiellen Prozessen thematisiert werden kann.“ (SS, 96) So wird systemtheoretisch „relative Kontextunabhängigkeit“ (SS, 213) verständlich. Sie zeigt sich als „Steigerung der Sensibilität für Bestimmtes (intern Anschlußfähiges) und Steigerung der Insensibilität für alles übrige – also Steigerung von Abhängigkeit und von Unabhängigkeit zugleich“ (SS, 250; vgl. BdM, 77). So werden schließlich auch „Steuerungs- und Kontrolleistungen des Prozesses durch sich selbst“ denkbar (SS, 616).

3.2.4 Evolution als Grundform prozessualer Reflexivität Evolution ist Ausdruck des „Komplexitätsdrucks der Welt“ und Selbstreferenz ihr „Korrelat“ (SS, 602). Sie besteht primär in Selektion und ermöglicht auch „eine sich selbst konditionierende Selektion“, eine „Selektion der Selektion“ (SS, 589): „Die Grundform aller prozessualen Reflexivität ist immer: Selektion von Selektion.“ (SS, 610) Durch den Begriff der Selektion, der kontingenten Auswahl aus kontingenten Möglichkeiten, wird das traditionelle Adäquations- oder Repräsentationskonzept der Wahrheit systemtheoretisch aufgelöst. Danach bildet ein System seine Umwelt nicht ab, sondern selektiert deren Komplexität selbstreferentiell nach seinen Unterscheidungen: „Nirgendwo in der Welt kann deren Komplexität adäquat abgebildet, aufgearbeitet, kontrolliert werden, weil das diese Komplexität sogleich entsprechend steigern würde. Statt dessen bildet sich Selbstreferenz, die für den Umgang mit Komplexität dann respezifiziert werden kann.“ (SS, 602) Selbstreferentielle Selektion bildet mit einem Wort Perspektiven, und je komplexer sich ein System oder eine Perspektive ausdifferenziert und „respezifiziert“, seine Unterscheidungen also verfeinert, desto mehr Komplexität in seiner Umwelt kann es für sich verfügbar machen.

3.2.5 Selbstreferentielle Beobachtung von Beobachtungen oder Beobachtung zweiter Ordnung Bei hinreichender Komplexität wird dann eine Reflexion auch der Unterscheidungen, durch die sie sich selbst vollzieht, oder eine „Beobachtung zweiter Ordnung“ möglich, ein selbstreferentielles „Beobachten von Beobachtungen“ (GG, 600). Während in der Beobachtung erster Ordnung Unterschiede einfach ‚gemacht‘ (lat. facere) werden und dann als ‚Fakten‘ (lat. facta) gelten, werden durch Unterscheidung von Unterscheidungen Spielräume für mögliche Alternativen und damit für die Selektion von Unterscheidungen geschaffen, denen ein System folgt. So kann eine „Perspektive“ irritiert und daraufhin ausgeschaltet und wieder eingeschaltet werden (GG, 600). Auch Theorie ist eine Beobachtung zweiter Ordnung, und auch sie bildet nicht etwas schon Vorgegebenes ab, sondern se-

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lektiert alternative Unterscheidungsmöglichkeiten. Sofern sie dadurch die Beobachtung erster Ordnung irritiert, ist auch sie eine ‚inkongruente Perspektive‘ (Einl., 2): „Die Theorie allein würde nur eine mehr oder weniger seltsame, abweichende Weltsicht erzeugen können, eine inkongruente und dadurch vielleicht anregende Perspektive“. Sie kann dann wohl wieder integriert werden in „den Bereich des Bekannten, immer schon Gewußten, durch Alter und Erfahrung bestätigten Weltwissens“, kann sich aber ihrerseits auch als „methodische Orientierung“ ausdifferenzieren (WissG, 427). Nietzsche handelte davon im Aphorismus 355 der FW.⁹¹ Im zweiten Fall, wenn die inkongruente Perspektive beibehalten wird, lernt eine Beobachtung zweiter Ordnung – nicht nur die Theorie, sondern jede reflektierte Orientierung – im Sinn des (oben besprochenen) Aphorismus 374 der FW, aus ihrer Ecke heraus auch diese Ecke, d. h. sich selbst als (dann doppelte) Perspektive zu sehen. Umgekehrt „erpreßt“ sich, so Luhmann, ein System,wenn es sich auf seine Perspektivität einlässt, „gleichsam selbst zur Reflexion“ (GG, 601) oder, wenn wir die Terminologien zusammenführen, zur selbstreferentiellen Perspektivierung durch andere Perspektiven. Im Ergebnis können Perspektiven durch Reflexion und Selektion andere Perspektiven ein- oder ausschließen, ohne je mit ihnen sich gleichzusetzen, zu vergemeinschaften oder zu verschmelzen. Sie bleiben auch dabei stets in ihrer eigenen Perspektive und ebenso, wenn sie Theorien oder andere ‚inkongruente Perspektiven‘ ausbilden.

3.2.6 Figuren der Selbstaufhebung bei Nietzsche: Organisationen von Willen zur Macht Hat man sich einmal die Grundzüge von Luhmanns Ansatz bei der Selbstreferenz in Differenz zur Fremdreferenz vor Augen geführt, findet man sie bei Nietzsche leicht wieder, wenn sicherlich auch nicht immer in der gleichen Verknüpfung und mit der gleichen Gewichtung – und nicht als Theorie. Nietzsche hat die Selbstreferenz besonders durch die Begriffe „Selbstüberwindung“ (zuweilen auch „Selbst-Überwindung“ geschrieben) und „Selbstaufhebung“ auffällig gemacht.⁹² Am bekanntesten ist seine Aufforderung zu immer neuer charakterlicher „Selbstüberwindung“ und seine Diagnose der „Selbstaufhebung der Moral“ (M Vorrede 4). Der Topos der Selbstreferenz beschränkt sich aber auch bei ihm nicht

 Vgl. Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie,  – .  Die Hauptbelegstellen im veröffentlichten Werk sind für „Selbstüberwindung“ FW , JGB , JGB , JGB , JGB , JGB , FW , GM III , GM III , GD Streifzüge  u. , AC , AC , für „Selbstaufhebung“ M Vorrede , GM II  und GM III . Eine scharfe Grenze zwischen beiden zieht Nietzsche nicht.

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auf Belange der Moral, sondern durchzieht ebenfalls sein ganzes Philosophieren.⁹³ Auch Nietzsche bezieht in die Selbstreferenz stets Fremdreferenz ein, wodurch sie, wie er sich in seinen Notaten auszudrücken pflegt, wachsend „complicirter“ wird, und auch für ihn ist dabei die Evolution ausschlaggebend, die er wie Luhmann als Prozess unablässiger Selbstüberwindungen oder Selbstaufhebungen im Sinn unablässiger Selektionen von Selektionen begreift. Und ebensowenig wie Luhmann scheut er die Paradoxieanfälligkeit der Selbstreferenz. An einer ebenfalls sehr bekannten und sehr komplexen Stelle, JGB 22, weist er eigens auf sie hin, ohne die Paradoxie auszubuchstabieren: „Gesetzt, dass auch dies [dass alle Gesetzlichkeit Interpretation sei] nur Interpretation ist – und ihr werdet eifrig genug sein, dies einzuwenden? – nun, um so besser.“ Man möge, lässt Nietzsche unausgesprochen, sich von der unvermeidlichen Selbstaufhebung nicht schrecken lassen, sondern das Beste aus ihr machen. Und Nietzsche macht ähnlich viel aus ihr wie Luhmann. Er deckt, wo immer möglich, unentdeckte Selbstreferenzen auf, seien sie paradox oder tautologisch (wie in Kants Transzendentalphilosophie, die jede Erkenntnisleistung „Vermöge eines Vermögens“ erkläre, JGB 11), arbeitet selbst durchgehend mit Selbstreferenzen, jedoch interessanterweise anders als Luhmann, und entdeckt darin das Befreiende der Philosophie. Luhmanns „basale Selbstreferenz“ der Elemente auf ihre Relationen denkt Nietzsche im schon erwähnten Theorem des Willens zur Macht, das ebenfalls ontologisch anmutet und das er, was man im Bann von Heideggers NietzscheInterpretation lange nicht bemerkte,⁹⁴ ebenfalls gezielt de-ontologisiert. Sofern Willen zur Macht (im Plural) eben darin bestehen, dass sie sich voneinander unterscheiden und einander überwinden, ist ihr ‚Sein‘ wie das der luhmannschen Systeme als zeitliches Differenz- oder Selbst-im-Unterschied-von-anderem-Sein gedacht. Entsprechend konzipiert Nietzsche die Bildung von autonomen Einheiten oder Perspektiven als Festigung von Willen zur Macht durch Strukturierung oder Organisation von Macht – er nennt das „Ausgestaltung und Verzweigung“

 Zittel, Selbstaufhebungsfiguren bei Nietzsche, sieht in der „Selbstaufhebungsfigur“ denn auch „ein Leitmotiv, mehr noch: einen Grundzug des nietzscheanischen Denkens“ (gemeint ist: des nietzscheschen, nicht des von Nietzsche ausgehenden), seine „konsequenteste Kritikstrategie“, ein „Schlüsseltheorem“ für das Verständnis seiner Texte und den „Ansatzpunkt“, die oft beklagten „Paradoxien, Selbstwidersprüche, Ambivalenzen in seinem Denken“ nur als „vermeintliche“ und stattdessen seine Philosophie als tragische zu verstehen ( f.).Vgl. bereits Stegmaier, Philosophie der Fluktuanz, passim, bes.  f., im Blick auf die Differenz zur ‚Aufhebung‘ bei Hegel. Zur weiteren Unterscheidung des nietzscheschen vom hegelschen Denken der Selbstaufhebung, die hier beiseite bleiben muss, vgl. Stegmaier, Die Substanz muss Fluktuanz werden,  – .  Vgl. Müller-Lauter, Nietzsches Lehre vom Willen zum Macht.

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(JGB 36). Auch für ihn entstehen solche Einheiten, wie Notate bezeugen, spontan und lediglich in perspektivischen Deutungen, nicht als ontologische Wesen: Alle Einheit ist nur als Organisation u. Zusammenspiel Einheit: nicht anders als wie ein Staat {menschliches Gemeinwesen} eine Einheit ist: also Gegensatz der {atomistischen} Anarchie; somit ein Herrschafts-Gebilde, das Eins bedeutet, aber nicht eins ist. ⁹⁵

In GM führt Nietzsche das im Zusammenhang mit den vermutlich grausamen Ursprüngen des schlechten Gewissens in einer drastischen, bilderreichen, anthropomorphen Sprache aus, in der gleichwohl schon die systemtheoretische selbstreferentielle Ausdifferenzierung und Grenzbildung vorscheint: Unvermittelt, blitzartig trete irgendeine „Eroberer- und Herren-Rasse“ auf, „welche, kriegerisch organisirt und mit der Kraft, zu organisiren, unbedenklich ihre furchtbaren Tatzen auf eine der Zahl nach vielleicht ungeheuer überlegene, aber noch gestaltlose, noch schweifende Bevölkerung legt“. Man müsse hier „ein instinktives Formenschaffen, Formen-aufdrücken“ annehmen: Wo sie, „die unfreiwilligsten, unbewusstesten Künstler, die es giebt“, erscheinen, steht „in Kürze […] etwas Neues da […], ein Herrschafts-Gebilde, das lebt, in dem Theile und Funktionen abgegrenzt und bezüglich gemacht sind, in dem Nichts überhaupt Platz findet, dem nicht erst ein ‚Sinn‘ in Hinsicht auf das Ganze eingelegt ist“ (GM II 17). Lange vorliegende soziale Umstände werden mit einem Mal so relationiert und funktionalisiert, dass sie in Luhmanns Sinn zu Elementen eines sozialen Systems werden und in ausdifferenzierten Teilsystemen Funktionen voneinander abgrenzen. In einem Notat formuliert Nietzsche das dann wiederum abstrakter, nicht mehr anthropomorph. Danach wird ein komplexes Herrschaftsgebilde als „‚Werth‘“ für das Überleben asymmetrisiert und dauerhaft gemacht: Der Gesichtspunkt des „Werths“ ist der Gesichtspunkt von Erhaltungs-Steigerungs-Bedingungen in Hinsicht auf complexe {Gebilde von relativer} Dauergebilde {des Lebens} innerhalb des Werdens: — : es giebt keine dauerhaften letzten Einheiten, keine Atome, keine Monaden: auch hier ist „das Seiende“ erst von uns hineingelegt, (aus praktischen, nützlichen perspektiv. Gründen) — „Herrschafts-Gebilde“; die Sphäre des Beherrschenden fortwährend wachsend oder periodisch abnehmend, zunehmend; oder, unter der Gunst u Ungunst der Umstände (der Ernährung —) — „Werth“ ist wesentlich der Gesichtspunkt für das Zunehmen oder Abnehmen dieser herrschaftlichen Centren („Vielheiten“ jedenfalls, aber die „Einheit“ ist in der Natur des Werdens gar nicht vorhanden).⁹⁶

 NL /, [] (), KSA ./KGW IX/, W I , .  NL , [] (), KSA ./KGW IX/, W II , .

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Anschließend bekräftigt Nietzsche das nicht-ontologische und nicht-anthropologische Verständnis der Willen zur Macht: — ein Quantum Macht, ein Werden, insofern nichts darin den Charakter des „Seins“ hat; – insofern — die Ausdrucksmittel der Sprache sind unbrauchbar, um das Werden auszudrücken: es gehört zu unserem unablöslichen Bedürfniß der Erhaltung, beständig die eine gröbere Welt von Bleibendem, von „Dingen“ usw zu setzen. Relativ, dürfen wir von Atomen u Monaden reden: u gewiß ist, daß die kleinste Welt an Dauer die dauerhafteste ist … es giebt keinen Willen: es giebt Willens-Punktationen, die beständig ihre Macht mehren oder verlieren.⁹⁷

3.2.7 Luhmanns Supertheorie und Nietzsches Perspektivierung des Inhalts durch die Form Luhmann berücksichtigt Nietzsches De-Anthropologisierung der Willen zur Macht nicht, erkennt in ihnen jedoch den systemtheoretischen Vorgriff: Selbstreferenz ist Bedingung für Steigerungen, für Steigerung der Einschränkbarkeit, für Aufbau von Ordnung durch Reduktion von Komplexität. Zeitweise war diese Einsicht in der Form von natürlicher Selbstliebe, in der Form von sich selbst begründender Vernunft oder dann in der Form des Willens zur Macht, also in anthropologischen Verpackungen, an die Stelle des Rationalitätsprinzips getreten. (SS, 638)

Er sucht seinerseits seine Theorie in einer wiederum selbstreferentiellen „Supertheorie“ (SS, 19) abzusichern, die, indem sie sich selbst einbezieht, ihre möglichen Negationen mitreflektieren, sie dadurch gegen Kritik immunisieren und so einen „Universalitätsanspruch“ (SS, 9) erheben kann (ohne „Ausschließlichkeitsanspruch“, WissG, 413). Diese Supertheorie, für Luhmann eine notwendige Voraussetzung des Theorems der selbstreferentiellen Ausdifferenzierung und sein Mittel, es mit der ihrerseits selbstreferentiellen Moral aufzunehmen (Kap. VIII, 7), nimmt aus Nietzsches Perspektive die verlassene Stelle Gottes ein. In ihrer Perspektive soll alles zu beobachten sein, sie selbst aber – per definitionem – nicht mehr oder doch nur aus der beschränkten Perspektive der Wissenschaft oder eben in ihrer eigenen Perspektive. Sofern Luhmanns Systemtheorie aber prinzipiell Beobachtbarkeit von anderem her fordert, wird sie an dieser Stelle selbst paradox, und diese Paradoxie ist mit ihren Mitteln nicht mehr aufzulösen und wird, da offen eingestanden (SdM, 9 – 27, bes. 12, 22), auch nicht unsichtbar gemacht. Nietzsche macht die Paradoxie, wie oben dargestellt, dagegen auf ‚teuflische‘ Weise sichtbar, indem er spielerisch Dionysos zum Gott seines Philosophierens, in  NL , [] (), KSA . f./KGW IX/, W II , .

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Luhmanns Begriffen zur obersten Instanz der Selbstreferenz, ausruft. Er philosophiert je länger, desto deutlicher selbstreferentiell (mit dem Höhepunkt der Genealogie seines eigenen Philosophierens in Ecce homo),⁹⁸ bricht dabei aber dem selbstreferentiellen Philosophieren die theoretische Spitze ab und bleibt konsequent, hier konsequenter als Luhmann, bei der Kommunikation, nämlich der (inszenierten) Kommunikation mit seinen Leser(inne)n. Er gestaltet seine veröffentlichten Texte durchgehend kommunikativ, lädt seine Leser(innen) durch fein nuancierte, also hochdifferenzierte Formen philosophischer Schriftstellerei zu Zweifeln, Nachfragen, Einwänden, Widerständen und eigenen Deutungen, also alternativen Verständnissen, ein, ohne ihnen je definitive Lehren anzubieten. Tut er das scheinbar doch, verunsichert er sie zugleich gezielt, indem er ausdrücklich und wiederholt die Verständlichkeit seiner Texte in Frage stellt (Kap.VI, 2.2). Statt eine Theorie der Ausdifferenzierung zu formulieren (also ihrerseits auszudifferenzieren), differenziert er, um es auf einen einfachen Unterschied zu bringen, Inhalt und Form, Gehalt und Gestalt seiner Texte. Er macht die Form so aussagekräftig, dass sie den Inhalt perspektiviert (Kap. III, 5). Nietzsches Wissenschaft ist ‚fröhlich‘ eben darin, dass ihre Aussagen vorbehaltlos perspektivisch sind, und die Form, die sich ihm vor allem dafür anbietet, ist der Aphorismus und das Aphorismenbuch. Darin können dieselben Themen immer wieder in anderen Kontexten und literarischen Formverwandlungen auftauchen, dürfen Aphorismen auch füreinander inkongruent sein: Eben dadurch reflektieren sie wie in einem kubistischen Gemälde wechselseitig ihre Perspektivität. Nietzsches Philosophieren operiert auf diese Weise perspektivistisch, ohne sich dabei auf eine Theorie des Perspektivismus festzulegen, die, auch nach Luhmann, wieder nur eine perspektivische sein könnte. Nietzsche führt das gerade an seinen Texten über die Perspektivität alles Beobachtens eindrucksvoll vor. Alles, was hier als Dogma, Lehre, Theorie auftritt, sucht er zugleich perspektivistisch zu „unterminiren“, wie er gerne sagt (MA I 472, GM III 14 u. ö.).⁹⁹ Bei Nietzsche ist die Perspektivität Gegenstand und schriftstellerische Methode zugleich.

 Zum Näheren vgl. Stegmaier, Philosophie der Fluktuanz,  –  (Nietzsches „Kritik der Vernunft seines Lebens“), und Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, passim.  Vgl. Dellinger, Aufklärung über Perspektiven; Dellinger, „Du solltest das Perspektivische in jeder Werthschätzung begreifen lernen“; Dellinger, Zwischen ‚Meinung‘ und ‚Maske‘. Im letzten Beitrag zieht Dellinger das Résumé: Das „‚Perspektivische‘ des Interpretierens könnte sich nicht mehr im Rahmen einer diskursiv stabilen Begrifflichkeit von einem Meta-Standpunkt aus beschreiben, sondern nur noch in selbstreflexiven, seine jeweiligen Artikulationsgestalten problematisierenden Textkonstellationen anzeigen bzw. vorführen lassen“ ().

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3.3 Rekursivität: Orientierung an sich selbst 3.3.1 Nietzsche: Die Realität der Perspektivität als Flüssigkeit des Sinns Die Realität dieser Perspektivität schildert Nietzsche in dem schon in der Einleitung (1.4) zitierten Passus aus GM II 12 als zeitlichen Prozess fortgesetzter perspektivischer Uminterpretationen („Anzeichen davon, dass ein Wille zur Macht über etwas weniger Mächtiges Herr geworden ist und ihm von sich aus den Sinn einer Funktion aufgeprägt hat“ – „Zeichen-Kette von immer neuen Interpretationen und Zurechtmachungen“). Systemtheoretisch gesprochen wird, was in der Beobachtung erster Ordnung als Ding erscheint, in einer Beobachtung zweiter Ordnung laufend umfunktioniert: Die Kommunikation ist danach ein völlig eigenständiger, autonomer, selbstreferentiell-geschlossener Vorgang des Prozessierens von Selektionen, die ihren Charakter als Selektionen nie verlieren; ein Vorgang der laufenden Formveränderung von Sinnmaterialien, der Umformung von Freiheit in Freiheit unter wechselnden Konditionierungen, wobei unter der Voraussetzung, daß die Umwelt komplex genug und nicht rein beliebig geordnet ist, nach und nach Bewährungserfahrungen anfallen und in den Prozeß zurückübernommen werden. (SS, 205 f.)

Kurz: „Sinn trägt sich selbst, indem er seine eigene Reproduktion selbstreferentiell ermöglicht“ (SS, 141), oder mit Nietzsche: „Die Form ist flüssig, der ‚Sinn‘ ist es aber noch mehr …“ (GM II 12). Gleichwohl verläuft der Sinnbildungsprozess keineswegs beliebig. Mit jeder Selektion schließt er andere Selektionen, andere mögliche Entscheidungen für andere mögliche Unterscheidungen und Bezeichnungen, mit Nietzsches Begriff andere mögliche Interpretationen aus und schränkt dadurch seinen eigenen Fortgang mit jedem Schritt weiter ein. Evolutionäre Selektion inkludiert jeweils diesen, exkludiert anderen Sinn. Bei Nietzsche heißt das: Selbst innerhalb jedes einzelnen Organismus steht es nicht anders: mit jedem wesentlichen Wachsthum des Ganzen verschiebt sich auch der „Sinn“ der einzelnen Organe, – unter Umständen kann deren theilweises Zu-Grunde-Gehn, deren Zahl-Verminderung (zum Beispiel durch Vernichtung der Mittelglieder) ein Zeichen wachsender Kraft und Vollkommenheit sein. (GM II 12)

Organische ebenso wie Sinnsysteme können ihre Teilsysteme umfunktionieren oder fallen lassen, und nur unter dieser Bedingung können sie sich unter wechselnden Umständen halten, ohne je eine feste Identität zu haben, weder für sich noch für andere. Nachdem Nietzsche in JGB klargestellt hat, dass es weder Macht noch Willen an sich gibt, sondern dass sie ihrerseits perspektivische Interpretationen sind, spricht er in GM auch (aber nur hier und nur ausnahmsweise) vom „in allem Geschehn sich abspielenden Macht-Willens“ als einer „Theorie“ (GM II 12).

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Im Kontext vorgetragen als eine Theorie gegen die von ihm beobachtete „demokratische Idiosynkrasie gegen Alles, was herrscht und herrschen will, den modernen Misarchismus“, versteht er sie wiederum als Anti-Theorie, als Reaktion auf ontologisierende Theorien. Er nennt sie zugleich den „Haupt-Gesichtspunkt der historischen Methodik“, unter dem stets die Flüssigkeit alles Sinns oder, mit Luhmann, das bloße Prozessieren von Differenzen im Auge behalten wird: Insgesamt ist Sinn also ein Prozessieren nach Maßgabe von Differenzen, und zwar von Differenzen, die als solche nicht vorgegeben sind, sondern ihre operative Verwendbarkeit (und erst recht natürlich: ihre begriffliche Formulierbarkeit) allein aus der Sinnhaftigkeit selbst gewinnen. Die Selbstbeweglichkeit des Sinngeschehens ist Autopoiesis par excellence. (SS, 101)

Im „Prozess fortgesetzter Uminterpretation“ (Nietzsche) oder in der „Selbstbeweglichkeit des Sinngeschehens“ (Luhmann) zeigt sich, abgeblendet in der Beobachtung erster Ordnung, sichtbar in der Beobachtung zweiter Ordnung, die Realität als Realität der Perspektivität.

3.3.2 Luhmann: Die Realität der Orientierung als Rekursivität Luhmann fasst die Differenzierung oder Spezifizierung und Respezifizierung eines Systems in seiner Umwelt durch aneinander anschließende Selektionen und Selektionen von Selektionen knapp in den Begriff der Rekursivität, der sich als Begriff dafür eingebürgert hat, dass Ergebnisse von Operationen zum Ausgangspunkt neuer Operationen desselben Typs in demselbem System werden (WissG, 321), das sich auf diese Weise selbst steuert.¹⁰⁰ Der Begriff schließt zugleich Wiederholung, Abweichung und Selbstverstärkung ein (LRP, 273). Rekursivität ist Orientierung am jeweils vorausgehenden Zustand. Während der Begriff der Reflexivität dafür steht, dass ein Prozess „sich selbst zum Gegenstand eigener Operationen machen, also sich selbst von anderen Prozessen unterscheiden kann“, ist Rekursivität „schon dann gewährleistet, wenn der Prozeß von eigenen

 Der Begriff stammt aus den er Jahren des . Jahrhunderts. Er erlaubte, in mathematische Gleichungen Zeit in Gestalt der (Wieder‐)Einsetzung von Werten einzutragen. Bei Rekursion von Punktmengen in Fraktalen können in deren graphischer Darstellung natürlich erscheinende Gebilde entstehen. Vgl. Schroeder-Heister, Art. rekursiv/Rekursivität; Thiel, Art. Funktion, rekursive; Haas, Art. Definition, rekursive. Luhmann übernimmt den Begriff von Heinz von Foerster und greift zugleich auf George Spencer Browns re-entry zurück (vgl.WissG, ). In WissG gebraucht er ihn weit intensiver als in SS. Dort beschreibt er auch den Aufbau seiner eigenen „nicht-linearen Theoriearchitektur“ als rekursiv (WissG, ).

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Ergebnissen profitiert“ (WissG, 333 f.).¹⁰¹ So ist auch Evolution als rekursiver Prozess zu verstehen: „Evolution ist, so gesehen, ein Prozeß der Abweichungsverstärkung, der auf seinen eigenen Resultaten aufbaut und sich dadurch beschleunigt, sofern die Ergebnisse der Evolution zur Separierung der Mechanismen für Variation und für Selektion beitragen.“ (WissG, 574 f.) Luhmann verknüpft den Begriff der Rekursivität häufig auch mit dem der Orientierung: „Rekursiv operierende (operativ geschlossene) Systeme orientieren sich an dem jeweils erreichten eigenen Zustand“ (SdR, 43); „Entscheidungen orientieren sich im rekursiven Netzwerk der Autopoiesis immer an anderen Entscheidungen und reflektieren zumeist ihren eigenen Orientierungswert für andere Entscheidungen.“ (OuE, 230)¹⁰² Mit dem Begriff der ‚Orientierung an …‘ werden die Spielräume denkbar, in denen ein Beobachtungssystem sich auf immer neue Situationen einstellen und doch dasselbe bleiben kann (Kap. I, 3.3). Durch Rekursionen entstehen nicht nur aus einer Abfolge von Operationen qua singulären zeitlichen Ereignissen mehr oder weniger dauerhafte Strukturen; diese Strukturen justieren sich durch Rekursivität dann auch von Situation zu Situation neu, respezifieren sich: „jede Operation [ist] mitbedingt durch den Zustand, in den sich das System selbst durch seine eigenen Operationen gerade versetzt hat und also mitbedingt durch die Strukturen, die jeweils erzeugt worden sind.“ (WissG, 277) Erworbene Strukturen sind Ausgangspunkt immer neuer Strukturierungen,¹⁰³ Realität bleibt so nachverfolgbar. Die Funktionsweise „rekursiver Systeme“ ist die aller Orientierung. Sie beobachtet laufend ihre eigenen Beobachtungen daraufhin, ob sie sich für die Selektion weiterer Beobachtungen bewähren, kontrolliert ihre Selbst- und Fremdreferenzen aneinander und versichert sich dadurch ihrer Haltbarkeit. Sie kann auf diese Weise den Großteil der möglichen Umweltirritationen ausblenden und sich auf wenige konzentrieren, also Komplexität reduzieren: „[D]as charakteristische Merkmal eines rekursiv operierenden Systems ist die Sensitivität für den Effekt der eigenen Operation und nicht nur, ja faktisch immer nur in extrem geringem Ausmaß, die Sensitivität für Ereignisse der Umwelt.“ (WissG, 278) So, auf diesem  Luhmann unterscheidet, soweit ich sehe, nicht ganz einheitlich. SS, , erscheint Reflexivität, die sich selbst von anderen Prozessen unterscheiden kann, als Reflexion.  Kybernetisch lässt sich die Rekursion als „Rückmeldung von Informationen über die Wirkungen des eigenen Verhaltens in das System“ bestimmen. Sie „ermöglicht es dem System, sich auch in unvorhersehbar fluktuierenden Umwelten zu erhalten“, ist also eine „Strategie der Absorption übermäßiger Komplexität“, neben dem „Einbau von internen Unbestimmtheiten, Freiheiten und Widersprüchen in das System (SA,  f.). Das beschreibt gut auch die Verfahrensweise der Orientierung.  Vgl. Wilhelm Diltheys Begriff des ‚erworbenen Strukturzusammenhangs‘, dazu Hahn, Die Systemtheorie Wilhelm Diltheys, und Stegmaier, Philosophie der Fluktuanz,  f.

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II Orientierung an sich selbst: Nietzsches und Luhmanns Perspektivismus

Weg, entsteht der Eindruck einer immer dichteren und gefestigteren und schließlich vertrauten Realität. Luhmann nennt das ‚Kondensieren und Konfirmieren‘ durch ‚rekursive Vernetzung‘: Im Ergebnis entsteht durch diesen doppelseitigen Prozeß des Kondensierens und Konfirmierens eine Art konkrete Vertrautheit mit Welt, die sich dem genau definierenden Zugriff entzieht, sich aber gleichwohl von unvertrautem Sinn unterscheiden läßt. Das semantische „Material“ des rekursiven, wiederholend-konfirmierenden Prozesses wird unscharf, füllt sich mit Verweisungen auf anderes, zwingt alles weitere Operieren zur Selektivität – aber garantiert auf genau diese Weise auch, daß es weitergeht. (WissG, 109)

Durch Selektionen in ihrem rekursiven Prozess, durch den sie sich laufend der Realität, einer sich laufend verändernden Realität, versichert, hält sich die Orientierung mit einem Wort immer Spielräume offen. Auch Wissen, einschließlich des wissenschaftlichen Wissens, entsteht in einem solchen Prozess; so kann es auch stets wieder fragwürdig werden (WissG, 166, 262; Kap.VI, 3). Im Ausgang von der Rekursivität des Beobachtens kommt man so auch in der Wissenschafts- und Erkenntnistheorie „ohne privilegierte Positionen, ohne uneinsichtige Quellen, ohne fundierende Asymmetrien, ohne letztgewisse Gründe und ohne organisierende Zentren aus[…]. All das wird durch Rekursivität ersetzt mit der Folge, daß das System als ein selbsttragendes Netzwerk der Reproduktion seiner Elemente durch seine Elemente fungieren kann.“ (WissG, 320) Und so lässt sich das Wissen der Wissenschaft auch an das alltägliche Wissen (dass etwas in der Beobachtung erster Ordnung so ist, wie es ist, und man keinen Anlass hat, daran zu zweifeln) anschließen: Die Rekursivität des wissenschaftlichen Wissens bleibt gebunden an die alltägliche Wissensverwendung und damit an die allgemeine Autopoiesis der Gesellschaft. Das Wissen bildet sich und bildet sich um im normalen Prozeß der Kommunikation durch Inanspruchnahme in Situationen. Es kann dabei in verschiedenen Situationen wiederholt und dabei abgeschliffen werden, indem es in der Verwendung Konsistenzprüfungen der verschiedensten Art unterworfen wird. Es bewährt sich, man weiß nicht wie. Die Bewährung wird folglich der Welt zugerechnet, und man findet keinen Anlaß, zwischen Wissen und wahrem Wissen zu unterscheiden. (WissG, 333)

Auch diese Unterscheidung „zwischen Wissen und wahrem Wissen“ ist nicht irgendwie vorgegeben, sondern wird selbst von „rekursiv operierenden Systemen“, d. h. „jeweils systemspezifisch produziert und reproduziert“ (OuE, 187). Auch sie beruht auf einer Orientierungsentscheidung. Für ihre Bewährung stehen der Orientierung auch für Luhmann nur ‚Anhaltspunkte‘ zur Verfügung (Kap. I, 3.3), die von unterschiedlichen System unterschiedlich gewählt werden und ihnen unterschiedlichen Halt geben, „Sinnmarken (oft sagt man ungenau Zeichen, besser ‚tokens‘), die Anhaltspunkte für ein

3 Perspektivität, Reflexivität und Rekursivität bei Nietzsche und Luhmann

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weiteres Beobachten fixieren, die stabil sind, auch wenn (und gerade weil) sie aus unterschiedlichen Perspektiven benutzt werden und dies durchschaut wird“ (WissG, 114). In Soziale Systeme nennt Luhmann sie „Bezugspunkte“ der Fremdreferenz eines selbstreferentiellen Systems, die vorläufig „nicht mehr in Frage gestellt werden, sondern als gegeben hingenommen werden müssen“. Anhaltspunkte sind ‚symmetrisch‘, sofern sie zunächst unterschiedslos zur Wahl stehen. Mit der Entscheidung für sie erfolgt eine Asymmetrisierung (Einl., 1.5). Mit ihr wird der sonst „nur tautologische Zirkel“ der Selbstreferenz unterbrochen, das „bloße Hinweisen des Selbst auf sich selbst […] mit Zusatzsinn angereichert“. Es wird, heißt das, hier vorerst nicht weiter nach Alternativen gesucht: „Die Asymmetrie wird nicht als Moment der Autopoiesis, sie wird als allopoietisch gegeben behandelt.“ Unter dem Druck der Situation, die jetzt bewältigt, beherrscht werden muss, sieht das Beobachtungssystem von seiner Autopoiesis ab und behandelt die Anhaltspunkte, an die sie sich hält, als nicht von ihr geschaffene, sondern an sich bestehende Realität. „Man mag dies“, so Luhmann, „prinzipiell oder pragmatisch rechtfertigen: in jedem Fall ist dies ein Beispiel dafür, daß auch ein Durchschauen der Funktion, ja selbst ein Bewußtsein der Fiktionalität am Erfordernis eines solchen Verfahrens nichts ändern könnte.“ (SS, 631 f.) Bei Kant hieß das: „unser Verstand vermag nicht, sich wider die Ungereimtheiten zu retten, in die ihn der Einfluß derselben versetzt, ob er sie gleich als Täuschung anerkennt“, bei Nietzsche: „man begreift, daß man gefoppt wird und doch ohne Macht , sich nicht foppen zu lassen.“¹⁰⁴ Den Rest schafft die Routine (Kap. I, 3.10). Durch Rekursion werden, so Luhmann, Reflexivverhältnisse „normalisierbar und steigerbar“ und schließlich ausdifferenzierbar (SS, 613). Sie können dann in Ritualen erstarren, aber auch in Routinen beweglich bleiben:¹⁰⁵ „Rituale sind vergleichbar den fraglosen Selbstverständlichkeiten des Alltagslebens, die ebenfalls Reflexivität ausschalten.“ (SS, 613)¹⁰⁶ Routinen ‚spielen sich ein‘ in der Oszillation von Selbst- und Fremdreferenzen, festigen sich durch Rekursivität, entlasten von Reflexion und lassen, solange sie weiterlaufen, erwarten, dass sie immer so weiterlaufen werden. Sie

 Kant, Anthropologie, AA VII, ; Nietzsche, NL /, [], KSA ./KGW IX/, N VII , .  Luhmann verweist auf Garfinkel, Studies of the Routine Grounds of Everyday Activities. Harold Garfinkel hat die (von ihm so benannte) Ethnomethodologie begründet, die soziale Ordnungen nicht aus theoretisch begründbaren Normen, sondern aus eingespielten Routinen versteht und darum von regelmäßig interagierenden Gruppen oder ‚Ethnien‘ und ihren ‚politics of reality‘ ausgeht.  Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung,  – .

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II Orientierung an sich selbst: Nietzsches und Luhmanns Perspektivismus

erwecken die Zuversicht, dass die Welt so ist, wie es die eingespielten Routinen glauben lassen. Bis auf weiteres. Gegen Ende von Die Wissenschaft der Gesellschaft führt Luhmann seine Perspektiven auf die Perspektivität, Reflexivität und Rekursivität des Operierens von Beobachtungssystemen in der Sprache der Orientierung zusammen: Die Differenzierung des Gesellschaftssystems schafft für jedes Teilsystem eine Dreifalt von Beziehungsmöglichkeiten: (1) die Beziehung zum Gesamtsystem Gesellschaft, dem es angehört und das es mitvollzieht, (2) die Beziehung zu den anderen Teilsystemen und (3) die Beziehung zu sich selbst. […] infolge des Primats funktionaler Differenzierung […] wird die Differenz von Gesellschaftsbezug, Bezug auf die gesellschaftsinterne Umwelt und Selbstbezug zur Form, in der die Funktionssysteme sich an und in der Gesellschaft orientieren. (WissG, 635)

Dass Funktionssysteme und Teilsysteme der Beobachtung sich an ihrer eigenen flüssigen Form orientieren, heißt, dass sie ihr folgen, aber zugleich reflexive Distanz zu ihr halten können. Dass sie sich in dieser Form orientieren, heißt, dass sie dadurch zugleich begrenzt sind und damit das, was sich in ihnen jeweils als Realität ergibt, für sie haltbar bleibt. „Sich an und sich in der Gesellschaft zu orientieren“ – Luhmann bekräftigt die Formel, indem er sie wiederholt – aber „erfordert für jedes Funktionssystem unterschiedliche Perspektiven“, zwischen denen es zeitlich wechselt, oszilliert. „Um diese Erkenntnis in eine Terminologie umzusetzen“, bestimmt Luhmann „die Orientierung an der Gesellschaft“ als „Funktion“, „die Orientierung in der Gesellschaft“ als „Leistung“, und die Orientierung an der Orientierung selbst als „Reflexion“ (WissG, 635 f.; vgl. Ikc, 261 u. ö.). Perspektivische Orientierungen sind Funktionen eines Beobachtungssystems; sie können für andere Funktionen Leistungen erbringen und sie können das reflektieren. Dadurch sind sie frei in der Wahl von Leistungen für Funktionen. Und eben darin liegt die Realitätsgarantie der perspektivischen Konstruktionen ihrer Realität.

III Orientierung an der Zeit: Logik, Paradoxie und Theorie nach Nietzsche und nach Luhmann 1 Logik vs. Zeit, Zeit vs. Logik (Parmenides, Aristoteles) Die europäische Philosophie wurde maßgeblich dadurch geprägt, dass Parmenides das Denken als zeitloses Denken eines zeitlosen Seins dachte und darin einen festen Halt der menschlichen Orientierung suchte (Kap. I, 1.1), Heraklit dagegen alles, auch das Denken, von der Zeit her dachte und auf allen festen Halt verzichtete. Die Opposition wirkt bis heute nach.¹⁰⁷ Man kann sie inzwischen, um Luhmanns Unterscheidung zu verwenden (Kap. II, 3.2.5), statt in einer Beobachtung erster Ordnung (Was ist wahr und welche Position ist darum die wahre?) in einer Beobachtung zweiter Ordnung, einer Beobachtung der Beobachtungen, sehen (Wie kam es zur Opposition solcher Positionen? Welche Denkmöglichkeiten eröffnete, welche verschloss sie?). Aus ontologischen Gegensätzen, die auf eine Realität an sich zu referieren scheinen, werden dann Unterscheidungsalternativen, die zu bestimmten Zeiten plausibel werden. Die Alternative von Zeitlichkeit und Zeitlosigkeit ist durch die aristotelische zweiwertige Logik bis heute so plausibel geblieben, dass sich das alltägliche wie das philosophische Denken ihr auch jenseits ontologischer Intentionen kaum entziehen kann. Aristoteles begründete die zweiwertige Logik von Parmenides’ Ausschluss der Zeit aus der Wahrheit her.¹⁰⁸ Er erklärte es zum „festesten, sichersten, haltbarsten von allen Prinzipien (archôn)“ des Denkens, dass es „unmöglich“ (adýnaton) sei, dass, mit Parmenides, „dasselbe sei und nicht sei“ (tautòn eînai kaì màe eînai) oder, in der von Aristoteles präzisierten Formulierung, „dasselbe demselben in derselben Hinsicht zugleich zukommen und nicht zukommen kann“. Wenn Heraklit das Gegenteil sage, müsse er es nicht notwendig auch so annehmen; Ari-

 Historisch ist eine Auseinandersetzung zwischen Parmenides und Heraklit aus vielen Gründen eher unwahrscheinlich. Vgl. Kraus, Parmenides,  u.  f. Zur mitunter prekären Auseinandersetzung Nietzsches mit Parmenides von seinen Basler Vorlesungen an vgl. Riedel, Präludium zur Ontologie?, und Small, Being, Becoming, and Time in Nietzsche,  – .  Das ist weitgehend Konsens.Vgl. etwa Buchheim, Die Vorsokratiker, , oder Luhmann, GG,  –  („Die Semantik Alteuropas I: Ontologie“), hier . Danach hat sich die aristotelische Logik aus der parmenideischen Ontologie von Sein und Nichts „mit Hilfe der selbstinklusiven Unterscheidung von Sein und Denken“ ausdifferenziert (s. auch SS, ). Forschungen zu möglichen, bis zu Homer und Hesiod und zu älteren frühgriechischen Philosophen zurückreichenden Anstößen diskutiert Klowski, Zum Entstehen der logischen Argumentation.

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III Orientierung an der Zeit: Logik, Paradoxie und Theorie

stoteles unterstellte ihm bloße Spielerei.¹⁰⁹ Maßgeblich ist das „zugleich“: Die von Aristoteles begründete Logik gilt nur für das Denken des die Zeit ausschließenden Seins; denn auch wenn nach ihr nichts zugleich laufen und stehen kann, so kann doch, was jetzt läuft, nachher stehen, und was jetzt steht, nachher liegen; insoweit ist der Satz des Widerspruchs für die alltägliche Orientierung unplausibel.¹¹⁰ Und doch sehen wir uns nach wie vor gehalten, Widersprüche tunlichst zu vermeiden. Denn in anderer Hinsicht ist der Satz des Widerspruchs unmittelbar plausibel: sofern er einen Gegenstand voraussetzt, auf den gegensätzliche Prädikate wie Laufen, Stehen, Liegen gemeinsam bezogen werden können, in Aristoteles’ Metaphysik die ousía, das ‚wahrhaft Seiende‘, lat. die ‚Substanz‘. Sie muss dann im Gegensatz zu ihren zeitlich wechselnden Eigenschaften selbst als zeitlos gedacht werden.¹¹¹ Das ist eine bis heute unvermeidliche Unterscheidung, jedenfalls für Europäer mit ihrer Subjekt-Prädikat-Grammatik. Für Aristoteles aber war sie noch eine ontologische Tatsache, waren Substanzen wirklich, zunächst als ‚Zugrundeliegendes‘ jener Eigenschaften (hypokeîmenon), dann als dauernder Anblick (eîdos) der Form (morpháe) der Arten von Lebewesen, deren Exemplare sich nur in wechselndem Stoff (hýlae) zu unterscheiden schienen, schließlich, sofern in der Ontogenese auch die Form ihren Anblick ändern kann (eine Kaulquappe wird zum Frosch), als das, was ‚das Ziel seiner Entwicklung in sich hat‘ (entelécheia). Dabei wird jeweils ein bleibendes, zeitloses Wesen von wechselnden und darum unwesentlichen Eigenschaften unterschieden. Aber warum sollten wechselnde Eigenschaften weniger wesentlich sein als bleibende? Umgekehrt sind auch bleibende Eigenschaften dennoch Eigenschaften, und in jedem Fall kann man Bleibendes und Wechselndes wiederum nur durch die Zeit unterscheiden, die aus dem Wesen ausgeschlossen sein sollte.¹¹² Schon Aristoteles gelang es nicht, eine scharfe Grenze zwischen wesentlichen und unwesentlichen Eigenschaften zu

 Aristoteles, Met., IV , b – .  Das Neue an Parmenides’ logischer Argumentation lag nach Klowski, Zum Entstehen der logischen Argumentation, , eben darin, dass sie auf „allgemeinverständliche Plausibilität“ verzichtete.  Vgl. Luhmann, GG, .  Die Substanz soll nach Aristoteles in ihrer Grundgestalt als Zugrundeliegendes von Eigenschaften (hypokeímenon) ein Einzelwesen sein, dem all seine zeitlichen Eigenschaften zugehören, die dann aber als zeitlich wechselnde nicht definierbar sind, und zugleich in seinem zeitlosen Wesen definierbar sein, dann aber ohne seine zeitlichen Eigenschaften. Was das Wesen eines Einzelwesens ausmacht, lässt sich dann nur im Wandel der Zeit und dem Wechsel von Eigenschaften in ihr beobachten. Auf diese Weise kann der Bezirk der wesentlichen Eigenschaften umso schmaler werden, je mehr Zeit vergeht. Darwin hat die Beobachtungszeit schließlich so weit ausgedehnt, dass sich das allgemein definierbare Wesen ganz verflüchtigt hat.

1 Logik vs. Zeit, Zeit vs. Logik (Parmenides, Aristoteles)

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ziehen,¹¹³ und in einer Beobachtung zweiter Ordnung lassen sich in der Zeit keine zeitlosen Wesen abgrenzen. Noch schwieriger wird es bei der Zeit selbst. Aristoteles konnte sie nur als zeitliche und damit wechselnde Eigenschaft einer Bewegung denken, die wiederum eine zeitliche Eigenschaft einer zeitlosen Substanz sein musste, d. h. als etwas im zweiten Grad Zeitliches und Wechselhaftes. Wenn aber denkbar sein sollte, dass Substanzen in der Natur zusammenwirken, musste die Zeit gleichbleibend dieselbe für alle sein.¹¹⁴ So gerät die Zeit mit sich selbst in Widerspruch. Das zeigte sich für Aristoteles unmittelbar bei der Bestimmung des Jetzt, das immer das gleiche und zugleich immer ein anderes ist.¹¹⁵ Das Denken des Seins, wie es Parmenides gelehrt hatte, kommt mit dem Denken der Zeit nicht zurecht, wird durch ihren Selbstbezug irritiert und blockiert – paradoxiert.¹¹⁶ Aristoteles hat die Paradoxie der Zeit, dass sie nur in der Zeit feststellbar und dann zugleich zeitlich und zeitlos ist, für sein Denken nicht auflösen können. Es blieb nur, neu anzusetzen und das Denken selbst von der Zeit her zu denken.¹¹⁷ Das geschah jedoch lange nicht. Auch Descartes verstand, als er die parmenideische Selbigkeit von Sein und Denken auflöste und vom Sein zum Bewusstsein überging, das Denken weiterhin als zeitlose Substanz und Zugrundeliegendes von wechselnden Vorstellungen. Kant arbeitete zur Begründung seiner Transzendentalphilosophie weiterhin mit der aristotelischen Unterscheidung von Form und Inhalt, und Hegel legte mit Hilfe der aristotelischen Unterscheidung von Möglichkeit und Wirklichkeit die philosophische Begrifflichkeit im Ganzen weiterhin als Entelechie an. All dies, das seinen Halt am aristotelischen Begriff des Begriffs hatte, der seinerseits seinen Halt am Glauben an zeitlose biologische Arten hatte, wurde erst nach Hegel unglaubwürdig – durch die biologische Evolutionstheorie, nach der auch scheinbar zeitlose Formen des Lebens ihre Zeit haben (Einl., 1.4). An sie schlossen sowohl Nietzsche als auch Luhmann entschieden an.

 Die Schwierigkeiten der Substanz-Akzidenz-Unterscheidung bei Aristoteles sind notorisch. Vgl. Stegmaier, Substanz,  – , und zuletzt Liske, Art. ousia, bes.  f.  Aristoteles, Phys., IV  – .  Aristoteles, Phys., IV , b  f.  Vgl. Luhmann, GG, .  Aristoteles könnte an einer wenig beachteten Stelle (Phys., IV , b : metaboláe dè pâsa physei ekstatikón, jede Veränderung ist von Natur aus etwas Verrücktes) in diesem Sinn das ontologische Zeitdenken selbst schon gesprengt haben. Danach setzt das Denken in neuen Situationen jeweils neu an. Vgl. Stegmaier, Aporien der Vollendung,  – .

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III Orientierung an der Zeit: Logik, Paradoxie und Theorie

2 Genealogie: Logik in der Zeit – externe Zeitlichkeit der Logik (Nietzsche) Nietzsche verwarf die Metaphysik, glaubte nicht mehr vorbehaltlos an die Logik und entwickelte keine Theorie der Zeit.¹¹⁸ Stattdessen hinterfragte er im Sinn seiner „Entstehungsgeschichte des Denkens“ (MA I 16) oder, wie er sie später nannte, seiner ‚Genealogie‘ kritisch das „unmöglich“ im Satz des zu vermeidenden Widerspruchs, mit dem Aristoteles einen sicheren Halt im Denken gefunden zu haben glaubte. „Die philosophischen Probleme“, so eröffnete er sein erstes Aphorismenbuch, Menschliches, Allzumenschliches, nehmen jetzt wieder fast in allen Stücken dieselbe Form der Frage an, wie vor zweitausend Jahren: wie kann Etwas aus seinem Gegensatz entstehen, zum Beispiel Vernünftiges aus Vernunftlosem, Empfindendes aus Todtem, Logik aus Unlogik, interesseloses Anschauen aus begehrlichem Wollen, Leben für Andere aus Egoismus, Wahrheit aus Irrthümern? Die metaphysische Philosophie half sich bisher über diese Schwierigkeit hinweg, insofern sie die

 Einen frühen Versuch einer Theorie der Zeit, die sogenannte Zeitatomenlehre, ließ er fallen. Er fertigte, nach Schlechta/Anders, Friedrich Nietzsche (vgl. Montinari, Kommentar, KSA .), im Anschluss an Lektüren von Boscovich, Spir und Zöllner dazu lediglich einige Notizen an (NL , [], KSA . – ), die er jedoch nicht weiter verfolgte. In deren Mitte stellte er fest: „An sich haben wir gar kein Mittel ein Zeitgesetz hinzustellen.“ () Doch deutet sich im Begriff der Kraft, den Nietzsche in seinem Versuch heranzieht, schon sein späterer Wille-zur-MachtGedanke an („absolut veränderliche Kräfte“, die „nur Funktion der Zeit“ sind, ). Vgl. dazu Whitlock, Examining Nietzsche’s „Time Atom Theory“ Fragment from , der im Hintergrund von Nietzsches Überlegungen vor allem Roger Joseph Boscovich sieht, und Small, Time and Becoming in Nietzsche’s Thought,  – , der in ihnen den Anfang einer „Heraclitean philosophy of nature“ wahrnimmt, „in which patterns of time figure as a theoretical basis for grasping empirical reality“ (; vgl. die Rezension von Bertino, Nietzsche über Zeit und Geschichte,  f.). Small und ebenso, wenn auch in ganz anderer Gestalt, Richardson, Nietzsche on time and becoming, hat trotz Nietzsches Verzicht auf eine Theorie der Zeit ihm dennoch dezidiert „a theory of time“ zugeschrieben, die Richardson systematisch aus Nietzsches Gesamtwerk, insbesondere der Unterscheidung von Tierischem, Menschlichem und Übermenschlichem, nicht aus seinen Texten im Einzelnen entwickelt. Dabei hält er sich an „a broadly Kantian framework“ () und setzt für Nietzsche zugleich einen „formal idealism“ – „time is the form or structure of perspectives“ () – und einen „positive realism“ an – there is „a strong realist flavor in his talk about becoming“ (). Mit der von Kant bereits überholten Frage nach einer Zeit jenseits der Perspektiven, „in“ der sie selbst sind, gerät Richardson in die Paradoxie des Perspektivismus, nach der Perspektiven immer nur Perspektiven in einer Perspektive (so wie Zeiten immer nur Zeiten in einer Zeit) sind, eine Paradoxie, die für ihn, nicht aber für Nietzsche beschwerlich ist. Nach FW  („Unser neues ‚Unendliches‘“) muss jede Perspektive ohne Ende wieder in einer Perspektive gedacht werden, so dass keine über Perspektiven hinausreichende ‚Ontologie‘, weder eine der Perspektive noch eine der Zeit, möglich wird und auch nicht nötig ist (Kap. II, .. – ..). Vgl. zur Interpretation von FW  auch Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie,  – .

2 Genealogie: Logik in der Zeit – externe Zeitlichkeit der Logik (Nietzsche)

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Entstehung des Einen aus dem Andern leugnete und für die höher gewertheten Dinge einen Wunder-Ursprung annahm, unmittelbar aus dem Kern und Wesen des „Dinges an sich“ heraus. (MA I 1)

Nietzsche setzt bei asymmetrischen Unterscheidungen an (Einl., 1.5), hier von Vernünftigem und Vernunftlosem, Empfindendem und Totem und darunter auch von Logik und Unlogik, und de-asymmetrisiert sie durch die Frage nach ihrer Entstehung in der Zeit. Er versetzt sie in den „Zeitraum“ der Evolution, um von aller „Teleologie“ absehen (MA I 2), „bescheiden, schlicht, nüchtern“ auf die „unscheinbaren Wahrheiten“ blicken, die „schlichteste Form“ wahrnehmen (MA I 3) und „hochfliegende Metaphysik“ fahren lassen zu lernen; dabei will er auch nicht mehr „von der Logik tyrannisirt“ werden (MA I 6). Denn die „metaphysische Welt“, „ein uns unzugängliches, unbegreifliches Anderssein“, „ein Ding mit negativen Eigenschaften“, ist für die alltägliche Orientierung „noch gleichgültiger als dem Schiffer in Sturmesgefahr die Erkenntnis von der chemischen Analyse des Wassers sein muss“ (MA I 9). Die ihr zugehörige und sie stützende „Logik beruht auf Voraussetzungen, denen Nichts in der wirklichen Welt entspricht, z. B. auf der Voraussetzung der Gleichheit von Dingen, der Identität des selben Dinges in verschiedenen Puncten der Zeit“ (MA I 11) – „thatsächlich giebt es nichts Gleiches“ (MA I 19).¹¹⁹ Die Unmöglichkeit, demselben in derselben Hinsicht zu derselben Zeit Gegensätzliches zuzusprechen, könnte, lernt und lehrt Nietzsche zu sehen, nicht erst eine logische sein, sondern auf eine (a) physiologische, (b) kommunikative und (c) semiotische Unmöglichkeit zurückgehen.¹²⁰

 Vgl. Wittgenstein, PU, § : „Ein Logiker denkt vielleicht: Gleich ist gleich – es ist eine psychologische Frage, wie ein Mensch sich von der Gleichheit überzeugt. (Höhe ist Höhe – es gehört in die Psychologie, daß der Mensch sie manchmal sieht, manchmal hört.) Was ist das Kriterium der Gleichheit zweier Vorstellungen? – Was ist das Kriterium der Röte einer Vorstellung? Für mich, wenn der Andre sie hat: was er sagt und tut. Für mich, wenn ich sie habe: garnichts. Und was für ‚rot‘ gilt, gilt auch für ‚gleich‘.“  Wir stützen uns im Folgenden wie bei der Explikation seines Perspektivismus (Kap. II, .) so auch hier nicht nur auf veröffentlichte und damit autorisierte Texte Nietzsches, sondern zugleich auf Notate, in denen er Gedanken teils zur Veröffentlichung vorbereitet, teils auch nur erprobt hat, und ziehen auch frühere und spätere Texte und Notate zusammen. Das ist hier ebenfalls möglich, weil Nietzsche auch auf dem Feld der Kritik der Logik seine Grundlinie im Wesentlichen nicht verändert hat. – Zu seiner Auseinandersetzung mit den „Logikern“ seiner Zeit, zu denen er auch „Metaphysiker“ zählen kann, in JGB , v. a. aber im Nachlass vgl. Loukidelis, Nietzsche und die „Logiker“. Loukidelis geht es freilich hauptsächlich um eine quellenkritische Identifikation jener „Logiker“ (in einem sehr weiten Sinn), nicht um das „unmöglich“ in Aristoteles’ Satz des Widerspruchs. – Meyer, Reading Nietzsche through the Ancients, -, will wiederum Aristoteles‘ Prinzip des zu vermeidenden Widerspruchs gegen Nietzsche nicht als logisches, sondern als

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III Orientierung an der Zeit: Logik, Paradoxie und Theorie

(a) Physiologisch ist die scheinbar logische Unmöglichkeit, weil, wie Nietzsche schon in der zweiten Unzeitgemässen Betrachtung schrieb, „die Lehren vom souveränen Werden, von der Flüssigkeit aller Begriffe, Typen und Arten, von dem Mangel aller cardinalen Verschiedenheit zwischen Mensch und Thier“ wohl „wahr, aber […] tödtlich“ sind (UB II 9, KSA 1.319). Sie vertragen, wie er später notierte, „die Einverleibung nicht, unsere Organe (zum Leben) sind auf den Irrthum eingerichtet“;¹²¹ „wir sind nicht fein genug, um den muthmaaßlichen absoluten Fluß des Geschehens zu sehen: das Bleibende ist nur vermöge unserer groben Organe da, welche zusammenfassen und auf Flächen hinlegen, was so gar nicht existirt.“¹²² An vielen Stellen spricht Nietzsche von „Assimilation“.¹²³ Darum scheint der „Glaube“, schrieb er in Menschliches, Allzumenschliches, „dass es gleiche Dinge giebt“, der „Urglaube alles Organischen“ und die „Urstufe des Logischen“ zu sein, er ist, in unserer Sprache, notwendig zur Orientierung. „Uns organische Wesen interessirt ursprünglich Nichts an jedem Dinge, als sein Verhältniss zu uns in Bezug auf Lust und Schmerz“, ob wir uns also auf es einlassen oder von ihm fernhalten sollen (MA I 18). Aus diesem Orientierungsbedürfnis heraus imaginieren wir „Einheiten“, wo keine sind, sondern nur „Ströme mit hundert Quellen und Zuflüssen“, bekräftigen die „Einheit der Sache“ durch die „Einheit des Wortes“ (MA I 14)¹²⁴ und knüpfen daran Zählen und Rechnen und schließlich Mathematik an (MA I 19).¹²⁵ So ist das, „was wir jetzt die Welt nennen,

ontologisches verteidigen, um so mit Nietzsche eine herakliteische Ontologie und damit einen „ontological naturalism“ zu retten. Beidem kann ich nicht folgen.  NL , [], KSA ..  NL , [], KSA ..  Luhmann wird diesen Begriff, ebenso wie die Begriffe der Anpassung und der Repräsentation mit der Zeit aufgeben, weil sie immer noch voraussetzen, die Umwelt sei an sich irgendwie unterschieden und strukturiert. Aber eben das kann man, auch nach Nietzsche, nicht wissen. Vgl. EaK, .  Vgl. noch das späte Notat NL , [], KSA ./KGW IX/, N VII ,  f.: „Die Logik unseres bewußten Denkens ist nur eine grobe und erleichterte Form jenes Denkens, welches unser Organismus, ja die einzelnen Organe desselben, nöthig hat. Ein Zugleich-denken zb ist nöthig, von dem wir kaum eine Ahnung haben. […] wir mußten alles erst erwerben für das Bewußtsein, einen Zeit-sinn, Raum-sinn, Causal-sinn: nachdem es ohne Bewußtsein lange schon viel reicher existirt hatte. Und zwar eine gewisse einfachste schlichteste reduzirteste Form: unser bewußtes Wollen, Fühlen, Denken ist im Dienste eines viel umfänglicheren Wollens Fühlens und Denkens. – Wirklich? / Wir wachsen fortwährend noch, unser Zeit-Raumsinn usw. entwickelt sich noch.“ Bewusstsein ist danach immer schon „Zugleich-denken“ von etwas, das nicht zugleich ist, zu dem das Denken aber nicht hinabreicht. Und dieses „Zugleich-denken“ schließt im aristotelischen Sinn ein Zugleich-Denken von Gegensätzlichem aus.  Vgl. wiederum das späte Notat NL /, [], KSA . [noch nicht in KGW IX], zur primären Wertung nach Qualitäten und zur Erkenntnis nach Quantitäten.

2 Genealogie: Logik in der Zeit – externe Zeitlichkeit der Logik (Nietzsche)

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[…] das Resultat einer Menge von Irrthümern und Phantasien, welche in der gesammten Entwickelung der organischen Wesen allmählich entstanden“ (MA I 16; vgl. MA I 20). Wir können hinter solche Fiktionen nicht mehr zurückgehen und brauchen es auch nicht. Wir müssen auf Logik und Mathematik nicht verzichten, dürfen, zumindest als Philosophen, aber auch nicht an sie glauben, als ob sie unbedingt wären und keine Alternativen zuließen, sondern können nun die Zeitlichkeit und Zufälligkeit des scheinbar Notwendigen sehen. Damit stehen wir vor dem Widerspruch, dass die Dinge für uns Einheiten und Nicht-Einheiten, gleich und ungleich zugleich sind. Nietzsche löst ihn mit dem Begriff des „Unlogischen“. Er setzt es nicht (nur) als Gegensatz, sondern nun (auch) als Oberbegriff des Logischen an, so dass das Logische zu einer Art des Unlogischen wird.¹²⁶ Dieses „Unlogische“, das die Logik irritiert, ist „für den Menschen nöthig“, lebensnotwendig: Es steckt so fest in den Leidenschaften, in der Sprache, in der Kunst, in der Religion und überhaupt in Allem, was dem Leben Werth verleiht, dass man es nicht herausziehen kann, ohne damit diese schönen Dinge heillos zu beschädigen. […] Auch der vernünftigste Mensch bedarf von Zeit zu Zeit wieder der Natur, das heisst seiner unlogischen Grundstellung zu allen Dingen. (MA I 31)¹²⁷

(b) Zugleich ist das aristotelische „unmöglich“ ein kommunikatives und damit soziales, worauf Nietzsche vor allem in Jenseits von Gut und Böse den Finger legt. Jenes „unmöglich“ scheint uns deshalb so plausibel, weil wir im „Bann“ der indoeuropäischen Grammatik sprechen und denken, die Subjekten Prädikate zuordnet, die dann nicht gegensätzlich sein dürfen (JGB 20). Die zu unserer Ori-

 Vgl. FW : „… wir unsrer menschlichen Logik nicht geneigt sind einzuräumen, dass sie die Logik an sich, die einzige Art Logik sei (wir möchten vielmehr uns überreden, dass sie nur ein Spezialfall sei, und vielleicht einer der wunderlichsten und dümmsten —).“ Nietzsche hat logisch (!) immer wieder so operiert, hat u. a. das Tote zum Oberbegriff des Lebenden (NL , [], KSA .; FW ), den Irrtum zum Oberbegriff der Wahrheit (NL , [], KSA .; NL , [] u. [], KSA . u. /KGW IX/, N VII ,  f. u. ), den Willen zum NichtWissen zum Oberbegriff des Willens zum Wissen (JGB ), die Fülle zum Oberbegriff der Not (FW ) und die Unmoral zum Oberbegriff der Moral (NL , [], KSA . (KGW IX/, N VII , ; GM I–III) gemacht. Er zeigte damit, dass logische Hierarchien nicht an sich feststehen, sondern dass man sie verändern kann.  Vgl. Nietzsches Bekräftigung und Zuspitzung seiner Logik- und Metaphysik-Kritik im Ersten Hauptstück von JGB, wo er vom „Geltenlassen der logischen Fiktionen“, vom „Messen der Wirklichkeit an der rein erfundenen Welt des Unbedingten, Sich-selbst-Gleichen“, und von der „beständige[n] Fälschung der Welt durch die Zahl“ spricht, ohne die „der Mensch nicht leben könnte“ (JGB ). Er ironisiert dort auch das Beweisen-Wollen (JGB ) und parodiert scheinbare Einheits-Begriffe wie Vermögen, Atom, Kraft, Denken, Wille, Ursache usw. (JGB  – ).

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entierung ebenfalls hilfreiche, für uns lebensnotwendig gewordene „Abkürzung“ unserer Welt in der Sprache (JGB 268) nötigt uns zur „Vereinfachung und Fälschung“ der Welt nach diesem Schema; auch und gerade die „beste Wissenschaft“ arbeitet daran mit, uns „in dieser vereinfachten, durch und durch künstlichen, zurechtgedichteten, zurechtgefälschten Welt“ festzuhalten (JGB 24). Doch erst hier, in der wissenschaftlichen Kommunikation, die einen eindeutigen Zeichengebrauch verlangt, werden logische Widersprüche als solche erkennbar und auffällig. In der alltäglichen Kommunikation gesteht man einander dagegen einen gehörigen „Spielraum und Tummelplatz des Missverständnisses“ (JGB 27) zu, auf dem der Zeichengebrauch der jeweiligen Situation angepasst werden kann (Kap. VI, 2.2). Denn das Zeichenrepertoire muss einerseits für alle Mitglieder einer Sprachgemeinschaft einigermaßen gleich und eindeutig, vor allem aber endlich sein, damit es in endlicher Zeit erlernt werden kann. Es muss andererseits jedoch in unendlich vielen und vielfältigen Situationen gebraucht werden können, also Bedeutungsspielräume lassen und damit, ebenfalls widersprüchlich für das logische Denken, eindeutig und vieldeutig zugleich sein. Diesen Widerspruch löst Nietzsche mit dem (Nicht‐)Begriff der Nuance, dem Begriff für die Abweichung von einem Begriff: In der Kommunikation wirkt Sprache gerade durch die „nuances“ (JGB 28) von Wortwahl, Stil, Tempo, Ton, Musikalität, Ernst, Leichtigkeit, Mehrbödigkeit usw., in denen sie von Situation zu Situation oder von Zeit zu Zeit anders gebraucht wird, kurz, durch die „Kunst der Nuance“, mit der jeder erkennbar auf seine persönliche Weise spricht (JGB 31). Sie macht die Zeichen, ohne ihre Bedeutung festzulegen, in der Situation hinreichend eindeutig. (c) Ein semiotisches ist das aristotelische „unmöglich“, sofern Zeichen, um etwas unterscheiden zu können, ihrerseits möglichst klar unterschieden sein müssen. Zeichen orientieren am klarsten, wie der Strukturalismus deutlich gemacht hat, wenn sie in kontradiktorische Gegensätze gebracht werden. Denn nur dann können sie garantiert nicht zu derselben Zeit denselben Gegenstand bezeichnen. Solche Gegensätze und damit auch die Widersprüche sind jedoch konstruiert; es ist eine „Plumpheit“, so Nietzsche, „von Gegensätzen zu reden, wo es nur Grade und mancherlei Feinheit der Stufen giebt“ (JGB 24). Das gilt insbesondere für „Gegensätze der Werthe“, die umso leichter metaphysiziert werden, als es für sie keine sinnlichen Anhaltspunkte gibt (JGB 2). Logische Widersprüche sind also die Widersprüche einer bestimmten „Zeichen-Convention“, auf die wir auch und gerade im Alltag nicht verzichten können, auch wenn in ihnen „die Wirklichkeit gar nicht vor[kommt]“ (GD Vernunft 3). Gerade dann – dritter Widerspruch –, wenn die Zeichen am klarsten unterscheiden, unterscheiden sie nichts in der Sache. „Ein u. dasselbe zu bejahen u. zu verneinen“, fasst Nietzsche seine Logik- und Metaphysik-Kritik in berühmten späten Notaten zusammen, „mißlingt uns: das ist

2 Genealogie: Logik in der Zeit – externe Zeitlichkeit der Logik (Nietzsche)

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ein subjektiver Erfahrungssatz, darin drückt sich keine ‚Nothwendigkeit‘ aus, sondern nur ein Nicht-vermögen“, also keine Denk-, sondern eine Lebens- oder Orientierungsnotwendigkeit, die zum moralischen Imperativ gemacht wird: Dann wäre Logik ein Imperativ, nicht zur Erkenntniß des Wahren, sondern zur Setzung u. Zurechtmachung einer Welt, die uns wahr heißen soll. […] Thatsächlich gilt die Logik (wie die Geometr. u. Arithm) nur von fingirten Wesenheiten, die wir geschaffen haben. Logik ist der Versuch, nach einem von uns gesetzten Seins-Schema die wirkliche Welt zu begreifen, richtiger, uns formulirbar, berechenbar zu machen … ¹²⁸

Und auch wenn wir dieses Schema durchschauen, können wir es „nicht abwerfen“.¹²⁹ Nietzsche fasst die drei Widersprüche, in die unsere Orientierung durch die aristotelische Logik getrieben wird und auf die er mit den Formeln des „Unlogischen“, der „Kunst der Nuance“ und der „Zeichen-Convention“ antwortet, in die eine Formel der „Fiktion“ zusammen: Wir operieren (a) mit der fiktiven Identität von Dingen (man sieht Gleiches, kann aber wissen, dass es nichts Gleiches gibt), (b) mit der fiktiven Identität von Bedeutungen (man gebraucht gleiche Zeichen, kann aber wissen, dass sie in jedem Gebrauch Verschiedenes bedeuten) und (c) mit der fiktiven Kontradiktion der Bedeutungen (man bezeichnet mit diakritischen Zeichen, kann aber wissen, dass sie das Bezeichnete verzeichnen). Mit diesen Fiktionen arbeiten wir aber nur von Zeit zu Zeit, um uns die Welt und einander berechenbar zu machen. Darin, in der Rationalisierung der Orientierung, liegt für Nietzsche der Sinn aller Logik, nicht,wie noch für Kant, in einem scheinbar an sich vorgegebenen ‚formalen‘ Kriterium der Wahrheit: Damit eine bestimmte Art sich erhält {— wächst in ihrer Macht —}, muß sie in ihrer Conception der Realität so viel Berechenbares u. Gleichbleibendes erfassen, daß darauf hin ein Schema ihres Verhaltens construirt werden kann.¹³⁰

Nietzsche leugnet die Logik nicht, plädiert nicht für Irrationalismus. Er entlässt mit seinen Hinweisen auf die physiologische, kommunikative und semiotische Bedingtheit des „unmöglich“ in Aristoteles‘ Satz des zu vermeidenden Widerspruchs lediglich die scheinbar zeitlose Logik in die Zeit und damit in die Kontingenz. So muss die Rationalisierung der zeitlichen Realität nicht mehr auf Vorgaben der aristotelischen Logik beschränkt werden. Nietzsche erweitert entsprechend den Sinn von ‚Logik‘, so wie ihn später Wittgenstein im Übergang vom

 NL , [], KSA . – /KGW IX/, W II ,  f. Den zuerst zitierten Satz hat Nietzsche nachträglich vorangestellt.  NL /, [], KSA ./KGW IX/, N VII , .  NL , [], KSA ./KGW IX/, W II , .

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III Orientierung an der Zeit: Logik, Paradoxie und Theorie

Tractatus logico-philosophicus zu seinen Philosophischen Untersuchungen erweitert hat. Er spricht, wie es auch in der alltäglichen Kommunikation geschieht, von der „Logik des Traumes“ (MA I 13),¹³¹ der „Logik des Gefühls“ oder wie Pascal von der „Logik des Herzens“ (M 18, GM III 17), von der „ungeheuren Logik von Schrecken“ (FW 343), von der Logik von Völkern (M Vorrede 3, JGB 48, AC 25) und von Personen wie Paulus mit seiner, nach Nietzsche, „unerbittlichen Logik des Hasses“ (AC 42) usw. Auch dies sind Logiken der Berechenbarkeit,werden aber nur für bestimmte Ereignisse, Prozesse, Individuen, Gruppen geltend gemacht, haben insofern selbst ihre Zeit und schließen Widersprüche in sich und untereinander nicht aus. Umgekehrt löst Nietzsche die Zeit von der Logik, wenn er emphatisch die „rechte Zeit“, den kairós, betont, der sich jeder Berechnung entzieht, und noch emphatischer seine Liebe zur Ewigkeit („Denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!“, Z III Siegel), zu einer Ewigkeit nicht mehr jenseits der Zeit, sondern in der Zeit, zu einer irritierend widersprüchlichen, nämlich ihrerseits zeitlichen Ewigkeit, die er auch auf die Formel der ewigen Wiederkehr des Gleichen bringt.¹³²

3 Paradoxie: Zeit in der Logik – interne Zeitlichkeit der Logik (Luhmann) Luhmann treibt die Entlassung der Logik in die Zeit weiter zum Eintrag der Zeit in die Logik. Anhand der Irritationen, die die Zeit in der herkömmlichen Logik verursacht, denkt er die externe Zeitlichkeit der Logik zu ihrer internen Zeitlichkeit weiter und nun in Gestalt einer Theorie. Er hat diese Theorie jedoch ebenfalls nicht geschlossen, sondern in einem Geflecht zahlreicher einander teils aufgreifender, teils ablösender Abhandlungen und Teilen von Abhandlungen, also ihrerseits zeitlich vorgetragen.¹³³ Auch er geht dabei von der aristotelischen Zeitphilosophie

 Vgl. Treiber, Zur „Logik des Traumes“ bei Nietzsche, bes.  – , zur „Logik“ auch der „Wahrnehmung“ und des „wilden Denkens“.  Auf diese und verwandte Themen konzentrieren sich weitgehend die Forschungen zu Nietzsches Philosophie der Zeit.Vgl. zuletzt Dries (Hg.), Nietzsche on Time and History (und dazu Bertino, Nietzsche über Zeit und Geschichte,  – ), und: Stegmaier (Hg.), Nietzsches Zukunft in der Gegenwart. Grundfragen der Nietzsche-Forschung,  – . Zum paradoxen Sinn der Wiederkunftslehre vgl. Stegmaier, Nietzsche zur Einführung,  – .  Frühe Abhandlungen wie KnZ, WzSg, ZH löst Luhmann ab durch TvK und SS: Kap. : System und Funktion, Abschn. III, mit Wiederaufnahme von TvK (SS,  – ); Kap. : Sinn, Abschn.VI zu den drei „Sinndimensionen“, „Weltdimensionen“ oder „Orientierungsdimensionen“ (SS,  – ); Kap. : System und Umwelt, Abschn. III zur Ausdifferenzierung der Zeitdimension (SS,  – ); Kap. , Struktur und Zeit, zu den Leitbegriffen von Luhmanns Theorie der Zeit Ereignis, Struktur, Prozess, Erwartung, Entscheidung, Unsicherheitsamplifikation (SS,  – ). Darauf

3 Paradoxie: Zeit in der Logik – interne Zeitlichkeit der Logik (Luhmann)

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und Logik aus: „Diese Beschreibung von Zeit hat und behält ihr volles Recht.“ (GuS, 97) Doch er setzt nun ganz bei der Kommunikation der Gesellschaft an, die sich im Lauf der Moderne in Funktionssysteme wie Wirtschaft, Politik, Recht, Erziehung, Religion, Kunst und eben Wissenschaft ausdifferenziert habe: Erst in der Wissenschaft habe das „unmöglich“ des Aristoteles seine ganze Schärfe gewonnen.¹³⁴ Er fragt wie Nietzsche kritisch, jedoch ohne Ausgriff in die Physiologie,¹³⁵ sondern kantisch nach den Bedingungen der Möglichkeit – nicht erst des aristotelischen „unmöglich“, sondern schon des Unterscheidens selbst, der Grundoperation nicht nur, aber auch des logischen Denkens. Mit George Spencer Brown, an den Luhmann auch in dieser Frage eng anschließt, nimmt er Unterscheidungen nicht mehr als bestehende hin, sondern beginnt mit dem Imperativ „Draw a distinction!“¹³⁶ Unterscheidung wird als

folgen GZE mit besonderer Konturierung der „Paradoxie der Zeit“ und vor allem GuS mit der Bestimmung der Zeit vom Prozess des Unterscheidens her als paradoxer Gleichzeitigkeit von Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit. In den Kapiteln zur Zeit in SdR (Kap. : Zukunft als Risiko, Kap. : Zeitbindung: sachliche und soziale Aspekte,  – ) setzt Luhmann unmittelbar mit der Selbstbezüglichkeit der Zeit in der Beobachtung und Beschreibung der Zeit ein („Vorstellungen über Zeit haben keinen beobachtungsunabhängigen Gegenstand. Sie sind als Beobachtungen und Beschreibungen zeitlicher Verhältnisse zeitliche Beobachtungen und Beschreibungen.“ SdR, ) und liefert hier in einem einzigen Abschnitt (I:  – ) die kompakteste Darstellung seiner Theorie der Zeit. Der Aufsatz BvI und die einschlägigen Abschnitte von GG (bes. Kap. , Abschn. XII: Temporalisierungen, GG,  – ) gehen nicht mehr maßgeblich darüber hinaus. Einen ausführlichen systematischen, auch von Luhmann selbst geschätzten Überblick über dessen Philosophie der Zeit mit eigenen Kontextualisierungen und Weiterentwicklungen gibt Nassehi, Die Zeit der Gesellschaft, III. Kap.: Zeit sozialer Systeme ( – ). Nietzsche kommt hier vor, wird allerdings unter dem Titel „Negation des Chronos“ abgehandelt ( – ). Im Folgenden wird weitgehend auf Nachweise im Einzelnen verzichtet.  Auch Luhmann verweist dabei auf die Einengung des Denkens durch das „Dingschema“ der indoeuropäischen Grammatik: „Es gehört zu den schlimmsten Eigenschaften unserer Sprache (und die Gesamtdarstellung der Systemtheorie in diesem Buche ist aus diesem Grunde inadäquat, ja irreführend), die Prädikation auf Satzsubjekte zu erzwingen und so die Vorstellung zu suggerieren und schließlich die alte Denkgewohnheit immer wieder einzuschleifen, daß es um ‚Dinge‘ gehe, denen irgendwelche Eigenschaften, Beziehungen, Aktivitäten oder Betroffenheiten zugeschrieben werden. […] Dinge sind Beschränkungen von Kombinationsmöglichkeiten in der Sachdimension. Am Ding lassen sich deshalb entsprechende Erfahrungen sammeln und versuchsweise reproduzieren. In dieser Form geben Dinge handliche Anhaltspunkte für den Umgang mit Weltbezügen.“ (SS, ) Sie dienen der „Orientierung“, die auf ihre eigenen Bedingungen hin untersucht werden müsse (SS, ).  Immerhin knüpfte Luhmann darin an die Physiologie an, dass er den von Humberto Maturana und Francisco Varela für die Theorie der Biologie entwickelten Begriff der Autopoiesis zu einem Grundbegriff seiner Theorie sozialer Systeme machte. Das betont Landgraf, The Physiology of Observation in Nietzsche and Luhmann.  Spencer Brown, Laws of Form, .

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zeitlicher Prozess, als Operation, der Imperativ als „Signal“ verstanden, die Operation zu starten. Die Herkunft dieses Imperativs oder Signals bezeichnen Spencer Brown und Luhmann nicht:¹³⁷ Man wird auf die Not der Orientierung zurückgehen müssen, sich in einer Situation zurechtzufinden und dazu Orientierungsentscheidungen und das heißt dann auch: Entscheidungen für bestimmte Unterscheidungen zu treffen.¹³⁸ Die Orientierung lässt dabei jedoch Spielräume zur Wahl von Unterscheidungen und Wertungen in ihnen (Kap. I, 3.3; Einl., 1.5), und experimentiert so lange mit ihnen, bis eine zu passen scheint. Da sie erst erschließen muss, was in der noch offenen Situation relevant ist, muss sie auch über die Kriterien der Passung selbst entscheiden. Sie sucht jeweils erst – mit Luhmann, der hier gerne Gregory Bateson zitiert – den „Unterschied, der einen Unterschied macht“,¹³⁹ den Unterschied, den sie als relevant unterscheidet. In diesen Spielräumen läuft dann alles im alten Sinn logisch ab, aber so, dass die Logik von Grund auf erneuert wird – durch den Eintrag der Zeit in sie. Er geschieht auf folgende Weise: In einer Unterscheidung, welcher auch immer, stehen beide Seiten gleichzeitig zur Verfügung. Man kann aber nur mit einer der beiden Seiten ‚etwas‘ bezeichnen und dies nur zu einer bestimmten Zeit und unter deren Umständen (externe Zeitlichkeit der Unterscheidung). Um sich für  Spencer Brown spricht eingangs vom „Motiv“ und „Wert“ einer Unterscheidung („Es kann keine Unterscheidung geben ohne Motiv, und es kann kein Motiv geben, wenn nicht Inhalte als unterschiedlich im Wert angesehen werden.“ Laws of Form, ), deutet also einen Hintergrund an, aus dem der Imperativ kommt. Nach Schönwälder/Wille/Hölscher, George Spencer Brown,  (. Aufl. ), geht es ihm dabei aber lediglich „um die Bedingungen des Aufrechterhaltens einer Unterscheidung, die erfüllt sein müssen, damit auf die unterschiedenen Seiten hingewiesen werden kann“, nämlich um die Stabilisierung einer getroffenen Unterscheidung. Lau, Die Form der Paradoxie, , geht auf das „Motiv“ kaum ein („lediglich ein Motiv dafür, etwas als unterschiedlich im Wert zu erkennen“). Philosophen und philosophisch orientierte Soziologen müssen dagegen weiterfragen, wie es überhaupt zum Unterscheiden, woher also der Imperativ „Draw a distinction!“ kommt. In philosophischem Kontext findet man ihn schon bei Kant, KrV, B  f. („Um aber irgend etwas im Raume zu erkennen, z. B. eine Linie, muss ich sie ziehen“), und auch schon bei Aristoteles, Met., IX , a  f. (poioûntes gignóoskousin, „tuend erkennen wir“), allerdings nicht als ausdrückliche Anweisung und auch nicht als Ausgangspunkt einer Operation, sondern als Beschreibung. Auf einen Imperativ führt Kant jedoch entschieden die Moralphilosophie zurück („Handle so, dass du …“). In beiden Fällen deutet er das Befehlende als „die Vernunft“. Nach Nietzsche und Luhmann reicht das nicht mehr aus.  Spencer Brown, Laws of Form, , spricht später von einem „Verlangen zu unterscheiden“ (desire to distinguish), was Lau, Die Paradoxie der Form, , so erläutert: „Dieses Verlangen ist Voraussetzung für alles. Und wie jedes Verlangen ist es ein Verlangen von jemandem.“ Danach nennt er als „‚Ort‘“ des Beobachtens oder Unterscheidens und Bezeichnens (wie Nietzsche) „das Leben“ (). Schönwälder/Wille/Hölscher, George Spencer Brown,  (. Aufl. ), dagegen sehen in jenem „Verlangen“ „keine weitere Bedingung für das Unterscheiden“.  Bateson, Ökologie des Geistes, .

3 Paradoxie: Zeit in der Logik – interne Zeitlichkeit der Logik (Luhmann)

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eine der beiden Seiten zu entscheiden, muss man von einer Seite zur andern gehen, mit Spencer Brown die „Grenze“, die sie zieht, „kreuzen“. Das braucht seinerseits Zeit, und insofern sind die beiden Seiten nicht gleichzeitig. Man hat es also beim Unterscheiden stets zugleich mit Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit zu tun. Damit tritt die Zeit in das Unterscheiden selbst ein (interne Zeitlichkeit der Unterscheidung) – oder genauer, da man die Zeit im konstruktivistischen Herangehen ihrerseits nicht schon als vorgegeben, als vorher schon bestehend voraussetzen kann: sie wird durch das Unterscheiden selbst erst ‚konstruiert‘. Sie ergibt sich aus dem Unterscheiden, der Grundoperation aller Orientierung, als Einheit und Differenz zugleich, als Gleichzeitigkeit von Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit, Gleichzeitigkeit also der Gleichzeitigkeit der beiden Seiten einer Unterscheidung und der Ungleichzeitigkeit ihrer Nutzung.¹⁴⁰ Die Zeit erscheint dann ihrerseits als Einheit und Differenz zugleich, als Einheit der Gegenwart oder des Jetzt und der Differenz des Vorher und Nachher, in der sich die Gegenwart oder das Jetzt allein zeigen kann: „Sie ist nur, indem sie nicht mehr und noch nicht ist.“ (OuE, 154)¹⁴¹ Damit ist, wenn man so will, die aristotelische Paradoxie des Jetzt, nach dem es immer das gleiche und zugleich immer ein anderes, ein voriges und ein späteres, ist, nur komplexer formuliert. Doch die komplexere Formulierung mit Hilfe der Unterscheidungstheorie entzieht die Zeit nun dem ontologischen Zugriff, und in dieser de-ontologisierten Fassung wird sie der Theorie, hier der konstruktivistischen und operationslogischen zugänglich.¹⁴² Dabei wird die Zeit nicht ‚geschaffen‘, als ob es sie vorher nicht gegeben habe; und selbst wenn sie ‚geschaffen‘ würde, könnte man wieder nach der Zeit dieses Schaffens und also nach der Zeit fragen, die ihm vorausging. So würde man weiterhin ontologisch fragen. Die Unterscheidungstheorie dagegen setzt wohl die Unterscheidung und die Unterscheidung der Unterscheidung voraus, also die Reflexion des Unterscheidens, aber nicht ontologisch, sondern als bloße Operation, die als Operation real, beobachtbar ist, aber nur dadurch, dass sie sich vollzieht, und das gilt auch wieder für die Operation ihrer Beobachtung (Einl., 1.2). In diesen Operationen der Unterscheidung und der Beobachtung der Unter Vgl. u. a. GZE, ; GuS,  f., ; WissG,  f., Spencer Brown, Laws of Form, , und dazu Schönwälder/Wille/Hölscher, George Spencer Brown,  –  (. Aufl.  – ).  Vgl. Hegels Bestimmung in der Enzyklopädie von , § : Die Zeit „ist das Sein, das, indem es ist, nicht ist, und indem es nicht ist, ist“ (ThWA .).  Im Resultat stimmt die Bestimmung der Zeit als Gleichzeitigkeit von Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit im Unterscheiden auch mit Husserls Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins überein: der Gleichzeitigkeit von Intention einerseits (Gleichzeitigkeit) und Retention und Protention anderseits (Ungleichzeitigkeit), die Husserl am Erfassen zeitlicher Gegenstände wie z. B. Melodien aufzeigt. Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, und dazu GuS, .

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scheidung konstruiert sich die Zeit laufend neu – ohne einen ‚Schöpfer‘ außer ihr und ohne eine Zeit vor einer solchen Schöpfung. Sie fällt immer nur auf, wenn sie reflektiert wird, und das geschieht dann, wenn ein Orientierungsproblem eintritt. Wendet man ein, die Zeit sei auch hier schon vorausgesetzt, nämlich im Ansatz bei der Unterscheidung als Operation oder Prozess, so ist die Antwort der Unterscheidungstheorie, dass auch diese Unterscheidung der Unterscheidung eine Unterscheidung ist, man sich also stets in einem Zirkel bewegt, der sich auch als Zirkel des operativen Sich-Konstruierens der Zeit darstellen lässt.¹⁴³ Und selbst wenn man die Zeit ontologisch voraussetzt, als ob es sie an sich, vor aller Unterscheidung gäbe, ist natürlich auch dies wieder eine Unterscheidung. Man bleibt auch hier in dem Zirkel der Unterscheidung von Unterscheidungen, aus dem Luhmann mit Spencer Brown die Zeit rekonstruiert. Wenn aber die Zeit aus der Unterscheidung und die Unterscheidung aus der Zeit hervorgeht, die zu ihr nötigt, sind beide, Zeit und Unterscheidung, zugleich der Anfang und nicht der Anfang. Der Zirkel wird zum Paradox des Anfangs. Luhmann weicht ihm nicht aus, sondern erneuert eben aus ihm die Logik – als Logik des Umgangs mit Paradoxien.

 Wenn Hölscher, Niklas Luhmanns Systemtheorie,  (. Aufl. ), Luhmann vorwirft: er „führt die Zeit nicht ein, sondern bringt sie einfach mit“, bezieht er sich darauf, dass Luhmann stets ‚Sachdimension‘, ‚Sozialdimension‘ und ‚Zeitdimension‘ so unterscheidet, als ob es sie einfach so gäbe; dies sei das „fundamentum inconcussum seiner Theorie“. Luhmann gestand in seiner Einführungsvorlesung in die Systemtheorie auch durchaus ein, dass er mit der genannten Unterscheidung „ohne irgendeine vernünftige Begründung“ einfach „einmal angefangen“ und bis dato „dafür noch keine vernünftige Begründung“ habe. Das wäre für einen Theoretiker, der die Anlage der eigenen Theorie bis ins Letzte durchzureflektieren pflegt, in der Tat merkwürdig und auffällig. Es ist dennoch nicht ganz richtig. Denn Luhmann fügt hinzu, er sei wohl immer noch nicht in der Lage, „diese Ordnung deduktiv abzuleiten“, die Unterscheidung sei jedoch „phänomenologisch so gesetzt“ (ES,  f.). In FFfO, , führt er sie als „drei verschiedene Richtungen der Generalisierung“ ein: „zeitlich – als Sicherung gegenüber einzelnen Abweichungen und Enttäuschungen“, also unter Absehung von wechselnden Situationen der Orientierung, womit überhaupt Generalisierung einsetzt, „sachlich – als Sicherung gegen Zusammenhanglosigkeit und Widersprüchen [!]“, also im Blick auf Kohärenz und Konsistenz der Orientierung,womit sie die vielen möglichen Generalisierungen auf jeweils eine beschränkt, „sozial – als Sicherung gegen Dissens“, also unter Einbeziehung von anderen Orientierungen, womit die Kommunikabilität der jeweiligen Generalisierung gewährleistet wird. Nur unter diesen drei Bedingungen ist mit Sinn ‚etwas anzufangen‘, also überhaupt Orientierung möglich. So aber ist die Unterscheidung von Sinndimensionen noch kein ontologisches ‚fundamentum inconcussum‘, wie Hölscher sie mit Descartes verstehen will, sondern ein Unterscheidung wie andere auch, mit denen Luhmann regelmäßig arbeitet.

4 Luhmanns Logik der Paradoxie

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4 Luhmanns Logik der Paradoxie Er entwickelt auch diese Logik aus der Unterscheidungstheorie.¹⁴⁴ Luhmann überführt, das gehört zu seinen nicht nur soziologisch, sondern auch philosophisch erstaunlichsten Leistungen, die Paradoxie aus einer Blockade des Denkens in ein Mittel des Denkens (Einl., 1.6). So hatten einst Newton und Leibniz infinite Regresse, die Aristoteles und die ihm folgende Tradition noch als Zeichen eines irrenden Denkens betrachtet hatten, in Gestalt der Infinitesimalrechnung zu einem neuen und bahnbrechenden Mittel der Lösung wissenschaftlicher Probleme gemacht. Für Luhmanns Umwertung der Paradoxie gab wiederum Spencer Brown den Anstoß.¹⁴⁵ Logische Paradoxien sind danach mehr als Widersprüche. Widersprüche gehören der Unterscheidung erster Ordnung, Paradoxien der Unterscheidung zweiter Ordnung, der Unterscheidung von Unterscheidungen, zu (EpK, 34). Widersprüche entstehen, wenn Behauptungen über ‚etwas‘ als gegensätzlich angesehen werden und dabei davon abgesehen wird, wer den Widerspruch feststellt oder ‚konstruiert‘. Sie scheinen dann ‚in der Sache‘ zu ‚bestehen‘, und als solche behandelt sie die traditionelle Logik. Doch Widersprüche entstehen, auch in den Wissenschaften, immer in einer Perspektive, in der Begriffe auf bestimmte Weise gebraucht werden; in anderen Perspektiven können dieselben Begriffe anders verstanden werden und keine Widersprüche hervorrufen. Paradoxien dagegen entstehen, wenn das Unterscheiden selbst unterschieden, die Unterscheidungsperspektive also einbezogen wird. Sie treten dann auf, wenn Unterscheidungen, die in einer bestimmten Perspektive gegensätzliche, einander negierende Werte unterscheiden, mit dem negativen Wert auf sich selbst bezogen  Luhmann hat auch seine Logik der Paradoxie nicht in einer speziellen Arbeit dargelegt, sondern bei zahlreichen unterschiedlichen Gelegenheiten angesprochen. Die wichtigsten Ausführungen findet man in ÖK,  ff., TP,WissG,  f., SthEu, PF, GpsS,  – , und zuletzt und mit besonderer Prägnanz in RelG,  f.,  ff., ,  ff. u.  ff. und OuE,  – . Zu bestimmten Paradoxen erschienen weitere Beiträge, etwa IsDns, zum Paradox der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule PMr. Bis SS hält sich Luhmann mit dem Hinweis auf Paradoxien zurück und unterstützt weiter die Annahme, dass die Logik „mit einer Mehrheit von Ebenen bzw. mit einer Typenhierarchie arbeiten muß“, durch die man Selbstbezüge und damit Paradoxien ausschließen kann, fügt freilich in Parenthese schon einmal hinzu: „(was immer das bedeuten mag).“ (SS, ) Danach weist er die Typenhierarchie und die „dafür erfundene Unterscheidung von ‚Ebenen‘“ zur „Verschleierung der Paradoxie“ dann ausdrücklich zurück (BdM, ; SozA ., u. ö.). Eine systematische Übersicht über die Möglichkeiten des Umgangs mit Paradoxien oder des ParadoxieManagements gibt die Luhmann-Schülerin Esposito, Paradoxien als Unterscheidungen von Unterscheidungen.  Vgl. Spencer Brown, Laws of Form, xxi u. xxxi. Traditionelle Logiker suchen nach wie vor Paradoxien mit ihren herkömmlichen Mitteln aufzulösen. Vgl. etwa den ansonsten von Luhmann geschätzten Rescher, Paradoxes, und Sainsbury, Paradoxien.

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werden, kurz: beim negativen Selbstbezug von Unterscheidungen (SS, 59). Um klassische Beispiele zu nennen: Ein Philosoph spricht (in traditioneller philosophischer Perspektive) von Wahrheit und Lüge und sagt dabei mit (traditionellem) Wahrheitsanspruch, er lügt (so wie Nietzsche seinen Zarathustra in traditioneller Sprache sagen lässt: „auch Zarathustra ist ein Dichter. […] gesetzt, dass Jemand allen Ernstes sagte, die Dichter lügen zuviel: so hat er Recht, – wir lügen zuviel“; Z II Dichtern); ein Richter, der routinemäßig Fälle nach Recht und Unrecht beurteilt und es dabei als Unrecht verurteilt, nach Recht und Unrecht zu urteilen; ein mathematischer Logiker bildet die Menge aller Mengen, die sich nicht selbst enthalten.¹⁴⁶ Beim negativen Selbstbezug von Unterscheidungen, der Leugnung der Unterscheidung durch die Unterscheidung selbst, ist zwischen den beiden Seiten der Unterscheidung nicht mehr zu unterscheiden – lügt nun Zarathustra oder sagt er die Wahrheit? –, Gegensätzliches, Widersprüchliches wird gleich richtig, die Unterscheidung wird unbrauchbar, das gewohnte logische Denken ist irritiert und desorientiert, es oszilliert und blockiert.¹⁴⁷

 In Logik und Wissenschaftstheorie wird, um nur rhetorische Paradoxien auszuschließen, hier vorzugsweise von ‚Antinomie‘ gesprochen. Aber auch ‚Paradoxie‘ wird im Sinn von ‚Antinomie‘ gebraucht.Vgl. Lorenz, Art. Antinomie, Thiel, Art. Paradoxie, Brendel, Art. Antinomie, und Kannetzky, Art. Paradoxie. In Luhmanns Kontext gilt von der Paradoxie, was Lorenz der Antinomie vorbehält, dass sie „eine widerspruchsvolle, sowohl wahre als auch falsche Aussage [ist], ohne daß bei ihrer Aufstellung offenkundige Fehler in den Voraussetzungen oder in den Schlußfolgerungen gemacht wurden“. Luhmann: „Wir verstehen unter Paradoxie eine als sinnvoll zugelassene Aussage, die gleichwohl zu Antinomien oder zu Unentscheidbarkeiten führt (oder strenger: einen beweisbaren Satz mit eben diesen Folgen).“ (EpK, ) Und an anderer Stelle: „Von ‚Paradoxie‘ ist hier die Rede nicht nur im Sinne eines logisch erzwungenen Widerspruchs, sondern auch im Sinne einer logisch erzwungenen Unentscheidbarkeit. […] Es geht also um den Fall, daß anerkannte Wahrheiten Unentscheidbarkeiten erzwingen.“ (SSÜHP,  f., Fn. ) – Zum weitergehenden Gebrauch des Begriffs Paradoxie, z. B. im Sinn von ‚Paradoxien der Existenz‘, vgl. Burkard, Art. Paradoxie, zu vor allem rhetorischen Paradoxien in Religion, Kunst, Literatur bzw. deren Analyse in den Geistes- und Kulturwissenschaften Hagenbüchle/Geyer (Hg.), Das Paradox. Hier ist etwa von einer „Waffe gegen Systembildung“, „Widerstand gegen die Machtergreifung der Logik“, „Reibungsenergien“, „Vermittlung zwischen Ernst und ästhetischem Spiel“, „Warn- und Wahrzeichen vor systematischen Begriffsverklärungen“ die Rede (s. die Einleitung der Herausgeber,  – ). Im systemtheoretischen Kontext ist das nicht gemeint. Zum Kontext der rhetorischen Paradoxie gehört auch der Vorschlag von de Santis, Die rätselhafte Erleuchtung des Paradoxes, Paradoxa als bloßen ‚gegenläufigen Meinungen‘ „rätselhafte Erleuchtung“ abzugewinnen, wie es im Epos, der Tragödie und der Philosophie der alten Griechen und im Christentum gepflegt werde.  Vgl. Lau, Die Form der Paradoxie,  – . – Im Übrigen schließt auch die Tautologie eine Paradoxie ein, „eine verdeckte Paradoxie, denn sie behauptet einen Unterschied, von dem sie zugleich behauptet, daß er keiner ist“ (WissG, ).

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Wird die Unterscheidung mit dem positiven Wert auf sich selbst bezogen, entsteht eine Tautologie, die Unterscheidung wird lediglich bestätigt. Doch auch dadurch bleibt sie nicht unberührt,wie Logiker es erscheinen lassen, sondern wird pathetisiert, so wenn ein Prophet oder ein Politiker um seine Autorität kämpft und sagt: ‚Wahrlich, ich sage die Wahrheit‘. Durch ihre semi-tautologische Pathetisierung wird die Wahrheit ebenfalls zweifelhaft – lügen Propheten und Politiker zuviel? In einer Beobachtung zweiter Ordnung macht, so Luhmann, „jede Festlegung“ durch ihre bloße Äußerung und erst recht durch ihre tautologische Betonung darauf aufmerksam, dass auch andere Festlegungen möglich wären (jemand sagt ‚um ehrlich zu sein‘, und man ist nun erst recht um seine Ehrlichkeit besorgt), und wird auf diese Weise „paradox“ und „sofort dekonstruiert“ (OuE, 20; Kap. VI, 3.2).¹⁴⁸ Umso mehr stößt man, so Luhmann, „auf eine fast zwanghafte Angst vor dem Paradox, die dazu führt, daß die Logik der Selbstreferenz, das heißt der Anwendung des Codes auf den Code selbst, nicht mitvollzogen wird“ (RelG, 70 f.). Man kann bei Paradoxion nicht stehen bleiben, eben weil sie irritieren und blockieren. Man muss sie ‚entparadoxieren‘. Das kann so geschehen, dass man andere Unterscheidungen findet, die sie unsichtbar machen, ‚invisibilisieren‘.¹⁴⁹ So fand Aristoteles, um die Irritation des Denkens durch die Zeit zu verdecken, die entsteht, wenn bedacht wird, dass auch das Denken der Zeit in der Zeit geschieht, die Unterscheidung bewegt/unbewegt, hatte damit einen neuen Anhaltspunkt und konnte nun die Zeit ontologisch der Bewegung und die Bewegung einer Substanz zuschreiben. Soweit auch die Unterscheidung bewegt/unbewegt wieder (die berühmten zenonischen) Paradoxien aufwarf, reichte Aristoteles sie an den göttlichen unbewegten Beweger weiter, der dann seinerseits paradoxieverdächtig wurde. Luhmann nennt das die „hartnäckige Wiederkehr des Paradoxes in allen Versuchen, es auszutreiben“ (EpK, 48). Umgekehrt wird ein Logiker […] immer Möglichkeiten finden, in denen Aussagen, die den Code auf sich selbst anwenden, als paradox erscheinen – sei es, daß sie zu Antinomien, sei es, daß sie zu Un-

 Diese Linie verfolgt Clam, Kontingenz, Paradox, Nur-Vollzug, bis dahin weiter, dass er Luhmanns Theorie ihrerseits dekonstruiert. In engem Anschluss an Peter Fuchs’ Metaphorisierung von Luhmanns Systembegriff destabilisiert er, allerdings fast ohne Textbelege, konsequent ihre Konturen mit dem Ziel, Luhmann ein Reflexionsdefizit gegenüber Derrida nachzuweisen ( ff.). Er weist so indirekt auf Grenzen der „Hyperreflexivität“ der Theorie hin () und darauf, dass Luhmann selbst sie einzuhalten verstand. Konkret behandelt Clam das Paradox nur anhand des Rechts und hier wiederum anhand der berühmten Geschichte von der „Rückgabe des zwölften Kamels“ ( – ), die Luhmann selbst schon diskutierte (RzK).  Vgl. u. a. Epk, ; SdR, ; OuE, . Zur Invisibilisierung von Paradoxien beruft sich Luhmann regelmäßig auf Barel, Le paradoxe et le système.

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III Orientierung an der Zeit: Logik, Paradoxie und Theorie

entscheidbarkeiten führen. Paradoxien sind unvermeidbare und deshalb attraktive Figuren der Reflexion der Einheit des codierten Systems in eben diesem System. (WissG, 207 f.)

Verdeckte Paradoxien mögen an anderer Stelle wieder erscheinen; solange sie aber verdeckt sind, kann man weiterarbeiten. Dies nennt Luhmann die „Entfaltung“ einer Paradoxie: „Alle Zeitsemantiken setzen […] bei der Paradoxie der Zeit an und unterscheiden sich nur durch die Form der Entfaltung dieser Paradoxie“ (SdR, 45). Eine solche Auflösung oder „Entfaltung“ der Paradoxie […] kann keine logische Operation sein, wohl aber der Versuch, in festen, unterscheidbaren Identitäten wieder festen Boden zu gewinnen. Die Bewährung solcher Unterscheidungen wird dann eher pragmatisch sein. Es kommt darauf an, ob sie einleuchten und funktionieren – für eine bestimmte Zeit und für bestimmte Beobachter. (ÜN, GS 4, 27)

Der Gewinn der Umwertung der Paradoxie aber zeigt sich erst, wenn man noch weiter in ihre beängstigende Höhle vordringt. Luhmanns nächster Schritt ist, mit den Paradoxien selbst zu beginnen. Das Argument ist: Wenn Paradoxien das Denken blockieren, kann man im Denken nicht hinter sie zurückgehen – und gerade deshalb bei ihnen anfangen. Luhmann vermutet, dass Paradoxien vorerst die einzigen noch haltbaren Anfänge sein könnten. Die Komplexität der Kommunikation der modernen Gesellschaft könnte ein so unwahrscheinlicher, „historisch unvergleichbarer Sonderfall“ sein, dass „alle gewohnten Beschreibungsmittel obsolet werden“ (SthEu, 59). Luhmann buchstabiert die Anfänge mit Paradoxien nach mehreren Richtungen aus; neben der Paradoxie der Zeit macht er vor allem die Paradoxie der Einheit, der Unterscheidung, der Beobachtung, der Entscheidung, des Systems im Sinn der Systemtheorie, des Anfangs und schließlich der Paradoxie selbst sichtbar. So ist eine Einheit stets die Einheit von Vielheit, von Mannigfaltigem oder von Differenzen, also Einheit und (ihr Gegensatz) Differenz zugleich. Die Unterscheidung ist, wie erwähnt, zugleich die Einheit und die Differenz ihrer beiden Seiten. Die Beobachtung, die etwas mittels Unterscheidungen bezeichnet, kann ‚etwas‘ nur beobachten, wenn es sich von diesem ‚etwas‘ unterscheidet (Kap. II, 1), beobachtet es dann aber nur in seiner eigenen Perspektive, nicht als das von dieser Perspektive unabhängige ‚etwas‘, das sie intendiert; was etwas ist, wird also notwendig zugleich als abhängig und unabhängig von der Perspektive vorgestellt (Kap. II, 3.2.5). Das System als Beobachtungssystem im Sinn der Systemtheorie ist entsprechend eine Einheit nur in Differenz zu seiner Umwelt, die sich unablässig verändert, vom System nur selektiv erfasst wird, selbst also keine Einheit ist und damit auch die Einheit des Systems unablässig verändert: „Das System ist deshalb von einem Beobachter aus gesehen eine Paradoxie, eine Einheit, die nur als Vielheit Einheit ist, eine unitas

4 Luhmanns Logik der Paradoxie

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multiplex.“ (EpK, 38) Das zwingt wiederum zu paradoxen Entscheidungen, Entscheidungen ohne vorgegebene Kriterien der Entscheidung, die also Unentscheidbares zu entscheiden haben.¹⁵⁰ Danach ist es gleichgültig, womit man anfängt: „Aller Anfang ist paradox.“ (OuE, 460) Und der Anfang ist es, wie lange schon bekannt, auch selbst: sofern mit ihm die Zeit mit neuen Entscheidungen für neue Unterscheidungen neu beginnt, aber auch dies in der Zeit, und er also in einer Beobachtung zweiter Ordnung zugleich ein Anfang und ein Nicht-Anfang ist.¹⁵¹ Daraus zieht Luhmann nun die radikale Konsequenz: Um mit solchen allfälligen Paradoxien arbeiten zu können, wird eine „radikaler zugreifende Problematisierung“ überholter Denkschemata nötig, und „das ist wohl nur zu erreichen, wenn man die Theorie prinzipiell (!) von Prinzipien auf Paradoxien umstellt“ (OuE, 460). Er macht die unentscheidbare Paradoxie zum Entscheidungsprinzip der Theorie und riskiert damit deren eigene Paradoxierung:¹⁵² Die Theorie selbstreferenzieller, autopoietischer Systeme weiß, dass sie mit der Umgründung von Einheit auf Differenz eine Paradoxie verwendet, aber sie vermeidet es, die Paradoxie in die Theorie einzubeziehen, weil Paradoxien als Theoriefiguren das Beobachten und Beschreiben blockieren würden. Sie unterhält, anders gesagt, ein paradoxes Verhältnis zu der sie begründenden Paradoxie: Sie arbeitet unter der Voraussetzung des Einschlusses des Ausschlusses der Paradoxie. […] Die Paradoxie bleibt der Souverän – auch wenn sie im Palast eingesperrt und von Ratgebern dirigiert wird. Sie macht sich im Vollzug weiterer Theorieschritte wieder und wieder bemerkbar. Sie wechselt mit jeder Unterscheidung, die hinzukommt, ihre Gestalt. Denn immer muss die Einheit der Unterscheidung, die der jeweiligen Beobachtung zu Grunde liegt, unbeobachtet bleiben. Das gute Gewissen, das die Theorie sich dabei zuspricht, ergibt sich aus der Einsicht in diese Notwendigkeit. Die Paradoxie ist und bleibt ihr Satz vom Grunde, ihr transzendentaler Grundsatz. (OuE, 55)¹⁵³

 Ansonsten lassen sich Entscheidungen ausrechnen und brauchen nicht eigens entschieden zu werden. Darauf beruhen die sogenannten Rational-Choice-Theorien. Zur Unentscheidbarkeit von Entscheidungen vgl. auch Derrida, Gesetzeskraft, , und Derrida, Politik[en] der Freundschaft,  – .  Wenn aber alles mit Paradoxien anfängt, lassen sich diese als „Darstellungsmuster der Zeit“ überhaupt verstehen (Schönwälder/Wille/Hölscher, George Spencer Brown, ; . Aufl. ).  Bereits Spinozas ‚System‘ kann man so verstehen. Die Start-Paradoxie ist hier Gott als causa sui.Vgl. Stegmaier, Start-Paradoxien moderner Orientierung. Über Spinozas Ethik und ihr höchstes Gut im Blick auf Luhmanns Systemtheorie. Ein „Paradoxiefan“, so Luhmann, benutzt eine „Unterscheidung überhaupt nur, um (sich und anderen) zu zeigen, daß und wie man sie sabotieren kann“ (PolG, ).  Die sichtlich ironisch gemeinten („Die Paradoxie bleibt der Souverän“! „Das gute Gewissen, das die Theorie sich dabei zuspricht“!) Formeln „Satz vom Grunde“ (Schopenhauer) und „transzendentaler Grundsatz“ (Kant) sollten nicht dazu verführen, Luhmanns Systemtheorie, die sich ausdrücklich von ihnen gelöst hat, wieder in ihren Schoß zurückzuführen. Vgl. WissG, .

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III Orientierung an der Zeit: Logik, Paradoxie und Theorie

Wenn das Unterscheiden und die Zeit nur auf Grund von Paradoxien unterschieden und die Operationen dieser Unterscheidungen wiederum nur in der Gegenwart, der paradoxen Einheit von Vergangenheit und Zukunft, vollzogen werden können, ist der „Standpunkt des Beobachters“, also des Unterscheidenden, als solcher „der Standpunkt der Gegenwart“, und dieser „Standpunkt der Gegenwart“ ist dann, so Luhmanns letzte Konsequenz, „der Standpunkt der Paradoxie“. Man hat es, heißt das, allein dadurch, dass man unterscheidet – und das muss man, um sich zu orientieren –, „mit der eigenen Paradoxie zu tun“ (GZE, 131) und muss mit ihr zurechtkommen, indem man sie ‚entparadoxiert‘, sie also entweder durch gängige Unterscheidungen invisibilisiert oder sich von ihr auf neue und hilfreichere Unterscheidungen bringen lässt und damit ‚kreativ‘ mit ihr umgeht (WissG, 539). So komplex dies erscheinen mag, der alltäglichen Orientierung gelingt es spielend, und das muss von Philosophie bzw. Soziologie auch einzuholen sein. Und auch Aristoteles hatte,wenn man nun von Luhmann aus zurückblickt, die Sicherheit und Haltbarkeit des Satzes des zu vermeidenden Widerspruchs durch eine Paradoxie begründet. Das Argument war hier: Fragt man, ob er gilt oder nicht gilt, macht man schon von ihm Gebrauch und bestätigt dadurch seine Geltung; man sah nur auf die Tautologie. Aber man kann nun auch die Paradoxie sehen: Der Ausschluss des Widerspruchs wird selbstbezüglich durch das Entstehen eines Widerspruchs bei seinem Nicht-Ausschluss begründet. Das Argument rechnet also mit beidem zugleich, dem Ausschluss und dem Nicht-Ausschluss des Satzes des zu vermeidenden Widerspruchs. Und auch hier tauchte die Paradoxie, so Luhmann, an einer zunächst nicht beachteten Stelle wieder auf: Dem Satz vom zu vermeidenden Widerspruch entspricht die These einer widerspruchsfreien Welt. Genau diese Entsprechung aber läßt sich nicht mehr widerspruchsfrei denken, denn sie impliziert, daß Urteile nicht zur Welt gehören, weil sie sich widersprechen können, aber doch zur Welt gehören, weil sie anders nicht auf Gegenstände bezogen werden können. (SdM, 22/ MorG, 73)

Paradoxien zu akzeptieren hinderten Aristoteles noch seine metaphysischen Bindungen, Nietzsche und Luhmann nicht mehr. Die aristotelische Tradition hat im Blick auf die Tautologie im Selbstbezug des Satzes des zu vermeidenden Widerspruchs nicht sehen können oder wollen, dass er auch nicht oder nur begrenzt gelten könnte. Gilt er nicht oder nur begrenzt, nämlich nur für eine Wissenschaft, die ihn für ihr haltbarstes Prinzip hält und darum mit ihm startet, werden andere Logiken denkbar und damit neue Alternativen, Unterscheidungen zu unterscheiden und sich für sie zu entscheiden. Denn es sind gerade unentscheidbare Alternativen, die durch Paradoxien erzeugt werden, und man kann und muss sich dann ohne weitere Prinzipien für jeweils eine entscheiden. Man kann an der

5 Nietzsches Umgang mit Paradoxien

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gewählten Alternative im Weiteren festhalten, es aber auch wieder mit anderen versuchen. Die Logik wird auch in ihren Prinzipien intern zeitlich. Und das scheint nun auch extern an der Zeit zu sein: Wenn Unterscheidungen und Unterscheidungen von Unterscheidungen Voraussetzungen schaffen, um Komplexität zu bewältigen, kann man, wenn man von Zeit zu Zeit ‚logisch‘ anders ansetzt, unter wechselnden Voraussetzungen mehr Komplexität bewältigen. Und das geschieht auch, wie an der Entwicklung moderner Gesellschaften deutlich zu sehen ist. In seinem historisch angelegten Beitrag Temporalisierung von Komplexität: Zur Semantik neuzeitlicher Zeitbegriffe zeigt Luhmann, „daß komplexer werdende Gesellschaften ihre Komplexität stärker temporalisieren und ihre Zeithorizonte entsprechend ausweiten, ja ihre Zeitbegriffe entsprechend ändern müssen, weil es zunehmend unumgänglich wird, Komplexität im Nacheinander zu ordnen“ (TvK, 256). Dazu werden unterschiedliche Gedächtnisse für unterschiedliche Zugriffe ausdifferenziert. So wird, worauf Nietzsche schon drängte, die Zeitlichkeit bejaht und nicht mehr nur „als Vergänglichkeit erfahren“ und durch „Verfall, Zerstörung, Tod“ symbolisiert (TvK, 262). In geradezu nietzscheschen Begriffen spricht Luhmann von der „Umwertung der Vergänglichkeit in Chancen der Erhaltung und Steigerung“ (TvK, 263), auch hier, ohne Nietzsche zu erwähnen.¹⁵⁴

5 Nietzsches Umgang mit Paradoxien Aus der Einbeziehung der Zeit in die Logik aber kann man wiederum die ‚Logik‘ von Nietzsches Aphoristik verstehen (Kap. II, 3.2.7). Seine Aphorismen erschließen mit äußerster Prägnanz auf engstem Raum ein bisher ungeahntes Maß an philosophischer Komplexität („es hat nie Jemand mehr von neuen, von unerhörten, von wirklich erst dazu geschaffnen Kunstmitteln zu verschwenden gehabt“; EH Bücher 4). Zu Aphorismenbüchern vereinigt und dort mit wechselnden Themen aus wechselnden Perspektiven immer neu einsetzend und zugleich in vielfältigsten Kontexten aufeinander bezogen, führen sie eine Einheit von Differenzen, in Nietzsches Begriffen von ‚nuances‘ vor Augen, die sich, über die Büchertitel

 Die Verzeitlichung alles Unterscheidens erfordert dann wiederum eine Theorie der „Zeitbindung“, der Möglichkeit also des Absehens von der vergehenden Zeit – auf gewisse, nicht für alle Zeit – oder, positiv gesprochen, ihrer zeitweiligen Fixierung etwa in Moral und Recht, in der Wirtschaft oder der Wissenschaft (WissG,  – ; SdR,  – ). Luhmann arbeitet bei der „Konstruktion von Objektpermanenzen“ (WissG, ), auch hier im Anschluss an Spencer Brown, mit den Begriffen der Iteration, Rekursion, Kondensierung und Konfirmierung. Darauf können wir hier nicht mehr eingehen.

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III Orientierung an der Zeit: Logik, Paradoxie und Theorie

hinaus, nicht als Einheit fassen lässt: Sie lassen sich inhaltlich, wie einschlägige Versuche immer neu zeigen, nur oberflächlich und widersprüchlich zusammenfassen. Nietzsche unterstützte das auch nicht: Es gibt nirgends in seinem veröffentlichten oder zur Veröffentlichung bestimmten Werk einen auch nur entfernt hinreichenden Überblick über seine Philosophie im Ganzen, auch nicht in EH. Die Kontexte seiner Bücher – nicht nur der Aphorismenbücher im engeren Sinn – drängen stattdessen laufend, zu Unterscheidungen zweiter Ordnung überzugehen, nach denen Vergleiche angestellt, Zusammenhänge, Übereinstimmungen und Widersprüche beobachtet und schließlich Strukturen erkannt und Logiken und Theorien formuliert werden können. Aber auch hier kommt man nicht zum Schluss: Mit jedem weiteren Aphorismus, jeder Rede Zarathustras, jedem Notat aus dem Nachlass, die herangezogen werden, können die bisher erkannten Strukturen und vermuteten Logiken und Theorien wieder ein anderes Gesicht zeigen. Die Aphoristik verhindert die Systematik, die Zeit verändert laufend den Sinn: Mit seinen spezifischen Formen philosophischer Schriftstellerei demonstriert Nietzsche nachhaltig die interne Zeitlichkeit seines Philosophierens – und dies so, dass sie sich stets wieder erneuert. Es ist dann nicht nur „ein Mangel an Rechtschaffenheit“ (GD Sprüche 26), sondern auch ein Mangel an Einsicht in die zeitliche Logik seines Philosophierens, wenn man versucht, es in alter Weise wieder zu systematisieren. Man kann sich, so Luhmann, „einen Begriff der Einheit des Systems“ durch eine „Kontextorientierung“ ersparen (WissG, 470). Für eine methodisch seriöse Erschließung von Nietzsches Texten ist darum eine kontextuelle Interpretation seiner Schriften geboten.¹⁵⁵ Auch wenn Nietzsche mit seiner Aphoristik dazu zwingt, zwischen erster und zweiter Ordnung des Unterscheidens zu oszillieren, vermeidet er, die gebrauchten Unterscheidungen offen zu paradoxieren. Rhetorische Paradoxien, die mit Zweideutigkeiten spielen, lehnte er ohnehin ab.¹⁵⁶ Wo er mit seinem erklärten „Perspektivismus“ (FW 354) auf paradoxierende Selbstbezüglichkeiten hinausführt (JGB 22, FW 374), nennt er sie nicht so. Er macht nur eine Ausnahme: mit der „schauerlichen Paradoxie eines ‚Gottes am Kreuze‘“ (GM I 8). Mit ihr jedoch weist er darauf hin, dass die Kultur Europas im Ganzen durch Paradoxien geprägt ist: nicht nur durch die genannte, sondern auch durch die Paradoxie des Sokrates, der wusste, dass er nichts wusste, und so die Wissenschaft von zeitlosen Beständen auf zeitliche Prozesse oder von Wahrheit auf Forschung umorientierte, und in der

 Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie,  – .  Zur Analyse von Nietzsches Paradoxien vgl. Stegmaier, „Philosophischer Idealismus“ und die „Musik des Lebens“,  – ; Miranda de Almeida, Nietzsche and Paradox; Dixsaut, Nietzsche par-delà les antinomies, und die Besprechung von Stegmaier in: Nietzsche-Studien  (),  – ; Stegmaier, Art. Paradoxie.

6 Theorie als in sich zeitliches Orientierungsinstrument

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Moderne, die diese Umorientierung dann voll in Gang brachte, durch die Paradoxie des wissenschaftlichen Gewissens, das, so Nietzsche, aus einer Selbstaufhebung des christlichen Gewissens hervorging (FW 357). Alle drei Paradoxien erwiesen sich als außerordentlich kreativ. Nietzsche brachte denn auch sein eigenes kreatives Philosophieren auf bewusst paradoxe Formeln wie ‚fröhliche Wissenschaft‘ oder ‚dionysische Philosophie‘. Die berühmten Lehren vom Übermenschen, vom Willen zur Macht und von der ewigen Wiederkehr des Gleichen, die er paradoxierend in einer Dichtung, Also sprach Zarathustra, zur Sprache bringt, in der sie nicht zum Erfolg kommen, sind kohärent am besten als ihrerseits paradoxierende Anti-Lehren zu verstehen, als Paradoxierungen des Glaubens an einen ‚letzten‘ Begriff des Menschen, an letztgültige Begriffe überhaupt und an einen zeitlosen Bestand der Welt.¹⁵⁷ Und all dies machte Nietzsche in erklärtermaßen schwer verständlichen Formen philosophischer Schriftstellerei, also wiederum paradoxierend verständlich. David E. Wellbery hat in Nietzsches Konzept der tragischen Erkenntnis, die wisse, dass sich die Erkenntnis anders, als die klassische Erkenntnistheorie annahm und annimmt, nicht selbst beim Erkennen erkennen kann, eine „Hervorkehrung der Paradoxie der Grenze“ herausgearbeitet, „die das Wissen allererst ermöglicht“, und in der „Grenze als Form der Disjunktion selber“ eine „fundamentale Gesetzmäßigkeit“ seines Denkens erschlossen. Damit hat er Nietzsche nah an Luhmann herangerückt: „Die Form dieser Form ist die Grenze als paradoxe Einheit einer Differenz.“¹⁵⁸ Luhmann mag das ähnlich gesehen haben, wenn er Nietzsche regelmäßig die Anfänge der ‚Einbürgerung‘ der Paradoxie in das philosophische Denken zuschrieb (Einl., 2). Zuletzt fügte er dem hinzu: Sowohl die klassische Rhetorik als auch die moderne Literatur, sowohl die Nietzsche-Heidegger-Tradition der Philosophie als auch die Familientherapeuten bedienen sich des offenen Paradoxierens; und mehr noch: es ist üblich geworden, beim Beobachten des Beobachtens anderer auf verdeckte Paradoxien zu achten. Die Funktion der paradoxen Kommunikation ist nicht völlig geklärt und vermutlich selbst paradox, nämlich als Versuch, Destruktion und Kreation in einem Akte zu vollziehen. (GG, 91)

6 Theorie als in sich zeitliches Orientierungsinstrument Nietzsche hat sich in seinem Philosophieren von Prinzipien gelöst, ohne sich wie Luhmann auf die Paradoxie einzulassen, „prinzipiell (!) von Prinzipien auf Pa-

 Vgl. Stegmaier, Friedrich Nietzsche zur Einführung,  – .  Wellbery, Die Strategie des Paradoxons,  u. .

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III Orientierung an der Zeit: Logik, Paradoxie und Theorie

radoxien“ umzustellen (OuE, 460). Die Paradoxie lässt als Paradoxie beide Alternativen zu, und so ist es die Paradoxie, die beide, Nietzsche und Luhmann, sehen, aber anders nutzen. Luhmann wollte als Wissenschaftler ernst genommen werden, und Wissenschaft hat fraglos Theorien zu liefern, die Paradoxien vermeiden müssen. Luhmann nahm es auch damit ernst. Rudolf Stichweh, sein Schüler und Nachfolger an der Universität Bielefeld, erinnert sich „an ein einziges Wort, das er nie mit ironischer Distanz und Brechung verwendet hat: Theorie“.¹⁵⁹ Aber dieser Ernst schloss für Luhmann nicht aus, dass er eine Theorie der Theorie lieferte, die auch eine Theorie der Paradoxie einschloss. In seinem (nachträglichen) Vorwort zu Soziale Systeme, dem Buch, das die Serie seiner Hauptwerke eröffnen sollte, sprach er eingangs von seiner eigenen, hier zu entwickelnden Theorie. Sie sollte eine „allgemeine Theorie“ in dem doppelten Sinn sein, dass sie alle ihre Gegenstände erfasst und für alle Wissenschaftler(innen), die sich mit ihnen befassen, gelten kann. Sie hatte dazu die üblichen Anforderungen an eine Theorie zu erfüllen: außer der „Universalität der Gegenstandserfassung“ ein relevantes Maß an „Komplexität“ und „Transparenz“ im Sinn der Kontrolle des Begriffsgebrauchs auf Konsistenz und Kohärenz hin nach Maßgabe einer erkennbaren Logik. Luhmann ging aber weiter. Ihren Universalitätsanspruch könnten Theorien, zumindest die der Kommunikation der Gesellschaft, nur dadurch gewährleisten, „daß sie selbst als ihr eigener Gegenstand vorkommen“; denn auch die Wissenschaft ist ein soziales System in Luhmanns Sinn. So müssten die einschlägigen Theorien „selbstreferentielle Theorien“ sein. Mit der Selbstreferenz aber, wie Luhmann sie dachte, als Selbstreferenz für Fremdreferenz und Fremdreferenz für Selbstreferenz (Kap. II, 1), zieht die Zeit in sie ein. Dadurch können sich Theorien auf Veränderungen ihrer Gegenstände einstellen und sich dabei selbst verändern, also „lernen“: „Sie lernen an ihren Gegenständen immer auch etwas über sich selbst.“ (SS, 9 f.) Nach Gödel wäre es, worauf sich Luhmann regelmäßig berief, gar nicht mehr möglich, ihre Nicht-Widersprüchlichkeit und Vollständigkeit zugleich nachzuweisen (SS, 11). Theorien werden dadurch jedoch nicht beliebig, im Gegenteil. Denn sie gewinnen ihre Kontur dann nicht durch prinzipielle Vorgaben, die stets so oder anders gewählt werden können, sondern dadurch, dass jede Entscheidung für eine Unterscheidung, sofern Konsistenz und Kohärenz kontrolliert werden, stets im Rahmen früherer Entscheidungen getroffen werden. Sie werden so immer weiter ‚limitiert‘ – „Die Gesamttheorie wird […] als ein sich selbst limitierender Kontext aufgefaßt“ (SS, 12) – oder, wie Luhmann es dann in Die Wissenschaft der Gesellschaft bezeichnete, „kondensiert und konfirmiert“, also verdichtet und gefestigt

 Stichweh, Niklas Luhmann, .

6 Theorie als in sich zeitliches Orientierungsinstrument

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(WissG, 419 u. ö.). Jede neue Entscheidung für eine Unterscheidung, soweit sie aus den früheren nicht logisch abgeleitet werden kann und dann keine eigentliche Entscheidung, aber auch keine neue Information ist, wird aber im ‚Kontakt mit der Realität‘ getroffen. Begriffe dienen so als „Sonden, mit denen das theoretisch kontrollierte System sich der Realität anpaßt“ (SS, 13): Begriffe formieren den Realitätskontakt der Wissenschaft (und das heißt wie immer so auch hier: eingeschlossen den Kontakt mit ihrer eigenen Realität) als Differenzerfahrung. Und Differenzerfahrung ist Bedingung der Möglichkeit von Informationsgewinn und Informationsverarbeitung. (SS, 13)

Das lässt Spielraum für ‚Konstruktion‘, schließt aber Beliebigkeit aus. Eine Theorie ist „eine selbsttragende Konstruktion“ (SS, 11) als ein im Realitätskontakt „sich selbst limitierender Kontext“ (SS, 12). So kann sie sich „in einer azentrisch konzipierten Welt und einer azentrisch konzipierten Gesellschaft“ ihrerseits als „eine polyzentrische (und infolgedessen auch polykontexturale) Theorie“ organisieren (SS, 14). Sie nimmt mit andern Worten keine starre und darum auch nicht unbedingt übersichtliche Form an: „Die Theorieanlage gleicht also eher einem Labyrinth als einer Schnellstraße zum frohen Ende.“ (SS, 14) Während Nietzsche zwar den „Typus des theoretischen Menschen“ (GT 15, KSA 1.98), aber nicht die Theorie als solche zum Gegenstand machte, legte Luhmann dann in Die Wissenschaft der Gesellschaft eine Theorie der Theorie überhaupt, also eine selbstbezügliche Theorie der Theorie vor. Er versuchte auch hier, der Realität von Theorien möglichst treu zu bleiben. Er erfasste sie statt anhand eines „‚Prinzips‘“ anhand einer Differenz, nämlich der Differenz von Theorien und Methoden, die in der beobachtbaren Wissenschaftspraxis beide nicht feststehen müssen. „Theorien und Methoden können als ganz und gar kontingent angesetzt werden, und strikt erforderlich ist nur, daß in jeder Situation eine Verknüpfung von Theorien und Methoden hergestellt wird.“ Man kann dann „von den Methoden her Theorien und von den Theorien her Methoden auswechseln“, wenn sie nur einander „Plausibilität“ verleihen (WissG, 403 f.). Bei beiden hat man es nicht mit ontologischen Referenzen, sondern lediglich mit Konditionierungen, Wenndann-Verknüpfungen, zu tun: aber die Wahl der Konditionierungen kann ihrerseits konditioniert und dadurch temporalisiert werden. Wenn das ermöglicht wird, kann das System die Bedingungen, an denen es sich orientiert, an den Bedingungen orientieren, an denen es sich orientiert, und damit zirkuläre „heterarchische“ Geschlossenheit erreichen. (WissG, 405)

So werden Theorien zu komplexen zeitlichen Orientierungsinstrumenten. Ihre Funktion ist dann letztlich, „Vergleiche zu ermöglichen“. Die Vergleichsgesichts-

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punkte können wie in der alltäglichen Orientierung „willkürlich gewählt“ werden. Teil der „Theoriearbeit im Sinne einer Verwissenschaftlichung von Aussagen“ ist lediglich „das Festhalten“ der Vergleichsgesichtspunkte. Dadurch bekommt die Theorie eine Struktur, die sich aus der alltäglichen Orientierung ausdifferenzieren lässt (WissG, 408): Auch normale, alltagssprachliche Sätze implizieren einen Vergleich und damit eine verdeckte Suchanweisung. Theoretisch inspirierte Vergleiche sind nur gewagter, unwahrscheinlicher, verblüffender. Sie beziehen auf den ersten Blick Unvergleichbares ein, oder sie lösen normale Vergleichsstopps auf – etwa die Erklärung von Unterschieden der Fallgeschwindigkeit eines Apfels und einer Feder durch die Verschiedenartigkeit dieser Dinge. Theoriearbeit im Sinne einer Verwissenschaftlichung von Aussagen bemüht sich mithin auf einem Kontinuum des Vergleichsinteresses um zunehmend unwahrscheinliche Vergleiche, also um Feststellung von Gleichheiten an etwas,was zunächst als ungleich erscheint. (WissG, 409)

Die „Aufgabe der Methodologie“ ist dann die „Verwaltung der Differenz von zweiter und erster Ordnung“ (WissG, 414). Sie hat, kurz gesagt, für Logik im klassischen Sinn zu sorgen, für die „Konstitution von Einheiten, die identisch gehalten werden müssen (Satz der Identität), [das] Gebot der Vermeidung von Widersprüchen (Satz des Widerspruchs) und [die] Ausschließung dritter Werte der Ebene des Code (Satz vom ausgeschlossenen Dritten). Dazu kommt die bereits erwähnte Regel der Paradoxievermeidung“ (WissG, 415). Auch wenn man es laufend mit Paradoxien zu tun hat, muss man sie in der Methode vermeiden, eben weil sie ein methodisches Kontinuum unmöglich machen würden. Oder aber man muss es zur Methode machen, die Methoden zu modifizieren oder zu wechseln, wenn die Realitätskontakte es nahelegen: Die Strukturarmut der zweiwertigen Logik verlangt nach einer Ergänzung, die man, was Methoden angeht, in der Zeit suchen und als temporale Komplexität beschreiben muß. Methoden sind Prozeßstrukturen. Sie sind entweder starre Programme für eine Abfolge von Schritten oder Strategien, die je nach den (unvorhersehbaren) Resultaten früherer Schritte zu modifizieren sind. (WissG, 415)

Luhmann unterschied so die „deduktive“ von der „kybernetischen Methodik“. Während die erste von Prinzipien oder Axiomen ausgeht und bei jedem Schritt darauf bedacht sein muss, „daß die Startposition bzw. die gerade erreichte Position unbezweifelbar gesichert ist“, kann eine kybernetische Methodik – daher der Name – ihre Schritte umsteuern und dabei auch ihre „Ausgangspositionen“ revidieren, „wenn der Prozeß dazu Anlaß gibt. Der Prozeß dient dann zugleich dem Voranschreiten und der laufenden Retrovalidierung der bereits erreichten Positionen.“ Geht es dort um „Sicherheitsprüfung“, so hier um „mehr oder we-

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niger gewagte Annahmen mit Kontrollvorbehalten“ (WissG, 418 f.). Das letztere aber ist das klassische Orientierungsverfahren, so wie Luhmann es selbst in Soziale Systeme einmal kurz berührte, freilich bei anderer Gelegenheit, der Orientierung von psychischen Systemen, also des einzelnen Bewusstseins. Orientierung – Luhmann gebrauchte an der Stelle den Orientierungsbegriff mehrfach, ohne ihn seinerseits zu thematisieren – ist danach eine „Primitivtechnik“, „mit der das System die Kontingenz seiner Umwelt in Beziehung auf sich selbst abtastet“ (SS, 362 f.), um zu sehen, was sich davon (im doppelten Sinn) halten lässt. Mehr als Theorie im klassischen, idealisierten Sinn eines Systems methodisch prüfbarer Sätze ist Theorie in ihrer beobachtbaren Realität darum „theoretische Orientierung“: Keine Wissenschaft ohne Theorie; theoretische Orientierung ist mithin ein universelles Merkmal der Zugehörigkeit zum Wissenschaftssystem. (WissG, 412)

Bei alldem verliert man auch in Luhmanns eigener Theorie leicht den Überblick – ähnlich wie in Nietzsches Aphoristik. Man muss sich also zunächst seinerseits in ihr orientieren – und tut das jeweils auf seine Weise. Die bisherige LuhmannRezeption hat das ebenso gezeigt wie die schon über ein Jahrhundert laufende Nietzsche-Rezeption. Auch Luhmann hat im Aufbau seiner Theorie bei unterschiedlichen Anlässen, darunter dem Einbau neuer Prämissen wie des Autopoiesis-Begriffs von Maturana oder der operationalen Logik Spencer Browns, unterschiedlich angesetzt und nicht einfach fertige Module aufeinandergestapelt. So kann man nicht nur unterschiedlich in sie einsteigen, Luhmann hätte sie nach eigenem Bekunden auch immer wieder unterschiedlich weiterentwickeln können: So sind auch Kommunikationstheorie, Evolutionstheorie und Differenzierungstheorie jeweils verschiedene Einstiegstore für die Darstellung der Gesamttheorie. […] Keine dieser Theorien kann auf die Mitwirkung der anderen verzichten. Die in der Präsentation dieses Buches gewählte Reihenfolge ist beliebig. Ebensowenig kann die Gesellschaftstheorie als logische Konsequenz aus systemtheoretischen Prämissen verstanden werden – etwa im Sinne der schon etwas angestaubten Idee eines hypothetisch-deduktiven Erkenntnissystems. Sie ist schließlich auch nicht die strenge Konsequenz eines bestimmten konstruktiven Prinzips, etwa eines dialektischen Vorgehens oder einer Technik der Kreuztabellierung (Parsons). Sie ist Resultat des Versuchs, eine Vielzahl verschiedener Theorieentscheidungen aufeinander abzustimmen. Und nur diese relativ lockere Form des Theoriedesigns, die möglichst erkennen läßt, welche Entscheidungen getroffen sind und welche Konsequenzen es hätte, wenn man an diesen Stellen anders entscheiden würde, scheint uns angemessen zu sein als Angebot einer Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft. (GG, 1138 f.)

In einem Interview gestand Luhmann freimütig ein, „wie zufallsbestimmt [er] selbst schreibe – trotz erheblicher Sorgfalt im Durchhalten und Verfeinern theo-

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III Orientierung an der Zeit: Logik, Paradoxie und Theorie

retischer Zusammenhänge“, und dies schon deshalb, weil „die Füllmasse der Worte, die zur Satzbildung erforderlich sind, […] sich jeder begrifflichen Regulierung [entzieht]“ und doch gegenüber den „Worten, die mit begrifflicher Bedeutung aufgeladen sind“, den größten Teil der „Textmasse“ ausmache (SC 152).¹⁶⁰ So ist der Unterschied von Luhmanns Theorie zu Nietzsches Aphoristik weniger ein prinzipieller als ein gradueller. Dass Luhmann mit der Darlegung seiner Theorie immer neu ansetzte, erklärt zu einem nicht geringen Teil auch den großen Umfang seines Gesamtwerks. Auch er hat nicht vorgegeben, eine vollkommene Übersicht und Herrschaft über seine Theorie-Produktion zu haben, und wiederholte sich darum gerne, wenn auch kaum identisch, sondern, wie Nietzsche, stets unter neuen Perspektiven. Wenn sich Nietzsche freimütig dazu bekannte, vieles von dem, was er geschrieben habe, bald schon wieder vergessen zu haben, und sich immer wieder auf zufällige Einfälle und Inspirationen berief,¹⁶¹ so erzählte Luhmann gerne, er habe seine theoretischen Schriften aus seinem berühmten Zettelkasten entwickelt und sich von dessen für ihn selbst oft überraschenden Verweisungen leiten lassen.¹⁶² Die Zettel führten ihn von Anhaltspunkt zu Anhaltspunkt in Vernetzungen, die so nicht vorausgedacht waren und ihre Erschließungskraft erst bewähren mussten. Sie orientierten ihn.

 Dass es sich bei Luhmanns Theorie darum lediglich um eine „Flechtung, Kreuzung, Mischung von heterogenen theoretischen Stücken“ handele, wie Clam, Kontingenz, Paradox, NurVollzug, , behauptet, und Luhmann sich aus bloßer postmoderner Freude am Kontingenten kaum um deren Ordnung gekümmert habe, scheint mir weit überzogen. Dass der Theorietyp, den Luhmann beschreibt, in sich beweglich ist und sein muss, wenn er seine Funktion erfüllen soll, heißt nicht, dass er diffus verschwimmt.  Vgl. etwa seine Briefe an Heinrich Köselitz vom . Februar  (Nr. , KSB . f.) zum V. Buch der FW und an Meta von Salis vom . August  (Nr. , KSB . f.) zur GM.  Auw,  – ,  –  u.  – .

IV Trennung der Orientierungen: Nietzsches und Luhmanns Subjektkritik Wie die Logik und die Theorie so war in der abendländischen Philosophie auch das Konzept des Subjekts als Halt gegen die Zeit (Kap. III), den Perspektivismus (Kap. II) und den Nihilismus (Kap. I) gedacht. Es wurde in der Moderne auf den bloßen Selbstbezug des Denkens und seines Mediums, des Bewusstseins, als Konzept eines nicht empirischen, nicht beobachtbaren und nicht zeitlichen Beobachters gegründet, der die allgemeine Gültigkeit einheitlicher Beobachtungen garantieren sollte. Nietzsche und Luhmann, die den Mut hatten, sich der Zeitlichkeit aller Orientierung zu stellen, entzogen ihr gezielt diesen trügerischen, nur erdachten Halt. Das folgende Kapitel zeigt, wo der Subjekt-Begriff und wo Nietzsches und Luhmanns Kritik an ihm ansetzte, wie ihn Nietzsche durch den Begriff der Perspektive, Luhmann durch den Begriff der Beobachtung ersetzte, die sich im Begriff der Orientierung zusammenführen lassen. Im Verzicht auf den philosophischen Begriff des Subjekts tritt die zwar zu überbrückende, aber nicht zu schließende Trennung der Orientierungen hervor, die dann zum leitenden und neu zu lösenden Problem wird (Kap. V–XII). Orientierung findet nach Nietzsche dann Halt im ‚Leben‘, nach Luhmann in der ‚Kommunikation der Gesellschaft‘. Beide, Leben und Kommunikation, sind zeitlich gedacht. Sie geben Halt auf Zeit. Der philosophische Begriff des ‚Subjekts‘, von Aristoteles begründet und zum zentralen Konzept der Philosophie der Moderne geworden, ist auch in den wissenschaftlichen und alltäglichen Sprachgebrauch eingegangen. ‚Subjekt‘ steht nach indoeuropäischen Grammatiken für den ‚Gegenstand‘, über den etwas ausgesagt wird, in Wissenschaftssprachen auch für aussagende und handelnde Menschen oder Personen, in Rechtssprachen darüber hinaus für nicht-menschliche Rechts- und Wirtschafts-‚Subjekte‘. Alltäglich kann man den Begriff im Deutschen auch abwertend (‚übles Subjekt‘) benutzen, in Sprachen wie dem Englischen, Französischen, Spanischen, Portugiesischen und Italienischen auch für den ‚Staatsbürger‘, den ‚Untertan‘ und den ‚Sklaven‘, für den ‚medizinischen Patienten‘ und die ‚psychologische Versuchsperson‘, für das ‚Thema‘ einer Schrift oder eines Kunstwerks. In diesen Verwendungen ist neben dem griechischen, für Aristoteles ausschlaggebenden Sinn des ‚Zugrundeliegenden‘ (hypokeímenon) noch der lateinische Sinn des ‚Unterworfenen‘ (subiectum) erhalten, das passiv hinzunehmen hat, was ihm geschieht. Während sich in Rousseaus Konzept der volonté générale unmittelbar das Gesetz gebende Subjekt mit dem sich dem Gesetz unterwerfenden Subjekt verband, trat der passive Sinn in der deutschen, stärker von Kant geprägten Tradition zurück: Ein Subjekt sollte hier vor allem verantwortlicher Grund seiner Handlungen sein. Das Adjektiv ‚subjektiv‘ nimmt in allen

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genannten Sprachen vom Subjekt nicht den Sinn des Sich-Verallgemeinernden, Sich-Objektivierenden, sondern gerade des Persönlichen, Abweichenden, Individuellen auf. Es assoziiert den Gegensatz ‚objektiv‘, während das Substantiv ‚Subjekt‘ nicht mit dem Gegensatz ‚Objekt‘ verbunden sein muss.¹⁶³ Auch im modernen philosophischen Begriff des Subjekts, wie er sich in der Zeit von Descartes bis Kant ausprägte, entstanden auffällige Paradoxien (Kap. III, 4). Im Zeichen der Aufklärung wurde der Einzelne mit dem Subjekt-Begriff sowohl aus seiner Bindung an Gott als auch aus seinen traditionellen sozialen Beziehungen gelöst und ganz auf sich selbst gestellt – als selbstständig Denkender. Dabei wurde einerseits die Besonderheit, also Ungleichheit seines Denkens anerkannt (wie im Adjektiv ‚subjektiv‘) und andererseits Gleichheit in gemeinsamen Strukturen des Denkens postuliert (in denen es ‚objektiv‘ sein kann): Es sollte zugleich ungleich und gleich sein. Daraus entsprang die Forderung, das Subjekt solle sich entsubjektivieren. Das Paradoxe des Begriffs setzte sich darin fort, dass das Subjekt, wenn es zum Gegenstand der Beschreibung wird, sich in seinen Gegensatz verkehrt, zum Objekt wird, sich als Subjekt also gar nicht beschreiben lässt. Dies wurde zur Start-Paradoxie aller Versuche, es doch zu tun, allen voran der husserlschen transzendentalen Phänomenologie. Paradoxien warnen davor, Begriffe so zu verstehen, als ob es das, wovon sie sprechen, außer ihnen gäbe, hier also vor der Annahme, es gebe so etwas wie beobachtbare und beschreibbare Subjekte. Man wird darum kaum haltbare Antworten auf die Frage erwarten können, was ‚das Subjekt‘ sei und was sein Wesen, seine ‚Subjektivität‘, ausmache; das Konzept des Subjekts ist ein Beschreibungsmittel, kein Beschreibungsgegenstand. Descartes und Kant haben das Subjekt (das Descartes noch nicht so nannte) denn auch als Bedingung der Möglichkeit objektiver Erkenntnis konzipiert. Nietzsche und Luhmann stellten es auch darin noch zur Disposition, sahen den Paradoxien des Subjekt-Begriffs ins Auge und fragten, welche Funktion oder

 Balibar/Cassin/de Libera, Art. Sujet, arbeiten heraus, wie die Bedeutungsstränge ‚Zugrundeliegendes‘, ‚Untergebenes‘ und ‚Individuelles‘ im Mittelalter und in der Neuzeit teils nebeneinander herliefen, teils sich miteinander verschränkten, schließlich bei Rousseau verschmolzen und im . Jahrhundert (u. a. bei Levinas, Derrida, Foucault) zu seiner Selbstdestruktion führten. Den stärksten Bruch in der Begriffsgeschichte des Subjekts sehen sie bei Nietzsche. Und wo Nietzsche vom „Befehlen und Gehorchen“ als Struktur des Willens spreche, ohne den Begriff des Subjekts zu gebrauchen (JGB ), füge die französische Übersetzung ihn weiterhin nolens volens ein (Balibar/Cassin/de Libera, ). Umgekehrt seien die französischen Möglichkeiten, das philosophische Konzept des Subjekts auszuschöpfen, kaum ins Deutsche zu übernehmen, wie sich besonders bei Habermas zeige, wohl aber ins Englische (Balibar/Cassin/de Libera, ). Ich gehe im Folgenden vom deutschen Sprachgebrauch aus.

1 Funktion des Subjekt-Begriffs bei Descartes und Kant

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Funktionen er gleichwohl in der europäischen Philosophie erfüllt hat, Funktionen, die sich inzwischen verändert oder erübrigt haben könnten.¹⁶⁴

1 Funktion des Subjekt-Begriffs bei Descartes und Kant: Denkbarkeit von Halt in Wissenschaft und Ethik Nach heutigem Verständnis macht es den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit aus, dass die Stellung des Menschen in der Welt fragwürdig wurde. Stand er im Mittelalter noch weitgehend fraglos zwischen Tier und Gott, verantwortlich für die Wahrung der Ordnung, die Gott geschaffen hatte, so wurde nun fraglich, wie Gott selbst sich zu dieser Ordnung verhält, ob er sie ein für alle Mal geschaffen habe und nun so belasse, wie sie ist und verläuft, ob er weiterhin in sie eingreife oder sie gar im Ganzen immer neu schaffe. Das warf weitere Fragen danach auf, ob und in welchem Sinn man Gott Vernunft und Willen zuschreiben könne, wie man es bei Menschen tut, und wenn ja, wieweit dann die göttliche Vernunft und der göttliche Wille Menschen zugänglich seien. Man war sich immer weniger sicher, womit man es bei Gott zu tun hatte, wurde immer stärker darauf aufmerksam, dass man sich verbindlich an etwas orientierte, was man gar nicht hinreichend kannte und kennen konnte. Man fand sich gleichsam in einem irritierenden, paradoxierenden double bind wieder, der Zweifel nährte, eine wachsende Desorientierung auslöste und schließlich zu einer umwälzenden Reflexion der bisher selbstverständlichen Orientierung führte, zu einem Jahrhunderte langen Prozess der Neuorientierung, in dem vor allem der Erfolg der Wissenschaften eine eigene, von der Theologie schrittweise gelöste „Legitimität der Neuzeit“ (Blumenberg) zu entwickeln half. Dafür gab der Begriff des Subjekts, auch wenn er damals noch nicht so hieß, den nötigen Halt. Es waren Vernunft und Wille des Menschen, an denen man sich bei der Konzipierung des Begriffs des Subjekts orientierte, und es war der Zweifel, der ihm seine Struktur gab.

 Zur verwickelten Begriffsgeschichte vgl. die Artikel Subjekt (Kible/Stolzenberg/Trappe/ Dreisholtkamp), Subjekt, transzendentales (Halbfass), Subjekt/Objekt, subjektiv/objektiv (Knebel/Karskens/Onnasch), Subjekt/Prädikat (Rehn/Schenk/Elling), Subjektivität (Clairmont/Beelmann/Cosmann), Subjektivität, transzendentale (Claesges) im Historischen Wörterbuch der Philosophie. Nietzsche wird hier stets sehr verkürzt behandelt, Luhmann gar nicht. Zum von Luhmann zunächst akzeptierten, dann scharf angegriffenen Begriff der Intersubjektivität, den wir hier beiseitelassen, vgl. die Art. Intersubjektivität von Oswald Schwemmer in der Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie und von Arnim Regenbogen in der Enzyklopädie Philosophie. Luhmanns mehrfach vorgetragene Kritik wird hier ebenso wenig erwähnt.

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IV Trennung der Orientierungen: Nietzsches und Luhmanns Subjektkritik

Descartes’ Ansatz beim Zweifel selbst strukturierte, wie Hegel später deutlich machte, das Denken als solches neu. Er bestimmte es nun nicht mehr als etwas positiv Feststellendes, treu anderes Repräsentierendes, sondern einerseits als Negation, andererseits als Selbstbezug: Zweifeln heißt denken, dass etwas (scheinbar Selbstverständliches) nicht (selbstverständlich) ist; Denken stellt nicht einfach fest oder repräsentiert, sondern entscheidet, was ist und nicht ist. Es kann dadurch in Desorientierung bringen, wie Descartes in seiner I. Meditation zeigte, aber auch wieder aus ihr herausführen: Zu Beginn der II. Meditation entwarf er das Bild eines Strudels, den das Denken mit seinen Zweifeln ausgelöst hat, der es in die Tiefe hinabzieht und zu ertränken droht und aus dem es sich doch aus eigener Kraft wörtlich ‚herausstützen‘, ‚emporarbeiten‘ (eníti) kann. Dieses nur noch seiner Selbstbezüglichkeit gewisse, darin aber zur Selbstständigkeit fähige Denken wird zum modernen ‚Subjekt‘. Plausibel wurde dieses Subjekt psychologisch als Bewusstsein (conscientia) mit seinen ständig wechselnden Vorstellungen (ideae). Mag jede Vorstellung zweifelhaft sein, so doch nicht, dass man sich ihrer bewusst ist oder bewusst werden kann. Das Subjekt als Bewusstsein wurde wiederum historisch plausibel, sofern es das aristotelische ‚Zugrundeliegende‘ (hypokeímenon) aufnahm, nun als Zugrundeliegendes von Vorstellungen. Aber sein ‚Sein‘ war dann kein bleibendes, jedem in gleicher Weise zugängliches Wesen mehr, sondern nur noch für sich selbst beobachtbar und insofern ‚innerlich‘; auch es selbst war nur vorgestellt, und Vorstellungen werden als schlechthin flüchtig erfahren und können für jedes Bewusstsein andere sein. Der neue Ansatz war: Kein Bewusstsein kann seine Vorstellungen mit einem außer ihnen gegebenen und insofern ‚äußerlichen‘ Sein und auch nicht mit den Vorstellungen eines anderen Bewusstseins vergleichen, denn von beiden hat es wieder nur seine Vorstellungen (Kap. I, 1; 2.4). So ist es und mit ihm das Denken und sein Subjekt getrennt von allem andern und wird vollkommen haltlos. Und damit wird sein Halt zum drängendsten Problem. Da Halt nun nicht mehr selbstverständlich vorgegeben ist, muss er erst geschaffen werden, vom Subjekt, das sich dabei nur noch an sich selbst halten kann. Es muss dazu aus der Passivität des bloßen Zugrundeliegens heraustreten und aktiv werden; es muss, da es für es nun keine Ordnung der Dinge an sich (ordre des choses) mehr gibt, sich selbst eine Ordnung der Gründe schaffen, wie es sie denken kann (ordre des raisons). Dies kann nur noch eine Ordnung seiner Vorstellungen sein, und Descartes’ Vorschlag im Blick auf die Wissenschaften war bekanntlich, diese Ordnung durch Regeln einer Methode zu schaffen, denen dann konsequent zu folgen wäre. Die lebenspraktischen Bedingungen des Regel-Folgens, wenn man so will: dessen Voraussetzungen in der alltäglichen Orientierung, umriss Descartes in einer morale par provision und ließ sie als provisorische in ihrem wissenschaftlichen Status vor-

1 Funktion des Subjekt-Begriffs bei Descartes und Kant

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läufig offen. Entscheiden sich getrennte Bewusstseine, gleichen Regeln zu folgen, kommt eine gemeinsame Ordnung und damit ein haltbarer Bestand in ihren Vorstellungen zustande, nicht durch Korrespondenz mit einem äußerlichen Sein und nicht durch Koinzidenz der Vorstellungen, sondern durch bloße Konsequenz des Regel-Folgens. Durch Denken als methodischem Ordnen der eigenen Vorstellungen oder kurz: als Verfahren statt Feststellen schafft sich das Bewusstsein und sein Denken oder das sich nur seiner Selbstbezüglichkeit gewisse Subjekt einen Halt, der zugleich auch der anderer Bewusstseine sein kann, sofern sie einander nur die Regeln mitteilen können. So wird Wissenschaft auf der Basis von Verfahren möglich.¹⁶⁵ Damit das Bewusstsein als Subjekt seiner Vorstellungen sich an ein methodisches Verfahren halten kann, muss es aber auch selbst haltbar, zeitlich konstant sein. Durch den bloßen Selbstbezug, der, wie Descartes in derselben II. Meditation betonte, ein bloßer zeitlicher Vollzug ist („quamdiu me aliquid esse cogitabo“, „ego sum, ego existo, quoties a me profertur“, Hervorhebungen WS), wird das nicht gewährleistet, sondern im Gegenteil in Frage gestellt. Darum griff Descartes noch einmal auf den aristotelischen Substanz-Begriff zurück und erklärte, ganz im Sinn der alten Metaphysik, die er ablösen wollte, die conscientia zur res cogitans, zu einem denkenden Ding. Als Substanz wurde das Denken zeitlos, auch in seinem zeitlichen Vollzug, der nun als immerwährend zu denken war. Als zeitlicher Vollzug aber stand es in konträrem Gegensatz zu allem Ausgedehnten, Räumlichen, Körperlichen, Materiellen, das so seinerseits als Substanz, als von der denkenden getrennte Substanz (res extensa) zu denken war, mit dem wichtigen Nebeneffekt, dass sich dem vom Körper getrennten Bewusstsein aufs Neue Unsterblichkeit zusichern ließ. Das zeitliche Subjekt erhielt durch diese Konstruktion neuen zeitlosen Halt. Doch auch diese Zeitlosigkeit kann das Bewusstsein sich wieder nur vorstellen, es kann nicht von ihr wissen. Kant wie vor ihm schon Hume verzichtete darum auf seine Substantialisierung. Weil aber die Objektivität der Naturwissenschaften denkbar bleiben sollte, dachte er auch das entmetaphysizierte Subjekt noch als zeitlos. So limitierte Kant das Subjekt von einer ‚transzendenten‘, die Erfahrung oder Beobachtbarkeit schlechthin überschreitenden Bedingung der Möglichkeit von Wissenschaft auf eine nur ‚transzendentale‘, die Erfahrung nur so weit überschreitende, dass diese als allgemein gültige verstanden werden konnte. Er entsubstantialisierte das Subjekt, um es zu funktionalisieren, und führte dazu

 Wir spielen hier bewusst auf Luhmanns Formel von der „Legitimität durch Verfahren“ (LdV) an, mit der er das Recht, die Politik und die Verwaltung neu gedeutet hat. Sie lässt sich gut auch auf Descartes’ neue Deutung der wissenschaftlichen Erkenntnis anwenden.

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allgemeine und zeitlose ‚Formen‘ der Anschauung und des Verstandes ein, die nun statt bloßer Regeln, denen zu folgen sich jeder entscheiden konnte, im ‚Gemüt‘ immer schon ‚bereitliegen‘ sollten.¹⁶⁶ Auch sie sollten Elemente einer Methode, nun der ‚transzendentalen Methode‘ sein. Das gedachte Subjekt sollte sich für sie nicht mehr entscheiden müssen, musste sie aber nichtsdestoweniger unterscheiden, und dies wiederum in seinem Bewusstsein unter seinen flüchtigen Vorstellungen. Es musste selbst eine Grenze in seinem Bewusstsein ziehen, sich selbst in ein ‚empirisches‘ und ein ‚transzendentales Subjekt‘ trennen,¹⁶⁷ und es sollte sich, solange es um Wissenschaft ging, immer nur auf der einen, besseren Seite, der transzendentalen, aufhalten. Es wurde also, worauf Nietzsche und Luhmann dann den Finger legten,¹⁶⁸ schon als wissenschaftliches ein moralisches Subjekt. Und es wurde nun erkennbar paradox: Um in seinem empirischen Bewusstsein mit Hilfe transzendentaler, die Empirizität seines Bewusstseins überschreitender Aprioris die Objektivität von Objekten denken zu können, sollte es sich selbst entsubjektivieren. Objekte konnten und sollten nur noch als Vorstellungen entsubjektivierter Subjekte gedacht werden, und das war möglich, weil der Begriff des Subjekts das empirische und das transzendentale Subjekt einschloss und so die Paradoxie zugleich verdeckte.¹⁶⁹ So konnte und kann man bis heute unbehelligt von ihr Objektivität denken. Durch die verdeckte Paradoxie kam der Begriff des Subjekts allerdings ins Schillern. War es noch plausibel, dass es Bewusstsein gibt, das seine Vorstellungen beobachten kann, und dass es auch beobachten kann, dass andere Bewusstseine andere Vorstellungen haben können, die es dann schon nicht mehr beobachten kann, so kann doch nach den Kriterien der Kritik der reinen Vernunft selbst, nach denen alles Wirkliche sinnlich gegeben sein muss, ein transzendentales, von allem Sinnlichen gelöstes Subjekt im strengen Sinn nicht wirklich sein. Mag man von empirischen Subjekten sagen können, dass es sie wirklich gibt,

 Zur paradoxen Konstruktion dieser Formen vgl. Stegmaier, Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft.  Mit George Spencer Brown kann man darin ein re-entry der ‚äußeren‘ Trennung von Bewusstseinen in das ‚Innere‘ jedes Bewusstseins sehen.  Vgl. Nietzsche, FW , und dazu Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie,  – ; Luhmann, WsO, .  Kant führte in seine Erörterung des transzendentalen Subjekts selbst „das Paradoxe“ ein, nämlich dort, wo es um die Beobachtbarkeit des Subjekts für sich selbst ging (KrV, B  f.). Als beobachtbares muss es empirisch sein, und im „inneren Sinn“, den Kant dazu einführte, unterschied er dann ein „aktives“ und „passives“, das heißt zugleich subjektives und objektives und damit paradoxes Subjekt.

1 Funktion des Subjekt-Begriffs bei Descartes und Kant

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so nicht vom transzendentalen Subjekt – eben weil es transzendental ist.¹⁷⁰ Das wird schwierig im Blick auf die praktische Philosophie, der Kant den ersten Rang einräumte. Denn auch sie verlangt nach Kant sich entsubjektivierende Subjekte: Auch das Ethische sollte so denkbar werden, dass jeder Vernünftige seine persönlichen ‚Maximen‘ nach dem kategorischen Imperativ daraufhin überprüfen sollte, ob sie als allgemeine Gesetze denkbar wären, also seine empirischen ‚Beweggründe‘ von ‚reinen‘ abscheiden sollte. Wie schwierig das empirisch ist, haben vor Kant besonders die französischen Moralisten, nach Kant vor allem Nietzsche gezeigt, und Protestanten war es ohnehin geläufig: Jeder noch so ‚selbstlosen‘ Pflichterfüllung kann wieder ein ‚selbstsüchtiges‘ Interesse unterstellt werden. Entsprechend rigoros und pathetisch musste Kant formulieren: Das moralische Gebot kündige „für das sinnlich afficirte Subject Zwang“ an, fordere „Unterwerfung“ und „Aufopferung“; gelinge sie, was allerdings nie festzustellen ist, werde das Subjekt als „Subject des moralischen Gesetzes“ „heilig“.¹⁷¹ Darauf kann man dann nur noch hoffen. Aber Kant bahnte auch schon eine neue Sicht auf das Subjekt an, den Wechsel von der Innensicht auf die Außensicht. Dann geht es nicht mehr um die innere, schwer beobachtbare Abgrenzung von Affekten und affektfreien Formen beim Erkennen, von Bedürfnissen und Geboten beim Handeln, sondern jedenfalls beim Letzteren um die klar beobachtbare äußere Zurechnung von Handlungen oder Taten: That heißt eine Handlung, sofern sie unter Gesetzen der Verbindlichkeit steht, folglich auch sofern das Subject in derselben nach der Freiheit seiner Willkür betrachtet wird. Der Handelnde wird durch einen solchen Act als Urheber der Wirkung betrachtet, und diese zusammt der Handlung selbst können ihm zugerechnet werden, wenn man vorher das Gesetz kennt, kraft welches auf ihnen eine Verbindlichkeit ruht.¹⁷²

Kant sagt ausdrücklich, jemand werde als Subjekt einer Handlung „betrachtet“, sie werde ihm „zugerechnet“. Diese Zurechnung mag dann berechtigt sein oder nicht, sie ist ein beobachtbares Faktum, und dass mit ihm die Freiheit des Willens und (wiederum paradox) zugleich dessen verbindliche Unterwerfung unter ein moralisches Gesetz zugerechnet wird, gehört, so dann Nietzsche, zu den „un-

 Vgl. Simon, Kant,  – .Von „Subjekten“ im Plural hat Kant in aller Regel denn auch nur im Hinblick auf empirische Subjekte gesprochen. Vgl. etwa KrV, B  u. B ; KpV, AA V, ; KU, § , AA V, , u. § , AA V, .  KpV, AA V, , , .  Kant, Die Metaphysik der Sitten, Einleitung IV: Vorbegriffe zur Metaphysik der Sitten, AA VI, .

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entbehrlichsten […] Fiktionen“ (JGB 4). Luhmann wird die „Zurechnungskonvention“ dann eine „Normalillusion“ nennen (WissG, 11, 61).

2 Nietzsches Ersetzung des Subjekt-Begriffs durch den Perspektiven-Begriff: Denkbarkeit von Halt im Leben Nietzsche gehört bekanntlich zu den wirkungsvollsten Kritikern des Subjekt-Begriffs.¹⁷³ Er hat ihn aber auch weiterentwickelt, teils unter demselben Namen, teils unter dem der ‚Perspektive‘. In seiner Kritik legte er die Paradoxien frei, die sich in Descartes’ und Kants Verwendung des Subjekt-Begriffs abzeichneten. Er sprach aus, was Kant geahnt, aber nicht gesagt habe, – dass mit dem sich selbst entsubjektivierenden Subjekt noch kein Sein bewiesen war: „Kant wollte im Grunde beweisen, dass vom Subjekt aus das Subjekt nicht bewiesen werden könne, – das Objekt auch nicht: die Möglichkeit einer Scheinexistenz des Subjekts […] mag ihm nicht immer fremd gewesen sein“ (JGB 54). Der „Subjekt- und Ich-Aberglaube“ (JGB Vorrede) könnte sich, vermutete Nietzsche, der „Gewalt“ der Sprache verdanken (JGB 268), die im indoeuropäischen Sprachkreis auch dort jedem Geschehen ein Subjekt als Täter unterstelle, wo offensichtlich, wie bei Blitz und Donner (‚es blitzt‘, ‚es donnert‘), keiner ist: „Es denkt: aber dass dies ‚es‘ gerade jenes alte berühmte ‚Ich‘ sei, ist, milde geredet, nur eine Annahme, eine Behauptung, vor Allem keine ‚unmittelbare Gewissheit‘.“ (JGB 17) Damit war eine generelle Außensicht auf das ‚Subjekt‘ oder eine Beobachtung zweiter Ordnung gewonnen, eine Beobachtung nicht von scheinbar an sich Gegebenem, sondern der Unterscheidungen, durch die es als gegeben erscheint. Kurz: Es gibt kein Subjekt, die indoeuropäischen Sprachen schreiben es zu. Hinzu traten im 19. Jahrhundert physiologische Forschungen einerseits, historische andererseits, die den Glauben an die Notwendigkeit transzendentaler Aprioris allmählich aufweichten. ‚Subjekt‘ wurde immer weniger von ‚Mensch‘, ‚Person‘, ‚Ich‘, ‚Individuum‘ unterschieden; es wurde immer mehr aus jener Umwelt verstanden, gegen die es sich durch den Selbstbezug im Denken abgeschlossen hatte.¹⁷⁴ Diese Umwelt aber ließ sich ins Unendliche differenzieren,

 Die wichtigsten Belege stellen Salehi, Art. Subjekt, und Goedert, Art. Subjekt, zusammen. Nietzsche kritisierte eben die „Metaphysik der Subiectität“, die Heidegger, Nietzsche, ., ihm unterstellte.  Vgl. Luhmann, TüS, : „Was geblieben ist, ist eigentlich nur die Gewohnheit, das menschliche Individuum als Subjekt zu bezeichnen und es, in einer Konspiration gegen die Ge-

2 Nietzsches Ersetzung des Subjekt-Begriffs durch den Perspektiven-Begriff

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führte letztlich in ein unübersehbares Chaos von ‚Bedingungen der Möglichkeit‘. Nietzsche sah die Funktion des Subjekt-Begriffs nicht mehr so sehr darin, in diesem Chaos Ordnung zu schaffen als sich seinem Anblick zu entziehen. Einer kritischen Philosophie musste es deshalb um dieses Chaos gehen, mit ihm musste man es aufnehmen (vgl. FW 109) und es nicht länger durch Metaphysik, Transzendentalität und Normativität verdecken und verharmlosen. Der philosophische Horizont durfte dann auch nicht mehr auf (mathematikfähige) Wissenschaft und (normative) Ethik beschränkt werden. Nicht-metaphysisch, nicht-transzendental und nicht-normativ gedacht, wurde das mit ‚Subjekt‘ Gemeinte zum ‚Individuum‘, das lediglich dadurch bestimmt ist, dass es anders als jedes andere ist. In der Sprache des Subjekts hieß das: In seiner Subjektivität erreicht kein Subjekt die Subjektivität eines anderen. Subjekte bleiben, auch wenn sie sich noch so sehr entsubjektivieren mögen, getrennt. Sie sind mit einem Wort Perspektiven (Kap. II). Aber diese Andersheit, Getrenntheit und Perspektivität erregt bei den meisten Angst, Angst vor unüberwindlicher Einsamkeit, und darum hielt man lieber an der Paradoxie eines selbstlosen Selbst fest, zumal es zugleich Wissenschaft und Moral denkbar machte (vgl. FW 345); und auf Schuldzuschreibung, die Bezichtigung eines Subjekts für ein Geschehen, konnte man im Interesse eines geregelten Umgangs miteinander und dessen Festlegungen im Recht ohnehin kaum verzichten (vgl. GM I 13). Wenn sich die Suche nach den Gründen eines Geschehens, darunter auch guter und böser Handlungen, ins Unendliche weitertreiben lässt, mit der Folge, dass zuletzt niemand für sie belangt werden kann, ist die Funktion des SubjektBegriffs der Abbruch der genealogischen Investigation für praktische Zwecke: ein Mensch, eine Person, ein Individuum wird als Subjekt zum definitiven Ausgangspunkt eines Geschehens und damit seines Handelns erklärt. Mögen andere hier stehenbleiben, Philosophen sind, so Nietzsche, herausgefordert, die Genealogie weiterzutreiben. Er versuchte das, indem er den philosophischen Horizont gegenüber Kant von der Erkenntnis und der Moral und damit vom denkenden und handelnden Subjekt auf das ‚Leben‘ erweiterte, das in jeder Hinsicht immer weitergeht. Der Begriff ‚Leben‘ in der Weite seines philosophischen Verständnisses (Einl., 1.4) vereitelt mit seiner unaufhebbaren Unbegrenztheit, Kontingenz und Zeitlichkeit alle Versuche, es auf Dauer zu ordnen; es ist immer noch anders, als man es begreifen kann; ‚Leben‘ lässt sich im Wortsinn nicht ‚fest-stellen‘. Man muss darum auch in der Besinnung auf ‚das Leben‘ irgendwo Halt machen. Nietzsche machte nicht mehr beim Denken Halt, sondern gezielt bei dem,

sellschaft, unter diesem Namen zu verteidigen. Das ist nun freilich an Banalität kaum mehr zu übertreffen – und vermutlich deshalb meinungsklimatisch wirksam.“

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IV Trennung der Orientierungen: Nietzsches und Luhmanns Subjektkritik

was Descartes von ihm getrennt und ausgeschlossen hatte, dem Leib, ohne den sichtlich kein Denken möglich ist, und hielt sich an seinen ‚Leitfaden‘. Er versuchte das Denken und sein Subjekt nun umgekehrt vom Leib her zu denken, den zu leugnen noch weniger plausibel ist als das Denken selbst und an dem das Denken seinerseits die Kontingenz und Zeitlichkeit des Lebens ‚hautnah‘ erfährt. Er experimentierte vor allem im späten Nachlass damit, Subjektivität als Lebendigkeit des Leibes zu denken und jene durch diese zu ersetzen.¹⁷⁵ Der biologische Leib, der sich in seiner Umwelt selbstständig bewegen und versorgen kann, erscheint als selbstbezügliche Einheit, aber eben „nur als Organisation u. Zusammenspiel“, als „ein Herrschafts-Gebilde, das Eins bedeutet, aber nicht eins ist“,¹⁷⁶ etwas, das als Einheit gedeutet wird, ohne dass man sagen könnte, es sei an sich eine Einheit (Kap. II, 3.2.6). Er zwingt das „Ich“, die „Vernunft“, den „Geist“, die alle nur „ein Etwas am Leibe“ sind (Z I Verächtern), in eine Doppel-Perspektive und damit zu einer Beobachtung zweiter Ordnung: Solange er gut funktioniert, nehmen sie ihn als problemlose Einheit wahr, an die sie nicht weiter zu denken brauchen. Doch weil sein Funktionieren immer prekär bleibt, wissen sie zugleich, dass sie es mit einer letztlich unbegreiflichen Vielheit zu tun haben. Funktioniert er nicht,wird er krank,werden sie an ihn erinnert und sie erfahren, dass dann auch das Begreifen schwer oder unmöglich wird. So lebt das gesunde geistig-leibliche ‚Subjekt‘ in einer systematischen Selbsttäuschung – es glaubt sich eben dann vom Leib unabhängig, wenn es von ihm, seinem problemlosen Funktionieren, seiner Gesundheit, am abhängigsten ist: „Das direkte Befragen des Subjekts über das Subjekt, u. alle Selbst-Bespiegelung des Geistes hat darin seine Gefahren, daß es für seine Thätigkeit nützlich u. wichtig sein könnte, sich falsch zu interpretiren.“¹⁷⁷ Ein Subjekt, das wesentlich Selbstvergewisserung sein soll und sich doch dauernd über sich selbst täuschen muss, ist paradox, und die Paradoxie schien Nietzsche offenbar so irritierend, dass er damit nicht an die Öffentlichkeit ging. Paradox blieb auch der mögliche Ausweg, „eine Vielheit von Subjekten anzu-

 Das unterstreicht mit vielen guten Belegen Heit, „… was man ist“?, ohne allerdings den Subjekt-Begriff selbst zu problematisieren. Gerade weil auch Heit darauf hinauswill, „dass es sich bei [Nietzsches] Naturalismus des Subjekts um eine perspektivische Heuristik handelt“ (),wird die Rede von der „Wirklichkeit des Subjekts“ fragwürdig. Nietzsche suchte die Wirklichkeit gerade nicht beim Subjekt.Wenn er weiterhin mit dem Begriff Subjekt arbeitete,was er häufig tat, setzte er ihn meist in Anführungszeichen, kritisierte oder ironisierte ihn, z. B. auch in dem von Heit stark gemachten Notat NL , [], KSA . f./KGW IX/, W I ,  f.  NL , [], KSA ./KGW IX/, W I ,  (Kap. II, .).  NL , [], KSA ./KGW IX/, W I , . – Bertino, „Vernatürlichung“, legt anhand der einschlägigen Belege dar, dass für Nietzsche auch der Leib, den er beim Studium des Geistes als „Leitfaden“ empfiehlt, „ein semiotisches, interpretatives Konstrukt, keine biologische Gegebenheit“ ist ().

2 Nietzsches Ersetzung des Subjekt-Begriffs durch den Perspektiven-Begriff

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nehmen, deren Zusammen-Spiel u. Kampf unserem Denken und überhaupt unserem Bewußtsein zu Grunde liegt“.¹⁷⁸ Denn auch dieses Zusammen-Spiel müsste dann ein Subjekt haben. Aber ein Subjekt, das seinem Begriff nach allem übrigen zugrunde liegt, kann nicht widerspruchsfrei Subjekt anderer Subjekte sein. Und das gilt dann auch für den Versuch, das Subjekt so zu denken, dass es in Vielheiten zerfallen oder sich andere Subjekte aneignen kann: „Die Sphäre eines Subjekts beständig wachsend oder sich vermindernd {der Mittelpunkt des Systems sich beständig verschiebend.}“¹⁷⁹ Der Rückgriff auf den Begriff des Lebens macht die Probleme mit dem Subjekt-Begriff deutlich, ohne sie schon zu lösen: Der SubjektBegriff reibt sich am Lebens-Begriff auf. In seinen veröffentlichten oder zur Veröffentlichung vorgesehenen Schriften radikalisierte Nietzsche dagegen das Moment der Einzigkeit und Einzigartigkeit des (sich also nicht entsubjektivierenden) Subjekts. Zumindest von Philosophen und ihrer „Geistigkeit“ forderte er den Mut eben zu Individualität und Einsamkeit und macht diesen Mut zum Kriterium der Rangordnung unter ihnen (Kap. XI, 3). Ein Philosoph soll sich stellvertretend für die Menschheit zum Experiment darin machen, sich des Bedürfnisses nach Halt an anderem und Anderen entschlossen zu erwehren, soll den Mut zur völligen Haltlosigkeit, zur letzten Desorientierung, zum Nihilismus haben (Kap. I). Mit dem Verzicht auf die Fiktion des sich entsubjektivierenden Subjekts soll er keine scheinbar allgemein gültigen Begrifflichkeiten, keine Einheit, keine Dauer, keine Unterscheidung, keinen Gegensatz, keine Wertung, keinerlei Gegenstand mehr als selbstverständlich akzeptieren. Um dieses Experiment wagen zu können, muss er jedoch schon Halt in sich selber haben oder, wie Nietzsche sagt, „fest auf sich selber sitzen“ (FW 345). Das Problem ist dann, wie beides miteinander vereinbar ist. Nietzsche löst es mit einer in sich ‚lebendigen‘ Begrifflichkeit für das, was bisher als ‚Subjekt‘ und ‚Objekt‘ fest-gestellt wurde. Statt Bedeutungen von Begriffen definitiv festzulegen, entwirft er Metaphern, die Spielräume für Bedeutungen lassen und sie im Fluss halten, allen voran die Wasser- und Fluss-Metaphorik selbst. Dabei darf auch die Möglichkeit, die unwillkürlich auftauchenden und verschwindenden Vorstellungen zu ordnen, nicht schon vorausgesetzt werden; sie bedarf vielmehr, im Alltag, besonders aber in der Wissenschaft, einer besonderen Disziplin oder, wie nicht erst Wittgenstein sagte, einer „Abrichtung“.¹⁸⁰ Eine solche Abrichtung oder Einhegung des lebendigen Zeichen- und Begriffsgebrauchs geht nicht vom Individuum, sondern von der Gesellschaft aus,  NL , [], KSA ./KGW IX/, W I , ; vgl. NL , [], KSA . – / KGW IX/, W I ,  – .  NL , [], KSA . f./KGW IX/, W II , .  UB IV ; GD Deutschen ; Wittgenstein, PU, §  u. ö.

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IV Trennung der Orientierungen: Nietzsches und Luhmanns Subjektkritik

in der es aufwächst und nach und nach Aufgaben übernimmt. Sie stützt sich auf Kommunikation und Askese. Von beiden aus lässt sich das Bewusstsein neu verstehen: statt als Subjekt seiner Vorstellungen als Funktion der Kommunikation der Gesellschaft und der Disziplinierung durch sie (Kap. VII, 3.5).¹⁸¹ Schon das Bewusstsein könnte sich, vermutete Nietzsche, aus der Not leichter und rascher Verständigung im Gebrauch gemeinsamer Zeichen entwickelt haben, bis dann für Fälle, in denen dennoch Missverständnisse aufkamen, Selbstbeobachtung im Gebrauch der Zeichen und damit Introspektion und Reflexion notwendig wurden, die man schließlich mit dem Begriff des Subjekts verband. Fragt man dann weiter, wem die Konventionen des Sprachgebrauchs zuzurechnen sind, überragenden Persönlichkeiten, die andern an Sprachkraft überlegen sind, oder gerade durchschnittlichen, mittelmäßigen Menschen, die auf Konventionalität angewiesen sind, so war Nietzsches Antwort: dem Kampf beider miteinander. Er stellte sich, auch wenn er es für sich selbst ausgewogener sah, öffentlich auf die Seite des großen einsamen Individuums. Statt auf „Subjektität“, wie Heidegger und Luhmann sagen werden,¹⁸² setzte er dabei auf Agonalität:Wenn ohne apriorische Gemeinsamkeiten das Verhältnis zum Andern die Andersheit ist, bleibt (außer der Gleichgültigkeit) nur die Alternative Freundschaft und Gegnerschaft, und Nietzsche wollte auch in Freunden noch Gegner sehen (Z I Freunde). Die Agonalität führt wiederum zur Steigerungs-Semantik, zur Steigerung des ‚Lebens‘ über seine bloße Erhaltung hinaus, zur Überbietung des ‚Menschen‘ durch den ‚Übermenschen‘, zur Übertrumpfung der ‚Fülle‘ des Sinns durch ‚Überfülle‘ an Sinn. Nietzsches auf den ersten Blick aggressiver, auf den zweiten Blick vielschichtiger Begriff dafür war dann ‚Wille zur Macht‘ (Kap. II, 3.2.6;VII, 1) – gedacht als Wille, der über sich hinaus will hin zu etwas, was er noch nicht kennt und in seiner Kontingenz nicht kennen kann, der sich selbst eben darin erfährt, dass er sich mit anderen Willen zur Macht auseinandersetzt, und in beidem den SubjektBegriff überholt. So gipfelt die Steigerungs-Semantik in der Experimentier- und Abenteuer-Semantik – Abenteuer sind unkontrollierbare Experimente, Experimente unter der Grundbedingung von Ungewissheit, unter der Nietzsche auch die absolute Selbstgewissheit des Subjekts nicht mehr gelten ließ.

 Vgl. JGB , FW , GM II und Constâncio, Consciousness, Communication, and SelfExpression; Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie,  – . Zur Unhaltbarkeit der These von Zima, Theorie des Subjekts, , Nietzsche habe versucht, „das Einzelsubjekt in extremis zu retten“, und der gleichermaßen unhaltbaren These von Tietz, Phänomenologie des Scheins, Nietzsche sei im bewusstseinsphilosophischen Paradigma des Deutschen Idealismus hängengeblieben, vgl. Pichler, Nietzsche, die Orchestikologie und das dissipative Denken,  und  f.  Vgl. Heidegger, Nietzsches Wort „Gott ist tot“,  u. ö.; Luhmann, SS , GG  u. ö.

3 Luhmanns Ersetzung des Subjekt- und des Perspektiven-Begriffs

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Die Stränge seiner konstruktiven Subjekt-Kritik aber führte Nietzsche in der Orientierungs-Semantik zusammen (ohne den Begriff ‚Orientierung‘ selbst zu gebrauchen) und plausibilisierte sie durch sie. Er ersetzte den Subjekt-Begriff durch die schon Kant und vor ihm Leibniz geläufigen Begriffe des Standpunkts, Horizonts und der Perspektive (Kap. II), befreite sie nun aber von theologisch prästabilierter Harmonie und transzendentalen Aprioris. Als Perspektive hat das Subjekt keine freie, nach allen Seiten unbegrenzte Sicht über die Welt bzw. die Vorstellungen von ihr von einem über sie erhobenen Standpunkt aus, sondern ist in seiner Sicht auf die Welt durch einen Standpunkt in der Welt begrenzt, von dem aus sich wieder nur begrenzte Horizonte eröffnen; es kann in dieser Begrenzung, die logische, ontologische und sprachliche Schemata einschließt,¹⁸³ überhaupt erst Gegenstände ausmachen. An ihren Grenzen hat eine Perspektive aber auch schon ihren Halt, einen Halt im Leben und seiner Perspektivität (Kap. I, 3.1– 3.2). Eine Perspektive im Sinn Nietzsches ist ein lebendiges Subjekt. Soweit sie andere Perspektiven in die eigene einbeziehen kann, wird Objektivität dann als Multiperspektivität denkbar. Die Steigerungs- und Experimentier-Semantik geht so zuletzt in die Souveränitäts-Semantik über: Souverän ist, wer „Gewalt“ über den leichten und raschen Perspektivenwechsel hat (vgl. MA I Vorrede 6, GM III 12; Kap. I, 2.4; II, 3.1.3). Diese Souveränität¹⁸⁴ ist nicht mehr an Bewusstsein und Denken gebunden, sie gewinnt ihre Sicherheit im Gegenteil dadurch, dass sie zum Instinkt wird. ‚Instinkt‘ ist nicht-bewusste Orientierungssicherheit. Ein orientierungssicheres Individuum ist wie das metaphysische und das transzendentale Subjekt ganz auf sich selbst angewiesen, steht nun aber mitten im ‚Leben‘ und kommt mit seiner Lebendigkeit zurecht.

3 Luhmanns Ersetzung des Subjekt- und des Perspektiven-Begriffs durch den Beobachtungs-Begriff: Denkbarkeit von Halt in der Kommunikation der Gesellschaft Luhmann setzte als Soziologe bei der Gesellschaft und damit schon mit der Außensicht auf das Subjekt an. Auf die Gesellschaft gibt es dann, sofern auch Subjekte, Menschen, Personen, Individuen unter den Bedingungen der Gesellschaft kommunizieren, keine Außensicht mehr. So lässt auch sie sich nur

 Vgl. NL /, [], KSA . f./KGW IX/, N VII , .  Die Souveränitäts-Semantik im Konzept des Subjekts wird insbesondere Georges Bataille stark machen. Vgl. Balibar/Cassin/de Libera, Art. Sujet, .

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IV Trennung der Orientierungen: Nietzsches und Luhmanns Subjektkritik

selbstbezüglich bestimmen: Gesellschaft gibt es nur insofern, als in der Gesellschaft über Gesellschaft kommuniziert wird, also nur in Kommunikationen der Gesellschaft. Damit bleibt auch für Luhmann die Selbstreferenz der Ausgangspunkt (Kap. II, 1). Doch indem die Selbstreferenz an die Gesellschaft übergeht, wird sie entpersonalisiert, entmenschlicht, entindividualisiert. Sie wird, radikaler als bei Descartes, Kant und Nietzsche, zur bloßen Denkfigur, die zwar in ihrem Vollzug von leiblich-seelisch Denkenden abhängig, aber nicht mehr nur auf sie anzuwenden ist und darum auch deren exklusive Selbstgewissheit nicht mehr beglaubigt. Das ‚cogito‘ löst sich vom ‚sum‘. Auch ‚das Denken‘, ‚das Bewusstsein‘, ‚der Mensch‘ usw. werden als bloße Unterscheidungen der Kommunikation der Gesellschaft sichtbar, Unterscheidungen, die auch anders vorgenommen werden könnten. Sie sind, wie alles Übrige, ‚Konstrukte‘: Es gibt sie nur unter der Bedingung, dass sie, von wem auch immer, so konstruiert werden. Luhmann fragte, ganz im Sinn Nietzsches, bei diesen Konstruktionen nicht wieder nach ‚Tätern‘, nach ‚Subjekten‘; denn auch diese wären wieder Konstrukte. Mit dem „Begriff des Konstrukts“ bot er „eine Formulierungsalternative für den Begriff des Begriffs“ (WissG, 515): Ein Konstrukt gibt nicht vor, einem vorgegebenen Gegenstand zu entsprechen oder ihn zu erfassen, ihn zu ‚repräsentieren‘, sondern bewährt sich allein dadurch, dass weitere Konstruktionen an es anschließen können und es in diesem Sinn ‚wahr machen‘, verifizieren.Wo immer nötig, kann ein Konstrukt aber auch ersetzt und in diesem Sinn falsifiziert werden. So werden Konstrukte theoriefähig. Luhmann machte mit der Entscheidung für den Begriff des Konstrukts oder mit seinem Konstruktivismus Nietzsches philosophische Grundentscheidung für die Entscheidbarkeit der Begriffe oder den Perspektivismus theoriefähig. Seine soziologische Systemtheorie schließt eine philosophisch weiterführende Subjekt-Kritik ein. Luhmann hat ihr einen eigenen Aufsatz unter dem Titel Die Tücke des Subjekts und die Frage nach dem Menschen [TüS] gewidmet, an den wir uns hier weitgehend halten können.¹⁸⁵ Was er die „Tücke des Subjekts“ nennt, ist dessen „Art, sich menschlich zu geben, sich als Mensch anbiedern zu können“ (TüS, 157), um damit leicht plausibel zu werden. Denn das ist es, wie dargelegt, keineswegs ohne weiteres. Der „Titel ‚Subjekt‘“ ist, sofern das Subjekt im aristotelischen Sinn „sich selbst und allem anderen zugrundeliegt“ und im kantischen Sinn „sich in seiner Freiheit von allen empirischen Ursachen unterscheidet“, „der anspruchsvollste Titel, den der Mensch sich jemals zugelegt hat“ (TüS, 162). In seiner „Freiheit“ „konnten alle Unbekanntheiten und Unsicherheiten […] untergebracht“ und das Subjekt selbst dann (in letzter Konsequenz durch Sartre)

 Die Subjekt-Kritik zieht sich jedoch durch Luhmanns ganzes Werk. Vgl. etwa ES,  – ; WsO,  – ; WissG,  ff.; Ind,  – ; GG,  – ,  – .

3 Luhmanns Ersetzung des Subjekt- und des Perspektiven-Begriffs

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für sie verantwortlich gemacht werden – wie zuvor nur Gott (TüS, 161). Mit dem Subjekt-Begriff wurde, wie bei Descartes und Kant gut zu sehen war, die religiöse Transzendenz auf den Menschen übergeleitet. Wenn sich eine Semantik aber so stark durchsetzte wie die des Subjekts, konnte sie nicht nur philosophieintern von Bedeutung sein, sondern musste auch eine gesamtgesellschaftliche Funktion haben. Diese Funktion ist nach Luhmanns Unterscheidungstechnik weniger daran zu erkennen, was der Begriff (positiv) bestimmt, sondern daran, was er (negativ) ausschließt. Der Subjekt-Begriff, so Luhmanns These, hatte die Funktion, andere Subjekte und damit Gesellschaft überhaupt auszugrenzen: „Wenn ‚Subjekt‘ heißt: sich selbst und damit der Welt Zugrundeliegen, kann es kein anderes Subjekt geben.“ (TüS, 158) Damit befreite der Subjekt-Begriff, soziologisch betrachtet, in der Zeit, als er sich am stärksten verbreitete, an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, von den Vorgaben der alten Ständegesellschaft und darüber hinaus von Vorgaben wie Besitz, Bildung und Naturbegabung. So half er, eine Umstrukturierung der Gesellschaft von Grund auf denkbar zu machen, die Umstrukturierung von einer stratifikatorischen, hierarchisch geschichteten Differenzierung zu einer funktionalen, allein an Leistung orientierten überzugehen. Er wirkte, in der Rückschau, als Übergangssemantik: Mit ihm konnte man jedermann (Frauen noch nicht) ‚Freiheit‘ und ‚Gleichheit‘ zuschreiben. Aber sofern er Gesellschaft ausschloss, blockierte er auch die Ausbildung eines neuen Begriffs von ihr: „Alle Gesellschaftsbeschreibungen geraten dem 19. Jahrhundert als Ideologien.“ (TüS, 162) Das Scheitern der „Semantik des Subjekts“ daran, eine nicht-ideologische Semantik der Gesellschaft zu entwickeln, zeigte sich im 20. Jahrhundert drastisch am Intersubjektivitätstheorem, das Husserl in seiner V. Cartesianischen Meditation versuchte: „Der Ausweg in eine Monadengemeinschaft (oder Nomadengemeinschaft?)“, so Luhmann, der Husserl im Übrigen hoch schätzte (Kap. XII, 2), „ist so dürftig, daß man Husserl Ironie unterstellen könnte, wäre er nicht ein so ernster Denker gewesen“ (TüS, 158). Doch ohne Gesellschaft blieb auch unklar, wovon sich das Subjekt, das sich nur selbst behauptete, eigentlich unterschied, „vom Tier, von anderen Subjekten, von der Welt – oder von sich selber?“ (TüS, 159) Im Horizont der Gesellschaft führt es in das „Paradox der Selbstbehauptung“ (TüS, 160), das, wogegen es sich behauptet, gleich ganz auszuschließen. Das Subjekt war, in der Rückschau, in diesem Sinn sichtlich auch Nietzsche zum Problem geworden, das er mit seinem Begriff von Willen zur Macht (im Plural) anging, die sich gegeneinander behaupten sollten. Aber auch er kam damit nicht zu einem ausgeprägten Gesellschaftskonzept oder gar einer Gesellschaftstheorie (Kap. X, 2.3). Doch er begann damit, die scheinbare Unabhängigkeit des Subjekts mit Abhängigkeit, seine Autonomie mit Heteronomie, seinen Selbstbezug mit

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IV Trennung der Orientierungen: Nietzsches und Luhmanns Subjektkritik

Fremdbezug zu verbinden, und Luhmann setzte dafür dann seine Unterscheidung von System und Umwelt ein, um aus ihr seine Gesellschaftstheorie zu entfalten. Dazu vollzog er, wie er sie nannte, „vier semantische Revolutionen“ (TüS, 163 f.): 1. Den Ansatz nicht mehr bei vermeintlich zeitlosen Gegenständen, sondern bei zeitlichen Operationen: So ist auch das Subjekt, wie zunächst auch bei Descartes selbst, als zeitliche Operation seines Selbstbezugs, nicht als Gegenstand zu verstehen. 2. Die Annahme rekursiver, ihre Ergebnisse wieder einspeisender Operationen (Kap. II, 3.3): Während sich das Subjekt auf einmal und für immer konstituieren sollte, erzeugen rekursive Operationen sich fortlaufend erneuernde autopoietische Systeme. 3. Das (schon mehrfach erwähnte) Bestehen auf strikter Beobachtbarkeit (Einl., 1.2): Anders als das transzendentale Subjekt, das beobachten sollte, ohne beobachtbar zu sein, müssen alle Beobachter, eingeschlossen Theoretiker der Beobachtung, ihrerseits beobachtbar sein. Entgegen der „Normalillusion“, „daß Wissen Besitz oder Potential eines ‚Subjekts‘ sei“, woran „zahlreiche Fehlsteuerungen der klassischen Epistemologie“ hängen, kann, so Luhmann scherzend, dem Subjekt „nur die Möglichkeit offengehalten werden, im Unbeobachtbaren zu verschwinden, à Dieu!“ (WissG, 61).¹⁸⁶ 4. Dass ein System in Luhmanns Sinn zugleich als System geschlossen und eben dadurch für Fremdbezüge offen ist (Einl., 1.3) und seine Identität in einer Differenz, nämlich der Differenz von System und Umwelt, liegt, macht auch es paradox (TüS, 164). Als Paradoxon kann es kein an sich vorgegebener Gegenstand sein. Wenn es bzw. seine Differenz aber der systemtheoretischen Gesellschaftstheorie zugrunde liegt, ‚fundiert‘ diese sich selbst in einer Paradoxie (Kap. III, 4). Damit wird der Begriff der Fundierung selbst paradox, da man von einer Paradoxie zwar ausgehen („Standpunkt“ der Paradoxie; GZE, 131), aber nichts auf sie fundieren kann. Doch eben das Letztere hatte man in der modernen Philosophie mit Hilfe des Subjekt-Begriffs versucht. Die weiteren Konsequenzen, die Luhmann daraus zog, korrespondieren gut mit denen Nietzsches. Danach sind „autopoietische Systeme immer individuelle (in-dividuelle) Systeme“, „die unter Allgemeinbegriffen zusammengefaßten Systeme füreinander Umwelt, und zwar füreinander jeweils verschiedene Umwelt“ – wie Nietzsches Willen zur Macht. Die „radikal individualistische Theorie“ autopoietischer, sich selbst ausdifferenzierender Systeme eröffnet, wie Nietzsche es

 Ungeachtet dessen hat die Zuschreibung der Kommunikation an ein Subjekt natürlich ihre „eigene Realität“ (WissG, ).

3 Luhmanns Ersetzung des Subjekt- und des Perspektiven-Begriffs

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wollte, „neue Möglichkeiten der Beschreibung des Reichtums der Welt“ (TüS, 165). Da aber jedes System von sich seine Umwelt, in der alten Sprache jedes Subjekt seine Objekte unterscheidet, wir also das alte „Subjekt durch den Beobachter ersetzen und Beobachter definieren als Systeme, die sich selbst durch die sequentielle Praxis ihres Unterscheidens erzeugen, entfällt jede Formgarantie für Objekte“ (GG, 878), wird, wie schon für Nietzsche, aus Objektivität Multiperspektivität. Im Netzwerk von Beobachtern gibt es, so Luhmann, „viele Optionen, eine Systemreferenz zu wählen“ (TüS, 165 f.). Mit dem Begriff des Beobachtungssystems greift Luhmann nur die formale Struktur des Subjekts, seinen Selbstbezug auf (und ergänzt ihn durch den Fremdbezug). Eben deshalb kann er ihn über die alten menschlichen Subjekte hinaus auch auf nicht-menschliche soziale Beobachtungssysteme einerseits und biologische Beobachtungssysteme andererseits beziehen. Die ersteren nennt er „Funktionssysteme“ der Kommunikation der Gesellschaft, soweit sie sich im Zug der Umstellung von „segmentärer“ (Gruppen) und „stratifikatorischer“ (Stände) auf „funktionale Differenzierung“ der Kommunikation der Gesellschaft seit der frühen Neuzeit „ausdifferenziert“ (Kap. II, 3.2.3), d. h. zu autonomen, in ihrer Struktur nur noch begrenzt von ihrer Umwelt und von den einzelnen menschlichen Beobachtern abhängigen Beobachtungssystemen herausgebildet haben. So kann man von ‚der Wirtschaft‘, ‚der Politik‘, ‚dem Recht‘, ‚der Erziehung‘, ‚der Wissenschaft‘, ‚der Kunst‘, ‚der Religion‘, ‚den Medien‘ auch in alter Weise wie von Handlungssubjekten sprechen. Die alten menschlichen Subjekte (oder Menschen, Personen, Individuen) werden dabei, was weiterhin „so ungern gesehen und so scharf abgelehnt wird“ (TüS, 167), im strengen Sinn zur Umwelt der Funktionssysteme der Kommunikation der Gesellschaft (Kap. V, 2.2). Umgekehrt sind dann aber für das Subjekt oder, wie Luhmann es jetzt einordnete, das ‚psychische System‘ auch die ausdifferenzierten Funktionssysteme der Kommunikation der Gesellschaft mit ihren spezifischen ‚Codes‘ (z. B. wahr/ falsch in der Wissenschaft, gerecht/ungerecht im Recht, zahlungsfähig/zahlungsunfähig in der Wirtschaft) Umwelt, in der alten Sprache ‚Objekte‘, die es ‚subjektiv‘ oder ‚perspektivisch‘ wahrnimmt. Es kann zur Beobachtung dieser Umwelt, willkürlich oder unwillkürlich, Codes wählen und zwischen ihnen wechseln (z. B. einen Fall von Korruption nicht mehr rechtlich oder ökonomisch, sondern moralisch betrachten). Nimmt es die Perspektive eines Funktionssystems ein, muss es sich, um dessen Funktion gerecht zu werden, wiederum entsubjektivieren (am deutlichsten in der Wissenschaft); aber es bleibt ‚subjektiv‘ in der Entscheidung für diesen oder jenen Code (und wiederum z. B. für bestimmte Themen und Methoden in der jeweiligen Wissenschaft). Die Modalitäten der ‚subjektiven‘ oder ‚perspektivischen‘ Entscheidung für die Übernahme nicht nur solcher Codes, sondern von Unterscheidungen überhaupt

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IV Trennung der Orientierungen: Nietzsches und Luhmanns Subjektkritik

liegen dann nicht mehr im Fokus der soziologischen Systemtheorie. Sie kann darum nicht das philosophisch letzte Wort in der Frage nach dem aktuellen Sinn von Subjektivität sein.¹⁸⁷ Es könnte stattdessen nun die Orientierungs-Semantik sein, die Nietzsche begrifflich vorbereitet hat, ohne sie so zu nennen, und Luhmann ausgiebig genutzt hat, ohne sie begrifflich aufzuarbeiten.

4 Ersetzung des Subjekt-, Perspektiven- und Beobachtungs-Begriffs durch den Orientierungs-Begriff: Denkbarkeit von Halt überhaupt – auf Zeit Der Begriff der Orientierung nimmt den modernen Subjekt-Begriff, Nietzsches Begriff der Perspektive und Luhmanns Begriffs des Beobachtungssystems in sich auf, ohne auf ein Zugrundeliegendes oder den Selbstbezug eines bloßen Denkens zu rekurrieren, und überschreitet die vorigen Begriffe zugleich: durch die Spielräume, die alle Orientierung schafft, um in ihnen mit der Zeit gehen zu können (Kap. I, 3.3). Gehen wir das Vorige, nun aus der Perspektive des Begriffs der Orientierung, nochmals kurz durch, jetzt rückwärts von Luhmann aus: Orientierung hat die Funktion eines luhmannschen Beobachtungssystems. Sie schließt Wahrnehmen und Denken, Erkennen und Handeln ein, ohne dass die Beobachtung so unterschieden werden müsste. Auch Orientierung ist jedoch, wie das luhmannsche System, Teil einer Unterscheidung, der Unterscheidung von Orientierung und Situation. Wie die Umwelt für das System ist die Situation für jede Orientierung zu jeder Zeit eine andere, und wie jede Beobachtung muss die Orientierung ihre Fremdreferenz durch Selbstreferenz und kann ihre Selbstreferenz nur durch Fremdreferenz unterscheiden. Orientierungen operieren in einer Situation über eine Situation rekursiv, nehmen die Ergebnisse früherer Orientierungen auf und lassen sich von ihnen leiten (Kap. II, 3.3.2). Zugleich schaffen sie durch ihren bloßen Vollzug eine jeweils neue Situation (hat man sich über eine Situation orientiert, ist sie schon eine andere) und damit auch wieder ein neues Bedürfnis nach Orientierung, sie operieren autopoietisch. Sie sind und bleiben voneinander getrennt, jedoch so, dass sie sich aneinander orientieren können. Sie sind beobachtbar an ihrem Gelingen oder Scheitern, sowohl was die eigene Orientierung als auch die anderer betrifft. Sie fundieren sich in einem paradoxen Selbstbezug: Man kann sich über Gelingen oder Scheitern von Orientierungen

 Außerdem gerät die Gesellschaft, wie Luhmann selbst gesehen hat (GG,  f.), mit seinem Ansatz in die begriffliche Situation des alten Subjekts: Sie hat ebenfalls kein Subjekt neben sich, mit dem sie kommunizieren könnte.

4 Ersetzung des Subjekt-, Perspektiven- und Beobachtungs-Begriffs

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wiederum nur orientieren. Sie sind jedoch nicht auf Bewusstsein und Denken beschränkt: Auch biologische, lebendige, physische Systeme müssen und können sich orientieren und Tiere oft weit besser als Menschen. Andererseits orientieren sich auch die Funktionssysteme der Kommunikation der Gesellschaft, z. B. die Wirtschaft an der Politik und umgekehrt. Der Orientierung liegt jedoch nichts zugrunde außer ihr selbst, und sie hat kein besonderes, in ihr unterscheidbares Subjekt im Sinn eines Steuerungszentrums. Sie kann sich, wie das Gehirn, hochgradig differenzieren und Operationsbereiche ausdifferenzieren, die jedoch in Netzwerken verbunden bleiben. So operiert sie, mit differenzierten internen Gewichtungen, immer als ganze. Identifiziert man sie als Handlungssubjekt, darf man sie wie das luhmannsche System nicht auf die traditionelle Bestimmung des Subjekts limitieren. Im Sinn Nietzsches sind Orientierungen individuell durch ihre Standpunkte, Horizonte und Perspektiven. Als Modi der Orientierung verstanden, sind Perspektiven in der Beweglichkeit ihrer Standpunkte und Horizonte aber Operationen, nicht Zustände. Um anforderungsreichere Situationen zu ‚bewältigen‘ oder zu ‚beherrschen‘, müssen Orientierungen ihre Funktionsfähigkeit steigern, sich dazu weiter differenzieren und zur Übersicht wieder simplifizieren, also laufend neue Operationseinheiten bilden und in diesem Sinn Willen zur Macht sein (Kap. VII, 1.1). Dabei können sie immer scheitern, bleiben also Experimente. Und sie beweisen Souveränität dadurch, dass sie auch überraschende und gefährliche Situationen ‚meistern‘, an denen andere scheitern. Im Sinn Descartes’ werden Orientierungen vom Zweifel getrieben. Sie können in einer unablässig sich verändernden Umwelt ihrer nie völlig sicher sein. Sie können sich wohl an Regeln halten, die ihnen vorgeschlagen oder zu deren Einhaltung sie abgerichtet werden. Sie können sich aber, als Orientierungen, Spielräume gegen sie vorbehalten und diese, soweit es die Situationen zulassen, nach eigenem Ermessen nutzen. Sie können ihre Operationen auch in transzendentale Formen einordnen, um Übereinstimmungen mit anderen Orientierungen zu suchen, kommen in ihrer Orientierung an anderen Orientierungen aber auch ohne solche Garantien aus. Sie kommen zu Stabilität nicht erst durch wissenschaftliche Methoden, sondern schon durch alltägliche Routinen, in denen mit der Zeit leicht wird, was einmal schwierig war, und selbstverständlich wird, was einmal kaum zu verstehen war (Kap. I, 3.10). Aber jede Selbstverständlichkeit kann rasch auch wieder aufgestört werden. Dann wird neue Orientierung nötig. Auch beim Übergang vom Subjekt- über den Perspektiven- und den Beobachtungs- und Systembegriff zum Orientierungsbegriff handelt es sich um Orientierungsentscheidungen. Alle Unterscheidungen, auch die des Subjekts, der Perspektive, der Beobachtung und des Systems kann man so oder anders treffen und kann sie, wie gesehen, von Zeit zu Zeit wieder anders treffen, wenn neue

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IV Trennung der Orientierungen: Nietzsches und Luhmanns Subjektkritik

Situationen es erfordern. Die Entscheidungen fallen nicht mit Notwendigkeit, sondern werden durch die Spielräume möglich, die sich die Orientierung immer vorbehält und die jeweils so oder anders genutzt werden können. Dennoch schafft die Orientierung Halt – eben dadurch, dass sie im jeweiligen Orientierungs- und Entscheidungsprozess Halt macht. Dann gilt etwas auf Zeit als gewiss – unter dem Vorbehalt der Ungewissheit aller Orientierungsentscheidungen und der Notwendigkeit weiterer, späterer Orientierungsentscheidungen. Aber Halt auf Zeit genügt zur Orientierung. Das wird sichtbar und verständlich, wenn man sich vom Subjekt-Begriff in seiner antiken und seiner modernen Fassung löst.

V Orientierung an Menschen: Luhmanns und Nietzsches Auflösung der Einheit des Menschen 1 Das Bedürfnis nach einem Wissen vom Menschen und seine Dilemmata Menschen sind für Menschen das Wichtigste im Leben. So wollen und müssen sie wissen, womit sie es bei Menschen, anderen und ihnen selbst, zu tun haben und was andere mit ihnen selbst verbindet und von ihnen trennt. Anthropologien, ‚Lehren vom Menschen‘, versprechen ein solches Wissen, ein Wissen von seiner Einheit und Ganzheit. Sie geraten damit jedoch in gleich mehrere Dilemmata: (1) Erstens sind Anthropologien unvermeidlich befangen. Es sind immer Menschen, die über Menschen reden, sie urteilen in eigener Sache unter ihren eigenen Gesichtspunkten und unter Bedingungen ihrer eigenen Kultur und Zeit. Auch Theorien, Philosophien, Utopien des Menschen sind erkennbar menschlich, oft menschlich-allzumenschlich. (2) Philosophische Anthropologie als Wissen vom Menschen lässt sich zweitens nicht abgrenzen. Versteht man ‚Anthropologie‘ in dem allgemeinsten Sinn, dass in irgendeiner Weise vom Menschen (ánthropos) die Rede ist (lógos), fällt die ganze Philosophie darunter. Denn nicht nur sind es immer Menschen, die philosophieren, sondern der Philosophie geht es nach dem berühmten Diktum Kants¹⁸⁸ auf irgendeine Weise immer auch um den Menschen. Grenzt man philosophische Anthropologie aber als Disziplin der Philosophie ein, um das ‚Wesen‘ des Menschen zu fassen, so wird ‚der Mensch‘ zu einem von anderen Gegenständen wie Sein, Natur, Erkenntnis, Geist, Moral, Kunst, Religion usw. getrennten Gegenstand. „Philosophische Anthropologie wird dann“, wie Heidegger es später formulierte, „zu einer regionalen Ontologie des Menschen und bleibt als solche den übrigen Ontologien, die sich mit ihr auf den Gesamtbereich des Seienden verteilen, nebengeordnet.“¹⁸⁹ Aber jene Gegenstände lassen sich vom Menschen nicht trennen und er nicht von ihnen; man kann ihn eben dadurch definieren, dass sie sich von ihm nicht trennen lassen. (3) Wenn philosophische Anthropologie als Lehre vom Menschen dessen allgemeines Wesen bestimmen will, muss sie drittens von den Menschen im Einzelnen absehen, durch die und für die jenes Wesen bestimmt wird, und es

 Kant, Logik, Einleitung, AA IX, .  Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, .

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V Orientierung an Menschen

bleibt eine bloße metaphysische Entität zurück. Trotzdem gab es im 19. und 20. Jahrhundert sichtlich ein großes Bedürfnis nach einer solchen Anthropologie. Man kann das mit dem ‚Tod Gottes‘ erklären, der sich schon Ende des 18. Jahrhunderts abzeichnete. Der Theologe und Philosoph Schleiermacher reagierte darauf mit einer Religion auch ohne Gott im bloßen Gefühl ‚schlechthinniger Abhängigkeit‘ des Menschen, also mit Anthropologie, Rousseau propagierte eine ‚Zivilreligion‘, eine Religion der Bürgerlichkeit des Staatsbürgers, Kant gründete Religion als Glauben an eine göttliche Gerechtigkeit auf das ‚Bedürfnis‘ nach Orientierung im moralischen Handeln.¹⁹⁰ All das führte zu einem Begriff ‚des Menschen‘, der sich von dem Gottes löste, aber weiterhin in unaufgelöster Spannung zu ihm stand und dessen hohes Pathos übernahm. So bei Feuerbach, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts aus der Theologie des nun tot geglaubten Gottes eine Anthropologie hervorgehen ließ, in der ‚der Mensch‘ sein besseres Teil nicht mehr als göttliches Jenseits, in das er es bisher projiziert habe, sondern als sein eigenes,von aller Demütigung befreites hohes Wesen erkennen sollte. Der aus der aristotelischen scala naturae, der Stufenfolge von Pflanze und Tier hin zu Gott, entlassene Mensch wurde weiterhin instar Dei, als göttliches metaphysisches Wesen begriffen. Dabei kehrte sich, worauf Odo Marquard in seinem legendären Anthropologie-Artikel hinwies, der Sinn des ‚Anthropologie‘-Begriffs um: Bedeutete er zunächst ‚von Gott wie von Menschen reden‘, so wurde er in diesem Sinn durch ‚Anthropomorphismus‘ verdrängt „und – arbeitslos geworden – für eine neue Bedeutung frei“, die Bedeutung ‚vom Menschen wie von Gott reden‘.¹⁹¹ (4) Am ehesten schien dies viertens moralisch und normativ möglich. Doch damit riskierte man weiterhin Realitätsferne: Moralische Normen gelten auch dann, wenn ihnen die Realität nicht entspricht, und sie sind leichter zu formulieren als Realitäten zu sehen. Die Theologie hatte schon Gott moralisch normiert, ihm allmählich die harten und grausamen Züge genommen, von denen die hebräische Bibel berichtet, und nur noch einen guten und lieben Gott übrig gelassen. Ähnliches geschah nun beim Menschen. War für Aristoteles der Mensch noch einerseits das edelste, andererseits aber das unberechenbarste und zum Schlimmsten fähige Lebewesen gewesen,¹⁹² das ebendarum an der ansonsten wohlgeordneten Natur Maß nehmen sollte, so verlor der Mensch dieses Maß, als in

 Kant, Was heißt: Sich im Denken orientiren?, AA VIII,  – .  Marquard, Art. Anthropologie,  u. . Vgl. Luhmann, NuG, , der Marquards Artikel kannte: „Dann tritt der Mensch an die Stelle, die nach Meinung der Theologen Gott gebührt: an die Stelle eines letzten Faszinationspunktes für Aufmerksamkeit. Aber ‚der Mensch‘ (im Singular) ist, wie Michel Foucault mit Recht gesagt hat, überhaupt erst gegen Ende des . Jahrhunderts erfunden worden.“  Aristoteles, Pol. I , a – .

1 Das Bedürfnis nach einem Wissen vom Menschen und seine Dilemmata

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der Moderne der Glaube an eine wahre, gute und schöne Ordnung der Natur nach und nach wegbrach, und erschien immer bedrohlicher. Damit nahm der Humanismus seinen Aufschwung, als großes moralisch-ästhetisches Programm der Erziehung des schlimmen zu einem guten, des unedlen zu einem edlen, des selbstsüchtigen zu einem hilfreichen Menschen. Seine Norm, der ‚humane Mensch‘, wurde gar nicht erst als Realität behauptet, sondern gleich als Ideal ausgerufen. Die Ende des 18. Jahrhunderts einsetzende demokratische Bewegung lebte von diesem kontrafaktischen Ideal und zehrt bis heute davon mit dem Argument, dass Menschen zum Leben und Zusammenleben moralische Ideale brauchen. (5) Die philosophischen Anthropologien des 20. Jahrhunderts versuchten, die Realität des Menschen wieder einzuholen, indem sie fünftens an die inzwischen zahlreichen Wissenschaften vom Menschen anschlossen, die ihn auf ihre je spezifische Weise erforschen, ohne dabei seine Einheit zu erfassen. Die philosophischen Anthropologien hielten an der Einheit des Menschen fest und arbeiteten sich an neuen Zuordnungen und Gewichtungen der alten ‚Stufen‘ des Lebendigen, Leib, Seele und Geist ab.¹⁹³ Sie wurde dabei jedoch immer fraglicher. Inzwischen gibt es eine kaum zu begrenzende Zahl jeweils begrenzter Anthropologien: Biolog(inn)en treiben biologische Anthropologie, Soziolog(inn)en soziologische, Ethnolog(inn)en ethnologische, Kulturwissenschaftler(inn)en kulturwissenschaftliche, Historiker(inn)en historische, Psycholog(inn)en psychologische, Pädagog(inn)en pädagogische, Jurist(inn)en juristische, Mediziner(inn)en medizinische,Theolog(inn)en theologische usw., und jede(r) Einzelne unter ihnen kann wieder besondere Gesichtspunkte haben. Ferner werden in der Literatur, in den Medien, im Alltag explizit oder implizit unterschiedlichste Menschenbilder gepflegt. Wenn Philosoph(inn)en versuchen, diese Vielfalt zu integrieren, vielleicht

 Sie reagierten darin stark auf Nietzsche. Schloßberger, Über Nietzsche und die Philosophische Anthropologie, zeigt aus historischer Distanz, wo Scheler, Plessner und Gehlen Nietzsche nahestanden und wo sie eigene Strategien einschlugen: Während die Philosophische Anthropologie weiter nach dem Wesen ‚des Menschen‘ frage, das ihn über ‚das Tier‘ hinaushebe, verzichte Nietzsche so weit wie möglich auf solche Wesensbestimmungen und infolgedessen auch auf eine Anthropologie. Geisenhanslücke, Der Mensch als Eintagswesen, bekräftigt das anhand der Fabeln zu Beginn von WL und UB II, in denen Nietzsche von vornherein jede auf einen bestimmten Begriff vom Menschen dringende Anthropologie unterläuft. Auch nach Fischer, Philosophische Anthropologie, der diese „Denkrichtung des . Jahrhunderts“ („Philosophische Anthropologie“ in diesem Sinn groß geschrieben) umfassend monographisch aufgearbeitet hat, machten Scheler, Plessner, Gehlen, Rothacker und Portmann einen Versuch zur „Wiederherstellung der richtigen Intuitionen der Vernunftphilosophie im Medium der richtigen Entdeckungen der Vernunftkritik“ (). Fischer terminiert ihre Zeit von  bis .

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auch zu fundieren, bringen sie ihrerseits weitere Gesichtspunkte bei. Man hat es beim Menschen mit etwas sichtlich undurchschaubar Komplexem zu tun. Hier setzten Nietzsche und Luhmann ein. Wir beginnen bei Luhmann.

2 Luhmanns Auflösung der Einheit des Menschen Als Soziologe fragte Luhmann, wie ‚der Mensch‘ an der Kommunikation der Gesellschaft beteiligt und von ihr her zu bestimmen sei. In Distanz zu allem Kontrafaktischen auf strikter Beobachtbarkeit bestehend, entmetaphysizierte, entidealisierte und entnormierte er ihn entschlossen. Er folgte auch und gerade im Blick auf ‚den Menschen‘ der differenztheoretischen Option, Begriffe statt als Feststellung von scheinbar an sich Feststehendem als Ergebnisse von Unterscheidungen zu betrachten, die, wenn sie etwas einschließen, etwas ausschließen, und das Ausgeschlossene als alternative Seite vorhalten. Für die „Formel Mensch“ bedeutet das, so Luhmann in seiner hier grundlegenden Abhandlung Die Soziologie und der Mensch, dass sie „nur noch ein Einheitsbegriff oder ein Rahmenbegriff für unübersehbare Komplexität ist, aber nicht mehr ein Gegenstand, über den man direkt Aussagen formulieren kann“; der „Begriff Mensch“ verdecke vielmehr diese Komplexität (SuM, 269; vgl. WissG, 448 f.). Die humanistische Semantik behaupte sich jedoch hartnäckig auch in der Soziologie; auch Soziologen falle es schwer, „vom Menschen zu lassen“ (SuM, 273). Indem sie bleibende religiöse Bindungen vorsichtig enttheologisierte, habe es die humanistische Semantik ermöglicht, so Luhmann in seiner vorausgehenden historischen Analyse Frühneuzeitliche Anthropologie. Theorietechnische Lösungen für ein Evolutionsproblem der Gesellschaft, in der „Übergangszeit“ zwischen der stratifikatorischen, auf hierarchische Stufenordnungen setzenden, und der funktionalen, vorwiegend mit dem Austausch von Leistungen operierenden Differenzierung der Gesellschaft „die Umorientierung zu orientieren“ (FrA, 170) und die „Plausibilisierungsbedingungen“ zu verändern (FrA, 173).¹⁹⁴ Die Umorientierung schloss einen Wechsel in der Leitunterscheidung ein: von der Unterscheidung von Ganzem und Teilen, die noch einen alles umschließenden Horizont voraussetzt, zur Unterscheidung von System und Umwelt, die in vielfältigen Horizonten zu denken ermöglicht.

 Luhmanns soziologische Kritik an humanistischen Lehren vom Menschen kritisiert wiederum sein Fachkollege Schimank, „Gespielter Konsens“. Schimanks erklärter „methodologischer Individualismus“ () führt zu krassen Verzeichnungen wie: Luhmann beschränke sich allein auf Koordination und übergehe den Konflikt () und einzelne Menschen seien für ihn „gesellschaftlich bedeutungslos und austauschbar“ (). Am Ende schreibt er das Luhmanns Jugend in der Nazi-Zeit zu ( f.).

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Danach wird – um nochmals daran zu erinnern – von Systemen als Beobachtungssystemen ausgegangen, die, um ihre Umwelt beobachten, für sie ‚offen‘ sein zu können, sich von ihr unterscheiden, abgrenzen, abschließen und in diesem Sinn zugleich ‚geschlossen‘ sein müssen und die beobachtete Umwelt dann, sofern sie laufend Neues von ihr erfahren, stets als komplexer erleben, ohne diese Komplexität je voll erfassen zu können. Sie können an ihren eigenen früheren und an ihren gleichzeitigen Beobachtungen anderer beobachten, dass sie jene Komplexität unvermeidlich reduzieren oder simplifizieren, dass sie also immer schon mit reduzierter Komplexität zu tun haben.¹⁹⁵ Damit wird alle Einheit und zumal die der Welt und des für sie offenen Menschen fragwürdig. Man kann dann nicht mehr auf der Basis irgendwelcher Einheiten operieren, sondern muss das Zustandekommen solcher Einheiten selbst erklären. „Vor allem kritisiere ich“, sagte Luhmann in einem Interview auf die Frage, wie er sein Denken vom ‚alteuropäischen‘ unterscheide, „den Humanismus des alten Europa. Im 18. Jahrhundert kam es zu einem radikalen Wendepunkt und zur Geburt der Moderne. […] Wenn wir noch im 21. Jahrhundert in Begriffen wie Natur, Mensch, Moral und Vernunft sprechen, verlieren wir den ‚Sinn‘ des Ganzen. Das ist unsere Krise: ein ‚Sinnverlust‘.“ (Auw 58 f.) Nietzsche hatte das die Entwertung der obersten Werte oder Nihilismus genannt (Einl., 1.5). Der Nihilismus führt nicht nur von Gott auf ‚den Menschen‘ zurück, er betrifft ‚den Menschen‘ mit.

2.1 Dissoziierung des Menschen in drei Systemtypen Nach der alten ontologischen Intention, in der wir noch immer zu denken gewohnt sind, ist ‚der Mensch‘ Element der Gesellschaft, das, woraus sie sich aufbaut. Darum denkt die humanistische, moralisierende und metaphysizierende Anthropologie ihn idealerweise gesellschaftskonform (SS, 286). Tatsächlich geht jedoch das am Menschen, was ihm fraglos zugehört und was man traditionell ‚Leib‘ und ‚Bewusstsein‘ nennt, nicht in die Gesellschaft ein, jedenfalls dann, wenn man Gesellschaft selbst wie Luhmann als bloßen Gegenstand der Kommunikation der Gesellschaft versteht, wenn Gesellschaft also in der Kommunikation über Gesellschaft besteht. Die komplexen und komplex verflochtenen physiologischen Systeme, die den ‚Leib‘ eines Menschen ausmachen und sein biologisches Leben ermöglichen, und das, was William James und Edmund Husserl als ‚Bewusstseinsstrom‘ begriffen, sind zwar in ihrem Bestand nicht

 Darin kann man, so Schimank, „Gespielter Konsens“, , eine anthropologische Aussage, eine „Minimal-Anthropologie“ sehen. Ja, nur keine auf Vernunft setzende, ‚humanistische‘.

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autarke, in ihrem Verhalten aber autonome, ‚eigengesetzliche‘ Beobachtungssysteme. Sie beobachten auf unterschiedliche Weise Unterschiedliches: der Leib, nach Luhmann das ‚physische System‘, das, was in der Umwelt den Ablauf der physiologischen Prozesse beeinflusst, das Bewusstsein oder das ‚psychische System‘ den Ablauf der Vorstellungen. Beide operieren insoweit getrennt, als die physiologischen Abläufe dem psychischen System weitestgehend verborgen bleiben. Es reagiert nur gelegentlich, etwa in Gefühlen von Schmerz oder Lust, auf sie; mit allem Weiteren wäre es hoffnungslos überfordert, der Bewusstseinsstrom würde, um im Bild zu bleiben, überfließen,¹⁹⁶ und das psychische System wäre dann nicht frei, den Kontakt zu dem herzustellen, was man die ‚Außenwelt‘ nennt. Das (physische) Gehirn seinerseits kann die Außenwelt nicht wahrnehmen. Es löst, wie wir heute annehmen, von physiologischen Reizen irritiert, im psychischen System lediglich Vorstellungen aus, das sie seinerseits unter limitierten Bedingungen zu Wahrnehmungen dessen strukturiert, was für das Bewusstsein dann als Gegenstand in der Außenwelt erscheint. Dass solche Gegenstände aber benannt und ihre Zusammenhänge untereinander bezeichnet werden können, setzt einen dritten Systemtypus voraus, nun also das System oder das System von Systemen der Kommunikation der Gesellschaft. Luhmann nannte sie ‚soziale Systeme‘ oder, da die Sozialität in der Kommunikation besteht, ‚kommunikative Systeme‘. Ihnen bleiben wiederum die psychischen Systeme verschlossen; wie psychische auf physische, so können auch kommunikative auf psychische nur reagieren, sich von ihnen ‚irritieren‘ lassen. Psychische Systeme sind ihrerseits an sozialen oder kommunikativen nur so ‚beteiligt‘, dass sie deren Operationen auslösen und in Gang halten. Dafür sorgt – so hatte es schon Nietzsche in FW 354 gesehen (Kap.VII, 3.2.2.) – das (psychische) Bedürfnis nach Kommunikation, nach Verständigung zunächst in Lebensnöten, dann, je mehr sich die Kommunikation ihrerseits etabliert und strukturiert, in allem Übrigen. So können Kommunikationen ihrerseits die psychischen Systeme überschwemmen, so dass diese wiederum die Kommunikationen beschränken, unter ihnen selektieren müssen. Sie können immer nur begrenzte Kommunikationen aufnehmen und verarbeiten. Die Schranken zwischen allen drei Systemtypen, den physischen, psychischen und sozialen, werden nur fallweise überschritten und stets so, dass sie einander „irritieren, aber nicht determinieren“ (TüS, 167). So kooperieren sie durchaus, und Menschen erfahren auch weitgehend

 Vgl. Gehlen, Der Mensch, : „Von der unglaublichen Kompliziertheit und Vollkommenheit der vegetativen und motorischen Vollzüge selbst haben wir keine Erkenntnisse und das Bewußtsein ist also offenbar nicht da, uns darüber zu belehren.“ Loukidelis, Anthropologie bei Nietzsche und Gehlen, weist wiederum auf die Nähe Gehlens zu Nietzsche (nicht nur) in diesem Punkt hin. Eine „Anthropologie bei Nietzsche“ wird dabei vorausgesetzt, aber nicht dargelegt.

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ein gutes Zusammenspiel ihrer Systeme, aber weil die Systeme innerhalb ihrer Schranken autonom operieren, empfiehlt es sich, sie als Systemtypen zu unterscheiden. Die Einheit ‚des Menschen‘ löst sich dann auf.¹⁹⁷ Das macht dem gewohnten Denken Schwierigkeiten, wird aber gerade im Blick auf die sozialen oder kommunikativen Systeme einleuchtend. Denn auch Kommunikationen operieren sichtlich autonom, nach ‚eigenen Gesetzen‘: Sobald Menschen in Kommunikationen eintreten, folgen sie weniger ihren physischen und psychischen Regungen und viel mehr den spezifischen Anforderungen der Kommunikation, die sie jene Regungen mehr oder weniger vergessen lassen. Kommunikationen bilden so gegenüber den physischen und psychischen neuartige Systeme, die sich auf ihre Weise reproduzieren, ‚am Leben erhalten‘, in einem Fortgang, den die beteiligten physischen und psychischen Systeme, ohne die er nicht möglich ist, zwar beeinflussen, aber nicht voll beherrschen können. Dazwischen liegt die doppelte Kontingenz der Verständigung (Kap. VI) und deren soziale Regelung: Die Kommunikationssysteme strukturieren (nicht determinieren), wie ‚man‘ zu sprechen hat und was man sagen darf, wie man zu handeln und nicht zu handeln hat, welche Rollen oder Funktionen man übernehmen, was man beanspruchen, genießen, hoffen kann und was nicht, was man wie zu rechtfertigen hat usw. Darin kann man mit Nietzsche ‚Gewalten‘ und mit Max Weber ein ‚stahlhartes Gehäuse‘ sehen, man kann darin aber auch von den physischen und psychischen Eigendynamiken Abstand gewinnen und sich dadurch befreit fühlen, in der Kommunikation aufgehen. In der Abhandlung Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt? ging Luhmann näher darauf ein. Danach kann man gut beobachten, dass psychische Systeme und Kommunikationssysteme einander nicht nur „irritieren“, sondern mehr: wie Kommunikation das Bewusstsein „fasziniert und okkupiert“. Dafür sorgen schon Sprache und Schrift, in denen Kommunikation sich vollzieht. Sprache und Schrift sind auffällige, weil mit allem sonst Wahrnehmbaren unvergleichliche und darum anziehende Wahrnehmungsgegenstände, die niemand sich selbst erfindet, sondern die von der Gesellschaft bereitgestellt werden (WBK, 40 f.). Das Bewusstsein wird, so Luhmann, auf diesem Weg von der Kommunikation „penetriert“, nimmt deren Strukturen in die eigenen auf. Es stellt ihr dafür auf Dauer einen „Freiraum“ zur Verfügung, in dem das Kommunikationssystem operieren und eigene Komplexität aufbauen kann (WBK, 41). Die Kommunikation nutzt die Spielräume des Bewusstseinsstroms als flüssiges „Medium“ und bildet darin feste „Formen“ oder „Strukturen“, die, weil sie als solche auffallen, erinnert

 Zu den Einwänden aus der traditionellen Sicht der aristotelischen scala naturae, wie sie z. B. Dziewas, Der Mensch, vorträgt, vgl. die Stellungnahme Luhmanns in demselben Band, .

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werden (WBK, 44; Kap. VI, 1.2); der Bewusstseinsstrom im Übrigen versinkt dagegen rasch ins Vergessen. Aber Kommunikationssysteme können andererseits nicht wahrnehmen; sie sind, um sich auf die ‚Außenwelt‘ zu beziehen, auf „Wahrnehmungsberichte“ psychischer Systeme angewiesen, die sie dann auf ihre Weise verarbeiten. Und gerade dazu muss kommuniziert werden (WBK, 45 f.). An die Stelle der ‚Einheit des Menschen‘ tritt so ein hochkomplexes Zusammenspiel unterschiedlicher Systemtypen. Wenn Nietzsche beklagte, dass „die Ausgesuchteren, Feineren, Seltsameren, schwerer Verständlichen“ nur in Strukturen von Kommunikationssystemen sprechen, also nicht individuell sprechen könnten und so mit ihrer Individualität „leicht allein“ blieben (JGB 268), so sind die Seltsameren doch auch die Selteneren, und die Selteneren können, wie Nietzsche selbst, die Kommunikationssysteme dann auch auf selten komplexe Weise nutzen.

2.2 Dislozierung des Menschen in die Umwelt der Kommunikation der Gesellschaft Soweit Luhmanns soziologische Systemtheorie die Spielräume im Zusammenspiel dessen aufdeckt, was man als Leib, Bewusstsein und (in Bezug auf die Kommunikation) als Geist innerhalb der Einheit ‚des Menschen‘ unterschieden hat, zeigt sie auch die unterschiedlichen Bezüge der drei Systemtypen zu dem auf, was man für die eine ‚Außenwelt‘ hielt. So befreit sie auch von dem philosophisch irreführenden Gegensatz ‚Mensch und Welt‘. An ihn hatte schon Nietzsche sein ‚Fragezeichen‘ gesetzt. Denn er verführt zu jenem Welt-Verneinen, Welt-Richten, Welt-Verbessern-Wollen, das seit dem 19. Jahrhundert besonders geschätzt wird und komische Formen annehmen kann: Die ganze Attitüde „Mensch gegen Welt“, der Mensch als „Welt-verneinendes“ Princip, der Mensch als Werthmaass der Dinge, als Welten-Richter, der zuletzt das Dasein selbst auf seine Wagschalen legt und zu leicht befindet – die ungeheuerliche Abgeschmacktheit dieser Attitüde ist uns als solche zum Bewusstsein gekommen und verleidet, – wir lachen schon,wenn wir „Mensch und Welt“ nebeneinander gestellt finden, getrennt durch die sublime Anmaassung des Wörtchens „und“! (FW 346)

Weil ‚Mensch‘ und ‚Welt‘ keine Einheiten darstellen, lassen sie sich auch nicht in Gegensatz zueinander bringen. Auch wenn man an den Namen ‚Mensch‘ und ‚Welt‘ festhält, und das scheint der Einfachheit halber unvermeidlich, kann es Menschen nur in der Welt und Welt nur in Vorstellungen von Menschen geben. Durch die Verabschiedung des begrifflichen Gegensatzes, die nach Nietzsche und Luhmann notwendig wird, bleiben jedoch drei Plausibilitäten unberührt, die nicht zu bezweifeln sind: Erstens können soziale Systeme nur dank psychischer Systeme

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und psychische Systeme wieder nur dank physischer Systeme, zusammen also dank konkreter (wörtlich: zusammengewachsener) Menschen operieren. Zweitens ist deshalb auch das Ich „immer da, wo sein Körper ist, und kann sich von da aus mit allem Möglichen befassen, ohne sich in der Welt außerhalb seiner selbst zu verlieren“ (OuE, 422). Drittens können konkrete Menschen ihrerseits psychisch und physisch nur „dank des sozialen Systems Gesellschaft […] so komplex sein wie sie sind“ (SS, 304). Dass das so ist, war seit jeher klar; darüber, wie es denkbar ist, wurde stets gestritten, meist unter Labels wie ‚Leib-Seele-Problem‘, ‚Kultivierung der Natur‘, ‚objektiver Geist‘. Der Streit war offensichtlich nicht entscheidbar. Luhmann wollte denn auch keine weitere Erklärung geben, sondern mit Hilfe der Systemtheorie die Fragestellung auf eine Weise neu ordnen, dass Erklärungen im traditionellen Sinn überflüssig werden. Mit der systemtheoretischen Umorientierung verändert sich ‚die Stellung des Menschen im Kosmos‘, wie sie Scheler noch angesprochen hatte, nicht nur; mit dem alten Kosmos verschwindet auch der alte Mensch und das Bedürfnis, seine Stellung im Kosmos festzustellen. Darauf wollte auch Foucault mit seiner Rede vom „Ende des Menschen“ hinaus.¹⁹⁸ Man muss und kann inzwischen die ‚Bestimmung des Menschen‘ nicht mehr darin sehen, ein guter, edler und hilfreicher Teil einer guten, edlen und hilfreichen Gesellschaft zu sein oder zu werden, und dieses Gute, Edle und Hilfreiche auch nicht mehr in einem wohlgeordneten Kosmos lokalisieren und als von der Natur vorgegeben oder von der Vernunft vorgeschrieben annehmen. Das schließt nicht aus, ‚konkrete Menschen‘ als moralisch, politisch und juristisch verantwortliche ‚Personen‘ zu adressieren, ‚Person‘ verstanden als „ein Symbol für die Fähigkeit zur Teilnahme an Kommunikation“, als soziale „Identitätsmarke“. Darin ist dann schon „Berechenbarkeit“ für die Kommunikation, wenn nicht ‚Vernunft‘ eingerechnet.¹⁹⁹ ‚Personen‘ in diesem Sinn aber „leben nicht, sie denken nicht, sie sind Konstruktionen der Kommunikation für Zwecke der Kommunikation“, kurz, eine „operative Fiktion“ der Kommunikation der Gesellschaft. Im Übrigen bleibt ‚der Mensch‘ für die Kommunikation und damit weitgehend auch für ihn selbst nach Luhmann und auch schon nach Nietzsche eine „‚black box‘“ in der Umwelt der Kommunikation der Gesellschaft (OuE, 90 – 92). ‚Der Mensch‘ wird in die Umwelt

 Foucault, Die Ordnung der Dinge,  – . Wir werden hier nicht weiter darauf eingehen können. Zum Anschluss Foucaults an Darwin und Nietzsche dabei vgl. Erb, Evolution, Genealogie und ‚Gegen-Anthropologie‘.  Rationalität bekam schon bei Max Weber neben dem Sinn der Vernünftigkeit den der bloßen Berechenbarkeit, der ‚Mittelabwägung‘, ‚methodischen Planung‘, ‚effizienten Durchführung‘, ‚hinreichenden Erklärung unter gegebenen Umständen‘, die in ‚logischer Durchsichtigkeit‘ und ‚vollkommen einsichtiger Begründung‘ gipfeln können, aber nicht müssen (vgl. Hoffmann/Rolke/ Gosepath, Art. Rationalität, Rationalisierung).

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der Gesellschaft disloziert. Dadurch wird er nicht abgewertet, im Gegenteil; die Umwelt eines Systems ist nichts Minderwertiges, Luhmanns System-Umwelt-Unterscheidung keine Wertunterscheidung. Da die Umwelt „im Vergleich zum System eben derjenige Bereich der Unterscheidung [ist], der höhere Komplexität und geringeres Geordnetsein aufweist“, werden der Blackbox Mensch durch die Systemtheorie gerade „höhere Freiheiten im Verhältnis zu seiner Umwelt konzediert“ (SS, 289). Und unter diesen Bedingungen können natürlich weiterhin Menschen als edel, hilfreich und gut beschrieben werden, nun aber einzelne Menschen. Als „differenzgesteuerte“ (SS, 328) und damit paradoxe Einheit unterschiedlicher autonomer Systeme bleiben konkrete Menschen überraschend, für soziale Systeme ebenso wie für andere psychische Systeme. Sie sind gerade nach der soziologischen Systemtheorie individuell: Die Theorie operativ geschlossener, autopoietischer Systeme, die zu einer vollständigen Trennung von psychischen und sozialen Systemen zwingt, […] ist radikal antihumanistisch, wenn unter Humanismus eine Semantik verstanden wird, die alles, auch die Gesellschaft, auf die Einheit und Perfektion des Menschen bezieht. Sie ist zugleich eine Theorie, die im Unterschied zur humanistischen Tradition, das Individuum ernst nimmt. (GpsS, 36)

Damit werden Individuen nicht schon als moralisch normierte oder zu normierende vorausgesetzt, sondern auch in der Theorie zur Kenntnis genommen, dass jedes Individuum anders sein und sich verhalten kann und darf als jedes andere. Auf dieser Basis wird erst ausgehandelt, worin Individuen ihr Verhalten wechselseitig einschränken. Das kann durch explizite Vereinbarungen oder durch gesetztes Recht geschehen, aber auch schon durch sich einspielende Routinen. Generalisierungen bleiben ihrerseits begrenzt, vielfältig und beweglich. „Individualisierung bedeutet ja“, wie Luhmann ebenfalls in einem Interview formulierte, „daß die Partner stärker auf sich wechselseitig Rücksicht nehmen und stärker auf das eingehen müssen, was jeweils für den anderen wichtig ist, ohne dabei sicher zu sein, daß das, was der andere wichtig nimmt und was für ihn Bedeutung hat, nun allgemein wichtig ist.“ (Auw, 69) Individuen fügen sich auch und gerade für den Soziologen Luhmann nicht einfach in soziale Ordnungen ein, sondern „tragen sozusagen ihre Lebendigkeit bei. […] Ihr Beitrag ist gerade Instabilität“ (SdM, 31/ MorG, 84). Luhmann ist für seine mutige Dislozierung des Menschen in die Umwelt der Gesellschaft wenig bewundert und viel gescholten worden. Er wandte darauf ein, es sei „nicht einzusehen, weshalb der Platz in der Umwelt des Gesellschaftssystems ein so schlechter Platz sein sollte. Ich jedenfalls würde nicht tauschen wollen.“ Sofern Humanismen die Menschheit im Ganzen erziehen wollen, damit stets nur zweifelhaften Erfolg hatten und zuletzt, im 20. Jahrhundert, die schwersten Menschheitskatastrophen nicht nur nicht verhindern konnten, son-

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dern vielleicht sogar mit ermöglicht hatten, sprechen nach Luhmann „alle Erfahrungen […] für Theorien, die uns vor Humanismen bewahren“. Sie gehen von „Denkvoraussetzungen“ aus, „die heute schlechterdings unakzeptabel sind“, und blockieren „den theoretischen Zugang zu einer hinreichend komplexen Beschreibung der modernen Gesellschaft“ (TüS, 167 f.). Dazu kommt, so Luhmann wiederum in einem Interview, dass ‚der Mensch‘ „kaum ein befriedigendes Ersatzangebot für Gott“ sei, und zwar nicht wegen der Qualitätsdifferenz, die man ja bestreiten könnte, um die es ja gerade geht, sondern wegen des zu geringen Informationswertes und der ideologisch-politischen Ausbeutbarkeit. Im Namen Gottes zu kämpfen, ist schon schlimm genug. Im Namen des Menschen zu kämpfen, ist geradezu absurd, weil ja auf der anderen Seite auch Menschen stehen. (NuG, 105)

Im Namen ‚des Menschen‘ können Völker ermordet werden. Daher Luhmann: „Wenn jemand weiß, was der Mensch ist, ist er mir politisch suspekt und nicht nur politisch.“ (NuG, 116)

3 Das Bedürfnis der Orientierung an Menschen Luhmann wollte den Einwand gegen die theoretische Dissoziierung des Menschen und seine Dislozierung in die Umwelt der Kommunikation der Gesellschaft nicht gelten lassen, den er „normalerweise zu hören“ bekommen habe: Letztlich seien es doch immer Menschen, Individuen, Subjekte, die handeln bzw. kommunizieren. Demgegenüber möchte ich behaupten, daß nur die Kommunikation kommunizieren kann und daß erst in einem solchen Netzwerk der Kommunikation das erzeugt wird, was wir unter Handeln verstehen. (WiK, 113)

Handeln und kommunizieren kann man fraglos nur in Kommunikationszusammenhängen der Gesellschaft. In sie sind nur kommunikativ adressierte Personen, nicht Leiber und Bewusstseine und somit nicht ‚ganze‘ Menschen einbezogen, und ‚Handeln‘ ist bereits eine kommunikative Zuschreibung mit moralischen und rechtlichen Implikationen. Luhmanns soziologischer Lehrer in den USA, Talcott Parsons, hatte noch versucht, Gesellschaftstheorie auf Handlungstheorie aufzubauen, und Handlungen noch mit Handlungssubjekten (actors), Handlungssubjekte mit individuellen Menschen und sie wiederum mit ihren jeweiligen Kognitionen, Zielen und Affekten verbunden, die er ihrerseits eng miteinander verschränkte. Dabei hatte er stets einen ‚Willen‘ zum Handeln vorausgesetzt und diesen Willen in die ‚Affekte‘

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eingebettet und durch ‚Normen‘ eingehegt.²⁰⁰ An diesen ‚Bindungen‘ hielt er auch noch fest, als er den ‚Voluntarismus‘ der Handlungstheorie zugunsten eines ‚Strukturfunktionalismus‘ und einer ‚Systemtheorie‘ zurückließ, durch die dem Handeln eine feste Struktur und dadurch der Gesellschaft eine stabile Ordnung gesichert werden sollte. Beide sollten empirisch beobachtet, erforscht und so immer weiter differenziert werden können. Parsons setzte dazu auch umfassend den Begriff Orientierung ein, als Orientierung des Aktors an seiner ‚Situation‘. In der Situation suchte er freilich schon ‚Schemata‘ und ‚dominante Muster‘, zusammengefasst ‚Strukturen‘ festzustellen; auch die Orientierung gliederte er im Sinn der alten Unterscheidung von Denken, Wollen und Fühlen nach drei ‚Orientierungsmodi‘, dem ‚kognitiven‘, ‚teleologischen‘ und ‚affektuellen‘. Dabei behandelte er bereits die Orientierung selbst als Handlungssubjekt, nicht als bloße Fähigkeit des Menschen; so konnte sich auch die Gesellschaft orientieren. Die Theorie der Gesellschaft entwickelte er jedoch nicht vom Orientierungsbegriff aus weiter. Auch Luhmann nicht. Er schloss an Parsons’ sogenannten Strukturfunktionalismus an im Sinn des Programms, die Funktionen von sich festigenden Strukturen für das Funktionieren von Gesellschaft zu erforschen. Er schätzte Parsons’ Absicht hoch, endlich überhaupt eine allgemeine Theorie der Gesellschaft zu entwickeln, auf die hin er die bisherige Soziologie ebenso gründlich wie vergeblich durchforscht hatte. Durch den Ansatz bei der Handlung und deren Bindung an Subjekte und Menschen vereitelte Parsons nach Luhmann aber gerade eine solche Theorie, die ihm, Luhmann, erst im Ausgang von der generell einsetzbaren Differenz von System und Umwelt und deren Differenzierung nach Systemtypen möglich schien. Die für Parsons erstrangige ‚Wertorientierung‘ trat damit ins zweite Glied. Luhmann verwies sie an einen spezifischen Systemtyp, den kommunikativen, ohne dass sie sich, wie sich dann zeigte, darum selbst schon als spezifisches Funktionssystem fassen ließ (Kap. VIII). Der Begriff der Orientierung wurde so frei für weitere Verwendungen, und Luhmann machte auf seine Weise weiterhin lebhaften und differenzierten Gebrauch von ihm, doch nur zur gelegentlichen Plausibilisierung seiner Theorie. Sie blieb bei ihm Randbedingung, wurde nicht integraler Teil der Theorie (Einl., 1). Doch mit der Verdrängung der Orientierung an den Rand seiner Theorie geriet ihm ein bedeutsames Stück Realität aus dem Blick. Dabei wurde es gerade durch seine Theorie sichtbar – Luhmann hätte gesagt: für andere, daran interessierte  Das wird besonders gut sichtbar in dem Entwurf, den Parsons kurz nach seinem erstem Hauptwerk The Structure of Social Action () erarbeitet hatte und der unter dem Titel Actor, Situation and Normative Pattern. An Essay in the Theory of Social Action posthum veröffentlicht wurde.

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Beobachter seiner Theorie. Indem er den Menschen als physisches und psychisches System in der Umwelt der sozialen Systeme lokalisierte, gab er ihm die genannten „Freiheiten“ zurück (SS, 289), im Ganzen die Freiheit, sich seinerseits autonom zu den sozialen Systemen zu verhalten, sich gegen sie zurückzuhalten oder sich in ihnen zu engagieren, sich auf sie einzulassen oder sich ihnen zu entziehen, sich also „eine Systemreferenz zu wählen“ (TüS, 165 f.; Kap. IV, 3). Wie und wie weit das möglich ist, hängt auch von den jeweiligen Systemen selbst ab: „Man kann – in der modernen Gesellschaft – sehr gut ohne Religion und vielleicht ohne Kunst leben. Man kann aber nicht ohne Recht und ohne Geld leben.“ (Auw, 79) In Gesellschaft lebende Menschen können sich nicht völlig aus den Funktionssystemen ihrer Kommunikation heraushalten, sie sind, auch wenn sie nicht unmittelbar kommunizieren, in ihrem Dasein und ihrem Verhalten durch und durch von ihnen abhängig, nicht autark. Doch ihnen bleibt ihre Autonomie in Gestalt ihrer Spielräume gegenüber den sozialen Systemen – es ist die Freiheit ihrer eigenen und unvermeidlich individuellen Orientierung. Orientierung darf dann nicht schon wie bei Parsons (und vielen andern) als gebundene angesetzt werden, sondern gerade frei von Bindungen und zumal von Bindungen an Werte. Orientierungen können heute auch über ihre Wertbindungen in großen Spielräumen selbst entscheiden (Kap. VIII, 6). Der Begriff der Orientierung überschreitet damit den Ansatz bei der Theorie der Gesellschaft. Orientierung ist fraglos, auch schon für Parsons, ein Beobachtungssystem, und sie ist, wie das luhmannsche System, ebenfalls nur als Differenz zu fassen, als Differenz von Orientierung und Situation (Kap. IV, 4). Die Orientierungssituation ist jedoch entgegen Parsons’ Annahme nicht schon von Grund auf eingeschränkt, sondern für alle Entscheidungen offen, auch wenn die jeweiligen Entscheidungen immer nur unter jeweiligen Beschränkungen fallen. Und die Differenz von Orientierung und Situation fällt auch nicht mit der Differenz von System und Umwelt zusammen. Auch zwischen ihnen bleibt eine Differenz oder Distanz. Die Differenz von Orientierung und Situation setzt weiter an und lässt größere Spielräume als die Differenz von System und Umwelt; dieser weitere Ansatz ist der Philosophie eher möglich als einer Fachwissenschaft wie der Soziologie, selbst der in sich schon stark philosophischen soziologischen Systemtheorie (Kap. XII). So kann man philosophisch auch die Orientierung nach Orientierungstypen wie leiblicher, bewusster und kommunikativer differenzieren; als unterschiedliche Beobachtungssysteme sind sie auch unterschiedliche Orientierungssysteme. Doch Orientierung ist nicht auf diese oder andere Differenzierungen festgelegt. In ganz unterschiedlichen Situationen muss sie frei sein, auch ganz unterschiedliche Beobachtungs-, Unterscheidungs- und Entscheidungsmöglichkeiten zu finden, die jeweils brauchbare Handlungsmöglichkeiten eröffnen. Eine Theorie dagegen muss sich als Theorie auf eine Ausgangsdifferenz oder mehrere

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festlegen und hat damit, explizit oder implizit, schon Orientierungsentscheidungen getroffen, die sie dann nur noch reflektieren und dabei bestenfalls verschieben kann (Kap. III, 6). Luhmann hat sich für seine soziologische Systemtheorie für die Leitunterscheidung von System und Umwelt entschieden und ist dabei geblieben, wie immer er auch seine Theorie reflektiert und umgebaut hat. Sie stand mit dem Einsatz der Theorie fest und kann unabhängig von ihr dann nur noch von außerhalb, hier von der Philosophie der Orientierung aus, als Orientierungsentscheidung beobachtet werden. Wendet man ein, das gelte dann auch für die Philosophie der Orientierung und ihre Leitunterscheidung von Orientierung und Situation, wird man mit Nietzsche entgegnen, „nun, um so besser“ (JGB 22). Die Unterscheidung von Orientierung und Situation lässt ihren Selbstbezug nicht nur zu, sondern operiert ständig mit ihm, wie die Systemtheorie mit der Unterscheidung von System und Umwelt (Kap. II, 3.2). Als Philosophie der Orientierung kann sie sich durchgehend an eine Leitunterscheidung halten, als konkrete Orientierung muss sie das nicht. Die Philosophie der Orientierung befreit sie gerade dazu, sich erst in jeweiligen Situationen auf jeweilige Unterscheidungen festzulegen, dann, wenn es zum Handeln unter Zeitdruck kommt. Die Orientierung kann dann ihre Entscheidungsspielräume so verengen, dass ein bestimmtes Handeln als ‚unmittelbar geboten‘, ‚alternativlos‘, ‚zwingend‘ erscheint und so dann auch vollzogen wird. Sie kann dabei Handlungssubjekte postulieren und sich selbst als ein solches sehen (‚Verantwortung übernehmen‘), kann sich aber auch als Bewusstsein verstehen, das anderen Bewusstseinen verborgen bleibt und sich eigene Motive vorbehält (die ‚niemanden etwas angehen‘), oder als Körper, der sein auch dem Bewusstsein verborgenes Eigenleben hat (und sich mit ihm ‚entschuldigen‘). Und ebenso kann sie die Orientierung konkreter Menschen in die Umwelt der Gesellschaft versetzen und damit die Gesellschaft als deren Umwelt ansehen. Sie ist offen für konkrete Menschen und besonders an ihnen interessiert. Denn jede Orientierung muss damit rechnen, dass auch andere Orientierungen Freiheiten haben und von ihnen Gebrauch machen. Da Orientierungen getrennt, insbesondere Bewusstseine füreinander undurchschaubar sind, stellen andere Orientierungen deshalb die größte Herausforderung für Orientierungen dar. Und diese anderen Orientierungen treten zunächst leiblich auf: Konkrete Menschen mit ihrem unauslotbaren Potential eigener Orientierungen und Orientierungsentscheidungen können die Situation anderer, wenn sie in sie eintreten, vollkommen verändern. Menschen fallen anderen Menschen in Orientierungssituationen besonders auf, ziehen alle Aufmerksamkeit auf sich und erwecken das stärkste Bedürfnis nach Orientierung. Es sind nicht erst und vor allem, wie Luhmann immer wieder betonte, Sprache und Schrift, ‚symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien‘, wie er sie nannte, die die menschliche Orientierung

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unmittelbar faszinieren, irritieren und okkupieren, und auch nicht Personen in definierten sozialen Rollen, sondern gerade das Undefinierte an Menschen, eben weil man letztlich nie weiß, womit bei ihnen zu rechnen ist.²⁰¹ Am deutlichsten wird das in der unmittelbaren Interaktion, dem Von-Angesicht-zu-Angesicht, der spannungsvollsten Situation unter Menschen (Kap. VI, 3.3).²⁰² Kommt es zu einer Begegnung ‚auf Augenhöhe‘, startet ein uralt eingefleischter Prozess des prüfenden Blick-Suchens und Blick-Vermeidens: Da wird blitzschnell und kaum bewusst, aber mit oft weitreichenden Folgen für den künftigen Umgang miteinander entschieden, ob beide, auch in definierten sozialen Rollen, ‚miteinander können‘ oder nicht und ob und wie sie sich darum aufeinander einlassen werden, in soziologischer Sprache also über Inklusion und Exklusion und damit über Gruppenund Gesellschaftsbildung überhaupt. Doch das ist nur die eine Seite, das Bedürfnis der Orientierung von Menschen über Menschen. Mit deren Ungewissheiten wächst zugleich das Bedürfnis der Orientierung an Menschen. In der Ungewissheit der eigenen Orientierungsentscheidungen wird bei anderen Orientierungen auch und gerade Gewissheit gesucht; man traut den eigenen Orientierungsentscheidungen mehr, wenn andere sie teilen. Kleinkinder stehen noch kaum vor eigenen Orientierungsentscheidungen; es bleibt ihnen nur, sich an die Menschen zu halten, die sie, wie auch immer,versorgen. Sie müssen sich ganz an ihnen orientieren, ihnen voll vertrauen. Allmählich wachsen die Differenzierungsmöglichkeiten und Orientierungsalternativen: Man kann sich wechselnd Eltern, Erzieherinnen, Freunden, Gruppen, Lehrern usw. zuwenden, muss aber auch ihnen jeweils stark vertrauen. In der Pubertät wird eine betont eigene Orientierung ertrotzt, die Alternativität der Orientierung überhaupt freigesetzt; es gibt andere Orientierungswelten als die der eigenen Familien und Lebensgemeinschaften; man kann sich mehr Misstrauen erlauben und muss es, wenn man eigene Weg gehen will. Dennoch bleibt man

 In einer frühen Arbeit von , Normen in soziologischer Perspektive, geht auch Luhmann davon aus, dass „angesichts anderer Menschen mit besonderer Verschärfung“ der „allgemeine Druck übermäßiger Komplexität und Kontingenz“ zu spüren sei, „eine neue Dimension der Komplexität, die neue Chancen und Risiken mit sich bringt, deren Ausnutzung und Bewältigung besondere Anforderungen stellt“. Die Chancen lägen in der Möglichkeit, „die Perspektiven des anderen zu übernehmen“, die Risiken darin, sich gegen alle Wahrscheinlichkeit mit ihm gleichzusetzen und darum Enttäuschungen zu erleben (MorG, ).  Erst Emmanuel Levinas hat das face-à-face in den Mittelpunkt der Frage nach dem Menschen gestellt und von Grund auf neue Folgerungen für die Ethik daraus gezogen – nicht humanistische im alten Sinn. Humanistische Anthropologien und Ethiken gingen und gehen von schon entspannten, besonnenen, aller Interessen und Leidenschaften möglichst entblößten, ganz der Vernunft ergebenen Menschen aus, die dann mit umso mehr Leidenschaft ein ‚edles, gutes und hilfreiches‘ Interesse füreinander entwickeln sollen.

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weiterhin, auch noch als Erwachsener, in den meisten Belangen auf vertrauensvolle Orientierung an anderen Menschen angewiesen, zumal wenn es sich um spezialisiertes Wissen handelt. Man muss sich auf Techniker, Büroangestellte, Ärztinnen, Anwälte usw. verlassen, wenn man sie braucht. Aber man ‚schenkt‘ ihnen am ehesten Vertrauen, wenn sie nicht nur durch Professionalität, sondern auch als konkrete Menschen überzeugen. Das hat auch Luhmann eingestanden. Auch er räumte insoweit die Unvermeidlichkeit der Orientierung an Menschen ein – und kam dabei selbst auf den Begriff der Orientierung zurück: Man kann natürlich überhaupt nicht auf Personen verzichten, sonst würde man auf Kommunikation verzichten. Und man kann außerdem auch nicht verzichten auf Orientierung an Namen im Betrieb. […] Wenn ich mich selbst betrachte, kann ich beobachten, daß das auch mit mir passiert, aber das bedeutet nicht unbedingt, daß ich mich mit diesem Konzept identifizieren muß. Ich sehe nur, daß man so beobachtet wird, ich sehe, daß ich auch so beobachte, ich sehe, daß die personalisierte Beobachtung eine unerläßliche Orientierungsvereinfachung ist. (Auw, 22)

Die personalisierte Beobachtung, hier die Beobachtung konkreter Menschen, ist dann eine Orientierungsvereinfachung, wenn man sich die Orientierung an Menschen einfach vorstellt. In jedem Fall ist sie, auch für Luhmann, unerlässlich. Auch zu den luhmannschen Funktionssystemen und Organisationen der Kommunikation der Gesellschaft ist der Zugang am leichtesten über die, die sie ‚vertreten‘. Sie werden dann zu ‚Gesichtern‘, ‚Aushängeschildern‘, ‚Repräsentant(inn)en‘, ‚Symbolen‘ der Funktionssysteme und Organisationen. Ein freundlich sich kümmernder Arzt kann einer Patientin eine schwer durchschaubare Krankenhausorganisation, eine ruhig zuhörende Richterin einem Beklagten ein beängstigendes Justizsystem annehmbar machen und ein sich auf Kindesmissbrauch einlassender Priester die ganze Kirche in Misskredit bringen. Auch Medien orientieren so: Funktionszusammenhänge werden anhand von Menschen präsentiert, die von ihnen betroffen sind, Zahlen, etwa von Todesopfern in einem Bürgerkrieg, ‚besagen‘ erst etwas, wenn sie an konkreten Schicksalen vor Augen geführt werden. So nehmen Medien das offenbar in allen Kulturen verbreitete Bedürfnis der Orientierung an Menschen auf. Geschichten über individuelle Menschen, wie auch immer medial zurechtgemacht, sind Gegenstand laufend neuer Gespräche, Erzählungen, Dramen, Filme usw. Sie rüsten die alltägliche Orientierung mit einem Spektrum von Handlungsmöglichkeiten in mehr oder weniger vergleichbaren Situationen aus und wappnen so vor allzu großen Überraschungen. Theoretiker sehen das Bedürfnis der Orientierung an Menschen gerne als unter der Würde einer Theorie an, und auch Luhmann scheint es so gesehen zu haben, hält man sich an die Darlegungen seiner Theorie. Doch auch die Plausibilität einer Theorie kann davon abhängen, ‚was für Leute sie vertreten‘, und es ist

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darum gut, etwas von ihnen zu wissen. So wächst der Markt für Biographien und, wenn die Betroffenen lieber gleich selbst über sich orientieren, für Autobiographien. Luhmann wollte beides nicht, Nietzsche schon. Dennoch setzt die Orientierung an Menschen nicht schon die ‚Einheit des Menschen‘ voraus, auch und gerade sie nicht. Das Bedürfnis der Orientierung an Menschen kann sich ebenfalls ganz unterschiedlich erfüllen. Es setzt noch vor der Unterscheidung von Leib und Bewusstsein, physischem und psychischem System an. Wie alles Übrige stellen sich andere Menschen der Orientierung zuerst als ein weites Feld von Anhaltspunkten dar, in denen sie Muster konstruiert, um sich vorläufig an sie zu halten und sie laufend zu revidieren. Jede Orientierung sucht und wählt in ihrer Situation nach ihren Bedürfnissen und aufgrund ihrer Erfahrungen ihre Anhaltspunkte, versucht es mit ihnen, experimentiert mit ihnen und entscheidet schließlich über ihre Haltbarkeit und weitere Brauchbarkeit. Sie kann die Anhaltspunkte und wird sie meist auch – das systemtheoretische Schema liegt hier fraglos nahe, schon weil es lange eingewurzelten Schemata folgt – in kommunikative, psychische und physische unterscheiden, beobachten, was jemand sagt, wie er oder sie es sagt, was sie damit ausdrückt und wie ihr Körper dabei mitspricht. Die Frage ist dann aber, wie solche Anhaltspunkte zusammenpassen. Die Differenzierung nach (kommunikativen) Aussagen, (psychischem) Ausdruck und (physischer) Körpersprache ist nur aufschlussreich, wenn sie wieder zusammengebracht werden. Das hat die Orientierung ständig zu leisten und sie hat dabei stets wieder Orientierungsentscheidungen zu treffen. Das gilt auch noch für die Kontrolle des Sprechens und Handelns anderer an sozialen Rollen und Normen. Für die Orientierung sind auch sie zunächst Anhaltspunkte, denen jeweils geringeres oder stärkeres Gewicht zukommen kann. Unterschiedlichen Menschen werden hier unterschiedliche Spielräume zugestanden und nochmals unterschiedliche in unterschiedlichen Situationen. Das gilt vor allen gesellschaftstheoretischen Strukturierungen der Orientierung. In der alltäglichen Orientierung wird meist gar nicht bis zu ‚dem Menschen‘ und auch nicht bis zu ‚der‘ Kommunikation der Gesellschaft abstrahiert, nach deren Theorie ‚der Mensch‘ dann in drei Systemtypen zerfällt. Dabei ginge die vor allen andern bedeutsame Orientierung an konkreten anderen Menschen verloren. Um ‚den Menschen‘ geht es erst dann, wenn konkrete Menschen nach abstrakten Begriffen verglichen, beurteilt und bewertet werden; das kann sich bis zum Bedürfnis nach Anthropologien steigern. In der alltäglichen Orientierung werden Menschen dagegen weniger auf ‚den Menschen‘ hin generalisiert als auf Charakteristika hin typisiert. Typisierungen halten Orientierungsentscheidungen offen und sie geraten nicht in die eingangs genannten Dilemmata von Anthropologien. Und an Typisierungen hat sich nicht nur Luhmann, sondern auch Nietzsche in

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seiner Auflösung der Einheit des Menschen orientiert. Er setzte die Typisierung aber auf aufschlussreiche Weise anders an.

4 Nietzsches Auflösung der Einheit des Menschen Nietzsche wusste, dass sich nur Menschlich-Allzumenschliches über Menschen sagen lässt, nichts rein Theoretisches, kaum etwas Metaphysik- und Moralfreies, und dass Menschen nur unter schwer zu erwerbenden Bedingungen über ihre lebensnotwendigen Ideale hinaussehen können. Er machte die Not zur Tugend und die unvermeidlich perspektivische Rede vom Menschen selbst zum Thema, gerade was Philosophen und Soziologen betraf, setzte also auch hier selbstbezüglich an (Kap. II, 1) und nahm sein eigenes Philosophieren davon nicht aus. Mit dem Selbstbezug konnte er sich der Verführung durch metaphysische und moralische Versuchungen entziehen und in einer Beobachtung zweiter Ordnung die Beobachtungen ‚des Menschen‘ durch Menschen beobachten. So erschloss er das Menschlich-Allzumenschliche in bisher nicht gekannter Weite, Tiefe und Komplexität. Eben deshalb hielt er an der Rede von ‚dem Menschen‘ fest, nun jedoch ohne die Schranken des humanistischen Ideals. Er behielt ‚den Menschen‘ im Blick, aber als Spezies in der Evolution, und dissoziierte ihn ebenfalls durch Typen – nicht jedoch Typen von Beobachtungssystemen, sondern von Orientierenden und der Orientierung Bedürftigen. Nietzsche hat keine ‚Anthropologie‘ im engeren Sinn formuliert und nicht einmal den zu seiner Zeit längst gängigen Begriff gebraucht.²⁰³ Bei aller Schätzung  Nur im frühen Nachlass heißt es einmal: „Alle Naturwissenschaft ist nur ein Versuch, den Menschen, das Anthropologische zu verstehen: noch richtiger, auf den ungeheuersten Umwegen immer zum Menschen zurückzukommen. Das Aufschwellen des Menschen zum Makrokosmos, um am Ende zu sagen ‚du bist am Ende, was du bist‘.“ (NL /, [], KSA .) Zuletzt gebrauchte Nietzsche einmal den Begriff „Anthropologen“, doch sehr einschränkend: „Die Anthropologen unter den Criminalisten sagen uns, dass der typische Verbrecher hässlich ist: monstrum in fronte, monstrum in animo.“ (GD Sokrates ) Dass Nietzsche keine Anthropologie formulierte, schließt natürlich nicht aus, eine solche aus seinen Texten zu erheben. In der Blütezeit der Philosophischen Anthropologie, der ersten Hälfte des . Jahrhunderts, war das fast unumgänglich. So veröffentliche Heinz Heimsoeth, überzeugter Nationalsozialist und damals zudem Dekan der Kölner Philosophischen Fakultät,  einen Beitrag „Zur Anthropologie Friedrich Nietzsches“, in dem er sich jedoch ganz auf Nietzsches Texte konzentrierte und Bezüge auf das nationalsozialistische Rassedenken vermied (was ihm dann auch Schwierigkeiten mit Parteidenkern einbrachte). Jüngst hat Richard Schacht (Nietzsche and Philosophical Anthropology) Nietzsche fern jeglichen Ideologieverdachts, aber auf ähnliche Weise wieder für die Anthropologie zu gewinnen versucht. Er charakterisierte Nietzsches „Anthropologie“ dabei als strikt „naturalistisch“: Liest man ‚naturalistisch‘ als ‚anti-idealistisch‘, kann man dem folgen. In einem

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Feuerbachs machte er auch dessen Transformation der Theologie in Anthropologie nicht mit. Stattdessen ließ er seine Figur Zarathustra gleich bei deren erstem Auftritt unter den Menschen auf dem Markt gegen den ‚letzten Menschen‘ polemisieren.²⁰⁴ Mit dem ‚letzten Menschen‘ scheint eben der gemeint zu sein, der an einer einheitlichen und letztgültigen Definition des humanen Menschen interessiert ist, der nun völlig mit sich zufrieden ist und nicht mehr über sich hinaus will. Zarathustra schilt ihn dafür als den „verächtlichsten Menschen, der sich selber nicht mehr verachten kann“ (Z I Vorrede 5). Der evolutionistische Kontext wird klar markiert: Ihr habt den Weg vom Wurme zum Menschen gemacht, und Vieles ist in euch noch Wurm. Einst wart ihr Affen, und auch jetzt noch ist der Mensch mehr Affe, als irgend ein Affe. (Z I Vorrede 3).

Gegen die Normierung und Idealisierung eines noch so humanen Mittelmaßes ‚des Menschen‘ stellte Nietzsche in seinem folgenden Aphorismenbuch Jenseits von Gut und Böse, das „nützliche Fingerzeige zum Verständnis des […] schwerverständlichen Werkes [Also sprach Zarathustra] abgeben“ sollte (KSA 14.345), seine berühmte Anti-Definition, „der Mensch“ sei „das noch nicht festgestellte Thier“ (JGB 62). ‚Noch nicht festgestellt‘ heißt auch in diesem Kontext: Noch in der Evolution und darum nicht als bleibendes Wesen fest-zustellen; ‚letzte‘ Bestimmungen, Wesensdefinitionen, ‚stellen‘ etwas sich laufend Fortentwickelndes im Doppelsinn ‚fest‘.²⁰⁵ Nietzsche vermied die Fest-Stellung eben dadurch, dass er Menschen

weiteren Beitrag (Kant, Nietzsche und ‚der Mensch‘, ) bezeichnete Schacht Nietzsches „Anthropologie“ als „begrifflich schärfer, methodologisch schlüssiger, wissenschaftlich anspruchsvoller“ als die Kants; durch sie werde philosophische Anthropologie „intellektuell“ erst „achtbar“. Das dürfte überzogen sein; Kants „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ sollte ja lediglich dessen – intellektuell höchst achtbare – Moralphilosophie ergänzen.  Von „Zarathustras’ Vorrede“ gehen auch schon Meckel, Der Weg Zarathustras als der Weg des Menschen, und Gillespie, Nietzsche and the Anthropology of Nihilism, aus. Meckel bezieht dann auch das ganze weitere Werk Z ein, Gillespie die Rede „Von den drei Verwandlungen“, mit der Teil I beginnt. Dessen Verknüpfung von Anthropologie(‐Kritik) und Nihilismus kann ich mich nicht anschließen. Nach Meckels gründlichen Interpretationen kreist die „Anthropologie Nietzsches“ um den im Schaffen, im Lieben und im Kampf mit dem Geist der Schwere über sich hinausgehenden Menschen.  Wir werden, wenn der Doppelsinn des Definierens und Anhaltens gemeint ist, ‚fest-stellen‘ auch künftig mit Trennstrich schreiben. Gehlen, Der Mensch, seine Natur und seine Stellung in der Welt, , umschreibt den Doppelsinn etwas gewunden so: Das Wort ‚festgestellt‘ „meint erstens: es gibt noch keine Feststellung dessen, was eigentlich der Mensch ist, und zweitens: das Wesen Mensch ist irgendwie ‚unfertig‘, nicht ‚festgerückt‘“. Gehlen will als Anthropologe an diesem „Wesen Mensch“ festhalten.

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als Tiere unter anderen betrachtete. Im Zeithorizont der Evolution werden Bewusstsein, Sprache, Vernunft, Geist, die höchste Humanität garantieren sollten, dann zu noch ganz ungefestigten Errungenschaften (FW 11). Sie könnten sich in Zukunft als ebenso lebensgefährdend wie lebensfördernd herausstellen, der ihnen gegenüber lange gering geschätzte Verband der Instinkte dagegen als lebenserhaltend.²⁰⁶ Was mit dem Wort ‚Mensch‘ belegt wird, ist unter dem Gesichtspunkt der Evolution in seinen komplexen Zusammenhängen vorerst ebenso unergründlich wie abgründig, schon was den ‚Leib‘ des Menschen betrifft, der zunächst immerhin als ‚Leitfaden‘ zur Erschließung seiner Komplexität dienen kann.²⁰⁷ Nietzsche verfolgte explizit das Programm einer „Vernatürlichung“, also Entidealisierung und Entnormierung ‚des Menschen‘ (FW 109, JGB 230 u.ö).²⁰⁸ Indem er ‚das Tier Mensch‘ als ein fortlaufendes evolutionäres Experiment betrachtete, stellte er auch hier von Einheit auf Differenz und von Wesentlichkeit auf Zeitlichkeit um. Evolutionär ist, bei Strafe des Untergangs, unter jeweils neuen Umständen ein jeweils neues Über-sich-Hinausgehen der Spezies zu erwarten, nicht im alten Sinn eines Fortschritts auf ein Ziel hin, sondern im Sinn der Eröffnung weiterer Spielräume zur Bewältigung neuer Lebenssituationen. Dafür gebrauchte Nietzsche die Figur des Übermenschen.²⁰⁹

4.1 Gegen-Begriff des Übermenschen Er ließ sie Zarathustra als Lehre verkünden:

 Vgl. Constâncio/Branco (Hg.), Nietzsche on Instinct and Language.  Vgl. dazu die Standardwerke von Schipperges, Am Leitfaden des Leibes; Figl, Interpretation als philosophisches Prinzip,  – , und Lemm, Nietzsche’s Animal Philosophy.  Vgl. Bertino, „Vernatürlichung“. Bertino zeigt umfassend, wieviel Nietzsche hier Herder verdankt, über den er dennoch nicht sehr freundlich gesprochen hat.  Visser, Nietzsches Übermensch, fragt von der Formel ‚Übermensch‘ aus zurück nach dem Sinn von ‚Mensch‘ in ihr, mit dem (aus meiner Sicht richtigen) Ergebnis, „[d]ass es Nietzsche im Grunde nicht um den Menschen gehe“ (). Er verweist dazu auf NL /, [], KSA . f.: „Zuletzt handelt es sich gar nicht um den Menschen: er soll überwunden werden.“ Vissers These, die Loslösung von der metaphysizierenden Anthropologie führe zum alleinigen Maßstab des Organischen und mit ihm in den Rassismus (), kann ich dagegen nicht folgen, auch nicht seinen weiteren Ausführungen vom „Geheimnis des Mensch-Seins“ (). Zur weiterhin intensiv geführten Diskussion über den Sinn von Nietzsches Figur des ‚Übermenschen‘ im Gegensatz zum ‚letzten Menschen‘ vgl. Skowron, Posthuman oder Übermensch, bes.  – , der zwischen die Gegensätze Nietzsches Typen der ‚gewöhnlichen‘, ‚wirklichen‘ einerseits und der ‚höheren Menschen‘ andererseits einfügt. Zum vielfältigen Sinn des ‚Über-‘ in ‚Übermensch‘ vgl.  – .

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Als Zarathustra in die nächste Stadt kam, die an den Wäldern liegt, fand er daselbst viel Volk versammelt auf dem Markte: denn es war verheissen worden, dass man einen Seiltänzer sehen solle. Und Zarathustra sprach also zum Volke: Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll. Was habt ihr gethan, ihn zu überwinden? (Z I Vorrede 3)

Die Schaulustigen lachen nur darüber. Auch im Folgenden wird Zarathustra nicht oder nicht in seinem Sinn verstanden, von seinen ‚Jüngern‘ nicht, die ihm nur nachreden, von den ‚höheren Menschen‘ nicht, die trotz starker eigener Erfahrungen und tiefer Einsichten auch nicht an ihn heranreichen, und auch von seinen märchenhaften Tieren nicht, dem Adler und der Schlange, die aus dem abgründlichen Gedanken der ewigen Wiederkunft gleich wieder ein metaphysisches „Leier-Lied“ machen (Z III Genesende 2). Nietzsche verwendete das Wort ‚Übermensch‘ in den veröffentlichten und zur Veröffentlichung bestimmten Werken nach Z auffälligerweise auch selbst nur noch eingeschränkt („Synthesis von Unmensch und Übermensch“, GM I 16; „eine Art Übermensch“, GD Streifzüge 37, AC 4) und erst im Rückblick von Ecce homo wieder affirmativ. In seinen Notaten bedachte er die Figur zwar weiter, veröffentlichte diese Überlegungen aber nicht mehr. Er machte keinen terminologischen Gebrauch von ihr. Wenn eine ‚Lehre‘ allen oder wenigstens einigen im Sinn des Lehrenden verständlich sein muss, um eine Lehre zu sein,war die Rede vom ‚Übermenschen‘ keine Lehre.Wenn Nietzsche sie seinen Zarathustra dennoch als solche vortragen ließ, muss es sich um eine Anti-Lehre handeln (Kap. III, 5). Zarathustra entwickelt in seinen poetischen Reden die Figur des Übermenschen denn auch nicht in Begriffen, die Anspruch auf allgemeine Verständlichkeit und Gültigkeit erheben, wie es dann die Interpreten versuchen, sondern in Metaphern, die vielen vieles besagen sollen, ohne etwas Definitives zu sagen. Nietzsche schafft mit seinen Metaphern bewusst Spielräume zu ihrer Weiterentwicklung, d. h. wörtlich zu ‚Verschiebungen‘ (metaphorá) ihrer Bedeutungen über die bisherigen hinaus. Es sind vor allem Metaphern des Fließens und Strömens und des Meeres,²¹⁰ beginnend mit: Alle Wesen bisher schufen Etwas über sich hinaus: und ihr wollt die Ebbe dieser grossen Fluth sein und lieber noch zum Thiere zurückgehn, als den Menschen überwinden? (Z I Vorrede 3)

 Vgl. Stegmaier, Der See des Menschen, das Meer des Übermenschen und der Brunnen des Geistes.

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Dann erscheint der Übermensch als Meer, das den schmutzigen Strom des Menschen aufnehmen und in seinen Tiefenströmungen reinigen kann: Wahrlich, ein schmutziger Strom ist der Mensch. Man muss schon ein Meer sein, um einen schmutzigen Strom aufnehmen zu können, ohne unrein zu werden. (Z I Vorrede 3)

Das darf man wohl mit Feuerbach verstehen: Weil ‚der Mensch‘ sich in Jahrtausenden durch eine Religion verachten gelernt hat, die ihn erniedrigte, indem sie Gott erhöhte, fühlt er sich nicht mit sich im Reinen, schmutzig. Aus diesem Schmutz sollte ihn, so nun Nietzsche, das Bild vom Übermenschen herausziehen. Dieses Bild wird in der Folge mehrfach weiter metaphorisiert und festigt sich auch in den Hauptteilen von Z nicht zu einem Begriff. So wird man besser ebenfalls metaphorisch von der ‚Figur‘ des Übermenschen sprechen: Sie kann nur Bild sein, aber auch als Mensch auftreten. Nietzsche hielt in einem späten Notat noch einmal fest, dass es sich um ein „{Gleichniß}“ handle.²¹¹ Zuletzt sprach er von „starken Gegen-Begriffen“, deren „Leuchtkraft“ er nötig habe, „um in jenen Abgrund von Leichtfertigkeit und Lüge hinabzuleuchten, der bisher Moral hieß“.²¹² Der ‚Übermensch‘ ist danach nicht wieder ein Gattungsbegriff, unter den Arten und Einzelne fallen könnten, sondern, wenn überhaupt Begriff, ein Begriff für die Auflösung des Gattungsbegriffs Mensch und die Befreiung der Individuen von ihr in ihrer Orientierung. Noch vor der Einführung der Figur in Z hatte sich Nietzsche notiert: Sobald wir den Zweck des Menschen bestimmen wollen, stellen wir einen Begriff vom Menschen voran. Aber es giebt nur Individuen, aus den bisher bekannten kann der Begriff nur so gewonnen sein, daß man das Individuelle abstreift, – also den Zweck des Menschen aufstellen hieße die Individuen in ihrem Individuellwerden verhindern und sie heißen, allgemein zu werden. Sollte nicht umgekehrt jedes Individuum der Versuch sein, eine höhere Gattung als den Menschen zu erreichen, vermöge seiner individuellsten Dinge? Meine Moral wäre die, dem Menschen seinen Allgemeincharakter immer mehr zu nehmen und ihn zu spezialisiren, bis zu einem Grade unverständlicher für die Anderen zu machen (und damit zum Gegenstand der Erlebnisse, des Staunens, der Belehrung für sie).²¹³

Das ist Programm: Wenn sich die Menschen einmal nicht mehr unter einem festen Begriff wie dem des animal rationale verstehen, sondern sich Spielräume offenhalten, sich anders zu verstehen, werden sie auch alles übrige ‚freier‘ verstehen und sich dadurch neue Orientierungs- und Lebensmöglichkeiten schaffen kön NL , [], KSA ./KGW IX/, W II , .  NL , [](), KSA .; loses Blatt Mp XVII , Bl  r (noch nicht in KGW IX); Vorstufe KGW IX/, W II , .  NL , [], KSA ..

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nen. Man weiß dann nicht und braucht nicht zu wissen, was ‚der Mensch‘ und ‚der Übermensch‘, der über ihn hinausgeht, in Wahrheit ist, sieht aber Spielräume, in denen der Sinn von ‚Mensch‘ sich bewegen kann. Legen sich Menschen auf einen letzten metaphysischen Begriff vom Menschen fest, schließen sich diese Spielräume. Das gilt auch und gerade für moralische Begriffe vom Menschen. Die Figur des Übermenschen soll vor allem über die gewohnte Unterscheidung von Gut und Böse hinausführen und zu neuen Wertungen befreien: „‚Wie müde bin ich meines Guten und meines Bösen! Alles das ist Armuth und Schmutz und ein erbärmliches Behagen!‘“ (Z I Vorrede 3) Gerade die „höchsten Menschen“, die „Weisen und Wissenden“ im alten Sinn, würden, ließ Nietzsche Zarathustra sagen, „meinen Übermenschen – Teufel heissen!“ (Z II Menschen-Klugheit). ‚Übermensch‘ ist, so gesehen, selbst kein ‚höherer‘ oder ‚höchster‘ Mensch, sondern die Metapher des von einem metaphysischen und moralischen Begriff befreiten Menschen. Mit ihr verweigerte Nietzsche die wechselseitige Versicherung aller durch alle in der Fest-Stellung eines allen gemeinsamen Begriffs. Es gab für ihn, auch wenn er das Wort gebrauchte, so wenig wie für Luhmann einen Kollektivsingular ‚der Mensch‘; er machte aus dem Namen einer Einheit einen Namen für Differenz. Als Gegen-Begriff zum Begriff einer gemeinsamen Art oder Gattung Mensch ist ‚der Übermensch‘ immer ein Einzelner und jeweils ein Anderer. Es sind in der Evolution Individuen, die mit Individuen Individuen zeugen, Individuen, die eben darin Individuen sind, dass sie anders sind als alle andern. Mit der Formel ‚Übermensch‘ verband Nietzsche denn auch keinen Sozialdarwinismus, kein Programm zur Durchsetzung eines Standes, einer Klasse oder einer Rasse. Ein Übermensch ist im Grundsatz jeder, der über das hinausgeht, was als Art oder Gattung Mensch angenommen wird, und das gilt im Grundsatz für jedes Individuum, in besonderem Maß aber für solche, die durch wissenschaftliche Entdeckungen, künstlerische Gestaltung, politische Revolutionierung, Schaffung von Werten oder Stiftung von Religionen auffällig über die Möglichkeiten der Menschen ihrer Zeit hinausgehen und die Menschheit so über sich hinausführen. Nietzsche nennt sie dann ‚groß‘. Sie können anderen dennoch in vielen anderen Hinsichten unterlegen sein und darum unter Menschen auch leicht untergehen, wie es Nietzsche gerade an Zarathustra zeigt, als er ihn unter die Menschen gehen lässt. Wäre Zarathustra selbst ein Übermensch, was Nietzsche offen lässt, gehörte auch sein Untergang zu dessen Realität.

4.2 Dislozierung des Menschen in die Tierwelt Zarathustra versucht seine „Brüder“, für die er die Menschen auf dem Markt zunächst noch hält, auf seine Lehre oder Anti-Lehre vom Übermenschen mit der

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Parole „bleibt der Erde treu!“ einzuschwören (Z I Vorrede 3). Er folgt ihr selbst in seiner bald folgenden Rede Von den Verächtern des Leibes, die er wiederum auf die Figur des Übermenschen hinausführt. In der viel beachteten Rede²¹⁴ verschwindet ‚der Mensch‘. Seine Einheit nicht nur als Gattung, sondern auch als Individuum wird gezielt aufgelöst, hier in „Leib“ und „Seele“, die nur noch vom „Selbst“, dem bloßen Selbstbezug eines Namenlosen, das als „Ich“ von sich spricht, zusammengehalten werden. In diesem Selbst ist die Seele „nur ein Wort für ein Etwas am Leibe“, ihm gegenüber wohl autonom, aber nicht autark. Nietzsche gebrauchte den religiös und metaphysisch belasteten Begriff ‚Seele‘ in diesem Sinn bewusst weiter (JGB 12). Wenn er zuletzt, in Nietzsche contra Wagner, schrieb: „es giebt keine Seele“ (NW Einwände), so heißt dies nur, dass es keine Seele gibt, die sich vom Leib trennen, gegen ihn verselbstständigen ließe, wie es die christliche Tradition wollte. Indem Nietzsche ‚den Menschen‘ neu von der Leiblichkeit her verstehen wollte, die er mit den Tieren gemein hat, dislozierte er ihn in die Tierwelt, entgrenzte ihn auch nach dieser Seite. Nietzsche hatte dabei auch für die „Vernunft“ noch Platz, so sehr er ihre Metaphysizierung und Moralisierung kritisierte. Er unterschied sie als „kleine“ und „grosse“. Was als „Ich“ spricht, ist, wenn man auf dem Boden der Evolution bleibt, nur die „kleine Vernunft“, die „Werkzeug“ der „grossen Vernunft“, der des Leibes, bleibt. Die Vernunft des Leibes ist ‚groß‘ in dem Sinn, dass sie ihren Gegensatz einbezieht und sich dadurch steigert,²¹⁵ hier als leibliche, die mit dem Gegensatz ihrer selbst, der von Kant ‚rein‘, nämlich rein gerade von Leiblichem, genannten kleinen Vernunft, so arbeitet, dass sie ihre Orientierungsmöglichkeiten dadurch steigert. Damit wird auch der Begriff ‚Vernunft‘, der bisher dem vorbehalten war, was den humanen Menschen ‚vom Tier‘ abheben sollte, entgrenzt, verschoben, metaphorisiert. Die „grosse Vernunft“ folgt nicht mehr allein der an den Satz des Widerspruchs gebundenen Logik (Kap. III, 1), sondern einer „grösseren“ Logik des Leibes, auf die hin man nun die ‚Unmöglichkeit‘ des Widerspruchs hinterfragen kann, die Aristoteles postuliert hatte (Kap. III, 2). Sie bleibt dann wohl ein Steuerungsorgan, aber eines, das der Einsicht der „kleinen Vernunft“ weitestgehend entzogen ist. Doch gerade dadurch agiert sie zuverlässig. Sie steuert das Leben auch der Menschen durch einen für das Bewusstsein nicht entfernt durchschaubaren Verband all dessen, was es dann als ‚Affekt‘, ‚Instinkt‘, ‚Trieb‘, ‚Sinn‘, ‚Gefühl‘ und Ähnliches zu unterscheiden versucht.

 Auf die Überfülle ihrer Interpretationen kann ich hier leider nicht eingehen.  Zum dreifachen Sinn von ‚groß‘ bei Nietzsche vgl. Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie,  – .

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Nietzsche trennte auf diese Weise bereits, was Luhmann dann auf die Begriffe unterschiedlicher Systemtypen brachte. In Z personalisierte und dramatisierte er sie dichterisch und ließ sie miteinander kommunizieren: „Das Selbst sagt zum Ich: ‚hier fühle Schmerz!‘ Und da leidet es und denkt nach, wie es nicht mehr leide – und dazu eben soll es denken.“ (Z I Verächtern) Das „Ich“ mit seiner „kleinen Vernunft“ denkt auf Anlässe hin nach, die ihm das „Selbst“ mit seiner „grossen Vernunft“ liefert, die ihm im Übrigen verschlossen ist und mit der es nur dem Namen nach verbunden ist. Aber es kann, machte Nietzsche damit deutlich, als kommunizierendes Ich seinen Austausch mit Leib und Seele nur als Kommunikation, nur unter einem solchen Namen, nur anthropomorph denken, und es metaphorisiert dabei auch die Kommunikation. Luhmann, der solche Metaphorisierungen und Anthropomorphisierungen vermeiden wollte, wurden sie gleichwohl immer wieder vorgeworfen. Wie vom ‚Menschen‘, so ist auch vom ‚Bewusstsein‘, das Luhmann mit dem ‚psychischen System‘ identifiziert, in Von den Verächtern des Leibes nicht die Rede. Nietzsche knüpfte es an das kommunizierende Ich, nach Luhmann also an die Kommunikation der Gesellschaft. In FW 354 wagte Nietzsche die „ausschweifende Vermuthung“, das Bewusstsein habe sich überhaupt erst mit der Kommunikation entwickelt und mit deren Verfeinerung immer weiter fortentwickelt.²¹⁶ Denn es ist besonders zur sprachlichen Kommunikation nötig, zum Gebrauch sprachlicher Zeichen, den man über Jahre hinweg mühsam erlernen muss und der zeitlebens erhöhte Aufmerksamkeit, also „Bewusstheit“, erfordert. Mit dem Begriff der Bewusstheit, den Nietzsche zuvor, in FW 11, eingeführt hat und den er gleich anschließend, in FW 357, unter Verweis auf Leibniz wieder anführt, machte Nietzsche deutlich, dass es sich beim sogenannten Bewusstsein nicht um ein Sein handelt, als das es Descartes noch angesetzt hatte, sondern um einen zeitlichen Zustand mit unterschiedlichen Intensitätsgraden – besonders gut beobachtbar als Begleiterscheinung unterschiedlich komplexer Kommunikation. Damit ist Nietzsches Beschreibung Luhmanns These sehr nahe, dass Kommunikation den unstrukturierten ‚Strom‘ mehr oder weniger bewusster Vorstellungen strukturiert wie Formen ein formbares Medium, macht jedoch deutlicher, dass die nicht bewusste Vernunft des Leibes die Kommunikation nicht nur ermöglicht und ‚toleriert‘, sondern auch unbemerkt in ihren Bahnen hält.Wenn sich Bewusstsein zumindest auch der Kommunikation verdankt, lässt es sich nicht mehr so eindeutig orten,wie Luhmann es vorgibt. Die Systemgrenzen entgrenzen sich.

 Vgl. zur Interpretation von FW  im Ganzen Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie,  – .

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V Orientierung an Menschen

Denn wenn sich die Kommunikation evolutionär in den nicht schon sprachlich artikulierten Strom von Vorstellungen einnistet und ihn strukturiert, ist sie ‚ein Etwas an der Seele‘. Nicht so, dass die Seele zum selbstständigen Handlungssubjekt würde und die Kommunikation zu ihrer Handlung, sondern so, dass die soziale Kommunikation sich mit der einzelnen Seele vertragen kann oder auch nicht, dass sie das Funktionieren des psychischen Systems – Nietzsche sagte noch: die „Lebenskraft“ der „Seele“ (JGB 30) – stärken, aber auch schwächen kann. Es wäre möglich und liegt nahe, dass die evolutionär viel ältere „‚Seele als Gesellschaftsbau der Triebe und Affekte‘“ (JGB 12) und der Leib als „ein Gesellschaftsbau vieler Seelen“ (JGB 19) nicht im Tempo des noch jungen und rasch expandierenden menschlichen Geistes mitwachsen und es so zu Störungen, widersprüchlichen Steuerungen und seelischen und leiblichen Krankheiten kommt. Zu Nietzsches Zeit begann man darauf immer stärker aufmerksam zu werden, entwickelte vielfältige psychiatrische Therapien dafür und sprach im Blick auf die europäische Kultur im Ganzen von décadence. Nietzsche griff den Begriff auf und subsumierte unter ihn rundum bekundete Gefühle von Gespaltenheit, Zerfallenheit, Heimatlosigkeit, sprach von „Disgregation der Instinkte“ (GD Streifzüge 35), „InstinktEntartung“, „Disgregation des Willens“ (GD Irrthümer 2).²¹⁷ Wenn die ehemals noch weitgehend selbstverständliche Einheit von Leib, Seele und Geist sich zusehends auflöse, bedürfe es umso mehr der Willensleistung, sie neu wieder zu ‚schaffen‘. Nicht jeder habe dazu die gleiche Kraft, und je weniger sie jemand habe, desto mehr müsse er sich an Fiktionen, Illusionen, Ideologien, Moralen, Religionen halten und werde dadurch „etwas Gutwilliges, Kränkliches und Mittelmässiges“, ein „Heerdenthier“ (JGB 62). Nietzsche war klar, dass auch der ‚Wille‘, den er hier bemühte, keine Einheit ist, sondern „etwas Complicirtes, Etwas, das nur als Wort eine Einheit ist, – und eben im Einen Worte steckt das VolksVorurtheil, das über die allzeit nur geringe Vorsicht der Philosophen Herr geworden ist“. In dem, was man ‚Willen‘ nenne, stecke wiederum „eine Mehrheit von Gefühlen“, „vor Allem […] ein Affekt: und zwar jener Affekt des Commando’s“, wohl auch „Bewusstsein“, jedoch das dumpfe Bewusstsein des „ÜberlegenheitsAffekts in Hinsicht auf Den, der [diesem Commando] gehorchen muss“, und schließlich „Lustgefühle“, wenn tatsächlich gehorcht wird (JGB 19). Das Wort ‚Wille‘ verdeckt so seinerseits nur und bestätigt zugleich die Auflösung der Einheit des Menschen.

 Vgl. Politycki, Umwertung aller Werte?,  – ; Gasser, Nietzsche und Freud,  – ; Horn, Nietzsches Begriff der décadence.

4 Nietzsches Auflösung der Einheit des Menschen

167

4.3 Dissoziierung des Menschen in Orientierungstypen Nietzsche löst sie nicht in Systemtypen auf, die der klassischen Gliederung in Leib, Seele und Geist entsprechen. Er dissoziiert ‚den Menschen‘, der nur metaphysisch, moralisch, ideologisch oder dem bloßen Namen nach eine Einheit darstellt, in Orientierungstypen. Typen sind stets Typisierungen, versuchsweise Fest-Stellungen, die sich, wie oben eingeführt, Orientierungserfahrungen verdanken und aufgrund neuer Erfahrungen immer wieder revidiert werden können. Die alltägliche Orientierung braucht solche Typisierungen, um in neuen Situationen rasch entscheiden zu können, an wen sie sich halten soll und an wen besser nicht. Nietzsche hat in seinem Werk eine lange Galerie solcher Typen umrissen und sie in neuen Kontexten laufend retypisiert.²¹⁸ Entsprechend schätzte er Autoren, die zu treffenden Typisierungen fähig waren, wie etwa Thukydides (M 168). So typisierte er historische Figuren wie Sokrates, Jesus, Caesar, Paulus, Cesare Borgia, Napoleon, Luther, Goethe bis zur Karikatur, schuf aber auch neue Typen wie seinen „Typus Zarathustra“ (EH Zarathustra 6). Im Nachlass fertigte er ganze Listen von Typen an, rubrizierte dort Gegensatztypen wie „Führer und Heerde“, „Vollständige Menschen und Bruchstücke“, „Gerathene und Missrathene“, „Schaffende und ‚Gebildete‘“, ferner „Künstler“, „Philosophen“, „Heerden-Bildner (Gesetzgeber)“, „Werthe-Setzende (Religionsstifter)“. Zum Schluss notierte er, worauf er damit hinauswollte: Ein fehlender Typus: der Mensch, welcher am stärksten befiehlt, führt, neue Werthe setzt, am umfänglichsten über die ganze Menschheit urtheilt und Mittel zu ihrer Gestaltung weiß – unter Umständen sie opfernd für ein höheres Gebilde. Erst wenn es eine Regierung der Erde giebt, werden solche Wesen entstehen, wahrscheinlich lange im höchsten Maaße mißrathend. ²¹⁹

Wer „am stärksten befiehlt, führt, neue Werthe setzt, am umfänglichsten über die ganze Menschheit urtheilt und Mittel zu ihrer Gestaltung weiß“, kann mit einem Wort orientieren: Nietzsche typisiert hier die Menschen nach ihrer Fähigkeit, andere zu orientieren. Viele bieten Orientierungen, aber nur wenige kommen damit bei vielen an. Orientierungen stehen ihrerseits im Wettbewerb. Je sicherer und souveräner sich Menschen orientieren können, desto besser stehen sie vor anderen da, und je plausibler sie ihre Orientierungen vermitteln können, desto eher wird ihnen gefolgt. Nietzsche sprach dann von „gelungenen Fällen“, drückte sich im Übrigen aber auf eine Art aus, die nach den Menschheitskatastrophen des

 Vgl. Bertino, „Vernatürlichung“,  – .  NL , [], KSA . f.

168

V Orientierung an Menschen

20. Jahrhunderts völlig unakzeptabel geworden ist. Es ist eben die Stelle, an der er die so viel zitierte und so hoch geschätzte Formel vom „noch nicht festgestellten Thier“ einführte: Es giebt bei dem Menschen wie bei jeder anderen Thierart einen Überschuss von Missrathenen, Kranken, Entartenden, Gebrechlichen, nothwendig Leidenden; die gelungenen Fälle sind auch beim Menschen immer die Ausnahme und sogar in Hinsicht darauf, dass der Mensch das noch nicht festgestellte Thier ist, die spärliche Ausnahme. (JGB 62)

Nietzsche stellte damit krass heraus, wie sehr Menschen um Orientierung zu kämpfen haben und „gelungene Fälle“ darum zu Ausnahmefällen werden, an die sich die anderen dann zu ihrer Orientierung halten können. Auch wenn uns heute vor der Sprache schaudert, die er hier gebrauchte: Nietzsche setzte zu Recht nicht voraus, dass alle Menschen, wie es das humanistische Menschenbild gerne wollte und will, über gleich starke Orientierungs-, Urteils- und Entscheidungsfähigkeiten verfügen, sondern dass diese Fähigkeiten, aus welchen Gründen auch immer, ungleich verteilt sind. Wenn er wie die meisten Gebildeten seiner Zeit die Heraufkunft der Masse und die Vermassung der Kultur befürchtete und mit einer zunehmenden Normalisierung und Nivellierung der Menschen zu ‚Herdentieren‘ rechnete, so setzte er aber ebenso darauf, dass mit den Herden auch Hirten entstünden, Orientierende, die so viel Kraft zu eigenständigen und weiterführenden Orientierungen hätten, dass sie auch die Bedürfnisse der andern nach Orientierung, denen es an dieser Kraft mangelte, erfüllen könnten. Er wusste, wie riskant das ist: In der „Demokratisierung Europa’s“, mit der Nietzsche eine Tendenz eben zur Normalisierung und Nivellierung der Menschen verband (Kap. X), sah er „zugleich eine unfreiwillige Veranstaltung zur Züchtung von Tyrannen – das Wort in jedem Sinne verstanden, auch im geistigsten“ (JGB 242). Aber er erwartete auch, dass in der sozialen Evolution die Heerden mit der Zeit tüchtigere Hirten, diese wieder tüchtigere Herden usw. hervorbringen würden, so dass sich auf dem Weg der Dissoziierung des Menschen in Typen von Orientierenden und der Orientierung Bedürftigen die Orientierungs-, Urteils- und Entscheidungsfähigkeit wenn nicht der Menschheit im Ganzen, so doch der jeweiligen Gesellschaft allmählich steigern werde. Aus dem Gegensatz der Typen würde, wie Nietzsche sich notierte, deren wechselseitige Funktionalisierung: Die Heerde empfindet die Ausnahme, sowohl das Unter-ihr als das Über-ihr als etwas, das zu ihr sich gegnerisch u. schädlich verhält. Ihr Kunstgriff in Hinsicht auf die Ausnahmen nach Oben, die Stärkeren, Mächtigeren,Weiseren, Fruchtbareren ist, sie zur Rolle der Hüter, Hirten,

5 Experiment Mensch

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Wächter zu überreden – zu ihren ersten Dienern: damit hat sie eine Gefahr in einen Nutzen umgewandelt.²²⁰

So wäre, in Nietzsches weitestem gedanklichem Ausgriff, eine „Erhöhung der Species ‚Mensch‘“ (JGB 44) über eine „Erhöhung des Typus ‚Mensch‘“ (JGB 257) möglich, des Typus, der sich nach Orientierungs-, Urteils- und Entscheidungsfähigkeiten differenziert. Die Formel „Erhöhung der Species ‚Mensch‘“ gebrauchte Nietzsche zum Abschluss des 2. Hauptstücks von Jenseits von Gut und Böse, das er Der freie Geist überschrieb und in dem es um die Freiheit von moralischen Vorurteilen gegen „Härte, Gewaltsamkeit, Sklaverei, Gefahr auf der Gasse und im Herzen, Verborgenheit, Stoicismus, Versucherkunst und Teufelei jeder Art“ geht (JGB 44). Die Formel „Erhöhung des Typus ‚Mensch‘“ dagegen erscheint zu Beginn des 9. Hauptstücks Was ist vornehm?, dem Nietzsche den Leitbegriff „Pathos der Distanz“ voranstellte, der sein Philosophieren im Ganzen bestimmt (JGB 257). Die Befreiung von moralischen Vorurteilen macht beobachtbar und denkbar, dass auch „alles Böse, Furchtbare, Tyrannische, Raubthier- und Schlangenhafte am Menschen so gut zur Erhöhung der Species ‚Mensch‘ dient, als sein Gegensatz“ (JGB 44); so wird das gängige Bild vom (humanen) Menschen entgrenzt. „Pathos der Distanz“ aber bedeutet „jenes Verlangen nach immer neuer Distanz-Erweiterung innerhalb der Seele selbst, die Herausbildung immer höherer, seltnerer, fernerer, weitgespannterer, umfänglicherer Zustände, […] die fortgesetzte ‚SelbstÜberwindung des Menschen‘, um eine moralische Formel in einem übermoralischen Sinne zu nehmen“ (JGB 257). Mit ihm kann sich der „Typus ‚Mensch‘“ immer weiter über sich hinaus entwickeln.²²¹ Das ist, in aktueller Sprache, die Steigerung der Komplexität seiner Orientierung.

5 Experiment Mensch In seiner folgenden Schrift, Zur Genealogie der Moral, hat Nietzsche die Dislozierung des Menschen in die Tierwelt und seine Anti-Definition als ‚noch nicht festgestelltes Tier‘ noch einmal verschärft: zur buchstäblich kränkenden Bezeichnung „das kranke Thier“ in (GM III 13). Ist ‚der Mensch‘ noch nicht fest-gestellt, so wird er es vielleicht einmal sein,vielleicht auch nicht, ist er krank, so wird er vielleicht gesund werden, vielleicht auch nicht. Beides ist nicht vorgegeben,

 NL , [], KSA ./KGW IX/, W II , .  Zum Sinn des Pathos der Distanz für die redliche Verständigung vgl. Kap.VI, ., für die Ethik der Distanz vgl. Kap. VIII, , für die Persönlichkeit vgl. Kap. XI, .

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V Orientierung an Menschen

nicht einmal zu erwarten. ‚Der Mensch‘ ist wie alle andern Spezies ein evolutionäres Experiment, jedoch „kränker“ als alle andern, sofern er „unsicherer, wechselnder, unfestgestellter [ist] als irgend ein Thier sonst“: Sicherlich hat er auch mehr gewagt, geneuert, getrotzt, das Schicksal herausgefordert als alle übrigen Thiere zusammen genommen: er, der grosse Experimentator mit sich, der Unbefriedigte, Ungesättigte, der um die letzte Herrschaft mit Thier, Natur und Göttern ringt, – er, der immer noch Unbezwungne, der ewig-Zukünftige, der vor seiner eignen drängenden Kraft keine Ruhe mehr findet, so dass ihm seine Zukunft unerbittlich wie ein Sporn im Fleische jeder Gegenwart wühlt: – wie sollte ein solches muthiges und reiches Thier nicht auch das am meisten gefährdete, das am Längsten und Tiefsten kranke unter allen kranken Thieren sein? … (GM III 13)

Seine konstitutionelle ‚Krankheit‘ macht ‚den Menschen‘ erfindungsreich, aber man kann letztlich nicht sagen, ob er durch seine Erfindungen gesünder wird. Die Natur selbst, wenn sie denn an sich selbst zu erkennen wäre, gibt vielleicht für die Gesundheit und Krankheit der Einzelnen Kriterien vor, nicht aber für die Spezies im Ganzen. Denn im Horizont der Evolution ist alles Lebendige unablässig in der Krise, ist stets vom Aussterben bedroht, manche früher, manche später. Evolution als solche läuft nicht auf Gesundheit, sondern auf Steigerung der Komplexität hinaus. Sie kann, wie Nietzsche befürchtete, in der sozialen Evolution des Menschen jedoch aufgehalten, verzögert, zum Erliegen gebracht werden, vor allem durch Religionen und Moralen: Soweit sie Gleichheit bestärken, Ungleichheit diskriminieren und damit Wettbewerb, welcher Art auch immer, einschränken, können sie, auf lange Sicht, eine Gefahr für die Menschheit bedeuten. In Zeiten etablierter Demokratien werden solche Bedenken nahezu undenkbar. Dennoch sind sie, auf lange Sicht, nicht von der Hand zu weisen. Nietzsche sah – im 19. Jahrhundert – einen Ausweg noch in ‚großen‘ Individuen. Er mutete ihnen zu, nicht nur neue Werte zu schaffen, sondern der Evolution der Spezies Mensch, die keine Ziele hat, in eigener Verantwortung Ziele zu setzen. Und er sah niemand sonst als Philosophen, die diese Aufgabe übernehmen könnten (Kap. XII, 3). Unmittelbar bevor er die Formel vom Menschen als ‚noch nicht festgestelltem Tier‘ einführte, postulierte er den Typus solcher Philosophen – Der Philosoph, wie wir ihn verstehen, wir freien Geister —, als der Mensch der umfänglichsten Verantwortlichkeit, der das Gewissen für die Gesammt-Entwicklung des Menschen hat (JGB 61)

– und schloss daran die Erwartung:

5 Experiment Mensch

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dieser Philosoph wird sich der Religionen zu seinem Züchtungs- und Erziehungswerke bedienen, wie er sich der jeweiligen politischen und wirthschaftlichen Zustände bedienen wird. (JGB 61)

Er wird, heißt das, Religionen und Moralen aus Hemmnissen der Steigerung „des Menschen“ zu deren Ermöglichungsbedingungen machen, wird beide zu funktionalisieren verstehen. Später malte Nietzsche das weiter aus und führte dabei auf den Begriff des Typus zurück: er fasst es ja mit Einem Blicke, was Alles noch, bei einer günstigen Ansammlung und Steigerung von Kräften und Aufgaben, aus dem Menschen zu züchten wäre, er weiss es mit allem Wissen seines Gewissens, wie der Mensch noch unausgeschöpft für die grössten Möglichkeiten ist, und wie oft schon der Typus Mensch an geheimnissvollen Entscheidungen und neuen Wegen gestanden hat (JGB 203).

Den höheren „Typus Mensch“, der sich so herausbilden müsste, verknüpfte er zuletzt wieder mit der Figur des Übermenschen und sprach nun – im Doppelsinn von ‚Spezies‘ und ‚Modus‘ – von einer „Art Übermensch“: In einem andren Sinne giebt es ein fortwährendes Gelingen einzelner Fälle an den verschiedensten Stellen der Erde und aus den verschiedensten Culturen heraus, mit denen in der That sich ein höherer Typus darstellt: Etwas, das im Verhältniss zur Gesammt-Menschheit eine Art Übermensch ist. Solche Glücksfälle des grossen Gelingens waren immer möglich und werden vielleicht immer möglich sein. Und selbst ganze Geschlechter, Stämme, Völker können unter Umständen einen solchen Treffer darstellen. (AC 4)

So Nietzsches Gedankenexperiment und Hoffnung. Auch wenn es in der Menschengeschichte immer schon Menschenzüchtungsexperimente gegeben hat – auch die philosophische und christliche ‚Erziehung des Menschengeschlechts‘ über Jahrtausende hinweg war eines –,²²² wollen wir heute nichts Derartiges mehr, und wir sehen auch nicht mehr die Voraussetzungen dafür. Die funktionale Differenzierung und damit die Komplexität moderner Gesellschaften ist so weit vorangeschritten, dass Einzelne an einzelnen Stellen keine Revolution oder Evolution ihrer in unübersehbare Netzwerke verzweigten Strukturen auslösen könnten. Luhmann: Zu wissen, wo es lang geht, zu wissen, was der Fall ist, und damit die Ansicht zu verbinden, man habe einen Zugang zur Realität und andere müßten dann folgen oder zuhören oder Autorität akzeptieren, das ist eine veraltete Mentalität, die in unserer Gesellschaft einfach nicht mehr adäquat ist. (Auw, 29)

 Vgl. Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark. Der Vortrag von , der neben Nietzsche auch Platon und Heidegger einbezog, löste  eine empörte Debatte aus.

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V Orientierung an Menschen

Wenn man Nietzsches Gedankenexperiment hier noch etwas abgewinnen kann, dann dies, dass er illusions- und schonungslos herausgestellt hat, dass ebenso wie der Begriff Mensch auch die weitere Entwicklung des Menschen entscheidbar ist, dass solche Entscheidungen getroffen wurden und weiter getroffen werden, aber nicht von einer oder wenigen Stellen aus (und seien es selbsternannte ‚Führer‘) mit Auswirkungen auf alles Übrige. Und wenn Nietzsche einen letzten Halt darin suchte, dass solche Entscheidungen von Menschen „der umfänglichsten Verantwortlichkeit“ getroffen werden könnten, sagte er doch auch klar, dass mit solchen Menschen kaum zu rechnen ist. Die konkreten Ziele, denen solche Menschen dann folgen könnten, ließ er ganz offen, wohl wissend, dass er sie ebenfalls, wie auch die Maßstäbe ihrer Verantwortlichkeit, der Evolution anheimstellen musste. Auch dies muss nicht nur Moralisten und Humanisten empören. Es wird alle beängstigen, die mit so viel Ungewissheit nicht leben können und sie darum verdecken. Nietzsche hat hier vor eine Realität geführt, die man lieber nicht wahrhaben will.

VI Orientierung an anderer Orientierung: Nietzsche und Luhmann zu den Spielräumen des Verstehens und Missverstehens 1 Verständigung unter Orientierungen Wenn Orientierungen nicht schon durch eine gemeinsame Vernunft verbunden sind, sondern durch ihre jeweiligen Standpunkte, Horizonte und Perspektiven getrennt bleiben, muss man auf andere Weise verstehen, wie sie sich dennoch miteinander verständigen können. Setzt man sie nicht mehr als ‚transzendentale Subjekte‘ an (Kap. IV), kann man auch nicht mehr auf ‚Intersubjektivität‘ setzen, sondern nur noch auf die ‚Bewusstseine‘, die einander jedoch verborgen, füreinander nicht beobachtbar sind. Sie werden darum als ‚Inneres‘ angesprochen, ohne dass dieses Innere irgendwo lokalisierbar wäre. ‚Verstehen‘ wird auf dieses Innere bezogen: Was man nicht unmittelbar beobachten kann, könne man doch verstehen. Aber man kann sich des Verstehens dann nie sicher sein, alles Verstehen bleibt vorläufig, steht weiterhin zur Disposition und kann dennoch auf Zeit hinreichend sein. So bietet sich auch für das Verstehen des Verstehens die Sprache der Orientierung an. Sie ermöglicht zugleich, von den Metaphern des Inneren und Äußeren loszukommen, die zu neuerlichen Mystifizierungen und Metaphysizierungen einladen: Das ‚Innere‘ ist nur anhand von ‚äußeren‘ Anhaltspunkten fassbar, und Orientierung hält sich an Anhaltspunkte – ohne Unterschied eines Inneren und Äußeren. Was man verstehen will und kann, ist ‚Sinn‘ als plausibler Zusammenhang von Anhaltspunkten. Da Sinn selbst nicht beobachtbar ist, hat es das Verstehen mit – wiederum paradoxer (Kap. III) – beobachtbarer Unbeobachtbarkeit zu tun. In der Regel fällt sie nicht auf, sondern erst dann, wenn sich unter irritierenden Anhaltspunkten kein passender Zusammenhang ergibt oder ein bisher scheinbar gut verstandener Zusammenhang durch dazu nicht passende neue Anhaltspunkte dementiert wird. Man muss die Anhaltspunkte dann anders verstehen, einen neuen Zusammenhang unter ihnen finden, und dann fällt das Verstehen auf und wird selbst beobachtbar. Verstehen ist danach eine komplexe Form des Beobachtens. Das Beobachten kann einseitig oder wechselseitig verlaufen. Es bleibt einseitig, wenn das Beobachtete sich durch das Beobachtet-Werden nicht ändert, also stillhält (z. B. eine aufgewühlte Waldwiese). Passen beim einseitigen Beobachten die Anhaltspunkte zusammen (das könnten Wildschweine gewesen sein), ‚versteht‘ man, was man beobachtet. Widersprechen dem weitere Beobachtungen (in dieser Gegend hat man nie Wildschweine gesehen), sucht man nach weiteren Anhaltspunkten (ein

174

VI Orientierung an anderer Orientierung

Jäger berichtet, auch hier seien jetzt Wildschweine aufgetaucht). Reagiert das Beobachtete seinerseits auf die Beobachtung mit Beobachtung (da sind sie, die Wildschweine, und beobachten uns), kann die wechselseitige Beobachtung riskant, gegebenenfalls aggressiv werden. Beide Seiten müssen sich in der Situation behaupten. Sie behaupten sich leichter, wenn sie verstehen, wie die jeweils andere Seite die Situation versteht (Wildschweine nehmen Ausreiß, wenn …, sie greifen an, wenn … / nicht Spaziergänger, Jäger mit Gewehren sind gefährlich); das Verstehen wird zu einem komplexen Verstehen von Verstehen. Die Komplexität steigert sich weiter, wenn Dritte ins Spiel kommen (dem Jäger drohen die Spaziergänger die Wildschweine zu verscheuchen), dann Vierte usw. Sie wird irgendwann unüberschaubar, für die eine Seite früher, die andere Seite später, die Verständigung dadurch immer fraglicher und spannungsvoller. Verstehen stellt zunächst mehr Orientierungssicherheit in Aussicht und steigert schließlich die Orientierungsunsicherheit. Man hat das Verstehen des Verstehens, soweit man es zum Problem machte, meist am Verstehen von Texten orientiert, die stillhalten (da hängt ein Schild ‚Heute Wald gesperrt. Jagd!‘), also an einem einseitigen Beobachten, und so das Verstehen des Verstehens selbst früh stillgestellt. Aber auch Texte können von anderen anders verstanden werden (das Schild, sagt sich der Spaziergänger, hängt da schon seit Tagen und wurde einfach vergessen – o nein, sagt der Jäger, die Jagd zieht sich über Tage hin). Dann wird das Verstehen auch hier komplex und agonal (bis hin zum drohenden Jagdunfall), die zunächst sichere Orientierung wieder verunsichert. Nietzsche und Luhmann sind von der Orientierungsunsicherheit auch in der zwischenmenschlichen Verständigung ausgegangen. Für Nietzsche wurde die Möglichkeit der Verständigung zu einem Hauptthema seiner Philosophie, für Luhmann die ‚doppelt kontingente‘ Kommunikation zu einem Hauptbegriff seiner soziologischen Systemtheorie. Nietzsche, der statt von ‚Kommunikation‘ von ‚Verständigung‘ sprach, wurde immer skeptischer gegen ihre Möglichkeit („Hat man mich verstanden? […] Hat man mich verstanden? […] Hat man mich verstanden?“ EH Schicksal 7, 8, 9). Luhmann trieb die Skepsis noch weiter, fing sie aber zugleich mit dem Begriff der stets beobachtbaren Kommunikation auf: Verständigung ist nicht beobachtbar, Kommunikation schon. Luhmann verstand den Kommunikationsbegriff jedoch anders und komplexer, als ihn die Kommunikationstheorien seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingebürgert hatten, nicht als bloße ‚Übertragung von Sinn‘ in der Weise, dass „die übertragene Information für Absender und Empfänger dieselbe“ wäre (SS, 194).²²³ Weil Verständigung moralisch gewollt und darum gerne auch moralisch idealisiert wird,

 Vgl. Baecker, Art. Systemtheorie als Kommunikationstheorie.

1 Verständigung unter Orientierungen

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folgten Nietzsche und Luhmann auch und gerade beim Verstehen der Verständigung bzw. der Kommunikation ihrem methodischen Immoralismus (Einl., 3). Sie setzten nicht schon den Willen oder auch nur die Bereitschaft zum Konsens voraus, sondern hielten offen, dass Konsens gesucht werden kann oder nicht.²²⁴ In der Orientierung an anderer Orientierung dienen gerade Dissens und Konflikt zur Klärung der eigenen Orientierung und werden darum ebenso gesucht. Konsens der Bewusstseine aber ist letztlich nicht festzustellen: Versucht man es, geht das nur über Kommunikation, die, wenn sie nicht rechtzeitig abgebrochen wird, wieder zum Dissens führen kann. Das schließt nicht Kooperationen aus; sie finden beobachtbar laufend statt: Man versteht einander meist problemlos darin, dass man etwa in vielbevölkerten Fußgängerzonen einander ausweicht, in Gesprächen an passender Stelle redet und schweigt, in Gruppen Rollen übernimmt, in Wäldern Verbotsschilder respektiert, in Organisationen mitwirkt, zusammen Unternehmen gründet, Lebensgemeinschaften bildet, sich in rechtlich verfassten Gesellschaften ordnungsgemäß verhält usw. Kooperationen benötigen nur begrenzt Übereinstimmung in Ansichten und Absichten, fordern aber Orientierungstugenden: Umsicht, Weitsicht, Nahsicht und Fernsicht, Rücksicht und Nachsicht, Vorsicht und Zuversicht, die allesamt komplexer sind als logische Einsicht und moralische Aufsicht.²²⁵ Logik und Moral haben in der Orientierung an anderer Orientierung fraglos maßgebliche Funktionen (Kap. II u.VIII), machen sie aber nicht schon aus. Das war ebenso Nietzsches wie Luhmanns Ausgangspunkt.

1.1 Nietzsches Ideal verständigungsloser Verständigung Den Begriff der Verständigung hat Nietzsche, wie seine anderen Begriffe auch, nicht ein für alle Mal zu definieren versucht, sondern ihn ebenfalls in wechselnden Kontexten entfaltet und dabei unauffällig profiliert.²²⁶ Sein Ausgangspunkt war das jugendliche Freundschaftsideal der verständigungslosen Verständigung, also einer paradoxen Verständigung, die Verständigung gar nicht nötig hat, oder eines unmittelbaren „Einvernehmens“, das man zu romantischeren Zeiten auch ‚Liebe‘ nannte. Als junger Basler Professor schrieb er seinem Freund Erwin Rohde, der in Kiel Privatdozent geworden war, er wolle ihn ebenfalls nach Basel zu holen versuchen, um mit ihm zusammen wissenschaftliche Pläne zu verwirklichen: Denn  Wie bedingt der Konsens gesucht wird, zeigt Hahn, Verständigung als Strategie. Stattdessen wird, so Hahn, weitgehend mit „Verstehensfiktionen“ () vorliebgenommen.  Stegmaier, Philosophie der Orientierung,  – ,  f.,  f.  Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie,  f.

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VI Orientierung an anderer Orientierung

dazu sei es nötig, sich in die Dinge „gemeinsam hineinzuleben“. Er beschwor ihre unverbrüchliche Treue und ihr „gemeinsames, trotz der Entfernung ungestörtes und unisones Fortschreiten auf gleichen Bahnen“. Umso schwerer sei „das Loos“, von ihm „jetzt getrennt zu sein“. Verständigung durch Briefe könne das Einvernehmen nicht ersetzen, das Medium störe: „Brieflich kann ich nichts sagen.“ Gleichwohl klinge Nietzsche auch aus Rohdes Briefen „eine so verwandte, innerlich vertraute ‚Melodei‘ entgegen, daß ich immer meine, auch unsre Pläne müßten, auch ohne gegenseitige Verständigung, dieselben sein“.²²⁷ Die Hochgestimmtheit unter den Freunden kühlte jedoch ab²²⁸ und brach nach wachsendem, auch karrierebedingtem Misstrauen über einer Meinungsverschiedenheit vollends ein. Später hat Nietzsche immer wieder auch beste Freunde bewusst „abgeschafft, aus Ekel darüber, daß man mich für etwas Andres nimmt als ich bin“.²²⁹ Zunächst aber hielt er am Ideal der verständigungslosen Verständigung auch über Freundschaften hinaus fest. In seinen Reden Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten hatte er „die volle Verständlichkeit alles dessen, was man schreibt,vor Augen“ (ZA II, KSA 1.676), „das instinktive wahre und einzige Verständniß“ der Natur (ZA IV, KSA 1.716), in GT dann der Kunst und Musik („Wir geniessen im unmittelbaren Verständnisse der Gestalt, alle Formen sprechen zu uns, es giebt nichts Gleichgültiges und Unnöthiges.“ GT 1, KSA 1.26) oder auch eines religiösen Kults („das ahnungsvolle Verständniss jenes Einheitsmysteriums“; GT 5, KSA 1.42), vor allem aber der gesprochenen Sprache, die in der Regel unmittelbar verstanden werde. Auch in Nietzsches weiterem Werk und in seinen Notaten ist immer wieder von ‚verständig‘, ‚verständnisreich‘, ‚verständnisvoll‘, ‚Verständigkeit‘ die Rede. Er blieb dennoch auch skeptisch gegen sein eigenes Ideal. Denn er fragte von Beginn an stets nach ‚Nöten‘, aus denen etwas und so auch alles Menschliche und so auch das Verstehen entstehe; er folgte einer Heuristik der Not.²³⁰ In seinem frühen Entwurf Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne fragte er so auch nach den Entstehungsbedingungen der Sprache. Die Menschen hätten irgendwann „zugleich aus Noth und Langeweile“ Sprache erfunden, mit der wohl „Wahrheit“, zugleich aber auch „Verstellung“ möglich geworden sei (WL 1, KSA 1.877). Sprache erleichtert und erschwert die Verständigung zugleich. Als Anfang

 Nietzsche an Erwin Rohde, . Juni , Nr. , KSB . – .  Vgl. Schank, Sprachwahl und Selbstdarstellung, .  Brief an Malwida von Meysenbug aus Turin, . Oktober , Nr. , KSB .. Ende  häuften sich solche Briefe.Vgl.van Tongeren, Das Maass für Ehrlichkeit und Maskierung, ; Stegmaier, Nietzsche zur Einführung,  f., .  Stegmaier, Nietzsche zur Einführung,  – .

1 Verständigung unter Orientierungen

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der Sprache vermutete Nietzsche dennoch, wie er bald darauf notierte, so etwas wie „eine gemeinsame Seele“: Aller Verkehr unter Menschen beruht darauf, dass der eine in der Seele des andern lesen kann; und die gemeinsame Sprache ist der tönende Ausdruck einer gemeinsamen Seele. Je inniger und zarter jener Verkehr wird, um so reicher die Sprache; als welche mit jener allgemeinen Seele wächst oder – verkümmert.²³¹

Nicht aus der „Noth des Individuums“, sondern aus der „Noth einer ganzen Heerde, eines Stammes“ lebe die Sprache. Höre man ihr „herrliches Tonwesen“, so klinge es gar nicht „nach Noth, als der Mutter der Sprache“: „Ist nicht alles mit Lust und Üppigkeit geboren, frei und mit den Zeichen betrachtenden Tiefsinns?“ Was hat der affenartige Mensch mit unsern Sprachen zu thun! Ein Volk, welches sechs Casus hat und sein Verbum mit hundert Formen abbeugt, hat eine volle gemeinsame und überströmende Seele; und das Volk, welches eine solche Sprache sich schuf, hat die Fülle seiner Seele auf alle Nachwelt ausgegossen […].²³²

In seinem Pathos schob Nietzsche offensichtlich zweierlei zusammen, die Notsprache am Anfang und die voll entwickelte, voll erklingende Sprache späterer Zeiten, verlor so über dem Ideal ‚gemeinsamen Seele‘ erneut den Blick auf die Realität. Er erkannte die Unhaltbarkeit dieser Argumentation bald selbst – als er sich aus der Freundschaft löste, die ihm zeitlebens die wichtigste und herausforderndste blieb, die „Sternen-Freundschaft“ mit Richard Wagner. „Wir waren Freunde“, schrieb er im Rückblick, die wie „zwei Schiffe, deren jedes sein Ziel und seine Bahn“ hatten, eine Zeit lang gemeinsam in einem Hafen lagen, als ob dies ihr gemeinsames Ziel gewesen sei. Sie seien dann aber von der „allmächtigen Gewalt“ ihrer jeweiligen „Aufgabe“ auseinandergetrieben und einander fremd geworden. Das Ideal der verständigungslosen Verständigung scheiterte groß – und blieb für Nietzsche dennoch das Ideal: Nietzsche wollte weiter an es „glauben, selbst wenn wir einander Erden-Feinde sein müssten“ (FW 279) und auch wenn er es nun besser wusste.²³³

 NL , [], KSA .. – Vgl. Schlimgen, Nietzsches Theorie des Bewußtseins,  f.  NL , [], KSA ..  Nietzsche nannte in FW  den Namen Wagners nicht, der ihn in den engsten Tribschener Familienkreis aufgenommen hatte, und so lässt sich der Aphorismus FW  auch auf andere Freunde beziehen. Small, Nietzsche and Rée, dachte an Paul Rée, mit dem Nietzsche nicht nur intensiv und erfolgreich zusammengearbeitet, sondern auch, unter den Fittichen der gemeinsamen Freundin Malwida von Meysenbug / in Sorrent einige Monate zusammen gelebt hatte, nun misstrauisch beobachtet von den Wagners, die Rée als Juden scharf ablehnten. An ihn hatte

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VI Orientierung an anderer Orientierung

In seiner Werbeschrift für Richard Wagner zur Eröffnung der Bayreuther Festspiele stellte er die verständigungslose Verständigung, sofern sie der Sprache und ihrer vollen Verständlichkeit bedarf, als Problem Wagners dar. Die Sprache sei „erkrankt“, wenn sie nicht mehr voll verständlich sei: Der Mensch kann sich in seiner Noth vermöge der Sprache nicht mehr zu erkennen geben, also sich nicht wahrhaft mittheilen: bei diesem dunkel gefühlten Zustande ist die Sprache überall eine Gewalt für sich geworden, welche nun wie mit Gespensterarmen die Menschen fasst und schiebt, wohin sie eigentlich nicht wollen; sobald sie mit einander sich zu verständigen und zu einem Werke zu vereinigen suchen, erfasst sie der Wahnsinn der allgemeinen Begriffe, ja der reinen Wortklänge, und in Folge dieser Unfähigkeit, sich mitzutheilen, tragen dann wieder die Schöpfungen ihres Gemeinsinns das Zeichen des Sich-nicht-verstehens, insofern sie nicht den wirklichen Nöthen entsprechen, sondern eben nur der Hohlheit jener gewaltherrischen Worte und Begriffe: so nimmt die Menschheit zu allen ihren Leiden auch noch das Leiden der Convention hinzu, das heisst des Uebereinkommens in Worten und Handlungen ohne ein Uebereinkommen des Gefühls. (UB IV 5, KSA 1.455)

Richard Wagner mit der „dämonischen Uebertragbarkeit und Selbstentäusserung seiner Natur, welche sich Anderen ebenso mittheilen kann, als sie andere Wesen sich selber mittheilt und im Hingeben und Annehmen ihre Grösse hat“, sollte sich einer andern „Seele“ so mitteilen können, dass sie sich selbst „erlebt“ (UB IV 7, KSA 1.466). Damit war der Begriff für die verständigungslose Verständigung gefunden, das gemeinsame ‚Erleben‘: Lässt uns seine Kunst alles Das erleben, was eine Seele erfährt, die auf Wanderschaft geht, an anderen Seelen und ihrem Loose Theil nimmt, aus vielen Augen in die Welt blicken lernt, so vermögen wir nun auch, aus solcher Entfremdung und Entlegenheit, ihn selbst zu sehen, nachdem wir ihn selbst erlebt haben. (UB IV 7, KSA 1.466 f.)

Verstehen soll, wenn es nicht ‚krankt‘, Erleben eines gemeinsamen Sinns im Gebrauch einer gemeinsamen Sprache sein, und dazu setzt es gemeinsame Nöte und eine gemeinsame Kultur voraus. Wenn aber die Wortsprache ‚erkrankt‘ ist, kann diese gemeinsame Sprache nur noch die Musik sein und hier wiederum die

Nietzsche Ende  einen ähnlich aufschlussreichen Freundschaftsbrief gesandt wie Jahre zuvor an Erwin Rohde: „Wenn ich von Ihren Studien höre, so wässert mir immer der Mund nach Ihrem Umgange; wir sind geschaffen dafür, uns gut zu verständigen, ich glaube,wir finden uns immer auf dem halben Wege schon, wie gute Nachbarn, die immer zur gleichen Zeit den Einfall haben, sich zu besuchen und sich auf der Gränze ihrer Besitzungen einander entgegenkommen.“ (Nietzsche aus Basel an Paul Rée in Stibbe, . November , Nr. , KSB . f.) Bezeichnend ist nun jedoch die Distanz in der Freundschaft: Keine verständigungslose Verständigung mehr, sondern Besuche und Begegnungen an der Grenze, die in aller Verständigung bleibt und die auch unter Freunden leicht Missverständnisse und Unverständnisse verursachen kann.

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neue Musik Wagners, die alle „Convention“ abgeworfen hat. Um das glaubhaft machen zu können, nahm Nietzsche erneut zu einer starken Metaphysik Zuflucht, nun der Natur und der Liebe, in die die Natur sich durch die Musik verwandele: was kommt da eigentlich zum Erklingen? Eben nur die richtige Empfindung, die Feindin aller Convention, aller künstlichen Entfremdung und Unverständlichkeit zwischen Mensch und Mensch: diese Musik ist Rückkehr zur Natur, während sie zugleich Reinigung und Umwandelung der Natur ist; denn in der Seele der liebevollsten Menschen ist die Nöthigung zu jener Rückkehr entstanden, und in ihrer Kunst ertönt die in Liebe verwandelte Natur. (UB IV 7, KSA 1.468)

Doch auch hier erhob Nietzsche selbst Einspruch. Um tatsächlich zu einer allgemein verständlichen Sprache zu werden, müsse die Musik sich popularisieren; um „zu den Halb- und Nicht-Musikern reden“ zu können, habe sie es nötig, „mit hundertfacher Deutlichkeit sich mitzutheilen und sich Verständniss, volksthümlichstes Verständniss zu erzwingen“ (UB IV 7, KSA 1.468). Dieses Verständnis stellte sich aber nicht ein: „Niemand gab eine Antwort, Niemand hatte die Frage verstanden.“ Also versuchte Wagner doch, „dem Verständniss seiner Frage durch Schriften nachzuhelfen: neue Verwirrung, neues Gesumme“. Folge: Er „vereinsamt“. Ihm bleibt nur die Verständigung mit sich selbst: „er wollte jetzt nur noch Eins: sich mit sich verständigen“ (UB IV 8, KSA 1.479). Bleibt die Musik: Weil jeder Vorgang eines Wagnerischen Drama’s sich mit der höchsten Verständlichkeit dem Zuschauer mittheilt, und zwar durch die Musik von Innen heraus erleuchtet und durchglüht, konnte sein Urheber aller der Mittel entrathen, welche der Wortdichter nöthig hat, um seinen Vorgängen Wärme und Leuchtkraft zu geben. (UB IV 9, KSA 1.488 f.)

Hier komme ein „Jubel des Erkennens“ auf, der, so Nietzsche auch noch nach seiner Lösung von Wagner, „absoluter Musik“ vorbehalten ist, „in der Alles ohne weitere Beihülfe sofort symbolisch verstanden wird“ (MA I 216). Die ParsifalDichtung hatte Nietzsche bekanntlich so abgestoßen, dass ihm der Bruch mit Wagner unausweichlich schien – vom Parsifal-Vorspiel ließ er sich bis zuletzt erschüttern.²³⁴

 Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie,  – . Zur Auseinandersetzung um die Gründe von Nietzsches „Bruch mit Wagner“ vgl. Winteler, Nietzsches Bruch mit Wagner. Danach war nicht die berüchtigte „tödtliche Beleidigung“ (Brief an Franz Overbeck, . Februar , Nr. , KSB .), sondern der Parsifal-Stoff der ausschlaggebende Grund der Trennung von Wagner.

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VI Orientierung an anderer Orientierung

Die absolute Musik mag eine verständigungslose Verständigung ermöglichen, das Problem der Verständigung im Übrigen kann sie nicht lösen. Der spätere Nietzsche begriff es konsequent aus seiner Heuristik der Not, und sie führte ihn erneut zum Herdenverhalten. Das Herdenverhalten macht gerade das Verstehen in gemeinsam erlebten Nöten aus, über die man sich dann leicht durch Zeichen verständigen kann: Die Nöthigung bei großer Gefahr, sich verständlich zu machen, sei es um sich einander zu helfen oder um sich zu unterwerfen, hat nur vermocht, jene Art Urmenschen einander anzunähern, welche mit ähnlichen Zeichen ähnliche Erlebnisse ausdrücken konnten; waren sie zu verschieden, verstanden sie sich, beim Versuche einer Verständigung durch Zeichen, falsch: so gelang die Annäherung, also endlich die Heerde nicht. Daraus ergiebt sich, daß im Großen und Ganzen die Mittheilbarkeit der Erlebnisse (oder Bedürfnisse oder Erwartungen) eine auswählende, züchtende Gewalt ist: die ähnlicheren Menschen bleiben übrig.²³⁵

Die Verständigung in der Herde aber wirkt dann zugleich exklusiv, sie schließt die aus, die anders erleben. So wurde das Problem der Verständigung für Nietzsche das Problem der „Ausgesuchteren, Feineren, Seltsameren, schwerer Verständlichen“ gegenüber den „gewöhnlicheren Menschen“ (JGB 268), kurz: zum Problem der Rangordnung unter Verstehenden (Kap. XI).

1.2 Luhmanns Konstruktion der Kommunikation Wie Nietzsche den Begriff der Verständigung, so gebrauchte Luhmann den Begriff der Kommunikation irritierend anders als gewohnt. Lat. communicatio mit der Wurzel munus, ‚Aufgabe, Dienst, Geschenk, Opfer‘ hatte den Sinn einer ‚Mitteilung‘, allgemeiner einer ‚Gewährung‘ wie der einer ‚Unterredung‘ (sermo) und von ‚Gemeinschaft‘ (communitas) überhaupt. In der christlichen Theologie und Philosophie des Mittelalters wurde sie zur Gewährung der Gemeinschaft auch mit Gott und damit zu einer Teilhabe an der Schöpfung, insbesondere bei Cusanus,²³⁶ den  NL , [], KSA .. In demselben Notat entwickelte Nietzsche auch schon die weitergehende These, dass sich mit der Mitteilungs-Bedürftigkeit auch das Bewusstsein entwickelt habe, die er im V. Buch der FW von  publizierte (FW ; Kap. IV, ): „Die Nöthigung zu denken, die ganze Bewußtheit, ist erst auf Grund der Nöthigung, sich zu verständigen, hinzugekommen. Erst Zeichen, dann Begriffe, endlich ‚Vernunft‘, im gewöhnlichen Sinn. An sich kann das reichste organische Leben ohne Bewußtsein sein Spiel abspielen: so bald aber sein Dasein an das Mit-Dasein anderer Thiere geknüpft ist, entsteht auch eine Nöthigung zur Bewußtheit.“  Sternschulte, Art. Kommunikation. Den Sinn der schöpferischen Gemeinschaft im gegenseitigen Verständlichwerden hat Karl Jaspers in seiner (nun säkularen) Existenzphilosophie wiederaufgenommen ().

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Luhmann gerne zitierte; gelegentlich definierte er Kommunikation denn auch als „allgemeinstes soziales Mittel der Herstellung von Ordnung“ – aber auch „Unordnung“ (SdR, 121). Statt ‚Übereinstimmung im Sinn‘ oder ‚Übertragung von Sinn‘ zu erwarten, ging Luhmann vom Begriff der „sozialen Situation“ aus: Kommunikation im Sinn sprachlicher Mitteilung werde „zwangsläufig in Gang gesetzt […], wenn immer sich soziale Situationen bilden“ (WiK, 114), die ihrerseits zustande kommen, wenn psychische Systeme beobachten, dass sie einander beobachten, und dabei einander im oben eingeführten Sinn zu verstehen versuchen. Dann entsteht ein soziales oder kommunikatives System, das autonom seinen eigenen Regeln folgt und die kommunizierenden psychischen Systeme zur Randbedingung macht, zu seiner Umwelt werden lässt (Kap.V, 2.2). Sie sind dann Teilnehmer einer Kommunikation, die „als Einheit keinem Einzelbewußtsein zugerechnet werden kann“, nur so „funktioniert“ sie (GG, 81 f.), und das bedeutet: Die Kommunikation trägt und steuert sich selbst, „nur die Kommunikation kann kommunizieren“ (WiK, 113).Was sie kommuniziert, sind Irritationen aus ihrer Umwelt, also eben das, was psychische Systeme zu ihr beitragen. Sie lässt sich nur durch sie, nicht „durch alle möglichen physischen, chemischen und organischen Prozesse der Welt irritieren“ (WissG, 41), und darum erscheint es so, als trügen und steuerten die Bewusstseine die Kommunikation. Betrachtet man sie aber als autonom, dann sieht man, dass sie als „Sensibilisierung […] für Zufälle, für Störungen, für ‚noise‘ aller Art“ fungiert, d. h. für alles,was in sozialen Situationen für deren Bewältigung relevant werden könnte, und keineswegs immer nach den Ansichten und Absichten der beteiligten Bewusstseine. Sie macht für sie erst „verständlich“, was ihnen ohne sie unverständlich bliebe (SS, 237). Selbstverständliches dagegen braucht nicht kommuniziert zu werden, eben weil seine Verständlichkeit schon vorausgesetzt werden kann. „Die Kommunikation teilt die Welt nicht mit, sie teilt sie ein in das, was sie mitteilt, und das, was sie nicht mitteilt.“ (WissG, 27) Auch Kommunikation selektiert also, trifft laufend Auswahlentscheidungen unter dem, was zu sagen ist und was nicht und was die psychischen Systeme darum beitragen können und was nicht: „Kommunikation ist Prozessieren von Selektion.“ (SS, 194) In der Sprache Nietzsches hieß das: Sie setzt das individuelle „Erleben“ einem „natürlichen, allzu natürlichen progressus in simile, […] in’s Ähnliche, Gewöhnliche, Durchschnittliche, Heerdenhafte – in’s Gemeine“ aus, übt in diesem Sinn „Gewalt“ auf es aus (JGB 268).²³⁷ In der nüchternen Sprache Luhmanns: „Das Bewußtsein, was immer es sich bei sich selbst denkt, [wird] von der Kommunikation in eine Situation des forced choice manövriert“ (WiK, 62). Die ‚Gewalt‘ der Kommunikation liegt in ihrer Autonomie.

 Vgl. García, „Vermoralisirung“ e „Entmoralisirung“.

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VI Orientierung an anderer Orientierung

Mit der Autonomie der kommunikativen gegenüber den psychischen Systemen ist ein Anhaltspunkt geschaffen, von dem aus sich die Bindungen und Freiheiten beobachten lassen, die die Kommunikation ermöglicht. Sie ist zunächst „eine stets faktisch stattfindende, empirisch beobachtbare Operation“ (WissG, 14). Was im Kollektivsingular ‚die Kommunikation‘ heißt, besteht aus zahllosen kurzzeitigen Ereignissen, den jeweiligen situativen Kommunikationen, die, indem sie die psychischen Systeme zu weiteren Kommunikationen anregen, laufend neue produzieren. Kommunikation setzt sich auf diese Weise ‚autopoietisch‘ fort. Sie würde dennoch in Einzelereignisse zerfallen, wenn sich nicht Kommunikationsstrukturen bilden würden. Das sind zunächst und vor allem Sprachen. Sprache, darin sind sich Nietzsche²³⁸ und Luhmann einig, bildet nicht die Welt ab, sondern bindet das Bewusstsein, koppelt es über Kommunikation mit Gesellschaft und ermöglicht so die Strukturierung beider: „Über Sprache wird Bewußtseinsbildung und Gesellschaftsbildung überhaupt erst möglich“ (WissG, 47; vgl. FW 354). Sprache bindet die „unruhigen, quirligen“ Bewusstseinssysteme dadurch aneinander (WissG, 45), dass sie sie gleichermaßen „fasziniert“: „Sie stellt sehr auffällige Wahrnehmungsgegenstände bereit, und zwar gerade durch die Artifizialität, den laufenden Wechsel und die Rhythmik ihrer Formen, die der Eigenrhythmik des Bewußtseins genau angepaßt ist (oder im Falle des Lesens: genau angepaßt werden kann).“ (WissG, 47 f.; Kap. I., 3.5; V, 2.1) In ihrer Artifizialität sind sprachliche Formationen mit einem stark begrenzten Umkreis von Vorstellungen verbunden: „Lesen Sie bitte: frische Brötchen – und ich bin sicher, daß Sie nicht etwas völlig anderes im Sinn haben als ich.“ (WissG, 49) So ermöglichen sie rasche Kooperationen. Nietzsche: „Die Geschichte der Sprache ist die Geschichte eines Abkürzungs-Prozesses […]; auf dies schnelle Verstehen hin verbindet man sich, enger und immer enger“ (JGB 268). Der Abkürzungs- ist ein Selektionsprozess. Er beschleunigt sich noch einmal durch „‚Abkürzungen der Zeichen‘“, „die Erfindung von Zeichen für ganze Arten von Zeichen“.²³⁹ Zugleich schafft die laufende Selektion neue Spielräume der Kommunikation. Luhmann betonte sie besonders und hier vor allem die erst durch Sprache mögliche Negation, die in der ‚Welt‘ oder ‚Natur‘ nicht vorkommt. Jeder kann negieren, was der andere sagt, mittels Sprache können Kommunikation und Bewusstsein „sich gegenseitig kontinuierlich irritieren und überraschen […] und sich dadurch gegenseitig in Betrieb halten“ (WissG, 49). Dabei erweitern sich die Spielräume sowohl in der Kommunikation als auch gegenüber der Welt. Weil beide, Kom-

 Vgl. Simon, Grammatik und Wahrheit; Fietz, Medienphilosophie; Stegmaier, Nietzsches Zeichen.  NL /, [], KSA ./KGW IX/, N VII , .

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munikation und Bewusstsein, aus kurzzeitigen Ereignissen bestehen, können sie aber auch wechselnd aneinander anschließen (WissG, 50). So wird systemtheoretisch die ‚Lebendigkeit‘ der Sprache verständlich, und Nietzsches Furcht, sie würde in „festen Conventionen“ erstarren (WL 1, KSA 1.877), wird gegenstandslos. Luhmann fasste diese Lebendigkeit der Sprache theoretisch so, dass er sie als „Medium“ der Kommunikation überhaupt und die jeweilige Kommunikation als ihre Formung ansetzte. Die Unterscheidung von Medium und Form²⁴⁰ macht zunächst plausibel, dass sich wohl Kommunikationen verbrauchen – man kann nur unter besonderen Bedingungen dasselbe noch einmal sagen –, nicht aber die Sprache. Sie zehrt sich nicht auf, wenn sie gebraucht wird, sondern bleibt erhalten wie das Wasser des Meeres, wenn Winde in ihm Wellen aufwerfen, oder der Sand am Strand, wenn Kinder Burgen aus ihm bauen, und steht zu immer neuer Formung zur Verfügung. Dabei können beide beweglich sein. Im Medium sind, so Luhmann, die Elemente (die Wasserteilchen, die Sandkörner, die Worte) lediglich ‚lockerer‘ gekoppelt als die ‚rigidere‘ Form, in die sie gebracht werden, und durch seine Formungen kann sich auch das Medium mit der Zeit umformen.Wir erinnern an Nietzsches Satz „Die Form“ – das langfristige Medium – „ist flüssig, der Sinn“ – die kurzzeitige Formung des Mediums – „ist es noch viel mehr …“ (GM II 12; Kap. II, 3.3.1).²⁴¹ Die Selbstreferenz der Sprache als langfristiges Medium und kurzfristige Formung macht plausibel, dass man über die Sprache in derselben Sprache sprechen kann, ohne sie in eine Objekt- und Metasprache auftrennen zu müssen. Durch ihre Selbstreferenz festigt sich zugleich die „eigene Realität“ der Sprache, die dann immer weniger davon abhängig ist, „daß sie als Zeichen für etwas anderes, wirklich Reales dient“ (WissG, 52). In ihrer eigenen selbstreferentiellen Realität wird auch die Sprache unabhängig von den jeweiligen Bedürfnissen, Interessen, Intentionen, Rationalitäten usw. der Sprechenden und bleibt dennoch für sie offen, kann sie artikulieren und kommunizieren. Kurz, die Kommunikation, die Nietzsche so gewaltsam erschien, kann „ihre operativen Symbole mit sehr viel größeren Freiheiten einsetzen als das Bewußtsein. Sie kann täuschen, sich irren, Symbole mißbrauchen, lügen und erreicht damit Freiheiten des Umgangs mit der

 Luhmann übernahm sie, wie er stets betonte, von Fritz Heider.Vgl. Grizelj, Art. Medien,  f. Zur Diskussion der Konzeptualisierung der Sprache durch die Unterscheidung von Medium und Form vgl. Krämer, Form als Vollzug.  Das Medium im heider-luhmannschen Sinn – das kann neben Sprache z. B. auch Geld oder Macht sein – ist also nicht Substanz oder ousía im aristotelischen Sinn als etwas, das dem Wechsel von Eigenschaften zugrunde liegt, weder als morpháe noch als hylae. Da Medium und Form fluktant gegeneinander sind, können sie nicht mehr von der aristotelischen Ontologie her begriffen werden. Vgl. Stegmaier, Substanz; Stegmaier, Philosophie der Fluktuanz.

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Außenwelt,von der die Vernunft nur träumen kann.“ (WissG, 36) So sehr Nietzsche solche Freiheiten nutzte, schauderte ihn doch noch vor ihnen.

1.3 Orientierung an anderer Orientierung Luhmann verwendete zwar den Begriff „Verständigung“ (SS, 199) oder auch „kommunikative Verständigung“ (SS, 211) zur Erläuterung von „Kommunikation“, darunter auch solcher, die keine Worte mehr braucht („Verständigung vor der Tür über das Problem, wer zuerst hindurchgeht“; SS, 212), mied ihn jedoch, sofern er Einigung, Konsens und „Annahmebereitschaft“ konnotiert (SS, 604). Eine solche „verständigungsorientierte Kommunikation“ überließ er Jürgen Habermas (SS, 352; vgl. SS, 603 f.), für den „Vernunft“ die „Symbolisierung einer gelungenen Verständigung“ sei (GG, 187), und verband sie immer enger mit dessen Namen („Verständigungsrationalität im Sinne von Habermas“; GG, 177). Für eine soziologische Theorie der Kommunikation reiche ‚verständigungsorientierte Kommunikation‘ bei weitem nicht aus, vor allem, weil sie die Konzeption von Kommunikation von vornherein moralisch restringiere. Verzichte man darauf, sehe man eher, worauf die Verständigung jeweils beruht, und das können neben Ehrlichkeit, Klarheit, Bemühung um gute Gründe, Lernfähigkeit usw. auch „Lüge und Verstellung“, diplomatische Vieldeutigkeit, Ironie, Humor usw. und sogar Unaufmerksamkeit und Geistesabwesenheit sein: Verständigung, so Luhmann, kann auch „schlicht passieren, indem man die Gelegenheit zum Widerspruch verpaßt“ (VRG/MorG, 348 f.). Darum müsse man den Begriff ‚Verständigung‘, wenn man ihn schon gebrauche, möglichst „moralfrei“ halten (MorG, 56 u. ö.). Luhmann desillusionierte jedoch nicht nur die habermassche Vernunft, so wie Nietzsche schon die kantische Vernunft desillusioniert hatte, sondern auch das, was Nietzsche daraus zu retten versucht hatte, das Ideal verständigungsloser Verständigung. Es mag, so Luhmann, „im Meer der sinnhaft angezeigten Möglichkeiten Verständigungsinseln“ geben, „die als Kultur im weitesten Sinne das Sicheinlassen auf, und das Beenden von, Interaktion erleichtern“ (SS, 567 f.). Aber zu eigentlichen Übereinstimmungen kann es zwischen getrennten psychischen Systemen auch hier nicht kommen, „allein deshalb schon, weil die jeweils aktuellen Wahrnehmungen, aber auch die Erinnerungen und Assoziationen von Individuum zu Individuum verschieden sind und jeder ein anderes Ich mitdenkt, wenn er denkt, auch wenn alle gemeinsam ‚hurra‘ rufen (aber eben: der eine laut, der andere etwas leiser)“ (VRG/MorG, 348). Das könnte geradewegs auf Nietzsches und Rohdes Briefwechsel bezogen sein, von dem wir ausgegangen sind. Nietzsche aber hielt weiterhin an seinem Ideal fest – im Begriff des Erlebens. In einem späten Passus über „Verstanden- oder Nicht-verstanden-werden“ in Ecce homo schrieb er

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von dem jungen Doktor Heinrich von Stein, in dem er einen neuen Gefährten zu finden hoffte, er habe sich „ehrlich darüber beklagt, kein Wort aus meinem Zarathustra zu verstehn“, worauf er ihm geantwortet habe, „das sei in Ordnung: sechs Sätze daraus verstanden, das heisst: erlebt haben, hebe auf eine höhere Stufe der Sterblichen hinauf als ‚moderne‘ Menschen erreichen könnten“. Ein Buch, das „von lauter Erlebnissen redet, die gänzlich ausserhalb der Möglichkeit einer häufigen oder auch nur seltneren Erfahrung liegen“, können andere nicht eigentlich verstehen, aber sie können es als anderes Verstehen erleben und dadurch besser verstehen (EH Bücher 1). Erleben geht hier weiterhin über das Verstehen hinaus, soweit Verstehen auf explizite Verständigung angewiesen ist. Luhmann unterschied anders, nämlich Erleben von Handeln und zwar wiederum durch die Differenz von System und Umwelt (WissG, 140 f.). Danach teilen Systeme ihre Interaktion und Kommunikation mit ihrer Umwelt ein in das, was sie in der Umwelt irritiert und fasziniert – das Erleben –, und das,was von ihnen selbst ausgeht – das Handeln. Für Erleben kann man nicht verantwortlich gemacht werden, für Handeln schon. Die Unterscheidung von Erleben und Handeln ist danach „eine in der Kommunikation praktizierte Zurechnungskonvention“ (WissG, 142 f.). Indem man sich für die Seite des Erlebens entscheidet, begrenzt man die Verantwortungszuschreibung und versucht damit, die Kommunikation ‚moralfrei‘ zu halten. Nietzsche war hier bis zum Äußersten gegangen, als er eine neue „Unschuld des Werdens“ denkbar und plausibel zu machen suchte. Darin hoffte er wiederum am ehesten von engen Freunden verstanden zu werden. In einem Entwurf zu „Reden an meine Freunde“ notierte er: Ich habe mich immer darum bemüht, die Unschuld des Werdens mir zu beweisen: und wahrscheinlich wollte ich so das Gefühl der völligen „Unverantwortlichkeit“ gewinnen – mich unabhängig machen von Lob und Tadel, von allem Heute und Ehedem: um Ziele zu verfolgen, die sich auf die Zukunft der Menschheit beziehen.²⁴²

Zuletzt hat Nietzsche den „Typus Jesus“ in Der Antichrist so verstanden. So wie er ihn beschrieb, als jemandem, dem „die ganze Realität, die ganze Natur, die Sprache selbst, […] bloss den Werth eines Zeichens, eines Gleichnisses“ hat (AC 32), sei ihm alles zu einer bloßen „Praktik des Lebens“ geworden ohne Theorie, ohne definitive Fest-Stellung, ohne Dogmen, selbst ohne Distanz des Erlebens zum Erlebten. Nietzsche verwendete hier darum auch den Begriff des Erlebens nicht mehr: „Dieser Glaube“ – die „evangelische Praktik“ – „formulirt sich […] nicht – er

 NL , [], KSA . f. – „Überall, wo Verantwortlichkeiten gesucht werden {worden sind}“, notierte sich Nietzsche , ist „{das Dasein überhaupt um seine Unschuld gebracht}“ (NL , [], KSA ./KGW IX/, W II ,  f.; vgl. GD Irrthümer ).

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VI Orientierung an anderer Orientierung

lebt“ (AC 32 f.).²⁴³ In Nietzsches spätem Erlebnis dieses „Typus Jesus“ – zuvor hatte er deutlich, manchmal scharf gegen ihn Distanz gehalten – lebte das Ideal der verständigungslosen Verständigung noch einmal auf, nun jenseits persönlicher Freundschaften. Es ist das Ideal eines ganz in das Erleben zurückgenommenen Lebens, ohne alle Verantwortungszuschreibung. Damit ging er bis an die Grenze der Möglichkeiten der Orientierung. Denn das „ganz in Symbolen und Unfasslichkeiten schwimmende Sein“ (AC 31), das er seinem ‚Typus Jesus‘ zuschrieb – die historischen Plausiblitäten können wir hier außer Acht lassen –, ist die Grundsituation der Orientierung, die in jeder neuen Situation von Anhaltspunkten und Zeichen ausgeht, deren Verständnis Spielräume lässt und in diesen Spielräumen ihre Orientierungsentscheidungen trifft und sich so auch dort Halt schafft, wo nichts feststeht (Kap. I, 3). Damit ging Nietzsche hinter alle Unterscheidungen und Entscheidungen der Orientierung zurück und holte so Luhmann wieder ein, der seinerseits die Unterscheidung von Erleben und Handeln als Orientierungsentscheidung auswies. In jenem ‚ganz in Symbolen und Unfasslichkeiten schwimmenden Sein‘ aber – ohne alle fest-gestellte Realität, mit der Liebe „als einziger, als letzter Lebens-Möglichkeit“ (AC 30) – kann nur ein ‚Typus Jesus‘ leben. Gewöhnliche Orientierungen legen sich zumindest auf Zeit vielfach fest und sei es nur in Gestalt eingespielter Routinen. Sie aber spielen sich am meisten und am stärksten in der Orientierung an anderer Orientierung ein.

2 Spielräume der Verständigung: Verstehen, Missverstehen, Andersverstehen 2.1 Luhmann: Komplexität des Verstehensprozesses Als „koordinierte Selektivität“ (SS, 212) hat Kommunikation eine ‚doppelte Kontingenz‘ zu bewältigen, wie Luhmann sie mit Talcott Parsons nannte, die Tatsache, dass die jeweils andere Seite jeweils anders antworten kann, als die eine erwartet hat, und dass beide wissen, dass auch die andere Seite das weiß (Einl., 1). Damit hat die Kommunikation es zugleich mit doppelter Selektion und doppelter Selbstreferenz zu tun. Man kann sich das am Schachspiel deutlich machen. Darin stehen die Spieler in einer Wettbewerbssituation; sie legen es beide darauf an, sich als letzte auf dem Spielfeld zu behaupten. Anders als im Ernst des Alltags steht hier die Ausgangssituation fest: in Gestalt einer bestimmten Zahl und Ordnung

 Vgl. Havemann, ‚Der Apostel der Rache‘,  – ; Stegmaier, Beseligende Freiheit der menschlichen Orientierung.

2 Spielräume der Verständigung: Verstehen, Missverstehen, Andersverstehen

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von Feldern, auf denen sich eine bestimmte Zahl von Figuren nach bestimmten Regeln bewegen können. So ist die Orientierung hier zunächst übersichtlich und leicht. Sie wird bekanntlich dennoch rasch komplex und immer komplexer – aufgrund doppelter Kontingenz, Selektion und Selbstreferenz: Der Reiz des Schachspiels liegt eben darin, dass beide Spieler auf die Züge des andern mit alternativen Zügen antworten können, Zügen, mit denen der andere rechnet, aber auch Zügen, mit denen er nicht rechnet. Sie spielen, könnte man sagen, geradezu doppelte Kontingenz und Steigerung der Komplexität, während weitere Zufallsgeneratoren wie Würfel oder Karten ausgeschlossen sind. Jeder Zug bedeutet eine Vorentscheidung auch für die weiteren Züge, selektiert bis zum Schachmatt unter zunächst unübersehbar vielen, allmählich aber sich verringernden Möglichkeiten, und sein Erfolg wird bei der Planung der weiteren Züge mitreflektiert. Kurz: Man spielt rekursiv (Kap. II, 3.3): In der Kommunikation wird „jede Einzelkommunikation […] in den Verstehensmöglichkeiten und Verstehenskontrollen eines Anschlußzusammenhanges weiterer Kommunikationen rekursiv abgesichert“ (SS, 199). Das Spiel restringiert auf diese Weise laufend seine doppelte Kontingenz und bleibt so für die Spieler in jeder Situation hinreichend überschaubar und verständlich, doch für jede Seite in Spielräumen unterschiedlich; sonst könnte man es einstellen, würde es aufhören. Das Spiel endet, wenn einer der beiden Spieler keine Alternative mehr hat, ,matt‘ gesetzt ist. Wie weit die Spieler die Komplexität des Spiels in seinem Fortgang überschauen und neue Situationen erfolgreich bewältigen können, macht ihren Rang aus, der sich unter Schachspielern auch nach Punkten beziffern lässt. Es spielen dann vorzugsweise Spieler von vergleichbarem Rang gegeneinander – auf die Selektion der Spielzüge folgt eine Selektion der Spieler. Gleichrangige Spieler können sich wohl gelegentlich auf ein ‚Remis‘ einigen, d. h. wechselseitig auf Sieg und Niederlage verzichten und darin zum Konsens kommen. Aber damit stellen sie lediglich die Entscheidung über Sieg und Niederlage bis zur nächsten Partie zurück. Und auch das Remisangebot kann angenommen oder abgelehnt werden, wird also seinerseits selektiert.²⁴⁴  Nietzsche hat so, aus dem „Princip des Gleichgewichts“ (MA II, WS ), die Gerechtigkeit gedacht (vgl. Gerhardt, Das „Princip des Gleichgewichts“), allerdings dem Gleichgewicht von „Räubern“ und „Mächtigen“ und in Bezug auf „die älteste Rechts- und Morallehre“; dabei benutzte er ebenfalls die Schach-Metapher („zwei gefährliche Wesen in Schach hält“). Moderne Vertragstheorien des Politischen, wie es Höffe, „Ein Thier heranzüchten, das versprechen darf“,  f., von GM II  aus vorgeschlagen hat, kann man darauf kaum gründen. Nietzsche nennt sie dort, was Höffe unterschlägt, ausdrücklich „Schwärmerei“. Seinen Zarathustra ließ Nietzsche lehren: „Die Menschen-Gesellschaft: die ist ein Versuch […] – ein Versuch, oh meine Brüder! Und kein ‚Vertrag‘! Zerbrecht, zerbrecht mir solch Wort der Weich-Herzen und Halb-und Halben!“ (Z III Tafeln ).

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VI Orientierung an anderer Orientierung

Das Schachspiel ist ein immer noch hochgradig simplifiziertes Modell der in der alltäglichen Kommunikation mitspielenden Selektionen. Denn in ihr steht auch die Ausgangssituation nicht fest, sondern muss ihrerseits jeweils erst ermittelt werden; die weiteren Kommunikationszüge sind zwar vorstrukturiert, aber mit einem weit komplexeren und zumeist nicht expliziten Regelwerk. Dennoch fällt die alltägliche Kommunikation den meisten leichter als Schachspielen, ihre Komplexität wird ‚spielend bewältigt‘. Wie das geschieht, erfordert eine komplexere Beschreibung des Verstehens und der Spielräume der Verständigung. Nietzsche und Luhmann haben sie geliefert, wiederum charakteristisch unterschiedlich. Wir beginnen mit Luhmann. Systeme verstehen Systeme überschrieb Luhmann einen einschlägigen Artikel. Nach der Differenz von System und Umwelt verstehen Systeme einander so, dass jedes für das andere Umwelt ist. Das macht zunächst denkbar, dass das Verstehen asymmetrisch und symmetrisch und dabei in jeder Richtung anders verlaufen kann (die Wildschweine und die Waldspaziergänger). Systeme beobachten jeweils aus ihren Umweltbezügen heraus andere Systeme unter deren Umweltbezügen und zugleich, dass sie selbst zu deren Umweltbezügen gehören – die System-UmweltDifferenz wird in einem re-entry, wie George Spencer Brown es nannte, auf beiden Seiten in sich selbst wieder eingeführt. Dadurch wird ihre Beziehung überkomplex und muss entsprechend simplifiziert werden: Dazu wird kurzerhand und vorläufig „eine gemeinsame Welt“ und ein gemeinsames „Erleben“ dieser Welt unterstellt. Nietzsches Ideal wird zur Methode. Indem man ‚sich ineinander hineinversetzt‘ (Waldspaziergänger asymmetrisch in die Wildschweine), entlastet man sich für weitere „Möglichkeiten des Verstehens – und des Mißverstehens“ (SvS, 63). Dass Möglichkeiten des Verstehens auch die Möglichkeiten des Missverstehens steigern, liegt daran, dass, so Luhmann,Verstehen seinerseits im Zirkel einer dreifachen Selektion verläuft. Selektiert wird danach stets zugleich nach ‚Information‘ (1), ‚Mitteilung‘ (2) und ‚Verstehen‘ (3). (1) Auch Information ist nicht einfach, wie man gerne unterstellt, an sich vorhanden und muss nur abgerufen werden, sondern selbst schon Ergebnis einer Selektion und auch nur deshalb interessant, das heißt: überhaupt erst eine Information.²⁴⁵ Eine Information muss „Neuigkeitswert“ haben, sonst „kommt kein Kommunikationsprozeß zustande“ (SS, 194 f.). Damit aber ihr Neuigkeitswert erkennbar ist, muss sie entsprechend codiert, markiert und formatiert, in Nachrichtenmedien auch standardisiert sein. Informationen können in der Alltagskommunikation (bis hin zum Alltagstratsch) von beliebigen

 Vgl. Shannon/Weaver, The Mathematical Theory of Communication; Bateson, Ökologie des Geistes. Luhmann schließt immer wieder explizit an sie an.

2 Spielräume der Verständigung: Verstehen, Missverstehen, Andersverstehen

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Kommunikationsteilnehmer(inne)n aus beliebigen Kommunikationen herausgefiltert werden; sie fungieren dann als Selektor(inn)en und informieren dabei, je nachdem, was und wie sie selektieren, für eine Beobachtung zweiter Ordnung zugleich über sich selbst. (2) Mitteilung wird von Luhmann etwa so von der Information unterschieden, wie die Sprechakttheorie illocutionary von locutionary speech acts unterschieden hat. Gemeint ist die gewählte Art der Mitteilung, z. B. klar oder vage, andeutend oder bestimmt, ernsthaft oder ironisch, ehrlich oder mit durchschaubarer Täuschungsabsicht (Luhmann verengt also den Sinn des deutschen Wortes ‚Mitteilung‘). Anhand der (Art der) Mitteilung wird darüber entschieden oder selektiert, ob und wie eine Information aufgenommen, wie ‚ernst‘ sie genommen und im Grenzfall überhaupt als Information betrachtet wird. (3) Im Unterscheiden-Können von „Information und Mitteilungsverhalten“ besteht dann das Verstehen. Man versteht eine Information genau dann, wenn man weiß, ‚wie man sie zu nehmen hat‘, wenn man also nicht nur die Information, sondern auch die (Art der) Mitteilung (kann man das so glauben?) und damit die Relevanz der Information (warum erzählt sie das?) einschätzen kann. Information und Mitteilung werden in einer dritten Selektion wechselseitig selektiert (man hört bei bestimmten Informanten und bestimmten Mitteilungen hin oder weg). Dabei können die Führungsverhältnisse laufend umgekehrt werden […]. Mal liegt der Engpaß und der Schwerpunkt in dem, was verstanden werden kann; dann wieder sind neue Informationen vordringlich wichtig, und bald darauf schlägt das Mitteilungsbedürfnis als solches durch. Es gibt also keine ein für allemal festliegende Richtung der Selektionsverstärkung. (SS, 227)

Die Art der Mitteilung kann ebenso interessant sein wie die Neuigkeit der Information. Literatur kann man mehrmals lesen, Zeitungen kaum. Die drei Selektionen Information, Mitteilung, Verstehen folgen nicht aufeinander, sondern erfolgen zugleich und müssen ständig „zur Synthese gebracht werden“ (SS, 196). Diese Synthese ist der Verstehensprozess.²⁴⁶ Er wird zudem, wie im Schachspiel, laufend mit früheren Verstehensprozessen rekursiv abgeglichen, also selektiert und restringiert und wird so überschaubar gehalten. Beobachten lässt sich Verstehen aber nur am weiteren Verhalten des andern, das man wie-

 Darum ist, so Luhmann, besser an das ‚Organon-Modell‘ Karl Bühlers anzuschließen, das im Sprechen drei simultane Funktionen unterscheidet (Darstellung in Symbolen ≈ Information, Ausdruck in Symptomen ≈ Mitteilung, Appell in Signalen ≈ Verstehen), als an die Sprechakttheorie John L. Austins und John Searles, die die speech acts zumindest in der Darstellung nebeneinander stellt und so von ihrer wechselseitigen Selektivität ablenkt (SS,  f.).

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derum so oder anders verstehen kann. An die Zirkel schließen neue Zirkel an. So eröffnen sich vielfache Spielräume des Missverstehens, die nie definitiv geschlossen werden. Sie gelten als „normal“, werden also gewöhnlich nicht registriert (SS, 196): „Verstehen ist praktisch immer ein Mißverstehen ohne Verstehen des Miß.“ (RdM, 173) Für das „Miß“ im „Verstehen“ gibt es kein unabhängiges Kriterium. Man kann zwar manifeste Missverständnisse (schlecht gehört, Begriffe verwechselt, Verständniskapazitäten überschritten, unbelehrbares Wunschdenken usw.) leicht erkennen und oft auch korrigieren. Doch auch bei ‚feinstem Verstehen‘ kann man letztlich nie sagen, ob und worin ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ verstanden wurde, und versucht man sich darüber zu verständigen, können wieder neue Verstehensprobleme entstehen. Das Spiel kommt nicht zu Ende und lässt sich umso mehr auf Remis ein, Zugeständnisse vorläufigen Einverständnisses: Man lässt Missverstehen in erträglichen Spielräumen, soweit man es bemerkt, in der Regel ‚durchgehen‘, um den Fortgang der Kommunikation nicht in Frage zu stellen. Man hat das mit moralischem Anklang ‚principle of charity‘ genannt. Es hilft vor allem dabei, in der Kommunikation selbst anschlussfähig zu bleiben. Wird auf ‚richtigem‘ Verstehen bestanden, kann die Kommunikation rasch abbrechen. Wird, so Luhmann, Missverstehen erst einmal als solches wahrgenommen, kann die „Mißverstehenskomponente“ so hoch werden, „daß eine Weiterführung der Kommunikation unwahrscheinlich wird“ (SS, 217). Man fühlt sich dann nicht mehr hinreichend verstanden, meist ohne sagen zu können, woran es eigentlich liegt, und verliert die Lust an der Kommunikation. Man hat daher für die Kommunikation noch eine „vierte Art von Selektion“ zu unterscheiden, „die Annahme bzw. Ablehnung der mitgeteilten Sinnreduktion“ (SS, 203), das Für-wahr- oder Für-falsch-Halten des Verstandenen. Man muss etwas (im Sinn der dargestellten dreifachen Selektion) schon verstanden haben, um es (in einer vierten Selektion) für wahr oder für falsch halten zu können. Auch diese Selektion ist diffizil, auch sie verläuft nicht unbefangen. Mitteilungen können so klar, bestimmt oder attraktiv sein, dass sie schon deshalb ungeprüft als wahr durchgehen, zumal zu Prüfungen in aller Regel wenig Zeit und Gelegenheit ist und Prüfungen ein Misstrauen verraten, das die weitere Kommunikation erschwert. Man darf sich hier nicht, wie es oft geschieht, an der Wissenschaft orientieren. Denn Wissenschaftler(innen) sind darin trainiert, Widerspruch willig entgegenzunehmen (WissG, 242), sie weisen in ihrer Arbeit, nicht unbedingt auch im Alltag, eine „hohe institutionalisierte Toleranz für Meinungsverschiedenheiten und -konflikte“ auf (WissG, 365; Kap.VII, 3.4). Und sie verfassen Schriften, und bei Schriften, in persönlicher Distanz zu den Autor(inn)en, wird Widerspruch leichter, mehren sich aber auch die Möglichkeiten zu Missverständnissen. Sie vor allem beobachtete Nietzsche.

2 Spielräume der Verständigung: Verstehen, Missverstehen, Andersverstehen

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2.2 Nietzsche: „Tummelplatz des Missverständnisses“ Nietzsche hätte seinerseits Luhmanns Beschreibung des Verstehensprozesses wohl zustimmen können, auch wenn ihm dessen Begrifflichkeit noch nicht zur Verfügung stand. Für ihn war klar, dass schon das Bewusstsein „ein Apparat der Vereinfachung (wie das Wort-reden usw.), ein Mittel der Verständigung“ ist, „practicabel, nichts mehr – ohne Absicht auf Durchdringung mit Erkenntniß“,²⁴⁷ und, wie schon zitiert, „die Mittheilbarkeit der Erlebnisse (oder Bedürfnisse oder Erwartungen) eine auswählende, züchtende Gewalt“.²⁴⁸ Er verstand Sprache und Logik bereits als selektierende, nicht repräsentierende „Schematisir- u. Abkürzungskunst, eine Bewältigung der Vielheit durch eine Kunst des Ausdrucks, – kein ‚Verstehen‘, sondern ein Bezeichnen zum Zweck der Verständigung“.²⁴⁹ Er nahm das vermeintlich ‚richtige‘ oder ‚wahre‘ Verstehen ebenfalls auf ein selektives zurück und ging umso mehr den Bedingungen nach, unter denen Verständigung trotzdem gelingen, aber eben auch misslingen kann. Er ging, je später in seinem Werk, desto mehr davon aus, dass es „schwer“ ist, „verstanden zu werden“ (Einl., 2). Er vermied aber auch hier, eine Theorie zu konstruieren, sondern zeigte das Schwer-Verstanden-Werden unmittelbar in dem kurzen Aphorismus, in dem er das Thema stark machte, dem Aphorismus Nr. 27 in Jenseits von Gut und Böse. ²⁵⁰ Der Aphorismus steht exemplarisch für seinen „Ehrgeiz“, „in zehn Sätzen zu sagen, was jeder Andre in einem Buche sagt, – was jeder Andre in einem Buche nicht sagt …“ (GD Streifzüge 51): Es ist schwer, verstanden zu werden: besonders wenn man gangasrotogati denkt und lebt, unter lauter Menschen, welche anders denken und leben, nämlich kurmagati oder besten Falles „nach der Gangart des Frosches“ mandeikagati – ich thue eben Alles, um selbst schwer verstanden zu werden? – und man soll schon für den guten Willen zu einiger Feinheit der Interpretation von Herzen erkenntlich sein. Was aber „die guten Freunde“ anbetrifft, welche immer zu bequem sind und gerade als Freunde ein Recht auf Bequemlichkeit zu haben glauben: so thut man gut, ihnen von vornherein einen Spielraum und Tummelplatz des Missverständnisses zuzugestehn: – so hat man noch zu lachen; – oder sie ganz abzuschaffen, diese guten Freunde, – und auch zu lachen! (JGB 27)

 NL , [], KSA ..  NL , [], KSA ..  NL , [], KSA ./KGW IX/, N VII , .  In Stegmaier, Nietzsches Zeichen, werden zur Interpretation des Aphorismus auch die aufschlussreichen Vorstufen im Nachlass einbezogen, die hier nur am Rande berücksichtigt werden können.

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VI Orientierung an anderer Orientierung

Nietzsche beginnt die Verständigung mit in der Tat für die meisten unverständlichen Worten (gangasrotogati, kurmagati, mandeikagati). Sie handeln, wie die Forschung herausgefunden hat, von unterschiedlichen Tempi der Kommunikation, deren Wechsel die Verständigung erleichtert.²⁵¹ Nietzsche wechselt sie denn auch hörbar in seinem Aphorismus, er gestaltet ihn musikalisch, macht Musik aus ihm und ihn als Musik verständlich. Nach dem Einsatz mit dem knappen und wuchtigen, ebenso gedanklichen wie musikalischen ‚Thema‘ („Es ist schwer, verstanden zu werden“) eine trillernde Variation, die ihrerseits schwer verständliche Erläuterung und versteckte Anzeige, dass es im Folgenden zur Verständigung auch um Musik geht, deren verständigungslose Verständlichkeit unberührt bleibt und damit auch die Verständlichkeit dieses Aphorismus über die Schwer-Verständlichkeit. Auf der Höhe des Trillers fällt eine andere, die eigene Stimme des Autors ein: Er sagt „ich“ und räumt damit ein, es könne sich auch nur um sein persönliches, also nicht um ein allgemeines Problem handeln, und stellt eben das zugleich mit einem Fragezeichen in Frage.Verstehensprobleme, wird zu verstehen gegeben, sind immer persönliche Probleme, eben weil es kein allgemeines Verstehen gibt und geben kann. Dann Durchführung des Themas in einer Erweiterung („und“). Einführung des Subthemas „guter Wille“, Moralisierung des Verstehensprozesses und vorläufiges Einverständnis mit der Moralisierung. Es geht nicht anders als mit gutem Willen (charity), und dennoch wäre „man“ (der Autor rückt wieder vom „ich“ ab und redet für alle, sofern ja nun eingestanden ist, dass das Verstehen aller ein persönliches ist und eben darum des guten Willens, moralischer Stützung bedarf), wäre man also „für einige Feinheit der Interpretation“ – Nietzsches Begriff für selektives Verstehen – „von Herzen erkenntlich“. Denn erst so könnte sich das Verstehen einem Erkennen nähern, dem Erkennen nämlich der komplexen Bedingungen, unter denen ein Verstehen ein anderes Verstehen als Verstehen erkennen kann. Mag das noch gangasrotogati und kurmagati gesagt gewesen sein, so folgt nun das staccato, das mandeikagati, ein sich atemlos fortspielender, immer weiter hinaufsteigernder zweiter Satz (der Aphorismus besteht nur aus zwei ‚Sätzen‘, grammatischen wie musikalischen): Gerade „‚die guten Freunde‘“ machen es sich „bequem“, setzen sich über die komplexen Verstehensbedingungen hinweg, halten verständigungslose Verständigung, wie

 Im Nachlass (NL , [], KSA ./KGW IX/, W I , ) notierte sich Nietzsche unter dem Gedichttitel „Nach neuen Meeren“: „gangasrotogati ‚wie der Strom des Ganges dahinfließend‘ = presto/kurmagati ‚von der Gangart der Schildkröte‘ = lento/mandeikagati ‚von der Gangart des Frosches‘ = staccato“. Die Wörter stammen aus dem Sanskrit, und Nietzsches Quelle dafür war, wie Lampl, Auf den Spuren des Lesers Friedrich Nietzsche, , und Röllin/Trenkle, Nachweise, belegt haben, Julius Jolly, Eine Reise nach Ostindien IV, in: Deutsche Rundschau, Bd. , Juli– September , S. .

2 Spielräume der Verständigung: Verstehen, Missverstehen, Andersverstehen

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dereinst Nietzsche selbst, für leicht möglich. Man kann ihnen das einräumen und „ihnen von vornherein einen Spielraum und Tummelplatz des Missverständnisses zugestehn“, so wie man Kinder sich auf einem Spielplatz tummeln und austoben lässt, ihnen aber nicht erlaubt, ihn zu verlassen. Dabei weiß man, dass dies nicht der Ernst der Kommunikation ist, und hat also „zu lachen“. Nimmt man die Kommunikation aber ernst und will unter ihren komplexen Bedingungen doch verstanden werden, muss man gerade die „guten Freunde“ mit ihrem (verständlichen) Glauben an „ein Recht auf Bequemlichkeit“ „abschaffen“. Man wird mitten unter den Menschen, deren Erleben und Verstehen man sichtlich nicht teilt, einsam. Wenn Nietzsche dann mit einem hochtönenden und schrillen „und auch zu lachen!“ schließt, bleibt offen, worüber der Autor nun lacht, immer noch über die Freunde, die sich kindlich an ihr vielleicht gemeinsames, dann aber durchschnittlich eingeschränktes Verständnis und ähnliches Erleben halten können, oder aber über sich selbst, der mit diesem ‚Freunde-Abschaffen‘ nicht nur einsam, sondern in den Augen der abgeschafften Freunde auch noch zur ‚komischen Figur‘ wird, wenn nicht Schlimmeres. Nietzsche unterscheidet so in der Gestaltung des Aphorismus über das Verstehen deutlich sichtbar Information und Mitteilung im Sinn Luhmanns, ohne sie explizit zu unterscheiden. Er macht ohne Verständigung, nur musikalisch, verständlich, worum es bei der Verständigung geht. Er lässt die Schwer-Verständlichkeit erleben. Die ‚guten Freunde‘ dagegen, die in der Verständigung kein Problem sehen, weil sie sich schon auf ein bestimmtes Verständnis von Verständnis geeinigt zu haben glauben, werden nicht verstehen, warum sie eben deshalb abgeschafft werden sollten, und sie werden hier auch Information und Mitteilung nur schwer unterscheiden können. Sie werden – und so hatte es sich Nietzsche im Entwurf zu JGB 27 notiert – schlicht „beleidigt“ sein.²⁵² In diesem Entwurf fuhr er noch fort: „Es schmeichelt mehr, mißverstanden zu sein als unverstanden“, denn „gegen das Unverständliche bleibt man kalt, und Kälte beleidigt.“ Aus Furcht vor sozialer Kälte, also um der Freundschaften willen, wird viel Missverstehen hingenommen. Aber dagegen steht dann wiederum – und dies fügte Nietzsche zuletzt in das Notat ein –: „es ist etwas Beleidigendes darin, verstanden zu werden.“ Denn mit dem anähnelndem Verstehen unter Freunden verzichtet man eben auf die „Feinheit“ des Verstehens und bequemt sich zum Glauben an ein allen mehr oder weniger gleich mögliches Verstehen. Für Nietzsche bedeutete das wieder: Rückzug in die Einsamkeit, wenn nicht im alltäglichen Leben, so doch in der philosophischen Verständigung. Für Luhmann war das keine Option. Im Alltag und erst recht als Wissenschaftler(in) hat

 NL /, [], KSA . f./KGW IX/, N VII ,  f.

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VI Orientierung an anderer Orientierung

man fraglos verständlich zu bleiben, zumindest für seinesgleichen. Nietzsche dagegen riskierte über Luhmanns vier Selektionen des Verstehens hinaus eine fünfte: die Ablehnung nicht nur bestimmter Kommunikationen, sondern von Kommunizierenden und schließlich von Kommunikation überhaupt. Sozial gilt das als undenkbar, moralisch als ungehörig, psychologisch als ungesund. Und doch ist auch diese fünfte Selektion ganz ‚normal‘: In der Kommunikation geht es sichtlich nicht nur darum, ‚Anschluss‘ zu suchen, sondern auch zu vermeiden.Vor aller Moralisierung der Kommunikation selektiert jede(r), soweit möglich, seine Kommunikationspartner(innen), wählt aus, mit wem er oder sie eher kommunizieren will und mit wem eher nicht – und das selbst dann, wenn es um die Moral der Kommunikation geht. Auch die Anschlussfähigkeit ist nicht das alleinige Ziel, die alleinige Funktion der Kommunikation, sondern nur eine Alternative. Die andere ist die Nicht-Kommunikation eben dort, wo sich die Kommunikation anbietet, der Verzicht auf sie. Auch Luhmann sagte einmal in einem Interview: „Für mich ist falscher Beifall schwerer zu ertragen als gar keiner. Also wenn ich sofort gleichsam vermarktet werde in der Bestätigung von Gedanken, die da schon vorher gedacht waren, ist es mir immer eher unangenehm.“ (Auw, 93) Er wollte an bestimmte Leute nicht anschließen, darunter nicht an Nietzsche. Und Nietzsche hätte das verstanden.

2.3 Orientierung am Andersverstehen Ein Anschluss an andere scheint ein bestimmtes Verstehen vorauszusetzen, das dann von einem Missverstehen abgrenzbar ist. Nietzsche dagegen sagt und zeigt in JGB 27, dass es nicht nur schwer ist verstanden zu werden, sondern auch Verstanden- und Missverstanden-Werden und Unverstanden-Bleiben zu unterscheiden, selbst und gerade unter Freunden. Denn man kann dabei ja immer nur vom eigenen Verstehen und eigenen Verstehen des Verstehens ausgehen, und wenn Verstehen das Verstehen eines anders Verstehenden sein soll, wird es paradox. Nietzsche ging darum generell nicht mehr vom Verstehen, sondern vom Missverstehen aus und machte das Verstehen zum Sonderfall, während Luhmann, wie es üblich ist, vom Verstehen ausging und das Missverstehen zum Sonderfall machte. Aufgrund der Paradoxie ist beides möglich. Um die Paradoxie zu entparadoxieren, muss man auf die Einheit der Unterscheidung zurückgehen. Sie liegt dann in einem Verstehen, das Verstehen und Missverstehen zulässt, das also von Anfang an mit differentem oder Andersverstehen rechnet. Verstehen und Missverstehen sind dann nicht mehr Maßstäbe füreinander, sondern nur unterschieden voneinander. Mit einem solchen Verstehen zweiter Ordnung wird man frei, das Verstehen eines andern oder aber das

2 Spielräume der Verständigung: Verstehen, Missverstehen, Andersverstehen

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eigene als Verstehen oder Missverstehen zu nehmen und als solches bestehen zu lassen, und dann gewinnt man auch den Spielraum, Nähe oder Distanz zu anderen zu suchen. François Jullien scheint in seinem Versuch, getrennte Kulturen füreinander verständlich zu machen, mit der altérité etwas Ähnliches im Auge zu haben.²⁵³ Kulturen, so Jullien – er hat vor allem die alteuropäische und altchinesische im Blick –, können einander verstehen, ohne einander zu begreifen, ‚Verstehen‘ verstanden als Verstehen in Spielräumen des Missverstehens. Jullien gebraucht dafür ebenfalls eine räumliche Metapher, die des ‚Abstands‘ und des ‚Dazwischen‘, in dem sich von Grund auf andere Kulturen entre-tenir im Doppelsinn von ‚unterhalten‘ und ‚sich aneinander halten‘ können; zur Erläuterung dieses écart spricht er ebenfalls von ‚Zwischenraum‘ (interstice) und ‚Spielraum‘ (jeu). Die Kommunikation läuft dann über Anspielung und Ironie, die Verstehen und Missverstehen in der Schwebe halten, wiederum eine Kunst, die Nietzsche meisterhaft beherrschte. Von hier aus kann man sehen, dass es, was die gewohnte Moralisierung der Kommunikation leicht vergessen lässt, durchaus der Normalfall in der Orientierung an anderer Orientierung ist, auf Distanz zu anderen zu gehen und in Distanz zu ihnen zu bleiben. Nähe und Kooperation wird immer nur zu ausgewählten Anderen gesucht, seien es mehr oder weniger, aber nicht zu Millionen (‚seid umschlungen, Millionen‘) oder nun Milliarden. Die fünfte Selektion geht also mit den andern vier ständig einher. Und zuweilen wird auch harter Gebrauch von ihr gemacht, auch und gerade in auf Vernunft und Moral setzender Kommunikation: indem andere, mit denen man sich hartnäckig nicht einigen kann, für ‚unverständig‘, ‚unvernünftig‘ oder ‚irrational‘ erklärt werden. Nach Luhmann dient das Schema rational/irrational eben dazu, „das Nichtfunktionieren kommunikativer Verständigung zu erklären und den Abbruch von Kommunikation zu legitimieren“ (VGR/MorG, 355). Im Ausgang vom Andersverstehen, das Verstehen nicht gegen Missverstehen ausspielt, kann man den Abbruch von Kommunikationen leichter hinnehmen, ohne darum auch Kooperationen aufkündigen zu müssen. Und so verfährt die alltägliche Orientierung an anderer Orientierung, wenn sie stets von Spielräumen im Verstehen und auch schon im Gebrauch von Zeichen und Sprachen ausgeht. Ohne ein eindeutiges Verständnis in der Kommunikation zu erwarten, schränkt sie die Spielräume der gebrauchten Zeichen jeweils so weit ein, dass in der gegebenen Situation die gewünschte Kooperation möglich wird, – durch weitere Zeichen, die wohl wieder in Spielräumen anders verstanden werden können und dennoch

 Jullien, L‘écart et l‘entre, deutsch: Der Weg zum Anderen

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VI Orientierung an anderer Orientierung

wechselseitig ihre Spielräume einschränken.²⁵⁴ So kann Verstehen jeweils mit anderem Verstehen koexistieren und kooperieren, ohne dass sie übereinstimmen, im Konsens sein müssten. Mit ihrer Komplexität werden die Bedingungen der Verständigung auch flexibler. Will man aber im Wissen, dass man nur schwer verstanden werden kann, wenn man anders denkt und erlebt als die meisten, dennoch verstanden werden – und Nietzsche mit seinem wiederholten „Hat man mich verstanden?“ drängte darauf –, muss man sich aus der Einsamkeit des Andersverstehens heraus wieder über die Spielräume der Verständigung darüber verständigen. Auch das geht noch. Nietzsche hat es ebenfalls gezeigt.

3 Verständigung über die Spielräume der Verständigung: Kommunikation über Kommunikation und Nicht-Kommunikation 3.1 Nietzsche: Redliche Verständigung im Pathos der Distanz Nietzsches Formel für die Einsamkeit im Andersverstehen war, eingebettet in Überlegungen zur Rangordnung und Vornehmheit (Kap. XI, 2), „Pathos der Distanz“ (JGB 257; Kap. V, 4.3).²⁵⁵ ‚Pathos‘ steht gegen ‚Begriff‘, ‚Distanz‘ gegen ‚Differenz‘, beide zusammen für ein erlebtes, aber unbeobachtbares, unbezeichnetes und unbegriffenes Anderssein; Nietzsche hatte dafür auch den Begriff der ‚Nuance‘, der Abweichung von einem Begriff, für die es keinen Begriff mehr gibt. Die Verständigung aus dem Pathos der Distanz heraus ist darin ‚vornehm‘, dass sie anderen ihr Anderssein und Andersverstehen lassen kann, ohne dafür Gegenseitigkeit, also gemeinsames Verstehen wenigstens darin zu erwarten und darauf hinzuarbeiten. Nietzsche gab dieser vornehmen Verständigung mit andern, die man lieber auf Distanz hält, in einer Aphorismenkette im V. Buch der Fröhlichen Wissenschaft unter Titeln wie „Der Einsiedler redet“ (FW 364) auch deutliche Konturen, formulierte scherzhaft „Principien“ dafür. Dazu gehören: „wie bei einem Unglücke seinen Muth einsetzen, tapfer zugreifen, sich selbst dabei bewundern, seinen Widerwillen zwischen die Zähne nehmen, seinen Ekel hinunter stopfen“, „seinen Mitmenschen ‚verbessern‘, zum Beispiel durch ein Lob, so dass er sein Glück über sich selbst auszuschwitzen beginnt“, außerdem, soweit auch das nicht hilft, um eine unpassende Gesellschaft erträglich zu machen, „Selbst-

 Stegmaier, Philosophie der Orientierung,  – .  Stegmaier, Nietzsche zur Einführung,  – .

3 Verständigung über die Spielräume der Verständigung

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hypnotisirung“ (FW 364) und schließlich generell „Masken“ tragen und die Neugierigen mit ihnen beschäftigen. Im äußersten Fall: sich als „Gespenst“ gebärden (FW 365). Solche ‚Prinzipien‘ werden wiederum nicht jedem verständlich sein und sollen es auch nicht. „Wir Unverständlichen“, so Nietzsche, wollen und dürfen „das, was wir nicht theilen, nicht mittheilen“, nämlich das schwere „Loos“ (FW 371), die Dinge „von oben herab“, aus höheren Ordnungen der Beobachtung und damit tiefer sehen zu können, bis in die sonst moralisch gut verdeckten Abgründe des Nihilismus (JGB 30; Kap. I). Gleichwohl teilte Nietzsche auch das noch mit, und zwar in Büchern für den anonymen Buchmarkt mit höchster Mitteilungs-Kunst. Denn nur so konnte er die Wenigen erreichen, die ihn vielleicht in seinem Andersverstehen verstehen und es auf ihre Weise teilen könnten. Also musste er so reden, dass er von diesen verstanden, von den andern aber nicht verstanden wurde und diese ‚beleidigte‘. Er schrieb dies wiederum öffentlich, in einem weiteren Aphorismus zur vornehmen Verständigung, überschrieben „Zur Frage der Verständlichkeit“ (FW 381). Dort ist nun das „Es ist schwer, verstanden zu werden“ von JGB 27 zurückgelassen und durch ein stolzes „Man will nicht nur verstanden werden, wenn man schreibt, sondern ebenso gewiss auch nicht verstanden werden“ ersetzt. Nietzsche wollte, wie er schrieb, durch die „feineren Gesetze [s]eines Stils“ seine Leser(innen) gezielt selektieren: Jeder vornehmere Geist und Geschmack wählt sich, wenn er sich mittheilen will, auch seine Zuhörer; indem er sie wählt, zieht er zugleich gegen „die Anderen“ seine Schranken. Alle feineren Gesetze eines Stils haben da ihren Ursprung: sie halten zugleich ferne, sie schaffen Distanz, sie verbieten „den Eingang“, das Verständniss, wie gesagt, – während sie Denen die Ohren aufmachen, die uns mit den Ohren verwandt sind. (FW 381)

Die Hauptmittel sind, so Nietzsche, eben „Kälte“, Immoralismus, „Kürze“ der Mitteilung (FW 372). Zugleich gesteht er freimütig „Unwissenheit“ ein. Um differenzierter zu erleben, zu beobachten, zu verstehen und zu erkennen, komme es weniger auf ausgedehnte Gelehrsamkeit als auf einen „Geschmack“ an, der „auf Unabhängigkeit gerichtet [ist], auf schnelles Kommen und Gehn, auf Wanderung, auf Abenteuer vielleicht, denen nur die Geschwindesten gewachsen sind“. Nietzsche hat damit Erfolg gehabt, hat weltweit in immer neuen Generationen immer neue solche Geister angezogen, wenn auch nicht nur solche. Denn letztlich liegt es beim Selbstverständnis der für ihn namenlosen Leser(innen), wie sie selbst ihr Verstehen verstehen, mag es aus der Sicht anderen Verstehens noch so beschränkt sein. Auch hier gibt es keine für alle gleich gültigen Kriterien. Umso mehr erwartete Nietzsche Ehrlichkeit gegenüber sich selbst, Aufrichtigkeit, Rechtschaffenheit oder, wie er sie meist nannte, „Redlichkeit“. Sie war für ihn „eine Gewissenssache der Erkenntniss“, der Erkenntnis gerade seiner eigenen

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VI Orientierung an anderer Orientierung

„Erlebnisse“ (FW 319), und daran zu beobachten, wie weit jemand sich die Illusionen und Fiktionen, die er zum Leben braucht und ihm die „unentbehrlichsten“ sind (JGB 4), als solche unterscheiden und bezeichnen kann (FW 335). Sie ist die Tugend, rief Nietzsche die „freien Geister“ an, „von der wir nicht loskönnen, […] – nun, wir wollen mit aller Bosheit und Liebe an ihr arbeiten und nicht müde werden, uns in unsrer Tugend, die allein uns übrig blieb, zu ‚vervollkommnen‘“ (JGB 227). Das Bekenntnis zur Redlichkeit, mit der er die Bedingungen der Verständigung in den Untiefen des Nihilismus erschloss, war so etwas wie Nietzsches credo, das Letzte, woran er sich hielt. Und doch nur bedingt halten konnte. Denn auch seiner Redlichkeit konnte er ja nie ganz sicher sein.²⁵⁶ Er gestand das auch gleich mit ein: Sie könnte auch „unsre Eitelkeit, unser Putz und Prunk, unsre Grenze, unsre Dummheit“ werden (JGB 227).

3.2 Luhmann: Paradox der Inkommunikabilität der Redlichkeit Luhmann trat nicht weniger als Nietzsche in die „reflexive Kommunikation“ ein (SS, 210). Ihm ging es jedoch um die Bedingungen der Möglichkeit des „Normalfunktionierens“ der Kommunikation (SS, 217). Sie sei „unwahrscheinlich“ genug: erstens darin, dass Verstehen, angesichts der Komplexität seiner Bedingungen, überhaupt möglich ist, zweitens darin, dass über Schrift und Druck auch Nicht-Anwesende erreicht werden, und drittens darin, dass es unter deren ganz anderen Bedingungen auch angenommen wird, wozu unter anderem besonderes rhetorisches Geschick, „rhythmisch-rhapsodische“ Synchronizität beim Sprechen und Hören bzw. Schreiben und Lesen und bestimmte „Themenvorräte“ in bestimmten Kulturen als „Stützbedingungen“ nötig seien (SS, 217– 225). Und je weniger die Kommunikation simplifiziert werde, desto mehr sei reflexive Kommunikation, Kommunikation über Kommunikation, nötig. All das kann man als Übersetzung von Nietzsches Text ins 20. Jahrhundert lesen. Doch Luhmann hat mit seiner Skepsis auch vor der Redlichkeit oder Wahrhaftigkeit oder jetzt: Authentizität nicht Halt gemacht. Denn sie wird gerade dann fragwürdig, wenn man sich, wie Nietzsche, pathetisch zu ihr bekennt – auf der anderen Seite der Unterscheidung läuft der Zweifel an ihr mit. Die Kommunikation der Redlichkeit provoziert selbst die Zweifel an ihr (wenn jemand sagt, ‚um ganz ehrlich zu sein‘, war er es vorher nicht, wird er es jetzt und nachher sein?).  Vgl. Grau, Art. Redlichkeit, intellektuelle; Elisabeth Kuhn, Art. Redlichkeit. Autoren wie Sommer, Friedrich Nietzsches „Der Antichrist“,  f., und Niemeyer, „Ecce homo“, haben sie im Blick auf EH, das sie für eine Autohagiographie oder Autobiographie halten, denn auch massiv bestritten.

3 Verständigung über die Spielräume der Verständigung

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„Kommunikation [setzt] einen alles untergreifenden, universellen, unbehebbaren Verdacht frei, und alles Beteuern und Beschwichtigen regeneriert nur den Verdacht.“ Kurz: „Aufrichtigkeit ist inkommunikabel, weil sie durch Kommunikation unaufrichtig wird.“ Das „Paradox der Inkommunikabilität“ der Aufrichtigkeit oder Redlichkeit aber ist, so Luhmann, nur ein Fall des „allgemeinen kommunikationstheoretischen Paradoxes“ des Verstehens überhaupt, das sich der Annehmbarkeit einer Information anhand der Annehmbarkeit ihrer Mitteilung und umgekehrt versichern muss und mehr zuletzt nicht in der Hand hat (SS, 207 f.). Das Paradox liegt also schon in der Struktur des Verstehens als dreistelliger Selektion. Auch der letzte Halt, den Nietzsche in der Redlichkeit, seiner Redlichkeit suchte, hält letztlich nicht stand.

3.3 Levinas: Orientierung von Angesicht zu Angesicht Die Orientierung an anderer Orientierung hält jedoch eine Situation bereit, in der Aufrichtigkeit und Nicht-Aufrichtigkeit scharf beobachtet werden, die Situation einer noch einmal verständigungslosen und noch einmal hochkomplexen Verständigung, das Von-Angesicht-zu-Angesicht, in dem man einander in die Augen sieht. Es ist die spannungsvollste und darum auffälligste Situation in der Orientierung an anderer Orientierung, und doch haben sie weder Nietzsche noch Luhmann noch sonst jemand in der Philosophie außer Emmanuel Levinas thematisiert (Kap. V, 3).²⁵⁷ Auch Levinas hat bei der Trennung (séparation) der Orientierungen angesetzt. Auch er hat sie nicht als Elend verstanden, dem man möglichst entkommen will, sondern als Gelegenheit zu Sensibilität, Neugier, Genuss, Arbeit, Fruchtbarkeit – zur Öffnung für Überraschungen im Guten und Schlimmen in der Orientierung an anderen. Auch er hat die Flucht aus der Trennung zu transzendentem Allgemeinem hin abgeschnitten, ‚Transzendenz‘ stattdessen als das Über-sich-hinaus-gezogen-Werden des Subjekts (von dem er weiterhin sprach) zum Andern hin interpretiert. Luhmann, der ihn hätte zur Kenntnis nehmen können, hat ihn noch weniger als Nietzsche beachtet, wohl weil er ihm noch theorieferner erschien – und zu schnell zur Ethik überging, indem er das Von-Angesicht-zu-Angesicht als Ursprung einer Freiheit durch den Andern und für den Andern interpretierte. Das Von-Angesicht-zu-Angesicht, das Levinas, der wie Luhmann von Husserl ausging, in den Mittelpunkt seiner Phänomenologie der Beziehung zu anderen stellte, bietet, diesseits der Ethik, eine letzte Möglichkeit, privat, geschäftlich,

 Vgl. Stegmaier, Levinas,  – /Emmanuel Levinas zur Einführung,  – .

200

VI Orientierung an anderer Orientierung

behördlich, vor Gericht usw. die Aufrichtigkeit eines anderen zu überprüfen. Dabei ist auch, aber weniger von Belang, was der andere sagt, als was sein Blick verrät, der Blick in seine Augen, nach den hier gebrauchten Begriffen also verständigungslose Verständigung oder kommunikationsloses Erleben. Das Gesicht verrät dann mehr vom andern, als er durch Masken verbergen kann – es sei denn, er beherrscht auch in dieser Situation noch das Spiel mit der Maske der Aufrichtigkeit. Auch das Von-Angesicht-zu-Angesicht kann nur ein Anhaltspunkt der Orientierung an anderer Orientierung sein.

VII Orientierungsmittel: Nietzsches und Luhmanns Ein- und Entgrenzung des Wissens Das stärkste Vertrauen wurde in der abendländischen Tradition in das Wissen und hier wiederum in das Wissen der Wissenschaft gesetzt. Es galt und gilt als bestes Wissen und damit als Maßstab aller Orientierung; von ihm wurde höchste Orientierungssicherheit erwartet. Nietzsche und Luhmann haben auch das Vertrauen in das Wissen der Wissenschaft begrenzt. Nietzsche hat dabei schon weit auf Entwicklungen im 20. Jahrhundert vorgegriffen, die Luhmann bereits voraussetzen konnte und weiter vorangetrieben hat (WissG, 546). Günter Abel, ein führender Philosoph des Wissens und seiner Formen, hat gezeigt, wie sich Nietzsches Philosophie des Wissens und der Wissenschaft in zahlreichen Punkten der Kritik der Dogmen des Logischen Empirismus oder Positivismus, den Rudolf Carnap zu begründen versucht hatte, und damit Ansätzen von Willard Van Orman Quine, Hilary Putnam, Donald Davidson und Nelson Goodman zuordnen lässt.²⁵⁸ Nach Luhmann kann inzwischen auch die Wissenschaft nicht mehr „von etwas urteilsfrei Gegebenem ausgehen und dieser Vorgabe in Elementarsätzen (Wittgenstein) oder Protokollsätzen (Carnap) nur noch eine Form geben […], die wissenschaftlich behandelbar sei“ (WissG, 303). Nietzsches Position kam, so Abel, bereits dem ‚internen Realismus‘ Putnams am nächsten, der, sofern ‚Realismus‘ zunächst als ‚externer‘ verstanden wird, also eine erkenntnisunabhängig vorgegebene ‚Welt an sich‘ voraussetzt, zugleich ein Anti-Realismus sei und dennoch die Realität auch unserer wissenschaftlichen Urteilspraxis hinreichend beschreiben könne (Kap. II). Realismus und Anti-Realismus sind jedoch weiterhin entlang der ‚Referenz‘ im Sinn des Bezugs auf eine Außenwelt, nun eine paradoxe ‚innere Außenwelt‘ gedacht. Nietzsche dagegen hat auch das Wissen von den Bedingungen seiner Kommunikabilität her verstanden und stellte sich damit in eine Tradition, die, wie vor allem Josef Simon, Tilman Borsche und jüngst Andrea Christian Bertino gezeigt haben,²⁵⁹ Kant, Hamann, Herder, Hegel und Humboldt anbahnten; stärkstes Zeugnis dafür ist sein früher Entwurf Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. Danach entsteht auch Wissen in den Spielräumen der Verständigung (Kap. VI) und muss darum aus ihnen verstanden werden. Die kommunikative Wende im Verständnis des Wissens, des alltäglichen ebenso wie des wissen-

 Abel, Die Aktualität der Wissenschaftsphilosophie Nietzsches.  Simon, Grammatik und Wahrheit; Borsche, Was etwas ist; Bertino, „Vernatürlichung“.

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schaftlichen, hat aktuell jedoch am entschiedensten Luhmann vollzogen. Seine konsequent von der Kommunikation ausgehende soziologische Systemtheorie bezieht auch eine Philosophie des Wissens und der Wissenschaft ein, und sein hier einschlägiges Hauptwerk Die Wissenschaft der Gesellschaft gehört zum Interessantesten, Herausforderndsten und Anregendsten auch für die Philosophie. Wie Nietzsches ‚fröhliche Wissenschaft‘ zeigt Luhmanns Systemtheorie der Wissenschaft, dass Wissenschaft sich so von sich selbst distanzieren kann, dass sie ihren Ernst für die Wahrheit beobachten und in Frage stellen kann. Luhmann selbst hat sich auch und gerade in Sachen Wissenschaft nicht auf Nietzsche bezogen. Beide schätzten das wissenschaftliche Wissen hoch, ohne einfach an es zu glauben. Beide fragten im Sinn Kants nach Bedingungen seiner Möglichkeit, nun jedoch ohne eine allen gemeinsame Vernunft anzunehmen. Beide folgten einem methodischen Immoralismus, um moralische Vorselektionen dessen, was Wissen genannt wird, sichtbar zu machen und zu vermeiden (Einl., 1.1). Beide befreiten das Wissen nicht nur von der Referenz auf eine scheinbar von ihm unabhängig bestehende Welt (Kap. II), sondern auch von der Ersatzreferenz auf ein nicht beobachtbares, scheinbar allen Vorstellungen von der Welt zugrundeliegendes Subjekt, das sich zur Objektivierung wissenschaftlicher Erkenntnisse entsubjektivieren, also selbst transzendieren könne (Kap. IV), und setzten bei der eigenen Realität des Erkennens und ihrer Zeitlichkeit an (Kap. III). Beide machten die Rede von ‚Wissen‘, ‚Vernunft‘, ‚Subjekt‘, ‚Welt‘, ‚Realität‘ usw. als Orientierungsentscheidungen erkennbar, die auch anders getroffen werden könnten (Kap. I). So wurde der Weg frei, das Wissen in seiner Funktion für die Orientierung zu verstehen: als Orientierungsmittel, dessen man sich sicher zu sein, mit dem man sich beruhigen zu können glaubt – bis auf weiteres. In Luhmanns Begriffen absorbiert Wissen „Orientierungsunsicherheit“ (OuE, 221; MorG, 344)²⁶⁰ und schafft so Orientierungssicherheit – auf Zeit. Wissen, an das man sich halten zu können glaubt, alltägliches und wissenschaftliches, entsteht in der Kommunikation. Man bekommt es zum größten Teil in der Orientierung an anderer Orientierung mit (Eltern, Lehrer, Medien usw.), und dabei bleiben reichliche Spielräume zum Anders- und Missverstehen (Kap. VI). Soweit man etwas für Wissen hält, scheinen diese Spielräume jedoch nicht zu bestehen, das Wissen nicht den Bedingungen der Orientierung zu unterliegen;

 Luhmann bezieht den Begriff Orientierungsunsicherheit nicht unmittelbar auf das Wissen, wohl aber den der Unsicherheitsabsorption, und hier insbesondere in Organisationen; der Begriff stammt, wie er anmerkt, aus der Organisationstheorie (SS, , Anm. ). Unsicherheitsabsorption kommt vor allem durch das Vergessen der Entscheidungswege zustande, auf denen Wissen entstanden ist (SS, ; GG,  u. ö.; PolG, ; RelG,  f.).

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man glaubt es wie einen Besitz sammeln, sicher haben, mit andern teilen und auf ihm bestehen zu können. Es scheint dann keiner weiteren Orientierung und Kommunikation mehr zu bedürfen, gilt schlicht als wahr. Man muss nicht weiter darüber reden. Wissen, wenn es als solches akzeptiert wird, gibt der Orientierung Halt. Die Bestimmungen und Differenzierungen des Wissens und seiner Wahrheit sind so vielfältig, dass sie hier nicht zusammengestellt und diskutiert werden können.²⁶¹ Zu den Bestimmungen des Wissens, dass … (knowing that) sind die Bestimmungen des Wissens, wie … (knowing how) gekommen, des sicheren Umgangs mit etwas, der sich wiederum vielfach differenzieren lässt. Soweit er zur Routine wird (Kap. I, 3.10), gehört auch er zum Wissen im Sinn gewonnener Orientierungssicherheit, und auch die Wissenschaft braucht und hat ihre Routinen. Wir konzentrieren uns auf das Wissen der Wissenschaft, halten die Grenze zum Alltagswissen aber offen²⁶² und zeigen mit Nietzsche und Luhmann, wie diese Grenze in der Orientierung für die Orientierung entscheidbar wird. Dazu gehen wir von den Wissenden aus, ohne sie als Subjekte oder Menschen anzusetzen (1), grenzen dann das Wissen ein (2) und klären die Spielräume der Ein- und Entgrenzung des Wissens der Wissenschaft (3). Angesichts der weitläufigen Ausführungen Nietzsches und Luhmanns zum Problem des Wissens lassen sich auch hier nur wenige Grundzüge skizzieren. Bei Nietzsche fokussieren wir auf die reifen Werke aus den Jahren 1886 und 1887, Jenseits von Gut und Böse, das V. Buch der Fröhlichen Wissenschaft und Zur Genealogie der Moral. ²⁶³ Luhmann hat seine Theorie des Wissens in Die Wissenschaft der Gesellschaft von 1990 systematisch dargelegt. Zuvor, 1981, entwarf er eine wisssenschaftshistorische Skizze, die er nicht veröffentlichte: Zur Ausdifferenzierung von Erkenntnisgewinn. Zur Genese von Wissenschaft (IE, 132– 185), danach, 1995, den wissenssoziologiehistorischen Beitrag Die Soziologie des Wissens: Probleme ihrer theoretischen Konstruktion (SozW).

 Vgl. Abel, Wissensforschung.  So auch die Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie (Blasche, Art. Wissen). Das Alltagswissen bestimmt sie ebenfalls mit Hilfe des Begriffs der Orientierung als „allgemein verfügbare Orientierungen im Rahmen alltäglicher Handlungs- und Sachzusammenhänge“.  Hier wird unvermeidlich vieles aus den Kontexten gelöst. Die nötigen Kontextualisierungen finden sich in Stegmaier, Eine Frage zum Schluss (zu JGB IX), Nietzsches Befreiung der Philosophie (zu FW V), Nietzsches ‚Genealogie der Moral‘ (zu GM).

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1 Die Wissenden 1.1 Willen zur Macht, Willen zum Wissen Die Wissenden sind nicht schon Menschen oder Subjekte. Denn auch davon müssen sie erst wissen. Nietzsche und Luhmann gingen in der Frage ‚Wer weiß?‘ darum weiter zurück, beide zu einem paradoxen Prinzip, einem Anti-Prinzip, Nietzsche zu dem der Willen zur Macht, Luhmann zu dem der Beobachtungssysteme (Kap. II, 3.1; IV, 2). So fremd die Wörter einander scheinen, so nahe sind die Begriffe einander, die beide mit ihnen verbinden.²⁶⁴ Nietzsche führte den Begriff ‚Wille zur Macht‘ in Jenseits von Gut und Böse nicht nur, aber auch nach dem wissenschaftsmethodischen Prinzip der Prinzipiensparsamkeit ein („Methode, die wesentlich Principien-Sparsamkeit sein muss“, JGB 13). Danach ist ‚Wille zur Macht‘ das Prinzip, das übrig bleibt, wenn man „überflüssige teleologische Principien“ einspart, die dem „Leben“ Ordnungen und Ziele irgendeiner Art unterstellen. Nietzsche verwendete die Begriffe des Prinzips und des Willens zur Macht im veröffentlichten Werk großzügig, darunter auch ontologisch. In GM II 12, wo er die „Theorie eines in allem Geschehn sich abspielenden Macht-Willens“ einen „Haupt-Gesichtspunkt der historischen Methodik“ nannte (Kap. II, 3.3.1), bekräftigte er jedoch ihr methodisches Verständnis. Ontologisch anmutende Formulierungen wie „Wille zu Macht“ als „Essenz“ der „Welt“ (JGB 186) oder „Wille zur Macht als Princip des Lebens“ (WA Epilog, KSA 6.51) sind von da aus selbstreferentiell zu verstehen, nämlich so, dass sich für Willen zur Macht die Welt oder das Leben immer auch als Wille zur Macht erschließt. Methode und Hypothese ergeben sich auseinander und bedürfen nur eines (Anti‐)Prinzips. Es geht davon aus, dass nichts schon ‚an sich‘ lokalisiert, limitiert, identifiziert, definiert, relationiert, legitimiert ist oder kurz: dass „absolut die Gesetze fehlen“ (JGB 22). So ist alles als einander unmittelbar ausgesetzt und aufeinander wirkend zu denken, regellos sich miteinander verbindend und voneinander trennend, einander einverleibend oder ausstoßend, überwältigend oder überwältigt und in diesem Sinn als unbegrenzte Vielheit von Willen zur Macht. Damit setzt aber auch jede Orientierung ein, sofern sie immer neuen Situationen ausgesetzt ist, die sie zu ‚bewältigen‘ oder zu ‚beherrschen‘ sucht, und

 Vgl. schon Körnig, Perspektivität und Unbestimmtheit in Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, nach dem Luhmann am nächsten an Nietzsches Perspektivismus der Willen zur Macht herankommt, ihm gegenüber aber dann doch „defizitär“ bleibt (). Luhmann betreibe „gerade dort eine gewisse Reflexionsverweigerung […], wo es darum geht, sich selbst zu begreifen, dort also, wo die ‚philosophische Arbeit‘ beginnt“ (). Das scheint mir angesichts der hochreflexiven Anlage von Luhmanns Theorie nicht haltbar. Vgl. v. a. die Kap. II und XII dieser Studie.

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sich selbst dabei laufend verändert. Alle Orientierung, von der alles Wissen ausgeht, ist in diesem Sinn Wille zur Macht (Kap. IV, 4; IX, 1.4). Dass Nietzsche von ‚Willen‘ sprach, legte ihm sein philosophischer Lehrer Schopenhauer nahe, der mit dem Begriff des Willens gezielt den Begriff der Vernunft unterlaufen hatte und damit den Glauben, die Vernunft stelle für alle gleich gültige Gesetzlichkeiten bereit. Es ging ihm gerade um den grund- und gesetzlosen, durch nichts außer ihm zu rechtfertigenden Willen zum bloßen Dasein, und darum ging es auch Nietzsche. Doch darin, dass Schopenhauer den Willen noch einmal als metaphysisches ontologisches Prinzip ansetzte, kritisierte Nietzsche ihn scharf. ‚Wille‘ sei „nur als Wort eine Einheit“ (JGB 19; Kap.V, 4.2). Mit dem späten Wittgenstein gesprochen²⁶⁵ führte Nietzsche die metaphysische Verwendung des Begriffs ‚Wille‘ auf seine alltägliche zurück. Kommt alltäglich das Wort ‚Wille‘ ins Spiel, geht es nicht mehr um Gründe und Gesetze, sondern darum, etwas ohne Gründe und Gesetze durchzusetzen. Gründe sind Behauptungen, von denen man annimmt, dass andere ihnen zustimmen, zumal wenn man sich dabei auf Gesetze berufen kann. Stimmen die andern zu, braucht man keinen ‚Willen‘ zu äußern, stimmen sie nicht zu, steht ‚Wille gegen Wille‘. Eben in diesem pluralen Sinn gebrauchte Nietzsche, wie Wolfgang Müller-Lauter gegen Martin Heidegger gezeigt hat, den Begriff des oder nun: der Willen.²⁶⁶ In ihrer Auseinandersetzung miteinander strukturieren sich die Willen zur Macht, so Nietzsches Hypothese, schaffen Ordnungen und ordnen sie laufend um (Kap. II, 3.2.6). Ordnung und Halt kann danach aus ‚Überwältigungsprozessen‘ verstanden werden, die sich auf Zeit aneinander halten. Ohne Grund treten sie als Macht auf. Sofern jede Ordnung, auch die von Gründen, eine Macht voraussetzt, die sie schafft und aufrechterhält,²⁶⁷ müssen die Willen als Willen zur Ordnung Willen zur Macht sein, und sofern Ordnung und die sie schaffende und erhaltende Macht in Auseinandersetzungen immer gefährdet bleibt, kann die Macht ihrerseits nur Wille zur Macht sein.²⁶⁸ Das gilt dann auch für Ordnungen des Wissens: Nietzsche hat auch den „Willen zum Wissen“ und den „Willen zur Wahrheit“ als Wille zur Macht verstanden (JGB 24, JGB 211). Darin sind Wissen und Wissende dann nicht zu unterscheiden – solange sie sich im Besitz eines Wissens glauben. Denn mit dem Begriff des Wissens ist schon unterstellt, dass es von allen gleichermaßen geteilt werden kann. Aber Einzelne können sich auch gegen ein bestimmtes Wissen stellen, also gegen es als Willen zur Macht auftreten und Wissen dadurch erneuern. In diesem Sinn setzte Nietzsche sie ihrerseits als Willen zur    

Vgl. Wittgenstein, PU, § . Müller-Lauter, Nietzsche. Vgl. Anter, Die Macht der Ordnung. Vgl. Stegmaier, Philosophie der Fluktuanz,  ff.

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Macht an. Er verband mit dem Wort „Wissende“ wohl ‚Besitzer‘ von oder ‚Teilhaber‘ an Wissen (MA II, VM 318). Dann hat das Wissen Macht über sie, und in Gestalt „asketischer Ideale“, die sich der europäischen Kultur bemächtigten (GM III), machte es seinen Erwerb zu einem fraglosen Ziel. „Wissende“ nannte Nietzsche aber zugleich und mehr noch die, die von diesen Bedingungen des Wissens wissen, selbstbezüglich seine Möglichkeiten und Grenzen reflektieren und in ihrem „Willen zum Wissen“ von „einem viel gewaltigeren Willen, dem Willen zum Nicht-Wissen, zum Ungewissen, zum Unwahren“ wissen (JGB 24).²⁶⁹ Der Wille zum Wissen wendet sich dann gegen sich selbst und steigert sich zugleich. Hier hat Luhmann eingesetzt.

1.2 Beobachtungssysteme Luhmann wollte „den Begriff des Wissens radikal entanthropologisieren“ (WissG, 62), betrieb die „‚Dekonstruktion‘ aller Subjektreferenz“ (WissG, 111) und verzichtete auch auf den Willens-Begriff. Die Unterscheidung von Verstand und Wille hatte nach ihm dazu gedient, gegen eine angeblich gemeinsame Beobachtbarkeit der Welt (Verstand) die Handlungsfreiheit der Einzelnen (Wille) zu retten. Doch diese Unterscheidung lasse sich nun einsparen. Luhmann ersetzte sie durch den Begriff des Beobachtens (Kap. IV, 3): „Der Begriff Beobachten umfaßt […] Erkennen und Handeln.“ (WissG, 112) Erkennen sei ein Unterscheiden, auf das hin gehandelt wird. Dazu muss zunächst etwas markiert, bezeichnet sein, und Beobachtung, so Luhmann, besteht in der „Benutzung einer Unterscheidung zur Bezeichnung der einen (und nicht der anderen) Seite“. Dabei sei es gleichgültig, „welche empirische Realität diese Operation durchführt, sofern sie nur unterscheiden (also zwei Seiten zugleich sehen) und bezeichnen kann“ (SdR, 239). Außer den Unterscheidungen von Denken und Wollen und von Erkennen und Handeln werden durch den Begriff der Beobachtung zugleich die ebenfalls tief in die europäische Philosophie eingewurzelten Unterscheidungen von Denken und Sein und Denken und Wahrnehmen eingespart, durch die das Denken vor der Perspektivität bewahrt werden sollte (Einl., 1.2). Der Begriff der Beobachtung stellt die Perspektivität wieder her: Beobachtungen sind nach Luhmann, wie die Willen zur Macht nach Nietzsche, stets perspektivisch, sind Perspektiven auf Perspektiven und als solche fremdbezügliche Selbstbezüge (Kap. II). Spart man auch den Begriff des Willens noch ein, bleiben von Nietzsches Hypothese der Willen zu Macht diese fremdbezüglichen Selbstbezüge, die sich zu Systemen, Beobach-

 Vgl. FW Vorrede , FW , GD Verbesserer .

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tungssystemen schließen (WissG, 268; EpK, 53). Wo Nietzsche „die Hypothese wagte, ob nicht überall, wo ‚Wirkungen‘ anerkannt werden,Wille auf Wille wirkt“, und darauf zu seiner Zeit die „Kräfte“ der Mechanik und „alle organischen Funktionen“ zurückführte, so dass „die Welt von innen gesehen, die Welt auf ihren ‚intelligiblen Charakter‘ hin bestimmt und bezeichnet […] eben ‚Wille zur Macht‘ und nichts ausserdem“ wäre (JGB 36), vor allem auf keine Weise mehr göttlich, führte Luhmann alles ‚Sein‘ auf Beobachtungen von Beobachtungen zurück: Was beobachten kann, kann auch beobachtet werden. Das Gesamtsystem stellt sich auf ein Beobachten des Beobachtens um […]. Es gibt somit im System keine Beobachtung aus dem Unbeobachtbaren heraus, keine Beobachtungsasymmetrien, keine Operationen, die zwar beobachten können, aber sich ihrerseits der Beobachtung entziehen, keine Geheimnisse, keinen Gott. (WissG, 536)

Das Beobachten des Beobachtens ist Luhmanns (Anti‐)Prinzip einer ebenfalls „prinzipiell kontingenten Welt“ (WissG, 332). Wie nach Nietzsche Willen zur Macht nur durch andere Willen zur Macht erschließbar sind, so sind nach Luhmann Beobachtungen nur durch andere Beobachtungen beobachtbar, beide also durch selbstbezügliche Fremdbezüge oder fremdbezügliche Selbstbezüge, die Luhmann durch die System-Umwelt-Differenz bezeichnet. Beobachtungssysteme entstehen genau dann, wenn eine Beobachtung sich anhand der Beobachtung anderer Beobachtungen sich selbst beobachtet und dabei eine Umwelt von sich unterscheidet (Kap. II, 3.2.2). Luhmanns Beobachtungssysteme ändern wie Nietzsches Willen zur Macht das, was sie beobachten, eben dadurch, dass sie es beobachten, und ändern sich ihrerseits mit der von ihnen beobachteten Umwelt. Beobachtungen sind so zugleich Operationen (kühler für ‚Willen‘) und Ergebnisse von Operationen (kühler für ‚Macht‘), an die immer neue Beobachtungen (kühler für ‚Überwältigungsprozesse‘) anschließen können. Beobachtungen transzendieren weder die Welt noch liegen sie ihr zugrunde, sondern Beobachtungen von Beobachtungen (kühler für ‚Auseinandersetzungen von Willen zur Macht‘) strukturieren erst die Welt, so dass nichts jenseits ihrer gedacht werden muss und kann. Wie Nietzsches Willen zur Macht machen sie, um Wissen zu denken, externe Prinzipien überflüssig. Auch für Luhmann wissen Beobachtungssysteme unter der Prämisse eines Nicht-Wissens, Ungewissen, Unwahren. Luhmann hat das ebenfalls an der Beobachtung selbst festgemacht. Wenn Beobachtung eine Bezeichnung oder Bestimmung aufgrund einer Unterscheidung ist, dann wird mit der einen Seite der Unterscheidung, so Luhmann im Anschluss an George Spencer Brown (Kap. II, 1; III, 3), etwas markiert, bezeichnet, bestimmt, und die andere Seite, mit der ebenfalls, aber anders markiert, bezeichnet, bestimmt werden könnte, bleibt unbestimmt. Luhmann nennt die beiden Seiten einer Unterscheidung mit Gott-

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hard Günther auch Designationswert und Reflexionswert: Danach läuft mit dem Designationswert die Möglichkeit seiner Negation, der Reflexionswert, immer als Alternative mit, kann zu anderer Zeit zur Bestimmung genutzt werden und stellt dann die frühere Bestimmung in Frage. Man weiß so oder kann doch wissen, dass jede Bestimmung Unbestimmtheit, jedes Wissen Unwissenheit mitproduziert, dass mit dem Wissen stets auch das Unwissen wächst. Auch nach Luhmann stabilisiert der rekursive Gebrauch positiver (im Sinn von ‚markierter‘, ‚bezeichneter‘) Unterscheidungsalternativen sich zu Ordnungen oder Strukturen. Bestimmungen reichern sich dann mit jeder weiteren Bestimmung an und verdichten sich in einem Prozess von ‚Konfirmierungen‘ und ‚Kondensierungen‘ zu Realitäten (Kap. II, 3.3.2). Soweit sie sich zu Systemen schließen, können sie unter hinreichend komplexen Umständen auch ihre Art zu unterscheiden und zu bezeichnen beobachten, ihren ‚Code‘, und sich dadurch, so das systemtheoretische Konstrukt, als Beobachtungssysteme ‚ausdifferenzieren‘ (Kap. II, 3.2.3). Solche ausdifferenzierten Beobachtungssysteme können in der Kommunikation der Gesellschaft dann spezifische Unterscheidungsfunktionen übernehmen wie die Unterscheidung nach recht/unrecht (Recht), zahlungsfähig/ zahlungsunfähig (Wirtschaft), transzendent/immanent (Religion) oder, im Fall der Wissenschaft, nach wahr/falsch. Sie werden ‚Funktionssysteme‘, das Wissen zum Funktionssystem der Wissenschaft. So ergibt sich, in gröbsten Zügen, aus dem Prinzip der Prinzipiensparsamkeit, hier der Beschränkung auf das (Anti‐)Prinzip der Beobachtung, nach Luhmann die Ordnung der modernen funktional differenzierten Gesellschaft.

1.3 Evolutionäre Orientierungen Die Unterscheidungen von sich miteinander auseinandersetzenden Willen zur Macht bzw. von sich in Fremd- und Selbstbezügen laufend umstrukturierenden Systemen und ihren Umwelten lassen sich in der Unterscheidung von Orientierung und Situation zusammenführen (Kap. IV, 4; V, 3): In Begriffen der Philosophie der Orientierung orientieren sich nietzschesche Willen zur Macht und luhmannsche Beobachtungssysteme jeweils aneinander, und in Orientierungen aneinander gehört die eine jeweils zur Umwelt bzw. Situation der anderen. Auch und gerade für Orientierungen gilt, dass sie sich von Festlegungen durch Prinzipien offenhalten müssen, um sich die Situation nicht schon durch sie zu verstellen. Erst in der Situation wird entschieden, ob und welchen Prinzipien zu folgen ist, um sie zu bewältigen. Und auch Orientierungen orientieren sich rekursiv an ihren früheren Orientierungsoperationen und -ergebnissen, je nachdem, wie diese sich bewährt haben (Kap. II, 3.3). Sie lernen also, gewinnen Wissen im Sich-Orientieren, werden

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allmählich sicherer im Umgang mit neuen Situationen. Sie bleiben so, wie nietzschesche Willen zur Macht und luhmannsche Beobachtungssysteme, in Evolution. Es sind Orientierungen, die wissen und im Wissen Halt finden, evolutionäre Orientierungen. Evolution im darwinschen Sinn bedeutet Strukturierung und Umstrukturierung von Spezies oder genauer: Populationen von Individuen²⁷⁰ in der Auseinandersetzung mit unablässig wechselnden Umweltbedingungen oder in immer neuen Situationen, in denen auch und vor allem andere Populationen von Individuen ausschlaggebende Rollen spielen. Die Evolutionstheorie geht nicht mehr von zeitlosem Allgemeinem aus; sie orientiert den Begriff des Allgemeinen nicht mehr an der Konstanz biologischer Arten, an die sich Aristoteles in der Bildung seines Begriffs des Begriffs und seiner Konzeption des Wissens gehalten hatte, sondern rechnet in um Dimensionen erweiterten Zeithorizonten mit deren Fluktuanz (Einl., 1.4). Nietzsche konnte daran philosophisch, Luhmann systemtheoretisch anschließen. Beide übernahmen dagegen nicht die (paradoxen) Formeln der Selbsterhaltung (in der Evolution kann sich auf lange Sicht nur erhalten, was sich ändert) und der Anpassung an die Umwelt (für die die Umwelt vorab bekannt sein und sich ebenfalls selbst erhalten müsste).²⁷¹ Beide setzten allein auf Selektion unter Varianten, Luhmann klarer und entschiedener als Nietzsche; doch auch Nietzsche unterstrich bis zuletzt gerade den Begriff der Selektion.²⁷² Selektion unter Varianten bedeutet: Erzeugung (mit Luhmann und abstrakter: Generierung) immer anderer Individuen (mit Luhmann: Elemente), die unter Lebensnöten (Luhmann: Knappheit) mit von ihnen ausgewählten, selektierten Individuen immer neue Individuen zeugen, die dann die Lebensnöte überstehen oder nicht. Sie können mehr Nöte, komplexere Umweltsituationen überstehen, wenn sie ihrerseits komplexere Strukturen aufbauen; die Evolution bewirkt so, wiederum durch Selektion, nun der Selektion von Selektionen, eine Steigerung von Komplexität. Mit der Steigerung von Komplexität wird die Kontingenz jedoch nicht vermindert, sondern verstärkt; denn mit ihr wachsen die Entscheidungsund damit die Selektionsmöglichkeiten. Wissen kann sich so nicht mehr an Zeitloses in einer scheinbar an sich selbst bestehenden und in sich selbst ruhenden Natur halten. Nietzsche und Luhmann haben das Wissen darum, auch wo es sich, wie in der Wissenschaft, in Begriffen kristallisiert, aus Evolutions- oder kontingenten Variations- und Selektionsprozessen rekonstruiert. Dabei wird die scheinbar selbstverständliche Annahme,

 Vgl. Mayr, Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt.  Vgl. JGB ; GM II ; SS, , ; WissG, .  Vgl. JGB ; AC ; WissG,  – u.ö.

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dass man etwas weiß, als nicht-selbstverständlich oder das Wahrscheinliche als unwahrscheinlich genommen (WissG, 331). So werden Alternativen sichtbar, und man kommt zu einem komplexeren Verständnis dessen, was gegenüber der „Fiction“ der klassischen Logik „unsäglich {anders} complicirt“ ist.²⁷³ Damit hat das logische Schema der Differenzierung einer allgemeinsten Gattung in immer spezifischere Arten, das mit der Evolution die Zeit ausschloss und die Kontingenz des Unterscheidens abblendete, seinen Boden verloren (WissG, 381). Nietzsche paradoxierte es gezielt, indem er etwa aus dem Irrtum, der klassisch im Gegensatz zur Wahrheit stand, ihm also nebengeordnet wurde, zum Oberbegriff der Wahrheit machte: „Wahrheit bezeichnet nicht einen Gegensatz zum Irrthum, sondern die Stellung gewisser Irrthümer zu anderen Irrthümern, etwa daß sie älter, tiefer einverleibt sind, daß wir ohne sie nicht zu leben wissen u dergl.“ „Wahrheit ist die Art von Irrthum, ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte.“²⁷⁴ (Kap. III, 2) Luhmann machte solche Paradoxierungen zur Methode (Kap. III, 4). Beide setzten auch das eigene Denken vorbehaltlos der Zeit aus, einer Zeit wiederum ohne vorgegebene Form; denn auch ihr Begriff kann evoluieren (WissG, 614). Nietzsche griff darum die jetzt so genannte evolutionäre Erkenntnistheorie an, wie sie zu seiner Zeit Herbert Spencer propagierte, soweit dieser mit ihr einen stetigen Fortschritt der Anpassung der Erkenntnis an eine vermeintlich vorgegebene Welt verband.²⁷⁵ Luhmann verteidigte die evolutionäre Erkenntnistheorie zwar, nachdem sie von einem solchen Fortschrittsdenken abgelassen hatte, gegen Philosophen, die die Vernunft nicht in die Evolution hineingezogen sehen wollten (WissG, 507); den Gedanken einer Anpassung an eine Welt, die man gar nicht kennen kann, schloss aber auch er, wie erwähnt, aus (WissG, 554 f.).Wissen muss aus der evolutionären Orientierung selbst verstanden werden, die in sich selbst Halt findet.

2 Das Wissen 2.1 Wissen als Bestand und Selektion Wissen ist danach Resultat vielfacher Selektionen, zunächst von Beobachtungen, die selektiv von Beobachtungssystemen gemacht und selektiv unter ihnen kommuniziert werden (WissG, 76). Es gewinnt Bestand, wenn viele den Selektionen  NL , [], KSA ./KGW IX/, N VII , .  NL , [], KSA ./KGW IX/, N VII ,  f.; NL , [], KSA ./KGW IX/, N VII , . Vgl. schon NL , [], KSA ..  Vgl. NL , [], KSA .; NL , [], KSA ./KGW IX/, W I , .

2 Das Wissen

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vertrauen, und gilt dann erst als Wissen; es ist, so Luhmann, „eine soziale Tatsache“ und darin mit Geld vergleichbar; es „aktualisiert“ sich „in und nur in der sozialen Kommunikation“. Als Wissen hängt es nicht von den einzelnen Bewusstseinen ab: Bewusstsein wird „allenfalls über strukturelle Kopplungen als unentbehrliche Umweltbedingung in Anspruch“ genommen (WissG, 68; Kap. V, 2.1). Ohne Wissen wäre Kommunikation nicht möglich; es reicht jedoch aus, es zu unterstellen: „Ohne unterstellbares Wissen keine Kommunikation“, Wissen ist eine in der Kommunikation immer „mittransportierte Unterstellung“. Denn es kann „nie voll in der Kommunikation expliziert werden“ (WissG, 122); sonst müsste Wissen durch immer weiteres Wissen unterfüttert werden. Ebenso wenig kann es „einem besonderen System zur ausschließlichen Herstellung und Nutzung“ zugewiesen, also ausdifferenziert werden (WissG, 147). So übersieht man nur zum geringsten Teil, was gewusst wird, aktualisiert nur gelegentlich das eine oder andere: „An die Stelle [von] Bestandsvorstellungen tritt die Frage, wer was wann und unter welchen Bedingungen aktualisiert. Und damit tritt an die Stelle der Frage ‚was ist?‘ die Frage ‚wie wird seligiert?‘.“ (WissG, 107)²⁷⁶ Wissen ist danach nicht primär aus der Referenz auf scheinbar Vorgegebenes durch die Unterscheidung von Wahrheit und Falschheit, sondern aus der Kommunikation durch die Unterscheidung von Bestand und Selektion zu fassen. Es wird aller Kommunikation unterstellt und von Kommunikationssituation zu Kommunikationssituation neu selektiert und expliziert und dabei stabilisiert oder destabilisiert. Stabilisiert wird es durch rekursives Anschließen (Kap. II, 3.3.2), durch veränderte Wiederverwendung in neuen Situationen; so entwickelt es „Eigenselektivität“ (WissG, 136). Je häufiger es unterstellt oder wiederverwendet wird, desto eher erwartet man, dass es auch weiterhin verwendbar ist. Mit Wissen verbinden sich, so Luhmann, darum „Erwartungen“ oder „temporale Projektionen“ (WissG, 136), es ist „eine frei flottierende Erwartungsqualität“ (WissG, 147). Das entlastet weitgehend von expliziten Referenzen und entsprechenden Überprüfungen: „Man braucht nicht zu wissen, wie die Welt wirklich ist. Man muß nur die Möglichkeit haben, eigene Erfahrungen zu registrieren und (wie immer selektiv und vergeßlich) zu erinnern.“ (WissG, 136) Werden Erwartungen enttäuscht, wird

 Luhmann, als Absolvent eines humanistischen Gymnasiums, gebraucht das dem Lateinischen entnommene Fremdwort korrekt, leitet es aus dem Infinitiv (seligere), nicht aus dem Partizip Perfekt Passiv (selectus) ab. ‚Selektieren‘, das der Duden von  vorschreibt, entspräche ‚zitatieren‘ oder ‚interpretatieren‘. ‚Selegieren‘, das der Duden ebenfalls („fachspr.“) zulässt, ist merkwürdigerweise vom Perfekt Aktiv (selégi) abgeleitet. Man kann hier also zwischen unterschiedlich plausiblen Wortbildungen seligieren, selegieren oder selektieren. Wir übernehmen trotz der abwegigen Bildung den nun gängig gewordenen und als korrekt geltenden Sprachgebrauch ‚selektieren‘.

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VII Nietzsches und Luhmanns Ein- und Entgrenzung des Wissens

Wissen unhaltbar, ist das Gelegenheit zu lernen und das Gelernte wiederum, nun als besseres Wissen, zu kommunizieren. In der doppelten Kontingenz der Kommunikation (Kap. VI, 2.1; VIII, 3) bleibt jedoch offen, ob und wie die andere Seite das Lernangebot annimmt. Es ist „das Sediment einer Unzahl von Kommunikationen, die kognitive Erwartungen benutzt und markiert hatten und mit ihren Resultaten reaktualisierbar sind“ (WissG, 139). Aber eben als solches Sediment, nachdem die kommunikativen Selektionen, aus denen es sich gebildet hat, ebenfalls weitgehend vergessen sind, gilt es, anonym geworden, nicht mehr an bestimmte Personen gebunden, als Wissen: Das Wissen selbst hat seine Geltung […] in einer anonym konstituierten Welt. Es kann als Wissen nur überzeugen, wenn man es für prinzipiell gleichgültig hält, wer es erkennt (was im praktischen Leben natürlich nicht ausschließt, Wissensvorsprünge oder Irrtümer bzw. Unkenntnisse auszunutzen). (WissG, 143)

Hier schließen die Wissenschaften mit ihrem Anspruch auf universales Wissen an. Wissen ist zunächst eben dadurch universal, dass es nicht nur bestimmten Personen zugeschrieben wird, sondern, unter entsprechenden Voraussetzungen, allen zugänglich ist. Diese Voraussetzungen sind mit neuen Selektionen verbunden: Die im Wissen immer schon angelegten Möglichkeiten werden durch Wissenschaft selektiv entwickelt, und auf dieser Selektivität beruht der Erfolg der Wissenschaften. (WissG, 142)

Wissenschaft selektiert, indem sie „Begriffe verwendet und die Begriffsverwendungen eigensinnig (theoretisch) koordiniert“ (WissG, 124). Die Begriffe werden dabei expliziert, und so wird auch die andere Seite der Unterscheidungen mitgeführt, durch die sie gewonnen werden, der Reflexionswert neben dem Designationswert. Die Wissenschaft macht so „Unterscheidungen unterscheidbar“ und damit auch entscheidbar. Sie gewinnt dadurch nicht nur „reichere, komplexere Beschreibungen“, sondern auch, in einer weiteren Selektion, die Möglichkeit zu prüfen, ob „bestimmte Aussagen wahr (und nicht unwahr) sind“ (WissG, 124). Soweit das anhand empirischer Prüfverfahren geschieht, setzen diese laut Karl Popper ihrerseits schon bestimmte Begriffe, Unterscheidungen und Theorien voraus, so dass auch hier nicht mit Repräsentationen vorgegebener Bestände zu rechnen ist.²⁷⁷ Im Sinn Descartes’ werden lediglich nach entscheidbaren Regeln komplexe Beobachtungen dekomponiert und rekomponiert, so dass

 Luhmann beruft sich regelmäßig, wenn auch zurückhaltend auf Popper (WissG, , , , , , ). Einleuchtende Parallelen zwischen Poppers und Nietzsches Konzeptualisierungen der Wissenschaft zieht Fischer, Nietzsches Wissenschaftsphilosophie,  – .

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das wissenschaftliche Beobachtungssystem autonom bleibt und von sich aus entscheidet, wo und wie es Kontakt mit seiner Umwelt aufnimmt (Kap. IV, 1). Der Glaube, man entdecke das Wissen statt es zu konstruieren, erleichtert wohl die wissenschaftliche Forschung. Dieser Glaube ließ sich aber spätestens dann nicht mehr halten, als man beobachtete, dass die Konstruktion des Wissens, seine Abhängigkeit von selektiven Fokussierungen, ihrerseits Teil des Wissbaren ist, wie es etwa die Quantenphysik, aber auch die Historie oder die Psychoanalyse deutlich gemacht haben. Das wissenschaftliche Wissen aber unterliegt nicht nur einer „kontrollierten“ oder „manifesten“ Selektion, sondern, als kommuniziertes, nicht weniger wirkungsvollen „nichtkontrollierten“ oder „latenten“ (WissG, 577) oder, nach einer Unterscheidung, die Luhmann für Machtkreisläufe verwendet (Kap. IX, 2.4; X, 1.5), einer „informalen“ neben der „formalen“ Selektion: In weitem Umfange erfolgt Selektion einfach dadurch, daß Wissensofferten im System diskutiert oder nicht diskutiert werden. Viele Neuvorschläge verschwinden unbemerkt – sei es, daß sie zu ungewöhnlich sind, sei es, daß sie von Außenseitern oder aus nichtreputierten Quellen stammen, sei es auch, daß sie wegen geringfügiger Formulierungsdefekte oder irreführender Zuordnung zu Begriffen nicht als solche erkannt werden. Die erste Schwelle der Selektion liegt mithin in der Wiederholung bzw. Nichtwiederholung der Sinnofferte in der Autopoiesis weiterer Kommunikation. Rein quantitativ ist dieser Grobmechnismus kaum zu überschätzen. Das meiste wird auf diese Weise ausgefiltert – und nicht etwa durch explizite Widerlegung. (WissG, 577)

Die Spiel- und Selektionsräume der Verständigung (Kap. VI) legen sich über die Spiel- und Selektionsräume des wissenschaftlichen Wissens. So hatte es Nietzsche von Anfang an im Blick. Noch mehr als Luhmann hielt Nietzsche vielfältige Perspektiven auf das Wissen überhaupt und das wissenschaftliche Wissen im Besonderen offen, auch er unter dem Gesichtspunkt nicht der Referenz, sondern der Selektion.²⁷⁸ Sein Selektionsgesichtspunkt war der Wert des Wissens und der Wissenschaft für das ‚Leben‘, die Frage, ob und wie Wissen und Wissenschaft das Leben steigern oder beschränken, Kulturen und Menschen formen, mit Moral und Kunst verschränkt sind und, generell, ob und wie sie Wahrheit in Gestalt von Orientierungssicherheit garantieren. So griff er in seiner philologisch-philosophischen Erstschrift Die Geburt der Tragödie Sokrates an, der das Wissen und die Wissenschaft vom Leben ausgenommen und es als theoretisches Wissen überschätzt habe. Er glaubte,

 Vgl. dazu die Pionierstudie von Babich, Nietzsche’s Philosophy of Science, zum Überblick Zittel, Art. Wissenschaft, zum Stand der Diskussion Heit/Abel/Brusotti (Hg.), Nietzsches Wissenschaftsphilosophie.

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entgegen dem Geist seiner Zeit, schon nicht mehr an „eine Correctur der Welt durch das Wissen, an ein durch die Wissenschaft geleitetes Leben“ (GT 17, KSA 1.115), jedenfalls nicht mehr an ein allein oder maßgeblich durch sie geleitetes Leben. Immer nachdrücklicher betonte er die Gefahr, dass Wissenschaft als ausdifferenziertes Wissen sich stattdessen gegen die Bedürfnisse des Lebens verselbstständigen und lebensfeindlich werden und dass man sich in sie als eine scheinbar ‚wahre Welt‘ flüchten kann, der in der wirklichen, beobachtbaren wenig entspricht. Dennoch schätzte er die Wissenschaft immer hoch: Das, was wir jetzt die Welt nennen, ist das Resultat einer Menge von Irrthümern und Phantasien, welche in der gesammten Entwickelung der organischen Wesen allmählich entstanden, in einander verwachsen und uns jetzt als aufgesammelter Schatz der ganzen Vergangenheit vererbt werden, – als Schatz: denn der Werth unseres Menschenthums ruht darauf. (MA I 16)

Gleichwohl aber habe man sich dem evolutionären Charakter des Wissens und der Wissenschaft zu stellen. Nietzsche stellte dabei nicht nur das Sein eines Bewusstseins, sondern auch den Glauben an die Überlegenheit der Bewusstheit (Kap.V, 4.2) und damit die Möglichkeiten einer bewussten Steuerung des Lebens in Frage, sprach von der „lächerlichen Ueberschätzung und Verkennung des Bewusstseins“, das doch die „letzte und späteste Entwickelung des Organischen und folglich auch das Unfertigste und Unkräftigste daran“ sei. Ihm seien sichtlich „unzählige Fehlgriffe“ zu verdanken, „welche machen, dass ein Thier, ein Mensch zu Grunde geht, früher als es nöthig wäre“; „an ihrem verkehrten Urtheilen und Phantasiren mit offenen Augen, an ihrer Ungründlichkeit und Leichtgläubigkeit“ könne die Menschheit als ganze zugrunde gehen. Weit mehr sei vorerst dem „erhaltenden Verband der Instincte“ als unbewusstem „Regulator“ des Lebens zu trauen, woraus sich für ihn die „Aufgabe“ einer anderen Selektion ergab, nämlich „das Wissen sich einzuverleiben und instinctiv zu machen“ (FW 11). So ist es das im Ganzen ungreifbare Leben selbst, das lebensdienliches und lebensfeindliches Wissen differenziert und selektiert; in der Sprache der Philosophie der Orientierung wird zur Bewährungsinstanz von Wissen, ob es zur Routine werden kann oder nicht (Kap. I, 3.10; IX, 3.1). Auch Luhmann fokussierte auf solche „Routinisierungen“ – in Anwendungen wissenschaftlichen Wissens: Hier werde nach dem „Modell der Therapie“, nämlich durch bloßes „Beseitigen von Störungen“ verfahren, Wissen also so lange korrigiert, bis es ‚passt‘ (WissG, 648 f.). Statt auf „das klassische Modell des logisch gesicherten Wissenstransfers“ werde so auf den „Medizin-Code krank/gesund“ zurückgegriffen (WissG, 651) – den Code, den Nietzsche für das Leben im Ganzen geltend gemacht hat. Der Gesichtspunkt des Lebens und darin der Rekurs auf dessen nicht-bewusste Steuerungen öffnete Nietzsche auch den Blick auf das eigene, das philo-

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sophische Wissen. Danach haben alle „Grundtriebe des Menschen […] schon einmal Philosophie getrieben“, waren also selektierend am Werk. Philosophische Entwürfe und ihre publizistischen Erfolge sind selbst Teil der evolutionären Orientierung. Das mag, räumte Nietzsche ein, bei den Gelehrten, den eigentlich wissenschaftlichen Menschen, […] anders stehn – „besser“, wenn man will —, da mag es wirklich so Etwas wie einen Erkenntnisstrieb geben, irgend ein kleines unabhängiges Uhrwerk, welches, gut aufgezogen, tapfer darauf los arbeitet, ohne dass die gesammten übrigen Triebe des Gelehrten wesentlich dabei betheiligt sind. (JGB 6)

Doch dieses gut aufgezogene unabhängige Uhrwerk verdankt sich der Ausdifferenzierung der Wissenschaft und der Disziplinierung der Wissenschaftler(innen) durch sie; es ist eine vorgreifende Metapher für Luhmanns autonome Funktionssysteme. Nietzsche thematisierte darüber hinaus aber die Frage, welche Disziplinen und welche Forschungsthemen darin jeweils gewählt werden – das hänge wieder einerseits von den ‚Grundtrieben‘ der Einzelnen, andererseits von ihrer Sozialisierung ab (FW 348, FW 349). Die Entscheidung für mathematische Naturwissenschaften könnte zum Beispiel von dem ‚Grundtrieb‘ ausgehen, dem Dasein „seinen vieldeutigen Charakter“ nehmen zu wollen und es möglichst eindeutig berechenbar „und damit allgemein- und letztgültig zu machen“. Andere wählen und denken anders. Alle aber können nun wissen, dass sie mit ihren selektiven „Welt-Interpretationen“ das Leben mehr oder weniger stark simplifizieren oder ‚sinnarm‘ machen (FW 373). Nietzsche zeigte das am Beispiel der Musik: Gesetzt, man schätzte den Werth einer Musik darnach ab, wie viel von ihr gezählt, berechnet, in Formeln gebracht werden könne – wie absurd wäre eine solche „wissenschaftliche“ Abschätzung der Musik! Was hätte man von ihr begriffen, verstanden, erkannt! Nichts, geradezu Nichts von dem, was eigentlich an ihr „Musik“ ist! … (FW 373)

Das richtete sich nicht gegen die Mathematik als Erkenntnismittel, im Gegenteil: Wir wollen die Feinheit und Strenge der Mathematik in alle Wissenschaften hineintreiben, so weit diess nur irgend möglich ist, nicht im Glauben, dass wir auf diesem Wege die Dinge erkennen werden, sondern um damit unsere menschliche Relation zu den Dingen festzustellen. Die Mathematik ist nur das Mittel der allgemeinen und letzten Menschenkenntniss. (FW 246)

Es richtete sich gegen den Glauben, durch mathematische Simplifikationen erreiche man einen Bestand wahren, weil eindeutigen Wissens. Erweist sich das schon im Fall der Musik als abwegig, so noch mehr im Blick auf das Leben im Ganzen. Die „Impressionsfülle“ der „Bewußtseinsereignisse“, so Luhmann, und

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damit der „Realitätskontakt“ (WissG, 224– 226) wird durch Selektionen jedweder Art ausgefiltert und je strikter die Selektionsinstrumente sind, desto mehr. Was dann als ‚Wissen‘ bleibt, ist ein sicher nützliches, aber mageres Filtrat.

2.2 Wahrheit als Medium, Wissen als Orientierungsmittel Mit dem Wissen ist auch seine Wahrheit anders und komplexer zu fassen als gewohnt. Wir brauchen hier Nietzsches Reflexion und Neubestimmung des Begriffs der Wahrheit nicht nochmals auszuführen.²⁷⁹ Im Gegensatz zur metaphysisch-ontologischen Tradition bestimmte er auch die Wahrheit als bedingt, geschichtlich, geschaffen, zugleich bewusst und instinkthaft, allgemein und individuell, im Ganzen als etwas, das sein soll, nicht als etwas, das es gibt. Das Ergebnis fasste er für sich in einem Notat von 1885/86 zusammen: Die Welt, die uns etwas angeht, ist falsch dh. ist kein Thatbestand, sondern eine Ausdichtung u. Rundung über einer {immer sehr} mageren Summe von Beobachtungen; {sie ist {andererseits} „im Flusse“, als etwas Werdendes, {als} eine sich immer neu verschiebende Falschheit {die sich niemals der Wahrheit nähert: denn} – es giebt keine „Wahrheit“.}²⁸⁰

Die Welt, die uns etwas angeht, ist insofern falsch, als sie nicht die sein kann, die wir dafür halten, die Welt an sich (Kap. II). Dennoch behält der Wahrheitsbegriff eine Funktion, nun eine „negative“, nämlich die, wo nötig erkennbare Irrtümer und Illusionen aufzudecken: Negativer Charakter der „Wahrheit“ – als Beseitigung eines Irrthums, einer Illusion. Nun war die Entstehung der Illusion eine Förderung des Lebens – –²⁸¹

Nötig ist die Aufdeckung und Beseitigung von Irrtümern und Illusionen, wo diese, so unentbehrlich sie lange Zeit sein mögen (JGB 4), unter veränderten Umständen

 Vgl. Stegmaier, Nietzsches Neubestimmung der Wahrheit; Bittner, Nietzsches Begriff der Wahrheit; Simon, Die Krise des Wahrheitsbegriffs als Krise der Metaphysik; Roth, Nietzsches Wahrheitsbegriff in seiner selbstwidersprüchlichen Problematik; Hales/Welshon, Truth, Paradox, and Nietzschean Perspectivism; Gemes, Nietzsche’s Critique of Truth; Clark, The Development of Nietzsche’s Later Position on Truth; Poellner, Perspectival Truth; Abel, Zeichen der Wahrheit; Stekeler-Weithofer,Wirklichkeit als bewertete Möglichkeit. Einen prägnanten Überblick zum Streit über die Wahrheit bei Nietzsche gibt Heit, Art. Wahrheit.  NL /, [], KSA ./KGW IX/, W I , .  NL , [], KSA ..

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lebensfeindlich werden. Das ergibt noch keine positive Wahrheit, sondern führt zunächst einmal in die Desorientierung, das heißt, dass die Zerstörung einer Illusion noch keine Wahrheit ergiebt, sondern nur ein Stück Unwissenheit mehr, eine Erweiterung unseres „leeren Raums“, einen Zuwachs unserer inneren „Oede“ –²⁸²

Dennoch kann dieser ‚leere Raum‘ nun als Spielraum der Entscheidung darüber genutzt werden, was in der jeweiligen Kommunikationssituation als Wahrheit gilt oder gelten soll. Luhmann hat diesen Spielraum durch die Unterscheidung von Medium und Form(ung) gefasst. Sie transformiert,wie hier zu sehen ist, die Unterscheidung von Bestand und Selektion. Das Medium hat relativ zu seiner Formung Bestand – im Fall der Wahrheit ist das die in der Kommunikation zunächst und zumeist unterstellte, aber nicht markierte, explizit kommunizierte Wahrheit. Dieser Bestand ist nach Luhmanns Medienbegriff (WissG, 181– 189; GG, 190 – 202; Kap. VI, 1.2) beweglich genug, um sich wechselnd formen zu lassen – durch selektive wahre Aussagen, seien es weniger abgesicherte und geordnete wie in der alltäglichen Kommunikation oder ihrerseits nach definierten Begriffen, Hypothesen und Theorien formierte wie im ausdifferenzierten Funktionssystem der Wissenschaft. Mit der Unterscheidung von Medium und Form wird für beide das alte Ideal einer hierarchischen Ordnung von Begriffen und Sätzen ersetzt, das eine bestimmte, Deduktionen ermöglichende Logik voraussetzte. Sie nimmt stattdessen die Unterscheidung von Latenz (das nicht-markierte Medium) und Aktualisierung (markierte Formen) auf und macht so den zeitlichen Wechsel von (geformten) Wahrheiten im (ungeformten) Medium Wahrheit denkbar, also die Selektion und Evolution von jeweils als wahr geltendem Wissen. Der Übergang zur Unterscheidung von Medium und Form(ung) ist seinerseits eine wissenschaftliche Hypothese, also wieder eine Formung des Mediums Wahrheit (GG, 198). Sie ist eine bewusste „Theorieentscheidung“ (WissG, 209) mit dem Ziel, das klassische, ungelöste und aus heutiger Sicht unlösbare Problem der Referenz der Wahrheit aufzulösen durch den Übergang zur Selbstreferenz des Mediums und seiner Formungen: „Es handelt sich also nicht um ein Übereinstimmungsverhältnis zwischen Denken und Sein oder System und Umwelt, son-

 NL , [], KSA ./KGW IX/, W I , . Nietzsche notierte das zu „Schopenhauers großer Stellung“. Die genaue Stelle bei Schopenhauer ist in KSA  nicht nachgewiesen. Nietzsche könnte sich auf den §  von Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. , beziehen, wo Schopenhauer, um das Gefühl des Erhabenen zu illustrieren, eine „gänzliche Oede“ beschreibt, die „furchtbaren Charakter“ gewinnt und eine „tragische Stimmung“ hervorruft.

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dern um eine Selbstprägung, eine Selbststrukturierung des Systems.“ (WissG, 188)²⁸³ Selbstreferentiell ist die Unterscheidung von Medium und Form, weil das Medium nur in seinen Formungen, Wahrheit also nur in wahren Sätzen beobachtbar ist. So aber kann Wahrheit zugleich als Einheit (das geformte Medium) und als Differenz (die Formungen des Mediums) behandelt und die Differenz, nämlich wahre und als unwahr erwiesene Aussagen, zum Code des Funktionssystems Wissenschaft werden, durch den es sich von anderen Funktionssystemen der Kommunikation der Gesellschaft unterscheidet. Statt Wahrheit an sich festzustellen, die es nicht geben kann, dient die Rede von Wahrheit also dazu, ihre Formungen oder Selektionen in ihrem eigenen Medium zu reflektieren und damit überhaupt erst unterscheidbar zu machen, was in der alltäglichen Kommunikation gelegentlich, in der wissenschaftlichen methodisch geschieht. Dabei wird, so Luhmann, auch hier nicht der positive, der Designationswert, sondern der negative, der Reflexionswert, bevorzugt: Denn man kann im Alltag und in der Wissenschaft leichter Unwahrheiten ablehnen als Wahrheiten behaupten (WissG, 200). Durch den negativen Reflexionswert, in Nietzsches Begriffen das Fragezeichen, den Zweifel, die Skepsis, den Verdacht, den Argwohn, wird ebenso die alltägliche Kommunikation wie der wissenschaftliche Forschungsprozess in Gang gehalten. Wissen und seine Wahrheit sind nicht das Ziel, sondern das Mittel der Kommunikation, und soweit von ihnen Orientierungssicherheit erwartet wird, ein Orientierungsmittel. Als solches hält es auch Orientierungsunsicherheit offen: Orientiert man sich an Wissen und im Fall der Wissenschaften an nach expliziten Theorien und Methoden erworbenem Wissen, wird man, sobald es streitig wird, wieder in Desorientierung versetzt. Die Spielräume der Orientierung bleiben auch hier bestehen.

2.3 Orientierungssicherheit in souveräner Unwissenheit Nietzsche und Luhmann haben das positiv aufgenommen. Nietzsche ging davon aus, dass das „Sicherheits-Gefühl“ der Orientierung wächst, wenn die Lebensumstände sich verbessern, weniger Nöte herrschen und Gefahren drohen, das Dasein erträglicher wird. Dann kann wieder eine „Lust an der Unsicherheit“, am Erproben noch unbekannter Möglichkeiten aufkommen. Bei einem Philosophen wie Nietzsche und einem Soziologen wie Luhmann führte das zu einer neuen  „Für universalistisch ansetzende Theorien sind Autologien dieser Art unvermeidlich, und wenn man sie antrifft, ist das kein Einwand, sondern im Gegenteil: ein Beleg für den theoretischen Rang der Begrifflichkeit.“ (GG, ) Universalistisch ansetzende Theorien können keine Gründe außerhalb ihrer selbst suchen, sondern müssen selbstbezüglich ansetzen.

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Stellung zur Gewissheit überhaupt, bei Nietzsche, wie immer pathetischer als Luhmann, sogar zu einem neuen Glück. Nietzsche notierte sich: Wir stehen anders zur „Gewißheit“. Weil am längsten die Furcht dem Menschen angezüchtet worden ist, und alles erträgliche Dasein mit dem „Sicherheits-Gefühl“ begann, so wirkt das jetzt noch fort bei den Denkern. Aber sobald die äußere „Gefährlichkeit“ der Existenz zurückgeht, entsteht eine Lust an der Unsicherheit, Unbegrenztheit der Horizont-Linien. Das Glück der großen Entdecker im Streben nach Gewißheit könnte sich jetzt in das Glück verwandeln, überall die Ungewißheit und das Wagniß nachzuweisen. Ebenso ist die Ängstlichkeit des früheren Daseins der Grund, weshalb die Philosophen so sehr die Erhaltung (des ego oder der Gattung) betonen und als Princip fassen: während thatsächlich wir fortwährend Lotterie spielen gegen dies Princip.²⁸⁴

Vorsichtig beschränkte Nietzsche das Glück der Unsicherheit auf sich selbst, auf das philosophische Glück der Einsicht in die komplizierte Ermöglichung von Sicherheit in der Orientierung: Ich stehe anders zur Unwissenheit u Ungewißheit. Nicht, daß etwas unerkannt bleibt, ist mein Kummer; ich freue mich, daß es vielmehr eine Art von Erkenntniß geben kann u. bewundere die Complicirtheit dieses [!] Ermöglichung.²⁸⁵

Luhmann ging dieser Kompliziertheit weiter nach, machte es sich zur Forschungsmaxime, „Sachverhältnisse […] als bodenlose Konstruktion, als wahrscheinlich gewordene Unwahrscheinlichkeit“ zu begreifen (SS, 132). Als „Paradoxiefan“ (PolG, 325) brachte er die Evolution, die „geringe Entstehungswahrscheinlichkeit in hohe Erhaltungswahrscheinlichkeit transformiert“ (GG, 413 f.), geradezu auf die Formel der „Paradoxie der Unwahrscheinlichkeit des Wahrscheinlichen“ (WissG, 331).²⁸⁶ Nietzsche dagegen gebrauchte die nicht weniger paradoxe Formel der „souveränen Unwissenheit“: In summa bereitet die Wissenschaft eine souveräne Unwissenheit vor, ein Gefühl, daß „Erkennen“ gar nicht vorkommt, daß es eine Art Hochmuth war, davon zu träumen, mehr noch, daß wir nicht den geringsten Begriff übrig behalten, um auch nur „Erkennen“ als eine Möglichkeit gelten zu lassen – daß „Erkennen“ selbst eine widerspruchsvolle Vorstellung ist. Wir übersetzen eine uralte Mythologie u. Eitelkeit des Menschen in die harte Thatsache: so wenig Ding an sich, so wenig ist „Erkenntniß an sich“ noch erlaubt als Begriff.²⁸⁷

 NL , [], KSA . f. Vgl. NL , [], KSA ./KGW IX/, W II , .  NL , [], KSA ./KGW IX/, NL VII , .  Zum notwendigen „Gedächtnis“ von evoluierenden Beobachtungssystemen als der „immer mitlaufenden Konsistenzprüfung“ ihres Wissens vgl. WissG,  f.,  f.,  f.  NL /, [], KSA . f./KGW IX/, N VII , . – Dellinger, „In summa bereitet die Wissenschaft eine souveräne Unwissenheit vor“, wertet das Notat mit dem Ziel aus, die in der

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Nachdem dem idealisierten Wissen der Wissenschaft in der philosophischen Tradition so lange Souveränität zugemutet worden war, ohne dass sie sie tatsächlich je behaupten konnte, weist die Selbstreflexion der Wissenschaft sie nun in deren ‚Unwissenheit‘ auf. Die Unwissenheit wird dann nicht mehr als Gegensatz, sondern als Bedingung des Wissens verstanden – sofern aller Erwerb von designiertem Wissen auf der andern Seite der dazu gebrauchten Unterscheidungen unvermeidlich einen Reflexionswert offen gelassenen Nichtwissens miterwirbt, von dem aus das erworbene Wissen wieder in Frage gestellt und so das Wissen ständig erneuert werden kann. Darauf passt dann nicht mehr der alte Begriff des Erkennens, der auf jenseitige Referenz fixiert ist, sondern der neuere des Sich-Orientierens, der Spielräume der Referenz und Selbstreferenz offen hält. Im Sich-Orientieren bekommen alle „Dinge“, wie Nietzsche es dann in FW 375 formulierte, „Fragezeichen-Charakter“, werden immer nur auf Vorbehalt als gewiss genommen. Die Unwissenheit wird darin souverän, dass sie das Wissen umgreift und so auch seine Evolution, von der man vorab nichts wissen kann, zulässt. Sie entwickelt, so Nietzsche, „einen Geschmack, der alle plumpen vierschrötigen Gegensätze ablehnt“, „eine Uebung in Vorbehalten“, derer man sich „mit Stolz bewusst“ sein kann: Denn Das macht unsern Stolz aus, dieses leichte Zügel-Straffziehn bei unsrem vorwärts stürmenden Drange nach Gewissheit, diese Selbstbeherrschung des Reiters auf seinen wildesten Ritten: nach wie vor nämlich haben wir tolle feurige Thiere unter uns, und wenn wir zögern, so ist es am wenigsten wohl die Gefahr, die uns zögern macht … (FW 375)

Ohne je ein definitives Wissen zu haben, kann man doch, wenn man geübt genug ist, von Fall zu Fall über den Wert des Wissens und Unwissens entscheiden. Während der traditionelle Glaube an den Bestand des Wissens durch die Einsicht in die unvermeidliche Unwissenheit im Sich-Orientieren verunsichert wird, lässt, in einer Beobachtung zweiter Ordnung, die Einsicht in die unvermeidliche Unwissenheit mit Wissen jeder Art sicher umgehen, wenn es geübt ist, seinen Wert in der jeweiligen Orientierungssituation sicher einzuschätzen. Nach Luhmann wird im Ansatz der Wissenschaft als autonomem Funktionssystem der Kommunikation der Gesellschaft jeder „Restbestand an unbezweifelbaren Wahrheiten oder an transzendentalen Geltungssicherheiten“ (WissG, 295) überflüssig. Stattdessen wird es in der Reflexion auf seine stets

anglo-amerikanischen Nietzsche-Forschung, besonders von Maudemarie Clark und Brian Leiter, stark vertretene Meinung, Nietzsche habe eine objektive Wahrheit in den Naturwissenschaften anerkannt,von dessen Texten her den Boden zu entziehen. Auch Dellinger hält sich weitgehend an das V. Buch der Fröhlichen Wissenschaft und die Notate, die ihm vorausgehen.

3 Spielräume des Wissens der Wissenschaft als Orientierungsmittel

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flüssige, ebenso irritierende wie faszinierende Umwelt, deren Komplexität immer undurchschaubar bleibt, zunehmend souverän, wenn es seine eigene Komplexität steigern und so immer mehr von der Komplexität seiner Umwelt durchschauen kann. Man lernt dann, so Luhmann, auch mit „Illusionen“ zu leben (WissG, 165), unter anderen mit der, beim Wissen handle es sich um das Wissen von ‚Subjekten‘ über ‚Objekte‘. Stelle man aber von Subjektreferenz auf Systemreferenz um, lege „das jeweils umfassendste Kommunikationssystem, das Gesellschaftssystem“ zugrunde und betrachte „Wissenschaft als ein ausdifferenziertes Teilsystem dieses Gesellschaftssystems“, so sehe man auch die „entsprechenden historischen und strukturellen Beschränkungen“, die es eingehen muss, um autonom beobachten zu können (WissG, 63). Kurz, man bekomme die „evolutionäre Unwahrscheinlichkeit“ ihrer Wahrscheinlichkeit in den Blick (WissG, 296). Wir stellen einige der wichtigsten dieser Beschränkungen, Begrenzungen oder „Limitationen“, wie Luhmann zu sagen bevorzugte, aus seiner Sicht und der Nietzsches abschließend zusammen, natürlich ohne Vollständigkeit zu beanspruchen. Sie grenzen die Spielräume des Wissens, insbesondere des Wissens der Wissenschaft ab. Wir unterscheiden Prämissen zur Limitationalität (3.1), konkrete Limitationen (3.2) und Aufforderungen zur Delimitation (3.3). Wir thematisieren nicht mehr die Limitation durch Theoretizität, die für Luhmann wie für die klassischen Wissenschaftstheorien im Mittelpunkt stand, die Nietzsche jedoch für seine fröhliche Wissenschaft nicht teilte und die wir oben schon behandelt haben (Kap. III, 6).Wir halten uns bei Nietzsche weiterhin vor allem an das V. Buch seiner Fröhlichen Wissenschaft, bei Luhmann an Die Wissenschaft der Gesellschaft.

3 Spielräume des Wissens der Wissenschaft als Orientierungsmittel 3.1 Prämissen 3.1.1. Funktionalitätsprämisse: Wissen, das alltägliche und das wissenschaftliche, ist, wie sich ergeben hat, für Nietzsche Funktion des Lebens, für Luhmann Funktion der Kommunikation der Gesellschaft. In den ersten IV Büchern der FW dachte Nietzsche methodisch ‚Dinge‘ und ‚Personen‘ in ‚Funktionen‘ um (FW 22, 113, 116, 118, 119), von der Wille-zu-Macht-Hypothese aus bekommt nach GM II 12 alles, insbesondere auch Institutionen, den „Sinn einer Funktion“. Die Funktion als solche bestimmte Nietzsche nicht, Luhmann tat es in Artikeln für das Historische Wörterbuch für Philosophie (ArtF, ArtFm). Er erklärte darin, auch im Blick auf seinen soziologischen Lehrer Talcott Parsons, „die funktionale Methode und die in ihr vorausgesetzte Systemtheorie zur wichtigsten Forschungskonzeption der So-

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ziologie“. Sie werde „unentbehrlich […], wenn es gilt, Handlungssysteme [die Luhmann dann in Funktionssysteme transformierte] von sehr großer Komplexität zu erforschen“. Das lasse auch latente und negative Funktionen zu, „für Erhaltung ebenso wie für Wandel“. Ausschlaggebend sei „die vergleichende Grundorientierung an ‚anderen Möglichkeiten‘“ (ArtF, 1143). Funktionen seien, so Luhmann zuvor an anderer Stelle, „problembezogene Regeln der Vergleichbarkeit“ (SGS, 89). Denn eine Funktion ist „nicht durch sich selbst, sondern durch anderes bestimmt“, sie ist eine Abhängigkeitsbeziehung, die unterschiedlich besetzt werden kann. Sofern aber alles immer auch als Funktion für anderes verstanden werden kann, würde der Funktionalismus, so Luhmann, „eine Gegenontologie herausfordern, die den Bestand der Welt nicht mehr auf das Sein des Seienden, sondern auf die Verfügbarkeit anderer Möglichkeiten in Systemen gründet“ (ArtFm). Luhmann hat, skeptisch gegen alle Ontologien, keine solche Funktionenontologie entwickelt, sondern in der Grundlegung seiner eigenen Systemtheorie von „Funktionsorientierung“ (SS, 84, 242, 406 ff., 463 ff.) bzw. „funktionaler Orientierung“ (SS, 465) gesprochen. Zuletzt bestimmte er die Funktion selbstreferentiell: „die Funktion der Funktion ist es, funktionale Äquivalente zuzulassen“ (GG, 1145). 3.1.2. Delimitationsprämisse: Die Funktionsorientierung, die Nietzsche und Luhmann teilen, erlaubt, wo komplexere Sichten mehr Aufklärung versprechen, die Horizonte der Beobachtung zu entgrenzen, zu delimitieren. Nietzsche entgrenzte so die Philosophie überhaupt. Danach handelte es sich „bei allem Philosophiren […] bisher gar nicht um ‚Wahrheit‘, sondern um etwas Anderes, sagen wir um Gesundheit, Zukunft,Wachsthum, Macht, Leben …“, für das ‚Wahrheit‘ ein bloßer Vorwand sein könnte (FW Vorrede 2). Für Beobachtungen in solchen weiteren Horizonten ist dann nicht wiederum wahres Wissen vorauszusetzen; Nietzsche stellte hier ausdrücklich nur Vermutungen an. In seiner Genealogie der Moral, mit der er auf eine stark polemische Schreibweise umstellte, ging er unter Berufung auf die berüchtigte Assassinen-Formel „‚Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt‘“ (GM III 24) gegen alle Horizont-Beschränkungen, insbesondere alle moralischen, des Philosophierens an. In Luhmanns Sprache heißt das: „Entweder kommt es […] zu einer Reflexion der Limitationalität oder nicht; aber wenn es dazu kommt, ist als Korrelat dazu der Begriff eines unendlich expandierbaren Welthorizontes erforderlich.“ (WissG, 395) Er verwies auf Kant, der die Reflexion der Limitationalität als Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit und diese als konditionale Frage „in einem offenen Horizont“ formuliert habe, „der unter anderen Bedingungen andere Möglichkeiten zulassen würde“ (WissG, 396). Aber er schränkte auch ein: „Selbst wenn alles erlaubt wäre, so wäre deshalb noch lange nicht alles möglich.“ (MorG, 27)

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3.1.3. Limitationalitätsprämisse: Denn beobachtet werden kann weiterhin nur in beschränkten, limitierten Horizonten. Das gilt auch für Beobachtungen der Limitationalität selbst. Die „Wissenden“, die die Bedingungen des Wissens reflektieren, wissen, so Nietzsche, eben dies: „Wir wissen Einiges jetzt zu gut, wir Wissenden: oh wie wir nunmehr lernen, gut zu vergessen, gut nicht-zu-wissen, als Künstler“, die fröhliche Wissenschaftler(innen) immer auch sein müssen (FW Vorrede 4). Auch wenn „unendliche Interpretationen“ der Welt immer möglich sind, müssen sie doch irgendwo abbrechen, begrenzt, limitiert bleiben. Nietzsche sprach hier von „menschlicher, allzumenschlicher“ „Dummheit“ (FW 374; Kap. II, 3.1.1– 3.1.2), in Luhmanns Sprache läßt sich Limitationalität „weder begründen noch legitimieren durch Rückgriff auf ein höheres Prinzip, einen letzten Wert, einen höchsten Willen. Limitationalität ist Limitationalität – und zwar deshalb, weil erst an der Form der Limitationalität die Unterscheidung des Limitierten und des Nichtlimitierten, des Ergiebigen und des Unergiebigen beobachtbar wird.“ Eben dies nannte er die „Limitationalitätsprämisse“ (WissG, 396). Beobachtungssysteme limitieren ihre Beobachtungsmöglichkeiten so, wie es für sie ergiebig ist. Nietzsche machte solche Selbstlimitierungen durch seine Genealogie beobachtbar, die hypothetische Rückverfolgung der historischen Bedingungen, unter denen es zu systematischen Beschränkungen eines Denkens, hier des europäischen philosophischen und wissenschaftlichen Denkens gekommen sein könnte. Weil sich hier die religiösen und moralischen Beschränkungen als die stärksten erwiesen, stellte er die Genealogie der Wissenschaft in den Horizont der Genealogie der Moral. Die Wissenschaft wurde so als festeste Formierung christlicher asketischer Ideale sichtbar, die, solange das Christentum glaubwürdig blieb, der ‚Tod Gottes‘ noch nicht eingetreten war, trotz ihrer Unwahrscheinlichkeit als das einzig Wahre und Gute erschienen. Luhmann beschrieb die Lösung von „religiösen, moralischen, rechtlichen Beschreibungen“ der Wissenschaft (WissG, 593) durch sein Theorem der Ausdifferenzierung autonomer Funktionssysteme (Kap. II, 3.2.3). War die Wissenschaft einmal als Funktionssystem ausdifferenziert, unter anderem gegenüber dem der Religion, konnte es auf die „Selbstreinigungskraft des Wissens“ setzen (WissG, 595). Für Nietzsche, der sich stärker an Personen hielt (Kap. V, 3), stand Goethe beispielhaft für die Freiheit zu bewussten Limitationen und Delimitationen von Orientierungshorizonten: „Er nahm die Historie, die Naturwissenschaft, die Antike, insgleichen Spinoza zu Hülfe, vor Allem die praktische Thätigkeit; er umstellte sich mit lauter geschlossenen Horizonten“, um sie nach Bedarf zu wechseln (GD Streifzüge 49). Luhmann sprach hier von Konditionierungen der Orientierung: „die Wahl der Konditionierungen kann ihrerseits konditioniert und dadurch temporalisiert werden. Wenn das ermöglicht wird, kann das System die Bedin-

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gungen, an denen es sich orientiert, an den Bedingungen orientieren, an denen es sich orientiert, und damit zirkuläre ‚heterarchische‘ Geschlossenheit erreichen.“ (WissG, 405) Limitationen und Deliminationen werden wechselweise aneinander orientiert. Nietzsche sah hier wiederum Souveränität, „eine Lust und Kraft der Selbstbestimmung, einer Freiheit des Willens […], bei der ein Geist jedem Glauben, jedem Wunsch nach Gewissheit den Abschied giebt, geübt, wie er ist, auf leichten Seilen und Möglichkeiten sich halten zu können und selbst an Abgründen noch zu tanzen“ (FW 347). „Tanz“ kann man als Metapher für „zirkuläre ‚heterarchische‘ Geschlossenheit“ lesen.

3.2 Eingrenzungen 3.2.1. Limitation durch Disziplinarität: Wissenschaftliches Wissen, um nun bei ihm zu bleiben, entsteht unter massiven Limitationen der Orientierung. An erster Stelle steht hier die Disziplinierung des Denkens, Sprechens und Kommunizierens zu einer bestimmten ‚Disziplin‘, dem standardisierten Gebrauch von Termini und Zeichen, von Methoden des Wissenserwerbs, der Schematisierung und Klassifizierung des erworbenen Wissens, von Beweisverfahren, Relevanzabwägungen usw. Sie wird dann zum Namen der jeweiligen Wissenschaft oder Disziplin (Philologie, Physik usw.). Für alle wissenschaftlichen Disziplinen gilt, dass „Gelehrte“, wie Nietzsche noch sagte, „Selbstlosigkeit“ lernen, also von ihrer eigenen Person abzusehen (FW 345). Sind sie einmal Spezialisten, werden sie umso überzeugter alles Übrige aus ihrem „Winkel“, in dem sie „sitzen und spinnen“, sehen und beurteilen. Meisterschaft im Fach bezahlt sich leicht dadurch, „das Opfer seines Fachs“ zu werden (FW 366). Luhmann war als Soziologie auch Fachmann für die Sozialisation von Wissenschaftler(inne)n. Auch wenn sie ihn nicht vorrangig interessierte, gab er in Die Wissenschaft der Gesellschaft doch zahlreiche Hinweise dazu; wir erwähnen nur einige. Luhmann ging anders als Nietzsche nicht mehr von einsamen Forschern, sondern, am Ende des 20. Jahrhunderts, von an Universitäten und anderen Einrichtungen organisierter Forschung aus. Hier sorgt vor allem die Mitgliedschaft in Organisationen für die „Disziplinierung“ (WissG, 677). Die Selbstlosigkeit, das Von-sich-absehen-Können, erscheint dort als „Fiktion der Gleichheit der Forscher“ (WissG, 324). So fiktiv die Gleichheit auch sein mag (Kap. XI, 5), sie ermöglicht oder erleichtert im Interesse kollegialer Wissenschaft wechselseitige Kritik, erhöht die Konflikttoleranz (WissG, 242, 365) und lässt ein „positives Interesse an Unwahrheit und die Anrechnung ihrer Entdeckung als Verdienst“ zu (WissG, 622). Geschult wird ferner die Selektions- und Entscheidungsfähigkeit in Gestalt der „Institutionalisierung individueller Freiheit der Themenwahl und der

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Meinungsäußerung“, was zugleich „Entscheidungszentralisierungen“ und „terminierten Entscheidungsdruck“ ausschließt (WissG, 365). Aber auch der disziplinierte Blick des asketischen Idealisten aus seinem Spezialwinkel hat in der organisierten Forschung seine Funktion. Er gewährleistet die Selektion des für die jeweilige Wissenschaft Relevanten, nutzt „das Bewußtsein des Wissenschaftlers im Hinblick auf wissenschaftliche Kommunikation wie eine Zufallssortiermaschine“, die viele Einfälle gar nicht erst voll bewußt werden läßt, sondern schon im Entstehen unterdrückt; andere nicht notiert und wieder vergißt; wieder andere aufgibt, weil eine klare Formulierung mißlingt; und wieder andere zwar notiert, aber nicht kommuniziert, weil ein dafür geeigneter Kontext, zum Beispiel eine Publikation, sich nicht herstellen läßt. (WissG, 570)

Das „kulturelle Milieu“ der Wissenschaftler hielt Luhmann dagegen für nur sehr bedingt wirksam (WissG, 592); er sah es vor allem in den Organisationen der Wissenschaft selbst.²⁸⁸ 3.2.2. Limitation durch Sozialität: Mit ‚Sozialität‘ soll hier die durch die Disziplinierung erreichte „soziale Gemeinschaft der Erkennenden“ gemeint sein (WissG, 126 f.). Wissen kann, wie erläutert, nur in der „Form von Sozialität“ erscheinen (WissG, 143). Das wurde, so Luhmann, im traditionellen „kognitiven Individualismus“, der mit „Seelenvermögen“ arbeitet, unterschätzt (WissG, 180). Nicht jedoch von Nietzsche. Auch dafür zeugt der Aphorismus 354 der Fröhlichen Wissenschaft mit seinen „ausschweifenden Vermuthungen“, „die Feinheit und Stärke des Bewusstseins [stehe] immer im Verhältniss zur Mittheilungs-Fähigkeit eines Menschen (oder Thiers) […], die Mittheilungs-Fähigkeit wiederum im Verhältniss zur Mittheilungs-Bedürftigkeit“, so dass man in äußerster Konsequenz vermuten könne, „Bewusstsein überhaupt [habe] sich nur unter dem Druck des Mittheilungs-Bedürfnisses entwickelt“. Bewusstsein ist, wie Luhmann im 1. Kapitel von Die Wissenschaft der Gesellschaft nochmals ausgeführt hat (Kap. V, 2.1), an Kommunikation gekoppelt, bewusstes Wissen und zumal das von Wissenschaftler

 Eine aktuelle Anmerkung Luhmanns sei hier zitiert: „Diese Art Disziplinierung wird offensichtlich verschärft, wenn Anstellungen nur kurzfristig gesichert sind, sei es aus Rechtsgründen, sei es als Folge der projektförmigen Organisation des Forschungsprozesses.Wie das Kaninchen vor der Schlange erstarrt der Forscher dann nicht selten angesichts des Fristablaufs und konzentriert sich auf die Kontakte, die für eine Fortsetzung der Mitgliedschaft oder für den Zugang zu anderen Anstellungen wichtig sind. Um so wahrscheinlicher ist dann, daß bei gesicherter Mitgliedschaft weitere Aktivität als unnötig erscheint, die Ruder eingezogen werden und man sich nur noch schaukeln läßt.“ (WissG, )

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(inne)n, das durch explizite Kommunikation erworben wird, immer schon ein soziales. Es gehört in der Sprache Nietzsches „nicht eigentlich zur IndividualExistenz des Menschen […], vielmehr zu dem, was an ihm Gemeinschafts- und Heerden-Natur ist“ (FW 354). So individuell es sein mag, ein Individuum kann seine Individualität wieder nur durch soziales Wissen von seiner Sozialität unterscheiden. Es kommuniziert nicht nur, es denkt auch, spricht und weiß in einer „Oberflächen- und Zeichenwelt“, die immer schon „eine verallgemeinerte, eine vergemeinerte Welt“ ist (FW 354). Individuellen und dann auch innovativen Gebrauch können Individuen auch von ihrem wissenschaftlichen Wissen nur in den Spielräumen machen, in denen sie als ‚Wissende‘ die soziale Bedingtheit ihres Wissens reflektieren und von sich aus de- und relimitieren, z. B. als ‚fröhliche Wissenschaft freier Geister‘. Dazu aber verhilft ihnen in Luhmanns Sicht die Wissenschaft selbst mit ihrer eigens eingeräumten und zur Reflexion der eigenen Meinungen herausfordernden Meinungsvielfalt. 3.2.3. Limitation durch Problemdignität: Um die internen Spielräume der Wissenschaft zu nutzen, muss man Probleme stellen. Das scheint selbstverständlich; Nietzsche wie Luhmann haben mit ihrem Mut zur Selbstbezüglichkeit das wissenschaftliche Problem ausdrücklich selbst zum Problem und damit nichtselbstverständlich gemacht. Sie stellten es interessanterweise unterschiedlich. Im Wissenschaftsalltag, um hier anzusetzen, wird laufend darüber entschieden, welche Probleme es wert sind, gestellt zu werden. Die Vorgabe der Wissenschaftsfreiheit ist: grundsätzlich jedes. Da es aber nicht für jedes Zeit und Mittel gibt, müssen die Probleme limitiert und also selektiert werden. Das kann auf vielfältige Weise geschehen, man kann etwa nach dem Nutzen von Wissen in Anwendungen hier, der Innovation seiner Grundlagen dort unterscheiden, nach kürzeren oder längeren Laufzeiten von Forschungsprojekten zu einem Problem, nach deren Bezahlbarkeit, nach der Reputation der Antragsteller usw. Die Kriterien sind also nicht rein wissenschaftlicher Art und darum auch nur begrenzt wissenschaftlich begründbar. Dennoch steuern sie die Wissenschaft. Luhmann stellte das Problem des Problems oder die Frage nach der Funktion von Problemen im Wissenschaftssystem darum im Blick auf das Wissenschaftssystem selbst in Differenz zu seiner Umwelt, also in einer Beobachtung zweiter Ordnung: „Die Unterscheidung Problem/Problemlösung respezifiziert den Code durch die Möglichkeit, die Wahrheitsfrage im (vorläufig) Unentschiedenen zu belassen“ (WissG, 421). Durch Problemstellungen werden Entscheidungen über wahr und falsch aufgeschoben, die Probleme können vorerst Probleme bleiben, das Wissenschaftssystem solange seine Autopoiesis aufrechterhalten, also ungestört weiterarbeiten. Man kann dann auch, so Luhmann weiter, „in Gegenrichtung vorgehen und zu einem bekannten Sachverhalt das Problem suchen, das

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diesen Sachverhalt als Lösung erscheinen läßt und eventuell die Suche nach anderen Problemlösungen stimulieren kann“ (WissG, 421). Das Wahrscheinliche oder Selbstverständliche wird als unwahrscheinlich oder nicht-selbstverständlich gesetzt, es erhält den nietzscheschen Fragezeichen-Charakter. Diese „Gegenrichtung“ – Nietzsche sprach von „Gegenbewegung“ – ist typisch für abstraktere theoretische und zumal systemtheoretische und erst recht philosophische Probleme. Deren Problem ist, dass Problemlösungen hier schwerer absehbar sind, nicht nur darin, wo und wann sie zu finden sind, sondern auch darin, worin sie überhaupt bestehen, und so machen sie eigene, aus ihnen selbst hervorgehende Limitationen und Selektionen nötig: ihre Autonomie wächst. Doch „ein Problem funktioniert nur, wenn es die Zahl möglicher Problemlösungen limitieren kann“ (WissG, 424). Je weniger das gelingt, desto geringer werden die Chancen abstrakterer theoretischer und philosophischer Probleme, durch Wissenschafts- und Wissenschaftsförderungsorganisationen akzeptiert zu werden. Aus der Sicht der Theoretiker und Philosophen werden diese dann selbst zum Problem.²⁸⁹ An dieser Stelle stieg Nietzsche, der den Begriff des Problems Hunderte von Malen (und einmal auch den des „Problemchens“²⁹⁰) gebrauchte, in das Problem des Problems ein, indem er fragte: Wer entscheidet über Probleme, wenn sie grundlegenden Charakter annehmen? Wer ist würdig, darüber zu entscheiden? Wer hat welches Recht,welche Probleme zu stellen? Und was sind Probleme,wenn sie jedermann stellen kann? Er brüskierte dabei bewusst die disziplinierte Sprache der Wissenschaft: Der Mangel an Person rächt sich überall; eine geschwächte, dünne, ausgelöschte, sich selbst leugnende und verleugnende Persönlichkeit taugt zu keinem guten Dinge mehr, – sie taugt am wenigsten zur Philosophie. Die „Selbstlosigkeit“ hat keinen Werth im Himmel und auf Erden; die grossen Probleme verlangen alle die grosse Liebe, und dieser sind nur die starken, runden, sicheren Geister fähig, die fest auf sich selber sitzen. Es macht den erheblichsten Unterschied, ob ein Denker zu seinen Problemen persönlich steht, so dass er in ihnen sein Schicksal, seine Noth und auch sein bestes Glück hat, oder aber „unpersönlich“: nämlich sie nur mit den Fühlhörnern des kalten neugierigen Gedankens anzutasten und zu fassen versteht. Im letzteren Falle kommt Nichts dabei heraus, so viel lässt sich versprechen: denn die grossen Probleme, gesetzt selbst, dass sie sich fassen lassen, lassen sich von Fröschen und Schwächlingen nicht halten, das ist ihr Geschmack seit Ewigkeit, – ein Geschmack übrigens, den sie mit allen wackern Weiblein theilen. (FW 345)

 Nietzsche wie Luhmann hatten mit Wissenschafts- und Wissenschaftsförderungsorganisationen, wiewohl sie durchaus in ihren Genuss kamen, ihre ganz persönlichen und ganz unterschiedlichen Erfahrungen gemacht. Man denke an die Basler Pension für den im Alter von  Jahren ausscheidenden Professor für klassische Philologie und an Luhmanns Schilderung seiner Involvierung in die Bielefelder Universität im Vorwort zu GG.  NL , [], KSA ..

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„Grosse Probleme“ sind, wie oft das ‚Grosse‘ bei Nietzsche, selbstbezügliche Probleme:²⁹¹ Sie stellen zugleich mit dem Problem das Problem der Dignität, es zu stellen – oder nicht. Die Dignität liegt dann nicht mehr in standardisierten Kriterien von Wissenschafts- und Wissenschaftsförderungsorganisationen, sondern in der Orientierungs-, Urteils- und Entscheidungsfähigkeit oder „Persönlichkeit“ von Personen, die Probleme stellen. Sie gewinnen Persönlichkeit (wiederum selbstbezüglich) gerade dadurch, dass sie sich solchen Problemen stellen oder, wie Nietzsche es an sich und anderen beobachtete, dass Probleme sich ihnen stellen, dass sie sich ihnen nicht entziehen können. Das nannte er die (erneut selbstbezügliche) „grosse Liebe“, die Distanzlosigkeit über die wissenschaftliche Distanz zu wissenschaftlichen Problemen, den „Fühlhörnern des kalten neugierigen Gedankens“, hinaus. Damit wird das Problem der wissenschaftlichen und philosophischen Problemstellung radikal delimitiert – um es persönlicher Relimitierung zugänglich zu machen. Nietzsche hat so im Rückblick seine Erstschrift Die Geburt der Tragödie gesehen, in der er „das Problem der Wissenschaft selbst“ gestellt, „Wissenschaft zum ersten Male als problematisch, als fragwürdig gefasst“ habe, von der Kunst aus, „denn das Problem der Wissenschaft kann nicht auf dem Boden der Wissenschaft erkannt werden“ (GT Versuch 2). Zugleich verband er das Problem der Wissenschaft mit dem „Problem der Rangordnung“, das „freien Geistern“ wie ihm zur „Aufgabe“ werde, sich ihnen aufnötige (MA I Vorrede 7; Kap. XI, 3). Probleme höchsten Ranges könnten nur von ‚Wissenden‘ höchsten Ranges gestellt werden. Luhmann vermied solche Begriffe. Doch er führte das Problem der Rangordnung in der Wissenschaft als Problem der Orientierung an der Reputation der Wissenschaftler(innen) wieder ein: Man brauche diesen „Nebencode des Wahrheitsmediums und damit des Wissenschaftssystems“ (WissG, 247), um Problemstellungen und Problemwürdigungen leichter limitieren zu können (Kap. XI, 5). Nietzsches Hauptsache wird für Luhmann zur Nebensache, aber sie verschwindet nicht. 3.2.4. Limitation durch Autorität: Problemdignität, Rang und Reputation von Wissenschaftler(inne)n sind nicht nur wissensschaftsinterne Probleme; sie entscheiden mit über die Autorität der einzelnen Wissenschaftsdisziplinen und der Wissenschaft im Ganzen beim „Volk“ (FW 351), wie Nietzsche noch schrieb, oder beim „allgemeinen Publikum“ (WissG, 623), wie es bei Luhmann dann hieß. Sofern diese Autorität Existenzbedingung der Wissenschaft als vom Volk bzw. dem Publikum über Steuern finanzierte Organisation ist, wirkt sie ebenfalls limitierend.

 Zum Näheren, auch der kontextuellen Interpretation von FW , vgl. Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie,  – .

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„Wer Wissen hat“, so Luhmann, „hat Autorität. Er kann die anderen belehren.“ In vormodernen Gesellschaften schrieb man dem „Weisen“, der „alles Wissen und Nichtwissen wissen muß“, ein „Oberwissen“ zu (WissG, 149). Er stand an der Spitze einer Wissenshierarchie, in der die Autorität „auch politisch, auch erzieherisch nutzbar war; und davon kann heute immer weniger die Rede sein“ (WissG, 633). Nietzsche orientierte sich denn auch weniger an den alten Weisen als an Religionsstiftern, die sich weit mehr Autorität beim Volk zu schaffen wussten, indem sie glaubten oder doch das Volk glauben machen konnten, sich Gott zu opfern: „Das Volk empfindet solche geopferte stillgewordne ernste Menschen des ‚Glaubens‘ als weise, das heisst als Wissend-Gewordene, als ‚Sichere‘ im Verhältniss zur eigenen Unsicherheit“ (FW 351). In modernen Gesellschaften, so Nietzsche wie Luhmann, ist die Autorität des Wissens an die Wissenschaften übergegangen. Wissenschaftler(innen) können dennoch weiterhin die Opferpose pflegen, indem sie trotz anderer Karrieremöglichkeiten ihrer Wissenschaft ‚ihr Leben opfern‘; in ihrem eigenen „Glauben an die Wissenschaft, der nun einmal unbestreitbar da ist“, sind auch sie, sind auch wir „noch fromm“ (FW 344; Einl., 1.1). Doch die Wissenschaft bedient, nachdem sie zur Organisation geworden ist, auch ganz andere Bedürfnisse, die Wissenschaftler(innen) eher nicht sehen oder sehen wollen. Nietzsche fokussierte sie in Zur Genealogie der Moral im von Luhmann besonders bevorzugten Duktus („Ich sehe, was Du nicht siehst“, IsDns): „dass ich ihnen verrathe, was sie selbst nicht sehen können – denn sie stehen sich zu nahe“ (GM III 24). Danach könnte die Wissenschaft ein „Mittel der Selbst-Betäubung“, ein Beruhigungsmittel für „Leidende“ sein: „Die Tüchtigkeit unsrer besten Gelehrten, ihr besinnungsloser Fleiss, ihr Tag und Nacht rauchender Kopf, ihre Handwerks-Meisterschaft selbst – wie oft hat das Alles seinen eigentlichen Sinn darin, sich selbst irgend Etwas nicht mehr sichtbar werden zu lassen!“ (GM III 23) Ihre Wissenschaft wird dann selbst zur fraglosen Autorität für die Wissenschaftler(innen). Das muss die wissenschaftlichen Ergebnisse nicht beeinträchtigen und kann die Autorität der (jeweiligen) Wissenschaft beim Volk noch steigern, aber auch in Frage stellen. Denn Wissenschaftler(innen) opfern sich dann weniger der Wissenschaft und ihrem Anspruch auf Wahrheit als ihren eigenen und nicht mehr selbstlosen Bedürfnissen: „jener unbedingte Wille zur Wahrheit, das ist der Glaube an das asketische Ideal selbst, wenn auch als sein unbewusster Imperativ“. Und eben darum stellt sich das „neue Problem: das vom Werthe der Wahrheit“, das bisher „gar nicht Problem sein durfte“ (GM III 24). An dieser Stelle stieg nun Luhmann in das Problem der Autorität der Wissenschaft ein. Er konstatierte einen „Autoritätsverlust, ja […] Autoritätsverzicht der Wissenschaft“ (WissG, 627) und begründete ihn mit dem Übergang in eben die funktional differenzierte Gesellschaft, der sie ihre Autonomisierung verdankte.

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Die funktional differenzierte Gesellschaft, so Luhmann, „löst alle Autorität auf und läßt nur noch Zuständigkeit für den je eigenen Code zurück. Immer noch sieht sich die Wissenschaft zwar mit der Erwartung konfrontiert, sie könne sicheres Wissen liefern, und als Modell dafür dient die funktionierende Technik.“ (WissG, 631) Doch sie weiß nun auch, dass sie nicht ein Wissen wie das der alten Weisen anbieten und sich auch nicht mehr „als Vertreterin des Fortschritts präsentieren“ kann: „Sie kann nicht im Namen des Richtigen und Vernünftigen verlangen, daß ihr Wissen übernommen und angewandt wird. Und sie hält trotzdem ihr Funktionsmonopol.“ (WissG, 634) Wenn von der Wissenschaft Autorität im Sinne fragloser Orientierung erwartet wird, muss sie passen. Und dennoch muss sie, um ihres sozialen Fortbestands willen, alles dafür tun, den Glauben an ihre Autorität aufrechtzuerhalten. 3.2.5. Limitation durch Publizität: Das geht nur über Publizität, im großen Stil also über Schriften und Massenmedien. Sie verbreiten Wissen an ein weites, aber anonymes, einerseits wissenschaftsinternes, andererseits wissenschaftsexternes Publikum und limitieren es zugleich durch die Publikationsbedingungen. Erst in der Form von Publikationen erreicht die moderne Wissenschaft autopoietische Anschlußfähigkeit. Publikationen sind gleichsam das Zahlungsmittel der Wissenschaft, das operative Medium ihrer Autopoiesis. Publikationsmöglichkeit ist eine der wichtigsten und einschneidendsten Beschränkungen dessen, was erfolgreich mitgeteilt und dadurch wissenschaftlich Existenz gewinnen kann. (WissG, 432)

Wir brauchen nicht auszuführen, wie (zusätzlich zu den Problemstellungen) die Publikationsmöglichkeiten wissenschaftsintern limitiert und selektiert werden, so dass schon im Blick auf bestimmte Gutachter(innen), Zeitschriften und Buchverlage und deren Verantwortliche geschrieben und geforscht wird. Luhmann hat vor allem darauf fokussiert, stets die Bedeutung der Medien Schrift und Buchdruck hervorgehoben und mit der Unterscheidung von „methodisch kontrollierter Herstellung“ und „Darstellung des Wissens“ operiert. Die Darstellung gibt nicht einfach die Herstellung wieder, sondern selektiert sie ihrerseits: Die Darstellung (im Unterschied zur Herstellung) bemüht sich vor allem um Sicherheit der Resultate, was punktuell konzedierte Unsicherheit einschließt, ja oft ratsam erscheinen läßt; ferner um Antezipation von Kritik und Glätten ihrer Angriffspunkte, wobei blamable und nichtblamable Kritik unterschieden werden müssen; und nicht zuletzt: um Überzeichnung von Kohärenz. (WissG, 433 f.)

Sie muss, um sich im Wissenschaftssystem zu behaupten, an möglichst reputierte Forschungsergebnisse anschließen und zugleich deutlich machen, dass sie über sie hinausgeht; „theoretische und methodologische Aspekte werden so zugespitzt,

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daß dies immer möglich bleibt und mit dem Erwerb von Verdiensten im System kompatibel ist“ (WissG, 434). Dabei kann die wissenschaftliche Darstellung damit rechnen, dass – wissenschaftsintern – „sehr enge Schranken der Verständlichkeit“ akzeptiert werden. Auch dies, eine „verdachtfreie Toleranz für eine dem allgemeinen Publikum unverständliche Sprache“ (WissG, 623), hat erst die Ausdifferenzierung der Wissenschaft zu einem autonomen Funktionssystem ermöglicht. So aber wird „eine drastische Reduktion von verstehensfähigen Adressaten unvermeidlich“ (WissG, 624): Die Wissenschaftssprache als solche selektiert die mögliche Leserschaft. Für „Popularisierung, didaktische Aufbereitung, lexikalische Präsentation“ habe, so Luhmann, „eine andere Sorte von Literatur“ zu sorgen, für die er sich nicht weiter interessierte (WissG, 624). Nietzsche dagegen, nachdem er schon mit seiner Erstschrift fachlich nicht durchgedrungen und auf sie hin von einem reputierten und auch von ihm selbst „sehr geachteten“ philologischen Fachkollegen für „wissenschaftlich todt“ erklärt worden war²⁹² und auch seine weiteren philosophischen Schriften meist auf Abwehr, Ratlosigkeit, Kopfschütteln, vor allem aber Schweigen der dortigen Fachkollegen gestoßen waren,²⁹³ wandte sich immer mehr an das Volk oder das allgemeine Publikum, um sich ihm durch „feinere Gesetze [s]eines Stils“ zugleich verständlich und unverständlich zu machen (FW 381; Kap. VI, 3.1), sein Publikum also seinerseits durch seine Darstellung zu selektieren. Er kehrte auch diese Limitation um. Da er sich selbst so im Bereich der „Litteratur“ bewegte, wie er sie selbstkritisch immer wieder nannte, musste er sich umso mehr von den publizistischen Medien abgrenzen. Während Luhmann ihre Autonomie und Eigenmacht klaglos anerkannte (RdM), griff sie Nietzsche, sonst so frei gesonnen, regelmäßig scharf an.²⁹⁴ Seinem späteren publizistischen Erfolg schadete das keineswegs. Tagesaktuelle Massenmedien müssen schnell vergessen können. Nietzsche ist der für sie interessanteste Philosoph geworden und bis heute geblieben.

3.3 Entgrenzungen 3.3.1. Delimitation durch Verunsicherung: Limitationen schaffen Orientierungssicherheit in begrenzten Spielräumen und machen Wissenschaft als Orientierungsmittel verwendbar. Beide, Nietzsche und Luhmann, haben das gesehen und

 Vgl. den Brief Nietzsches an Erwin Rohde vom . Oktober , Nr. , KSB . f.  Vgl. Reich, Rezensionen und Reaktionen zu Nietzsches Werken  – .  Vgl. Reschke, Der Journalist, die Presse, der informierte Leser.

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anerkannt, aber beide sind auch entschieden darüber hinausgegangen. Denn zum einen sind, so Nietzsche, seit das Dasein im Ganzen erträglicher geworden ist, letzte Sicherheiten weniger oder gar nicht mehr nötig („ein religiöser Nachtrieb, nichts Besseres“; MA II, WS 16), und zum andern werden vermeintliche Sicherheiten in einer unabsehbar evoluierenden Gesellschaft gefährlich. Darum werde es jetzt Zeit, solche Sicherheiten gerade zu verunsichern. Auch bei Philosophen sei das „Frohlocken des Erkennenden“ bisher noch „das Frohlocken des wiedererlangten Sicherheitsgefühls“ gewesen, wenn sie „etwas Fremdes […] auf etwas Bekanntes zurückgeführt“ hätten. Es sei also weniger um Erkenntnis als um Beruhigung gegangen, und um der Beruhigung willen, aus einem „Instinkt der Furcht“ heraus, habe man vieles nicht wissen wollen (FW 355). „Wir Furchtlosen“ aber, so hatte Nietzsche das V. Buch der Fröhlichen Wissenschaft überschrieben, könnten dem nun entgegentreten und weil wir es könnten, weil wir das Problem in seiner ganzen Größe sehen und uns ihm stellen können, sollten wir es auch – im Interesse der Wissenschaft selbst und der Gesellschaft, die sie sich leistet. Luhmann ist dem, wie immer nüchtern, gefolgt. Dass auch die Wissenschaft das Beruhigende sucht, formulierte er so: „Die Wissenschaft sucht und produziert das Neue und Überraschende ja nicht um seiner selbst willen, sondern um es zu unterdrücken und in Erwartbares zu transformieren.“ Dass wissenschaftliche Erkenntnis hergestellt, konstruiert wird, verdeckt man dadurch, dass man sie als „Entdeckung“ ausgibt, die „sogleich auf die Welt zugerechnet“ wird; so kann sie zugleich „für alle gültig“, also unstreitig sein (WissG, 218). Tatsächlich schaffe Wissenschaft, eben weil sie nie endgültiges Wissen bietet, Unsicherheit. Sie destruiert zunächst alltagstaugliche „primäre Evidenzen“ (WissG, 328), indem sie Vertrautes unvertraut, Wahrscheinliches unwahrscheinlich macht; man kann, um nur die gängigsten Beispiele zu erwähnen, nach Kopernikus nicht mehr ohne weiteres sagen, die Sonne gehe auf, und seit den Zweifeln auch am Sein des Bewusstseins, nicht mehr ohne weiteres, ‚ich‘ (und nicht das Gehirn) denke. Die Wissenschaft macht darüber hinaus, wie seit Nietzsches Zeiten immer deutlicher wurde, auf unsichtbare Bedrohungen aufmerksam, auf Radioaktivität, auf sagenhafte Ozonlöcher, auf das Unbewußte im Menschen. Sie zerstört den Halt, den man vordem an der Welt zu haben glaubte. Sie reduziert das Normale auf einen extrem unwahrscheinlichen Zufall. Sie relativiert, historisiert, exzeptionalisiert die vertrauten Bedingungen des Menschenlebens, ohne deren Vertrautheit durch ein funktionales Äquivalent ersetzen zu können. Sie verunsichert – ohne daß man andere Möglichkeiten wirklich zur Kenntnis nehmen oder gar daraus Schlüsse ziehen könnte. (WissG, 654)

Als autonom gewordene Wissenschaft, die sich nicht mehr als Teil des alten ‚Kosmos‘, der schönen Ordnung der Welt, weiß und auch nicht mehr an externe

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Ziele gebunden ist, kommt sie in sich nicht zur Ruhe und darf, als autopoietische, auch nicht zur Ruhe kommen, sondern kann sich nur noch „als sich selbst fortsetzende Unruhe“ begreifen. So wird sie „zu dem Mittel, durch das die Gesellschaft die Welt unkontrollierbar macht“ (WissG, 371). Ihr verunsichernder Charakter liegt schon in der Beobachtung selbst, sofern ihre Unterscheidungen zum Designationswert stets auch einen Reflexionswert anbieten. So ist der Beobachter „konstitutiv unsicher, da er zwischen eigenen und fremden, selbstreferentiellen und fremdreferentiellen Quellen der Unsicherheit nicht (oder nur unter Implikation der jeweils anderen Seite) unterscheiden kann“. Zwar kann man durch Abblendung der Reflexionswerte, als Limitation der Beobachtung, „relativ sichere Urteile“ bilden, aber eben nur relativ sichere, die aus gegebenem Anlass jederzeit wieder delimitiert werden können. Die Wissenschaft erbringt darum nicht „die Beseitigung der Unsicherheit“, sondern die „Strukturierung von Unsicherheit“ (WissG, 520 f.), das pascalsche travailler pour l‘incertain (Kap. I, 3). Das Vertrauen in die Technik, die die Wissenschaft ermöglicht, ändert daran grundsätzlich nichts. Dass Technik funktioniert, heißt noch nicht, dass man mit ihrer Konstruktion die wahre Natur erfasst hat. „Schließlich kann kein erkenntnistheoretisches Argument ausschließen, daß eine Technologie auf Grund einer falschen Theorie konstruiert wird und trotzdem funktioniert.“ (WissG, 262) Ferner hat das in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgekommene Problem der ‚TechnikFolgen‘ das Vertrauen in die Technik im Ganzen geschwächt und fragwürdig gemacht. Auch funktionierende Technik ist nur ein Anhaltspunkt der Orientierung in einer unbekannten und ungewissen Realität: „Daß es funktioniert, wenn es funktioniert, ist auch hier der einzige Anhaltspunkt dafür, daß die Realität so etwas toleriert.“ (WissG, 263) 3.3.2. Verunsicherung durch Paradoxierung: Was die Orientierungssicherheit betrifft, hat man es also mit einer „Paradoxie von Dominanz und Irrelevanz der Wissenschaft“ zu tun (WissG, 654) – sie schafft und zerstört sie zu gleicher Zeit und aus den gleichen Gründen. Auch Wissenschaftstheorie macht, als Teil der Wissenschaft, diese nicht sicherer: In seinen Reflexionstheorien reflektiert das Wissenschaftssystem nicht die Sicherheit, sondern die Unsicherheit der Erkenntnis; und deshalb gibt es hier auch keine „Prinzipien“ oder „Grundlagen“ zu entdecken, sondern nur weitere Unterscheidungen. Der Konstruktivismus ist die Formel für genau diesen Sachverhalt. (WissG, 700)

Die Wissenschaft paradoxiert sich durch ihren Konstruktivismus selbst (Kap. I-III), und Luhmann entparadoxierte wiederum diese Paradoxie mit Hilfe des Begriffs des Risikos: „Mit diesem Wissen [der Paradoxie] geht es nicht, ohne Wissen geht es

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VII Nietzsches und Luhmanns Ein- und Entgrenzung des Wissens

aber auch nicht. In die gesamtgesellschaftliche Reflexion kann diese Paradoxie nur mit dem Begriff des Risikos überführt werden. Sie erscheint dann als das Risiko, sich an Wahrheiten zu orientieren“ (WissG, 687). Wahrheiten aber, an denen man sich unter Risiko orientiert, sind keine Wahrheiten im klassischen Sinn, auf die man sich überall und dauerhaft verlassen kann, also ihrerseits paradoxe Wahrheiten. „Die Paradoxiereflexion verzichtet [damit] auf alle Normierungs- und Garantiefunktionen […]. Sie spezialisiert sich auf eine Verunsicherung des Systems.“ (WissG, 538) Eben dadurch kann sie die Orientierung für ihre weiteren Evolutionen offenhalten. Luhmann war sich im Klaren darüber, dass sich das Konzept der Verunsicherung durch Paradoxierung „gegenwärtig nicht als schon wirksam bezeichnen“ kann: „Es greift seiner eigenen Realisierung voraus.“ (WissG, 540) Nietzsche, der, ohne dass wir das jetzt noch ausführen müssten, das Konzept der Verunsicherung durch Paradoxierung vorbereitete, erwartete, „posthum geboren“ zu werden (AC Vorwort). Denn die Verstehensbedingungen für ein solches Konzept müssten erst noch wachsen. Luhmann verfügte inzwischen über sie.

VIII Bindungen der Orientierung: Nietzsches und Luhmanns Begrenzung der Moral und Befreiung der Ethik 1 Evolution der Moral Nietzsche hat in Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile von 1881 eine Strategie in Sachen Moral und Ethik formuliert, der auch Luhmann zu guten Teilen folgen sollte. Er begann hier, noch ohne „den geringsten Pulvergeruch“ und „mit einer scheuen Vorsicht vor Allem, was bisher unter dem Namen Moral zu Ehren und selbst zur Anbetung gekommen ist“, seinen „Feldzug gegen die Moral“ (EH M 1). Dabei stellte er die Moral nicht nur unter den Gesichtspunkt des Nutzens für die Gesellschaft, der immer betont wurde, sondern erwog auch ihre Kosten, rief Gegenmächte gegen ihren Alleinherrschaftsanspruch auf und setzte sie damit gezielt der Selektion und Evolution aus: Vielleicht verfrüht. – Gegenwärtig scheint es so, dass unter allerhand falschen irreführenden Namen und zumeist in grosser Unklarheit von Seiten Derer, welche sich nicht an die bestehenden Sitten und Gesetze gebunden halten, die ersten Versuche gemacht werden, sich zu organisiren und damit sich ein Recht zu schaffen: während sie bisher, als Verbrecher, Freidenker, Unsittliche, Bösewichte verschrieen, unter dem Banne der Vogelfreiheit und des schlechten Gewissens, verderbt und verderbend, lebten. Diess sollte man im Ganzen und Grossen billig und gut finden, wenn es auch das kommende Jahrhundert zu einem gefährlichen macht und jedem das Gewehr um die Schulter hängt: schon damit eine Gegenmacht da ist, die immer daran erinnert, dass es keine allein-moralisch-machende Moral giebt und dass jede ausschliesslich sich selber bejahende Sittlichkeit zu viel gute Kraft tödtet und der Menschheit zu theuer zu stehen kommt. Die Abweichenden, welche so häufig die Erfinderischen und Fruchtbaren sind, sollen nicht mehr geopfert werden; es soll nicht einmal mehr für schändlich gelten, von der Moral abzuweichen, in Thaten und Gedanken; es sollen zahlreiche neue Versuche des Lebens und der Gemeinschaft gemacht werden; es soll eine ungeheuere Last von schlechtem Gewissen aus der Welt geschafft werden, – diese allgemeinsten Ziele sollten von allen Redlichen und Wahrheitsuchenden anerkannt und gefördert werden! (M 164)

Nietzsche stellte auch in Sachen Moral von Anfang an, wie dann auch Luhmann, von Begründung auf Beschreibung und von Einheit auf Differenz um und ging von einer Vielheit von „Moralen“ aus – der Plural ist in seinem Werk von M 9 an über 70 mal belegt und vergleichbar häufig in Luhmanns Schriften. Nietzsche begann mit der Beobachtung von moralisch diskriminierten, „verschrieenen“ Außenseitern in der Gesellschaft, die sich auch selbst noch außerhalb von Recht und Moral sahen („unter dem Banne der Vogelfreiheit und des schlechten Gewissens“) und sich im

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VIII Bindungen der Orientierung

Sinn der aristotelischen Ethik für unnatürlich („verderbt und verderbend“) hielten.²⁹⁵ Sie zu entdiskriminieren, ihnen zuzugestehen, sich als ebenso natürlich und achtungswürdig anzusehen, hieß mit dem Dogma der Natürlichkeit der einen Moral zu brechen und damit einen Wettbewerb von Moralen auszulösen, in dem sie einander stärken oder schwächen können. Nietzsche empfahl das seinerseits moralisch („Diess sollte man im Ganzen und Grossen billig und gut finden“), nahm also seinerseits die Moral in Anspruch, die er angriff, und riskierte so eine Paradoxie: Die herrschende Moral soll, was sie für schlecht oder böse hält, zugleich für gut halten. Nietzsche konnte nur so verfahren: Wer sich schlicht gegen die herrschende Moral stellt, wird als unmoralisch aus dem Moraldiskurs der betreffenden Gesellschaft ausgeschlossen und gar nicht mehr angehört; „{eine Moral mit […] umgekehrten Absichten}“, notierte er sich später, kann „nur in Anknüpfung an das beherrschende Sittengesetz u. unter dessen Worten u. Prunkmantel {Anschein} {gelehrt […] u angepflanzt werden […] sich einführen […]}“.²⁹⁶ Im zitierten Aphorismus wies er umso mehr warnend auf die Gefahr einer „allein-moralischmachenden Moral“ hin, die nicht nur wie in früheren Jahrhunderten die alleinselig-machende Religion zu schweren Glaubenskriegen führen, sondern auch die jeweiligen Denk- und Handlungsmöglichkeiten der Menschen in ihren Gesellschaften massiv einschränken und so die Entwicklung der Menschheit im Ganzen schwer behindern könnte. Das war sein Gesichtspunkt auf die Moral und die Moralen, und Luhmann nahm ihn ein Jahrhundert später wieder auf. Beide setzten auf einen Wettbewerb auch von Moralen, in dem sich deren Geltungs- und Herrschaftsansprüche aneinander aufreiben und in „zahlreichen neuen Versuchen des Lebens und der Gemeinschaft“ eine höhere Moral ausbilden würden,

 Schmidt, Kommentar zu Nietzsches Morgenröthe,  f., identifiziert die „Abweichenden“ geradewegs mit dem „‚Internationalen Freidenker-Verband‘“ und der Anarchisten-Bewegung, die sich damals regelrecht organisiert hätten, mit der Begründung, dass Nietzsche das Freidenkertum ohnehin und insbesondere Bakunins Anarchismus über Wagner vertraut gewesen seien. Beides ist sicher nicht auszuschließen, und zumal der Hinweis auf die Gewehre scheint auf die Anarchisten zu zielen. Die Formeln „schlechten Gewissens, verderbt und verderbend“ lassen beide Identifikationen jedoch als zu eng erscheinen. ‚Verderbt und verderbend‘ hieß bei Aristoteles noch ‚unnatürlich‘, und Aristoteles pochte darauf, das Natürliche in seinem natürlichen, nicht in seinem verderbten Zustand zu untersuchen (Pol. a f.). Danach ruft Nietzsche hier dazu auf, sich von alten Natürlichkeitsvorstellungen in der Ethik zu lösen.Vgl. Luhmann, GG, . Luhmann gebrauchte ebenfalls die Formel „der Abweichende“ in der Erörterung der Normen in soziologischer Perspektive (NsP/MorG, ).  NL , [], KSA ./KGW IX/, N VII , ; vgl. NL , [], KSA ./KGW IX/, W I , /.

1 Evolution der Moral

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eine Moral im Umgang der Moralen miteinander. Die Botschaft ist heute aktueller denn je. Nietzsche wie Luhmann war dabei klar, dass eine Gesellschaft nicht ohne Moral lebensfähig ist und dass ein Wettbewerb unter Moralen nicht von einem theoretischen Standpunkt aus verordnet werden kann. Denn es gibt in Sachen Moral keinen über alle Moralen erhobenen theoretischen Standpunkt: Auch Philosophen und Soziologen sind mit der Moral einer Gesellschaft aufgewachsen und in sie eingebunden und brauchen besondere Bedingungen, um auch nur in „Gedanken“ von ihr abzuweichen, stets mit der Gefahr, als „Abweichende“, mögen sie auch „die Erfinderischen und Fruchtbaren“ sein, „geopfert“ zu werden. Sie müssen sich dann auf anderen Gebieten ihres Denkens schon als „Redliche und Wahrheitssuchende“ einen Vertrauensvorschuss erworben haben, damit ihre Gedanken zur Moral Gehör finden. Das galt für Nietzsche wie für Luhmann. Doch das Problem, das Nietzsche „vielleicht verfrüht“ stellte, war für Luhmann noch dringender geworden. Wo Nietzsche im II. Deutschen Kaiserreich noch vom moralischen „Sich-gleich-geben, Sich-einordnen, Sich-verringern“ sprach (M 26), sah sich Luhmann in der Bundesrepublik Deutschland in einer „Moralgesellschaft des ethischen Sozialismus“ (PDM, 176). Der Anspruch einer „allein-moralischmachenden Moral“, die Gesellschaft im Ganzen integrieren zu wollen, trat nun noch entschiedener und kämpferischer auf. Nietzsche und Luhmann sahen sich in ihrer philosophisch-soziologischen Gegenbewegung weitgehend allein. Nietzsche hatte in Jacob Burckhardt wenigstens einen zu finden gehofft, der seine „Voraussetzungen“ teilte. Er hatte ihm, als ihn das Problem der Moral am stärksten bedrängte, geschrieben, die „unheimlichen Bedingungen für jedes Wachsthum der Cultur“ lägen in „jenem äußerst bedenklichen Verhältniß zwischen dem, was ‚Verbesserung‘ des Menschen (oder geradezu ‚Vermenschlichung‘) genannt wird, und der Vergrößerung des Typus Mensch“, zunächst aber und vor allem im „Widerspruch jedes Moralbegriffs mit jedem wissenschaftlichen Begriff des Lebens“. Die Gefahr, hier aufzuklären, sah er mehr noch als für die Aufklärenden, darunter ihn selbst, für die Aufzuklärenden: Das Problem der Moral „aussprechen ist vielleicht das gefährlichste Wagniß, das es giebt, nicht in Hinsicht auf den, der es wagt, sondern in Hinsicht auf die, zu denen er davon redet“.²⁹⁷ Tiefe moralische Verwerfungen mussten schwere Krisen bei denen auslösen, die der herrschenden Moral vertrauten und ihr folgten. Auch Luhmann sah das Risiko und ging es, da es im Zug der funktionalen Umstrukturierung der Gesellschaft für ihn nicht mehr abzuweisen war, erneut ein. Er stieß dabei von Anfang an auf entschlossene und einflussreiche Gegner wie Jürgen Habermas, die den Geltungs- und Integrati-

 Brief an Jacob Burckhardt, . September , Nr. , KSB . f.

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VIII Bindungen der Orientierung

onsanspruch ihrer Moral (oder ihrer Moral der Moralen) zu verteidigen, zu erweitern und zu verfeinern wussten. Hier verlor dann auch Luhmann zuweilen seine kühle Ironie und konnte bissig polemisch werden. Nietzsche und Luhmann standen in Sachen Moral und Ethik einander so nahe, dass es sich wiederum anbietet, ihr Denken darüber Schritt für Schritt aneinander zu spiegeln. Was die Quellen zu Nietzsches Auseinandersetzung mit der Moral betrifft, so ist hier nahezu sein ganzes veröffentlichtes oder zur Veröffentlichung bestimmtes Werk einschlägig.Weil er in vielem das Publikum schonen wollte, sind hier auch die Notate von besonderer Bedeutung, die er für sich selbst anfertigte und in denen er sich oft deutlicher als in den literarisch ausformulierten Werken die Unterscheidungen zurechtlegte, durch die er die anstehenden Probleme sichtbar machen wollte. Dennoch handelt es sich dabei nicht schon um seine wahren Meinungen, sondern lediglich um Versuche mit Unterscheidungen, und eben sie sind mit Luhmanns Versuchen vergleichbar. Besonders intensive Auseinandersetzungen mit Unterscheidungen zur Moral finden sich in den Notizheften von 1885 bis 1887, die um Jenseits von Gut und Böse und Zur Genealogie der Moral kreisen. Nietzsches „Hauptgesichtspunkt“ ist dort: „Distanzen aufreißen, aber keine Gegensätze schaffen“,²⁹⁸ also, mit Luhmanns Begriff, „Unterscheidungstechnik“ (GG, 589 f. u. ö.). Sie ist auch dessen methodischer Fokus. Seine verstreuten Texte zur Moral der Gesellschaft hat Detlef Horster in dem gleichnamigen 2008 herausgegebenen Band versammelt. Wir setzen mit den Nöten ein, aus denen nach Nietzsche und Luhmann die Moral entspringt, die dann gleichwohl ihre unbedingte Notwendigkeit behauptet und damit in eine Paradoxie gerät (2), und verfolgen demgegenüber Nietzsches und Luhmanns Kontingentsetzung der Moral (3), nach der ihr die Funktion zufällt, Personen zu Funktionen der Gesellschaft zu machen (4). So werden neben dem Nutzen der Moral auch ihre Gefahren denkbar (5), und die Wertesemantik wird als Entparadoxierung der Paradoxie der Moral erkennbar (6). Diese wiederum setzt eine höhere Moral der Immoralität und eine Ethik der Distanzierung frei (7).

2 Die Not, die Notwendigkeit und die Paradoxie der Moral Auch Moral besteht nicht um ihrer selbst willen. Auch sie hilft Nöten ab und ist damit deren Funktion. Im Fall der Moral handelt es sich um sehr konkrete Nöte. In der Bibel sind das noch die Nöte von Witwen, Waisen, Fremden, Kranken, Verschuldeten und anderweitig in lebensbedrohliche Gefahren Geratenen. In mo-

 NL , [], KSA ./KGW IX/, W II , .

2 Die Not, die Notwendigkeit und die Paradoxie der Moral

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dernen Gesellschaften wurde die Hilfe für sie weitgehend institutionalisiert und professionalisiert, rückte so den jeweils Nächsten fern und wurde zur generellen normativen Erwartung. Normen, auf deren Erfüllung man nun einen oft auch rechtlich begründeten Anspruch hat, sind nach Luhmann „kontrafaktisch stabilisierte Erwartungen“ (NsP/MorG, 39): Sie bleiben bestehen, auch wenn sie „durch faktisches Verhalten […] enttäuscht werden“ (GuN/MorG, 231). An moralischen Normen orientiert, braucht man aus neuen Situationen nicht zu lernen, sondern kann an seinen Erwartungen festhalten und abweichendes Verhalten nach ihnen moralisch verurteilen.²⁹⁹ Man fordert gegen das ‚Sein‘ ein ‚Sollen‘ ein. Werden Normen allgemein plausibel und selbstverständlich, gehen sie in die Moral der jeweiligen Gruppe oder Gesellschaft ein, wirken integrierend und egalisierend und werden dadurch weiter bestärkt.Werden sie weitgehend befolgt und helfen so den Nöten ab, die zu ihnen veranlasst haben, werden die Nöte allmählich vergessen. Sie lassen sich dann erst wieder in einer Heuristik der Not ermitteln oder erraten, der Nietzsche und Luhmann je auf ihre Weise folgten. Je stärker sich eine Moral durchsetzt, je selbstverständlicher sie wird, desto mehr wird sie zum Problem, desto weniger aber stellt sie sich als Problem (Kap. VII, 3.2.3): Sie wird dann zur ‚herrschenden Moral‘ auch im philosophischen und soziologischen Denken bis dahin, dass sie mit entsprechendem begrifflichem Aufwand für unbedingt und logisch notwendig erklärt wird. Dennoch ist man sich über das ‚Wesen‘ der Moral nie einig geworden, und je mehr man sich bemühte, dieses Wesen zu begründen, desto stärker wurden die Streitigkeiten. „Im Falle von Ungewißheit, Uneinigkeit und Streit“ aber wirkt Moral, auch im Alltag, nicht mehr integrierend. Sie verstärkt dann vielmehr den Streit, wirkt, so Luhmann, „polemogen“ (ÖK, 260) und damit gegen ihre Intention zur Integration. Als kontrafaktische wird sie kontraproduktiv. Nietzsche und Luhmann haben auf den moralischen und moralphilosophischen Streit weder mit moralischer Beschwichtigung noch mit moralischer Empörung, sondern mit Unterscheidungstechnik reagiert. Nietzsche entkräftete die Rede vom Sollen durch eine „Geschichte der moralischen Empfindungen“ (MA I, 2. Hauptstück) oder

 Luhmann nahm hier eine Unterscheidung von Johan Galtung auf (NsP/MorG, ). Forschner, Art. Norm, definiert im Lexikon der Ethik Normen klassisch „im rechtlichen oder moralischen Sinn als generellen Imperativ, der rechtliches u. sittl. Handeln orientiert“. Sie können freilich, wie Forschner einräumt, durch „Situationen“ „bedingt“ oder „unbedingt“ und begründet oder unbegründet sein. Luhmann wollte sie nicht philosophisch in ihrer „Geltung“ begründen, sondern soziologisch als soziale „Tatsachen besonderer Art“ (MorG, ) beschreiben. Zur für ihn unbefriedigenden Auseinandersetzung mit seiner Bestimmung und Gewichtung des Normbegriffs vor allem im Blick auf das Recht vgl. seine Antworten auf die Beiträge in Krawietz/Welker (Hg.), Kritik der Theorie sozialer Systeme,  – ,  – .

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VIII Bindungen der Orientierung

„Naturgeschichte der Moral“ (JGB, 5. Hauptstück). Sie sollte zeigen, dass mit ihm das „ganze menschliche Leben […] tief in die Unwahrheit eingesenkt“ ist (MA I 34). Je mehr man sich „die Begründung“ und nicht die „Beschreibung“ der Moral und mit ihr auch nicht die „Vergleichung vieler Moralen“ zur „Aufgabe“ machte (JGB 186), desto weniger wurde die Unterscheidung von gut und böse selbst in Frage gestellt, wiewohl sie nach der biblischen Erzählung vom Sündenfall für Menschen teuflisch war: „Es ist bisher am schlechtesten über Gut und Böse nachgedacht worden: es war dies immer eine zu gefährliche Sache.“ (M Vorrede 3) Man wagte kaum, die Unterscheidung auf sich selbst anzuwenden, das Problem „unter welchen Bedingungen erfand sich der Mensch jene Werthurtheile gut und böse? und welchen Werth haben sie selbst?“ kam nicht auf (GM Vorrede 3), solange die Unterscheidung von Gut und Böse und mit ihr die Moral überhaupt selbst als gut galt. Luhmann formulierte das explizit unterscheidungstechnisch: „Der Positivwert des Codes wird draufgedoppelt und zugleich benutzt, um zu begründen, daß es gut sei, zwischen gut und schlecht oder zwischen gut und böse zu unterscheiden.“ (GG, 1040) Im ebenso möglichen negativen Selbstbezug der Unterscheidung von Gut und Böse wird die Moral jedoch paradox, sie könnte ebenso schlecht, böse sein oder sich doch so auswirken. Sie verliert dann ihre tautologisch abgesicherte Unbedingtheit. Sie kann dabei dennoch Moral bleiben und ihre Ansprüche sogar steigern, dann als eine sich in ihren Bedingungen reflektierende Moral.

3 Kontingentsetzung der Moral Nietzsche und Luhmann setzten die Moral mit einem Wort kontingent. Sie kamen dadurch, so Luhmann, zu einem „empirisch brauchbaren Begriff der Moral“ (Pl, 17/MorG, 256) und konnten so, wie Nietzsche in Zur Genealogie der Moral schrieb, „das ungeheure, ferne und so versteckte Land der Moral – der wirklich dagewesenen, wirklich gelebten Moral – mit lauter neuen Fragen und gleichsam mit neuen Augen […] bereisen: und heisst dies nicht beinahe so viel als dieses Land erst entdecken? …“ (GM I 7) Nietzsche entwarf dazu gar einen Vorschlag für ein „akademisches Preisausschreiben“, in aktuellen Begriffen ein interdisziplinäres empirisches Forschungsprojekt: Das Problem „vom Werthe der bisherigen Werthschätzungen“ sollte in Zusammenarbeit mit Biologen, Physiologen, Medizinern, Ethnologen, Psychologen, Philologen und Historikern unter verschiedensten „Werth-Gesichtspunkten“ angegangen werden. „Fach-Philosophen“ sollten dabei zunächst nur die Rolle von „Fürsprechern und Vermittlern“ übernehmen. Die „Zukunfts-Aufgabe des Philosophen“ aber wäre dann, „das Problem vom Werthe zu lösen“ und „die Rangordnung der Werthe zu bestimmen“ (GM I 17,

3 Kontingentsetzung der Moral

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Anm.). Nach Luhmann ist die Moral schlicht als Gegenstand „wie jeder andere auch“ zu behandeln (SdM, 8/MorG, 56), „das Faktum Moral“ dabei „mit moralfreien Begriffen zu begreifen“ (SdM, 43/MorG, 97), also von der „Moralität von Moral“ auf ihre „Faktizität“ zurückzugehen oder eben „die Moral selbst kontingent“ zu setzen (SdM, 45/MorG, 100 f.). „Die klassischen Titel des Subjekts – Bewußtsein, Willensfreiheit, Geist, Reflexion –“ würden dann, wie Nietzsche schon in seinen Aphorismenbüchern gezeigt hatte, „eigentümlich undifferenziert und gehaltlos erscheinen“ (SdM, 41/MorG, 95). Nietzsches Programm einer „Vernatürlichung der Moral“³⁰⁰ oder eines „moralistischen Naturalismus“, der „Rückführung des scheinbar emancipirten, übernatürlichen Moralwerthes auf seine ‚Natur‘: dh. auf die natürliche Immoralität, auf die natürliche ‚Nützlichkeit‘ usw.“,³⁰¹ wurde bei Luhmann zum Verzicht auf eine idealistische, aber kaum gelebte „Hochmoral“ (SdM, 41/MorG, 95): Die soziologische Analyse der Moral müsse auch die „physisch-chemisch-organisch-psychischen Grundlagen“ einbeziehen, auf die schon Nietzsche unermüdlich hingewiesen hatte. So aber sei mit „Lebendigkeit“ und „Instabilität“ zu rechnen (SdM, 31/MorG, 83). Die Kontingentsetzung auch der Moral legten Nietzsche und Luhmann ihr Perspektivismus bzw. Konstruktivismus nahe (Kap. II). Auch das Moralische kann danach nicht in den „Phänomenen“, sondern nur in ihren „Ausdeutungen“ bestehen: „Es giebt gar keine moralischen Phänomene, sondern nur eine moralische Ausdeutung von Phänomenen“ (JGB 108). Die Ausdeutung besteht ihrerseits in standpunktabhängigen „Werthschätzungen“ (JGB 201), ein Begriff, den auch Luhmann gerne verwendete (z. B. SS, 318). Die „Moralen“ sind danach, so Nietzsche, „auch nur eine Zeichensprache der Affekte“ (JGB 187), „das mor. Werthschätzen“ ein Zeichen von etwas, das wir wieder nur in Zeichen haben. Als „eine Auslegung, eine Art zu interpretiren“, ist „das moralische Werthschätzen […] ein Symptom bestimmter physiol. Zustände, ebenso eines bestimmten geistigen Niveaus von herrschenden Urtheilen“.³⁰² Man kann dann vermuten, dass, wie Nietzsche schon früh geschrieben hatte, der Ursprung aller Moral in den abscheulichen kleinen Schlüssen zu suchen [ist]: „was mir schadet, das ist etwas Böses (an sich Schädigendes); was mir nützt, das ist etwas Gutes (an sich Wohlthuendes und Nutzenbringendes); was mir einmal oder einigemale schadet, das ist das Feindliche an sich und in sich; was mir einmal oder einigemale nützt, das ist das Freundliche an sich und in sich.“ (M 102)

 NL , [], KSA ./KGW IX/, W II , .  NL , [], KSA ./KGW IX/, W II , .  NL /, [], KSA ./KGW IX/, W I , .

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VIII Bindungen der Orientierung

In Moralen werden die eigenen Lebensbedingungen hochgeneralisiert und, wenn die Perspektiven entsprechend begrenzt bleiben, zum einem Guten an sich ontologisiert. Was da genau schadet, nützt und zu moralischen Wertschätzungen nötigt, kann man, da es immer schon in deren Perspektiven beobachtet wird, außerhalb ihrer nicht feststellen. Man kann es also nur von den Wertschätzungen selbst aus erschließen, ohne sich seiner „Realität“ je sicher sein zu können. Noch der späte Nietzsche bekräftigte das: Das moralische Urtheil gehört, wie das religiöse, einer Stufe der Unwissenheit zu, auf der selbst der Begriff des Realen, die Unterscheidung des Realen und Imaginären noch fehlt: so dass „Wahrheit“ auf solcher Stufe lauter Dinge bezeichnet, die wir heute „Einbildungen“ nennen. Das moralische Urtheil ist insofern nie wörtlich zu nehmen: als solches enthält es immer nur Widersinn. Aber es bleibt als Semiotik unschätzbar: es offenbart, für den Wissenden wenigstens, die werthvollsten Realitäten von Culturen und Innerlichkeiten, die nicht genug wussten, um sich selbst zu „verstehn“. Moral ist bloss Zeichenrede, bloss Symptomatologie: man muss bereits wissen, worum es sich handelt, um von ihr Nutzen zu ziehen. (GD Verbesserer 1)

Die Realität des Moralischen als Zeichenrede lässt sich nur an Anhaltspunkten festmachen. Sie aber können von Grund auf wechseln, sind in Luhmanns Sprache untereinander funktionsäquivalent. Hatte man „die längste Zeit der menschlichen Geschichte hindurch“, so Nietzsche in JGB 32, „den Werth oder den Unwerth einer Handlung aus ihren Folgen abgeleitet“, ihn also nach ihrem Nutzen oder Schaden für die Gesellschaft eingeschätzt, so ging man, gefördert vor allem durch die christliche Religion, zu der „Absicht“ über, aus der die Handlung hervorgeht und die wohl Gott bekannt sein mochte, andern Menschen aber stets auch vorgetäuscht werden kann, also nur bedingt beobachtbar ist.Wenn nun aber der Glaube an Gott für die meisten unglaubwürdig geworden ist, könnte eine „aussermoralische“ Periode beginnen, in der man davon ausgeht, „dass gerade in dem, was nicht-absichtlich an einer Handlung ist, ihr entscheidender Werth belegen sei, und dass alle ihre Absichtlichkeit, Alles, was von ihr gesehn, gewusst, ‚bewusst‘ werden kann, noch zu ihrer Oberfläche und Haut gehöre, – welche, wie jede Haut, Etwas verräth, aber noch mehr verbirgt“. Die bekundete oder vermutete Absicht wäre dann wiederum nur „ein Zeichen und Symptom“, das „erst der Auslegung bedarf, dazu ein Zeichen, das zu Vielerlei und folglich für sich allein fast nichts bedeutet“. All das macht die moralische Beurteilung zu „einem Ding etwa vom Range der Astrologie und Alchymie“. So stehe also „die Überwindung der Moral, in einem gewissen Verstande sogar die Selbstüberwindung der Moral“ an (JGB 32), verstanden als Komplex herrschender Normen und Werte. Insbesondere wird man, so Nietzsche, an deren allgemeiner Gültigkeit zweifeln müssen. Denn wenn sich Moralen tatsächlich „an die einzelne Person wenden, zum Zwecke ihres

3 Kontingentsetzung der Moral

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‚Glückes‘, wie es heisst“, zugleich aber „Verhaltungs-Vorschläge im Verhältniss zum Grade der Gefährlichkeit“ sind, „in welcher die einzelne Person mit sich selbst lebt“, so wird man kaum annehmen können, dass „sie sich an ‚Alle‘ wenden“: „Sie generalisiren, wo nicht generalisirt werden darf –, allesamt unbedingt redend, sich unbedingt nehmend“ (JGB 198). Um die Moral gegen deren eigenes Selbstverständnis kontingent zu setzen, gingen beide, Nietzsche und Luhmann, zugleich historisch vor, Nietzsche konzentriert in seinen Abhandlungen Zur Genealogie der Moral, Luhmann in fallweise eingestreuten historischen Exkursen.³⁰³ Nietzsche suchte hypothetisch als außermoralischen Ursprung der europäischen Moral gerade das moralisch Verwerflichste, die Lust an Grausamkeit, aufzuzeigen. Sie sei in mehreren Zügen moralisiert worden, einem ersten, als zur Tilgung von Schulden Anrechte auf Grausamkeit gewährt (Beispiel: Shakespeares Kaufmann von Venedig) und Strafen als legitime Grausamkeiten gegen Delinquenten verhängt wurden (Beispiel: Hinrichtungen als öffentliche Schauspiele), einem zweiten, weit tiefer einschneidenden, als unter religiöser Anleitung die Grausamkeit auf den nach Grausamkeit Lüsternen selbst zurückgewendet und so das schlechte Gewissen gezüchtet wurde, das dann schließlich die Ausbildung des asketischen Ideals als Lebensform begünstigte, der Rechtfertigung äußerster Härte gegen sich selbst durch ein erklärtermaßen unerreichbares Ideal sittlicher Vollkommenheit. Doch als sich, führte Nietzsche seine Hypothesen weiter, aus dem christlichen Gewissen das wissenschaftliche Gewissen ausformte – was möglich wurde, weil beide, Moral und Wissenschaft, Selbstlosigkeit und Selbstopferung fordern –, konnte das Gewissen sich seinerseits gegen sich selbst kehren und sich selbst über seine Herkunft aufklären. Die sich so aus der Religion emanzipierende und sie mehr und mehr kritisierende Wissenschaft blieb dabei freilich weiterhin im Bann der Moral.³⁰⁴ Luhmann hatte ebenfalls stets die europäische Kultur- und Ideengeschichte im Blick und war durchaus zu ähnlich kühnen Hypothesen darüber bereit. Bei seinen soziologischen Korrelierungen von Gesellschaftsstruktur und moralischer Semantik setzte er jedoch weniger auf Religionen (Judentum, Christentum) und Kulturen (Griechentum, Römertum, italienische Renaissance), sondern auch hier auf die generelle Umstellung der europäischen Gesellschaft von segmentärer (Gruppen) und stratifikatorischer (Stände) auf funktionale (Leistungen) Differenzierung (Kap. IV, 3; X, 1). Dabei zeigen sich gleichwohl Querverbindungen zu

 Vgl. SdM,  – /MorG,  – ; ERM,  – /MorG,  – ; GG,  – ,  –  u.  – .  Zum Näheren vgl. Stegmaier, Nietzsches ‚Genealogie der Moral‘.

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VIII Bindungen der Orientierung

Nietzsches Genealogie der Moral in JGB 32. Bei der segmentären Differenzierung galt, so Luhmanns Hypothese, Moral noch als naturgegeben: Eben darum konnten Handlungen nach ihren Folgen beurteilt werden und war, da alle sich in einen natürlichen Kosmos eingebunden glaubten, auch eine moralische Integration der Gesellschaft noch möglich. Sie wurde in der stratifikatorischen Differenzierung der Gesellschaft prekär, und so ging man von der Beurteilung der Handlungsfolgen zur Einführung von Absichten und deren Reflexion im Gewissen über, der „Extravaganz“, dass man die Moralität des eigenen Verhaltens auch „noch innerlich kontrollieren muß“ (GG, 247). Wenn aber jeder für seine Moral selbst verantwortlich wurde, sie dann freilich auch nur vorspiegeln konnte, ließ sich die Gesellschaft, auch und gerade die Adelsgesellschaft in sich, nicht moralisch integrieren. In der funktional differenzierten Gesellschaft lösten sich die Bedingungen ihrer moralischen Integration vollends auf. Ein Symptom dafür waren, so Luhmann, abgehobene philosophische Ethiken mit gegensätzlichen Vorstellungen moralischer Vollkommenheit. Moral wird zu einer komplexere Deutungen erfordernden Zeichenrede. Sie ist, wie nun zu sehen war, ein „komplizierter Mechanismus sozialer Koordination und keineswegs nur, wie die heutige Ethik uns glauben machen will, eine Anwendung vernünftig begründbarer Regeln“ (GG, 245). Luhmann setzte bei der Rückführung der Moral oder moralischen Kommunikation auf außermoralische Ursprünge darum noch einmal radikaler und zugleich schlichter an, nämlich bei der Kommunikationssituation selbst. Er ging hier an die Peripherie seiner eigenen Theorie, die Interaktion und Kommunikation unter Individuen. Damit kam er wiederum Nietzsche sehr nahe: „Von Moral wollen wir sprechen, wo immer Individuen einander als Individuen, also als unterscheidbare Personen behandeln und ihre Reaktionen aufeinander von einem Urteil über die Person statt über die Situation abhängig machen.“ (GG, 244) Moral ist, als Zeichenrede, immer schon Moral in der Kommunikation und dann auch, so Luhmann, Moral der Kommunikation. Die inter-individuelle Kommunikationssituation ist durch doppelte Kontingenz bestimmt (Einl., Kap.VI, 2.1), dadurch also, dass der Andere auf meine Äußerungen immer so oder anders reagieren, seine Äußerungen immer so oder anders meinen und ich sie immer so oder anders verstehen kann und beide wissen, dass es dem andern ebenso geht und beide das voneinander wissen. Die Komplexität der Situation macht die Kommunikation hochgradig unsicher, bringt sie in Nietzsches Begriffen in unablässige Not. Zur Bewältigung der Not dieser Komplexität bietet sich eine massive Simplifikation an: die Reduktion auf die an der Situation teilnehmenden Personen. Sie werden fürs erste schlicht nach angenehm oder unangenehm, willkommen oder unwillkommen, entgegenkommend oder abweisend, hilfreich oder Eigeninteressen verfolgend, vertrauenswürdig oder hinterhältig usw. unterschieden, und all dies wird,

3 Kontingentsetzung der Moral

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wo die Situation rasche Entscheidungen verlangt, durch die Unterscheidung gut oder schlecht bzw. gut oder böse zusammengefasst und generalisiert. Die Unsicherheit der doppelten Kontingenz der Kommunikation wird durch die moralische Einschätzung der beteiligten Personen absorbiert. Diese Einschätzung wird zur Klärung der Situation in der Regel ihrerseits kommuniziert, indem man einander wiederum mehr oder weniger versteckt oder offen, zurückhaltend oder aggressiv Achtung oder Missachtung ausdrückt. Das lässt sich kaum vermeiden, geschieht nahezu unwillkürlich und wird so zu einem zuverlässigen Code. Achtung signalisiert, dass die Verständigung gelingt und die Kommunikation gerne fortgeführt werden kann, Missachtung, dass weitere Kommunikation eher unerwünscht ist, jedenfalls beschwerlich sein wird, und „all das in abgestufter Dosierung“ (SdM, 46 f./MorG, 102; vgl. SS, 318). Danach geht es in der moralischen Zeichenrede von Anfang an nicht nur um Inklusion, sondern immer auch um Exklusion, um Integration und Separation. Dabei sind die Personen stets als ganze betroffen, „soweit sie als Teilnehmer an Kommunikation geschätzt“ werden (Pl 18/MorG, 257). Ihnen kann im Sinn idealistischer Ethiken wohl Vernunft zugesprochen werden, dann aber mehr oder weniger und in unterschiedlichen Ausdrucksformen. Zugleich spielen, auch hier in weiten Spielräumen, die Attraktivität oder Nicht-Attraktivität der Erscheinung, spontane Sympathie oder Antipathie, Wissen und Gerüchte über die Person, Konkurrenzen, unterschiedliche Nah- und Fernperspektiven, das in der aktuellen Situation Verhandelte, der Druck der Situation auf Handlungsentscheidungen usw. mit. Das ist allenthalben beobachtbar. Wenn davon aber moralische Urteile beeinflusst werden oder sie sogar daraus hervorgehen, haben sie sichtlich außermoralische Ursprünge – in jeder aktuellen Kommunikationssituation. So aber eröffnet sich in der inter-individuellen doppelt kontingenten Moralkommunikation ein weiter „artifizieller Spielraum kombinatorischer Möglichkeiten“ (GG, 245): Man kann sich selbst als achtungswürdig vorführen und anderen den Widerspruch schwermachen; man kann testen, ob jemand Achtung verdient; man kann versuchen, andere im Netz der Achtungsbedingungen zu fangen, um sie dann im Netz abzuschleppen; man kann aber auch andere zu moralischen Selbstbindungen verführen, um sie dann damit im Stich zu lassen; man kann Moralisierungen auch benutzen, um zu zeigen, daß man auf die Achtung bestimmter Partner keinen Wert legt. (SS, 215 f.)

So sehr die nach dem schlichten Code von Gut und Böse verfahrende Moral die Kommunikation zunächst vereinfacht, kann sie rasch wieder hochkomplex und darum unberechenbar und riskant werden. Die Moralkommunikation bedarf darum „dringend der Einschränkung“ (GG, 245). Das geschieht, indem auch sie auf sich selbst bezogen wird: Die geäußerten Wertschätzungen (moralischen Beob-

246

VIII Bindungen der Orientierung

achtungen) werden ihrerseits wertgeschätzt (moralisch beobachtet). Die jeweils Betroffenen können kontern, die geäußerten Wertschätzungen bestreiten, sich gegebenenfalls über sie empören. Dann geraten Dritte,wenn sie sich nicht auf eine Seite schlagen, dann in die Rolle, zu beruhigen, auszugleichen, den Schiedsrichter zu spielen und – wiederum moralische – Regeln für die Moralkommunikation zu formulieren. Das kann gelingen oder nicht; wenn moralisch mehr mitreden, kann die inter-individuelle moralische Selektion von Personen gebremst, aber auch forciert werden. Auch die selbstbezügliche Moralkommunikation bleibt doppelt kontingent und darum ergebnisoffen. Luhmann brachte das auf den Begriff des „Achtungsmarkts“ (SdM, 48/MorG, 103), auf dem unterschiedliche Wertschätzungen und Wertschätzungen von Wertschätzungen miteinander im Wettbewerb stehen, auf dem es Fluktuationen und Innovationen (Wertewandel), Konjunkturen und Rezessionen (zunehmende und abnehmende Moralisierungen), Inflationen und Deflationen (der Bewertung der Werte selbst) geben kann. Zwar sind Äußerungen von Achtung und Missachtung keine „knappen Güter“ (SdM, 57/MorG, 115). Dennoch wird sparsam mit ihnen umgegangen: Denn persönliche Wertschätzungen sind ein ebenso begehrtes wie gefürchtetes, für die meisten das begehrteste und gefürchtetste Gut überhaupt. Sie entwerten sich, wenn sie inflationär eingesetzt werden; kommt es dann zu Deflationierungen, kann die Gewaltbereitschaft steigen (GG, 403). Wer sich allzu wenig geschätzt sieht, greift leicht zu andern Mitteln, um seine Selbstachtung zu wahren. Weit mehr in Gestalt des Achtungsmarkts als in Gestalt begründbarer Normen und Werte ist Moral Grundbedingung der Kommunikation. Entsprechend steigt das soziale „Interesse an Konditionierung“, „Konsistenz der Achtungspraxis“, „Vorabsicherung des Konsenses mit Dritten“. Es „konsolidieren sich Bezugspunkte, Leitmodelle, Tattypen oder Regeln, die nun eine neue Form der Bivalenz von Achtungskommunikationen unter dem Gesichtspunkt von ‚gut‘ und ‚schlecht‘ ermöglichen“ (SdM, 57 f./MorG, 116). Kurz, es spielt sich in einer Gruppe oder Gesellschaft eine generelle Moral ein, eben das, was man ‚die Moral einer Gesellschaft‘ oder ihre ‚herrschende Moral‘ nennt: „Die Gesamtheit der faktisch praktizierten Bedingungen wechselseitiger Achtung oder Mißachtung macht die Moral einer Gesellschaft aus.“ (SdM, 51/MorG, 107)

4 Moral als Funktion Moralen, die die Komplexität der Kommunikation leichter beherrschbar machen und darin herrschend geworden sind, können Personen so fest in eine Gruppe oder Gesellschaft einbinden, dass sie mehr oder weniger in deren Sinn handeln. Nietzsche erfasste ebenso wie später Luhmann ihre Verbindlichkeit mit dem be-

4 Moral als Funktion

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tont nicht-moralischen Begriff der Funktion: „Mit der Moral wird der Einzelne angeleitet, Function der Heerde zu sein und nur als Function sich Werth zuzuschreiben.“ (FW 116) In dieser Funktion, Einzelne so in Verbünde einzubinden, dass sie von sich aus deren Regeln folgen, kann die Moral ihrerseits, also wiederum selbstbezüglich, als Funktion eingesetzt werden, etwa von einem „Stärkeren, der Etwas zu seiner Function umbilden will“, nämlich einen „Schwächeren, der Function werden möchte“ (FW 118). Mag der Begriff auch moralisch verletzend sein, soweit bei Moral nicht nur Freiwilligkeit, sondern auch Eigenverantwortung erwartet wird, das Bedürfnis, Funktion sein, sich einfügen zu wollen, in etwas aufgehen wollen, ist, so Nietzsche, ein allenthalben beobachtbarer Grundzug auch und gerade moderner Gesellschaften. Moralisch bringt man dieses Bedürfnis gerne auf den Begriff des „Altruismus“: „Ich sehe an vielen Menschen eine überschüssige Kraft und Lust, Function sein zu wollen; sie drängen sich dorthin und haben die feinste Witterung für alle jene Stellen, wo gerade sie Function sein können.“ (FW 119) Funktion sein zu wollen heißt bei Personen sich willentlich in Abhängigkeitsverhältnisse zu begeben, paradox formuliert, willentlich willenlos zu sein, und dazu gehört auch und gerade, sich einer herrschenden Moral zu unterwerfen. Man fühlt sich dabei aufgehoben und stark. Das könnte, vermutete Nietzsche, für alles Leben gelten. Versteht man Wollen überhaupt als Anderessich-unterordnen-Wollen einerseits und Sich-selbst-in-anderes-einordnen-Wollen andererseits, wie es Nietzsches in seiner Analyse des Willens-Begriffs versuchte, so ist „Wollen an sich schon unter den Gesichtskreis der Moral zu fassen: Moral nämlich als Lehre von den Herrschafts-Verhältnissen verstanden, unter denen das Phänomen ‚Leben‘ entsteht.“ (JGB 19) Die funktionale war Nietzsches weit- und tiefgreifendste Definition der Moral. Danach strukturiert sie das Leben von Grund auf, das organische ebenso wie das moralische, und verknüpft beide miteinander. Das bedeutet nicht, dass das Leben dadurch einheitlich wird. Seine Spezifizierungen bleiben, und mit dem Leben spezifiziert sich auch die Moral, etwa als Moral der Mächtigen und der Unterworfenen, der Herren und Sklaven, in die Nietzsche sie dann vor allem unterschied. Luhmann, der sich explizit zur „Methode funktionaler Analyse“ oder zur „Funktionsorientierung“ bekannte (SS, 83 f.), ist ihr auch in seiner Analyse der Moral konsequent gefolgt. Er fasste die Moral, sofern sie „die volle reflexive Komplexität von doppeltkontingenten Ego/Alter-Beziehungen auf Achtungsausdrücke reduziert“, als eine „symbolische Generalisierung“ (SS, 320). Damit löste er sich von der Semantik der Macht und der Herrschaft, durch die Nietzsche die Moral explizierte. Eine symbolische Generalisierung oder eine Verallgemeinerung in

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VIII Bindungen der Orientierung

Symbolen³⁰⁵ ist nach Luhmann eine Sinnerwartung, die sich in unterschiedlichen Situationen unterschiedlich spezifizieren lässt: Wie jede „Einheitsbildung“, auch die des traditionellen Begriffs, hat sie die „Funktion der operativen Behandlung einer Vielheit“ (SS, 135). Die Formel ‚symbolische Generalisierung‘ betont gegenüber dem traditionellen Begriff des Begriffs jedoch die Operation oder den Prozess der Einheitsbildung, der in jeder neuen Situation neu abläuft, dabei aber Spielräume zu Sinnverschiebungen lässt und so im Sinn Nietzsches die Flüssigkeit des Begriffs ermöglicht (Kap. II, 3.3.1). Symbolische Generalisierungen dienen, so Luhmann in der Sprache der Orientierung, lediglich „dem Vorhalten von Wiederzugänglichkeit“ (SS, 136), bieten „Anhaltspunkte“ für sie (SS, 447). So kann jede inter-individuelle Kommunikation von moralischer Achtung oder Missachtung, die in der Kommunikation der Gesellschaft durchgeht, die Moral wieder verändern. Wie Nietzsches Begriff des Lebens lässt Luhmanns (und Parsons’) Begriff der symbolischen Generalisierung Spezifizierungen und Ausdifferenzierungen zu, ohne einen immer bleibenden ‚Wesens‘-Sinn zu unterstellen. An die Stelle der Semantik der Macht tritt bei Luhmann auch hier die Differenz von Medium und Form. Wie Wissen (Kap. VII, 2.2) so grenzt auch Moral die Orientierungsmöglichkeiten ein und schafft durch diese Selektion ein Stück Orientierungssicherheit; sie sind darin funktionsäquivalent. Auch Moral lässt sich als ein „spezifisches, aber zugleich universales Medium“ der Kommunikation (GG, 400) ansehen, das in der jeweiligen Kommunikationssituation durch Erweise von persönlicher Achtung oder Missachtung Form annimmt. Als Medium ist sie Bedingung von Kommunikation überhaupt wie für Nietzsche Bedingung des Lebens, erkennbar ist sie aber nur in ihren Formungen, den unterschiedlichen Wertschätzungen. Die Unterscheidung von Medium und Form fängt gut ein, dass die Moral nicht als begründeter Komplex von Normen vor Augen, sondern als Ressource zur manchmal unwillkürlichen, manchmal willentlichen Verfügung steht, dass die Kommunikation sie von Fall zu Fall heranzieht und ihr dann eine jeweils situationsabhängige Form gibt. Damit könnte die „ungeheure Complizirtheit der Entstehung der gegenwärtigen moralischen Werthbestimmung“ erfasst sein, von der Nietzsche sprach, die nur „Einheit als Gefühl“ zulässt.³⁰⁶

 Luhmann vermied hier den Begriff ‚Zeichen‘, weil er mit ihm die „Funktion“ verband, „auf etwas Vorhandenes hinzuweisen“ (SS, ). Die Philosophie des Zeichens, wie sie Nietzsche, Peirce, Wittgenstein und Josef Simon geprägt haben, hat freilich den Zeichen-Begriff von eben dieser Funktion gelöst bzw. behandelt jenes „Vorhandene“ wiederum als Zeichen. Sie versteht das Zeichen eben so, wie Luhmann das Symbol einführte, als Zeichen, das „die eigene Funktion mitbezeichnet, also reflexiv wird“, oder als „Darstellung der Einheit von Bezeichnendem und Bezeichnetem“ (GG, ; s. auch BdM,  f.).  NL , [], KSA ..

4 Moral als Funktion

249

Als spezifisches Medium der Kommunikation gefasst, ist Moral nach Luhmann nicht nur funktionsäquivalent zu Wissen bzw. seiner Wahrheit, sondern auch zu anderen symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien wie Geld, Macht oder Liebe. Sie kann, wenn die Situation es erlaubt, durch sie ersetzt werden. Inklusion in die und Exklusion aus der Kommunikation kann sichtlich auch ökonomisch, politisch oder durch liebevolle Zuwendung (die eine Abwendung von andern oder doch deren Vernachlässigung einschließt) bewirkt werden. Aber anders als die Medien Geld, Macht, Wahrheit oder Liebe und ähnlich wie die Sprache lässt sich Moral nicht in ein spezifisches Funktionssystem (Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Intimbeziehungen) ausdifferenzieren. Für Luhmanns Theorie der funktionalen Differenzierung der Kommunikation der Gesellschaft ist das irritierend, und Luhmann hat entsprechend damit gerungen. In seinem Beitrag Politik, Demokratie, Moral, der wie Die Gesellschaft der Gesellschaft kurz vor seinem Tod erschien, formulierte er noch immer sehr vorsichtig: „Offenbar hat die moderne Gesellschaft kein besonderes Funktionssystem für Moral ausdifferenziert. Über die Gründe mag man spekulieren.“ (MorG, 184 f.) Die wichtigsten Gründe, die er zuvor erwog, sind folgende: (a) Die Zentralität der Moral: „Die spezifische Funktion der Moral liegt, allein schon wegen ihrer Interaktionsbindung, im Gesellschaftssystem zu zentral, als daß sie über Sondersystembildung und operative Technisierung ausdifferenziert werden könnte“ (SdM, 58/MorG, 116 f.). Über alle Funktionssysteme hinweg wird unter Personen in doppelter Kontingenz kommuniziert und die doppelte Kontingenz durch Erweise von Achtung und Missachtung stabilisiert. Moral kann darum nicht aus ihnen herausgezogen und „die Moralreflexion nicht als Teilsystemreflexion durchgeführt werden […]. Durch Ausdifferenzierung eines Normbezugs entsteht ein Rechtssystem, kein Moralsystem.“ (ERM, 434/MorG, 336) (b) Die „Zumutungshärte“ der Moral (SdM, 58/MorG, 117): Da sich moralische Kommunikation auf Personen als ganze bezieht, ihre Inklusion und Exklusion somit eine totale ist, würden missachtete oder gar verachtete Personen durch sie ganz aus der Kommunikation der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Sie dürften dann auch keine Verträge mehr schließen, keine Geschäfte mehr machen, nicht mehr Politik, Wissenschaft, Sport in Verbänden treiben, wären von der Liebe ausgeschlossen usw. Die moralische Kommunikation bekäme dann im doppelten Sinn exklusive Bedeutung für die Gesellschaft. Das mag in inter-individueller Kommunikation noch möglich und hinzunehmen sein. Darüber hinaus muss die moralische Inklusion und Exklusion jedoch limitiert werden – aus wiederum moralischen Gründen. Die Moral einer Gesellschaft, jedenfalls einer modernen Gesellschaft, muss, was immer ihre Normen und Werte sein mögen, so zugeschnitten sein, dass sie nicht völlig über Inklusion und Exklusion entscheidet, sondern nur beschränkt verbindliche Anhaltspunkte für sie liefert, sie, so Luh-

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VIII Bindungen der Orientierung

mann, lediglich „schematisiert“. Verbindliche Exklusionen müssen dem Recht überlassen bleiben (ERM, 367 f./MorG, 278 f.). (c) Der mangelnde „Kriterienkonsens“ (MorG, 185): Für moralische Wertschätzung haben sich in Jahrtausenden der europäischen Kulturgeschichte keine einheitlichen Kriterien ergeben und auch keine Organisationen herausgebildet, die nach ihnen die Kommunikation der Gesellschaft im Ganzen regeln würden; selbst die Katholische Kirche ist so weit nicht gekommen. Die in moralischen Debatten nun oft als Kriterienkatalog geltenden und weithin unumstrittenen Menschenrechte sind Rechte, wiederum juristische und justiziable Kriterien, und stellen gerade moralische Wertschätzungen und deren Kriterien frei.

5 Gefahren der Moral Da Moral nicht als Funktionssystem auszudifferenzieren ist, wirkt sie umso mehr in die Funktionssysteme hinein. Dabei kann sie deren Funktionieren erleichtern, indem sie die inter-individuellen Interaktionen stabilisiert, aber auch stören und lähmen; das augenfälligste Beispiel für den zweiten Fall war die sozialistische Planwirtschaft. Die Möglichkeit solcher Störungen und Lähmungen (nicht nur der Wirtschaft, auch aller übrigen Funktionssysteme) durch den übergreifenden Integrationsanspruch der Moral oder Moralphilosophen war Luhmanns größte Sorge als soziologischer Systemtheoretiker; darin sah er ihre größte Gefahr. Dennoch räumte er eine „hochspezifische Angewiesenheit gerade der Funktionssysteme auf Moral“ ein (MorG, 172³⁰⁷). Sie können über die Stabilisierung der inter-individuellen Interaktionen hinaus eben dann Moral nötig haben, wenn die Unabhängigkeit ihrer Codes gesichert werden muss; die Moral übernimmt dann „Codeschutzfunktionen“ (PuM, 499; GG, 404). Das gilt etwa für die Abwehr von Plagiaten und Datenfälschungen in der Wissenschaft, von Korruption in Politik, Verwaltung und Wirtschaft, von Doping im Sport; hier wird, je nachdem wie empfindlich eine Gesellschaft dafür ist, dann auch in großer Zumutungshärte mit Missachtung oder Ächtung der Person als ganzer reagiert (Wissenschaftler verlieren zumindest ihre Reputation, Minister ihr Amt, Sportler ihre Preise). Aber eben die Angewiesenheit der Funktionssysteme auf Moral lud und lädt Ethiker dazu ein, die Moral über die Kommunikation der Gesellschaft im Ganzen zu stellen, damit sie ihr im Ganzen Vorgaben machen und sie steuern könne.Von der Moral wird dabei nur Konsens und Stabilität erwartet, während sie doch ebenso Dissens und Instabilität erzeugt (GG, 401). Als „frei flottierende, störende und

 Vgl. ERM,  f./MorG,  f.; PuM, ; GG, , .

5 Gefahren der Moral

251

stützende Orientierung“ kann Moral nach Luhmann „nicht zu einem Letztprinzip vernünftiger Begründung“ werden (GG, 406). Sicherlich kann man moralische Normen explizit machen und begründen, aber eben nur auf flottierenden Gründen, die ihrerseits strittig sein oder werden können. Oder aber man zieht sich, wie Kant oder Bentham es vorführten, „in Abstraktionslagen zurück […], die es nicht mehr erlauben, wirkliches Verhalten zu beurteilen“ (WissG, 697). Mehr in der Ethik, der er in Gestalt vor allem von Habermas’ Diskursethik begegnete, weniger in der Moral selbst erwartete Luhmann eine Gefahr für das Funktionieren der Funktionssysteme der Kommunikation der Gesellschaft. Mit der Flexibilität, die sie ihrer Herkunft aus der doppelt kontingenten Achtungskommunikation verdankt, stellt sich die Moral, bemerkte er zuletzt, „auf die polykontexturale Form der Selbstbeobachtung der Gesellschaft ein und bietet selbst ihren Code nur als eine Kontextur unter anderen an“ (GG, 1043). Das heißt, „daß der Verzicht der Moral auf Codierung der Funktionssysteme moralisch gedeckt, das heißt: für moralisch gut gehalten wird. Die Moral bejaht ihren eigenen Rückzug moralisch.“ (MorG, 168) Sie wird dort angeboten und angenommen, wo sie gebraucht wird; die Funktionssysteme regeln selbst, „in welchen Hinsichten und in welchen Formen Moral [für sie] relevant wird“ (MorG, 174). So kann man mit Moral auch Geschäfte machen oder bei Forschungsorganisationen Drittmittel einwerben, in der Politik Parteien gründen oder einen moralischen Skandal für eigene Vorteile nutzen. Im Ergebnis bleibt für Luhmann, „daß das fluide Medium der Moral dort ankristallisiert, wo Funktionssysteme ihm eine Funktion geben können“ (ERM, 433/MorG, 334). Nietzsche dagegen fürchtete mehr von der Moral als Luhmann, eben deshalb, weil sie funktionalisiert und dadurch normiert und egalisiert. Darin sah er ihre größte Gefahr. Aufgrund durchgreifender normativer moralischer Restriktionen aus begrenzten Lebensperspektiven könne das Leben im Ganzen in seinen Evolutionsmöglichkeiten zum Erliegen kommen. Das begann für Nietzsche schon mit der bloßen Unterscheidung von Gut und Böse.³⁰⁸ Denn bisher habe man den Wert der moralischen Wertung „als gegeben, als thatsächlich, als jenseits aller InFrage-Stellung“ hingenommen und „auch nicht im Entferntesten daran gezweifelt und geschwankt, ‚den Guten‘ für höherwerthig als ‚den Bösen‘ anzusetzen, höherwerthig im Sinne der Förderung, Nützlichkeit, Gedeihlichkeit in Hinsicht auf den Menschen überhaupt (die Zukunft des Menschen eingerechnet)“. Umso mehr müsse man fragen:

 Die Egalisierung der Individuen und der Nivellierung der Gesellschaft, die nach Nietzsche mit ihrer Demokratisierung einherging, behandeln wir in den Kap. X und XI.

252

VIII Bindungen der Orientierung

Wie? wenn das Umgekehrte die Wahrheit wäre? Wie? wenn im „Guten“ auch ein Rückgangssymptom läge, insgleichen eine Gefahr, eine Verführung, ein Gift, ein Narcoticum, durch das etwa die Gegenwart auf Kosten der Zukunft lebte? Vielleicht behaglicher, ungefährlicher, aber auch in kleinerem Stile, niedriger? … So dass gerade die Moral daran Schuld wäre, wenn eine an sich mögliche höchste Mächtigkeit und Pracht des Typus Mensch niemals erreicht würde? So dass gerade die Moral die Gefahr der Gefahren wäre? … (GM Vorrede 6)

Wenn alle Gesellschaft Moral einschließt, kann die Moral nicht von außen in Frage gestellt, können ihre Gefahren nur von ihr selbst und das heißt: von einer jeweiligen Gesellschaft aus erkannt werden. Nietzsche unterlief die Selbstsicherheit herrschender Moralen durch „gefährliche Vielleichts“ (JGB 2), durch Fragen, die sie selbst gerade noch zulassen. Dabei folgte er weiter dem Weg, schlicht auf die andere Seite der Unterscheidung von Gut und Böse zu gehen: durch die[] falsche Trennung „gut“ u „böse“ ist die Welt des Hassenswerthen, Ewig-zu-Bekämpfenden ungeheuer angewachsen. In praxi sieht „der Gute“ sich umringt vom Bösen, sieht in allem Thun Böses – er endet damit, die Natur für böse, den M für verdorben, das Gutsein als Gnade zu verstehn.³⁰⁹

Aber sein Gutes ist nur zugleich mit der Gegenseite des Bösen, und man versteht sein Gutes nur, wenn man auch das Böse dazu versteht: Man ist gut, um den Preis, daß man auch böse zu sein weiß; man ist böse, weil man sonst nicht gut zu sein verstünde.³¹⁰

„Diese Doppelheit“ abzulehnen zeuge von „Erkrankung und ideologischer Unnatur“, einer halbseitigen Lähmung, einer „Hemiplegie der Tugend“; „{complementäre Werthbegriffe}“ würden hypostasiert zu „{Realitäten, die mit sich im Widerspruch sind}“; die eine, das Gute, solle sein, die andere, das Böse solle nicht sein.³¹¹ Noch Kant habe versucht, ein eigenes ‚Reich‘ des Guten abzugrenzen und dieses „‚moralische Reich‘ unangreifbar, lieber noch ungreifbar für die Vernunft zu machen“ (M Vorrede 3),³¹² mit allen Paradoxien, die auch für Kant selbst daraus folgten. Nietzsche machte dagegen regelrechte Rechnungen und Gegenrechnungen zum Nutzen und Nachteil der Moral auf, etwa diese:

   

NL /, [], KSA ./KGW IX/, W II , . NL , [], KSA ./KGW IX/, W II , . NL , [], KSA ./KGW IX/, W II , . Vgl. NL /, [], KSA ./KGW IX/, W I , ; GM III .

5 Gefahren der Moral

253

In wiefern die Moral dem Leben schädlich war a) dem Genuß des Lebens, der Dankbarkeit gegen das Leben usw. b) der Verschönerung, Veredelung des Lebens c) der Erkenntniß des Lebens d) der Entfaltung des Lebens, insofern es die höchsten Erscheinungen desselben mit sich selbst zu entzweien suchte Gegenrechnung: ihre Nützlichkeit für das Leben. die Moral als Erhaltungsprincip von größeren Ganzen, als Einschränkung der Glieder: „das Werkzeug“ die Moral als Erhaltungsprincip im Verhältniß zur inneren Gefährdung des Menschen durch Leidenschaften: „der Mittelmäßige“ die Moral als Erhaltungsprincip gegen die lebensvernichtenden Einwirkungen tiefer Noth und Verkümmerung: „der Leidende“ die Moral als Gegenprincip gegen die furchtbare Explosion der Mächtigen: der „Niedrige“.³¹³

Die „Nützlichkeit“ der Moral ist unterschiedlich für unterschiedliche Typen, alle aber werden durch sie auf irgendeine Art ‚versklavt‘: Damit etwas bestehen soll, was länger ist als ein Einzelner, damit also ein Werk bestehen bleibt, das viell. ein Einzelner geschaffen hat: dazu muß dem Einzelnen alle mögl. Art von Beschränkung, von Einseitigkeit usw. auferlegt werden. […] Moral ist wesentlich das Mittel, über die Einzelnen hinweg, oder vielmehr durch eine Versklavung der Einzelnen etwas zur Dauer zu bringen.³¹⁴

Sie werden, indem sie sich der herrschenden Moral fügen, der „Illusion der Gattung“ geopfert: Moral als Illusion der Gattung, um den Einzelnen anzutreiben, sich der Zukunft zu opfern: scheinbar ihm selbst einen unendlichen Werth zugestehend, so daß er, mit diesem Selbstbewußtsein, andere Seiten seiner Natur tyrannisirt u. niederhält. u. schwer mit sich zufrieden ist.³¹⁵

Für die Disziplinierung, die darin liegt (Kap. VII, 3.4) und die „die Moral bisher geleistet hat“, könne man durchaus „tiefste Dankbarkeit“ empfinden. Doch werde daraus „nur noch ein Druck“, so würde er, übte man ihn auch dann noch aus, wenn die Freiheit des Geistes wächst, „zum Verhängniß“. Wird das von der Moral reflektiert, so „zwingt“ sie sich selbst „als Redlichkeit zur Moral-Verneinung“.³¹⁶ Dann aber stellt sich das „Grundproblem: woher diese Allgewalt des Glaubens? Des

   

NL /, [], KSA . f. [noch nicht in KGW IX]. NL /, [], KSA ./KGW IX/, W I , . NL /, [], KSA ./KGW IX/, N VII , . NL /, [], KSA ./KGW IX/, N VII ,  f.

254

VIII Bindungen der Orientierung

Glaubens an die Moral?“³¹⁷ Die Antwort könnte nach Nietzsche sein: „Moral als das einzige Interpretationsschema, bei dem der M sich aushält … eine Art Stolz? …“³¹⁸ Die europäische Menschheit, auf die Nietzsche seinen Fokus richtete, könnte eine Moral hochgezüchtet haben, die sie zur Scham vor sich selbst trieb – so dass sie sich selbst ohne die „Verhüllung unter moralische Formeln und Anstandsbegriffe“ nicht mehr sehen konnte (FW 352). Sie brachte, so Nietzsches Diagnose, eine Entwertung des Lebens auf breiter Front mit sich und damit auch einen Realitätsverlust. Neben den Gefahren für die „Entfaltung“, den „Genuß“ und die „Verschönerung, Veredelung des Lebens“ erwartete Nietzsche hier die Hauptgefahr der Moral: im Verlust der „Erkenntniß des Lebens“.³¹⁹ Er beginne schon damit, dass „jeder wünscht, daß keine andere Lehre u. Schätzung der Dinge zur Geltung komme außer eine solche, bei der er selbst gut wegkommt“,³²⁰ wenn also mit gutem Gewissen der „Standpunkt der Wünschbarkeit“ vorherrschend wird. Denn „jedes ‚so sollte es sein, aber es ist nicht‘ oder gar ‚so hätte es sollen gewesen sein‘“ schließt „eine Verurtheilung des gesammten Gangs der Dinge“ ein. Da es darin „nichts Isolirtes“, auf gute und böse Ursachen hin Isolierbares gibt, wird „bei jeder Kritik, die das Kleinste trifft, [das Ganze] mit verurtheilt“.³²¹ Glaube man, „der ‚gute Mensch‘ allein u. nichts als der ‚gute Mensch‘ sei etwas Wünschbares – u eben dahin gehe der Gang der menschl. Entwicklung, daß nur er übrig bleibe ({Und allein} dahin müsse man alle Absicht richten – )“, so sei das „im höchsten Grade unökonomisch gedacht {u […] der Gipfel des Naiven.}“³²² Will man „eine bessere Welt haben […] als die Realität“, schaffe man sich „eine fingirte Welt“:³²³ Wer an die Moral glaubt, „verbiegt sich in tausend Fällen die Realität, {er fälscht sie} um in seinem guten Willen nicht zu leiden“.³²⁴ Aus diesen und weiteren Einsichten in seinen Notaten zog Nietzsche in Ecce homo schließlich die Summe: „Die Lüge des Ideals war bisher der Fluch über der Realität“ (EH Vorwort 2). Die „Existenz-Bedingung“ der Moralisten ist „das Nichtsehn-wollen um jeden Preis, wie im Grunde die Realität beschaffen ist […]. In der grossen Ökonomie des Ganzen sind die Furchtbarkeiten der Realität (in den Affekten, in den Begierden, im Willen zur Macht) in einem unausrechenbaren

 NL /, [], KSA ./KGW IX/, W I , .  NL , [], KSA ./KGW IX/, W II , .  NL , [], KSA . [noch nicht in KGW IX].  NL /, [], KSA ./KGW IX/, W I , .  NL /, [], KSA . [noch nicht in KGW IX]. Vgl. NL , [], KSA . f./KGW IX/, W II , .  NL , [], KSA . f./KGW IX, W II , ..  NL , [], KSA ./KGW IX, W II , ..  NL , [], KSA ./KGW IX/, W II , .

5 Gefahren der Moral

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Maasse nothwendiger als jene Form des kleinen Glücks, die sogenannte ‚Güte‘“ (EH Schicksal 4). Mit der egalisierenden Tendenz der Moral weitete sich für Nietzsche die Gefahr des Realitätsverlusts noch aus. Soweit sie „die Starken u Unabhängigen“, „die Glücklichen“ und „die Ausnahmen“ moralisch verdächtig macht³²⁵ und verlangt, „daß sie ‚tugendhaft‘ sind: daß sie ihren Charakter wechseln, aus der Haut fahren u. ihre Vergangenheit auswischen […], daß sie aufhören sollen, sich zu unterscheiden […], daß sie in Bedürfnissen u. Ansprüchen sich anähnlichen sollen – {deutlicher: daß sie zu Grunde gehen …}“,³²⁶ beraubt sie die Gesellschaft, um mit Luhmann zu sprechen, ‚inkongruenter Perspektiven‘, unter denen sie ihrer selbst neu ansichtig werden und sich weiter entwickeln könnte. Ebenso stellt sie im Zug der Demokratisierung alle politische Führung unter den Verdacht persönlicher Machtanmaßung, sodass sie nur noch mit „schlechtem Gewissen“ und „moralischer Heuchelei“ wahrgenommen werden kann (JGB 199; Kap. X, 2). Doch auch Nietzsche sah einen Ausweg, eine Rettung aus der Gefahr – zunächst in der sozialen Evolution selbst. Im Blick einerseits auf die zeitgenössischen Züchtungslehren, andererseits auf die sozialhistorischen Beispiele der aristokratischen Gesellschaften des alten Athen und des mittelalterlichen Venedig beobachtete er eine Oszillation zwischen Wachsen und Nachlassen des Drucks von Moralen: Zwängen harte Lebensnöte zu härteren und verbindlicheren Moralen, so setze das Nachlassen der Nöte, nachdem die Moralen sich durchgesetzt haben, wieder entspanntere, weniger bindende Moralen frei. Neigten Gesellschaften unter der Gefahr, ausgelöscht zu werden, zu „Härte, Gleichförmigkeit, Einfachheit der Form“ ihrer Ordnung, die, solange die Gefahr anhält, „über den Wechsel der Geschlechter hinaus festgestellt“ wird, so verringere sich, sobald „eine Glückslage“ entstehe – „es giebt vielleicht keine Feinde mehr unter den Nachbarn, und die Mittel zum Leben, selbst zum Genusse des Lebens sind überreichlich da“ –, „die ungeheure Spannung“, und nun könnten abweichende Einzelne in üppiger Pracht und mit extravaganten Moralen hervortreten: Die Moral selbst war es, welche die Kraft in’s Ungeheure aufgehäuft, die den Bogen auf so bedrohliche Weise gespannt hat: – jetzt ist, jetzt wird sie „überlebt“. Der gefährliche und unheimliche Punkt ist erreicht, wo das grössere, vielfachere, umfänglichere Leben über die alte Moral hinweg lebt; das „Individuum“ steht da, genöthigt zu einer eigenen Gesetzgebung, zu eigenen Künsten und Listen der Selbst-Erhaltung, Selbst-Erhöhung, Selbst-Erlösung. (JGB 262)

 NL , [], KSA ./KGW IX/, W II , .  NL , [], KSA ./KGW IX/, W II , .

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VIII Bindungen der Orientierung

Aber dann ist auch „wieder […] die Gefahr da, die Mutter der Moral, die grosse Gefahr, dies Mal in’s Individuum verlegt“. Und „was werden jetzt die Moral-Philosophen zu predigen haben, die um diese Zeit heraufkommen?“ Das Maß und, da die Gesellschaft nun keine Gefahr mehr von außen fürchten muss, das Mittelmaß, die Moral der „Mittelmässigen“, die Gleichheit aller fordernde Moral. Und so wären diese Mittelmäßigen „die Menschen der Zukunft, die einzig Überlebenden“. Doch die Moralphilosophen werden „Noth haben, die Ironie zu verbergen“, die sie mehr wissen lassen könnte, als sie vorgeben (JGB 262).

6 Die Wertesemantik als Entparadoxierung der Paradoxie der Moral Das Prekäre der sonst so hoch gehaltenen Moral lag für Luhmann an einer anderen Stelle, die auch Nietzsche nicht sah oder, wie man seit Luhmann sehen kann, doch nicht sehen wollte, in der Wertesemantik, von der er so extensiv Gebrauch machte, gegen die Luhmann aber skeptisch blieb. Die Moral, die, weil sie nur das Gute für die Gesellschaft will, sich selbst nur für gut hält, wird, um daran nochmals anzuschließen, paradoxiert, wenn sie reflektiert, dass sie mit dieser Halbblindheit zur Gefahr für die Entwicklungsmöglichkeiten der Gesellschaft wird. Die „moralische Werthung“ wird, so Nietzsche, zu einem „Spezialfall der realen Unmoralität“.³²⁷ Die Paradoxie, zugleich gut und schlecht für die Gesellschaft zu sein, erforderte in Luhmanns Begriffen eine Entparadoxierung, die es erleichtert, mit ihr umzugehen (Kap. III, 4). Sie bot sich für Nietzsche in der Wertesemantik an, die bis zur Stoa zurückgeht, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts neu lebendig (GG, 341, Fn. 263), bei Hermann Lotze um die Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem zentralen philosophischen Thema und mit Nietzsche selbst berühmt wurde.³²⁸ Luhmann erkannte in ihr, wie er in einem Vortrag für Juristen Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen? von 1993 und wiederum in Politik, Demokratie, Moral von 1997 darlegte,³²⁹ eine

 NL , [], KSA ./KGW IX/, W II , . Vgl. NL , [], KSA ./ KGW IX/, W II , .  Vgl. Hügli/Schlotter/Schaber/Rust/Roughley, Art. Wert. Nietzsche wird hier allerdings sehr knapp und vor allem in der Perspektive Heideggers behandelt, der die Wertesemantik ablehnte. Luhmann wird gar nicht berücksichtigt. Zu Lotze vgl. Schnädelbach, Philosophie in Deutschland  – , Kap. : Werte,  – .  Luhmann hatte sich jedoch schon früh kritisch mit der Wertesemantik auseinandergesetzt; er schloss damit GI ( – ). Seine soziologische Analyse der Wertesemantik und seine Stellung zu ihr hat sich im Lauf seines Werks nicht grundlegend verändert.

6 Die Wertesemantik als Entparadoxierung der Paradoxie der Moral

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moralische Erfindung, um „im Bereich des Handelns ausreichende Spielräume offenzuhalten“ – gerade gegen zu enge moralische Bindungen (MorG, 180). Eine äquivalente Funktion habe zuvor die Heuchelei gehabt, ein beliebtes Thema der Adelsgesellschaft und der Komödie des 17. und 18. Jahrhunderts. Beide, Wertesemantik und Heuchelei, ermöglichen, Handeln als moralisch darzustellen, beide machen, so Luhmann scheinbar zynisch, „einen intelligenten Umgang mit der Paradoxie des binären Codes der Moral“ aus, „der sich als normale Praxis vielfach bewährt hat“.Während aber die Heuchelei „zynisch kommuniziert“ wird,wird von der Wertesemantik „ernsthaft“ Gebrauch gemacht. Zynisch ist ein unmoralischer Umgang mit Moral, und Luhmann stufte die Wertesemantik als „eine Heuchelei zweiter Ordnung“ ein, als „eine Heuchelei mit eingebauter Entheuchelung“ (MorG, 182 f.). Das ist so zu verstehen: Die Semantik moralischer Werte, die die funktional differenzierte Gesellschaft benutzt, verlangt, dass man sich an Werte hält, die als gut gelten, stellt aber frei, an welche. Dass Werte als gut gelten, ist dadurch gesichert, dass es zu jedem Wert einen Unwert gibt, der fraglos abgelehnt wird, zu Frieden Krieg, zu Freiheit Knechtschaft, zu Wohlstand Armut, zu Gerechtigkeit Willkürherrschaft usw. Doch zugleich gibt es „keine festliegende hierarchische (transitive) Ordnung derart, daß bestimmte Werte bestimmten andern immer vorzuziehen sind, Freiheit auf alle Fälle wichtiger ist als Sicherheit, Frieden immer wichtiger als Freiheit, Gerechtigkeit immer wichtiger als Frieden usw.“ (MorG, 182; vgl. GG, 799). Die Werte und Unwerte gibt es in unbestimmter und ungeordneter Menge, „die Werte werden bestimmt, der Wert der Werte bleibt jedoch unbestimmt“. Ihr Komplex wird nicht zu einem System geordnet, in dem sich die Stellung jedes einzelnen Wertes genau festmachen ließe. So kann, darf und muss man unter Werten wählen, und da nicht schon das Handeln als solches moralisch ist, sondern erst seine Ausdeutung, die Zeichenrede, die Kommunikation darüber es dazu erklärt, kann man sein Handeln wahlweise unter dem einen oder dem andern auslegen und darstellen; die Wertepräferenz ist „situationsbezogen, also opportunistisch“ (MorG, 182). So können verschiedene Leute in ähnlichen Situationen Vergleichbares tun und doch die einen nach diesen, die andern nach jenen Werten handeln oder doch sagen, sie handelten nach ihnen; so muss, was nach den einen gut ist, nicht auch nach den andern gut sein, und dennoch handeln alle, soweit sie eben nach generell gutgeheißenen Werten handeln, gut. Mit Werten ist man in der Kommunikation seines Handelns immer auf der sicheren, guten Seite, wie immer man auch handelt; selbst Folter und Kriege sind gegebenenfalls durch ‚höhere‘ Werte zu rechtfertigen. Werte sind so „Orientierungsgesichtspunkte“ (MorG, 243) des Handelns und seiner Rechtfertigung und lassen alles Weitere offen.

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VIII Bindungen der Orientierung

Der Begriff der Orientierung erscheint in Luhmanns Text auch hier nicht zufällig, auch wenn er aufs Neue nicht darauf aufmerksam macht.Werte schaffen, so er selbst, „ausreichende Spielräume“ (MorG, 180) in den Bindungen der Moral, man folgt ihnen oder nicht und folgt ihnen, wenn man ihnen folgt, mehr oder weniger. Sie gebieten nicht, sondern orientieren, es sei denn, man entscheidet sich selbst dafür, sie als strikte Normen zu betrachten und die von den Werten eingeräumten Orientierungs- und Handlungsspielräume auszuschlagen. Die Funktion der Werte, so Luhmann, „liegt allein darin, in kommunikativen Situationen eine Orientierung des Handelns zu gewährleisten, die von niemandem in Frage gestellt wird. Werte sind also nichts anderes als eine hochmobile Gesichtspunktmenge.“ (GG, 341 f.) Man kann, man darf nach alternativen Werten alternativ handeln und wird für alternatives Handeln auch alternative Werte finden. Kommt es dabei doch zu „Wertekollisionen“, kann darüber wiederum „nur ad hoc entschieden werden, weil man die aus der Situation gewonnenen Anhaltspunkte zur Begründung der Werteabwägung braucht“ (MorG, 243). Richter(innen), die das Handeln anderer beurteilen müssen, stehen dann vor einer ‚tragic choice‘, weil für solche Wertentscheidungen keine letzten Gründe mehr zur Verfügung stehen. Umso mehr werden die moralischen Spielräume, die die Wertesemantik im Handeln und seiner Darstellung eröffnet, in der Politik genutzt, und Politiker(inne)n wird dann auch rasch Zynismus in ihrem Gebrauch, also Heuchelei unterstellt. Im moralischen Alltag ist das jedoch nicht grundlegend anders. „Da sich alles Handeln unter positive und unter negative Wertgesichtspunkte bringen läßt, folgt aus der Wertung nichts für die Richtigkeit des Handelns. Das wird oft übersehen, oft wohl auch bewußt vertuscht“: „Man hat nur noch Werte in der Hand – oder im Mund.“ (SS, 433) Man kann die Wertesemantik ihrerseits als Medium der Moralkommunikation ansetzen. Denn Werte werden, eben weil sie Spielräume lassen, sich auf sie zu berufen, ebenfalls wie ein Medium für Formungen der Moralkommunikation weitestgehend als selbstverständlich vorausgesetzt und nur in fraglichen oder strittigen Fällen explizit gemacht. Werturteile laufen, so Luhmann, im kommunikativen Verhalten „per implicationem“ mit: „Man nimmt, wenn davon die Rede ist, daß Rauchen die Gesundheit schädigt, an, daß alle Beteiligten den Positivwert Gesundheit schätzen und nicht den Negativwert Krankheit“, und fragt darum nicht nach – das würde leicht als Wertekritik und Provokation verstanden. „Werte gelten also, das zeigt die Beobachtung real laufender Kommunikation, unbegründet. Dann kann aber auch nicht zu ihrer Begründung aufgefordert werden. Werte eignen sich deshalb in der Praxis als Reflexionsstop.“ (MorG, 241 f.) Man verzichtet, wenn sie zur Sprache kommen, auf weitere Debatten und kehrt rasch wieder zum stummen Medium zurück. Werte, heißt das, orientieren die Kommunikation dann am stärksten, wenn sie nicht debattiert werden. Wertedebatten

6 Die Wertesemantik als Entparadoxierung der Paradoxie der Moral

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werden besonderen Anlässen, z. B. der Abgrenzung von Parteiprogrammen gegeneinander vor Wahlen oder der Erstellung von Compliance-Regeln von Unternehmen, vorbehalten, wo sie der expliziten Darstellung der eigenen Moralität nach innen und außen dienen und doch hinreichend Spielräume zu situationsgerechtem Handeln lassen. Oder sie werden philosophisch angestrengt. Doch auch hier endet man, wenn man versucht, Werte zu begründen, irgendwann wieder bei unbegründeten Werten. „Man operiert gleichsam“, resümierte Luhmann, „im Schutze der Schönheit und Gutheit der Werte und profitiert davon, daß derjenige, der protestieren will, die Komplexität übernehmen muß. Er hat die Argumentationslast. Er läuft Gefahr, innovativ zu denken und sich isolieren zu müssen.“ (SC, 56) Nietzsche hat gegen die traditionellen Wertungen der Werte protestiert, dabei innovativ gedacht und sich damit erst einmal isoliert. Er hat, insbesondere im Blick auf Eugen Dührings populäres Werk Der Werth des Lebens (1865), den erkennbar „unlogischen“ und „ungerechten“ Umgang mit der Wertesemantik kritisiert (MA I 32), sich dadurch aber nicht davon abhalten lassen, die „Entwerthung“ von Werten, ihre „Umwerthung“ und das „Schaffen“ neuer Werte zu Hauptthemen und Aufgaben seines Philosophierens zu machen.³³⁰ Er nutzte die Wertesemantik eben dazu, die angeblich gleiche Verbindlichkeit der einen Moral für alle aufzusprengen und Spielräume für eigene Entscheidungen nicht nur nach Werten, sondern auch über Werte zu eröffnen, und so verstand er sie, bei aller „Fröhlichkeit“ seiner „Wissenschaft“ und gelegentlich bekundeten Bereitschaft auch zum Zynismus,³³¹ im Sinn Luhmanns nicht zynisch, sondern nahm sie ernst. Das zwang ihn, um Heuchelei auszuschließen, zuletzt auf Tugenden der Redlichkeit, der Wahrhaftigkeit, der Echtheit³³² (jetzt: Authentizität) zu pochen, und dies in einer sich unaufhaltsam demokratisierenden Gesellschaft, die er, eben wegen ihrer Angewiesenheit auf die Darstellung von Werten in Rollen, als Schauspieler-Gesellschaft analysierte (Kap. X, 2.3). Aus Nietzsches Notaten kann man jedoch erkennen, dass auch er schon die Wertesemantik als solche in Frage stellte, dann aber die Zweifel wieder fallen ließ. Nach einem Notat von 1887/88, einem Entwurf zu einer Vorrede für ein dann nie geschriebenes Hauptwerk „‚Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werthe‘“, wollte er dort die „Geschichte“ von der „Heraufkunft des Nihilismus“ erzählen und sie in folgender These gipfeln lassen:

 Vgl. die Kontroverse zum Thema „Was heißt und wie kann man ‚Werte schaffen‘?“ und meine Einleitung dazu in den Nietzsche-Studien  (),  – .  Vgl. JGB , MA II Vorrede , FW .  Vgl. v. a. WA, Turiner Brief vom Mai , .

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VIII Bindungen der Orientierung

Denn warum ist die Heraufkunft des Nihilismus nunmehr nothwendig? Weil unsere bisherigen Werthe selbst es sind, die in ihm [dem Nihilismus] ihre letzte Folgerung ziehen; weil er {der Nihilismus} die letzte {zu Ende gedachte} Logik unserer großen Worteerthe u. Ideale ist, – weil wir den Nihilismus erlebten haben müssen, um dahinter zu kommen, was eigentlich der Werth dieser „Werthe“ ist war … Wir haben, irgendwann, neue Werthe nöthig …³³³

Hier scheint er fraglos im Rahmen der Wertesemantik zu bleiben. In einem Entwurf wiederum zu diesem Entwurf aber hatte er noch notiert: der moderne Mensch glaubt versuchsweise bald an diesen, bald an jenen Werth u. läßt ihn dann fallen: der Kreis der überlebten u. fallengelassenen Werthe wird immer voller; die Leere und Armut an Werthen kommt immer mehr zum Gefühl; die Bewegung ist unaufhaltsam – obwohl im großen Stil die Verzögerung versucht ist — Endlich wagt er eine Kritik der Werthe überhaupt; er erkennt die {deren} Herkunft; er erkennt genug, um an keinen Werth mehr zu glauben; das Pathos ist da, der neue Schauder …³³⁴

Das Notat schließt nicht aus, dass Nietzsche auch hier nur an die „bisherigen Werthe“ denkt.³³⁵ Er könnte damit aber auch schon Luhmanns Analyse und Kritik nahe gekommen sein. Danach schafft die Wertesemantik zwar Spielräume für die Umwertung der Werte, entwertet die Werte aber als solche, indem sie deren Verbindlichkeit und Glaubwürdigkeit herabsetzt.³³⁶ Der Wertekrise folgt die Werte-

 NL /, [], KSA . f./KGW IX/, W II ,  f.  NL /, [], KSA . f./KGW IX/, W II , . – Zwischen beiden Entwürfen liegt ein weiterer, sehr stark bearbeiteter und ergänzter, den Montinari nicht abgedruckt hat, am Ende bzw. Anfang (da Nietzsche die Hefte von hinten nach vorn zu beschreiben pflegte) des Notizhefts W II  (KGW IX/, W II ,  – ). Nietzsche hat ihn später mit Haushaltsrechnungen überschrieben. Er bringt ein weiteres aufschlussreiches Detail:Wo im ersten Entwurf in W II  steht „er erkennt genug, um an keinen Werth mehr zu glauben“, heißt es im zweiten Entwurf in W II  „den N[ihilimus] erst erlebt haben müssen, um zu begreifen {argwöhnen}, was {eigentlich} der Werth dieser Werthe ist …“, im dritten (dem zweiten in W II ) „weil wir den Nihilismus erst erleben haben müssen, um dahinter zu kommen, was eigentlich der Werth dieser „Werthe“ ist {war …}“. Nietzsche geht vom Erkennen zum Erleben und vom Glauben zum Argwöhnen – das Begreifen verwirft er gleich – und dann zum Dahinter-Kommen, also Erforschen über. Der Erkenntnisanspruch wird vermindert, der Forschungsanspruch verstärkt.  Vgl. NL /, [], KSA . f./KGW IX/, W II , ; EH Zarathustra ; EH JGB , u.ö.  Auch Heidegger wollte nicht mehr an Werte glauben. Er hatte in seiner Ablösung vom Neukantianismus, der voll auf die Wertesemantik einstieg, eine starke Abneigung gegen sie entwickelt, was er eben damit begründete, dass das bloße Werten das Gewertete schon entwerte. Dabei ging es ihm freilich darum, das Sein in seinem Sein zu belassen (Heidegger, Brief über den ‚Humanismus‘, ). Auf der andern Seite opponiert Hans Joas, dessen Darstellung der Entstehung des philosophischen und soziologischen Wertediskurses selbst der „Wertorientierung“ tief verpflichtet ist, weniger gegen Nietzsche, mit dem er die Darstellung beginnt, als gegen Luhmann,

7 Die höhere Moral der Immoralität

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kritik und der Wertekritik die Krise der Wertesemantik überhaupt. Doch Nietzsche ließ sich nicht mehr weiter auf sie ein, er übernahm den Gedanken nicht in die spätere Abschrift des Entwurfs. Die Rede von der Umwertung der Werte und vom Schaffen neuer Werte wäre sonst ihrerseits leer geworden. So sorgte Nietzsche, der Philosophen wie Kant und Hegel als „Verzögerer par excellence“ angeprangert hatte,³³⁷ hier selbst, wie man von Luhmann aus sehen kann, für eine „Verzögerung“ „im großen Stil“. In AC und EH, die das geplante Hauptwerk dann ersetzten, propagierte Nietzsche stärker denn je die „Umwerthung der Werthe“.

7 Die höhere Moral der Immoralität Gleichwohl stimmten Luhmann und Nietzsche darin überein, dass sie den Wert der bisherigen Werte in Frage stellten. Dies kann, solange die Wertesemantik das Medium der Moralkommunikation ist, wieder nur im Namen von moralischen Werten geschehen. Diese müssen dann als ‚höhere‘ dargestellt werden, bei denen es bleibt,während, unter Berufung auf sie, andere ausgetauscht werden. In diesem Sinn positionierten sich Nietzsche und Luhmann als Immoralisten, proklamierten „Immoralität“ (Nietzsche) oder „Amoralität“ (Luhmann) gegenüber den herrschenden Werten und reklamierten dafür eine „höhere Moral“ (JGB 202). Luhmann betrieb dazu einen beträchtlichen theoretischen Aufwand, beschaffte sich eigens dafür eine „Theorietechnik“ in Gestalt einer „Supertheorie“ (SdM, 7³³⁸; Kap. II, 3.2.7), auf die er anderswo, jedenfalls unter diesem Namen, kaum mehr zurückkam. Die Schwierigkeit und das Ziel war, es mit der Selbstbezüglichkeit der Moral aufzunehmen. Der Begriff oder Name ‚Supertheorie‘, der ähnlich irreführen kann wie Nietzsches Begriff oder Name ‚Übermensch‘ (englisch superman), meint nicht eine Theorie aller Theorien oder schon gar nicht eine Theorie zur Normierung oder Begründung aller Theorien, sondern lediglich eine Theorie, die durch paradoxierende Selbstbezüglichkeit Alternativität generieren und sich dadurch zugleich gegen alternative Theorien immunisieren kann – wie die Moral. Das Selbstinklusionsgebot oder Selbstexemptionsverbot – „Wer Moral einfordert, muß sie auch für sein eigenes Verhalten gelten lassen“ (GG, 242) – ist, so Luhmann, „gleichsam [das] Prinzip der Moral“ (GG, 246); die Supertheorie

der mit seinem „extremen Funktionalismus“ „Wertorientierungen bewusst ignoriere[…] oder reduziere[…]“. Er wertet Luhmanns Ansatz darum einleitend scharf ab und schließt ihn aus der weiteren Darstellung aus (Joas, Die Entstehung der Werte, ).  FW ; NL , [], KSA ./KGW IX/, W II , .  Luhmann und Pfürtner im Vorwort ihres gemeinsam herausgegebenen Bandes Theorietechnik und Moral.

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VIII Bindungen der Orientierung

nimmt es auf. Wenn nun Moral „totalisiert“, sich selbst und alles, was sich gegen sie wendet, (positiv oder negativ) moralisch wertet, einschließlich der Immoralisten oder Amoralisten, so muss eine Supertheorie dieser „Totalisierungsstrategie“ mit einer „Gegentotalisierung“ begegnen. Auch sie verfügt nicht über eine höhere (oder tiefere) Wahrheit, kann ihren „Gegner“ also nicht durch eine Berufung auf die ‚Natur der Sache‘ widerlegen und „ihre eigenen Lernprozesse“ daher nur an ihm „orientieren“ (SdM, 23/ MorG, 73). Dazu muss „eine systemtheoretische Moraltheorie als Supertheorie […] die Begriffe der theoretisierenden Moral ihrerseits rekonstruieren können und muß außerdem noch erklären können, welchen Limitationen der theoretisierende Moralist unterliegt“ (SdM, 43/ MorG, 97). Dessen Limitation ist dann eben die, dass er seine Selbstlimitation durch die Moral, die er vertritt und begründen will, nicht sehen kann und darum unwillkürlich alles moralisiert. Gegentotalisierungsstrategien können dann „historisierend“ verfahren – man weist Moralen und Moraltheorien außermoralische Ursprünge nach, die sie kennen oder nicht kennen oder verleugnen mögen – oder „problemorientiert“ – man weist ihnen nach, dass sie Probleme, die sie lösen sollten oder wollten, nicht gelöst oder gar nicht gesehen haben (SdM, 19/ MorG, 70); beide, Nietzsche und Luhmann, verfolgten, wie dargestellt, beide Verfahren. Diese entziehen dem Gegner, hier also der Moral, auf diese Weise den Boden seiner angeblichen Wahrheit, ohne sich selbst auf den Boden einer anderen Wahrheit zu stellen; sie legen die Theorietechnik des Gegners offen und öffnen sie dadurch für Alternativen. Luhmanns Theorietechnik, andere Theorietechniken zu durchschauen, war die Paradoxierung, noch nicht so sehr in der Soziologie der Moral von 1978, umso mehr aber in der Studie Ethik als Reflexionstheorie der Moral von 1989. Die Paradoxierung entparadoxiert sich selbst durch die Unterscheidung der Beobachtung erster Ordnung von einer Beobachtung zweiter Ordnung (Kap. II, 3.2.5). Während die moralische Beobachtung erster Ordnung spontan eine Handlung oder einen Handelnden nach der Unterscheidung von gut und schlecht oder gut und böse unterscheidet, beobachtet die moralische Beobachtung zweiter Ordnung den Gebrauch der Unterscheidung von gut und schlecht oder gut und böse selbst und reflektiert ihn auf seine Angemessenheit an die Situation und auf seinen Kontext mit anderen Unterscheidungen hin. So kann sie Alternativen zum spontanen moralischen Werten erschließen und es dadurch – im Horizont der Moral selbst – begrenzen. Luhmann gebrauchte dafür den Begriff der „höheren Amoralität“.³³⁹ Er wollte mit ihm anzeigen, „daß auch die Unterscheidung der Moral als Unterscheidung im

 ZdD, ; EPAP, /MorG, ; GG,  f., , , u.ö. Er scheint den Begriff aus dem

7 Die höhere Moral der Immoralität

263

Interesse anderer Unterscheidungen zurückgewiesen werden kann“ (GG, 752, Anm. 299), wohlgemerkt: zurückgewiesen in bestimmten Situationen und Theoriekontexten und nicht, was weder möglich noch sinnvoll wäre, rundweg abgeschafft. So konnte die soziologische Reflexion der Moral, die ja „nicht dem Moralcode, sondern dem Wahrheitscode“ unterworfen ist (Pl, 38/MorG, 265), nicht wie die traditionelle Ethik selbst wieder zu „einem moralischen Unternehmen“ (GG, 1040) werden. Dasselbe Anliegen hatte Nietzsche in der Philosophie. Doch Nietzsche rang, wie an seinen Notaten abzulesen ist, persönlich hart mit dieser „intellektuellen Immoralität“, wie er sie nannte. Aber sie schien ihm „nothwendig, bis zu irgend einem undefinirbaren Grade“, um mit dem „Sinn für Wirklichkeit“ voranzukommen:³⁴⁰ Man hat gut reden von aller Art Immoralität! Aber sie aushalten können! Z. B. würde ich ein gebrochenes Wort oder gar einen Mord nicht aushalten: langes oder kürzeres Siechthum und Untergang wäre mein Loos! ganz abgesehen vom Bekanntwerden der Unthat und von der Bestrafung derselben.³⁴¹

Er musste sich „die ganze Immoralität“ erst „erobern“, der eigenen Moralität abringen. Er orientierte sich dabei am Vorbild der „Immoralität des Künstlers in Hinsicht auf [s]einen Stoff“, der für ihn nun freilich die „Menschheit“ war;³⁴² „es könnte sein“, beteuerte er sich widerstrebend selbst, „daß ich die ganze Immoralität brauchte, um im großen Sinne zu nützen“.³⁴³ Sie hat, schrieb er dann in JGB, „das Herz“ gegen sich: schon eine Lehre von der gegenseitigen Bedingtheit der „guten“ und der „schlimmen“ Triebe, macht, als feinere Immoralität, einem noch kräftigen und herzhaften Gewissen Noth und Überdruss, – noch mehr eine Lehre von der Ableitbarkeit aller guten Triebe aus den schlimmen. (JGB 23)³⁴⁴

Um eine Rechtfertigung für die notwendige Immoralität zu finden, kehrte er schließlich die Beweislast um: Diese Immoralität wäre dann „eingeordnet u. Titel Hansjörg Lehner/Georg Meran/Joachim Möller, De statu corruptionis: Entscheidungslogische Einübungen in die Höhere Amoralität, bezogen zu haben, den er SS, , zitiert. Vgl. (kritisch) Neckel/Wolf, The Fascination of Amorality.  NL /, [D], KSA ..  NL , [], KSA ..  NL , [], KSA ..  NL , [], KSA ..  Vgl. ferner die auf JGB folgenden Notate NL /, [], KSA ./KGW IX/, N VII , ; NL /, [], KSA . [noch nicht in KGW IX]; NL /, [], KSA . [noch nicht in KGW IX]; NL , [], KSA ./KGW IX/, W II ,  f., in denen Nietzsche auch den Nihilismus berührt.

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VIII Bindungen der Orientierung

gleichgeordnet in Hinsicht auf […] die Grund-Immoralität alles Daseins, – als eine Luxus-form ersten Ranges, die dedaigneuseste {hochnäsigste}, kostspieligste {theuerste} u. seltenste Form des Lasters“.³⁴⁵ Das kommt wiederum Luhmann sehr nahe.Wie schwer ihm die Amoralität fiel, lässt sich nicht sagen; Äußerungen dazu liegen nicht vor. Dass er von „höherer Amoralität“ sprach, verweist in jedem Fall auf sein höheres moralisches Interesse an der dargestellten Begrenzung der Moral gegenüber den „Codierungen“ der Funktionssysteme (Pl, 24/MorG, 259; MorG, 172, 188). Er unterschied vom „engen Zirkel einer Ethik“, die sich auf die gute Seite der Moral beschränkt, den „weiten Zirkel“ der soziologischen Systemtheorie, die als Supertheorie eben die Beschränktheit einer solchen Ethik aufweisen sollte. Es war ihm dennoch klar, dass er sich als Theoretiker auf diese Weise wohl einer herrschenden Moral und doch nicht der Moral überhaupt entziehen konnte, einfach weil er in seiner Person Teil der Kommunikation der Gesellschaft und damit auch ihrer Moralkommunikation blieb: „Wer über Moral forscht, kann […] nicht vermeiden, dies als gesellschaftliche Kommunikation zu tun. Insofern zumindest kommt auch er in seinem Gegenstandsbereich wieder vor.“ Er hat dann zwar die „Wahl“ zwischen den beiden „selbstreferentiellen Zirkeln“ (Pl, 35/MorG, 264), dem engen und dem weiten. Sofern er aber im weiten als Theoretiker auftritt, bleibt er der Wissenschaft verpflichtet und steht dabei ebenfalls, um an Nietzsches Argument zu erinnern (Einl., 1.1; Kap. VII, 3.2.4), auf deren „Boden der Moral“, der von der Wissenschaft geforderten „Selbstlosigkeit“, dem Absehen von der eigenen Persönlichkeit (FW 344). Nietzsche zog daraus die Konsequenz, dass man der Moral das Vertrauen nur „aus Moralität“ kündigen könne: „auch wir gehorchen noch einem strengen Gesetze über uns, – und dies ist die letzte Moral, die sich auch uns noch hörbar macht“ (M Vorrede 4). Wenn Luhmann an dieser Stelle sich selbst einwandte, dennoch sei ja die Gesellschaft als ganze „kein möglicher Gegenstand moralischer Bewertung“, sei „als das umfassende System aller Kommunikationen […] weder gut noch schlecht, sondern nur die Bedingung dafür, daß etwas so bezeichnet werden kann“ (Pl, 39/MorG, 265), der Horizont der Beobachtung der Moral also nicht mit deren Horizont zusammenfalle, so wird man dagegenhalten müssen, dass Gesellschaft als solche, weil Menschen eben ohne sie nicht leben können, für sie unweigerlich etwas Gutes und auch ihr Begriff damit schon moralisch besetzt ist. (Die meisten) Menschen können nicht anders, als Gesellschaft für gut zu halten, und so ist auch eine Gesellschaftstheorie zunächst einmal etwas Gutes (selbst für Rousseau). So kann der Immoralismus bei moralischen Menschen

 NL , [], KSA ./KGW IX/, W II , .

8 Ethik der Distanz

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zuletzt nur ein methodischer sein (Einl., 1.1), der Vorsatz, das eigene Denken laufend daraufhin zu beobachten, ob es unbeobachteten Vorgaben der eigenen Moral erliegt. So verfuhr Nietzsche, im Wissen, dass auch in diese Selbstkontrolle wieder moralische Selbstlosigkeit eingebaut ist.

8 Ethik der Distanz Im Horizont der höheren Moral der Immoralität oder Amoralität hat die ‚Kritik‘ der Moral den kantischen Sinn der Begrenzung der Moral. Sie bleibt selbstbezüglich wie Kants Kritik der Vernunft durch die Vernunft selbst, macht bei Nietzsche und Luhmann aber keinen Gebrauch mehr von der Vorgabe der Vernunft, sondern nur noch vom Selbstbezug der Moral selbst. Luhmann nannte die selbstbezügliche Reflexion der Moral „Ethik“ oder „ethische Reflexion der Moral“ (Pl, 7/MorG, 253) und die Theorie ihres Selbstbezugs „Ethik als Reflexionstheorie der Moral“ (ERM, 358/MorG, 270).³⁴⁶ Sie kann sich ‚supertheoretisch‘ von der Moral distanzieren,von der sie ausgeht, und so Alternativen zu dieser Moral entwerfen. Im Sinn dieser Distanzierung der Moral von sich selbst willen ist es dann, so Luhmanns berühmtes Statement in seiner Hegel-Preis-Rede von 1989, „die vielleicht vordringlichste Aufgabe der Ethik, vor Moral zu warnen“ (Pl, 41/MorG, 246).³⁴⁷ Nietzsche hatte notiert: „Man soll das Reich der Moralität Schritt für Schritt verkleinern u. eingrenzen […]. Die Gebiets-Verkleinerung der Moral.: ein Zeichen ihres Fortschritts.“³⁴⁸ Damit traten beide bewusst gegen die herkömmliche philosophische Ethik an. Luhmann sah es als Soziologe nicht als seine Aufgabe an, selbst eine Normen und Werte vorgebende und begründende Ethik zu entwerfen und damit der philosophischen Ethik ein „Übernahmeangebot“ machen (MorG, 191). Dennoch stand er nicht an, sie auf Defizite hinzuweisen, die sich mit systemtheoretischer Unterscheidungstechnik an ihr beobachten ließen, und ihr Probleme vorzulegen, denen sie sich stellen müsse, wenn sie sich auf die Realität der Gesellschaft

 Überflüssig zu sagen, dass ‚Ethik‘ auf vielfältige Weise definiert werden kann und wird. Wir versuchen das weite Spektrum ihrer Bestimmungen so einzufangen, dass wir sie als philosophische oder andere wissenschaftliche, aber auch alltägliche Reflexion der Moral eines Individuums, einer Gruppe oder einer Gesellschaft verstehen, die ihre begrifflichen Mittel und logischen oder nicht-logischen Ordnungen analysiert, sie beschreibt oder begründet, orientiert oder normiert, sei es zur Bekräftigung ihrer Werte oder zu ihrer Neuausrichtung. In dieses Spektrum fügen sich auch Nietzsches und Luhmanns Verständnisse des Begriffs ‚Ethik‘ ein.  Vgl. ERM, /MorG, .  NL , [], KSA ./KGW IX/, W II ,  f.

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einlassen wolle, die sie aber nicht in den Blick bekomme, wenn sie beim bloßen Analysieren moralischer Begriffe und beim Begründen moralischer Normen und Werte bleibe: Konzentriert auf Fragen der moralträchtigen Begründung moralischer Urteile hat die Ethik den Bezug zur gesellschaftlichen Realität verloren. Vielleicht ist das der Grund, weshalb sie als interessenunabhängige Instanz gefragt ist. Aber wie kann Ethik in Angelegenheiten einer Gesellschaft urteilen, die sie nicht kennt? (Pl, 36/MorG 264)

„Begründung der Moral“ sei ohnehin ein „paradoxes Unternehmen“: Da Begründungen immer Gegengründe zu berücksichtigen haben, „sabotiert sich“ eine Ethik, die sich darauf versteift, „laufend selbst, indem sie den Zugang zu anderen Möglichkeiten eröffnet, wo sie ihn verschließen möchte“ (ERM, 360/MorG, 272). Sie verunsichert die Moral, die sie sichern will. Denn „alle Begründungsversuche“ werden zu „Operationen, die Notwendigkeit suchen und Kontingenz erzeugen“ (ERM, 446/MorG, 346). Stattdessen sei es „in dieser Situation sinnvoll, in der Reflexion der Moral nicht von Einheit auszugehen, sondern von Differenz, und nicht von Gründen oder Prinzipien, sondern von Problemen; und zwar von Problemen, an denen die Frage aufbricht, ob man ein Verhalten moralisch beurteilen solle oder nicht“ (MorG, 374). Luhmann sah das Problem der Ethik also nicht in der Begründung, sondern in der Begrenzung der Moral. In seiner Hegel-Preis-Rede spezifizierte er vier solcher Probleme; die ersten drei haben wir bereits erörtert. Das erste bezieht sich auf die Reichweite moralischer Inklusion: „Moralische Inklusion also wie gehabt, aber ohne moralische Integration des Gesellschaftssystems.Was könnte eine Ethik dazu sagen?“ (Pl, 25/ MorG, 260) Das zweite zielt auf den „polemogenen Ursprung“ der Moral: „darf man der Ethik dann raten, Moral umstandslos für moralisch gut zu halten?“ (Pl, 27/ MorG, 260) Das dritte betrifft den paradoxierenden negativen Selbstbezug der Unterscheidung von gut und schlecht oder gut und böse: „Soll die Ethik dann zu gutem oder zu schlechtem Handeln raten?“ (Pl, 28/MorG, 261) Alle drei Problemstellungen sind sichtlich an Habermas’ Diskursethik adressiert, soweit sie es nach wie vor für fraglos gut hält, die Gesellschaft im Ganzen durch Moral zu integrieren. Das vierte Problem jedoch stellt sich im weiteren Horizont der ökonomischen und ökologischen Zukunftssicherung, in dem alle Entscheidungen für die Gegenwart zu einem unübersehbaren Risiko für die Zukunft werden können. Gebietet man dann moralisch, alle solchen unübersehbaren Risiken zu vermeiden, wozu Hans Jonas in Das Prinzip der Verantwortung riet, wird auch dies zu einem riskanten Verhalten, wenn dadurch chancenreiche Möglichkeiten der Zukunftssicherung ausgeschlossen werden. Da es in allen die Zukunft betreffenden Dingen kein „nichtriskantes Verhalten“ gibt, fragte Luhmann: „wie soll die

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Übernahme von Risiken mit Achtungserweis oder mit Achtungsentzug sanktioniert werden, wenn es gar kein nichtriskantes Verhalten gibt und die Ethik, bislang jedenfalls, keine konsensfähigen Kriterien entwickelt hat?“ (Pl, 41/MorG, 266) Wenn eine Ethik, die in der Gegenwart die Zukunft sichern will, die sie doch nicht kennen kann, genötigt ist, die Moral selbst als Risiko zu sehen, muss sie sich auf bleibende Ungewissheit und eigenen Veränderungsbedarf einstellen, darf sie also auch in der Ethik keinen festen Boden zu suchen, um auf ihm Halt zu fassen. Stattdessen ist, so Luhmann, eine „entscheidungstheoretische Analyse“ angesagt, die davon ausgeht, dass „Moralfragen unentscheidbar“ sind – und eben deshalb entschieden werden müssen, ohne dass es dafür „eine letzte, hieb- und stichfeste Begründung“ gäbe. So lasse sich das moralische Unterscheiden „in ein Optimierungsprogramm verwandeln […]: soviel Sünde wie nötig, soviel Gutes wie möglich.“ (MorG, 178) Es schließt dann auch die Kriterien der moralischen Beurteilung ein: Denn kann man ein unerwünschtes Geschehen oder Verhalten langfristig nicht ändern, steht man vor der schon genannten Alternative, Normen gegen es geltend zu machen und auf ihnen zu bestehen oder sich auf es einzustellen und seine Wünschbarkeiten zu ändern, also daraus zu lernen oder nicht. Gesteht man zu, dass es keine festen Anhaltspunkte des Moralischen, keine absoluten Gründe gibt, wird man eher zu moralischen Umorientierungen bereit sein. Verhalten und Kriterien werden dann in einem „Kontrollzirkel“ laufend wechselseitig abgeglichen: „Wenn das Verhalten Kriterien folgen soll, müssen die Kriterien dem Verhalten folgen.“ (MorG, 178) Nicht nur die Moral, auch die Ethik bleibt im Fluss. Sie gewinnt dann Spielräume, von Situation zu Situation darüber zu entscheiden, ob es gut oder nicht gut ist, sich in moralischer Kommunikation zu engagieren, und so auf komplexere moralische Situationen moralisch komplexer zu reagieren, und der Wert einer Ethik liegt dann darin, wieweit sie im Blick auf wechselnde Orientierungssituationen reflektiert über den Wert der jeweils herangezogenen Werte entscheiden kann. Sie wird, heißt das, zu einer in diesem Sinn orientierenden Ethik und ethischen Orientierung.³⁴⁹ Sie wiederum fordert, dass, um Luhmann weiter zu folgen, der moralische Code, die Unterscheidung von gut und schlecht oder gut und böse, als solcher erkennbar sein muss: Es muss dann einen „unsichtbaren ‚dritten Wert‘“ geben, „mit dem der Code sich selbst bezeichnet“, so etwas wie „einen Einschaltungswert bzw. einen Ausschaltungswert“. Auch das, monierte Luhmann, „scheint der [philosophischen] Ethik unbekannt geblieben zu sein“, und wenn die Ethik versage, müsse die Soziologie diesen dritten Wert entdecken. Er hielt sich hier sei-

 Zur Konkretion vgl. Stegmaier, Niklas Luhmanns Systemtheorie und die Ethik,  – , und Philosophie der Orientierung,  – .

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nerseits an Gotthard Günther, nach dem die Gesellschaft „transjunktionale Operationen“ benötige, die darüber entscheiden, welche Codierungen jeweils ins Spiel kommen (MorG, 185 f.; GG, 1043). Luhmann benannte den dritten Wert, soweit ich sehe, selbst nicht. Er liegt jedoch sehr nahe, nämlich eben in der Distanz zu beiden Werten der Unterscheidung in der moralischen Beobachtung zweiter Ordnung, der ethischen Orientierung, und dem Spielraum, den sie in der moralischen Orientierung als Beobachtung erster Ordnung schafft, mit den Werten gut und schlecht oder gut und böse zu operieren oder nicht. Der dritte Wert wäre dann die Orientierungsentscheidung über die Wahl der Werte anhand der Anhaltspunkte, die die Orientierungssituation jeweils bietet (Kap. I, 3.3). Der signifikanteste Anhaltspunkt und ‚Einschaltungswert‘ für moralische Orientierung ist, nach unserem Ausgangspunkt in diesem Kapitel, eine Not anderer, der ‚Ausschaltungswert‘ der Rückgang oder die Behebung der Not. Die moralische Nötigung der Orientierung, anderen in ihren Nöten beizuspringen, die alle übrigen Spielräume der Orientierung schließt, wird mit der Zeit ihrerseits vielfach perspektiviert, und die gewohnten Spielräume der Orientierung werden wieder zurückgewonnen.³⁵⁰ Der Code der reflektierten ethischen Orientierung wäre dann etwa ‚moralisch hilfreich/moralisch nicht hilfreich‘. Nietzsche brauchte keine Supertheorie, um sich von der Moral zu distanzieren, und er formulierte auch keine Ethik aus. Er verwendete den Begriff ‚Ethik‘ zwar häufig, aber wie den der Moral meist kritisch und je später, desto mehr. Schon er bedachte „Moralphilosophen“, die „die Ethik endgültig zu fundamentiren“ suchten, mit Spott; „ohne dies, fühlen sie, hat man kein Recht zum großen Pathos, zu schönen Attitüden als Politiker und Socialist“.³⁵¹ „Alle bisherige Ethik“, notierte er später, „ist grenzenlos beschränkt und lokal: blind und verlogen gegen die wirklichen Gesetze außerdem noch.“³⁵² Künftige Ethiken müssten sich von solchen Beschränkungen erst befreien.³⁵³ Für die ethische Reflexion der Moral im

 Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung,  – .  NL , [], KSA ..  NL , [], KSA ..  Nachträglich sind vielfache Ethiken Nietzsches formuliert worden, naturgemäß aus unterschiedlichsten Perspektiven. Wir können sie hier nicht aufführen. Heroische Ethiken des Willens zur Macht, des Übermenschen und der ewigen Wiederkunft sind inzwischen zurückgetreten, Nietzsches Immoralismus, seine Kritik des Mitleids und der Vorgabe der Willensfreiheit, sein Problem der Rangordnung, sein ‚Perfektionismus‘, die von ihm stark gemachten Tugenden, die Ermöglichung und Beschränkung des moralischen Handelns durch das Ressentiment, die unbegrenzte Verantwortlichkeit und Unverantwortlichkeit des Handelnden, die Lebenskunst, der amor fati, die ethische Souveränität und zuletzt Menschenrechts- und Umweltfragen rückten in den Vordergrund und mit ihnen statt der pathetischen Lehrdichtung Also sprach Zarathustra die Aphorismenbücher und die kritischen Abhandlungen Zur Genealogie der Moral.

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Sinn Luhmanns reichte Nietzsche die Vielzahl und das Gegeneinander perspektivischer Moralen aus. Die Moral, gegen deren Alleinherrschaftsanspruch er vor allem antrat, war für ihn bekanntlich die christliche Moral, in deren Grenzen weitgehend auch die traditionelle philosophische Ethik blieb. Auch sie wollte er, wie er immer wieder andeutete und später ausdrücklich notierte, keineswegs „vernichten“: Ich habe dem christl. Ideal {bleichsüchtigen „Christen-Ideale“} den Krieg erklärt (sammt dem, was ihm naheverwandt ist), nicht in der Absicht, es zu vernichten, sondern nur um seiner Tyrannei ein Ende zu setzen u. {den} {einen} Platz frei zu bekommen für einige {neue} Ideale, mehr {auf Erden} {vor allem für ein für} robustere Ideale, um mich handgreiflich auszudrücken … Die Fortexistenz{dauer} des christl. Ideals gehört zu den wünschenswerthesten Dingen, die es giebt: u schon um der Ideale willen, die neben ihm u. vielleicht über ihm ihr Recht auf Dasein gelten machen – denn diese {sich geltend machen wollen – sie} müssen Gegner {starke Gegner} haben, um stark zu bleiben {werden}. {— So brauchen} Wir Immoralisten brauchen die Macht der Moral: unser Selbsterhaltungstrieb will, daß unser Gegner mächtig {bei Kräften} bleib{en], – Ich will nur Herr über sie werden. –³⁵⁴

Jede Moral sorgt mit der Zeit selbst für ihre Gegner, schafft Distanz zu sich durch die, die sie ausschließt, die „Abweichenden, welche so häufig die Erfinderischen und Fruchtbaren sind“ (M 164). Sie sind fruchtbar mit ihren Erfindungen eben in neuen Perspektiven auf die Moral, Perspektiven, die die Moral sich selbst „aus Moralität“ aufheben lassen (M Vorrede 4). Herr über seinen Gegner werden aber hieß in Nietzsches agonistischem Perspektivismus nicht nur das Perspektivenaus-und-einhängen-Können (Kap. II, 3.1.3; IV, 2), sondern in Bezug auf die Moral „das Perspektivische in jeder Werthschätzung“ und „die nothwendige Ungerechtigkeit in jedem Für und Wider begreifen lernen“ (MA I Vorrede 6). Nietzsche konnte dabei zuletzt auf sein eigenes Beispiel zurückblicken: Es habe sich gezeigt, dass er es „in der Hand“ habe, dass er „die Hand dafür“ habe, „Perspektiven umzustellen: weshalb für mich allein eine Umwerthung der Werthe überhaupt möglich war“.³⁵⁵ Perspektiven umzustellen und Werte umzuwerten war seine Hauptarbeit vor allem in seinen Aphorismenbüchern, in denen jeder Aphorismus gezielt die übrigen perspektiviert. Das wurde und wird von Ethikern, auch denen, die aus Nietzsches Werk eine wohlbegründete Ethik abziehen wollen, meist als ambivalent und widersprüchlich wahrgenommen. Aber auch Nietzsche wollte sichtlich nicht auf ein System der Ethik hinaus. Stattdessen entwarf er gegen das christlich-asketische ein „andres Ideal“,

 NL , [], KSA ./KGW IX/, W II , .  NL , [], KSA ./KGW IX/, W II , .

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ein wunderliches, versucherisches, gefahrenreiches Ideal, zu dem wir Niemanden überreden möchten, weil wir Niemandem so leicht das Recht darauf zugestehn: das Ideal eines Geistes, der naiv, das heisst ungewollt und aus überströmender Fülle und Mächtigkeit mit Allem spielt, was bisher heilig, gut, unberührbar, göttlich hiess; für den das Höchste, woran das Volk billigerweise sein Werthmaass hat, bereits so viel wie Gefahr,Verfall, Erniedrigung oder, mindestens,wie Erholung, Blindheit, zeitweiliges Selbstvergessen bedeuten würde; das Ideal eines menschlich-übermenschlichen Wohlseins und Wohlwollens, das oft genug unmenschlich erscheinen wird, zum Beispiel, wenn es sich neben den ganzen bisherigen ErdenErnst, neben alle Art Feierlichkeit in Gebärde, Wort, Klang, Blick, Moral und Aufgabe wie deren leibhafteste unfreiwillige Parodie hinstellt (FW 382).

Bedingung, um einem solchen Ideal zu folgen, war, was Nietzsche „Pathos der Distanz“ genannt hat (Kap.V, 4.3; VI, 3.1).³⁵⁶ ‚Distanz‘ steht, um es zu wiederholen, gegen ‚Differenz‘, gegen die begriffliche Unterscheidung: andere moralische Orientierungen sind gerade darin anders, dass sie für mich nicht zu begreifen sind und darum ein ‚Pathos‘ bleiben. Respektiere ich sie dennoch, wird die Distanz zur Selbstdistanz und mein eigenes Pathos zum „Verlangen nach immer neuer Distanz-Erweiterung innerhalb der Seele selbst“ (JGB 257). Ethisch im genannten Sinn werden dann in der eigenen Orientierung unterschiedliche moralische Orientierungen aneinander reflektiert, wird auf gleiche moralische Bindungen und auf Gegenseitigkeit verzichtet. Nietzsche nannte das und man nennt es heute noch ‚vornehm‘; das „Pathos der Distanz“ ist ein „Pathos der Vornehmheit und Distanz“ (GM I 2). Die ethische Vornehmheit beginnt damit, dem bloßen „moralischen Gefühls-Impuls {welcher hier Unterwerfung u. nicht Kritik verlangt} mit der Frage: warum? Halt [zu] gebieten“ und „die mor. Werthschätzungen selbst einer Kritik [zu] unterziehen“. Dies „Verlangen nach einem ‚Warum?‘, nach einer Kritik der Moral“, ist die „jetzige Form der Moralität selbst“, „ein sublimer Sinn der Redlichkeit {die sublimste Art von Rechtschaffenheit}“.³⁵⁷ Es drängt zu einer reflexiven, selbstkritischen, höheren Moral im Umgang mit Moral.³⁵⁸ Sie kann sich steigern bis zur ethischen Souveränität. Nietzsche fasste sie als „autonome“ Übersittlichkeit des Individuums (GM II 2), das zu Wertschätzungen von Wertschätzungen unabhängig von den eigenen moralischen Bindungen imstande ist. Sie setzt, wie Nietzsche schon in MA I „zur Beruhigung“ vermerkt hatte, einen Menschen voraus, der „auf Vieles, ja fast auf Alles, was bei den anderen Menschen Werth hat, ohne Neid und Verdruss verzichten“ kann, dem „als der wünschenswertheste Zustand jenes freie, furchtlose Schweben über Menschen, Sitten, Gesetzen und den herkömmlichen Schätzungen der Dinge genügt“ (MA I

 Zum Sinn des Pathos der Distanz für die Persönlichkeit vgl. Kap. XI, .  NL /, [], KSA . f./KGW IX/, W I , .  Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, Kap. .

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34). So eröffnet er neue Spielräume der moralischen Orientierung und kann darin anderen zum Zeichen werden, das sie wiederum in ihren Spielräumen verstehen werden. Auch Luhmann sprach von ethischer Souveränität – eben jenes „moralisch gedeckten“ „Verzichts der Moral auf Codierung der Funktionssysteme“. Eine in diesem Sinn souverän gewordene Moral verzichtet darauf, in die Optionen einzugreifen, die die Zwei-Werte-Codes der Funktionssysteme offenhalten. Sie verzichtet darauf, als Selektionsprogramm in Schulen, als politisches Programm, als Wirtschaftsprogramm etc. zu operieren; und, um dies zu wiederholen: sie beurteilt sich selber in dieser Hinsicht moralisch und würde ein zu weit getriebenes Moralisieren mit Interventionen in die Funktionssysteme selber moralisch mißbilligen. Eine Moral dieses Typs verlangt Souveränität für die eigene Entscheidung über ihre eigene Anwendung und Nichtanwendung. Sie reagiert damit auf die Tatsache der funktionalen Differenzierung des Gesellschaftssystems. (MorG, 168)

Sie wäre in Nietzsches Sinn eine gelungene vornehme Moral, nicht mehr nur Einzelner, sondern inzwischen ganzer moderner Gesellschaften, jedenfalls mancher.

IX Überlegene Orientierung: Nietzsches, Luhmanns und Foucaults Entmoralisierung der Macht und die Kontexte der Demokratie Gesellschaft kommt nicht ohne Moral, aber auch nicht ohne Macht aus.Weil Macht sich über Moral hinwegsetzen kann, hält Moral sie für böse. Aber Macht kann auch willkommen sein und moralisch begrüßt werden, und Moral kann auch ihrerseits zur Macht werden. Das Verhältnis von Moral und Macht ist darum eines der schwierigsten und beunruhigendsten Probleme und eines der ältesten dazu. Nietzsche und Luhmann wurde es zu einem zentralen Thema. Beide sahen sich genötigt, auch der Macht gegenüber der Moral zu ihrem Recht verhelfen und sie zu entmoralisieren; Luhmann nahm dabei ihre Begrifflichkeit auf die des Einflusses zurück. Wir gehen, um zu zeigen, wie es zu ihrer Moralisierung kommt, auf den Ursprung der Macht in der Orientierung selbst zurück. Denn sofern es ihre Leistung ist, Orientierungssituationen zu ‚bewältigen‘ und zu ‚beherrschen‘, ist Orientierung von Anfang an, in jeder Situation auch ein Machtgeschehen. Als situative ist sie amorph, kann jedoch, als organisierte, feste Form annehmen und, als routinemäßig eingespielte, wieder unmerklich, latent werden. Theorien fixieren Merkliches, Orientierung schließt dagegen Beweglichkeit und Unmerklichkeit ein. So wird Macht erst von ihr aus in ihrem ganzen Spektrum verständlich. Die situative Macht hatte besonders Nietzsche mit seiner Philosophie der Willen zur Macht (1), die organisierte Macht Luhmann mit seiner soziologischen Systemtheorie (2), die latente Macht Foucault mit seiner Archäologie der MachtDispositive im Auge (3). Wir beziehen in diesem Kapitel darum Foucault ein. Alle drei verhelfen zu einem freieren Blick auf die Funktion oder Funktionen der Macht in der Gesellschaft. So werden auch die Funktionen der Macht in Demokratien besser verständlich. Wir loten in einem 4. Abschnitt deren Kontexte aus, um im folgenden Kapitel (X) dann Nietzsches und Luhmanns Kontextualisierungen der Demokratie zu verfolgen.

1 Situative Macht 1.1 Max Webers Bestimmung der Macht Max Weber, von dem die meistdiskutierte Definition der Macht stammt, nach der sie „jede Chance“ bedeutet, „innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen

1 Situative Macht

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Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“, hat in seiner „Soziologischen Kategorienlehre“ zugleich verzweifelt hinzugefügt, der Begriff Macht sei „soziologisch amorph“, also nicht zu bestimmen, was ihn dazu brachte, auf den „präziseren“ Begriff der Herrschaft auszuweichen, die zur Gewalt werden kann und gelegentlich auch werden muss.³⁵⁹ Das hat bedenkliche Folgen für das Verständnis der sozialen Beziehungen, insbesondere aber der Demokratie, in denen ebenfalls Macht ausgeübt, Herrschaft und erst recht Gewalt aber zunehmend problematisch wird. Geht man auf die Orientierung zurück, sieht man, dass die Macht zunächst amorph sein muss.Wenn es in ihr darum geht, eine Situation zu ‚bewältigen‘ und zu ‚beherrschen‘, ist sie ursprünglich ein Macht-, aber selten ein Herrschafts- und niemals ein gewaltsames Geschehen, und da Orientierung für Lebendiges immer und überall vonnöten ist, muss sie amorph sein, um wechselnde Formen annehmen zu können. Beginnt aber alles Verhalten, einschließlich des Denkens und Handelns von Menschen, mit Orientierung, so beginnt alles Verhalten auch mit Macht.

1.2 Problematische Wesensbestimmungen der Macht Es wird dann schon zum Problem, so etwas wie ein Wesen der Macht zu bestimmen. Wesensbestimmungen sind als Festlegungen, wie wir nach Nietzsche, Luhmann und Foucault wissen können, ihrerseits schon Machtausübungen; es gibt keine Theorie der Macht, die nicht selbst einer Macht unterliegt.³⁶⁰ Es empfiehlt sich darum auch nicht, auf Anthropologie zurückzugehen.³⁶¹ Denn zum einen waren gerade Bestimmungen des Menschen nie frei von Interessen, ein bestimmtes Bild des Menschen durchzusetzen, und zum andern reicht Macht

 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft,  – . Weber sieht darin das einzige Wesensmerkmal „politischer Verbände“, insbesondere des Staates.Wo politischen Verbänden Gewaltsamkeit nicht zu Gebote steht wie Parteien oder politischen Clubs, nennt er ihr Handeln „politisch orientiert“.  Das gilt auch für den sanften Versuch von Han, Was ist Macht?, vor einem heideggerschen Hintergrund Festlegungen der Macht zu vermeiden. Er umschreibt sie metaphorisch als „Machtraum“, in den sich das „Selbst“ von „Machthabern“ „kontinuiere“. Raum ist freilich eine Metapher für bleibenden Bestand, und für das Selbst, das sich in anderes kontinuiert, und für sein „Haben“ der Macht muss Han wieder ontologische Vorannahmen reaktivieren. Carl Schmitt hat die Frage, ob auch hinter seiner Theorie der Macht eine Macht steht, zu Beginn seines von ihm selbst inszenierten Gesprächs über die Macht und den Zugang zum Machthaber ausdrücklich gestellt – und beiseitegeschoben ().  Nach Plessner, Macht und menschliche Natur, empfiehlt das besonders Anter, Theorien der Macht, in seiner Überblicksdarstellung.

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IX Überlegene Orientierung

offensichtlich weit über Menschen hinaus und tritt vergleichbar bei allem Lebendigen auf. Man muss die Macht also auch in der Theorie vor der Theorie ansetzen, als etwas, das durch eine Theorie, die auf Wesensbestimmungen aus ist, nicht nur nicht einzuholen ist, sondern im Ansatz schon verengt wird. Das erfordert eine andere Reflexionsform. In der Theorie vor die Theorie zurückzugehen erlaubt die Selbstbezüglichkeit der Orientierung (Kap. II, 1), für die Theorie ein Orientierungsmittel unter anderen ist (Kap. III, 6; VII, 3). Man wird dann auch zurückhaltend sein mit einfachen Festlegungen und Gegensätzen wie Machthaber und Machtunterworfener, Mächtiger und Ohnmächtiger, Starker und Schwacher usw. und nicht von einer substantiellen, sondern einer graduellen Differenz ausgehen, also von Mächtigeren und weniger Mächtigen oder Überlegenen und Unterlegenen in einer Beziehung, die jeweils unterschiedliche Formen annehmen kann.

1.3 Macht in der Orientierung Dass die Macht eine Beziehung darstellt, ist weitgehend unstrittig. Sie ist jedoch eine Beziehung, die nicht akzidentiell, sondern konstitutiv ist für die durch sie aufeinander Bezogenen. In einer Machtbeziehung verändert sich etwas in seinem Dasein und in seinem Selbstbezug, wenn es durch sie, wovon Nietzsche ausging, nicht überhaupt erst Gestalt annimmt. Die Bezogenen müssen darum von der Beziehung, nicht die Beziehung von den Bezogenen her verstanden werden. Sie sind also nicht schon als Seiendes, Subjekte, Menschen, in aktuellen Begriffen Entitäten, Identitäten usw. zu fassen (Kap. IV und V), deren Begriffe nicht an Macht denken lassen und auch nicht denken lassen sollen, sondern eben als sich aneinander orientierende Orientierungen, die zu ihrer wechselseitigen Festlegung dann auch Begriffe wie Subjekt, Entität, Identität usw. gebrauchen können. Dabei orientieren sich in einer Machtbeziehung beide Seiten offensichtlich anders, je nachdem, auf welcher Seite der Machtbeziehung sie sich sehen.

1.4 Macht der überlegenen Orientierung in Notsituationen Im Orientierungsgeschehen müssen laufend unter Ungewissheit und meist unter hohem Zeitdruck Orientierungsentscheidungen getroffen werden, von denen abhängt, ob man die jeweilige Situationen bewältigt oder von ihr bewältigt, ‚überrannt‘ wird. So steht die Macht in ihnen nie fest. Wird man von einer Orientierungssituation überrannt, kann man handlungsunfähig werden und in große Nöte kommen. Was dabei als Not empfunden wird, hängt jedoch von den jeweiligen

1 Situative Macht

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Orientierungsdispositionen zur fraglichen Zeit ab. Orientierungssituationen sind mehr oder weniger stark empfundene Notsituationen, die man in Machtsituationen zu kippen sucht. Die Macht (oder Ohnmacht) entsteht dann kontingent und bleibt prekär. Das gilt auch und in besonderem Maß, wenn mehrere Orientierungen im Spiel sind, die in einer bestimmten Situation einander überlegen oder unterlegen sind, wenn die Macht über die Situation also von Machtbeziehungen unter den Orientierungen abhängt. Ein einfaches Beispiel: Eine Gruppe wenig erfahrener Bergwanderer verirrt sich gegen Abend, ein aufziehendes Gewitter vor Augen, in einsamen Gebirgsgegenden – exemplarische Notsituation, die rettende Orientierung erfordert. Wahrscheinlich wird nun der, der noch die meisten Erfahrungen hat und sich, wie sich in seinem Umgang mit Karte und Kompass zeigt, sich am ehesten orientieren und darum auch die andern orientieren können. Die andern vertrauen sich ihm an, zögernd oder entschieden, erklärtermaßen oder stillschweigend, sie verlassen sich auf ihn und dies umso mehr, je weniger sie sich selbst orientieren können und je vielversprechender die Wege sind, die er zu gehen vorschlägt. Soweit sie ihm bereitwillig folgen, fällt ihm Macht zu, ob er will oder nicht. Seine überlegene Orientierung ‚verleiht‘ sie ihm. Analoges gilt für Orientierungskrisen von Familien, Firmen, öffentlichen Institutionen, Ökonomien, Staaten, staatenübergreifenden Organisationen usw. Danach entspringt Macht über andere dem Gefälle der Orientierungsfähigkeiten in Notsituationen. Sie ist als solche situative Macht, Macht in einer bestimmten Situation angesichts einer bestimmten Not und hält sich nur, solange diese Notsituation besteht, ist also Macht auf Zeit.

1.5 Moralische Selbstbindung der Macht in Notsituationen Eine solche Macht ist hochwillkommen und für die Beteiligten moralisch fraglos gut. Wenn andere sich in Notsituationen nicht mehr zu helfen wissen, sind sie auf überlegene Orientierung angewiesen, und wenn überlegene Orientierung einer unterlegenen aus einer Not hilft, ist sie moralisch (Kap. VIII, 2). Überlegene Orientierung wird gewollt oder ungewollt zur Macht, sofern den weniger Orientierungs-, Urteils- und Entscheidungsfähigen nichts anderes bleibt, als ihr zu folgen; die Überlegenen haben die Unterlegenen dann ‚in der Hand‘. Soweit aber die Überlegenheit einer Orientierung als Hilfe in einer Not und die mit ihr verbundene Macht als Verantwortung für die in ihrer Orientierung Unterlegenen ins Spiel kommt, bindet sich situative Macht selbst moralisch. Besonders deutlich wird das, wenn man sich um Kinder zu kümmern hat, reicht aber weit darüber hinaus. In christlicher Sprache sind die, denen es in Nöten

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IX Überlegene Orientierung

anderer zufällt,Verantwortung für sie zu übernehmen, ihre ‚Nächsten‘; wenn dafür sonst niemand in der Nähe ist, sind sie die, die den in eine Not Geratenen buchstäblich am nächsten sind. Auch ‚Nächstenliebe‘ ist – verantwortliche, moralische – Machtausübung. Der aber, dem solche situative Macht und Verantwortung zugefallen ist, wird erleichtert sein, ihrer auch wieder ledig zu werden, jedenfalls wenn es sich nicht um eigene Kinder, sondern um zufällige Nächste handelt wie im biblischen Beispiel des Samariters der am Weg Überfallene und in seinem Blut Liegende, den der Priester und der Levit aus rituellen Gründen nicht anrühren dürfen. An der situativen Macht wird nicht um der Macht willen festgehalten, und sie wird darum auch nicht für weitere Machtausübungen gebraucht und dann gegebenenfalls zum eigenen Vorteil missbraucht. Der Samariter zieht weiter, nachdem er der Not des Überfallenen abgeholfen hat. Sofern die Not anderer moralisch nötigt, ihnen in ihrer Hilflosigkeit beizuspringen, ist die Ursprungssituation der Macht auch die Ursprungssituation der Moral, und für sie trifft nicht zu, was der Macht von der Moral notorisch vorgeworfen wird, dass sie an sich böse und unersättlich sei.³⁶²

1.6 Moralische Ächtung der Macht in Konkurrenzsituationen Das Bild ändert sich, wenn sich in einer Orientierungssituation, die mehrere betrifft, verschiedene Beteiligte, die über ähnliche Orientierungsfähigkeiten verfügen, unterschiedliche Orientierungsvorschläge machen. Dann werden Konkurrenzen auftreten, Auseinandersetzungen darüber, welche für alle die beste Orientierung sei. Solche Auseinandersetzungen können als gelassene Beratschlagungen ablaufen und im Austausch von Argumenten zu konsensuellen Lösungen führen. Auch hier können jedoch Orientierungsüberlegenheiten auftreten, die sich auch als Kommunikationsüberlegenheiten bewähren. In gemeinsamen Notsituationen wird es aber, zumal wenn wenig Zeit bleibt, auch leicht zu erregten Streitigkeiten um die für alle hilfreichste Orientierung kommen, die dann zu Auseinandersetzungen um die Macht in dieser Situation werden. Das potenziert die Kontingenz der Macht: Sie fällt nun nicht einfach der oder dem zu, deren Orientierung als überlegen betrachtet wird, sondern es wird, solange die Macht nicht organisiert ist, in doppelt kontingenten Kommunikationen (Kap. VI, 2.1) erst ausgehandelt, wer über die überlegene Orientierung in dieser Situation verfügt. Je mehr die Zeit drängt und die Not wächst, muss die Auseinandersetzung abgekürzt

 Zum historischen Kontext von Jacob Burckhardts berühmter Bemerkung, dass „die Macht an sich böse“ sei, vgl. Anter, Theorien der Macht,  – .

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werden (Kap. VI, 2.2) – bis dann typischerweise die scharf abkürzende Orientierung durch moralische Achtung oder Missachtung der beteiligten Personen im Ganzen ins Spiel kommt (Kap. VIII, 3). Nun werden nicht mehr nur die Orientierungsvorschläge einer Person, sondern auch ihre Orientierungsfähigkeiten überhaupt moralisch bewertet und Personen gegebenenfalls moralisch verdächtigt, sich nur durchsetzen zu wollen und dadurch persönliche Macht zu gewinnen, also um der Macht selbst willen zu handeln. Und weil dadurch die Hilfe in der Notsituation nachrangig zu werden scheint, wird der Wille zur Macht für unmoralisch, schlecht, böse erklärt. Eine solche moralische Ächtung der Macht hat, solange die Not besteht, ihrerseits nur begrenzte Erfolgschancen, zumal die oder der, die sie zum Ausdruck bringen, ihrerseits der bloßen Konkurrenz um Macht verdächtigt, also wiederum moralisch kompromittiert werden können. Moralisierung und Entmoralisierung der Macht in Orientierungs- und zumal in besonderen Notsituationen bleiben ihrerseits kontingent, was sich auch daran zeigt, dass sie rasch wechseln können. Der Überlegenheit von Orientierungen entspringende situative Macht hält sich im Ganzen so in ihrer prekären Kontingenz. Schwindet die Not, kann das moralisch verdächtige Machtspiel in Orientierungssituationen als spannend, manchmal sogar lustvoll und unterhaltsam erlebt werden.

1.7 Nietzsches außermoralische Konzeptualisierung der situativen Macht als Wille zur Macht Nietzsche hatte sichtlich diese situative Macht und ihre prekäre Kontingenz im Auge, wenn er überall „‚Wille zur Macht‘ und nichts ausserdem“ (JGB 36) sah. Die Macht, die hier gewollt wird, muss amorph sein, wenn sie überall im Spiel sein soll. Nietzsche konnte so mit methodischer „Prinzipien-Sparsamkeit“ (JGB 13) „alle Zwecke, alle Nützlichkeiten“ als „Anzeichen davon“ verstehen, „dass ein Wille zur Macht über etwas weniger Mächtiges Herr geworden ist und ihm von sich aus den Sinn einer Funktion aufgeprägt hat“ (GM II 12; Einl., 1.4; Kap. II, 3.3.1; VII, 1.1). Der situative Wille zur Macht in diesem Sinn wird dogmatisiert, wenn man trotz Nietzsches gegenteiliger Kritik der Metaphysik ein neues metaphysisches Prinzip aus ihm macht, und ideologisiert, wenn er als rücksichtslose Bejahung eines Mehr-an-Macht-haben-Wollens der ohnehin Starken verstanden wird. Nietzsche führte die Formel, um es an dieser Stelle zu wiederholen, ausdrücklich als Hypothese sich miteinander auseinandersetzender, also pluraler Willen ein („die Hypothese wagen, ob nicht überall, wo ‚Wirkungen‘ anerkannt werden,Wille auf Wille wirkt“, JGB 36). Er wollte mit ihr hinter Begriffe von Einheiten (Seiendes, Dinge, Subjekte, Menschen, Entitäten, Identitäten usw.) zurückgehen auf etwas,

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aus dem erst Einheiten entstehen, Einheiten, die in komplexen Auseinandersetzungen miteinander sich wechselseitig erst als Einheiten unterscheiden. Da unsere Vorstellung so weit nicht zurückgehen kann, sondern unser Gehirn oder Bewusstsein immer schon Einheiten identifiziert, bleiben die Willen zur Macht eine theoretische Hypothese, deren kritischer und gerade metaphysikkritischer Sinn nicht verkannt werden darf. Luhmann hat in derselben Absicht mit der erkennbar theoretisch-hypothetischen Unterscheidung von System und Umwelt gearbeitet, die sich wie Nietzsches Willen zur Macht zueinander verhalten, nämlich einander wechselseitig laufend strukturierend und umstrukturierend, inkludierend und exkludierend (Kap. VII, 1.2). Nietzsche hat, um auch daran zu erinnern, die Einheit des vermeintlich vorgegebenen ‚Willens‘, die Max Weber in seiner Definition der Macht weiterhin fraglos voraussetzte, ebenfalls kritisch hypothetisiert. Wille als psychisches ‚Vermögen‘ sei „nur als Wort eine Einheit“, im Übrigen „vor allem etwas Complicirtes“, eine „Mehrheit von Gefühlen“, die ihrerseits in Machtverhältnissen zueinander stehen und sich, abhängig von der Situation, so lange miteinander auseinandersetzen, bis eines oder ein Verbund von ihnen sich als „Überlegenheits-Affekt“ und im Bewusstsein als ‚ich will‘, als die andern nun übergreifender Wille, präsentiert (JGB 19; Kap. V, 4.2). Danach ist Macht durch Willen nur tautologisch zu erklären. Willen, die wir sprachlich im „Bann bestimmter grammatischer Funktionen“ (JGB 20) nur als scheinbar gegebene Einheit fassen können, sind schon Willen zur Macht, etwas, das im Bewältigen von anderem entsteht und sich hält und steigert oder nicht, wie Orientierungen in immer neuen Situationen. ‚Wille zur Macht‘ als bejahende Formel setzte Nietzsche bekanntlich aber auch und vor allem als Gegenbegriff gegen eine Moral ein, die die Macht ächtete und damit doch selbst zur Macht wurde.³⁶³

2 Organisierte Macht Nietzsche hat darauf gedrungen, dass Macht nicht an sich böse oder gut ist. Sie kann es aber werden, einschließlich der Macht der Moral selbst. Die Frage ist dann, wie. Wir folgen weiter dem Pfad, den das Orientierungsgeschehen selbst vorzeichnet.

 Stegmaier, Philosophie der Fluktuanz,  – , und Nietzsches ‚Genealogie der Moral‘,  – . Zur bisher feinsten Differenzierung der Macht bei Nietzsche vgl. Gerhardt, Vom Willen zur Macht, der seine Analysen freilich wieder in einer Anthropologie und Metaphysik der Macht münden lässt.

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2.1 Enttemporalisierung der situativen zur persönlichen Macht: Vertrauen, Autorität und Gewalt Situative Macht hängt von der Situation, also zeitlich wechselnden Umständen und, wenn andere Personen beteiligt sind, von deren unterschiedlichen Orientierungsfähigkeiten ab.War eine überlegene Orientierung einmal hilfreich, könnte sie es auch in anderen Situationen wieder werden: Es kommt Vertrauen auf. Jene(r) Bergkundige gibt auch in Gesundheitsfragen wertvolle Ratschläge und vielleicht kann sie oder er es ja auch in Erziehungs- oder Finanzfragen: Sie oder er gewinnt von spezifischen Situationen gelöste persönliche Autorität. Autorität besteht darin, dass ihre Orientierungen weitgehend fraglos angenommen werden (Kap. VII, 3.2.4), sie ist eine von vielen „Orientierungsverkürzungen“, wie Luhmann sie nennt (Ma, 73). Aus Vertrauen auf Autoritäten aber können persönliche Abhängigkeitsverhältnisse entstehen, die sich immer weiter von spezifischen Situationen lösen. Die Macht der Autorität verfestigt sich, sie wird zu einer Macht, die man ‚haben‘, ‚besitzen‘ kann, durch die jemand ein ‚mächtiger Mensch‘ wird. Man hat, wenn man über Macht spricht, in der Regel eine solche gegenüber Orientierungssituationen verfestigte Macht im Auge. Sie ist, so Luhmann, „ein lebensweltliches Universale gesellschaftlicher Existenz“ (Ma, 90). Als generalisierte situative ist sie zunächst noch persönliche Macht. Sie wächst unwillkürlich zuerst Eltern, Betreuer(inne)n und Lehrer(inne)n, dann immer mehr Freund(inn)en und schließlich Expert(inn)en wie Ärzt(inn)en oder Anwält(inn)en und allen Menschen zu, auf deren überlegene Orientierungsfähigkeiten in lebenswichtigen Bereichen man sein Leben lang angewiesen ist und vertraut. So ist auch sie eine willkommene, moralisch begrüßte Macht. Sie kann dann jedoch, willentlich oder unwillentlich, ‚ausgenutzt‘, zum Schaden derer gebraucht werden, die in sie vertrauen und die auf sie angewiesen sind. Dann wird auch diese Macht nicht mehr moralisch begrüßt, von den Betroffenen selbst oder von Dritten, freilich nicht die Macht an sich, sondern nur ihr für die Orientierung dysfunktionaler Gebrauch. Moral ist auch hier kein Gegensatz, sondern eine Differenzierung der Macht. Wird ein dysfunktionaler Gebrauch der persönlichen Macht bemerkt, wird das Vertrauen wieder entzogen, der verliehene Kredit der Autorität wieder gekündigt, die Verfestigung der Macht wieder aufgelöst. Es sei denn, sie wird durch Gewalt aufrechterhalten. Der Begriff der Gewalt hat bekanntlich einen ähnlich vielfachen Sinn wie der Begriff der Macht.³⁶⁴ Von der Macht unterscheidet die Gewalt sich

 Nach Faber, Art. Macht, Gewalt,wurden ‚Macht‘ und ‚Gewalt‘ im Mittelalter und erneut im .

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dadurch, dass sie, ebenso in persönlichen wie in politischen und militärischen Verhältnissen, andern keine Alternative mehr lässt, die ausgeübte Macht zu begrüßen oder abzulehnen und ihr zu folgen oder nicht. Sie schließt die Entscheidungsspielräume der Orientierung in der jeweiligen Situation, sie zwingt. Dann ist sie, jedenfalls in modernen demokratischen Gesellschaften, fraglos böse oder, außermoralisch gesprochen, für die Orientierung dysfunktional. Denn Gewalt schließt die Entscheidungsspielräume auch für die, die sie ausüben. Sie müssen nun ihrerseits die Gewalt aufrechterhalten, dürfen nicht mehr ‚locker lassen‘. Das zwingt auch sie, und darum wird, von Extremfällen abgesehen, Gewalt auch nur auf begrenzte Zeit durchgehalten, in persönlichen wie, auf lange Sicht, auch in politischen Verhältnissen. Gewalt ist kein geeignetes Machtmittel.³⁶⁵

2.2 Entpersonalisierung der persönlichen zur organisierten Macht: Stellen in Organisationen Verfestigte Macht kann organisiert werden. Dadurch wird sie, auf lange Sicht, entpersönlicht: Die Verselbstständigung der Macht, die mit ihrer Enttemporalisierung beginnt, wird durch Entpersonalisierung fortgesetzt. Die Organisation der Macht, nicht nur in politischen, sondern auch in pädagogischen, ökonomischen, wissenschaftlichen, medizinischen, karitativen Institutionen usw., wird in zunehmend funktional differenzierten Gesellschaften unentbehrlich und unvermeidlich: Die Institutionen überdauern die Personen, die in ihnen Macht ausüben, und stellen dann selbst generalisierte und enttemporalisierte Mächte dar, die nicht nur gegenüber Situationen, sondern auch gegenüber Personen autonom sind.

und . Jahrhundert teils austauschbar gebraucht, teils erläuterten sie einander. In Begriffen wie ‚Staatsgewalt‘ und ‚Amtsgewalt‘ wirkt das bis heute nach.  Vgl. neben Arendt, Macht und Gewalt, passim, auch Luhmann, Macht (Ma), , und Foucault, Subjekt und Macht,  – . Nietzsche unterschied eher selten, gelegentlich aber deutlich zwischen Macht und Gewalt. So notierte er über die Schönheit, sie sei „das höchste Zeichen von Macht, nämlich über Entgegengesetztes; außerdem ohne Spannung: – daß keine Gewalt mehr noth thut, daß alles so leicht folgt, gehorcht, und zum Gehorsam die liebenswürdigste Miene macht – das ergötzt den Machtwillen des Künstlers.“ (NL /, [], KSA . [noch nicht in KGW IX]) Der Künstler hält als Künstler die Alternativen offen und zwingt doch. Gerhardt, Vom Willen zur Macht, , scheint das zu übersehen, wenn er schreibt, bei Nietzsche finde sich „keine kategoriale Trennung zwischen Gewalt und Macht“. Doch Macht impliziert für Nietzsche keineswegs „immer auch die Möglichkeit zur physischen Durchsetzung“. Auf der anderen Seite schließt auch die moralische Nötigung, anderen in ihren Nöten beizuspringen, die Entscheidungsspielräume der Orientierung (Stegmaier, Philosophie der Orientierung,  – ), und wirkt insofern ihrerseits als Macht, auch sie ohne Drohung mit physischer Gewalt.

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Personen werden in ihnen austauschbar; es ist der Sinn von Institutionen, Personen austauschbar und die Macht, auf die Gesellschaften ebenso angewiesen sind wie auf Moral, dauerhaft zu machen. Man richtet in Organisationen Stellen ein, die bleiben, während sie wechselnd mit Personen besetzt werden, die in den ihnen zugewiesenen Angelegenheiten zu Entscheidungen berechtigt sind, solange sie die Stelle besetzen. Die Angelegenheiten werden nach Zuständigkeiten begrenzt, die Zuständigkeiten im Hinblick auf die Aufgaben der Institution geordnet. So entstehen geordnete und (der Absicht nach) übersichtliche Machtverhältnisse ohne Ansehung der Personen. An solchen geordneten, übersichtlichen Machtverhältnissen kann man sich dann dauerhaft orientieren, sich (der Absicht nach) fest an sie halten. Durch Organisationen entpersonalisierte und enttemporalisierte Macht tritt als Ordnung auf.³⁶⁶ Darin ist auch sie eine willkommene, gute Macht. Stelleninhaber(innen) werden, jedenfalls wenn dem Organisationssinn entsprochen wird, nach Maßgabe ihrer überlegenen Orientierungs-, Urteils- und Entscheidungsfähigkeit auf dem betreffenden Sachgebiet ausgewählt. Auch organisierte Macht ist insofern Orientierungsmacht. Aber die Stelleninhaber(innen) können ihre Entscheidungsmacht wiederum missbrauchen und nun in weit größerem Umfang und mit spezifischeren Absichten als die persönliche. In modernen Gesellschaften mit modernen Organisationen – nicht in älteren, in denen Ämter legitim auch gekauft und verkauft, an Verwandte verteilt oder aus religiösen oder parteilichen Gründen vergeben werden konnten – gilt das als Korruption und wird moralisch scharf verurteilt.³⁶⁷ So werden Kontrollen gegen sie institutionalisiert, in Gestalt ‚höherer‘, hierarchisch übergeordneter Stellen oder spezieller Abtei-

 Vgl. Anter, Die Macht der Ordnung, im Anschluss an Popitz, Prozesse der Machtbildung (vgl. Anter, Theorien der Macht,  – ). Auch Popitz sieht eine maßgebliche Quelle der Macht in der „Orientierungsbedürftigkeit“ des Menschen () und unterscheidet „sporadische“, situativ auftretende, von „normierender“ und „institutionalisierter“ Macht ( – ), die „Ordnungssicherheit“ bietet ().  Bei allen moralischen Widerständen, die wir heute dagegen hegen, muss man freilich auch sehen, dass Korruption in Form von Patronage Organisationen auch stützen, sie miteinander vernetzen und so in ihrer Funktionsfähigkeit steigern konnte und, wo immer die funktionale Differenzierung der Gesellschaft weniger weit fortgeschritten ist, weiterhin steigern kann (vgl. Luhmann, IuE, pass., bes.  f.; GG,  f.,  f., ; OuE,  f.) Korruption ist immer die Korruption einer Perfektion, wird an ihr, also an einem mehr oder weniger realitätsfernen Ideal, gemessen und kann darum ganz unterschiedlich aussehen (vgl. Nietzsche, JGB ; Luhmann, GG, , ). In modernen Gesellschaften ist Moral weitgehend Anti-Korruptionsmoral. Nietzsche und Luhmann wahrten auch zu ihr Distanz, um ihre Ursprünge, Funktionen und Funktionsäquivalente sehen zu können (FW ). Denn jede Moral betrachtet Zustände, in denen sie sich nicht erfüllt sieht, als korrupt. Nietzsche sah sich selbst im Nachhinein als „Einen der corruptesten Wagnerianer … Ich war im Stande,Wagnern ernst zu nehmen …“ (WA, Turiner Brief vom Mai , ).

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lungen, für deren Besetzung dieselben Kriterien unter höheren Anforderungen gelten, und mehr und mehr auch durch externe Organisationen. All dies schließt bekanntlich Korruption der Macht weiterhin nicht völlig aus, erschwert sie aber. Solange Organisationen die ihnen zugeordneten Aufgaben zufriedenstellend erfüllen, wirkt die in ihnen organisierte Macht moralisch nicht anstößig, weder innerhalb noch außerhalb der Organisationen. In „Normalzeiten“, so Luhmann, tritt das an ihr Anstößige zurück und die Machtausübung fällt dann gar nicht als solche auf: „Das System diszipliniert, ja unterdrückt den offenen Machtgebrauch und reduziert das Machtspiel auf Versuche, Kontakte mit wechselseitiger Rücksicht abzufedern und Reizungen mit der möglichen Folge von Gegenreaktionen zu vermeiden“, ja, den Machtgebrauch ganz „zu suspendieren und wechselseitige Abhängigkeiten in Inseln vertrauensvoller Zusammenarbeit zu verwandeln“ (OuE, 201 f.). Macht wird nicht nur entpersonalisiert, sondern auch anonymisiert. Macht in Organisationen ist, von öffentlich sichtbaren Spitzen abgesehen, weitgehend anonym.

2.3 Moralische Ächtung der organisierten Macht Weil bei der organisierten Macht die Wahrscheinlichkeit des Missbrauchs steigt, wird Organisationen, insbesondere politischen, Recht eingezogen, mit dessen Hilfe der Missbrauch offiziell kenntlich gemacht, verfolgt und geahndet werden kann. Recht fungiert dann, in der Sprache von Luhmanns soziologischer Systemtheorie, als Zweitcodierung von Macht. Auch Recht, hinter dem die Staatsmacht steht, wird dann zum Machtmittel: „Wer in der Situation [juristisch] Recht hat, hat dann auch die Macht, Macht zu mobilisieren.“ (Ma, 49) Und zugleich legitimiert das Recht die Macht moralisch. Da Recht aber seinerseits unterlaufen, missbraucht und bis zu einem gewissen Grad (etwa durch Lobbyismus bei der Gesetzgebung oder den Einsatz teurer Anwälte bei gerichtlichen Verfahren) erkauft werden kann, wird die Erstcodierung Überlegenheit/Unterlegenheit nicht aufgehoben, sondern wiederum nur differenziert. Das Recht ist nicht einfach das Recht des Stärkeren, aber Stärkere bekommen leichter Recht (Ma, 65). Das zieht eine neue und umso schärfere moralische Ächtung der Macht, nun der organisierten Macht, auf sich. Sie kann die Spitzen der Organisation, einzelne Stelleninhaber(innen) und die anonyme Macht der Institution als solche betreffen; da sie sich schwer unterscheiden lassen, werden sie auch kaum unterschieden. So kommt es zu überschießenden Simplifizierungen: Geächtet wird nicht nur der Missbrauch der organisierten Macht, sondern die organisierte Macht selbst und schließlich die Macht überhaupt und dies verständlicherweise umso mehr, wie Nietzsche herausgestellt hat, je machtloser, ohnmächtiger die Anklagenden sich

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vorkommen. Negative Konnotationen der Macht wie Befehl, Drohung, Zwang, Unterdrückung, Willkür, Gewalt überstrahlen dann positive wie Verantwortung, Vertrauen, Autorität, Ordnung, Orientierung. Gut, zum Wohl der Betroffenen ausgeübte Macht, die moralisch nicht auffällt, kommt nicht oder kaum mehr zur Sprache. Doch bleibt sie stets die Alternative zur schlecht oder böse gebrauchten Macht und der Maßstab für sie.

2.4 Retemporalisierung und Repersonalisierung der organisierten Macht: Fluktuante Macht In Organisationen werden Stellen für Personen nur insoweit eingerichtet, wie die anstehenden Aufgaben nicht nach vorgegebenen Logarithmen von Rechnern erledigt werden können, sondern individuelle Fälle von Individuen entschieden werden müssen. So aber haben die Stelleninhaber(innen) Entscheidungsspielräume, die sie nach ihren jeweiligen Orientierungs-, Urteils- und Entscheidungsfähigkeiten nutzen. Sie können dadurch ihre Stellen nicht nur ausfüllen, sondern auch persönlich prägen. Ihre Aufgabenfelder können dann mit der Zeit, je nachdem, eingeschränkt oder erweitert, Stellen im Ganzen im Blick auf ihre Inhaber(innen) umgewidmet, abgeschafft oder neu geschaffen werden. Die organisierte Macht wird retemporalisiert und repersonalisiert, sie kommt wieder in Fluss, wird fluktuante Macht. Fluktuante Macht ist schwerer identifizierbar. Sie kann in Organisationen umso weniger identifiziert und fixiert werden, je mehr Vorgesetzte auf Mitarbeiter(innen) angewiesen sind, die ihnen ‚zuarbeiten‘: sie mit Informationen ausstatten, sie klug beraten, ihnen Angelegenheiten zur Entscheidung vorlegen, sie also vororientieren, und dann die Entscheidungen ausführen und durchsetzen, woran sich wiederum das Publikum orientiert. Dass Mitarbeiter(innen) auf ihren jeweiligen Gebieten besser informiert und orientiert sind als ihre Vorgesetzten, die Details nur begrenzt kennen können, verleiht auch ihnen Macht, Macht über die, so Luhmann spitz, „impotente Macht de[r] Vorgesetzten“, die zugleich „Machtbedingung der Untergebenen“ ist (Ma, 110). So kommt es zu meist versteckten Machtspielen, nur in besonderen Fällen zu offenen Machtauseinandersetzungen innerhalb der Organisationen. Gegenmacht in Organisationen bleibt diffus; sie kann sich ihrerseits kaum organisieren, wenn sie nicht die Funktionsfähigkeit der Organisation und für die Beteiligten Entlassungen riskieren will. So entstehen in Organisationen gegenläufige „Machtkreisläufe“ von „formaler“ Macht einerseits, die über Stellen und offizielle Entscheidungswege definiert ist, und „informaler“ Macht andererseits, die von den wechselnden Personen auf den Stellen und deren

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persönlichem Einfluss auf die Entscheidungen ausgeht (Kap. X, 1.5).³⁶⁸ So müssen sich die jeweiligen Vorgesetzten und Untergebenen (und das sind in einer hierarchischen Organisation bis auf die ‚obersten‘ und ‚untersten‘ Mitarbeiter(innen) alle in einer Person) auch in hochorganisierten Machtverhältnissen wieder auf ungewisse Situationen einstellen. Sie tun das meist, indem sie sich zumindest mit ihren nächsten Mitarbeiter(inne)n ‚gut stellen‘, dauerhaftes Vertrauen schaffen, um Respekt und Autorität bemüht sind, beiderseitige Loyalität erzeugen. So bindet sich wie die situative Macht auch die organisierte Macht selbst moralisch. Die entmoralisierte Macht remoralisiert sich, nun aber unter ihren eigenen Bedingungen.

2.5 Luhmanns außermoralische Konzeptualisierung der organisierten Macht als formbares Medium Aus moralischer Perspektive fällt an der Macht stets ihr möglicher Missbrauch ins Auge, und Diktatoren ebenso wie korrupte Führungskräfte von Unternehmen rund um die Welt bestätigen immer neu das Schreckbild. In modernen Demokratien hat es die Verrechtlichung und immer weitere Demokratisierung der Macht vorangetrieben (Kap. X). Auch wenn beide das moralische Misstrauen gegen die Macht nicht beseitigt, sondern im Gegenteil verstärkt und verfeinert haben, sind sie moralisch fraglos zu begrüßen. Dies darf jedoch den Blick für die Lebensnotwendigkeit und die Funktionsbedingungen der Macht nicht verstellen. Wenn die Macht mit jeder Orientierungssituation unauffällig zum Zug kommt, dann muss sie sich, je mehr die Komplexität der Orientierung sich steigert, je schneller das „Bewegungstempo“, die „Interdependenzen, differentiellen Zeitknappheiten und Risiken“ wachsen, kurz: je mehr Orientierungsentscheidungen anfallen, sich ebenfalls vermehren (Ma, 83). Dabei wird die Macht aber, da sie nun auch umso mehr Gegenmächte um und gegen sich hat, zugleich machtloser. Die Gewalt, die man im Hintergrund der Macht stets gesehen hat, wird in modernen demokratischen Gesellschaften entsprechend immer stärker rechenschaftspflichtig. Sie bleibt im Hintergrund – als „Machtgrundlage“ (Ma, 61), die als Drohung aufrechterhalten, deren Einsatz aber tunlichst vermieden wird. Nicht nur aus moralischen Gründen: Mit jedem Einsatz von Gewalt stellt sich Macht selbst auf die Probe, riskiert sie sich selbst; denn sie kann die Probe auch verlieren. Mächtige,

 Ma,  f.; PolG,  – . Machtkreisläufe können natürlich auch über die Organisationen hinausreichen: „Der Chef zum Beispiel hat Macht über seinen Untergegebenen, dieser über seine Frau, diese über ihre Freundin und diese wiederum über den Chef.“ (MiS )

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denen moralisch gerne ein schrankenloser Machttrieb unterstellt wird, müssen darum zur Ausübung ihrer Macht oft erst bewegt werden (Ma, 21). Sie verhalten sich nicht nur unter dem Druck der Moral, sondern auch im Blick auf die Risiken des Machteinsatzes in der Regel reflektiert oder, nach dem traditionellen Begriff, besonnen zu ihrer Macht; es ist Teil routinierter Ausübung der Macht zu entscheiden, ob sie überhaupt ausgeübt werden soll (Ma, 25). Die Zurückhaltung insbesondere der Gewalt als bloße „Drohmacht“ (PolG, 52 u. ö.) aber schafft erst Raum für die Differenzierung der Macht in Organisationen, durch die sie dauerhafte soziale Funktionen erfüllen kann. Luhmann ging wie Nietzsche sehr weit zurück in der Frage nach dem Ursprung der Macht und, anders als Nietzsche, auch hinter den Begriff der Macht selbst. Er reagierte damit auf Vorwürfe der „‚Machtblindheit‘“ der Systemtheorie (MiS, 11): „Das Problem ist nicht, daß die Systemtheorie notwendig ‚machtblind‘ wäre. Ihr Machtbegriff ist jedoch sehr viel komplexer als der der klassischen Machttheorie.“ (MiS, 150) Man müsse loskommen von „der Annahme einer Kausalbeziehung“, „der Voraussetzung bestimmter Bedürfnisse“, der „Orientierung am Konfliktsfall“, der „Auffassung der Macht als eines besitzbaren Gutes“ und den stillschweigenden Voraussetzungen, die „Machtsumme“ bleibe in geschlossenen Systemen konstant und die „Machtbeziehungen“ seien „transitiv, also hierarchisch geordnet“ (MiS, 14 f.), und sich stattdessen der „Unbestimmtheitsproblematik“ stellen (MiS, 20). Schon Nietzsche machte die genannten Voraussetzungen nicht mehr, und Luhmann war auch hier schon dem Konzept der Orientierung nahe. Er ging von der „Machtquelle“ (PolG, 79) begrenzter Informationen über die jeweiligen Orientierungssituationen aus. Macht entstehe als „Elementarform im sozialen Verkehr kaum merklich dadurch […], daß die Welt viel zu komplex ist, als daß der einzelne jede Information, auf die er sein Verhalten stützt, von Grund auf selbst erarbeiten könnte“; sie entspringe also der „Orientierungsunsicherheit“. Auch Macht lasse sich daher, außermoralisch verstanden, wie Wissen (Kap. VII) und Moral (Kap. VIII) als eine Form von „Unsicherheitsabsorption“ fassen (ReflMech, 96; OuE, 220 f.): Jemand gewinnt dadurch Macht, dass er oder sie, „aus welchen Gründen auch immer“, über mehr Informationen und darum auch mehr Alternativen verfügt als andere, mit denen er „bei seinem Partner in bezug auf die Ausübung seiner Wahl Unsicherheit erzeugen und beseitigen“ kann (Ma, 8). In einer schwierigen Orientierungssituation erkennen die einen an der überlegenen Orientierung der andern die Unterlegenheit der eigenen Orientierung, verlieren ihre alte Sicherheit – und gewinnen eine neue zurück, indem sie, ganz alltäglich, der überlegenen Orientierung folgen. Abstrakter formuliert, geht es um selektive Übertragung von „Selektionsleistungen“ oder „selektionsbedingte Selektion“ von Informationen (MiS, 46 f.):

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Einzelne Menschen haben nur eine sehr geringe Kapazität für selektive Informationsverarbeitung. In sozialen Systemen, die eine Mindestschwelle der Komplexität ihrer Umwelt und ihrer Struktur überschreiten wollen, wird es daher unumgänglich, daß der eine sich auf Selektionsleistungen des anderen stützt, sich also eine gewisse Arbeitsteilung in der Informationsverarbeitung einspielt. (MiS, 50)

Luhmann konzipierte damit auch den Machtbegriff „unter dem Gesichtspunkt der Erfassung und Reduktion von Komplexität“: Macht hat die Funktion, Komplexität zu „bewältigen, das heißt in sinnvoll orientiertes Handeln umsetzen zu können“. Sie „verstärkt also die Selektionskraft und steigert so die mögliche Komplexität eines Systems“ oder seine Orientierungskraft. Die Macht über die Situation wird zur Macht über andere, wenn einer selektiven „Informationsverarbeitung“ gefolgt wird. Als ihre Quelle ist so eher noch ein „Bedürfnis nach ‚Entlastung‘“ im Sinn von Gehlen und nicht ein „‚Machttrieb‘“ zu vermuten (MiS, 49 – 51). „Macht ganz allgemein definiert“ wäre also die „Generalisierung individueller Entscheidungsleistungen, als Übertragung ihres Selektionseffektes auf andere“ (MiS, 139). Als Macht erlebt wird die simultane Erweiterung und Beschränkung des „Selektionsspielraums“ (Ma, 11), wenn, so Luhmann, eine „Vermeidungsalternative“ droht oder ausdrücklich angedroht wird, die keinesfalls gewünscht wird, so dass nur die „weniger negativ bewerteten […] anderen Alternativen“ bleiben. Noch eher als jenes (z. B. sich zu blamieren) ist man bereit dies zu tun (z. B. Expertenrat anzunehmen). Die Macht der Vermeidungsalternative kann anonym sein oder als ‚schicksalhaft‘ betrachtet, sie kann auch jemandem zugeschrieben oder von jemandem selbst angedroht werden. Erst hier setzt die Moralisierung ein: In den beiden letzteren Fällen wird eine böse – oder gute – Absicht vorausgesetzt und die Macht entsprechend als gut oder böse unterschieden. Dies alles bleibt im Spiel der Orientierung mit seinen zunächst vormoralischen Orientierungsüber- und unterlegenheiten. Willen, weder Willen zur Macht noch zur Unterwerfung unter eine Macht, müssen dann nicht mehr vorausgesetzt werden (Kap. VII, 1.1): ‚Wille‘ ist, so Luhmann, dann das Wort für das ‚Vermögen‘ zu selektieren, zwischen Alternativen zu entscheiden (Ma, 21). Die Übernahme von orientierenden Selektionsleistungen anderer ist nicht erst, besonders aber in modernen Gesellschaften unvermeidlich. Bei fortschreitender Demokratisierung aber wirkt der moralaversive Machtbegriff zu aggressiv. Luhmann ersetzte ihn darum durch den jetzt stimmigeren des Einflusses (FFfO, 123; MiS, 52; Ma, 74– 80). Macht ordnete er dann neben Autorität und Führung als eine der Formen der Generalisierung von Einfluss ein (FFfO, 124– 137; PolG, 38 – 51) ein: Macht beziehe sich auf künftiges Handeln, Autorität auf vergangene Be-

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währung, Führung verbinde beides, indem sie „mit kleiner Kraft durch strategisch placierte Selektivität große Wirkungen“ kontrolliere (MiS, 67).³⁶⁹ Einfluß wird zur Macht, wenn und soweit die wiederholte Annahme [einer einflussreichen Kommunikation] erwartet werden kann [zeitlich], zur Autorität, wenn und soweit die Annahme auch anderer Kommunikationen erwartet werden kann [sachlich], und zur Führung, wenn und soweit auch andere Personen den Einfluß annehmen [sozial]. (FFfO, 124)

In allen drei Dimensionen geht es um die Sicherung des Bestands eines Systems in und gegenüber seiner Umwelt; dabei können und müssen nicht alle zugleich in gleichem Grad erfüllt sein; aber alle wirken wiederum in einem System, einer „Einflußordnung“ unter Systemen, die füreinander Umwelt sind, kurz, einem „Machtsystem“ zusammen (FFfO, 126). Zuletzt beschränkte Luhmann den Machtbegriff, dem alltäglichen Gebrauch des Wortes entsprechend, auf Situationen, in denen die Befolgung einer Entscheidung „verlangt wird, in einem Befehl, einer Weisung, eventuell in einer Suggestion, die durch mögliche Sanktionen gedeckt ist“ (GG, 355). Eine solche Macht setzt bereits hochverfestigte „Einflußordnungen“, nämlich Organisationen voraus, und diese bereits strukturierte, „organisierte Macht“ (Ma, 98) stand im Zentrum von Luhmanns Analysen; er testete ihren Begriff vor allem in der Organisationssoziologie. Denn Macht ist nur beobachtbar, wo die Situation entsprechend vorstrukturiert ist. Aber gerade an Organisationen zeigte sich, wie dargestellt, dass die Macht nicht an einem gut beobachtbaren Punkt, nämlich der Spitze einer Hierarchie, konzentriert, sondern weit verteilt und vielfach differenziert und ausdifferenziert ist (GGM, 122). So aber ist auch die organisierte Macht bis zu einem gewissen Grad amorph, sie ist, so Luhmann selbst, „‚von Natur aus‘ diffus und fluktuierend verstreut“ (Ma, 43). Zur Entparadoxierung dieser Paradoxie von organisatorischer Fixierung und Fluidität zog er wiederum die Unterscheidung von Medium und Form heran, des Mediums, das wechselnde Formen annehmen und wieder verlieren kann (MiS, 82 f.; PolG, 29 – 36). Als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium ist auch Macht „durchgehender Bezugspunkt der Orientierung des Kommunikationsprozesses“ (MiS, 84 f.), funktionsäquivalent mit Geld, Liebe, Wahrheit (Kap. VII, 2.2) – und Moral (Kap.VIII, 4); sie kann in der Kommunikation durch sie bis zu

 Vgl. Nietzsche, MA I : „Grösse heisst: Richtung-geben. – Kein Strom ist durch sich selber gross und reich: sondern dass er so viele Nebenflüsse aufnimmt und fortführt, das macht ihn dazu. So steht es auch mit allen Grössen des Geistes. Nur darauf kommt es an, dass Einer die Richtung angiebt, welcher dann so viele Zuflüsse folgen müssen; nicht darauf, ob er von Anbeginn arm oder reich begabt ist.“

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einem gewissen Grad ersetzt werden. Anders als Wahrheit und Moral gewährleistet Macht jedoch „die Entscheidbarkeit aller Fragen“ (MiS, 85). Sie kann als geformtes Medium ebenfalls reflexiv werden und so ihre Erhaltung und Steigerung selbst organisieren (ReflMech, 97 f.), was vornehmlich, aber nicht ausschließlich im Funktionssystem der Politik geschieht und, wie dargestellt, keineswegs nur hierarchisch (MiS, 91). Dadurch dass in komplexer werdenden Systemen immer mehr an der immer weiter zunehmenden Macht partizipieren, werden, soweit die Partizipation organisiert ist, offene Machtkämpfe seltener, und so gewinnt Macht „eine höhere Kompatibilität mit Frieden“ (Ma, 51). Auch auf diesem Weg kommt die außermoralische Konzeptualisierung der organisierten Macht der Moral wieder entgegen. Luhmann hat im ersten Entwurf seiner systemtheoretischen Machtanalyse das Kapitel zur Entscheidung so zusammengefasst: Als Ganzes gesehen ist Macht ein durch Generalisierung und Organisation entstehendes permanentes Medium der Kommunikation im System, das in seiner Funktion weitgehend latent bleibt. Macht ermöglicht es, Systeme so zu organisieren, daß sie trotz hoher Komplexität entscheidungsfähig bleiben und daher auch einer sehr komplexen Umwelt gegenüber noch nach eigenen Kriterien selektiv reagieren können. Die Größe der durch Macht verfügbaren Komplexität ist das Maß der Macht eines Systems. (MiS, 87)

Gehen wir nun also zur Latenz der Macht und zu Foucaults außermoralischer Konzeptualisierung der latenten Macht als Dispositiv weiter³⁷⁰ und setzen noch einmal mit dem Orientierungsgeschehen ein.

3 Latente Macht 3.1 Vergessen der Macht: Routinen Organisationen lassen, soweit sie Zuständigkeiten abgrenzen, Stellen schaffen und besetzen, formell entscheiden, Gesetze beschließen, Bescheide erteilen, Produkte ausliefern usw., Macht auffällig, merklich werden. Ihre Macht fällt jedoch umso weniger auf, wird umso weniger spürbar, wenn die Organisationen und die Beziehungen zu ihnen reibungslos funktionieren (die Bescheide akzeptabel, die Produkte brauchbar sind, die Bahn pünktlich fährt usw.), ihre Machtpraxis zur  Einen fairen einführenden Vergleich der umstrittenen Machtkonzeptionen Luhmanns und Foucaults, zuletzt in tabellarischer Form, hat unter Einbeziehung der Forschung bis  zuletzt Martinsen, Negative Theoriesymbiose, angestellt. Die weitgehende Latenz der Macht nach Foucault wird jedoch nicht berücksichtigt.

3 Latente Macht

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Routine wird. Wenn ‚es läuft wie gewohnt‘, vergisst man die Bedingungen, unter denen es läuft. Man unterstellt dann, die Routinen werden so weiterlaufen, baut darauf seine Zuversicht in die Zukunft (Kap. I, 3.10; II, 3.3.2; IV, 4; VII, 2.1). Durch mit der Zeit sich einspielende Routinen wird Macht erneut entzeitlicht, Alternativen treten zurück, die Orientierung bedarf keiner neuen Informationen und Überlegungen mehr, wird selbstverständlich, unmerklich, sie vergisst sich selbst: Neue Situationen werden nicht mehr als neue wahrgenommen, das Orientierungsbedürfnis beruhigt sich. Routinen haben wie die Macht keinen guten Ruf, und doch wird die Vertrautheit, die sich mit ihnen einstellt, lustvoll erfahren. Da unmerklich gewordene Routinen über alle Lebensvollzüge verbreitet sind, liegt in ihnen auch der breiteste und beständigste Halt der Orientierung, ihre Basisstabilität. Sie gehen, wie man sagt, ins Gefühl über, werden zum Leib-, Selbst-, Lebensgefühl. Doch auch hier geht es um Macht, um latente Macht. Routinen, Gewohnheiten, das Leib-, Selbstund Lebensgefühl haben sich durch Orientierungen eingespielt, die sich bewährt, die Situationen gut bewältigt haben, also auf dem Weg von Machtprozessen. Sie stellen auch außerhalb von Organisationen und ohne Bezug zu ihnen unmerkliche Machtverhältnisse dar. Eben darin, dass sie die Orientierung unmerklich steuern, liegt nicht nur ihr Halt, sondern auch ihre Macht.

3.2 Unmerkliche Gewalt sozialer Routinen: Macht als anonyme Orientierungsmacht Routinen sind auch Sprachen, Sitten und Moralen, alle sozialen Ordnungen, die nicht verordnet werden, sondern sich einspielen. An der Bildung und Fortbildung einer Sprache wirken alle mit, die sie sprechen, mit jedem Sprechakt wird eine Sprech- oder Schreibweise auf noch so geringe Weise bekräftigt oder verändert, die Sitten durch jedes konforme oder abweichende Verhalten, die Moralen durch jedes gute oder schlechte Handeln. Und doch kann niemand entscheiden, hat niemand Macht darüber, ist niemand dafür verantwortlich, wie ‚man‘ spricht, sich verhält oder moralisch handelt. ‚Man‘ wächst in Sprachen, Sitten und Moralen hinein oder wird, wenn man von den Routinen abweicht, in sie hineindressiert. In solchen sozialen Ordnungen werden die entzeitlichten Routinen auch entpersönlicht. Ihre latente Macht wird anonym.³⁷¹

 Plessner, Die Emanzipation der Macht,  f., setzt die „Anonymisierung der Macht“ schon bei ihrer „apparatehaften“ Organisation an.

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IX Überlegene Orientierung

So beherrschen die sozialen Routinen die Orientierungen aller, die ihnen folgen, ohne Alternative. Man denkt lange schon in bestimmten Sprachen, verhält sich nach bestimmten Sitten, handelt nach bestimmten Moralen, bevor man zu ihnen Alternativen erwägen kann. Und selbst dann hat man nur sehr geringe Spielräume, den sozialen Routinen zu entkommen, wenn man nicht dauernd Anstoß erregen oder sich ganz aus der Gesellschaft ausschließen will. Die Macht wird hier zur anonymen Orientierungsmacht: Sie beherrscht die Orientierungen darin, wie sie Situationen beherrschen, wird von niemandem ausgeübt und von den meisten fraglos akzeptiert. Soweit sie keine Alternativen lässt – denn auch mögliche Alternativen gehen aus sozialen Routinen hervor –, kann man sie als eine Art von Gewalt ansehen, als nicht spürbaren Zwang.Weil man diese Gewalt in der Regel nicht bemerkt, wird sie nicht moralisch, nicht als gut oder böse beurteilt, und weil sie überall mitwirkt, ist auch sie amorph. So spricht man heute, vor allem in Anschluss an Foucault, nicht mehr nur von physischer, sondern auch vor symbolischer und struktureller Gewalt.

3.3 Spielräume der Orientierung an anderer Orientierung: Neue Retemporalisierung und Repersonalisierung der Macht Von Macht und Gewalt sprechen hier jedoch nur die, die auf eigene, selbstständige Orientierung jenseits eingespielter sozialer Routinen drängen, Künstler, Intellektuelle, Publizisten, Wissenschaftler und Philosophen, denen daran liegt, neue Alternativen der Orientierung zu eröffnen. Das gelingt ihnen nur, soweit andere sich an ihnen orientieren und ihnen damit eine überlegene Orientierung zugestehen, also wiederum in einem temporären oder dauernden Verhältnis von Überlegenheit und Unterlegenheit, einem situativen oder verfestigten Machtverhältnis. Darin aber, in der Orientierung an überlegener Orientierung, werden die sozialen Routinen wieder auffällig: Man sieht, dass es in gewissen Spielräumen doch auf akzeptable Weise anders geht, dass soziale Routinen sich mit hoher Anerkennung auch ändern lassen. So kommen Zeiten und Personen erneut ins Spiel, wird auch die Orientierungsmacht wieder retemporalisiert und repersonalisiert. In der Alternativen eröffnenden Orientierung nicht nur an der, sondern über die Orientierung anderer wird die Gewalt der anonymen Orientierungsmacht sozialer Routinen gebrochen und kehrt die situative Macht in Orientierungssituationen zurück.

3 Latente Macht

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3.4 Foucaults außermoralische Konzeptualisierung der latenten Macht als Dispositiv Die Unmerklichkeit der sozialen Routinen, in seiner Sprache die „Automatik der Gewohnheiten“,³⁷² war Foucaults Fokus beim Problem der Macht. Er fasste ihre zugleich amorphe und formende Macht nicht wie Luhmann als Medium und Form, die sich durch lose und strikte Kopplungen von gleichartigen Elementen unterscheiden, sondern als Dispositiv, das aus „entschieden heterogenen“ Elementen, „Diskursen, Institutionen, architektonischen Einrichtungen, reglementierenden Entscheidungen, Gesetzen, administrativen Maßnahmen, wissenschaftlichen Aussagen, philosophischen, moralischen und philanthropischen Lehrsätzen, kurz, Gesagte[m] ebenso wie Ungesagte[m]“ besteht und sich als Netz fassen lässt, dessen Stränge einander gegenseitig halten.³⁷³ Die Macht sozialer Routinen ist ein Dispositiv zunächst in dem Sinn, dass sie über anderes disponiert, verfügt, seinen Einsatz und seine Funktion bestimmt.³⁷⁴ Unter den Elementen eines solchen Dispositivs aber gibt es nach Foucault „gleichsam ein Spiel, gibt es Positionswechsel und Veränderungen in den Funktionen, die ebenfalls sehr unterschiedlich sein können“. In einer historisch gegebenen Situation habe es „vor allem die Funktion […], einer dringenden Anforderung [urgence] nachzukommen“,³⁷⁵ mit Nietzsche einer Not zu gehorchen. So wird über das Dispositiv zugleich disponiert, ohne dass es Subjekt oder Objekt wäre: Denn auch Subjekte und Objekte sind Formationen in Dispositiven. Foucault versucht so, mit einem Begriff, der sich dem Begreifen entzieht, das Vorbegriffliche, Begriffe erst Bildende zu fassen. Er geht dabei, wie Nietzsche, bis auf den Leib zurück, der durch Dispositive der ‚BioMacht‘ über Jahrhunderte hinweg so diszipliniert worden sei, dass er eine ‚Vernunft‘ ausgebildet habe, die für eine allgemeine, allen gemeinsame Vernunft gehalten werden konnte und die doch Produkt einer unmerklichen und anonymen Gewalt sei. Von der „Gewalt“ der Sprache hatte ebenfalls schon Nietzsche gesprochen (JGB 268; Kap. IV, 2; V, 2.1; VI, 1.1– 1.2). Was Foucault ‚Dispositiv‘ nannte, hatte Nietzsche in seiner Genealogie der Moral am Beispiel der Strafe vorformuliert (GM II 12), und für die Moral hatte er in FW 7 und dann erneut in GM I 17 Anm. ein Forschungsprogramm entworfen (Kap. VIII, 3), aus der bei Foucault zunächst die

   

Foucault, Überwachen und Strafen, . Foucault, Das Spiel des Michel Foucault, . Vgl. Link, Art. Dispositiv. Foucault, Das Spiel des Michel Foucault, .

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IX Überlegene Orientierung

‚Archäologie des Wissens‘, dann die ‚Analytik der Macht‘ wurde.³⁷⁶ Der leitende Gedanke beider war dabei, dass „[a]ller Sinn“, wie Nietzsche pointiert in einem nachgelassenen Notat formulierte, „Wille zur Macht“ sei, dass „alle BeziehungsSinne […] sich in ihn auflösen“ ließen.³⁷⁷ Luhmann hat in demselben Sinn die ‚Semantik‘ einer Zeit stets auf deren ‚Gesellschaftsstruktur‘ zurückbezogen und aus deren Nöten verständlich zu machen versucht.³⁷⁸ Er teilte jedoch nicht die „Prämisse“ (Nietzsches und) Foucaults, „daß mit der Wahl eines Kontextes Macht ausgeübt werde, so als ob Macht selbst als eine kontextfreie verfügbare Möglichkeit zugänglich sei“ (WissG, 667), und wandte sich gegen die unbegrenzte Ausweitung des Begriffs der Macht, die allem einen „politiknahen Anstrich“ gebe (WirtG, 210). In der Sache blieb er auf der Linie beider. Foucault sah jedoch die Schwierigkeit eines theoretischen Zugangs besonders zur latenten Macht und die Schwierigkeit schon einer Sprache für sie, wenn die Sprache selbst stets Teil eines Dispositivs ist. Er löste das Problem so, dass er wie Nietzsche keinen theoretischen Standpunkt, sondern den eines Fremden und Verspäteten einnahm, den eines Semiologen, Ethnologen und Archäologen der eigenen Kultur.³⁷⁹ Er verblieb damit im Horizont einer Orientierung über die eigene Orientierung als einer anderen, verfremdeten Orientierung und konnte so zum ersten Mal die Macht als anonyme und latente Orientierungsmacht freilegen, als Macht, die über anderes disponiert und über die zugleich disponiert wird, ohne dass sie in Menschen oder Subjekten greifbar würde.

4 Die Machtkontexte der Demokratie Zum Problem geworden ist Macht vor allem in politischer Hinsicht und dies mit dem Aufkommen der Demokratie, zunächst im antiken Griechenland, dann im spätmittelalterlichen Großbritiannien, schließlich mit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der Französischen Revolution in ganz Europa und  Zur kaum zu überschätzenden Nähe Foucaults zu Nietzsche in Thematik und Methodik vgl. Balke, Art. Friedrich Nietzsche; Ansell-Pearson, The Significance of Michel Foucault’s Reading of Nietzsche, der mit Foucault in Nietzsche anhand von dessen Lehre vom ‚Willen zur Macht‘ und seiner Kritik des Subjekts den politischen Denker zur Geltung bringen will; Gutmann, Nietzsches „Wille zur Macht“ im Werk Michel Foucaults, der Foucaults Bezüge auf Nietzsche sorgfältig im Einzelnen dokumentiert; Erb, Evolution, Genealogie und ‚Gegen-Anthropologie‘, der zeigt, dass Foucault Nietzsche zunächst von Darwins Evolutionstheorie her las.  NL /, [], KSA ./KGW IX, W I , ..  Die Zuordnung der Perspektiven Luhmanns und Foucaults zueinander hat noch kaum begonnen. Zu ersten tastenden Versuchen vgl. Reinhardt-Becker, Art. Niklas Luhmann.  Vgl. Honneth, Kritik der Macht,  – .

4 Die Machtkontexte der Demokratie

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seinen transatlantischen Weiterungen. Man ging jeweils von Herrschaft aus; die Demokratie als ‚Herrschaft des Volkes‘ führt sie noch immer in ihrem Namen. Aber mit der Demokratie brach sich die Herrschaft. Als selbstbezügliche Herrschaft der Beherrschten über sie selbst wird Herrschaft in ihr paradox und muss durch andere Begriffe entparadoxiert werden. Der erste könnte Macht, der zweite, nachdem im Zug der Demokratisierung auch Macht anstößig wurde, Luhmanns Anregung folgend Einfluss sein. Das Selbstverständnis der Demokratie evoluierte unter wechselnden Einflüssen in wechselnden Kontexten, dabei kam es wechselnd zur Moralisierung und Entmoralisierung, Temporalisierung und Enttemporalisierung, Personalisierung und Entpersonalisierung, Juridifizierung und Informalisierung, Routinierung und Anonymisierung der Macht, und bei alldem blieb die Macht situativ, organisiert und latent zugleich. In der modernen Demokratie erlebt unsere Zeit das komplexeste Machtspiel der Geschichte. Wir versuchen dessen Kontexte mit wenigen, zugleich historischen und systematischen Konturen möglichst übersichtlich und ‚entmoralisiert‘ vorzuzeichnen, um dann im nächsten Kapitel (X) zu verfolgen, in welche spezifischen Kontexte Nietzsche und Luhmann die Demokratie stellten. Sie selbst haben diese Kontexte weitgehend vorausgesetzt, nicht eigens herausgearbeitet.

4.1 Paradoxierung der Herrschaft in der antiken Demokratie Demokratie wurde im antiken Athen und wird bis heute als Form politischer Herrschaft verstanden. Abraham Lincoln stellte mit seiner griffigen Definition in seinem Gettysburg Address, nach der die Demokratie „the government of the people, by the people and for the people“ sei, heraus, dass politische Herrschaft in ihr selbstbezüglich wird – und vermied den Begriff der ‚Herrschaft‘ (power, rule, command). Auch wenn man Selbstbezüge in der antiken Philosophie noch scheute, weil man infinite Regresse fürchtete, die dem Denken in festen Begrenzungen zuwiderliefen, ließ man sich in der politischen Praxis dennoch auf sie ein. Selbstbezüge machen Begriffe, hier die Begriffe der Herrschaft und des Volkes, tautologie-, aber auch paradoxieanfällig und damit entscheidbar (Einl.). Mit dem Übergang zur Selbstbezüglichkeit der politischen Herrschaft in der athenischen Demokratie wurde die politische Herrschaft als solche zum expliziten Problem. Die Herrschaft fiel auch in der Demokratie bekanntlich niemals der Bevölkerung im Ganzen (laós) zu. Die Bevölkerung wurde nur zum Teil, wenn auch schrittweise in größerem Umfang in sie einbezogen, wenn neue politische Umstände es nahelegten; auch dann blieb Demokratie noch die Herrschaft eines Teils des Volkes über das Volk im Ganzen. Das wiederholte sich unter veränderten Bedingungen und in weit längeren Zeiträumen im Römischen Reich und wie-

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derholt sich erneut in modernen Demokratien. Dafür, dass die Beherrschten überhaupt in die Herrschaft einbezogen wurden, sprach die Erfahrung, dass sie sich dadurch stabilisieren konnte; sie verlor an Gegnern. Mit der Vielzahl der Herrschenden stieg aber auch die Gefahr, dass die Herrschaft ganz zerfiel. Mit der Demokratisierung wurde und wird so die Stabilität der Herrschaft zum Problem. Demokratie erforderte und erfordert explizite, in Form von positivem Recht erlassene und schriftlich niedergelegte Regelungen (wie das antike Athen und das moderne Großbritannien zeigen, nicht schon geschriebene Verfassungen). Sie wurde, noch bevor es ihren Begriff gab, als eunomía, ‚guter Rechtszustand‘, verstanden – mit den Gegensätzen dysnomía, ‚schlechter Rechtszustand‘, und anomía, ‚fehlender Rechtszustand‘, ‚Gesetzlosigkeit‘. Durch explizites Recht wird die Herrschaft gelöst von konkreten Entscheidungssituationen und Personen, die in ihnen entscheiden; sie wird generalisiert und als Herrschaft des Rechts metaphorisiert und symbolisiert. Aber auch das Recht gewährt nur bedingt Stabilität. Auch wenn es Explizitheit, Enttemporalisierung und Entpersonalisierung der Herrschaft ermöglicht, kann es als Recht jederzeit verändert werden – nun unter Vorgaben des Rechts selbst. Damit wird auch das Recht und seine Herrschaft selbstbezüglich und paradoxieanfällig: Das veränderliche Recht kann, um Stabilität zu sichern, zwar verbieten, selbst verändert zu werden; dem kann dann aber, bis heute, gefolgt werden oder auch nicht. Stabilität der Herrschaft wird durch Recht wahrscheinlicher, aber nicht sicher. Das einerseits Bindungen auferlegende, andererseits aber Freiheiten schaffende Recht löste im antiken Athen einen gleitenden Übergang von der eunomía zur isonomía aus, dem ‚gleichen Rechtszustand‘ für alle (einheimischen, männlichen, erwachsenen) Bürger zunächst in der Volksversammlung, dann auch im Zugang zu Ämtern. Erst dadurch wurde die (ausgewählte) Bevölkerung als démos identifizierbar, wurden die Stimmberechtigten zu políteis einer politeía, eines durch seine rechtliche Verfassung und Verwaltung bestimmten Gemeinwesens (lat. res publica, ‚Republik‘). Für diese identifizierbare Herrschaft von Gleichgestellten wurde dann auch der Begriff demokratía gängig: der démos geht der demokratía nicht voraus, sie konstituiert erst den démos, der über sich selbst herrscht. So ist nicht der démos, sondern die demokratía autonom, selbstgesetzgebend. Der démos herrscht im Rahmen und im Namen der demokratía. Auch die Herrschaft wird entpersonalisiert. Einer mächtigen pólis wie Athen ging es jedoch über die Autonomie im Sinn der Selbstgesetzung der Demokratie hinaus um Autarkie im Sinn der politischen und ökonomischen Unabhängigkeit von anderen póleis (autokrátor heautáes), die laufend gewaltsam erkämpft wurde. Die politische und ökonomische Unterlegenheit der einen pólis lud andere zu ihrer Unterwerfung ein; es gab nicht so etwas wie einen demokratischen Geist, der die póleis im Konsens vereinigt hätte. Die

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antike Demokratie war nicht schon auf Frieden hin angelegt und dadurch im christlichen und modernen Sinn moralisch höherstehend; sie war auch selbst nicht der moralisch höchste Wert, sondern bewies sich im Gegenteil dadurch, dass sie die Kampfkraft stärkte, unter anderem, weil nun alle an Entscheidungen für Kriege beteiligt waren. Damit riskierte man – exemplarisch in den Kriegen Athens gegen Sparta – laufend die Demokratie selbst. Auch die isonomisch verfasste Demokratie schloss besonders begüterte und einflussreiche Schichten und der Sache nach auch Alleinherrschaft nicht aus. In seiner Blütezeit, dem perikleischen Zeitalter, war Athen bekanntlich „dem Namen nach eine Demokratie, in Wirklichkeit aber die Herrschaft des Ersten Mannes“.³⁸⁰ Soweit man jedoch wie Platon und Aristoteles auf die Herrschaft der ‚Besten‘ (áristoi) drängte, brachte man die Demokratie in einen Gegensatz zur Aristokratie und Monarchie, indem man die Herrschaftsformen nach der Zahl, der Quantität der Regierenden, einteilte, ohne ihr einen moralischen Vorrang einzuräumen.³⁸¹ Zugleich vermied man dadurch die Selbstbezüglichkeit und Paradoxierung der Herrschaft; der Zahl nach gab es immer Herrschende. Doch standen den Begriffen ‚Demokratie‘, ‚Aristokratie‘ und ‚Monarchie‘ die abwertenden Begriffe ‚Ochlokratie‘, ‚Oligarchie‘ und ‚Tyrannis‘ gegenüber. Mit ihnen wurde die Herrschaft nach ihrer moralischen Qualität unterschieden, ob sie nämlich dem Wohl der Beherrschten oder der Herrschenden selbst diente. Die Demokratie wurde dabei nicht vor der Monarchie und Aristokratie, sondern nur gegenüber der Ochlokratie, der ‚Herrschaft eines wirren Haufens‘, moralisch ausgezeichnet. Sie behauptete sich auch nicht aufgrund ihrer moralischen Qualität. Die Erfahrung war vielmehr, dass nicht nur die Quantität der Herrschenden wechseln, sondern auch die Qualität der Herrschaft kippen kann. Demokratie als gute Herrschaft der Beherrschten hatte nur als Norm Bestand. In der praktischen Politik entwickelten sich Mischverfassungen, pragmatisch gesonnene Philosophen wie Aristoteles oder Cicero entwarfen Kreislaufmodelle. Schlechte Herrschaft aber war nach dem Aufkommen der Demokratie in jeder Form so unerträglich, dass man schon damals unausgesprochen das Paradox riskierte, die Stabilisierung der demokratischen Herrschaft durch ihre Destabilisierung zu erreichen: in Gestalt ihrer Partikularisierung und erneuten Temporalisierung, der Verteilung der Herrschaft auf eine Mehrzahl von Ämtern mit begrenzter Zuständigkeit und Dauer, was nur unter Bedingungen hoher politischer

 Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, , ,  (S. ).  Nach Meier, Art. Demokratie I,  f., wurden krateîn (‚Demokratie‘, ‚Aristokratie‘) und árchein (‚Oligarchie‘, ‚Monarchie‘) gleichbedeutend gebraucht. Der Versuch von Jean-Luc Nancy, Begrenzte und unendliche Demokratie, , krateîn von árchein als usurpierte von legitimer, durch ein Prinzip legitimierter Herrschaft zu unterscheiden, lässt sich nicht durchhalten.

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und ökonomischer Autarkie möglich war. Stabilität wurde dabei immer weniger von den jeweils herrschenden Personen oder nun: zur Ausübung der Macht Befugten und immer mehr von den rechtlich verfassten Verfahren erwartet, ihnen die Befugnis zur Machtausübung zu verleihen. In starken und reichen antiken póleis trieb man das bis zum Extrem von Losentscheidungen in der Volksversammlung, die die Auswahl der Amtsinhaber gegen alle wohlfeilen politischen und ökonomischen Beeinflussungen abschirmen sollten. Durch Losentscheidung oder, bei der Auswahl führender Amtsinhaber, insbesondere der Strategen, durch Mehrheitsentscheidung auf kurze Zeit zur Machtausübung Befugte können sich nicht mehr als Herrschende betrachten. Der Sinn des Begriffs Herrschaft reibt sich in der Demokratie auf. Während der Begriff Herrschaft noch stärker mit Personen verbunden wird, löst sich der Begriff der Macht von ihnen, die Personen wechselnd haben oder nicht haben können.

4.2 Autonomisierung der Macht durch ihre moderne Demokratisierung Mehrheitsentscheidungen erfordern die Zuspitzung oft hochkomplexer Sachlagen auf einfache Ja/Nein-Alternativen, über die dann abgestimmt werden kann.³⁸² Sie müssen in den abstimmenden Versammlungen entsprechend verkürzt argumentativ vertreten werden. Damit wird die Ausübung der Macht weniger von hergebrachter Weisheit (sophía) erfahrener Männer als von geschulter Überzeugungskunst geschickter Redner (téchnae rhetorikáe, Rhetorik, Sophistik) abhängig, wogegen Platon, politisch weitgehend erfolglos, im Namen der Wahrheit (philosophía) opponierte. Die Erfahrung war, dass in politischen Versammlungen Argumente immer schon in strategischer Absicht vorgetragen werden. So blieb nur, politische Entscheidungen statt von der Qualität der Argumente von der Quantität der Stimmen abhängig zu machen. Da man nicht auf eine offensichtlich nicht allen gemeinsame, alles gleich beurteilende Vernunft setzen konnte, räumte man Freiheit und Gleichheit in der Abstimmung ein und ließ die Gründe der Einzelnen für ihre Stimmabgabe offen. Das blieb ein ausschlaggebendes Merkmal der Demokratie auch in der Moderne: Bei Abstimmungen kann von der Vernunft der Einzelnen und der Vernünftigkeit ihrer Meinungen und Argumente abgesehen werden; da sie immer strittig bleiben, belässt man sie (in der Abstimmung, nicht in der politischen Auseinandersetzung) im Dunkeln. So wurde die politische Macht  Vgl. Flaig, Die Mehrheitsentscheidung,  – . Flaig selbst will nicht auf Abstimmungen, sondern auf ein „Mehrheitsprinzip“ hinaus, das durch Aushandeln von Gruppeninteressen und Parteiungen gerade bedroht sei. Das Mehrheitsprinzip ist für ihn einer rousseauschen volonté générale verpflichtet, die durch Deliberation ermittelt wird und Abstimmungen letztlich erübrigt.

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durch ihre Demokratisierung nicht nur gegenüber Einzelpersonen, sondern auch gegenüber tatsächlich oder vermeintlich besserem Wissen, einschließlich dem der Wissenschaften und der Philosophie, autonomisiert.³⁸³ Durch organisierte Mehrheiten kann weit rascher und damit viel mehr politisch entschieden und schließlich nahezu Beliebiges politisiert werden.³⁸⁴ Dadurch entsteht ein potentiell unbegrenztes Mitspracherecht aller (Wahlberechtigten) in allen Angelegenheiten – soweit sie, unabhängig von der strittig bleibenden Vernünftigkeit ihrer Argumente, im Rahmen des Rechts Mehrheiten bilden können. Auf dieser Basis wird Demokratie zur Demokratisierung, zu einem „Tendenz- und Bewegungsbegriff“.³⁸⁵ Er verweist nicht auf ein Endziel, sondern auf eine ungerichtete Evolution nicht nur der Form der Machtausübung, sondern mit ihr auch der Lebensform der Gesellschaft im Ganzen. ‚Demokratie‘ wird aus einem konstativen zu einem performativen Begriff, sie bleibt ‚im Kommen‘³⁸⁶ und wird dabei ‚unaufhaltsam‘.³⁸⁷ Die mit der Demokratie autonom gewordene Macht wird als Demokratisierung autopoietisch, baut sich selbst immer weiter aus. Historisch setzte die Demokratisierung freilich über Jahrtausende weitgehend aus; selbst der Begriff wurde bis zum 18. Jahrhundert kaum mehr und selbst von den französischen Revolutionären nur zögernd gebraucht. Die athenische Demokratie erwies sich als Experiment von vergleichsweise kurzer Dauer, die Einrichtung des Volkstribunats in der römischen Republik verlor mit dem Übergang zum Kaisertum wieder seine Bedeutung, im Mittelalter wurden demokratische Wahlverfahren, soweit sie noch diesen Namen verdienten, nur in eng begrenzten Gremien, unter anderem zur Wahl des Deutschen Kaisers und des Papstes, fortgeführt, um in schwierigen Machtverhältnissen Kriegen vorzubeugen. Europa sah sich, mit Ausnahme Großbritanniens, die längste Zeit seiner Geschichte nicht der Demokratie und Demokratisierung verpflichtet, hielt freie und gleiche Mitspracherechte nicht für oberste Werte. Nur der Appell an gute Herrschaft im Sinn der Beherrschten hielt sich durch – unabhängig von der Demokratie. Sie entstand in der Moderne neu unter der Voraussetzung von Staaten, die aus dem, was in der Antike die pólis war, als organisierte bürokratische ‚Polizey‘ im

 Flaig, Die Mehrheitsentscheidung,  f., setzt dennoch mit Aristoteles, Pol., a–b, darauf, dass auch die Vielen an der Demokratie Beteiligten die einzig richtige Entscheidung treffen können. Eine tragfähige philosophische Begründung dafür ist, so Flaig  f., freilich nicht gelungen und wird auch kaum gelingen; sie ist offenkundig illusorisch. So auch, für die Demokratie generell, Nancy, Begrenzte und unendliche Demokratie, .  Flaig, Die Mehrheitsentscheidung,  f.  Bien/Maier, Art. Demokratie, .  Vgl. Derrida, Schurken, .  Nietzsche, MA II, WS  (Kap. X, .).

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weitesten Sinn einer Verwaltung der politischen Angelegenheiten ausdifferenziert wurden. Eine solche ausdifferenzierte Verwaltung, die es im antiken Athen noch nicht gab, setzte die Monopolisierung der Gewalt voraus, die es damals auch noch nicht gab: Der Staat konstituierte sich bekanntlich dadurch, dass alle physische Gewalt, wie sie insbesondere durch die christlichen Konfessionskriege entfesselt worden war, durch eine zentrale Gewalt beherrschbar, Gewalt also ebenfalls selbstbezüglich wurde, der Staat so als einerseits kriegsbereite, andererseits friedensstiftende Macht auftreten konnte. ‚Gewalt‘ konnte zum Begriff seiner alleinigen politischen Amts- und Entscheidungsgewalt, zur ‚Staatsgewalt‘ werden. Der Staat wurde zum Souverän der Gewalt (Hobbes) – noch vor der demokratischen Organisation seiner Macht. Er wurde zum Rechtsstaat, soweit ein dauernder friedlicher Zustand (lat. status) durch geltendes Recht stabilisiert wurde – was wiederum nicht Demokratie voraussetzte: Ein demokratischer Staat muss wohl ein Rechtsstaat, ein Rechtsstaat aber noch kein demokratischer sein. Als demokratischer aber wurde auch der Rechtsstaat selbstbezüglich, indem er sich selbst durch Gewaltenteilung und die Gewährung von Grundrechten Grenzen gegenüber seinen Bürgern zog. Im Zeitalter der Aufklärung sollte die Demokratie im Namen einer reinen, in allen gleichen und für alle gleich verbindlichen Vernunft neu geschaffen, Abstimmungen unter den volontés de tous überflüssig werden, wenn weise Männer die volonté générale zu ermitteln wüssten (Rousseau). Die für Europa maßgebliche neue Erfahrung mit der revolutionären Demokratie in Frankreich, dem Terror im Namen der Idee einer Demokratie aus reiner Vernunft, wirkte politisch so abschreckend, dass außer in Großbritannien und den Vereinigten Staaten von Amerika auf Jahrhunderte hinaus trotz aller Demokratisierungsbestrebungen hierarchische Herrschaft immer wieder hingenommen,wenn nicht begrüßt wurde. Die Berufung auf eine reine Vernunft erwies sich für die Demokratie als kontraproduktiv.

4.3 Einflüsse auf die Demokratisierung der Macht seit dem 19. Jahrhundert Statt der reinen setzte sich weithin die repräsentative Demokratie durch. Weil zum einen in großen Staaten Versammlungen des stimmberechtigten Volkes kaum möglich sind und, wären sie möglich, nicht schnell genug auf neue politische Situationen reagieren können, und weil zum andern differenzierte politische Institutionen differenzierten Sachverstand erfordern, muss auch und gerade in politischen Belangen die Macht von Leuten ausgeübt werden, die sich durch besondere Orientierungs-, Urteils- und Entscheidungsfähigkeit empfehlen. In Wahlen entschieden wird dann nur noch, wem diese Fähigkeiten von welcher

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Klientel am ehesten zugeschrieben werden. In ‚Parlamente‘ gewählte ‚Repräsentanten‘ vertreten bestimmte Wählerkontingente, nicht eine generalisierte Vernunft. Aufgrund der weiteren Erfahrung, dass der parlamentarische Meinungs- und Machtkampf Bündnisse erfordert, verbinden sich die Repräsentanten zu Fraktionen und Parteien, die politische Interessen erweiterter, aber weiterhin spezifischer Wählerkontingente wahlwirksam artikulieren und ventilieren können. So wurde die Demokratie zur Parteiendemokratie. Indem sich Parteien gegen Ende des 19. Jahrhunderts Organisationen schufen, ermöglichten sie auf Dauer einen geordneten Wechsel von Regierung und Opposition. Weil Parteien bei jeder Wahl mehr versprechen mussten, um gewählt zu werden, bahnten sie, verstärkt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, den Weg in den Wohlfahrtsstaat, in dem demokratisch die Bedürfnisse aller bestmöglich erfüllt werden, zuweilen auf Kosten künftiger Generationen. Parteien formulieren für Wahlen politische Prinzipien und Programme und gehen nach den Wahlen Kompromisse ein, in denen die Prinzipien wieder zurückgestellt werden können. Dadurch steigt einerseits die Autonomie und die Komplexität der Ausübung politischer Macht, andererseits aber auch, soweit von Politiker(inne)n Prinzipienfestigkeit erwartet wird, das Misstrauen in die Prinzipien und die politische Moral überhaupt. Die für moderne Demokratien unentbehrlichen, zugleich jedoch unvermeidlich zwischen prinzipieller Begründung und pragmatischer Realisierung oszillierenden politischen Parteien geraten so unter moralischen Generalverdacht und mit ihr die Demokratie selbst. Die Erfahrung, dass Macht und mit ihr Recht und Moral nur in begrenzten Reichweiten durchzusetzen ist, hatte schon zu Beginn der Moderne die Entwicklung von regionalen Staaten begünstigt. Waren deren Grenzen in Europa zunächst durch Eroberungen und dynastische Ansprüche vorgezeichnet, so suchte man sie im Zug der Entmachtung der Monarchen durch gemeinsame Abstammung, Sprache, Religion, Geschichte, Kultur usw. zu begründen, durch das, was, meist stark stilisiert, eine Nation ausmachen sollte.³⁸⁸ Im Namen der Nation konnten und mussten zugleich alle Standes- und Rangunterschiede zurücktreten. Moderne Demokratien nutzten diese neue Identifikationsmöglichkeit, legten sich

 Zur Fragwürdigkeit der Verwandtschaftlichkeit in Konzeptionen des Politischen vgl. Derrida, Politik[en] der Freundschaft. Die ‚Nation‘ (von lat. nasci, ‚geboren werden‘) wird als natürlich imaginiert; bei Verwandtschaft muss niemand um sein (demokratisches) Einverständnis gefragt werden. So hält die ‚Nation‘ das Kommen der Demokratie (democratie à venir) in einer Weltgesellschaft (ihre mondialisation) auf: „Bis heute ist Demokratie ein nationales und innerstaatliches politisches Organisationsmodell, das die Grenzen des Staatswesens nicht überschreitet.“ (Derrida, Schurken, )

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durchweg auf Nationalstaaten fest, differenzierten sich zu unterschiedlich ausgeprägten nationalen Demokratien. In deren Namen konnten nun statt vergleichsweise kleiner fallweise zusammengestellter und bezahlter Söldnerheere große und teure stehende Heere einberufen werden, die aus nationaler Begeisterung kämpften. Wie antike Demokratien blieben moderne demokratische oder sich demokratisierende Nationalstaaten gegeneinander weiter kriegsbereit. Auch die im 19. Jahrhundert durch Liberalisierung, Marktwirtschaft und Industrialisierung entstehende Massengesellschaft bestärkte die Demokratisierung und gefährdete sie zugleich – durch den Wunsch nach klarer und entschiedener Orientierung der Massen durch demokratisch ermächtigte oder selbsternannte ‚Führer‘. Straffe hierarchische Organisation kann, auch wenn sie mit Repression, Gewalt und Vernichtung verbunden ist, höher geschätzt werden als demokratisch ausgehandelte Kompromisse. Massendemokratie kann immer bereit sein, Demokratie für Führer(innen) zu opfern. Ihre Erhaltung ist darum auf vielfältige Stabilitätsressourcen anderer Art angewiesen. Demokratien machen beim Wahlvolk einen Grad an Informiertheit wünschenswert, der auch bei komplexen Problemen sachgerechte Wahlentscheidungen ermöglicht. Dazu müssen, wenn sich Regierung und Opposition gegenüberstehen, politisch relevante Informationen möglichst unabhängig von beiden bereitgestellt werden. Das wird in modernen Demokratien von politisch unabhängigen Massenmedien erwartet und durch deren marktwirtschaftliche Aufstellung gefördert: Sie können dann ihrerseits auf dem Meinungsmarkt um die Formierung der öffentlichen Meinung konkurrieren, woran sich wiederum die Machthabenden oder nach der Macht Strebenden in ihren politischen Entscheidungen orientieren können. Die Massenmedien gelten darum, wiewohl selbst nicht demokratisch organisiert, als vierte Gewalt in der Demokratie. Über die öffentliche Meinung beeinflussen seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zugleich politisch engagierte, nach ihrem Selbstverständnis aber nicht selbst politisch operierende und ebenfalls nicht demokratisch gewählte Nicht-Regierungs-Organisationen die Machtausübung gerade demokratischer Staaten. Sie folgen häufig erklärten moralischen Verpflichtungen (commitments), die sie zu bekräftigen und zu verbreiten suchen, und erwerben sich damit ihrerseits oft hohe moralische Achtung. So treiben sie die Forderung nach politischem Einfluss in nicht-parlamentarischer Form voran. Die rechtsstaatlich institutionalisierte Demokratie demokratisiert sich weiter auf nicht demokratisch institutionalisierte Weise. Die Entwicklung neuer Verkehrs- und Kommunikationsmittel machte die Nationalstaaten immer stärker füreinander durchlässig und voneinander abhängig. Sie beschleunigte durch den Prozess, der dann ‚Globalisierung‘ genannt wurde, die Bildung einer Weltgesellschaft. Politisch organisiert wurde sie unter

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dem Namen Vereinte Nationen wiederum als Demokratie unter den – mehr oder weniger demokratisch organisierten – Nationalstaaten, ohne Voraussetzung und Absicht eines Weltstaates. Trotz einer Vielzahl nur gemeinsam zu lösender globaler Probleme sprechen nicht nur die Erfahrungen mit den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts gegen einen Weltstaat mit starker Handlungsmacht; seine konsequente Errichtung wäre vorerst nur durch neue verheerende Kriege gegen unwillige Nationalstaaten möglich. Stattdessen üben mächtige Demokratien diplomatischen, politischen und ökonomischen Druck auf die Demokratisierung weniger mächtiger und weniger demokratischer Staaten aus – soweit sich das mit ihren sonstigen Interessen vereinbaren lässt. Demokratie entwickelt sich auf diese Weise auch in der Globalisierung vielfältig weiter, ohne dass man sagen könnte, worin sie letztlich besteht oder bestehen, worauf sie hinauslaufen wird. Das scheint auch nicht notwendig zu sein. Denn der Name ‚Demokratie‘ fungiert inzwischen als Sonde zur Erschließung dessen, was sie sein könnte, und dabei kann ihr Begriff ebenso fluktuant bleiben wie die Ausübung der Macht in ihr, bis dahin, dass Demokratie laufend sich selbst und ihr moralisches Recht zur Machtausübung in Frage stellen kann.³⁸⁹

 Vgl. Nolte, Demokratie,  – , und Derrida, Schurken, : „Die Demokratie ist das einzige System, das einzige Verfassungsmodell, in dem man prinzipiell das Recht hat oder sich nimmt, alles öffentlich zu kritisieren, einschließlich der Idee der Demokratie, ihres Begriffs, ihrer Geschichte und ihres Namens. Einschließlich der Idee des Verfassungsmodells und der absoluten Autorität des Rechts. Also das einzige universalisierbare, und darin liegt seine Chance und seine Zerbrechlichkeit.“ Wie sehr der Begriff der Demokratie dabei ausufern kann, bezeugt der Sammelband: Agamben u. a., Demokratie.

X Ausgleichende Orientierung: Nietzsches und Luhmanns Kontextualisierungen der Demokratie Für Nietzsche und Luhmann war die Demokratie kein Kern-, nur ein Teilproblem; beide haben keine kompakten Demokratiekonzepte oder -theorien entwickelt, ihre Hinweise auf die Demokratie sind weit in ihrem Werk verstreut.³⁹⁰ Nietzsche hatte, wie er selbst bekannte, für Politik, so wie er sie erlebte, wenig übrig: Alle politischen und wirthschaftlichen Verhältnisse sind es nicht werth, dass gerade die begabtesten Geister sich mit ihnen befassen dürften und müssten: ein solcher Verbrauch des Geistes ist im Grunde schlimmer, als ein Nothstand. (M 179)³⁹¹

Zudem gilt er als Antidemokrat,³⁹² lehnte die Demokratie aber nicht einfach ab. Sie blieb für ihn ein herausforderndes Problem, dem er sich immer neu stellte.³⁹³ Auch

 Zum Stand der Erforschung von Nietzsches politischer Philosophie, soweit man von einer solchen sprechen kann, vgl. die Forschungsberichte von Siemens, Nietzsche’s Political Philosophy; Lotter, „So wenig als möglich Staat!“; Drochon, Nietzsche and Politics, ferner die Einleitungen der Herausgeber von Sammelbänden: Ansell Pearson (Nietzsche and Political Thought) und Knoll/Stocker (Nietzsche as Political Philosopher). Zur zunächst scharf abwehrenden, dann lange zögerlichen, inzwischen aber offeneren Auseinandersetzung mit Luhmanns politischer Soziologie im Allgemeinen und seiner Demokratietheorie im Besonderen in der Politikwissenschaft vgl. Göbel, Politikwissenschaft und Gesellschaftstheorie; Hellmann/Schmalz-Bruns (Hg.), Theorie der Politik; Czerwick, Art. Politikwissenschaft. Hellmann hat einführende und kritische Übersichten zu Luhmanns politischer Soziologie (Einleitung zu Hellmann/Schmalz-Bruns (Hg.), Theorie der Politik; Hellmann, Spezifik und Autonomie des politischen Systems; Hellmann, Art. Die Politik der Gesellschaft), Czerwick im Besonderen zu Luhmanns Demokratietheorie (Systemtheorie der Demokratie) vorgelegt, beide ebenfalls aus politikwissenschaftlicher Perspektive. Eine Übersicht über das weite Spektrum aktueller politikwissenschaftlichen Demokratietheorien im Ganzen gibt Buchstein, Demokratietheorie. Die Nähe von Nietzsches politischer Philosophie und Luhmanns politischer Soziologie stand bisher, soweit ich sehe, nicht im Fokus.  Zur historischen Konkretion dieser Äußerung und zahlreichen weiteren Belegen vgl. Brobjer, Critical Aspects of Nietzsche’s Relation to Politics and Democracy.  Er selbst mokierte sich ironisch darüber, dass ihm „die treffliche Frau Röder-Wiederhold“, die ihm eine Weile als Sekretärin diente, einen „entsetzlichen ‚Antidemokratismus‘“ zuschrieb (Brief an Resa von Schirnhofer, Juni , Nr. , KSB .). Die Stelle wird jedoch immer wieder beim Wort genommen, selbst im Art. Demokratie des Nietzsche-Wörterbuchs (). Nietzsches bekannte Vorbehalte gegen die Demokratie als Herrschaftsform sind zusammengestellt in Marti, „Der große Pöbel- und Sklavenaufstand“. Zu Nietzsches Auseinandersetzung mit Revolution und Demokratie, vgl. bes.  – , und den genannten Art. Demokratie des Nietzsche-Wörterbuchs (Bd. ,  – , hier ).

X Ausgleichende Orientierung

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Luhmann behielt sich, ein Jahrhundert später, Skepsis gegen die Demokratie vor – um sie in weiteren Horizonten verstehen zu können. Statt eine vermeintliche Fundierung der Demokratie in Prinzipien zu suchen, blickten beide auf evolutionäre Experimente mit ihr, waren also offen für den historischen und systematischen Wandel ihres Sinns und insbesondere für die Steigerung ihrer Komplexität. Beide waren, wie Luhmann es formulierte, „bemüht, von den Realitätsverzeichnungen freizukommen, die in den teleologischen, wertmäßigen oder normativen Perspektiven des Handelns begründet sind“ (GI, 202). Denn ein normatives Konzept der Demokratie verleitet, bei sich selbst Besitz der Wahrheit und beim anderen Mißbrauch des Begriffs zu unterstellen. Definiert man Demokratie dagegen funktional im Hinblick auf das Problem der Komplexität, so legt man den Begriff nicht im voraus auf bestimmte Strukturen und Prozesse fest, sondern hält ihn offen für den unvoreingenommenen Vergleich verschiedener Möglichkeiten. (KuD, 42)

 So konnte eine breite anglo-amerikanische Debatte darüber entstehen, ob und inwieweit sich Nietzsches Philosophie für ein aktuelles Denken der Demokratie fruchtbar machen ließe. Dabei wird jedoch, wie zu erwarten, mit sehr unterschiedlichen Verständnissen dessen gearbeitet, was Demokratie überhaupt und bei Nietzsche bedeutet. Die Debatte führte im Ganzen mehr zur Verhärtung der Positionen gegeneinander als zu klaren und weiterführenden Antworten, zumal man methodisch so verfuhr, dass man besonders aus nicht zur Veröffentlichung vorgesehenen Notaten scheinbar eindeutige Aussagen herauszog, aus diesen Ambivalenzen oder Widersprüche konstruierte, sich dann für eine bestimmte Deutung entschied und Nietzsche danach dem einen oder andern Lager zuschlug. Bei einem Philosophen wie Nietzsche geht es jedoch weniger um ein politisches oder moralisches Ja oder Nein zur Demokratie, sondern um die Erschließung ihrer Kontexte. Dabei hat der Ansatz, die soziale Triebkraft des Wettkampfs (agôn), in dem Nietzsche (mit Jakob Burckhardt) den Grundzug der alten griechischen Kultur erkannte, auch für die moderne Demokratie stark zu machen, viel für sich. Nietzsche selbst hat die Verbindung jedoch nicht hergestellt, den agôn vielmehr Aristokraten vorbehalten, die, um sich ihm widmen zu können, sich durch Sklaven von Arbeit freihielten. Aus dem agôn ein Konzept für einen Sklaven-Aufstand marginalisierter und diskriminierter Gruppen in der Gegenwart zu machen, wie es zuweilen versucht wurde, lag nicht in Nietzsches Horizont; stattdessen dachte er „über die Nothwendigkeit neuer Ordnungen, auch einer neuen Sklaverei“ in einem nun sehr verfeinerten Sinn nach (FW ). Vgl. dazu Siemens, Nietzsche’s Political Philosophy,  f., Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie,  – , und zum aktuellen Stand der agôn-Debatte Siemens, Reassessing Radical Democratic Theory in the Light of Nietzsche’s Ontology of Conflict. Ich versuche, nach Siemens’ gründlichem „rethinking [of] key democratic values like equality, freedom and popular sovereignty, in Nietzschean terms“ (Siemens, Yes, No, Maybe So …, ), diese nun von einem in der Debatte bisher wenig beachteten, inzwischen aber sehr aktuell gewordenen Ausgangspunkt Nietzsches aus, der ‚Aufgabe der Erdregierung‘ in einer sich verdichtenden Weltgesellschaft, ‚in Luhmannian terms‘ für die Gegenwart zu durchdenken.

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Die biographischen Bedingungen von Nietzsches und Luhmanns Befassung mit der Demokratie waren naturgemäß sehr unterschiedlich, in manchem aber erstaunlich ähnlich. Als Nietzsche in den 1870er Jahren in die Philosophie eintrat, war es unter Intellektuellen in Europa noch üblich, abschätzig von allem Demokratischen zu sprechen,³⁹⁴ insbesondere von der Parteipolitik und ihren Foren, den Parlamenten, die in Deutschland unter der Regierung Bismarcks noch wenig bewirkten. Im Bann Schopenhauers sprach sich Nietzsche, trotz erheblicher Skrupel, entschieden für eine neue Sklaverei aus, jedoch nicht um der Macht, sondern um der Steigerung der Kultur willen, und prangerte „die schönen Verführungs- und Beruhigungsworte von der ‚Würde des Menschen‘ und der ‚Würde der Arbeit‘“ (GT 18, KSA 1.117) und andere „Phantome“ dieser Art als „dürftige Erzeugnisse des sich vor sich selbst verbergenden Sklaventhums“ an.³⁹⁵ Den deutsch-französischen Krieg, der die Gründung des II. Deutschen Reiches als konstitutionelle Monarchie vorbereitete, erlebte er in einem freiwilligen, aber kurzen Einsatz als Sanitäter an der Front unmittelbar mit – und hielt nichtsdestoweniger die ‚große Politik‘ Bismarcks für weit überschätzt gegenüber dem Problem der Kultur in Deutschland, die er im Verein mit Richard Wagner „aus dem Geiste der Musik“ von Grund auf erneuern wollte. Angesichts der „greulichen Nichtigkeit der sämmtlichen Parteien, [der] kirchlichen mit eingeschlossen“, ersehnte er, wie er für sich notierte, eine „Heilung von der Politik“, vom „politischen Fieber“ überhaupt.³⁹⁶ In der Schweiz lehrend und lebend, sah er in der Demokratie immerhin die Chance, die Bildung zu heben,³⁹⁷ zugleich aber auch die Gefahr einer

 Marti, „Der große Pöbel- und Sklavenaufstand“,  – , stellt ausführlich und sachgerecht dar, wie Nietzsche die Debatte unter führenden europäischen Intellektuellen im Europa des . Jahrhunderts über die Demokratie wahrnahm. Dazu gehörten besonders Walter Bagehot, Herbert Spencer, John Stuart Mill (durch den Nietzsche wahrscheinlich auch einiges über Tocqueville erfuhr), Charles-Augustin Sainte-Beuve, Ernest Renan, Hippolyte Taine, Stendhal, Gustave Flaubert und Charles Baudelaire. Martis Darstellung zeigt, dass Nietzsche auch in politischen Fragen dort am schärfsten angriff,wo ihm der Angegriffene zum Verwechseln nahe schien. In dem, „was in der Forschung als Nietzsches politische Philosophie bezeichnet wird“, kann Marti allerdings nicht mehr sehen als „eine Ansammlung von Stimmungen, tiefen Ängsten, vorsichtigen Hoffnungen und realitätsfernen Zukunftsvisionen“ (). Daraus spricht die Enttäuschung, bei Nietzsche keinen Gesamtentwurf einer politischen Philosophie wie etwa bei Machiavelli, Hobbes oder Rousseau zu finden. Bei Nietzsche findet sich freilich auch kein Gesamtentwurf der Metaphysik, Ontologie, Erkenntnistheorie, Anthropologie oder Ethik. Und doch hat er die Bedingungen ihrer Möglichkeit von Grund auf verändert.  NL , [], KSA ..  NL , [], KSA ..  „Demokratische aufrichtige Staaten haben die höchste Erziehung um jeden Preis Allen zu gewähren.“ (NL , [], KSA .)

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Verflachung der Bildung.³⁹⁸ Für den jungen Professor der Klassischen Philologie reichte die Verflachung der Kultur durch die Demokratie bis zu Sokrates zurück. Selbst durch dessen überragende Redefertigkeit habe sich auf eine Philosophie, die unter gleichberechtigten Dialogpartnern entwickelt wurde, also in einem nicht parteipolitischen Sinn demokratisch angelegt war, keine „Volkskultur“ begründen lassen: „Am meisten hat demokratisch-demagogische Tendenz Sokrates: der Erfolg sind Sektenstiftungen, also ein Gegenbeweis. Was solchen Philosophen nicht gelungen ist, wie sollte das den geringeren gelingen? Es ist nicht möglich, eine Volkskultur auf Philosophie zu gründen.“³⁹⁹ Aber Nietzsche wollte es nicht dabei belassen und es dennoch versuchen. Luhmann fiel die Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem er als 16jähriger noch als Luftwaffenhelfer Dienst zu leisten hatte, unvermittelt zu. Das ließ ihn wach und distanziert beobachten, aus welchen Quellen nun die neue staatliche und gesellschaftliche Ordnung geschaffen und legitimiert wurde.⁴⁰⁰ Das in Westdeutschland 1949 erlassene Grundgesetz bewährte sich sichtlich, auch wenn es noch einmal an die alten Ideen und Werte anknüpfte, die den nationalsozialistischen Terror nicht hatten verhindern können. So ging Luhmann, JuraAbsolvent und in der politischen Verwaltung tätig, in einer seiner ersten Monographien, Grundrechte als Institution von 1965, daran, die Grundrechte neu, nun soziologisch und systemtheoretisch zu deuten. Dabei zeigte er, wie sehr sich Demokratie gesellschaftlichen Voraussetzungen verdankt, die sie selbst weder schaffen noch gewährleisten kann,⁴⁰¹ nämlich der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, die ihrerseits wieder die Demokratisierung vorantrieb. Mit ihr kündigt sich, schloss Luhmann die Monographie, „ein neuartiges Verhalten des Menschen zur Welt an, dessen Deutung die Philosophie vor neue Aufgaben stellt“ (GI, 216). Die Hoffnung auf die Philosophie, die der junge Luhmann mit Nietzsche teilte, sollte auch ihn trügen (Kap. XII, 2). Die Philosophie seiner Zeit war in seinen Augen noch nicht weit genug. Wir beginnen die Darlegung von Nietzsches und Luhmanns Kontextualisierungen der Demokratie mit einem analytischen Teil. Hier zeigen wir, wie der

 „Frühzeitige Redefertigkeit schleift sich alle Gedanken zum sofortigen wirkungsvollen Gebrauche zurecht und ist deshalb leicht ein Hinderniß tiefen Erfassens und überhaupt einer gründlichen Einkehr in sich selbst. – Deshalb pflegen demokratische Staaten die Redefertigkeit auf den Schulen.“ (NL , [], KSA .)  NL , [], KSA ..  Vgl. Auw  f., und Horster, Niklas Luhmann,  – .  Die Einsicht erlangte später, allerdings mit anderen Begründungen, als ‚Böckenförde-Diktum‘ Berühmtheit („Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, ).

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Nietzsche vor allem von Menschliches, Allzumenschliches im Blick auf die Aufgabe der Erdregierung in einer kommenden Weltgesellschaft ein funktionales Verständnis der Demokratie und der Demokratisierung entwickelte, das Luhmann ein Jahrhundert später der Sache nach weitgehend bestätigen und bekräftigen konnte (1). Der zweite Teil nimmt Nietzsches bekannte Kritik an der Demokratie auf und kontextualisiert sie ihrerseits – im Horizont von Luhmanns weiterführenden Unterscheidungen. Der späte Nietzsche, der sich mit den feineren Tönen seiner frühen Aphorismenbücher nicht durchdringen sah und darum scharf polemisch zu stark simplifizierenden Unterscheidungen griff, bezog in seine Polemik nun auch die Demokratisierung ein, die ihm die christlich geprägte europäische Moral lediglich unter einer neuen Maske weiterzutradieren schien. Doch indem er ihre Ideale und Idealisierungen grell ins Licht stellte, machte er auch ihre Realitäten scharf sichtbar, zu ihrem Nutzen. Hier standen für ihn die Individuen im Vordergrund, die politisch zu befreien ein Ziel der Demokratie ist und die sie doch zugleich, so Nietzsche, in eine Schauspielergesellschaft zwingt. Die Schauspielergesellschaft aber verändert nach Luhmann auch die Individualität der Individuen (2).

1 Demokratisierung als funktionale Differenzierung des Politischen: Entstehung einer Weltgesellschaft 1.1 Die Unausweichlichkeit der Weltgesellschaft Die äußerste Aussicht, die die Demokratie bietet, ist eine demokratische Weltgesellschaft. Nietzsche stieg in die Debatte um die Demokratie mit dieser Aussicht ein. Er gebrauchte den Begriff ‚Weltgesellschaft‘ noch nicht, umso mehr Luhmann, insbesondere in seinem frühen Aufsatz Die Weltgesellschaft von 1971,⁴⁰² als von

 In WissG, , heißt es dann lapidar: „Gesellschaft ist Weltgesellschaft.“ Stichweh, Politik und Weltgesellschaft, moniert, dass Luhmann seine Theorie im Ganzen dennoch nicht konsequent von der Weltgesellschaft her organisiert hat. Dagegen nennt von Beyme, Der Staat des politischen Systems im Werk Niklas Luhmanns, die Weltgesellschaft abschätzig Luhmanns „Steckenpferd“ (). Viele Politikwissenschaftler empfänden den Begriff „als noch nicht angemessen“ (). Von Beyme stellt ein Gruselkabinett all dessen zusammen, was gestandenen Politikwissenschaftlern an Luhmanns politischer Soziologie nicht geheuer sein konnte. Wieviel Misstrauen gerade bei politikwissenschaftlichen Demokratietheoretikern gegen den Trend zur Weltgesellschaft weiterhin herrscht, zeigt Buchstein, Demokratietheorie (Stichwort ‚Demokratie in der Globalisierungsfalle‘).

1 Demokratisierung als funktionale Differenzierung des Politischen

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‚Globalisierung‘ noch kaum die Rede war. Nach Luhmann ist die Entwicklung zur Weltgesellschaft „ein evolutionär völlig neuartiges Phänomen“ (Wg, 57), das zu sehen die „Denkvoraussetzungen“ der „alteuropäischen Tradition“ blockierten. Weil sie Gesellschaft noch in einer allen Menschen von Natur aus gemeinsamen Vernunft fundiere, könne sie sie nur in äußerster Abstraktheit denken und gehe ihre politische Gestaltung umso mehr in moralischen Kategorien an (Wg, 51 f.). So komme die „weltweite Interaktion“ in einem „weltweiten Möglichkeitshorizont“ nicht in Sicht, durch die sich in Wirtschaft, Technik, Wissenschaft, Kunst usw. die moderne Weltgesellschaft angebahnt, „ein immenses Anwachsen der Kenntnisse über Fakten des Lebens und der Interaktionsbedingungen aller Menschen“ erbracht und alle „Autarkiebestrebungen“ der Nationalstaaten unterlaufen habe (Wg, 53 f.). Dies sei gerade durch eine Umstellung von einem „normativen“, auf moralischen Überzeugungen bestehenden, dadurch aber auch lernresistenten, auf „kognitives“, den eigenen „Denkzwang“ in Frage stellendes und dadurch lernbereites „Erwarten“ möglich geworden (Wg, 52, 55; Kap. VIII, 2). Im Blick auf die Weltgesellschaft bestehe der „Rang“ einer Politik eben darin, wieweit sie lernfähig sei (Wg, 58). Auch Luhmann spricht hier noch von „Menschen“, „Menschheit“ und „Menschheitsentwicklung“ (Wg, 57), zugleich aber von der „Evolution“ der „Differenzierung“ einer komplexer werdenden Gesellschaft (Wg, 61 f.) und von „den Trümmern unseres philosophischen Erbes“, das damit nicht mehr zurechtkomme (Wg, 64). Das war Nietzsche schon klar. Im ersten Hauptstück seines ersten Aphorismenbuchs Menschliches, Allzumenschliches sah er im Rahmen einer groß angelegten Metaphysik-Kritik ein „Zeitalter der Vergleichung“ gekommen, einer Vergleichung von „Culturen“, deren Begriff er zum ersten Mal im Plural verwendet,⁴⁰³ und damit einer neuen Lernfähigkeit (MA I 23). Kämen Gesellschaften über ihre „abgeschlossenen originalen Volks-Culturen“ hinaus, entstehe eine höhere, selbstbezügliche „Cultur der Vergleichung“ von Kulturen mit dem Effekt, dass sich für alle neue Horizonte eröffnen. Eben in der Möglichkeit des Vergleichs von Kulturen mit einer unbegrenzten Vielfalt von Vergleichsgesichtspunkten wird dann auch Luhmann den Grund der steilen Karriere der Kultursemantik seit dem Ende des 18. Jahrhunderts (KhB, 35 f.) sehen – und den Anstoß für die Bildung einer Weltgesellschaft: „Die Thematisierung von Kultur ist ein Indikator dafür, daß, von Europa ausgehend, eine Weltgesellschaft im Entstehen begriffen ist.“ (KhB, 49) Eine „höhere Cultur“ (MA I 3, 13, 224, 251, 261 u. ö.) oder „höhere Stufe der Cultur“ (MA I 195), in Luhmanns Begriffen eine Kultur zweiter Ordnung ist nicht schon eine wertvollere Kultur, neben der die Werte der anderen verblassen wür-

 Vgl. Elberfeld, Durchbruch zum Plural.

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den, sondern lediglich eine reflektiertere Kultur, die ihren Wert eben darin hat, Vergleiche mit anderen Kulturen aushalten, sich dabei selbst als kontingent betrachten und von ihnen lernen zu können. „Kultur ist eine Wiederbeschreibung der Beschreibungen, die das tägliche Leben orientieren.“ (RelG, 311) Während Beschreibungen in einer „Beobachtung erster Ordnung“ (Kap. II, 3.2.5) dem „Gebrauchssinn“ dessen gelten, womit man es alltäglich zu tun hat, transponiert die reflektierte „Beobachtung zweiter Ordnung“ diese Beschreibungen in den Vergleichshorizont mit anderem Gebrauchssinn in anderen Kulturen. Sie erschließt funktionale Äquivalenzen in verschiedenen Kulturen (z. B. Heiratsbräuche vs. Rechtsvorschriften). Was in der Beschreibung erster Ordnung, die auf eine bestimmte Kultur beschränkt bleibt, als „natürlich und notwendig“ gilt, erscheint in der reflektierten Beobachtung zweiter Ordnung als „artifiziell und kontingent“ (RelG, 311). „Demnach überzieht die Semantik der Kultur alles, was kommuniziert werden kann, mit Kontingenz. Sie befreit von jeder Art notwendigem Sinn“ (KhB, 51).⁴⁰⁴ Die Vergleichskultur ist nach Luhmann kennzeichnend für den Übergang von segmentär sich abschließenden, räumlich konzentrierten, auf gemeinsame Herkunft bauenden, möglichst autark lebenden und an alternativlose Werte gebundenen Gesellschaften, eben Nietzsches „abgeschlossenen originalen Volks-Culturen“, die noch dem „strengen Zwang“ unterliegen, „an einen Ort sich und seine Nachkommen anzubinden“ (MA I 23), zu funktional differenzierten Gesellschaften, die sich an bloßen Funktionen und Leistungen orientieren und über deren Wert nach jeweils sich bietenden Alternativen entscheiden. So erklärte schon Nietzsche die aufkommende „äussere Unruhe, das Durcheinanderfluten der Menschen, die Polyphonie der Bestrebungen“ in der Gesellschaft seiner Zeit. Er rechnete zunächst mit einem „Leiden“ der meisten an der Freigabe der „Motive“ und „Bestrebungen“, daran, dass es nichts „streng Bindendes“ mehr gibt, dass „alle Stufen und Arten der Moralität, der Sitten, der Culturen“ gleichzeitig gelten und, sofern sie „verschiedene Weltbetrachtungen“ einschließen, alle Wahrheitsansprüche perspektivieren (MA I 23). Luhmann sah dasselbe noch ein Jahrhundert später mit den „Vorwurfsbegriffen“ (RelG, 311) ‚postmoderne Beliebigkeit‘ und ‚Relativismus‘ belegt. Beide erkannten in der Kultur der Vergleichung stattdessen neue Freiheiten und, mit ihnen verbunden, neue Verantwortungen. Würden „die verschiedenen Weltbetrachtungen, Sitten, Culturen verglichen und neben einander durchlebt“, so Nietzsche, könne und müsse man „unter so vielen der

 Auch Nietzsches berühmte Bestimmung der Kultur als „Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäusserungen eines Volkes“ in der ersten Unzeitgemässen Betrachtung (UB I , KSA .) setzt die Vergleichbarkeit von Stilen in einer Beobachtung zweiter Ordnung voraus.

1 Demokratisierung als funktionale Differenzierung des Politischen

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Vergleichung sich darbietenden Formen entscheiden“, ohne dass man dafür noch vorgegebene Kriterien hätte; sie würden aus dem „ästhetischen Gefühl“ getroffen. Die „Vermehrung“ der ins Gefühl übergegangenen Unterscheidungs- und Entscheidungskraft kann dann wiederum einen evolutionären Prozess auslösen, der die meisten „der Vergleichung sich darbietenden Formen“ „absterben“, d. h. im kulturellen Gedächtnis vergessen lässt. Evolutionäre Selektion bildet so auch eine „höhere Sittlichkeit“ aus, „deren Ziel kein anderes, als der Untergang der niedrigeren Sittlichkeiten sein kann“ (MA I 23). In einer durch die Kultur der Vergleichung geprägten Weltgesellschaft kann man in sehr viel weiteren Horizonten auch über Gut und Böse urteilen, es kommt, so Luhmann, zu „höherer Amoralität“ (Kap. VIII, 7). Die Kultur der Vergleichung lässt, so Nietzsche im folgenden Aphorismus von Menschliches, Allzumenschliches, auch den „alten“ Glauben an einen notwendigen „Fortschritt“ obsolet werden (MA I 24); er gehört der abgeschlossenen Kultur „des wolkigen feuchten schwermüthigen Alt-Europa“ an, wie Nietzsche seinen Zarathustra sagen lassen wird.⁴⁰⁵ Sie macht jedoch eine Art von Fortschritt möglich, über den entschieden werden kann: „die Menschen können mit Bewusstsein beschliessen, sich zu einer neuen Cultur fortzuentwickeln“. Damit tritt die Politik auf den Plan. Denn wenn der Entscheidungsspielraum einer Gesellschaft nicht mehr durch „etwas streng Bindendes“ einer Kultur begrenzt ist, erweitert er sich bis dahin, „die Erde als Ganzes ökonomisch [zu] verwalten“. ‚Ökonomisch‘ heißt hier nicht ‚zur Maximierung von Profiten‘, sondern „die Kräfte der Menschen überhaupt gegeneinander ab[zu]wägen und ein[zu]setzen“, um „bessere Bedingungen für die Entstehung der Menschen, ihre Ernährung, Erziehung, Unterrichtung [zu] schaffen“ (MA I 24), also günstigere Lebensbedingungen auf der ganzen Erde für neue Aufgaben. Die wichtigste darunter wird, wie Nietzsche später in einer Liste seiner philosophischen Grundorientierungen notierte, die kommende „Aufgabe der Erdregierung“ sein, wie er sie dann in einem Notat nannte.⁴⁰⁶ Die Globalisierung im Sinn einer erdumspannenden Funktionalisierung aller Kulturen füreinander ist für Nietzsche nicht schon das Ziel, sondern nur die Bedingung der weiteren Entwicklung der Menschheit. In Luhmanns Sprache schafft sie eine „neuartige Kontingenz und Komplexität der politischen Entscheidungslage“ und nötigt zu einer „Neubalancierung aller Einrichtungen“ (KuD, 38):

 Z IV Wüste, KSA .. Auch Luhmann verwendet die Begriffe ‚Alteuropa‘, ‚alteuropäisch‘ gerne und häufig.  NL , [], KSA .. In einem späteren Notat unterschied Nietzsche dabei nähere und fernere politische „Perspektiven“, inbesondere in Politik und Weltwirtschaft (NL ,  [], KSA ./KGW IX/, W II , ).

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X Ausgleichende Orientierung

Es scheint, daß die heutige Gesellschaft und in ihr alle einzelnen Sozialsysteme den Menschen in die Lage versetzen, eine unendlich offene, äußerst komplexe und ontisch letztlich unbestimmte (kontingente) Welt zu entwerfen, auszuhalten und als Grundlage allen selektiven Erlebens und Handelns, als „Woraus“ kontingenter Wahl zu benutzen. (KuD, 37)

Nach der Lösung von den alten Gewissheiten der Religion liegen „die Schicksale der Welt im Grossen“ – auch hier gebrauchte Nietzsche den Plural – in der Verantwortung der Menschen selbst.⁴⁰⁷ Sie müssen darum „selber sich ökumenische, die ganze Erde umspannende Ziele stellen“. Dies zwinge, von der bisherigen „Privat-Moral“ – sie war selbst in der kantischen Fassung, so Nietzsche, noch „eine schöne naive Sache; als ob ein Jeder ohne Weiteres wüsste, bei welcher Handlungsweise das Ganze der Menschheit wohlfahre, also welche Handlungen überhaupt wünschenswerth seien“ – zu einer „Welt-Moral“ überzugehen. WeltMoral ist für Nietzsche keine einheitliche Moral für die Welt im Ganzen, wie sie bis heute immer wieder vorgeschlagen wird, sondern eine Moral, die gerade die unterschiedlichen Moralen auf der Welt berücksichtigt, also eine Moral im Umgang mit vielfältigen Moralen in einer Ethik der Distanz (Kap.VIII, 8). Um sie in den Blick zu bekommen, müsse man sich ohne alle apriorischen Vorgaben zunächst einen „Ueberblick über die Bedürfnisse der Menschheit“ verschaffen und „eine alle bisherigen Grade übersteigende Kenntniss der Bedingungen der Cultur, als wissenschaftlichen Maassstab für ökumenische Ziele“ erwerben. Dabei könnte sich – Nietzsche streute vorsichtig viele „Vielleichts“ (JGB 2, FW 377) ein – herausstellen, dass auch Moralen nur begrenzte Funktionen und Reichweiten haben und dann füreinander als Unmoralen erscheinen (was hier als gut gilt, sieht von dort böse aus). So wäre es „vielleicht“ gar nicht „wünschenswerth“, „dass alle Menschen gleich handeln, vielmehr dürften im Interesse ökumenischer Ziele für ganze Strecken der Menschheit specielle, vielleicht unter Umständen sogar böse Aufgaben zu stellen sein“ (MA I 25). Wie jener Überblick und jene Kenntnis zu „finden“ und welche Aufgaben dann zu „stellen“ wären, ließ Nietzsche, wohl bewusst, offen. Er überließ auch dies der Evolution, hier der Evolution der Wissenschaft, die ihre Methoden und Organisationen nach eigenen Interessen und nach eigenem Ermessen entwickeln würde. Er setzte dabei auf die „grossen Geister des nächsten Jahrhunderts“, die dazu mit grundlegend neuen Einsichten aufwarten könnten. Dabei sind sie aus heutiger

 MA I . Die drei Aphorismen MA I  –  bilden eine thematische Kette. Später in MA I schrieb Nietzsche, hier sei „kein Wink eines Gottes uns mehr hülfreich: unsere eigene Einsicht muss da entscheiden. Die Erdregierung des Menschen im Grossen hat der Mensch selber in die Hand zu nehmen, seine ‚Allwissenheit‘ muss über dem weiteren Schicksal der Cultur mit scharfem Auge wachen.“ (MA I ) In MA II, VM , nannte Nietzsche eben dies das „Glück der Zeit“.

1 Demokratisierung als funktionale Differenzierung des Politischen

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Sicht jedoch ihrerseits von vielfältigen Bedingungen abhängig, unter anderem auf einen umfassenden wissenschaftlichen Apparat angewiesen, den sie lediglich ausrichten können. Wenn „die Menschheit“ aber sich dann, so Nietzsche weiter, eine „bewusste Gesammtregierung“ schaffen und sich dadurch nicht „zu Grunde richten soll“ (MA I 25), ist auch nach der politischen Form zu fragen, in der sie sich dazu organisieren kann. Wenn zur Erdregierung nicht durch verheerende Weltkriege ein Weltstaat erzwungen werden soll, von dem Nietzsche nirgends spricht, kann die politische Gestalt der Weltgesellschaft nur kooperativ entstehen, und diese Kooperation kann nur in einem weiten Sinn demokratisch, in Mitsprache aller Gesellschaften bzw. Kulturen verlaufen und dann schrittweise verrechtlicht werden. Nietzsche erarbeitete sich dafür erst langsam die Begriffe, ging das Problem der Demokratie zunächst indirekt an. Im Hauptstück „Anzeichen höherer und niederer Cultur“ des ersten Bandes von Menschliches, Allzumenschliches fügte er einen Aphorismus „Die Tyrannen des Geistes“ ein (MA I 261). Das klingt nach absoluter Herrschaft von Wissenschaftlern und Philosophen. Tatsächlich geht es um so etwas wie die demokratische Institutionalisierung der griechischen Philosophie. „Tyrannen des Geistes“, Alleinherrscher in der Philosophie, waren für Nietzsche die vorsokratischen Philosophen, die einander nur ungern duldeten und scharf widersprachen, ganz Persönlichkeiten eigenen Rechts, wie Nietzsche in seinem frühen Entwurf Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen ausgeführt hatte. Als deren Zeit aber vorüberging, kam es auch hier, nicht nur in der Politik der pólis, zu einer Art Demokratie. Nietzsche versuchte das nicht zu erklären, stellte nur fest: „eine Lücke, ein Bruch in der Entwickelung; irgend ein grosses Unglück muss geschehen sein […]: was eigentlich geschehen ist, ist für immer ein Geheimniss […] geblieben.“ (MA I 261) Was da geschehen war, ging Nietzsche aber mit den Begriffen der wechselnden politischen Herrschaftsformen an, die die Griechen selbst zur Verfügung gestellt hatten. Damit deutete er die Philosophie als Herrschaftswissen, das sich seine Herrschaft selbst erst erobern und sichern musste und dabei ebenfalls einem Wandel von Herrschaftsformen unterworfen war. Der (ausführliche) Aphorismus schließt so: In den Sphären der höheren Cultur wird es freilich immer eine Herrschaft geben müssen, – aber diese Herrschaft liegt von jetzt ab in den Händen der Oligarchen des Geistes. Sie bilden, trotz aller räumlichen und politischen Trennung, eine zusammengehörige Gesellschaft, deren Mitglieder sich erkennen und anerkennen, was auch die öffentliche Meinung und die Urtheile der auf die Masse wirkenden Tages- und Zeitschriftsteller für Schätzungen der Gunst oder Abgunst in Umlauf bringen mögen. Die geistige Ueberlegenheit, welche früher trennte und verfeindete, pflegt jetzt zu binden: wie könnten die Einzelnen sich selbst behaupten und auf eigener Bahn, allen Strömungen entgegen, durch das Leben schwimmen, wenn sie nicht ihres Gleichen hier und dort unter gleichen Bedingungen leben sähen und deren Hand er-

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griffen, im Kampfe eben so sehr gegen den ochlokratischen Charakter des Halbgeistes und der Halbbildung, als gegen die gelegentlichen Versuche, mit Hülfe der Massenwirkung eine Tyrannei aufzurichten? Die Oligarchen sind einander nöthig, sie haben an einander ihre beste Freude, sie verstehen ihre Abzeichen, – aber trotzdem ist ein Jeder von ihnen frei, er kämpft und siegt an seiner Stelle und geht lieber unter, als sich zu unterwerfen. (MA I 261)

Nietzsche verwendet die Namen der ‚schlechten‘ Herrschaftsformen Tyrannei, Oligarchie, Ochlokratie – er unterstellt den Philosophen nicht, gut handeln, sondern nur, kooperativ ein Herrschaftswissen etablieren und dabei selbst frei bleiben zu wollen. Um das zu etablierende Herrschaftswissen über den Wechsel der Personen hinweg erhalten und weiterentwickeln zu können, mussten sie irgendeine wenn auch noch so informelle „Gesellschaft“ bilden, die sich selbst organisiert und regeneriert. Bei den Pythagoreern war das noch eine rituelle Gemeinschaft mit strengen Geheimhaltungspflichten, bei Platons Akademie schon ein Schulbetrieb, in den man ein- und austreten konnte, bis schließlich eine Vielzahl informeller ‚Schulen‘ konkurrierender philosophischer Lehren entstand. Auch diese Schulen stellten eine „zusammengehörige Gesellschaft“ mit wirksamen Inklusions- und Exklusionskriterien dar, nach denen man einander ‚erkennt und anerkennt‘, die unterscheiden lassen, wer ‚dazugehört‘ und wer nicht. So bildeten sie gegenüber dem vergleichsweise unwissenden Volk eine Oligarchie (Nietzsches sagt hier nicht: Aristokratie), untereinander aber eine Demokratie. Eines Tages sollte daraus in Luhmanns Begriffen das autonome Funktionssystem Wissenschaft werden. Diese demokratische Oligarchie des Geistes dachte Nietzsche im zweiten Band von Menschliches, Allzumenschliches unter dem Titel „Von der Herrschaft der Wissenden“ weiter (MA II, VM 318). Auch hier gebrauchte er nicht das Wort ‚demokratisch‘, sprach aber von „gesetzgebender Körperschaft“ und von „Abstimmung“ und malte einen vorbildlich demokratischen, freilich nur idealen Selektionsprozess unter redlichen Wissenschaftlern aus – alles steht im Konjunktiv: Zuerst hätten die Redlichen und Vertrauenswürdigen eines Landes, welche zugleich irgendworin Meister und Sachkenner sind, sich auszuscheiden, durch gegenseitige Auswitterung und Anerkennung: aus ihnen wiederum müssten sich, in engerer Wahl, die in jeder Einzelart Sachverständigen und Wissenden ersten Ranges auswählen, gleichfalls durch gegenseitige Anerkennung und Gewährleistung. Bestünde aus ihnen die gesetzgebende Körperschaft, so müssten endlich für jeden einzelnen Fall nur die Stimmen und Urtheile der speciellsten Sachverständigen entscheiden, und die Ehrenhaftigkeit aller Uebrigen gross genug und einfach zur Sache des Anstandes geworden sein, die Abstimmung dabei auch nur Jenen zu überlassen: so dass im strengsten Sinne das Gesetz aus dem Verstande der Verständigsten hervorgienge. (MA II, VM 318)

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Wenn es dann zu Parteiungen komme und in Parteien abgestimmt wird, hätten, Redlichkeit weiter vorausgesetzt, die „Schlecht-Unterrichteten, Urtheils-Unfähigen, […] Nachsprechenden, Nachgezogenen, Fortgerissenen“ sich mit „beschämtem Gewissen“ zurückzuhalten. Doch Nietzsche war sich im Klaren darüber, dass er hier idealisierte: Es ist „leicht, zum Spotten leicht, so Etwas aufzustellen“. Parteien folgen nicht einem derart idealisierten demokratischen Entscheidungsprozess, und so machte Nietzsche es sich zur „Losung: ‚Mehr Ehrfurcht vor dem Wissenden! Und nieder mit allen Parteien!‘“ Er begrüßte die Demokratie, solange redlich gedacht und überlegenes Wissen geschätzt wird, verachtete aber die Parteien – weil sie parteilich denken. Anders als dann Luhmann akzeptierte er nicht oder nur begrenzt die Autonomie der demokratischen politischen Entscheidung gegenüber Wissen und Wahrheit, wie problematisch ihm Wissen und Wahrheit auch geworden sein mögen, und in der Folge auch nicht die parteipolitische Pragmatisierung der Demokratie. Aus dieser Spur kam er nie mehr los, wiewohl in modernen Demokratien gerade die Parteien der Ort sind, an dem nun die politischen Kämpfe öffentlich ausgetragen werden und Nietzsche mit seiner frühen Begeisterung für den agôn und mit seiner späteren Wille-zur-Macht-Hypothese alles auf unablässigen Kampf abstellte. Und in dieser Spur dachte er auch die ‚Aufgabe der Erdregierung‘ in einer künftigen demokratischen Weltgesellschaft weiter.

1.2 Demokratische Neuformierung des Politischen Dennoch verlor Nietzsche die politischen Realitäten nicht aus den Augen. Im 8. Hauptstück des ersten Bandes von Menschliches, Allzumenschliches („Ein Blick auf den Staat“) ging er daran, die Leitbegriffe des Politischen selbst neu zu bestimmen. Auch hier setzte er selbstbezüglich, bei der „Demokratie der Begriffe“, an und befreite sich dadurch von traditionellen Vorgaben: „Jetzt herrscht“, wie er dann im II. Band von MA resümierte, „die Demokratie der Begriffe in jedem Kopfe, – viele zusammen sind der Herr: ein einzelner Begriff, der Herr sein wollte, heisst jetzt […] ‚fixe Idee‘. Diess ist unsere Art, die Tyrannen zu morden“ (MA II, WS 230). Der philosophische Tyrannenmord, die philosophische Demokratisierung, ist die Enthierarchisierung der Begriffe, der Übergang von auf Prinzipien gegründeten Systemen zu einem Netzwerk einander wechselseitig bestimmender und perspektivierender Begriffe, in dem jeder Begriff gleichberechtigt das Ganze mitbestimmt, das so nie ein abgrenzbares Ganzes wird. Nietzsche wollte diese Demo-

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kratie der Begriffe.⁴⁰⁸ Denn so ließ sich die Welt und die Weltgesellschaft neu denken. Gleich zu Beginn von „Ein Blick auf den Staat“ suchte sich Nietzsche denn auch mit den Parteien abzufinden, indem er sich auf ihre Funktion in der Demokratie besann: „sie alle sind genöthigt, der […] Absicht wegen, [auf die Massen zu wirken,] ihre Principien zu grossen Alfresco-Dummheiten umzuwandeln und sie so an die Wand zu malen. Daran ist Nichts mehr zu ändern, ja es ist überflüssig, auch nur einen Finger dagegen aufzuheben“ (MA I 438). Parteien müssen, um ihre Wahlchancen zu vermehren, ihre Programme simplifizieren und sie gegeneinander ausrichten, so dass sie großenteils miteinander beschäftigt sind.⁴⁰⁹ Das gibt ihnen dann einen „demagogischen Charakter“. Doch man müsse „sich den neuen Bedingungen fügen“ wie einem Erdbeben, das den Boden aufbricht und alte Grenzen verschwinden lässt; Luhmann sah in der aufkommenden Parteipolitik ein wichtiges Moment der funktionalen Ausdifferenzierung der Politik.⁴¹⁰ Ohne auch hier explizit von ‚Demokratie‘ zu sprechen, umschrieb Nietzsche die neuen Bedingungen so: „wenn es sich nun einmal bei aller Politik darum handelt, möglichst Vielen das Leben erträglich zu machen, so mögen immerhin diese Möglichst-Vielen auch bestimmen, was sie unter einem erträglichen Leben verstehen“, und es ist dann Aufgabe der politischen Parteien, dies auf einfache, massenwirksame Begriffe zu bringen. Dadurch wird das Feld des Politischen für das Wahlvolk übersichtlich. Doch zugleich wird es drastisch beschränkt: Demokraten „wollen nun einmal ihres Glückes und Unglückes eigene Schmiede sein; und wenn dieses Gefühl der Selbstbestimmung, der Stolz auf die fünf, sechs Begriffe, welche ihr Kopf birgt und zu Tage bringt, ihnen in der That das Leben so angenehm macht, dass sie die fatalen Folgen ihrer Beschränktheit gern ertragen: so ist wenig einzuwenden“ (MA I 438). Hier entstand für Nietzsche aber das eigentliche Problem. Denn die Aufgabe, die Erde ökonomisch, mit möglichst wirksamen, erst über lange Perioden zu entwickelnden Mitteln, zu gestalten, und ökumenisch, unter Einbeziehung möglichst vieler Kulturen, die kennenzulernen ebenfalls viel Zeit erfordert, zu ver-

 Siemens, Nietzsche’s Critique of Democracy, , findet in MA II, WS  stattdessen „resistance and emancipation“ vom zuvor (mit Schopenhauer und Wagner) so hoch geschätzten Genius. Im Text findet sich das freilich nicht.  Nietzsche beschrieb in seiner Studentenzeit seinem Freund Carl von Gersdorff ausführlich eine Leipziger politische „Wahlschlacht“, die er sehr interessiert und sehr genau verfolgte (Brief an Carl von Gersdorff, . Februar , Nr. , KSB . – ). Er selbst hat, wie Brobjer, Critical Aspects of Nietzsche’s Relation to Politics and Democracy, , bemerkt, als ‚Heimatloser‘ nie wählen können.  Vgl. PolSoz,  – ; PolG,  f.,  f.,  – .

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walten, ist in den engen parteipolitischen Horizonten nicht zu bewältigen. Die parteiliche „Beschränktheit“ der Politik dürfe nicht so weit gehen, „zu verlangen, es solle Alles in diesem Sinne zur Politik werden, es solle Jeder nach solchem Maassstabe leben und wirken“. Nietzsche trat aber auch hier nicht mit politischen Forderungen auf, sondern hielt sich an die Realität, zunächst an seine eigene. „Einige“, zu denen er sich erkennbar selbst zählte, werden „sich“, fuhr er fort, der Politik in jenen engen Horizonten „enthalten“, mit „ironischer Miene“ über sie hinaussehen, ihren „Ernst“ und ihr „Glück“ „anderswo“ suchen – und schweigen. Denn in der demokratischen Parteipolitik ist für sie und ihre weiteren Perspektiven kein Ort, keine Funktion, kein Amt vorgesehen. In Zeiten der Vermassung und der Medialisierung der Demokratie sind ihre Möglichkeiten, ihrerseits auf die Massen zu wirken, entsprechend begrenzt. Sie können lediglich „von Zeit zu Zeit […] aus ihrer schweigsamen Vereinsamung heraustreten“, um sich wenigstens „einander zu erkennen zu geben und zu ermuthigen“ (MA I 438), und selbst das wird ihnen nur begrenzt gelingen, da sie ihrerseits keine Partei bilden werden, die sie zu gemeinsam bekundeten einheitlichen Meinungen zwingt. Das klingt resigniert – wie alles Sich-Abfinden mit Realitäten. Aber das Problem der Erdregierung in der kommenden Weltgesellschaft wird dadurch umso dringender: Wenn es nur demokratisch angegangen werden kann, aber nicht in den Schranken der Parteipolitik, muss, so Nietzsche, um es zu bewältigen, das Politische neu formiert werden, nämlich so, dass das beste Wissen zum Zug kommt.⁴¹¹ Das erinnert an Platon, der in seiner Politeia dem wissenschaftlichen Wissen den politisch höchsten Rang zuwies, und im folgenden Aphorismus MA I 439 erinnerte Nietzsche denn auch an eine „verklingende Stimme der alten Zeit“. Ihm ging es aber weniger darum, dass die Weisesten, die Philosophen, herrschen, als darum, dass sie frei denken können. So unterschied er eine „Kaste der ZwangsArbeit“, der Arbeit in vorgegebenen engen Perspektiven oder vororientierter Tätigkeiten, von einer „Kaste der Frei-Arbeit“, der Arbeit, zu neuen, weiteren Perspektiven zu befreien, oder orientierender Tätigkeiten. Das schrille Wort ‚Kaste‘  In den er Jahren, als man über die ‚Grenzen des Wachstums‘ nachzudenken begann und schwere, durch das technisch-industriell-ökonomische Wachstum verursachte Umweltzerstörungen sich abzuzeichnen begannen, flammte eine ganz ähnlich gelagerte weltweite Debatte auf, ob die „Leistungen der Demokratie“ ausreichen würden, die Probleme zu bewältigen. Die Zweifel sind bestehen geblieben, auch wenn sich für ‚westliche‘ und im westlichen Sinn demokratisierte Staaten keine Alternative mehr zur Demokratie zeigt. Und die Demokratie hat „bisher immer noch Überlebensfähigkeit bewiesen, zwischen Hartnäckigkeit und Innovationsfähigkeit“ (Nolte,Was ist Demokratie?,  – ). Zuletzt hat der Luhmann-Schüler Helmut Willke (Demokratie in Zeiten der Konfusion) wieder Vorstöße gemacht, im Sinne der Probleme der global governance die Demokratie „intelligenter“ zu machen, indem der wissenschaftlichen Expertise konstitutiv mehr Einfluss eingeräumt wird. Luhmann selbst hat sich hier zurückgehalten.

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darf nicht überhören lassen, dass die Unterscheidung in der Sache berechtigt ist, dass schwächere Orientierungsfähigkeiten stärkere zur Anleitung brauchen (Kap. IX, 1.4). Daraus ist jedoch noch keine soziale Rangordnung in Gestalt undurchlässiger Hierarchien abzuleiten. Nietzsche wollte auch hier auf die Entstehung einer „höheren Cultur“ hinaus. Zum einen hätten es Leute mit überlegener Orientierung keineswegs besser; weil ihre „Aufgabe grösser“ sei, hätten sie auch mehr daran zu leiden.⁴¹² Zum andern müssten, weil es sich hier nicht um Stände, sondern um Funktionen handelt, die Kasten, wie es auch Platon schon wollte,⁴¹³ füreinander durchlässig, müsse, so Nietzsche, ein „Austausch“ zwischen ihnen möglich sein nach der ausschließlichen Maßgabe, welche Fähigkeiten die Einzelnen für die Wahrnehmung von Funktionen mitbringen. So sei „ein Zustand erreicht, über den hinaus man nur noch das offene Meer unbestimmter Wünsche sieht“, hier also ein demokratischer Zustand gleichen Zugangs zu gleichen Funktionen, deren Ausübung dennoch unterschiedliche Fähigkeiten voraussetzt (MA I 439). Wie die folgenden Aphorismen zeigen, wollte Nietzsche mit dem provozierenden Begriff der Kaste (noch) den wertenden Begriff eines neuen Adels, einer neuen Aristokratie vermeiden. Zwar könnte der herkömmliche Adel, dem ein Denken in jahrhundertelangen Erbfolgen und eine „vornehme Haltung im Gehorsam“ anerzogen worden war, für die Wahrnehmung langfristiger politischer Aufgaben besser disponiert sein; er „will“ aber „in unserem Cultur-Klima nicht mehr wachsen“ (MA I 440). Denn der Wille zur „Subordination“, auch und gerade unter eine Aufgabe, der im „Militär[staat]“ „hoch geschätzt“ wurde und im „Beamtenstaate“ weiter benötigt wird, nehme ab – denn sein „Fundament schwindet: der Glaube an die unbedingte Autorität, an die endgültige Wahrheit“. Subordination wird in „freieren Verhältnissen“ unter Bedingungen gestellt: Man ordnet sich „nur auf Bedingungen unter, in Folge gegenseitigen Vertrages, also mit allen Vorbehalten des Eigennutzes“. Mit der „angeerbten Adoration vor dem Fürstlichen wie vor etwas Uebermenschlichem“ ist es in der sich anbahnenden demokratischen Weltgesellschaft vorbei (MA I 441). Auch diese Realität akzeptierte Nietzsche – und ließ sich dennoch nicht den Blick dafür trüben, dass es in zum Wohlfahrtsstaat treibenden Demokratien schwerer wird, Generationen übergreifende politische Ziele zu verfolgen.

 Vgl. FW : Der „höhere Mensch“, der „mehr sehen und hören und denkend sehen und hören“ wird, für den „die Menge seiner Reize […] beständig im Wachsen [ist] und ebenso die Menge seiner Arten von Lust und Unlust, – der höhere Mensch wird immer zugleich glücklicher und unglücklicher“.  Platon, Politeia,  a–c.

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Denn in der ‚Demokratie der Begriffe‘ formiert sich auch der Begriff der Regierung neu (MA I 450: „Neuer und alter Begriff der Regierung“). Unterschied man nach dem alten Begriff „zwei getrennte Machtsphären, eine stärkere, höhere“, die „mit einer schwächeren, niederen, verhandelte[] und sich vereinbarte[]“ – Nietzsche ging nicht von bloßer Unterwerfung aus –, so wurde daraus im bismarckschen Reich „die constitutionelle Form als ein Compromiss zwischen Regierung und Volk“. Dies habe „seine Vernunft in der Geschichte“, man entwickele hier nur eine alte Tradition weiter. „Dagegen soll man nun lernen – gemäss einem Princip, welches rein aus dem Kopfe entsprungen ist und erst Geschichte machen soll —, dass Regierung Nichts als ein Organ des Volkes sei, nicht ein vorsorgliches, verehrungswürdiges ‚Oben‘ im Verhältniss zu einem an Bescheidenheit gewöhnten ‚Unten‘.“ Der Gedanke, dass Herrschaft nicht mehr mit der Pflicht zu Schutz und Vorsorge für die Beherrschten verbunden sein soll, wie sie Jahrtausende lang verstanden wurde, sondern in der Entscheidung und Verantwortung der Beherrschten selbst liegen soll, ein Gedanke, der nun anders als im alten Griechenland auf eine abstrakte Vernunft begründet wird, hatte noch zu wenig Gelegenheit, sich in der Wirklichkeit der Gesellschaft zu bewähren. Die Umstellung aber wirke sich weit über die Politik hinaus aus: „denn das Verhältniss zwischen Volk und Regierung ist das stärkste vorbildliche Verhältniss, nach dessen Muster sich unwillkürlich der Verkehr zwischen Lehrer und Schüler, Hausherrn und Dienerschaft, Vater und Familie, Heerführer und Soldat, Meister und Lehrling bildet.“ Eine solche Demokratisierung gesellschaftlicher Lebensverhältnisse werde auch und gerade das Regieren schwer machen, wenn große Gefahren oder weitreichende Ziele starke Führung erfordern. Trotz deutlicher Skepsis suchte Nietzsche sich auch damit zu arrangieren und äußerte Zuversicht: Die demokratische „Aufstellung des Begriffs Regierung“ mag die „logischere“, also einsichtigere sein, doch „bis jetzt“ ist sie „unhistorisch und willkürlich“. Man müsse ihr darum Zeit geben, „wohl ein Jahrhundert noch“, und ihr darum „Vorsicht und langsame Entwickelung“ wünschen, einen allmählichen Lernprozess, in dem die „Verhältnisse […] sich verkehren und verschieben, Namen und Wesen wechseln“ werden, bis „jener allerneueste Begriff überall sich der Köpfe bemeistert hat“ (MA I 450). Das ist inzwischen weithin geschehen. In Luhmanns Begriffen evoluierte mit der Gesellschaftsstruktur auch die Semantik, durch die die noch fremde neue Gesellschaftsstruktur neu vertraut wurde. Gesellschaftsstruktur und Semantik aber geben einander Halt in der politischen Orientierung; sie brauchen keine weitere Rückgründung; die demokratische Evolution trägt sich, für Nietzsche wie für Luhmann, selbst. Die Umstrukturierung der Gesellschaft und ihrer Semantik konturierte Nietzsche anschließend in Aphorismen zur „socialistischen Denkungsweise“ (MA I 451), zu „Besitz und Gerechtigkeit“ (MA I 452), zur Kunst diplomatischer Regie-

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rung und politischer Führung (MA I 453, 458), zu den „Gefährlichen unter den Umsturz-Geistern“, zum „Umsturz“ überhaupt, dem „Maass“ darin und dem Verhältnis von „Meinungen“ und „Institutionen“ dabei (MA I 454, 463, 464, 466), zur „Sklavenarbeit“ moderner Arbeiter (MA I 457), zum „grossen Mann“ in den Augen der „Masse“ (MA I 460) und vielem anderen, das sich der damaligen Politik aufdrängte. Dies waren vor allem Fragen des parteipolitischen Oszillierens zwischen prinzipieller Begründung und pragmatischer Realisierung, der Vermassung und der Medialisierung der Demokratie. Wir können Nietzsches Antworten auf sie hier nicht ausführen, sondern gehen einem weiteren Aphorismus zur „Regierung“ nach, dem ausführlichsten Aphorismus des Kapitels „Ein Blick auf den Staat“ mit dem Titel „Religion und Regierung“ (MA I 472). Sein Thema ist die demokratische Funktionalisierung des Staates.⁴¹⁴

1.3 Demokratische Funktionalisierung des Staates im politischen System Der Aphorismus „Religion und Regierung“ enthält einen von Nietzsches faszinierendsten Erkundungsgängen zur politischen Philosophie überhaupt. Nietzsche will mit ihm ein neues „Blatt im Fabelbuche der Menschheit“ aufschlagen, in dem man „allerlei seltsame Historien und vielleicht auch einiges Gute lesen wird“ (MA I 472). Er hat den zeitgenössischen Kulturkampf deutlich vor Augen, erhebt mit seinem Fabelbuchblatt aber keinen Anspruch auf historische Wahrheit. Stattdessen verfolgt er weiter die ‚Demokratie der Begriffe‘ des Politischen. Die Demokratie wird hier zum ersten Mal in MA explizit genannt.⁴¹⁵

 Man kann darin auch einen nüchternen Gegenentwurf zu Richard Wagners Aufsatz Über Staat und Religion sehen, der, als berufener Berater des jungen Bayernkönigs, ebenso den Staat in seiner Verkörperung durch den Monarchen wie die Religion als Erlösung zu einer anderen Welt rückhaltlos idealisiert. Viele Urteile Wagners übernimmt Nietzsche gleichwohl, auch nach der Loslösung von ihm.  Shaw, Nietzsche’s Political Skepticism, unterstellt Nietzsches Aussagen einen moralischen Realismus, erwartet von ihm eine Antwort auf die Frage, wie in modernen Demokratien ohne Religion ein normativer Konsens und aus ihm eine Legitimierung des Staates entstehen kann, und sucht diese Antwort vor allem in MA I . Mir scheint dem Aphorimus weder die Prämisse noch die Fragestellung zu entsprechen. Nietzsche stellt zwar fest, dass, wenn die Religion „abzusterben beginnt, auch die Grundlage des Staates erschüttert wird“, und warnt auch davor, diesen Prozess zu beschleunigen (, Fn. ). Sein Ziel ist jedoch nicht, dem Staat eine neue Legitimität zu schaffen. Er setzt vielmehr „‚legitim‘“ warnend in Anführungszeichen und bleibt interessierter Beobachter der „Uebergangskämpfe“, die sich zu seiner Zeit beim Abschied von den religiösen oder pseudoreligiösen Legitimationsversuchen des Staates abspielten. Darin verhält er sich unbestritten skeptisch.

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Nietzsche beobachtet, wie zu seiner Zeit die Religion die Politik teils stabilisiert, teils labilisiert.⁴¹⁶ Beides verdankt sich der Demokratisierung. Nietzsche zeigt beispielhaft, wie sich – in Luhmanns Begriffen – die Differenzierung zwischen Funktionssystemen der Gesellschaft durchsetzt und was wechselseitig für sie daraus folgt. Das Ergebnis, um es vorwegzunehmen, ist: Die „vormundschaftliche Regierung“, in der die Religion den alten übermächtigen „Staat“ bestärkt hat und die sich im Sinn von MA I 450 durch die „moderne Demokratie“ auflöst, weicht einem politischen System, das den Staat auf eine bloße Funktion begrenzt. „Demokratie“ wird hier mit „Souveränität des Volkes“ identifiziert und im Übrigen wie der alte Staat als „Mysterium“ behandelt.⁴¹⁷ Sie ist „die historische Form vom Verfall des Staates“, nämlich des alten, religiös verbrämten Staates, nicht aber der „Regierung“, die im Titel des Aphorismus steht und nun als demokratisch gewählte das Schwergewicht des politischen Systems bildet. Eben so wird Luhmann die Regierung ansetzen:⁴¹⁸ Das selbstbezügliche System der Politik im weiten Sinn entsteht, kurz gefasst, dadurch, dass der Staat zur bloßen Verwaltung wird, der anhängige Vorgänge zu entscheiden hat, und die Politik im engen Sinn als ‚Regierung‘ sich davon als ihrerseits selbstbezügliche Entscheidung über Entscheidungsprämissen dieser Verwaltung unterscheidet, als das, was dem staatlichen Handeln die spezifische Ausrichtung gibt. Diese Differenzierung wird erst dadurch möglich, dass die Politiker(innen) vom Volk, dem ‚Publikum‘, gewählt und abgewählt werden können, also wiederum über sie entschieden wird. Diese Trias von Verwaltung, Politik und Publikum bildet einen Kreislauf der Macht, in dem „dem Publikum Macht über die Politik, dieser Macht über die Verwaltung und dieser Macht über das Publikum“ verschafft wird (MiS, 34 f.).⁴¹⁹ Nietzsche geht, was den Staat als staatliche Verwaltung betrifft, schon denkbar weit und viel weiter noch als später Luhmann: Im Zug der demokratischen Bewegung könnte der Staat zu einer bloßen Funktion werden, die, wenn sie einmal die mystische Autorität nicht mehr nötig hat, auch von Privatpersonen wahrgenommen werden könnte – es werde vermutlich „eine noch zweckmässigere Erfindung, als der Staat es war, zum Siege über den Staat kommen“. Nietzsche wählt

 Verwandtes zeigt Luhmann in seinem Beitrag Staat und Staatsräson im Übergang von traditionaler Herrschaft zu moderner Politik (SSÜHP) – an Literatur aus dem . und . Jahrhundert. Ansonsten macht er sich, so Czerwick, Systemtheorie der Demokratie,  f., „nicht die Mühe, […] die möglichen Beiträge der Religion, der Wissenschaft oder der Kunst für die Ausbildung der Demokratie“ näher zu analysieren.  Vgl. Derrida, Gesetzeskraft, mit Verweis auf Montaigne und Pascal ( f.).  Vgl. die Abhandlung Metamorphosen des Staates (MdS) und PolG, Kap. : Der Staat des politischen Systems,  – , und Kap. : Politische Organisationen,  – .  Wir kommen in Abschn. . darauf zurück.

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dafür den generelleren Begriff einer „organisirenden Gewalt“, die zu verschiedenen Zeiten ins Spiel kommen und verschiedene Formen annehmen kann (MA I 472). Luhmann wird ihr sein spätes Werk Organisation und Entscheidung widmen. Nietzsches Argumentation verläuft, immer noch stark vereinfacht, so: Wie der Staat den übrigen gesellschaftlichen Verhältnissen, so gibt die Religion dem Staat das Vorbild einer autoritativen hierarchischen Ordnung. Darin wird sie vom Staat begrüßt. Denn Religion hilft den Einzelnen, Leiden hinzunehmen, hält auf diese Weise die Menge ruhig. Religion kann bei allem, was Widerstand herausfordert, auf „den Finger Gottes“ verweisen und so dazu beitragen, den „inneren bürgerlichen Frieden und die Continuität der Entwickelung“ zu wahren. Die Priesterschaft, die die Religion als Lehre zu verbreiten und wachzuhalten hat, bestärkt zudem die „Einheit der Volksempfindung“ und „gleiche Meinungen und Ziele für Alle“, auch wenn sie dabei „scheinbar und äusserlich ein ganz anderes Interesse“ vertritt. Sie arbeitet, ob sie das will oder nicht, daran mit, „Macht ‚legitim‘“ zu machen. Die Politik („die regierenden Personen und Classen“) nimmt darin eine Leistung der Religion für sie wahr („Nutzen, welchen ihnen die Religion gewährt“), betrachtet sie also (zumindest auch) als „Mittel“ oder als Funktion für sie. Religion, Staat und Politik sind so aufs engste verflochten. Solche Zusammenhänge waren der Religionskritik zu Nietzsches Zeit zwar schon weitgehend geläufig, doch nicht in dieser funktionalen Pointierung. Nun hakt aber, so Nietzsche, die religionskritische „Freigeisterei“ ein, die inzwischen ihre eigene Autorität gewonnen hat: Da nach der Doktrin „demokratischer Staaten“ die Regierung ihrerseits „lediglich eine Function des alleinigen Souverains, des Volkes“, ist, wird „eine Benutzung und Ausbeutung der religiösen Triebkräfte und Tröstungen zu staatlichen Zwecken“ prekär. Man hat die Religion, zumal wenn sie in unterschiedliche Bekenntnisse gespalten ist, nun „als Privatsache zu behandeln und dem Gewissen und der Gewohnheit jedes Einzelnen zu überantworten“. So aber kann sie gerade neu aufblühen, und das kann wiederum Religionsgegner auf den Plan rufen, bis in die Regierenden hinein. Geschieht das, bekommen deren „Maassregeln einen religionsfeindlichen Charakter“, der nach Lage der Dinge sogleich wieder religionsfreundliche Parteien provozieren wird, und das Ergebnis wird dann in parteilicher Verteilung ebenso Staatsfeindschaft und Staatfanatismus wie Religionsfeindschaft und Religionsfanatismus sein. Derartige Parteienkämpfe reiben schließlich bei allen Beteiligten „das ehrfürchtige und pietätvolle Verhältniss“ zum Staat auf und lassen ihn nun in seiner nackten Funktion sehen, darin, „wo er ihnen nützlich oder schädlich werden kann“. So „drängen [sie] sich mit allen Mitteln heran, um Einfluss auf ihn zu bekommen“. Der Staat mit seiner Verwaltung, gedacht als dauernder ‚Zustand‘ der gesellschaftlichen Ordnung,wird selbst etwas rasch Veränderliches, Flüchtiges („Es fehlt allen Maassregeln, welche von einer Regierung durchgesetzt werden, die Bürgschaft ihrer Dauer“), und so

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drängt alles „zu einem ganz neuen Entschlusse […]: zur Abschaffung des Staatsbegriffs, zur Aufhebung des Gegensatzes ‚privat und öffentlich‘“ – woraus Nietzsche, immer zum Durchdenken äußerster Konsequenzen bereit,⁴²⁰ die schon genannte Folgerung zieht, die Funktionen des Staates könnten dereinst ebensogut von „Privatgesellschaften“ ohne hoheitliche, religiös verbrämte Autorität wahrgenommen werden (MA I 472). Während Nietzsche im Blick auf die Aufgabe der Erdregierung zögert, die Autonomie der demokratischen politischen Entscheidung gegenüber Wissen und Wahrheit einzuräumen, stellt er sie gegenüber der Religion bereitwillig heraus: Im Trennungsprozess von Religion und Politik im Zug der Demokratisierung der Gesellschaft treten beide nicht nur in ihrer Autonomie hervor, sie strukturieren sich auch in sich um. Gott wird zur Funktion des persönlichen Glücks, der Staat zur Funktion des politischen Systems. Der Glaube an die Übermacht beider zerfällt. Mit dem Tod Gottes geht der Tod des Staates einher. Der Staat wird im Zug der Demokratisierung der Regierung entauratisiert zur bloßen Funktion. Nietzsche scheint das unausweichlich. Er nennt die „Missachtung, den Verfall und den Tod des Staates“ geradezu die „Mission“ „des demokratischen Staatsbegriffes“. Die Aussicht auf sie ist für Nietzsche keineswegs „in jedem Betracht eine unglückselige“: Sie besteht in nicht mehr als der Entzauberung des Staates („den letzten Zauber und Aberglauben auf dem Gebiete dieser Empfindungen zu verscheuchen“), die Entzauberung aber nach aktuellen Begriffen durch seine Funktionalisierung – im Gegensatz zu seiner herkömmlichen Auratisierung, der religiösen ebenso wie der nationalen.⁴²¹ Trotz der Entzauberung des Staates bleibt die Notwendigkeit der Regierung (nach Luhmann der Politik, jetzt der governance), die demokratisch den Volkswillen zu beachten hat, und eine solche Regierung könnte von der „Klugheit und dem Eigennutz der Menschen“, die „von allen ihren Eigenschaften am besten ausgebildet“ sind, am ökonomischsten geleitet werden. Wenn dann „den Anforderungen dieser Kräfte der Staat nicht mehr entspricht, so wird am wenigsten das Chaos eintreten, sondern eine noch zweckmässigere Erfindung, als der Staat es war, zum Siege über den Staat kommen“. Die funktionale Differenzierung der Politik, die den Staat entzaubert, führt

 Vgl. sein Notat NL , [], KSA ./KGW IX/, W II , .  Nietzsche notierte dazu später: „Ich interessire mich nicht […] für den nationalen Staat, als etwas Ephemeres gegenüber der demokratischen Gesamtbewegung.“ (NL , [], KSA .). Und dann: Europa mit seinem „Nationalitäts-Wahnsinn“ (JGB ) sei „eine untergehende Welt“. Der Untergang dieser Welt wird durch die Demokratisierung beschleunigt: „Demokratie ist die Verfalls-Form des Staates.“ Nietzsche hat ausdrücklich „Genuß“ an diesem Verfall – nicht generell des Staates, sondern des religiös und national auratisierten Staates (NL , [], KSA . f.).

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nicht zum Chaos, sie öffnet die Politik nur für neue Umstrukturierungen. Nietzsche hat das in Zeiten höchster Staatsverherrlichung klar gesehen. Mögen die Umstrukturierungen auch „Angst und Abscheu“ erregen, man wird sich hüten, „anmaassend“ in eine soziale Evolution einzugreifen, die kein Einzelner beherrschen kann. Man muss, so Nietzsche, im Gegenteil auf sie „vertrauen“ und das heißt hier auf die weitere „‚Klugheit und den Eigennutz der Menschen‘“,⁴²² und muss dann zusehen, was geschieht und geschehen könnte (MA I 272). Geschehen könnte, dass langfristig auch der Sozialismus und sogar der Nationalismus an der Funktionalisierung des Staates mitarbeiten werden. So „begehrt“ der Sozialismus wohl „eine Fülle der Staatsgewalt, wie sie nur je der Despotismus gehabt hat“, einen „unbedingten Staat“, um das Individuum zu einem „zweckmässigen Organ des Gemeinwesens“, also zu dessen Funktion zu machen. Aber das „‚so viel Staat wie möglich‘“ wird bei andern Parteien – hier setzte Nietzsche durchaus auf den Parteienkampf – umso mehr ein „‚so wenig Staat wie möglich‘“ hervorrufen und den Staat damit explizit zur Disposition stellen (MA I 473: „Der Socialismus in Hinsicht auf seine Mittel“). Auch Luhmann wird im Rückblick den Sozialismus marxistisch-leninistischer Prägung als „Überleitungssemantik“ einstufen, „die, janusköpfig gearbeitet, die alte Gesellschaft noch nicht aus den Augen läßt, aber schon die Ansatzpunkte bietet für eine Registrierung radikaler Veränderungen“ (GG, 1056). Der europäische Nationalismus aber hält, so Nietzsche weiter, den religiös auratisierten Staat im „Interesse bestimmter Fürstendynastien“ künstlich aufrecht und braucht dazu „nationale Feindseligkeiten“, Kriege. Dagegen werden dereinst umso mehr „gute Europäer“, darunter besonders die Juden, auftreten und „an der Verschmelzung der Nationen arbeiten“ (MA I 475: „Der europäische Mensch und die Vernichtung der Nationen“; vgl. JGB 256). In den Nationalstaaten wirkt, so Luhmann, die segmentäre Differenzierung der Gesellschaft fort (GG, 1045). Mit ihrer Ausrufung „imaginierte“ man eine „Gemeinschaft“, für die man „leben, töten und sterben“ soll „und dies, obwohl man gar nicht wissen kann, wer im einzelnen damit gemeint ist“ (PolG, 211). Gerade diese imaginierte Gemeinschaft braucht einen Staat, um identifizierbar zu werden, und umgekehrt der Staat eine imaginierte Nation, um sich nach dem Zurücktreten einerseits der Dynastien, andererseits der Religion identifizieren zu können, und beide zusammen konnten dann wiederum die Demokratie zurücktreten lassen. Verkündete der deutsche Kaiser Wilhelm II. am 26. August 1914 zum Auftakt des Ersten Weltkriegs im Reichstag: „Ich kenne keine Parteien mehr, kenne nur noch Deutsche!“, so hieß das: „Über

 Nietzsche wiederholt die Formel selbst und bekräftigt sie dadurch,versieht die Wiederholung jedoch mit Anführungszeichen, womit er eine Sinnverschiebung anzuzeigen pflegt.

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den Begriff der Nation konnte man Wehrpflicht mit dem Implikat eines Todes fürs Vaterland rechtfertigen, ohne dies auf der Ebene der Staatsverfassung sogleich durch das allgemeine Wahlrecht honorieren zu müssen.“ (GG, 1053) Nietzsche wiederum hat zuletzt noch notiert: „Damit das Haus von Narren und Verbrechern [das Haus Hohenzollern] sich obenauf fühlt, zahlt Europa jetzt jährlich 12 Milliarden, reißt es Klüfte zwischen den werdenden Nationen auf, hat es die hirnverbranntesten Kriege geführt, die je geführt wurden“.⁴²³ Im Ersten Weltkrieg brach die anachronistische Konstruktion dann krachend zusammen und machte der Demokratie in Deutschland Platz, die, aus anderen Gründen, dann freilich ihrerseits nicht lange durchhielt. Nietzsche und Luhmann stimmen in der Kritik der Nationalisierung als ReAuratisierung der Demokratie überein. Nach Luhmann sind Nationalstaaten zwar nicht überflüssig geworden. Ihre Funktion aber habe sich deutlich gewandelt. Sie liege nun mehr und mehr darin, die funktionale Differenzierung der Weltgesellschaft auf geeignete regionale Formate herunterzubrechen, also der Regionalisierung der Macht als einem der Gründe der Staatenbildung überhaupt: „Gerade die neuen Differenzierungen und das Verschwinden alter sozialer Einteilungen stärken den Bedarf an nationalen Zugehörigkeiten.“ (GG, 1051; vgl. PolG, 227) Zudem bot die Idee der Nation nicht nur eine „Identitätsressource“, sie nahm zugleich „dem Begriff Volk (peuple, people) den Unterschichtengeruch“ und wurde so zu einem „spezifisch politischen Begriff“, der die Demokratisierung auch förderte (GG, 1051). Dennoch erwies sich der Nationalstaat, den Nietzsche zugunsten eines besseren Europa überwinden wollte, auch für Luhmann als eine der zwiespältigsten politischen Formationen. Denn im Namen der Nation konnte man auch ethnische Säuberungen legitimieren, während in Staaten, die gelernt haben, vielfältige Ethnien und Religionen zu akzeptieren, die Berufung auf die Nation nur noch als funktionale Fiktion weiterläuft (am sichtbarsten in ethnisch bunt gemischten ‚Nationalmannschaften‘ bei internationalen Sportwettkämpfen). Auch die Idee der Nation scheint so „zu jenem Bündel transitorischer Semantiken“ zu gehören, „die eine Übergangszeit faszinieren können“, sich nun aber „in einer Auslaufphase“ befinden und dennoch „auf Grund vergangener Plausibilitäten die jetzt nötigen Einsichten blockieren“ (GG, 1055).

 NL Dezember /Anfang Januar , [], KSA ..

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X Ausgleichende Orientierung

1.4 Demokratie als Umgründung der Politik auf Fluktuationen Luhmanns Zusammenfassung seiner Soziologie der Politik, Die Politik der Gesellschaft, führt auf die These hinaus, Demokratie bedeute „eine Umgründung der Politik auf Fluktuationen. Über den Begriff der Herrschaft, also als Durchsetzungsfähigkeit eines Willens, läßt diese Ordnung sich nicht mehr begreifen.“ (PolG, 429) Das ist gegen Max Weber, könnte aber auch gegen Nietzsche gesagt sein. Mit Nietzsche aber stimmt Luhmann in der philosophischen Grundentscheidung überein, die diese Einsicht trägt: „Es gibt […] keine ‚festen Substanzen‘, die durch Fluktuationen angegriffen und aufgelöst werden könnten. Oder anders gesagt: der Monarch ist bereits ermordet und nach ihm gibt es nur noch Entscheidungen.“ (PolG, 431) Nietzsche hat das im Blick auf den Funktionswandel der staatlichen Strafgerichtsbarkeit in GM II 12 auf den bereits mehrfach herangezogen Satz gebracht „Die Form ist flüssig, der ‚Sinn‘ ist es aber noch mehr …“⁴²⁴ Mit der Umgründung der Herrschaft von Religion und Metaphysik auf Entscheidbarkeit beginnt die Demokratie (Kap. IX, 4.1). Sie ist dann im Ganzen und in all ihren Momenten für wechselnde Funktionalisierungen offen. Nietzsche hat solche Funktionalisierungen besonders im II. Band von Menschliches, Allzumenschliches verfolgt. Dort findet sich etwa die knappe Sentenz: Hundertjährige Quarantäne. – Die demokratischen Einrichtungen sind Quarantäne-Anstalten gegen die alte Pest tyrannenhafter Gelüste: als solche sehr nützlich und sehr langweilig. (MA II, WS 289)

Nietzsche hat für sich dazu notiert, es stimme „geduldiger und milder“, wenn man sehe, welchen Gewinn die Demokratie bringt: „die neue ‚Einschleppung‘, das neue Um-sich-greifen des Despotischen, Gewaltthätigen, Autokratischen zu verhindern“.⁴²⁵ Er befristet jedoch die „Quarantäne“. Nach einem Jahrhundert – Nietzsche scheint die Entwicklung der Demokratie im Athen des 6. vorchristlichen Jahrhunderts vor Augen zu haben und sie in dem seit der Französischen Revolution vergangenen Jahrhundert wiederzuerkennen – könne jedoch ein Funktionswandel eingetreten sein, der die Demokratie neu, nämlich als eigendynamische „Demokratisirung“ verstehen lässt: Die Zeit der Cyklopenbauten. – Die Demokratisirung Europa’s ist unaufhaltsam: wer sich dagegen stemmt, gebraucht doch eben die Mittel dazu, welche erst der demokratische Gedanke Jedermann in die Hand gab, und macht diese Mittel selber handlicher und wirksamer: und die grundsätzlichsten Gegner der Demokratie (ich meine die Umsturzgeister) scheinen

 Zum Kontext vgl. Stegmaier, Nietzsches ‚Genealogie der Moral‘,  – .  NL , [], KSA ..

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nur desshalb da zu sein, um durch die Angst, welche sie erregen, die verschiedenen Parteien immer schneller auf der demokratischen Bahn vorwärts zu treiben. […](MA II, WS 275)

Das Bild der Zyklopenbauten besagt: Die Demokratisierung hat, wie im antiken Athen und im modernen Europa zu sehen, kein vorgegebenes Ziel und keine klare Richtung, sondern kommt durch unterschiedlich ausgerichtete und mehr oder weniger durchgreifende Einflüsse zustande; zwischenzeitlich musste die politische Herrschaft immer wieder stabilisiert werden. Zyklopenbauten sind aus großen unbehauenen Steinen aufgetürmt, ohne Bindemasse nach zufällig passenden, unübersichtlichen Fugungen, und können dennoch, allein durch die Schwere der Steine, lange vorhalten. Danach müssen der Demokratisierung keine Prinzipien, muss ihr keine Theorie zugrunde liegen; eher wird durch sie die soziale Evolution nachträglich übersichtlich gemacht und gerechtfertigt. Und dennoch wird, so Nietzsche, beharrlich an der „Zukunft“ der Demokratie gearbeitet. Nietzsche bedenkt die, welche das „jetzt bewusst und ehrlich“ tun, mit mildem, aber auch entlarvendem Spott: es ist möglich, dass die Nachwelt […] an die demokratische Arbeit einer Reihe von Geschlechtern etwa so denkt, wie wir an den Bau von Steindämmen und Schutzmauern – als an eine Thätigkeit, die nothwendig viel Staub auf Kleider und Gesichter breitet und unvermeidlich wohl auch die Arbeiter ein Wenig blödsinnig macht; aber wer würde desswegen solches Thun ungethan wünschen? (MA II, WS 275)

Denn von „der Kette jener ungeheuren prophylaktischen Maassregeln […], welche der Gedanke der neuen Zeit sind und mit denen wir uns gegen das Mittelalter abheben“, können nur einäugige Zyklopen „endliche Sicherheit der Fundamente“ erwarten, „damit alle Zukunft auf ihnen ohne Gefahr bauen kann“. Sie sehen den Funktionswandel nicht, den sie zugleich bewirken. „Bei den weiten Zeitstrecken, welche hier zwischen Mittel und Zweck liegen, bei der grossen, übergrossen, Kraft und Geist von Jahrhunderten anspannenden Mühsal, die schon noth thut, um nur jedes einzelne Mittel zu schaffen oder herbeizuschaffen“ (MA II, WS 275), kann man es ihnen nicht verdenken, die Demokratisierung als Zweck zu sehen,während sie doch nur Mittel sein könnte für etwas, das vorläufig nicht abzusehen ist. Die Demokratisierung Europas ist unaufhaltsam nicht als Ziel und Endzweck, sondern als Weg zur Entscheidbarkeit aller gesellschaftlichen Ordnungen, der auch über die Ziele und Zwecke der Demokratie immer wieder neu entscheiden lässt. Im folgenden Aphorismus macht Nietzsche diese Entscheidbarkeit exemplarisch am „Recht des allgemeinen Stimmrechtes“ (MA II, WS 276) fest und an der Paradoxie, in die es führt. Das demokratische Wahlrecht, das Recht, über die Wahl von Repräsentanten in Parlamente zu entscheiden, schließt in den meisten Ländern auch das Recht ein, sich gegen die Wahl als solche zu entscheiden, also

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X Ausgleichende Orientierung

nicht wählen zu gehen. In einer geringen Wahlbeteiligung liegt darum, so schon Nietzsche, eine Missachtung oder Ablehnung der Demokratie, jedenfalls wenn ein Engagement für sie als Pflicht verstanden wird. Als Möglichkeit ihrer eigenen Ablehnung aber (und nicht nur hier) wird die Demokratie paradox. Nietzsche spielt die Paradoxie auch für die Mehrheitsentscheidung durch: Darf die Entscheidung über die Zulässigkeit von Mehrheitsentscheidungen durch Mehrheitsentscheidung getroffen werden? Wenn ja, setzt sie sich selbst schon voraus, wenn nein, würde, als „Consequenz der Gerechtigkeit“, schon eine einzige Gegenstimme die Demokratie unmöglich machen. Und so hat sich denn auch zumeist „das Volk […] das allgemeine Stimmrecht nicht gegeben, es hat dasselbe, überall, wo es jetzt in Geltung ist, empfangen und vorläufig angenommen“. Die Demokratie wird nicht demokratisch auf den Weg gebracht, und so bleibt einem Volk „das Recht, es [das allgemeine Stimmrecht] wieder zurückzugeben, wenn es seinen Hoffnungen nicht genugthut“. Das geschah im 20. Jahrhundert tatsächlich, insbesondere in Deutschland, wo eine „vorläufig angenommene“ Demokratie sich auf demokratischem Weg selbst wieder abschaffte. Angesichts solcher Paradoxien ist die Mehrheitsentscheidung „nur eine Noth- und Augenblicks-Maaßregel“. Nietzsche blieb entsprechend skeptisch gegen sie.⁴²⁶ Nichtsdestoweniger war der „Sieg der Demokratie“ (MA II, WS 292) für ihn wahrscheinlich, und auch damit behielt er recht. Er kam auch hier zu geradezu verblüffenden Prognosen. Die Demokratie profitierte zu seiner Zeit vor allem von der „Angst vor dem Socialismus“, die „alle Parteien“ nötige, „dem ‚Volke‘ zu schmeicheln und ihm Erleichterungen und Freiheiten aller Art zu geben, wodurch es endlich omnipotent wird“. Mit dem Recht der Besteuerung werde das Wahlvolk aber auch „dem Capitalisten-, Kaufmanns- und Börsenfürstenthum an den Leib gehen und […] langsam einen Mittelstand schaffen, der den Socialismus wie eine überstandene Krankheit vergessen darf“. Ferner werde die „um sich greifende Demokratisirung“ zu einem (zunächst) „europäischen Völkerbund“ führen, in dem „der pietätvolle Sinn“ für die Eigenarten der Völker „unter der neuerungssüchtigen und versuchslüsternen Herrschaft des demokratischen Princips allmählich von Grund aus entwurzelt“ werde. Es werde zu Grenzkorrekturen kommen, die den mächtigen Mitgliedern dieses Völkerbunds (Nietzsche gebrauchte den schweizerischen Begriff „Kantone“) „und zugleich dem des Gesammtverbandes dienen, nicht aber dem Gedächtnisse irgendwelcher vergrauten Vergangenheit“. Die nicht nur territorialen Grenzkorrekturen auszuhandeln, werde „die Aufgabe der zukünftigen Diplomaten sein, die zugleich Culturforscher, Landwirthe, Verkehrskenner sein müssen und keine Heere, sondern Gründe und Nütz-

 Vgl. NL , [], KSA ./KGW IX/, N VII , .

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lichkeiten hinter sich haben“ (MA II, WS 292). Die damalige Außenpolitik der europäischen Nationalstaaten musste so allmählich zu einer europäischen Innenpolitik werden. Sozialismus und Nationalismus tragen nicht nur zur demokratischen Funktionalisierung des Staates bei, sie überholen sich auf diesem Weg schließlich selbst. Der Aphorismenzyklus zur Demokratie im zweiten Band von MenschlichesAllzumenschliches schließt mit MA II, WS 293: „Ziel und Mittel der Demokratie“. Er beginnt mit einer ebenso klaren wie positiven Bestimmung eines Ziels der Demokratie, und schließt mit einer verrätselten Metapher, die, in einem weiteren Horizont, an die „Gefahr“ erinnert, der auch die Demokratie, und sei sie noch so erwünscht, nicht entgehen kann.⁴²⁷ Das „Ziel“ der Demokratie ist danach, „möglichst Vielen Unabhängigkeit [zu] schaffen und [zu] verbürgen, Unabhängigkeit der Meinungen, der Lebensart und des Erwerbs“. So wird sie auch für entsprechende Entscheidungsfreiheit sorgen müssen, zum einen durch ökonomischen Ausgleich, so dass die „Reichen“ nicht die „Besitzlosen“ dominieren können, zum andern durch Verhinderung demagogisch agierender Parteien, die die selbstständige politische Urteilsbildung bedrohen, also durch politischen Ausgleich. Die Begriffe des Ausgleichs, der Ausgleichung oder des Ausgleichens sind bei Nietzsche zumeist durchaus positiv besetzt.⁴²⁸ Nur soweit die Demokratisierung die Unterschiede einzuebnen, zu ‚nivellieren‘ droht, bekommen sie einen negativen Klang.⁴²⁹ Es ist für Nietzsche nicht mehr die Frage, ob man die Demokratie will oder nicht: „Ich rede von der Demokratie als von etwas Kommendem.“ Aber es könnte sein, so Nietzsches Metapher, dass auf dem Weg nur die Pferde gewechselt haben, das Fuhrwerk und die Straßen aber noch die alten sind und die Gefahr für das „Völkerwohl“, die man schon hinter sich glaubte, in Demokratien durchaus weiterbesteht. Auch in der unaufhaltsam in Richtung Demokratisierung verlaufenden und nun so vielversprechenden sozialen Evolution kann man des Kommenden keineswegs sicher sein. Denn man kann sich des alten Denkens, das feste Fundierungen wollte, nicht ohne weiteres entledigen, und mit der Ent-

 Drochon, Nietzsche and Politics,  ff., bezweifelt zu Recht gegenüber William E. Connolly, David Owen und Lawrence J. Hatab, den Protagonisten einer Erneuerung der modernen Demokratie von Nietzsches Konzept des agôn her, dass Nietzsche sich damit schon für die Demokratie ausspricht. Die Kontexte, die freilich auch Drochon nur begrenzt erschließt, gäben das schlicht nicht her. Nietzsche verfolgt die moderne demokratische Bewegung, ohne sie zu unterstützen.  Vgl. z. B. FW ; NL , [], KSA ., NL , [], KSA .; NL ,  [], KSA ./KGW IX/,W I , ; JGB ; NL , [], KSA ./KGW IX/,W II , ; NL , [], KSA ./KGW IX/,W II , ; NL , [], KSA ./KGW IX/,W II , ; GM II ; EH klug .  Vgl. z. B. NL , [], KSA ./KGW IX/, W I , ; GM I  u. .

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scheidbarkeit hat man auch auf Unsicherheit umgestellt. So ist die Demokratisierung vorerst ein offenes soziales Großexperiment.⁴³⁰

1.5 Demokratisierung des politischen Systems als Steigerung seiner Komplexität Was sich bei Nietzsche in hellsichtigen Beobachtungen abzeichnet, wird bei Luhmann zu einer Theorie nicht der Demokratie, sondern der Demokratisierung und nicht der Demokratisierung der Gesellschaft im Ganzen, sondern nur des politischen Systems, wo sie nach ihm allein ihren Ort hat.⁴³¹ Luhmann sprach von „Demokratisierung“ nur in Verbindung mit „der Politik“ als Subsystem des politischen Systems. Ansonsten setzte er „‚Demokratisierung‘“ in Anführungszeichen. Als Theoretiker beschränkte er im Gegensatz zu Nietzsche bewusst ihre Kontextualisierung. Gleichwohl fügte sich die Demokratisierung gut in sein Theorem der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft ein: „Demokratie läßt sich […] durch funktionale Differenzierung erklären“ (PolG, 101). Funktionale Differenzierung ist Moment der Steigerung der Komplexität der Gesellschaft und sie wiederum Moment der sozialen Evolution, die in einer Selektion von Selektionen, also selbstbezüglicher Selektivität besteht. Selektionen aber sind Entscheidungen unter Alternativen, und auf eben sie treibt im Politischen die Demokratisierung hin.⁴³² Das entzieht die Soziologie des politischen Systems realitätsverzerrenden moralischen Vorgaben: „Der Staat muss jenseits der Moral sein. Wir müssen eine formalere Idee vom politischen System haben“ (GuN, 162).

 Siemens, Nietzsche’s Critique of Democracy, , schreibt solche sachlichen Entscheidbarkeiten Nietzsche als Ambiguitäten zu.  Vgl. Czerwick, Systemtheorie der Demokratie,  u. ö.  Zu Luhmanns evolutionärem Denken in der Systemtheorie der Politik vgl. Wimmer, Demokratie als Resultat politischer Evolutionen, der auch Bezüge zu Norbert Elias herstellt, jedoch vorschlägt, Luhmanns Differenzierung des politischen Systems Verwaltung/Politik/Publikum in die Trias Staat/Parteien/Öffentlichkeit zu verschieben (). – Der Rückgang von ‚Vernunft‘ auf ‚Entscheidbarkeit‘ wird im Namen der alten Vernunft-Metaphysik gerne als Dezisionismus etikettiert und damit ins Lager der politischen Philosophie Carl Schmitts verwiesen, die durch Schmitts Einsatz für das Dritte Reich schwer diskriminiert wurde. Politisch zu entscheiden heißt jedoch nicht schon alles nach ‚Freund und Feind‘ im Sinn Carl Schmitts zu unterscheiden. Luhmann hat sich bei aller Schätzung von Schmitts analytischer Kraft (SS, ) klar von ihm und seinem „unübertroffenen Sinn für Überholtes“ distanziert (PolG, ). Schmitt spielt, anders, als es etwa von Beyme, Der Staat des politischen Systems im Werk Niklas Luhmanns, nahelegt, in dessen Werk nur eine sehr untergeordnete Rolle.

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Auch im Sinn Nietzsches macht die Steigerung der Entscheidbarkeit, einschließlich der Entscheidbarkeit ihrer eigenen Voraussetzungen, die Steigerung der Kultur aus – als Steigerung der Vergleichbarkeit einer Kultur mit anderen Kulturen, die ihr neue Orientierungs- und Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet und darin anderen überlegen macht. Die Formel der „Höherzüchtung der Menschheit“ (EH GT 4), mit der Nietzsche die Steigerung der Kultur mehr und mehr verbindet, verdeckt das eher. Doch ‚Züchtung‘, ‚Zuchtwahl‘, ist für ihn Selektion, ‚höhere Menschen‘ zeichnen sich für ihn eben durch überlegene Orientierungs-, Urteils-, Entscheidungs- und Führungsfähigkeiten aus (Kap.V, 4.3), und eine Kultur steigert sich eben dadurch, dass sie solche höheren Menschen hervorbringen kann, von denen einfachere Menschen wiederum lernen können. So steigt das Niveau der Orientierungs-, Urteils-, Entscheidungs- und Gestaltungsfähigkeit einer Gesellschaft insgesamt, und so wird auch deren immer weitere funktionale Differenzierung möglich. Im politischen Bereich wird nach Luhmann von daher „eine radikale Uminterpretation des klassischen Konzepts der Demokratie als Herrschaftsform notwendig“. Der „seit langem überreizten Tradition“ seien dafür nicht mehr „Normen zu entnehmen“ (KuD, 35). Der Verweis auf Zukunft und Unaufhaltsamkeit reiche nicht aus (ZdD, 126). Stattdessen müsse man „begreiflich machen, weshalb und in welchem Sinn gerade bei hoher Komplexität Demokratie zur Norm wird“ (KuD, 35). Sie wird zur Norm eben im Prozess der wechselseitigen Steigerung von funktionaler Differenzierung und Demokratisierung: Sie treiben einander voran, indem sie füreinander zur Norm werden. So ist es kein Zufall, dass die funktionale Differenzierung der Gesellschaft und die moderne Demokratie gleichzeitig, etwa seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, auf den Weg kamen. Die Demokratisierung kann darum, wie angedeutet, als Anstoß zur funktionalen Differenzierung des Politischen verstanden werden, zur Ausdifferenzierung und Autonomisierung des politischen Systems, das sich dann autonom weiter differenziert.⁴³³ Ausschlaggebend für diese Ausdifferenzierung ist nach Luhmann das demokratische Wahlrecht: Es hält einerseits den Kontakt mit dem Wahlvolk aufrecht und schränkt dessen Rolle andererseits auf hochsimplifizierte Ja/NeinAlternativen ein, bei Parlamentswahlen (je nach Wahlrecht direkt oder indirekt) auf die Alternative von (im Amt zu haltender) Regierung oder (ins Amt zu bringender) Opposition (wobei unabsehbare Koalitionen offen bleiben). Auf diese Weise wird das politische System autonom gegen das „extrem unruhige Material“ der Wählerwünsche, „das zu unerwartbaren Fluktuationen, zu sprunghaften

 Nach Czerwick, Systemtheorie der Demokratie, , wird Demokratie für Luhmann aus einem Herrschaftsbegriff zu einem „Strukturbegriff des politischen Systems“.

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X Ausgleichende Orientierung

Aggregationen und Disaggregationen von Meinungen und Motiven neigt“ (PolG, 367). Das politische System bleibt einerseits von ihnen abhängig, sofern die Wahlen über seine parteiliche personelle Besetzung entscheiden, und wird andererseits zugleich von ihnen unabhängig, sofern es die Wahlvorschläge und Wahltermine selbst vorgibt. Indem es sich selbst immer weiter differenziert, wird es zunehmend auch sensibler für seine Umwelt, nicht nur für die Wünsche des Wahlvolks oder ‚Publikums‘, sondern auch für die Funktionsweisen anderer Funktionssysteme wie Wirtschaft, Recht, Erziehung, Wissenschaft usw.: Durch höhere Eigenkomplexität kann es höhere Umweltkomplexität verarbeiten. Dies aber lässt sich kaum noch als Herrschaft verstehen, soweit Herrschaft ein hierarchisches Verhältnis von Befehl und Gehorsam einschließt: In diesem Sinn hat „das Volk jedenfalls […] niemals geherrscht“ (GI, 139; vgl. ZdD, 126 f.). Der Herrschaftsbegriff wird, auch gegenüber Nietzsche, entthront. Stattdessen verteilen die Bürger in Wahlen „die Karten des politischen Spiels“, das dann nach den Regeln des politischen Systems gespielt wird (GI, 154). Was wir „Demokratie“ nennen und auf die Einrichtung politischer Wahlen zurückführen, ist demnach nichts anderes als die Vollendung der Ausdifferenzierung eines politischen Systems. Das System gründet sich selbst auf Entscheidungen, die es selber eingerichtet hat. Es schafft damit zugleich Bedingungen für die Möglichkeit weiterer Entscheidungen, die von den gewählten „Repräsentanten“ zu treffen sind. (PolG, 105)

Eben dadurch setzt es sich instand, „eine möglichst große Zahl von Interessen und Meinungen zuzulassen und an die Entscheidungsprozesse heranzuführen“ (PolG, 242). Dadurch aber, dass an der Spitze Regierung und Opposition wechseln können, bleibt stets die Alternativität politischen Entscheidens präsent (TpO, 19 f.). Mit dem definitiven Abschied vom Herrschaftsschema Befehlen/Gehorchen ging Luhmann über das hinaus, was Nietzsche vorgedacht hatte, für den freilich der demokratisch geordnete Wechsel von Regierung und Opposition noch kaum politische Wirklichkeit war.⁴³⁴ Er folgte den gemeinsamen philosophischen Grundentscheidungen konsequenter, als Nietzsche es schon möglich war. Danach höhlt die Ausdifferenzierung von Funktionssystemen hierarchische Herrschaft aus oder löst sie ab. Hierarchie, einseitige und eindimensionale Abhängigkeit von einer institutionell erhöhten, traditionell auratisierten, ‚heiligen‘ Spitzenposition (hierós), wird in Heterarchie, wechselseitige und vieldimensionale Abhängigkeit unter lediglich ‚Anderen‘ (héteros), überführt. Auch das politische System herrscht

 Nietzsche gebraucht den Begriff ‚Opposition‘ denn auch noch nicht im politisch-institutionellen Sinn.

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nicht über die andern Funktionssysteme, wie es viele bis heute erwarten, und ebensowenig kann das Wissenschaftssystem dem politischen System seine Entscheidungen vorgeben, wie es Philosophen und Wissenschaftler seit Platon verlangten und auch Nietzsche es noch wollte. Nach Luhmanns Systemtheorie können Wissenschafts- und politisches System einander nur Leistungen in Form strukturierter Komplexität zur Verfügung stellen, z. B. in Gestalt von Expertenwissen (von Seiten der Wissenschaft) oder von Hochschulgesetzen (von Seiten der Politik); wie solche Leistungen vom jeweils anderen System verwertet werden, liegt bei diesem. ‚Herrschaft‘ ist dann kaum mehr dingfest zu machen. An ihre Stelle tritt der schon skizzierte „Machtkreislauf“ innerhalb des politischen Systems. Und in ihm bildet sich zugleich ein weiterer, gegenläufiger Machtkreislauf, den Luhmann als „informalen“ vom offiziell vorgesehenen und rechtlich festgeschriebenen „formalen“ unterscheidet (Kap.VII, 2.1; IX, 2.4) und der die Autonomie des politischen Systems weiter bestärkt (PTW, 39 – 45; PolG, 257– 265): Formale, durch Stellen in Organisationen ausgewiesene Macht mit Durchgriff auf mehr oder weniger lange Entscheidungsketten ist stets auf die in diesen Entscheidungsketten Mitwirkenden angewiesen, die so ihrerseits eine informale Macht über die jeweils höher gestellten Entscheider gewinnen, eine Macht, die jedoch, weil nicht offiziell ausgewiesen, nur schwer zu übersehen und darum auch nur bedingt zu beherrschen ist. Machte Demokratie die Herrschaft im antiken Athen noch identifizierbar als Herrschaft von Gleichgestellten (Kap. IX, 4.1), so wird Herrschaft mit ihrer Ausdifferenzierung und bürokratischen Organisation im modernen politischen System der Demokratie immer weniger identifizierbar, werden Machtverhältnisse prekär, bleiben nur noch ‚Einflüsse‘ (Kap. IX, 2.5) Deshalb wird nun auf Transparenz gedrängt und damit auf weitere und nun offene, formale Einbeziehung der ‚Beherrschten‘ in die ‚Herrschaft‘, also auf noch mehr Demokratisierung. Dadurch werden die Einflussverhältnisse jedoch noch komplexer, noch weniger überschaubar: Über die Komplexierung der Einflussverhältnisse wird auch die Demokratisierung autopoietisch, sie treibt sich selbst immer weiter voran, wird ‚unaufhaltsam‘. In der Sprache der Macht wird in gegenläufigen Machtkreisläufen selbstbezüglich Macht über Macht ausgeübt, wird die Macht selbstbezüglich, autopoietisch und stabilisiert sich als Macht. Sie destabilisiert dadurch die jeweiligen Machthaber(innen), die scheinbar ‚Herrschenden‘, die es nun zunehmend schwerer haben, ‚sich an der Macht zu halten‘. Durch Demokratisierung verstärkt sich die Macht, und die Machthaber(innen) verlieren ihren Schrecken. Sie müssen sich nicht allzu sehr bemühen, bescheiden aufzutreten und ihre Macht nicht zu zeigen, sie ‚haben‘ sie gar nicht mehr, sondern beeinflussen nur mehr oder weniger das heterarchische Machtspiel.

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Daran ist bekanntlich auch die ‚öffentliche Meinung‘ und ihre Formierung durch die Massenmedien beteiligt (Kap. IX, 4.3). Während Nietzsche, der noch an der Unterscheidung von Befehl und Gehorsam festhielt, sie durchgehend pauschal als „Geist und Ungeist des Tages und der Tageblätter“ (UB III 4, KSA 1.365), als „permanenten falschen Lärm“,⁴³⁵ als „Mittel […], wodurch das Heerdenthier sich zum Herrn macht“,⁴³⁶ kurz als „Wort-Spülicht“ (Z III Vorübergehen) und „Halbwelt des Geistes“ (JGB 263) abqualifizieren zu müssen glaubte,⁴³⁷ sah Luhmann, so irritierend die Massenmedien mit ihrer opportunistischen Fluidität wirken mögen, eine konstruktive Rolle in der Demokratie für sie vor: Die durch sie formierte öffentliche Meinung bereitet die Selektion politischer Themen vor, hält sie für alternative politische Stellungnahmen bereit, verstärkt solche Stellungnahmen, spitzt sie zu, macht sie dadurch erst für Wähler entscheidbar (PolG, 274– 318) und verzichtet dabei „auf unbedingt geltende Bezugspunkte der Orientierung“ (ÖffD, 33). Zugleich verstärkt sie dadurch die Fokussierung des politischen Systems so sehr auf den Alternativ-Code von Regierung und Opposition, dass sie es beharrlich „von Langfristperspektiven auf ad hoc Reaktionen“ ablenkt – „auch und gerade in einer Gesellschaft, der Umbrüche (etwa im Bereich der Technologie oder der Umwelteingriffe) von gewaltigen Ausmaßen bevorstehen“ (TpO, 26; vgl. KuD 43 u. ZdD, 130). Das war Nietzsches größte Sorge im Blick auf die Weltgesellschaft und die weiträumigen und langfristigen Aufgaben der Erdregierung. Ihnen vermochte auch Luhmann in seiner Konzeption der Demokratie keinen Ort zu sichern – er bestätigte vielmehr, dass sie dort keinen haben. Nietzsches Startproblem mit der Demokratie bleibt offen.

2 Demokratisierung als funktionale Differenzierung des Individuellen: Entstehung einer Schauspielergesellschaft Der späte Nietzsche ist den Selbstbezüglichkeiten und Paradoxierungen von Machtverhältnissen weit über den klassischen Bereich des Politischen hinaus nachgegangen. In Jenseits von Gut und Böse und Zur Genealogie der Moral arbeitete er heraus, wie Ohnmächtige Macht über die Mächtigen gewinnen können – durch moralische Ächtung der Macht (Kap. IX, 1.6, 2.3) bis dahin, dass sie mit Hilfe der christlichen Moral, die alle Menschen vor Gott gleichstellte und nach dem ‚Tod  NL , [], KSA ..  NL , [], KSA ./KGW IX/, N VII , .  Vgl. Braatz, Friedrich Nietzsche, und zuletzt Reschke, Der Journalist, die Presse, der informierte Leser.

2 Demokratisierung als funktionale Differenzierung des Individuellen

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Gottes‘ in der demokratischen Moral weiterlebe, die Machtausübung zur Sache des schlechten Gewissens machten (Kap. VIII, 5):⁴³⁸ Die Befehlshaber und Unabhängigen […] haben nöthig, sich selbst erst eine Täuschung vorzumachen, um befehlen zu können: nämlich als ob auch sie nur gehorchten. Dieser Zustand besteht heute thatsächlich in Europa: ich nenne ihn die moralische Heuchelei der Befehlenden. Sie wissen sich nicht anders vor ihrem schlechten Gewissen zu schützen als dadurch, dass sie sich als Ausführer älterer oder höherer Befehle gebärden (der Vorfahren, der Verfassung, des Rechts, der Gesetze oder gar Gottes) oder selbst von der HeerdenDenkweise her sich Heerden-Maximen borgen, zum Beispiel als „erste Diener ihres Volks“ oder als „Werkzeuge des gemeinen Wohls“. (JGB 199)

Nietzsche verknüpfte zuletzt Christentum, Gleichstellung und Demokratie so eng, dass er „Sokrates Christus Luther Rousseau“, um deren prägende, Werte schaffende Orientierungskraft er ein Leben lang wetteiferte und die unter unterschiedlichen Voraussetzungen und mit unterschiedlichen Absichten die Gleichstellung der Menschen vorangetrieben hatten, für sich in einem Notat schlicht „die vier großen Demokraten“ nannte.⁴³⁹ Er stellte die für ihn nihilistischen, dem Leben und seinen Kämpfen abgewandten Züge des Christentums immer stärker in den Vordergrund, zuletzt mit der Kampfschrift Der Antichrist, seinem „Fluch auf das Christenthum“, und während er in Jenseits von Gut und Böse von der „demokratischen Bewegung Europa’s“ noch, wie er schrieb, „ohne zu loben und zu tadeln“, sprechen wollte (JGB 242), wandte er sich zuletzt polemisch gegen allen „Demokratismus“.⁴⁴⁰ Immerhin blieb er gegen die Demokratie milder als gegen das Christentum – „das Christenthum“, notierte er sich, „als eine Entnatürlichung der Heerden-Thier-Moral: unter absolutem Mißverständniß und Selbstverblendung / die Demokratisirung ist eine natürlichere Gestalt derselben, eine weniger verlogene“.⁴⁴¹ Seine polemische Verknüpfung beider⁴⁴² gipfelte zuletzt in der (veröffentlichten) Rede vom christlichen Gott, der immer sanfter, dekadenter und schließlich „Demokrat“, „der Gott der ‚grossen Zahl‘, der Demokrat unter den Göttern“ geworden sei (AC 17). „Demokratismus“ wird schlicht zur „Niedergangs-

 Auch Luhmann gebrauchte die Formel von der „Macht der Ohnmächtigen“ – er jedoch im Blick auf die gegenläufigen formalen und informalen Machtkreisläufe (ZdD, ).  NL , [], KSA ./KGW IX/, W II , .  GD Deutschen , GD Streifzüge , AC . – Damit hat Nietzsche sicherlich dazu beigetragen, dass die Demokratie in der Weimarer Republik, als er längst ein berühmter Autor war, beim belesenen Publikum so wenig Anklang fand und schließlich von führenden Politikern, selbst Reichskanzlern, „mit Absicht ausmanövriert“ wurde (Nolte, Was ist Demokratie?, ). ‚ProtoFaschist‘ war er darum noch nicht.  NL , [], KSA ./KGW IX/, W II , .  Vgl. schon NL , [], KSA ..

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X Ausgleichende Orientierung

Form der organisirenden Kraft“ (GD Streifzüge 39). Im gleichen Zug griff Nietzsche immer schärfer die Moral an,weil sie unvermeidlich die Realitäten im Blick auf den Nutzen und Nachteil der jeweiligen Gesellschaft simplifiziert und dies (in Europa) christlich übertüncht (JGB 201; Kap. VIII, 5). Weil Nietzsche zuletzt glaubte, einer solchen Moral nur durch schärfste Polemik beikommen zu können, ließ er sich nun seinerseits auf harte, moralisch extrem simplifizierende Gegensätze ein, gegen die er selbst zuvor geduldig angearbeitet hatte.⁴⁴³ Und so behandelte er nun auch die Demokratie. Der späte Nietzsche setzte sie in ein so grelles Licht, dass ihre Ideale und Idealisierungen deutlich unterscheidbar wurden, damit aber auch ihre Realitäten. Auch hier führt der methodische Immoralismus kritisch weiter, ohne dass sich hinreichend freie Geister von ihm zum Anti-Demokratismus verführen lassen müssten. Wir eröffnen die kritische Seite von Nietzsches und Luhmanns Kontextualisierungen der Demokratie mit dem demokratischen Kompromiss (2.1). Der späte Nietzsche „perhorreszirte“, wie er nun gerne sagte (GM III 7 u. ö.), Kompromisse, weil sie die Verantwortung verwischen und die Aufstellung und Durchsetzung großer Ziele in der Politik, wie sie die Aufgabe der Erdregierung in der kommenden Weltgesellschaft erfordert, schwer machen. Dazu bedarf es nach Nietzsche jener besonders orientierungsfähigen Individuen, die andere überlegen orientieren können; sie rückten nun auch in den Mittelpunkt von Nietzsches Denken der Demokratie – in scharfer Entgegensetzung: „{Die christlich-demokratische Denkweise} begünstigt das Heerden-Thier, die Verkleinerung des Menschen, sie schwächt die großen Triebfedern {(das Böse – )}, sie haßt den Zwang, die harte Zucht, die großen Verantwortlichkeiten, die großen Wagnisse.“⁴⁴⁴ (2.2) Weil Demokratie dazu tendiert, die Über- und Unterlegenheiten in den Orientierungsfähigkeiten herunterzuspielen, zu ‚nivellieren‘, erfordert sie entsprechende Selbstdarstellungen auch und gerade der Führenden. So lässt sie nach Nietzsche eine Schauspielergesellschaft wachsen (2.3). Im ersten und dritten Punkt ging Luhmann der Sache nach mit, der zweite beschäftigte ihn kaum mehr.

 Siemens, Nietzsche’s Critique of Democracy (wiederaufgenommen in Siemens, Yes, No, May be …,  f.), sieht die Wendung durch Nietzsches „pluralism“ und „perfectionism“ begründet: Soweit die Demokratie den Pluralismus vor Tyranneien schütze, begrüße er sie, soweit sie den Pluralismus durch Nivellierungstendenzen einebne, weise er sie ab, jedoch nicht um des Gedeihens Einzelner oder einer Elite, sondern der Höherzüchtung des Menschen überhaupt willen, die ihm seine „ontology of life“ nahelege. Die beiden Deutungen schließen einander nicht aus. Die hier vorgetragene versucht jedoch ohne Simplifizierungen von Nietzsches Denken in fixe Positionen (‐ismen) und Ontologien auszukommen, die es wohl übersichtlich machen mögen, es aber eben zugleich, wenn es sich ihnen nicht fügt, als notorisch „ambiguous“ erscheinen lassen.  NL , [], KSA ./KGW IX/, W I , .

2 Demokratisierung als funktionale Differenzierung des Individuellen

335

2.1 Verflüchtigung der individuellen Verantwortung in demokratischen Gremienentscheidungen Nach der Überwindung der üblichen jugendlichen Aversion gegen Kompromisse („Nur die halben Naturen suchen einen Kompromiß“⁴⁴⁵) hatte Nietzsche zunächst durchaus Sinn für den politischen Kompromiss etwa der konstitutionellen Monarchie (MA I 450). Umso entschiedener warf der späte Nietzsche Richard Wagner in einem Notat „ein Compromiß zwischen den drei modernsten Bedürfnissen: nach Krankhaftem, nach Brutalem und nach Unschuldigem {(Idiotischem)}…“⁴⁴⁶ vor, das⁴⁴⁷ ihm im Parsifal einen Kompromiß auch mit dem Christentum erlaubt habe: „ich vertrage keinen Compromiß mit dem Christenthum –“.⁴⁴⁸ AC eröffnete Nietzsche dann damit, die Moderne im Ganzen sei „krank – am faulen Frieden, am feigen Compromiss, an der ganzen tugendhaften Unsauberkeit des modernen Ja und Nein“ (AC 1). Luhmann dagegen hatte kein Problem mit politischen Kompromissen. Es mache die „Konfliktkultur der Demokratie“ aus, Konsens darüber zu „inszenieren“, dass man im Dissens sei und Konflikte wählerwirksam austragen könne (PolG, 294 f.). Da man sich dabei aber auf kontingente, immer wieder andere Gegnerschaften einzustellen habe, riskiere man eine „opportunistische, prinzipiell prinziplose Temporalisierung“ der Politik, in der es statt um „zielorientierte Rationalität […] mehr und mehr um zeitorientierte Reaktivität“ gehe (PolG, 142 f.). Kompromisse werden in formellen oder informellen Gremien geschlossen. Gremien sind Entscheidungszirkel im doppelten Sinn: Zirkel eines Kreises von zur Entscheidung befugten Personen, unter denen die Entscheidung zirkuliert. Man hat sich in ihnen nicht nur an der Sache, dem Gegenstand der Entscheidung, sondern auch aneinander, den so oder anders Entscheidenden zu orientieren. Tritt das Zweite in den Vordergrund, lösen sich die Entscheidungen der Beteiligten leicht von der Sache, die Verantwortung der Einzelnen diffundiert in die des Gremiums im Ganzen. Nietzsche zählte das zur „Heerdenbildung“ und zur „Heerden-Organisation“ (GM III 18). Votiert man gegeneinander, muss man bei künftigen Entscheidungen in anderer Sache mit Gegenvoten der anderen rechnen. So tritt die anstehende Sache und die individuelle Verantwortung für sie noch weiter zurück. In Gremien, so Luhmann, werden Entscheidungen über eine Sache zu Entscheidungen über die eigenen Entscheidungen im Blick auf die möglichen Entscheidungen der andern, auch „der Entscheidungsprozeß wird reflexiv“,    

NL , [], KSA .. NL /, [], KSA ./KGW IX/, W II , . Nietzsche gebrauchte ‚Kompromiß‘ teils im Neutrum, teils im Maskulinum. NL , [](), KSA ./KGW IX/, W II , .

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X Ausgleichende Orientierung

selbstbezüglich (PuL, 155). Dadurch werden die Entscheidungen und die Verantwortung für sie so komplex und undurchsichtig, dass sie sich nur noch begrenzt der zu entscheidenden Sache und den entscheidenden Personen zuordnen lassen. Die Entscheidung wird zu einem autopoietischen „Entscheidungssystem“ (OuE, 138; GG, 830; PolG, 237). Durch „Zertheilung der Verantwortlichkeit“, notierte Nietzsche, „wird es erreicht, daß eine große Menge Dinge thut, zu denen der Einzelne sich nie verstehen würde“.⁴⁴⁹ So kann man „die Verantwortung abwälzen“: „Jedermann wird Partei dabei, auch die Philosophen.“⁴⁵⁰ Es sei denn, ein Mitglied des Gremiums gibt mit überlegener Orientierungs-, Urteils-, Entscheidungs- und Überzeugungskraft eine klare Sachentscheidung vor, der die übrigen folgen: Das Gremium trägt dann formal weiterhin die Verantwortung für die Entscheidung, informal aber jene(r) Einzelne, die oder der sie herbeigeführt hat. Sie oder er gewinnt dadurch in Nietzsches Sprache Rang, in Luhmanns Sprache Reputation (Kap. XI); Abstimmungen werden dann vermieden oder zur Formsache, die organisierte Macht wird wieder zur situativen Orientierungsmacht (Kap. IX). Für Nietzsche werden gerade in der demokratischen Bewegung Einzelne ‚von Rang‘ unentbehrlich, auch wenn sie nicht mit organisierter Macht ausgestattet sind. Weil, so auch hier sein Argument, die meisten Vorgaben anderer brauchen, um sich zu orientieren, sind Individuen nötig, die umsichtig und weitsichtig solche Vorgaben machen, im besten Fall „souveraine Individuen“, wie Nietzsche sie nannte, mit dem „ausserordentlichen Privilegium der Verantwortlichkeit“ (GM II 2; Kap. VIII, 8). Das war stets seine Präferenz. Im späten Werk stellte er den Gegensatz politisch orientierungsbedürftiger und orientierender Individuen in den Vordergrund und spitzte ihn polemisch und provokativ auf den von ‚Sklaven‘ und ‚Herren‘ zu. Und weil die Demokratisierung der Gesellschaft diesen Gegensatz in Frage stellt, lehnte er den „Demokratismus“ nun im Ganzen ab.

2.2 Differenzierung und wechselseitige Funktionalisierung orientierungsbedürftiger und orientierender Individuen An Nietzsches Notaten aus der Mitte der 1880er Jahre ist abzulesen, wie er sein zuvor zwar skeptisches, aber noch faires Denken der Demokratie allmählich dem polemisch simplifizierenden Gegensatzdenken opferte. Er machte sich das – in der Zeit, als er Also sprach Zarathustra schrieb – geradezu zum Programm:

 NL /, [], KSA ./KGW IX/, W II , .  NL , [], KSA ./KGW IX/, W II , .

2 Demokratisierung als funktionale Differenzierung des Individuellen

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Die eine Bewegung ist unbedingt: die Nivellirung der Menschheit, große Ameisen-Bauten usw. […] Die andere Bewegung: meine Bewegung: ist umgekehrt die Verschärfung aller Gegensätze und Klüfte, Beseitigung der Gleichheit, das Schaffen Über-Mächtiger. Jene erzeugt den letzten Menschen. Meine Bewegung den Übermenschen.⁴⁵¹

Aber er hielt auch fest: Es ist durchaus nicht das Ziel, die letzteren als die Herren der Ersteren aufzufassen: sondern: es sollen zwei Arten neben einander bestehen – möglichst getrennt; die eine wie die epikurischen Götter, sich um die andere nicht kümmernd.⁴⁵²

So sehr eine sich demokratisierende Gesellschaft auf Ausgleich angewiesen ist, darf doch die real bestehende Differenz orientierungsbedürftiger und orientierender Individuen nicht moralisch nivelliert werden – gerade nicht in der sich demokratisierenden Gesellschaft. Und so trat Nietzsche zum entschiedenen Kampf gegen die Nivellierung zur Mittelmäßigkeit an: Eine Kriegs-Erklärung der höheren Menschen an die Masse ist nöthig! Überall geht das Mittelmäßige zusammen, um sich zum Herrn zu machen!⁴⁵³

Der Kampf schien ihm nötig für die anstehende „Herrschaft über die Erde“: Die Vernichtung der Sclavenhaften Werthschätzungen. Die Herrschaft über die Erde, als Mittel zur Erzeugung eines höheren Typus. Die Vernichtung der Tartüfferie, welche „Moral“ heisst. […] Die Vernichtung des suffrage universel: d. h. des Systems, vermöge dessen die niedrigsten Naturen sich als Gesetz den höheren vorschreiben. Die Vernichtung der Mittelmässigkeit und ihrer Geltung.⁴⁵⁴

Aber die höheren, komplexer denkenden Menschen sollen darum nicht schon die politische Herrschaft mit absoluter Macht übernehmen. Es soll ihnen lediglich ihr höherer, auf ihrer informalen Orientierungsmacht beruhender Rang zugestanden werden: — ich bin dazu gedrängt, im Zeitalter des suffrage universel, d. h. wo Jeder über Jeden und Jedes zu Gericht sitzen darf, die Rangordnung wieder herzustellen.⁴⁵⁵

    

NL , [], KSA .. NL , [], KSA .. NL , [], KSA .. NL , [], KSA .. NL , [], KSA ..

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X Ausgleichende Orientierung

Nietzsche verstand die Rangordnung,wie er später notierte, ausdrücklich als „eine Rangordnung der Kräfte […]: Natürlich abseits von allen bestehenden Gesellschaftsordnungen“,⁴⁵⁶ und „‚die Herren der Erde‘“ als eine „Geistes- und LeibesAristokratie, die sich züchtet und immer neue Elemente in sich hinein nimmt“ und sich dadurch „gegen die demokratische Welt der Mißrathenen und Halbgerathenen abhebt“.⁴⁵⁷ Im Gegenzug dazu simplifizierte er die Demokratie zur Moral der Gleichstellung aller: Sie „repräsentirt den Unglauben an große Menschen und an Elite-Gesellschaft“,⁴⁵⁸ und sie ist, weil sie gleichwohl auf sie angewiesen ist, verlogen: In der Hauptsache aber glaube ich, daß die Verlogenheit in moralischen Dingen zum Charakter dieses demokratischen Zeitalters gehört. Ein solches Zeitalter nämlich, welches die große Lüge „Gleichheit der Menschen“ zum Wahlspruch genommen hat, ist flach, eilig, und auf den Anschein bedacht, daß es mit dem Menschen gut stehe, und daß „gut“ und „böse“ kein Problem mehr sei.⁴⁵⁹

Auf solche Aussagen hin wird häufig wiederum Nietzsches Stellung zur Demokratie simplifiziert. Aber Nietzsche ist davon, wie dargestellt, weder ausgegangen noch blieb er dabei. Er sah auch, dass gerade die Demokratie neue Möglichkeiten schafft, für die Politik außerordentliche Individuen zu rekrutieren. „Solitär-Person[en]“, notierte er später, können „sich am leichtesten in einer demokr. Gesellschaft erhalten u. entwickeln“, „sie gedeihen in den niedrigsten u. gesellschaftlich preisgegebensten Elementen am häufigsten“. Sie werden wohl bekämpft, „am festesten gebunden, beaufsichtigt, in Ketten gelegt u. überwacht werden: so will es der Instinkt der Heerde“.⁴⁶⁰ Doch gibt es für Nietzsche keinen Grund zur Entmuthigung. Wer sich einen starken Willen bewahrt und anerzogen hat, zugleich mit einem weiten Geiste, hat günstigere Chancen als je. Denn die Dressirbarkeit der Menschen ist in diesem demokratischen Europa sehr groß geworden; Menschen welche leicht lernen, leicht sich fügen, sind die Regel: das Heerdenthier, sogar höchst intelligent, ist präparirt. Wer befehlen kann, findet die, welche gehorchen müssen: ich denke z. B. an Napoleon und Bismarck.⁴⁶¹

 NL /, [], KSA ./KGW IX/, N VII , .  NL , [], KSA .. – Nietzsche könnte darin – mit gehöriger Zuspitzung – Aristoteles, Pol. b, folgen, wonach das demokratische Gerechte (tò díkaion tò daemotikòn) darin bestehe, der Zahl, nicht der Würde nach (katà arithmòn allà màe kat‘axían) Gleichheit (tò íson) walten zu lassen.  NL , [], KSA ..  NL , [], KSA ..  NL , [], KSA ./KGW IX/, W II , .  NL , [], KSA . f.; vgl. JGB .

2 Demokratisierung als funktionale Differenzierung des Individuellen

339

Wenn ‚Solitär-Personen‘ einmal ‚Herdentiere‘ für sich gewonnen haben, werden diese für die von jenen vorgegebenen Orientierungen dankbar sein. Die Selbsttäuschung der Demokratie, dass sie keine Führung durch herausragende Einzelne brauche, ist modern, nicht antik; den Athenern war, auch wenn sie sich in der Verteilung von Ämtern bis zu Losentscheidungen vorwagten, stets bewusst, dass sie führungsstarke Leute brauchten, und sie rechneten stets damit, dass sich solche Leute dann gegen die demokratische Ordnung wenden könnten, wogegen sie vor allem mit dem Ostrakismus angingen, der zehnjährigen Verbannung von Leuten, die ihnen allzu mächtig zu werden schienen, aus der Stadt. Nietzsche dagegen wollte Leute von Rang in der Gesellschaft halten und mahnte, die ohnehin unaufhaltsame Demokratisierung der Gesellschaft so zu gestalten, dass sie von ihnen den bestmöglichen Gewinn hat. 1887 setzte er unmittelbar bei der von Luhmann so genannten ‚funktionalen Differenzierung‘ an und verknüpfte sie mit der ‚Globalisierung‘: {Haben wir erst jene unausweichliche unvermeidlich bevorstehende wirtschaftl. {Wirthschafts-}Gesammt-Verwaltung der Erde, {dann kann die Mh als Maschinerie organisirt in deren Diensten ihren besten Sinn finden: {als} ein ungeheures Räderwerk von immer kleineren, {immer feiner} „angepaßteren“ Rädern; {als} ein immer wachsendes Überflüssigwerden {aller} dominirender u. commandirender Elemente; {als} ein Ganzes von ungeheurer Kraft, dessen einzelne Faktoren Minimal-Kräfte, {Minimal-Werthe} darstellen.⁴⁶²

Durch eben diese „spezialisirtere Nützlichkeit“, die „Gesammt-Maschinerie, die Solidarität aller Räder“, die „ein maximum in der Ausbeutung des Menschen“ erreicht – heute spricht man von ‚Produktivität‘ –, aber entstehe die Notwendigkeit einer „umgekehrten Bewegung“, der {einer} Erzeugung des synthetischen, des summirenden, des rechtfertigenden Menschen, für den jene Machinalisirung der Mh eine Daseins-Vorausbedingung ist, als ein Grund Untergestell, auf dem er seine höhere Form zu sein erst schaffen kann sich erfinden kann …⁴⁶³

 NL , [], KSA . f./KGW IX/, W II ,  f.  NL , [], KSA ./KGW IX/, W II , . Oben auf der Seite notierte Nietzsche noch: „Mein Begriff, mein Gleichniß dafür für diesen Typus ist, wie man weiß, das Wort ‚Übermensch‘.“ – Siemens, Yes, No, May be …,  f., unterscheidet hier statt einander bedingender Funktionen ökonomische und moralische Werte, auch dies ohne Rückhalt im Text. Zugleich sieht er hier „a relation that is deeper, more internal und reciprocal“, führt seine Unterscheidung wieder zu „a new economic-moral theory of value“ zusammen und spricht anschließend von „an a-moral or extra-moral standard of evaluation“ (). Und er betont zu Recht, dass es sich bei alldem nur um Denkversuche Nietzsches, nicht autorisierte Notate handelt.

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X Ausgleichende Orientierung

Nietzsche stellte dies immer aggressiver so dar, dass es allein auf die ‚höheren Menschen‘ und ihre ‚höhere Form zu sein‘ ankomme. Er ließ dabei letztlich im Unklaren, ob politisch überlegen orientierende Menschen nur evolutionär entstehen können oder ob man sie gewollt heranbilden, ‚heranzüchten‘ kann. Zum Letzteren sah er zu seiner Zeit keine Voraussetzungen: „Die große Politik, Erdregierung in der Nähe; vollständiger Mangel an Principien dafür“.⁴⁶⁴ Die Philosophie jedenfalls, von der er die Bewältigung oder doch die Vorbereitung der Aufgabe weiterhin erwartete, weil sie seit alters gelernt hat, sich in den weitesten Horizonten zu orientieren, schien ihm nicht darauf vorbereitet zu sein. Im Blick auf „die große Aufgabe u Frage: {wie soll} die Erde als Ganzes soll verwaltet werden? Und wozu soll ‚der Mensch‘ – und nicht mehr ein Volk, eine Rasse – gezogen u gezüchtet werden?“ wären, vermutete er, von Philosophen, die sie ins Auge fassen, „viele Übergangs[‐] und Täuschungsmittel zu erfinden“, nämlich „in Anknüpfung an das bestehende Sittengesetz und unter dessen Worten und Anscheine“ Moralen für die Orientierungsbedürftigen hier, die überlegen Orientierenden dort.⁴⁶⁵ Nietzsche nahm die Begriffe der ‚Kaste‘ und der ‚neuen Sklaverei‘ wieder auf, die Demokraten am schwersten verletzen müssen, und stellte die ‚Sklaven-Kaste‘ zunächst einseitig als Funktion der ‚Herren-Kaste‘ dar: {Und wäre es für} die demokratische Bewegung nicht selber erst ihren {erlösenden} Sinn und ihre Verklärung {eine Art Ziel,Verstand, Erlösung u. Rechtfertigung, […] wenn Jemand käme, der sich ihrer bediente —, dadurch daß endlich sich zu ihrer} neuen und sublimen Form Ausgestaltung der Sklaverei, als welche sich einmal die Vollendung der europäischen Demokratie darstellen wird, {– das muß die europäische D. am Ende sein–} jene höhere Art herrschaftlicher Menschen {und cäsarischer Geister} hinzugefunden hat{fände}, welche diese neue Sklaverei nun auch – nöthig hat? Zu neuen, {bisher unmöglichen}, zu ihren Aufgaben {Fernsichten? Zu ihren Aufgaben?}⁴⁶⁶

Er korrigierte dann jedoch noch das „welche diese neue Sklaverei nun auch – nöthig hat“ in „welche sich auf sie [sc. diese neue Sklaverei] stellte, sich an ihr hielte, sich durch sie emporhübe“.⁴⁶⁷ Die politisch umsichtig und weitsichtig führenden Individuen müssen nicht schon ‚Führer‘ im diskreditierten Sinn, nicht autoritäre, allein auf ihre Macht bedachte oder gar Gewaltherrscher sein, sondern  NL , [], KSA ./KGW IX/, W I , .  NL , [], KSA . – /KGW IX/, W I ,  u. . Auf der gegenüberliegenden Seite des zunächst diktierten, dann stark bearbeiteten Notats hat Nietzsche den späteren Aphorismus JGB  entworfen.  NL /, [], KSA . – , hier  f./KGW IX/,W I , , . – Zum komplexen, die Provokation entschärfenden Sinn von Nietzsches Begriff der ‚neuen Sklaverei‘ sei erinnert an die Ausführungen in Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie,  – .  KGW IX/, W I , .

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haben ihre Funktion darin, dass andere sie zur Orientierung brauchen. Sie wachsen ihrerseits mit diesen anderen, haben ihre Funktion eben in der Vorgabe umsichtiger und weitsichtiger gegenüber simplifizierenden und beschränkten politischen Orientierungen. In diesen Grenzen hat Nietzsches Unterscheidung von hier orientierungsbedürftigen, dort orientierenden Individuen oder in seiner Sprache von ‚Gehorchenden‘ und ‚Befehlenden‘ oder, noch zugespitzter, von ‚Sklaven‘ und ‚Herren‘ auch in der Demokratie ihren guten Sinn. Dass Nietzsche überlegen orientierende Individuen dennoch stark überhöhte, scheint mit seiner fiktiven Solitär-Figur Zarathustra zu tun zu haben, dessen Orientierung die orientierungslos gewordenen ‚höheren Menschen‘ im IV. Teil seiner Lehrdichtung inständig suchen. Ihm, Zarathustra, legte Nietzsche im veröffentlichten Werk die Formel „der Erde Herr“ zuerst in den Mund (Z IV Nachtwandler-Lied 4, KSA 4.398). Doch Zarathustra, notierte Nietzsche sich, sollte es in einem V. Teil mit dem „Haß auf das demokr. Nivellirungs-system“ bewenden lassen, der sei „nur im Vordergrund: eigentlich ist er sehr froh, daß dies so weit ist. Nun kann er seine Aufgabe lösen.“⁴⁶⁸ In dieser Richtung typisierte Nietzsche dann die „zukünftigen ‚Herren der Erde‘“ – im Plural – als eine neue, ungeheure, auf der härtesten Selbst-Gesetzgebung ebenso wie auch auf Reichthum aufgebaute „kosmopolitische“, internationale Aristokratien, in denen jenem Geiste dem Willen philos. Gewaltmenschen u. Künstler-Tyrannen Dauer über Jahrtausende gegeben wird: – eine höhere Art Mensch, welche sich {Dank ihrem Übergewicht von Dauer Wollen, Wissen, Reichthum u. Geblüts-Vornehmheit Einfluß} des demokratischen Europas bedienen als ihres gefügigsten u. beweglichsten Werkzeugs, um die Schicksale der Erde in die Hand zu haben bekommen, {um „am Menschen“ selbst als Künstler zu gestalten} um die Menschheit zu regieren, um dem Zufall {entsetzlichsten aller Tyrannen} den Krieg zu erklären: denn bisher war der Zufall unser Herr.⁴⁶⁹

Die Aufgabe der Erdregierung schien Nietzsche so groß, dass die Menschen oder doch einige von ihnen übergroß werden müssten, um sie zu bewältigen. Und das ließ ihn zu unseligen Formeln wie ‚philosophische Gewaltmenschen‘ und ‚Künstler-Tyrannen‘ greifen – wobei man immerhin die Beiworte ‚philosophische‘ und ‚Künstler‘ nicht außer Acht lassen darf.

 NL , [], KSA ./KGW IX/, N VII , . – Scholz, Die ungeahnten Möglichkeiten des „demokratischen Nivellirungs-systems“, führt auf dieses Notat hinaus. Er zielt auf einen Theorienvergleich zwischen Nietzsche, Elias und Luhmann im Blick auf das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft merkwürdigerweise ohne Berücksichtigung von Nietzsches Konzepten der Demokratie und der Schauspielergesellschaft.  NL /, [], KSA . f./KGW IX/, W I , .

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X Ausgleichende Orientierung

Nietzsche veröffentlichte das alles immerhin so nicht. In Jenseits von Gut und Böse, das 1886 erschien, überging er vieles davon, spitzte jedoch anderes weiter zu. So nannte er „die demokratische Bewegung nicht bloss […] eine Verfalls-Form der politischen Organisation“, sondern nun auch eine „Verfalls-, nämlich Verkleinerungs-Form des Menschen […], seine Vermittelmässigung und Werth-Erniedrigung“ (JGB 203)⁴⁷⁰ und die „eigentlichen“, sich der neuen Aufgabe bewussten Philosophen geradewegs „Befehlshaber und Gesetzgeber“ (JGB 211; Kap. XII, 3). Und dann griff er auch hier zum Wort ‚Tyrann‘, nun mit dem Beiwort ‚geistig‘: „die Demokratisirung Europa’s ist zugleich eine unfreiwillige Veranstaltung zur Züchtung von Tyrannen, – das Wort in jedem Sinne verstanden, auch im geistigsten.“ (JGB 242) Doch auch hier muss man beachten: Nietzsche rief nicht nach Tyrannen, es ist die Demokratisierung selber, die bei denen, die ihre sich steigernde Komplexität nicht verkraften, den Ruf nach ihnen hervorruft. Nietzsche sah deutlicher als Luhmann, dass Demokratie nicht auf die Politik im engeren Sinn oder die „kleine Politik“, wie er sie nannte (JGB 208, FW 377, EH WA 2), zu beschränken sein würde. Sie müsste zu „grosser Politik“ fähig sein (JGB 241), dergegenüber die ‚grosse Politik‘ Bismarcks noch klein erscheint: Die Aufgabe der Erdregierung kann es, so Nietzsche, erfordern, die unaufhaltsame Demokratie über ihre bisherigen Bedingungen hinauszuführen – wohin, ließ er offen.

2.3 Generelle wechselseitige Selbstdarstellung der Individuen in der Schauspielergesellschaft Aber die Demokratie kann sich nur unter den von ihr selbst geschaffenen Bedingungen weiter entwickeln. Und das heißt, dass auch Menschen höchsten Ranges, wenn sie in ihr etwas erreichen und auch, wenn sie sie fortgestalten wollen, sich zunächst einmal in ihr durchsetzen müssen. Seinen Zarathustra hat Nietzsche mit seiner Lehre vom Übermenschen auf dem Markt erst einmal scheitern lassen. Er drang nicht durch, auch mit seinen weiteren Lehren nicht, auch bei den ‚höheren Menschen‘ nicht. Er trat ganz als Autorität auf, ohne sich seinem jeweiligen Publikum hinreichend verständlich zu machen. Nietzsche scheint das so gewollt zu haben – und entschloss sich seinerseits, „nicht nur verstanden […], sondern ebenso gewiss auch nicht verstanden [zu] werden“ (FW 381), jedenfalls nicht in und von einer Gesellschaft, die ihm dazu eine Rolle zuwies, die er nicht einnehmen wollte, die eines Schauspielers. Aber eben dazu

 Vgl. Brusotti, Die „Selbstverkleinerung des Menschen“ in der Moderne.

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zwingt, wie er sah, eine demokratische Gesellschaft. Im Aphorismus 356 des nach Also sprach Zarathustra erschienenen V. Buchs der Fröhlichen Wissenschaft handelte er unter dem Titel „Inwiefern es in Europa immer ‚künstlerischer‘ zugehn wird“ von dem „Rollen-Glauben“ der Demokratie, einem „Artisten-Glauben“, durch den sie zur Schauspielergesellschaft werde.⁴⁷¹ Rollen sind entscheidbare Identitäten im Verkehr mit andern; sie lassen eine Vervielfältigung von Identitäten und ein komplexes Spiel mit ihnen zu. Eine Rolle, damit beginnt der Aphorismus 356, ist auch schon der „Beruf“, den man scheinbar gottgegeben ausübt, in funktional differenzierten Gesellschaften tatsächlich aber wählt. Das wird leicht „vergessen“, und so „verwechseln sich“ fast alle Europäer „in einem vorgerückteren Alter mit ihrer Rolle“. Sie spielen sie allmählich so gut, dass „aus der Kunst Natur“, aus der Rolle „Charakter“ wird. Die „eigentlich demokratischen“ Zeitalter belassen es jedoch nicht bei einer Rolle, sondern zwingen zu wechselnden Rollen und erinnern damit laufend an ihre Entscheidbarkeit. So hatte man in der athenischen Demokratie, die keine politische Bürokratie ausdifferenzierte, vor der Volksversammlung und in verschiedenen Ämtern, in die man gewählt wurde, verschiedene Rollen einzunehmen,⁴⁷² und wenn es um Krieg ging, unter Einsatz seines eigenen Lebens auch Entscheidungen mitzutragen, gegen die man selbst gestimmt hatte. In modernen Demokratien erfordern Mitgliedschaften in Parteien, Parlamenten, Fraktionen, Regierungen, Gremien usw. ebenfalls hochdifferenzierte Rollenspiele und entsprechende Selbstdarstellungen. Über die Politik hinaus werden, so Luhmann, Bürgern „bindende Selbstdarstellungen abverlangt“, auf die andere „sich stützen können“ (SpS, 161), in Rollen wie „Steuerzahler, Antragsteller, Beschwerdeführer, Wähler, Leserbriefschreiber, Unterstützer von Interessenverbänden usw.“ (SpS, 164). In Rollen ist man umso erfolgreicher, je überzeugender man sie darstellt, und auch dies schien Nietzsche ein Erbe der athenischen Demokratie zu sein: „Jener Athener-Glaube, der in der Epoche des Perikles zuerst bemerkt wird,“ kehre als „AmerikanerGlaube von heute“ wieder und wolle „immer mehr auch Europäer-Glaube werden“.⁴⁷³ Die Athener „wurden wirklich Schauspieler; als solche bezauberten sie, überwanden sie alle Welt“ – Nietzsche sah darin eine generelle, auch für moderne Demokratien gültige Regel: „wir modernen Menschen sind ganz schon auf dem

 Zur kontextuellen Interpretation des Aphorismus und weiterer thematisch verwandter Aphorismen in FW V vgl. Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie,  – .  Vgl. Kagan, Perikles,  – .  Hier bezog sich Nietzsche am klarsten auf die athenische Demokratie. Darüber hinaus geschah das, auffällig bei einem Klassischen Philologen, kaum (vgl. Brobjer, Critical Aspects of Nietzsche’s Relation to Politics and Democracy,  – ). Die Bewunderung der athenischen Demokratie war Teil des schönen und edlen Griechen-Bildes, das er überwinden wollte.

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X Ausgleichende Orientierung

gleichen Wege; […] jedes Mal, wenn der Mensch anfängt zu entdecken, inwiefern er eine Rolle spielt und inwieweit er Schauspieler sein kann, wird er Schauspieler …“ Man wird das nicht auf Demokratien begrenzen können; gerade Aristokratien konnten die Rollenspiele der Selbstdarstellung virtuos ausbauen, und die athenische Demokratie war ja stark aristokratisch geprägt. Aber Aristokratien konnten dabei festgefügte gesellschaftliche Ordnungen voraussetzen, Demokratien in funktional differenzierten Gesellschaften können das nicht mehr. Gesellschaften sind dann nicht mehr, mit Nietzsches Metaphern, aus „Steinen“ gebaut ist, aus denen sich einmal über viele Generationen hinweg solche „Ungeheuer von breiten Gesellschafts-Thürmen“ aufrichten ließen, wie sie die Kathedralen des feudalen Mittelalters symbolisieren. Eine im demokratischen Sinn „‚freie Gesellschaft‘“, die Nietzsche in Anführungszeichen setzt, ist nicht in dieser Weise auf Dauer gebaut – und für Nietzsche insofern gar keine Gesellschaft mehr. Nach Luhmann aber hat sich ein solches Denken in festen ‚Bausteinen‘ mit der funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft überholt. Nietzsche sprach vom Individuum in der Gesellschaft als einem „Stein in einem grossen Baue […]: wozu er zuallererst fest sein muss, Stein‘ sein muss … Vor Allem nicht – Schauspieler!“ (FW 356) sichtlich in einem nostalgischen Grundton. Man kann das so lesen, dass er sich hier eine mittelalterliche Gesellschaft zurückwünschte.⁴⁷⁴ Nietzsche könnte aber auch an den Ausgangspunkt seiner Reflexionen zur Demokratie in MA I 23 – 25 angeknüpft haben, wonach es demokratische Institutionen, die auf raschen Stellen- und Rollenwechsel setzen, es einer Gesellschaft und zumal der kommenden Weltgesellschaft schwer machen, sich den langfristigen Aufgaben der Erdregierung zu stellen. Luhmann nannte das gegen Ende seiner Politik der Gesellschaft die „Abflachung der politischen Ziele auf die Befriedigung der“ – eher kurzfristigen – „Interessen der Wähler“ (PolG, 430). Doch auch im Blick auf ‚höhere‘ Aufgaben der (Welt‐)Gesellschaft hat man nun von ihrer unaufhaltsamen funktionalen Differenzierung und Demokratisierung auszugehen. Was Nietzsche noch von „organisatorischen Genies“ erwartete (FW 356), muss dann, so sah es Luhmann, von planmäßig eingerichteten Organisationen geleistet werden, in denen die „Personalfragen“ in die „Zweitrangigkeit“ rücken (OuE, 280). Das schließt nicht aus, dass „die Orientierung an Personen innerhalb von Organisationen eine erhebliche Bedeutung besitzt“ (OuE, 286): „Die Person überrascht“ (OuE, 289). Doch auch überraschende Personen müssen sich nun in die Rollen fügen, die die in Organisationen geschaffenen Stellen verlangen

 Nicht so Connolly, Nietzsche, Democracy,Time,  – . Nach ihm will Nietzsche gerade „a quick tempo of life“ als „a crucial condition of possibility for the vibrant practice of democratic pluralism“ () plausibel machen.

2 Demokratisierung als funktionale Differenzierung des Individuellen

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(Kap. IX, 2.2). Sie können dort erfolgreiche „Karrieren“ durchlaufen (OuE, 297) und die Organisationen dann auch verändern; funktional angelegte Organisationen bleiben beweglich. Aber dazu müssen sie wiederum vielfältigere Rollen spielen und eine komplexere Selbstdarstellung entwickeln. Individuen können in funktional differenzierten und demokratisierten Gesellschaften also durchaus individueller werden. Wahrgenommen wird ihre Individualität aber, auch von ihnen selbst, in ihrer Selbstdarstellung, ihrer Rollenkunst, ihrer, so Nietzsche, Schauspielerei. Schauspieler, nicht auf dem Theater, sondern im alltäglichen Leben, waren Nietzsche jedoch trotz seines Perspektivismus zuwider; statt Schauspielerei erwartete er Redlichkeit und Echtheit, in aktuellen Begriffen Integrität und Authentizität (Kap. II, 3.1; VI, 3.1; VIII, 6). Und doch spielte er selbst, wie kein Philosoph vor ihm gespielt hat: nicht nur im persönlichen Umgang mit anderen Menschen, die er zumeist auf Distanz zu halten suchte und dabei mit ausgesuchter Höflichkeit überraschte, sondern auch und vor allem in seiner philosophischen Schriftstellerei, in der er sich vielfältigster Formen bediente, es also betont ‚künstlerisch‘ zugehen ließ. Dabei ließ er sich, wie der Nietzsche-Forschung immer klarer wurde, auf keine seiner Rollen festlegen, auch nicht auf die Zarathustra- und nicht einmal auf seine Autoren-Rolle;⁴⁷⁵ er machte auch die Rolle selbstbezüglich, spielte die Rolle des Rollenspielers (‚Possenreißers‘, ‚Narren‘), die nur in einer Schauspielergesellschaft plausibel ist. Anschließend an FW 356 unterbreitete er im V. Buch der Fröhlichen Wissenschaft in wiederum vielfältigen Rollen, z. B. des „Einsiedlers“, des „Cynikers“, des „Künstlers“, des „Unverständlichen“, des „Heimatlosen“, des „Narren“ oder des „Wanderers“, explizite Vorschläge, wie man den „Verkehr“ mit andern durch ein geeignetes Rollenspiel bewältigen kann (Kap. VI, 3.1). Er spielte, wie er für sich selbst notierte, selbst mit der „Rechtschaffenheit“ noch Komödie und hatte auch sein Vergnügen daran: Die Art offener u herzhafter Vertraulichkeit, wie man sie heute, in einem demokrat. Zeitalter, nöthig hat, um beliebt u geachtet zu sein – kurz das was {das, worauf hin} man heute „einen geraden {als} „rechtschaffenen Menschen“ nennt, ist {behandelt wird: das giebt einem Moralisten viel zu lachen. Alle tiefen Menschen genießen hier ihre Art Erleichterung; es macht so viel Vergnügen Komödie zu spielen.}⁴⁷⁶

Nietzsche war längst in einer Gegenwart angekommen, die zu akzeptieren er sich noch sträubte.

 Vgl. zuletzt Pichler, Philosophie als Text,  – , und Dellinger, „Du solltest das Perspektivische in jeder Werthschätzung begreifen lernen“.  NL , [], KSA ./KGW IX/, N VII ,  f.

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X Ausgleichende Orientierung

Luhmann, der in der Entfaltung seiner Theorie stets einen spielerischen, ironischen und selbstironischen Ton mitklingen ließ, bestätigte in der Sache Nietzsches Analyse auf der ganzen Linie – jedoch ohne moralisch abwertende Bezeichnungen wie ‚Schauspielergesellschaft‘. Er konnte an eine inzwischen lange Tradition anschließen, die die Kommunikation unter Individuen als ihre Selbstdarstellung füreinander beschreibt.⁴⁷⁷ Die Nostalgien und Befürchtungen Nietzsches teilte er nicht mehr:⁴⁷⁸ „Die Entwicklung geht nicht den oft angeprangerten Gang vom stolzen Individuum zum Massenmenschen. Sie nimmt den Weg zu bewußterer Selbstdarstellung und damit zugleich zu bewußteren Komplexeinstellungen gegenüber dem anderen Menschen als einem besonderen System“. Dazu sei „Sicherheit der Verfügung über den eigenen Körper“ nötig, auf die Nietzsche schon großen Wert gelegt hatte, aber auch die äußere, vom Staat zu gewährleistende Sicherheit. In diesem Rahmen sei die „Freiheitsfrage“ neu „entscheidbar“ (GI, 55 – 57): „Der Mensch wird die Persönlichkeit, als welche er sich darstellt.“ Auch „die Begriffe Freiheit und Würde“, die juridischen und legitimatorischen Anker der modernen Demokratie, sind darin einbezogen: Sie „bezeichnen Grundbedingungen des Gelingens der Selbstdarstellung eines Menschen als individuelle Persönlichkeit“ (GI, 60 f.). „Selbstdarstellung ist jener Vorgang, der den Menschen in Kommunikation mit anderen zur Person werden läßt und ihn damit in seiner Menschlichkeit konstituiert“. Seine Freiheit liegt auch darin, dass er seine Selbstdarstellung nach eigener Entscheidung gestalten kann, in seinem „Darstellungsspielraum“ (GI, 69 f.), seine Würde auch darin, dass seine Selbstdarstellung ihm so gelingt, dass er im Verkehr mit andern nach eigener Einschätzung gut dasteht. Die funktional differenzierte und demokratisierte Gesellschaft muss, wenn nicht eine Schauspieler-, so doch eine Selbstdarstellergesellschaft sein. Nur so kann sie den Individuen ihre Freiheit und Würde lassen.⁴⁷⁹

 Vgl. vor allem Goffman, The Presentation of Self in Everyday Life, deutsch: Wir alle spielen Theater, auf den sich Luhmann regelmäßig berief.  Wenn Nietzsche noch der festgefügten mittelalterlichen Gesellschaft nachhieng, so Luhmann –  – noch der festgefügten und liebevollen Familie: Er erwartete von ihr nicht nur die „Fundierung einer sozialisierungsfähigen Persönlichkeit im Kleinkind“ und „Entspannung der Familienmitglieder durch ganz persönliche Selbstdarstellung im Familienkreis“ (GI, ) aufgrund „intim-persönlicher Zuneigung“ (GI, ), sondern betrachtete sie auch „als Umkleideraum für die verschiedenen sozialen Rollen, die man mit individuellem Geschmack und persönlichem Stil nur übernehmen kann, wenn man irgendwo Gelegenheit hat, sich selbst in allen Rollen darzustellen und ratifizieren zu lassen“ (GI, ). Auch die Familienstrukturen haben sich bekanntlich inzwischen stark verändert und differenziert. In Luhmanns posthum publizierter Summe zur Politik der Gesellschaft finden sich solche Äußerungen nicht mehr.  Zur Rollendifferenzierung bei Luhmann im Blick auf die Demokratie vgl. Giegel, Die demokratische Form der Politik in Luhmanns Gesellschaftstheorie, der sie allerdings nur kurz be-

2 Demokratisierung als funktionale Differenzierung des Individuellen

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Jede Sozialordnung und erst recht eine demokratische ist „daran interessiert, Persönlichkeiten intakt und kontaktfähig zu erhalten“. Darum unterstützt man die Selbstdarstellung der anderen umso mehr mit Takt; auch Nietzsche hat immer wieder für Takt plädiert (vgl. zuletzt AC 59). Dabei geht es weniger um das konkrete Handeln selbst als um die Rolle, die damit verbunden wird. Individuen müssen darum auch in einer demokratisierten Gesellschaft keineswegs in ihrem Handeln gleich werden. Es reicht, so Luhmann, aus, für andere erwartbare Rollen zu spielen, sie jeweils in mehr oder weniger großen Spielräumen zu kombinieren, auszutauschen und auch neu zu kreieren. Die Schauspieler- oder Selbstdarstellungsgesellschaft ist so auch für Luhmann eine Bedingung der Demokratie, für ihn aber kein Problem mehr.

rührt, weil sie ihm als „theoretische Figur“ „zu schwach“ scheint, „um nähere Auskunft über die Beziehung zwischen Politik und Publikum zu geben“ (), die er unter anderen Prämissen zu verstehen sucht. Die Klippe ist auch hier der Autopoiesis-Begriff, in dem über dem Selbstbezug leicht der ebenso konstitutive Fremdbezug vergessen wird. Giegel fordert entsprechend mehr Partizipation des Publikums.

XI Sich auszeichnende Orientierung: Persönlichkeit nach Hegel, Rang nach Nietzsche, Reputation nach Luhmann 1 Alltägliche Rangordnung: Orientierung an herausragenden Personen Weder die Demokratie noch das alltägliche Zusammenleben kommen ohne herausragende, auf irgendeine Weise attraktive Personen aus. Sie erleichtern die Orientierung in unübersichtlichen Situationen (Kap.V, 3), spannen die Spielräume dafür auf, was in Situationen über bekannte Funktionen, Regeln und Normen hinaus möglich ist, im persönlichen Umkreis ebenso wie gesellschaftsweit und im Schlechten ebenso wie im Guten. Die orientierende Fokussierung auf attraktive Personen wird durch die Massenmedien forciert, die sich dabei an ‚Prominente‘ (also wörtlich ‚Herausragende‘) halten wie politische Meinungsführer(innen), erfolgreiche oder in großem Stil scheiternde Wirtschaftsleute, Fußballtrainer, Intellektuelle, Kunstschaffende, Wissenschaftler(innen), religiös Inspirierende, aber auch besonders brutale oder raffinierte Kriminelle. Die Auswahl solcher Personen ist dadurch begrenzt, dass sie ihrerseits überschaubar bleibt und so erst Orientierung ermöglicht. In die engere Wahl kommt, wer seinerseits zur Orientierung beiträgt, (im Guten und Schlechten) ‚Zeichen‘ oder ‚Maßstäbe setzt‘ und sich im günstigsten Fall, etwa dem von hochverdienten ‚elder statesmen‘, selbst durch ein besonderes Maß an Orientierungs-, Urteils-, Entscheidungskraft auszeichnet. Die Orientierung an attraktiven Personen lässt in den jeweiligen Orientierungswelten informale Rangordnungen entstehen, die wiederum von Massenmedien formalisiert und forciert werden können. Die Personorientierung formiert auf diesem Weg die Sachorientierung mit: Personen orientieren vor, was sachlich möglich ist, und je stärker sie dazu imstande sind, ein desto höherer Rang wird ihnen zugesprochen. Dennoch werden derartige Rangordnungen in Erkenntnis-, Wissenschafts- und Gesellschaftstheorien wenig bis gar nicht beachtet. Weil die moderne Philosophie auf das Subjekt setzte und von ihm zugleich um des Objektiven und Sozialen willen Entsubjektivierung verlangte (Kap. IV, 1), blieb für Rangordnungen kein Platz, und aus soziologischer Sicht wurden im Zug der funktionalen Differenzierung und Demokratisierung der Gesellschaft Rangordnungen gerade abgebaut. Nietzsche sah hier einen Realitätsverlust (Kap. VIII, 5), der auch die sich unaufhaltsam demokratisierende Gesellschaft auf lange Sicht schwer treffen könnte (Kap. X, 2.2). Bei der Neuausgabe seiner Schriften 1886 erhob er das „Problem der Rangordnung“ zu seiner eigentlichen „Aufgabe“ (MA I

1 Alltägliche Rangordnung: Orientierung an herausragenden Personen

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Vorrede 7). Sie habe sich ihm mit der Zeit geradezu aufgenötigt, vor allem im Kontext seiner „grossen Loslösung“ von Schopenhauer und Wagner (MA I Vorrede 3).⁴⁸⁰ Mit ihr ging, wie er es im Rückblick sah, eine Befreiung aus vielfältigen Bindungen einher: vom Leiden an seinen ihn unaufhörlich niederdrückenden Krankheiten, vom Ressentiment gegen Leiden überhaupt (EH weise 6), von tiefsitzenden moralischen Idealen. Er beobachtete mehr noch erstaunt als stolz,wie er auf diesem Weg ein „freier Geist“ mit einer „grossen Gesundheit“ habe werden können (MA I Vorrede 4). Ihm seien die „Augen für das Nahe“, seine ihm selbstverständlich gewordenen Orientierungen, aufgegangen, und so könnten sie in ähnlicher Weise jedem frei werdenden Geist aufgehen: „Jetzt erst sieht er sich selbst –, und welche Überraschungen findet er dabei! Welche unerprobten Schauder!“ (MA I Vorrede 5) Er erlebte, wie seine Orientierungen für ihn selbst ein Stück mehr entscheidbar wurden, und begriff dies nun als seinen philosophischen Imperativ. Um den Passus nochmals zu zitieren (Kap. II, 2.3.1): Du solltest Herr über dich werden, Herr auch über die eigenen Tugenden. Früher waren sie deine Herren; aber sie dürfen nur deine Werkzeuge neben andren Werkzeugen sein. Du solltest Gewalt über dein Für und Wider bekommen und es verstehn lernen, sie aus- und wieder einzuhängen, je nach deinem höheren Zwecke. (MA I Vorrede 6)

Dieses Sollen hat auch moralischen Rang (Kap. VIII, 8): In freieren Perspektiven wird die „nothwendige Ungerechtigkeit“ der engeren sichtbar. Sie ist dort am größten, wo das Leben am kleinsten, engsten, dürftigsten, anfänglichsten entwickelt ist und dennoch nicht umhin kann, sich als Zweck und Maass der Dinge zu nehmen und seiner Erhaltung zuliebe das Höhere, Größere, Reichere heimlich und kleinlich und unablässig anzubröckeln und in Frage zu stellen (MA I Vorrede 6).

Das ist „das Problem der Rangordnung“, der Rangordnung von weiteren und engeren, überlegenen und unterlegenen Orientierungen. Es kommt jedoch nur denen vor Augen, die die eigenen Orientierungen in Frage stellen und über sie hinaussehen können, den anderen stellt es sich nicht (Kap. VII, 3.2). Es kann von Anfang an kein allgemeines sein und darum auch nicht nach allgemein gültigen Kriterien entschieden werden. Und darin lag für Nietzsche das philosophische herausfordernde, seinerseits attraktive Problem. Das philosophische Problem des Rangs und der Rangordnung stellte sich nach Nietzsche, wiederum selbstbezüg-

 Vgl. Rupschus, Andreas, Nietzsches Problem mit den Deutschen.

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XI Sich auszeichnende Orientierung

lich, nur für Philosophen von Rang. Es gehört bis heute zu den herausforderndsten Problemen, die er stellte. Das Problem der Rangordnung war für ihn nicht oder doch zunächst nicht ein Problem der gesellschaftlichen Ordnung oder der sozialen Hierarchie, wie es oft verstanden wird.⁴⁸¹ Gleichwohl berührt es aus der Sicht einer Philosophie der Orientierung die Macht-Frage, doch nicht erst die in gesellschaftlichen Institutionen organisierte Macht,⁴⁸² sondern ursprünglicher die situative Macht, die in jeder ‚Bewältigung‘ einer Situation entsteht (Kap. IX). Die Orientierungsmacht wächst mit der Komplexität der Situation und zugleich wächst ihr ein eigenes moralisches Recht zu: du solltest das Problem der Rangordnung mit Augen sehn und wie Macht und Recht und Umfänglichkeit der Perspektive miteinander in die Höhe wachsen. „Du solltest“ – genug, der freie Geist weiss nunmehr, welchem „du sollst“ er gehorcht hat, und auch, was er jetzt kann, was er jetzt erst – darf … (MA I Vorrede 6)

Das Problem der Rangordnung von Personen wird in der Konsequenz zu einem persönlichen Problem und als solches wiederum zum Problem einer persönlichen Ethik, einer Ethik der Distanz (Kap. VIII, 8). Nietzsche hatte, was ihm leicht als Größenwahn ausgelegt wird, den Mut dazu, nicht nur zu persönlichen Rangordnungen selbst, sondern auch zur Einsicht und zum Eingeständnis, dass solche Rangordnungen in persönlichen Erfahrungen verankert sind, aus denen sich das Problem erst herauskristallisiert: jetzt, in dem Mittage unsres Lebens, verstehn wir es erst, was für Vorbereitungen, Umwege, Proben, Versuchungen, Verkleidungen das Problem nöthig hatte, ehe es vor uns aufsteigen durfte, und wie wir erst die vielfachsten und widersprechendsten Noth- und Glücksstände an Seele und Leib erfahren mussten, als Abenteurer und Weltumsegler jener inneren Welt, die „Mensch“ heißt, als Ausmesser jedes „Höher“ und „Übereinander“, das gleichfalls „Mensch“ heißt – überallhin dringend, fast ohne Furcht, nichts verschmähend, nichts verlierend, alles auskostend, alles vom Zufälligen reinigend und gleichsam aussiebend, – bis wir endlich sagen durften, wir freien Geister: „Hier – ein neues Problem! Hier eine lange Leiter, auf deren Sprossen wir selbst gesessen und gestiegen sind, – die wir selbst irgendwann gewesen sind! Hier ein Höher, ein Tiefer, ein Unter-uns, eine ungeheure lange Ordnung, eine Rangordnung, die wir sehen: hier – unser Problem!“ – – (MA I Vorrede 7)

 Das legen besonders die Übersetzungen von ‚Rangordnung‘ ins Englische als hierarchy und ins Französische als hiérarchie nahe. Im Englischen ist man jetzt, um vorschnelle Missverständnisse zu vermeiden, zu rank order übergegangen.  Vgl. Straßheim, Macht aus relationaler Perspektive, , der die sog. ‚transitive Macht‘ als Rangordnung interpretiert.

2 Persönlichkeit als Begriff des Begriffs (Hegel)

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Nach Nietzsche geht es beim Problem der Rangordnung durchaus um den „‚Menschen‘“ überhaupt, also um ein allgemeines Problem, den Menschen aber nun in Anführungszeichen. Denn das allgemeine Problem stellt sich dabei anders: als zwar erneut selbstbezügliches, aber allgemeines Problem der Verallgemeinerbarkeit ‚des Menschen‘, hier im Ausgang von der Verschiedenheit und der Distanz unter den Orientierungen der Menschen, für die über die gewollte moralisch und rechtlich gewollte Gleichheit hinaus ihr Rangunterschied ausschlaggebend ist. Nietzsche verknüpfte den Begriff des Rangs eng mit dem der Persönlichkeit und dachte dabei, wie zu seiner Zeit durchaus üblich, an Goethe, nach dem man schließlich ein ganzes Zeitalter, seine Zeit, die ‚Goethezeit‘, zu benennen pflegte. In dieser Zeit, philosophisch der Zeit des Deutschen Idealismus, fasste wiederum dessen herausragendster Vertreter, Hegel, den Begriff des Begriffs überhaupt als Persönlichkeit (2). Nietzsche gab, bei aller Distanz zum philosophischen Idealismus, am Ende des 19. Jahrhunderts, als Hegel schon totgesagt worden war, dem Begriff der Persönlichkeit einen neuen philosophischen Rang (3). Für Luhmann hatte sich am Ende des 20. Jahrhunderts der Rang als soziales Ordnungsprinzip weitgehend erledigt (4). Aber nicht ganz: Im Funktionssystem der Wissenschaft erwies er sich in Gestalt eines ‚Nebencodes‘ zum konstitutiven Code von wahr und falsch als unentbehrlich (5). Der ‚Reputationscode‘, wie er ihn nannte, kommt jedoch offensichtlich nicht nur in der Wissenschaft zum Zug (6).

2 Persönlichkeit als Begriff des Begriffs (Hegel) Die beiden Grundbegriffe der Achtung von Personen, Würde und Persönlichkeit, haben ihren Sinn im Lauf der Zeit umgekehrt: Würde, dignitas, jetzt allen Menschen gleichermaßen zugesprochen, war bei den Römern noch eine Rangauszeichnung, ‚Persönlichkeit‘ dagegen, jetzt im alltäglichen Sprachgebrauch eine Rangauszeichnung (‚Persönlichkeit von Rang‘), war einmal ein abstrakter Begriff für das Wesen der Person (so wie ‚Göttlichkeit‘ für das Wesen Gottes, ‚Subjektivität‘ für das Wesen der Subjekts). Der Begriff ‚Persönlichkeit‘, personalitas, wurde in den theologischen Debatten des Mittelalters um die Person oder die Personen Gottes in der Trinitätslehre gebraucht und erst in der Moderne zunehmend auch auf den Menschen bezogen.⁴⁸³ Kant verwendete ‚Persönlichkeit‘ noch als universalen Begriff des Menschen.⁴⁸⁴ Wilhelm von Humboldt, Goethe, Schleierma-

 Vgl. Dierse/Lassahn/Graumann, Art. Persönlichkeit, .  Vgl. Simon, Kant, , .

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XI Sich auszeichnende Orientierung

cher und andere trugen die Momente des Eigentümlichen, Charakteristischen, Individuellen, vor allem aber die Kraft, auf andere zu wirken, in den Begriff ein;⁴⁸⁵ Goethe, der den Begriff berühmt gemacht hatte („Höchstes Glück der Erdenkinder / Sei nur die Persönlichkeit“),⁴⁸⁶ distanzierte sich zugleich von ihm.⁴⁸⁷ Hegel fügte den Begriff wieder mit seinem theologischen Ursprung zusammen.⁴⁸⁸ An einer leicht zu übersehenden Stelle machte er ‚Persönlichkeit‘ zu einem Schlussbegriff seiner Wissenschaft der Logik. ⁴⁸⁹ Im Persönlichkeitskult des späteren 19. Jahrhunderts wurde der Begriff allgegenwärtig. Im 20. Jahrhundert wurde er auch in vielen empirischen Wissenschaften heimisch, vor allem in der Psychologie, Pädagogik, Soziologie und den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Bisher hat sich jedoch keine Definition halten lassen. Denn mit ‚Persönlichkeit‘ wird nicht nur der Charakter eines Menschen benannt, der als vergleichsweise fest gilt, sondern auch der zwar mehr oder weniger einheitliche und doch wandelbare Eindruck, den ein Mensch mit seinem Handeln, seinen Wirkungen auf andere, seiner Geschichte, kurz, mit seinem Leben im Ganzen macht. Er ist darum so vielfältig definierbar wie das Leben selbst. Berühmt geworden ist die Definition, die der Psychologe Gordon W. Allport nach 49 anderen Definitionen, die er vorfand, als 50. gab: „Persönlichkeit ist die dynamische Ordnung derjenigen psychophysischen Systeme im Individuum, die seine einzigartigen Anpassungen an  DWG VII, . f.  Goethe, West-Östlicher Diwan, Buch Suleika,  – .  Vgl. Dierse/Lassahn/Graumann, Art. Persönlichkeit, .  Vgl. Wagner, Der Gedanke der Persönlichkeit Gottes bei Fichte und Hegel. Die Arbeit ist theologisch-religionsphilosophisch ausgerichtet. Johann Wilhelm Snellman führte in seinem Versuch einer speculativen Entwicklung der Idee der Persönlichkeit von , als Hegels Denken noch ungebrochen lebendig war, dessen Gesamtdarstellung über die Begriffe der Individualität und der Subjektivität auf die Idee der Persönlichkeit hinaus, die er als „vollendete Bewegung des Wissens“ erschloss, die „als Wissen auch die Bewegung selbst“ enthalte und als solches für die religiöse Andacht die „Offenbarung Gottes“ (), für das Denken aber das „Wissen des persönlichen Geistes von seiner Wirklichkeit“ und damit auch seiner Wirkung sei ( – ). Als Hegel längst für überholt galt, warf ihm Frank W. Dunlop in seinem Buch Hauptmomente in Hegels Begriff der Persönlichkeit von , gängig gewordenen Vorurteilen folgend und aus weltanschaulichen Überlegungen heraus, einen einseitigen und „verhängnisvollen Intellektualismus“ (), einen „fehlerhaften Anthropomorphismus“ (), ein Zerfließen der festen Persönlichkeit im Weltprozess () u. ä., im Ganzen „Mangelhaftigkeit und Unklarheit“ () vor; eine zeitgemäße Philosophie der Persönlichkeit müsse über Hegel hinausgehen. Eine neuere philosophische Untersuchung zu Hegels Begriff der Persönlichkeit scheint nicht erschienen zu sein.  GW ./ThWA . f. – Das Historische Wörterbuch der Philosophie und Hermann Glockners und Helmut Reinickes Register zu Hegels Werken führen die Stelle nicht auf, Dunlop, Hauptmomente in Hegels Begriff der Persönlichkeit, und Wagner, Der Gedanke der Persönlichkeit Gottes bei Fichte und Hegel, gehen auf die Wissenschaft der Logik nicht ein. Cobben, Art. Person, , macht auf die Stelle aufmerksam, ohne sie näher zu interpretieren.

2 Persönlichkeit als Begriff des Begriffs (Hegel)

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seine Umwelt bestimmen.“⁴⁹⁰ Sie geht bereits von laufend sich verändernden System-Umwelt-Beziehungen aus. Während die Psychologie aber allen Menschen gleichermaßen eine Persönlichkeit zuspricht und nach möglichen Störungen ihrer Entwicklung fragt, den Begriff also im alten Sinn als bloßes Abstractum gebraucht,⁴⁹¹ und die Pädagogik allen eine harmonische Entwicklung ihrer Persönlichkeit ermöglichen will und den Begriff dabei normativ einsetzt, attestiert der alltägliche Sprachgebrauch nur besonders beeindruckenden Menschen Persönlichkeit (‚Das ist eine Persönlichkeit!‘), und solchen widmen sich dann die Geschichts- und Kulturwissenschaften. Hegels Wissenschaft der Logik war als vollendetes System der wissenschaftlichen Begreifbarkeit gedacht. Hegel ließ es im Begriff der Persönlichkeit gipfeln, durch den er den Begriff des Begriffs zuletzt auszeichnete.Von ihm aus leitete er in der Enzyklopädie, dem ausgearbeiteten System der philosophischen Wissenschaft, zu den Begriffen der Natur und des Lebens über. Im Begriff der Persönlichkeit ließ er die Logik in das Leben umschlagen. Die „Lehre vom Begriff“ oder die „subjektive Logik“ ist nach der „Lehre vom Sein“ und der „Lehre vom Wesen“ oder der „objektiven Logik“ der zweite und letzte Teil der Wissenschaft der Logik. Mit ihr ist im dreifachen dialektischen Sinn die Logik der Gegenständlichkeit von Gegenständen aufgehoben. In dieser werden Begriffe so verstanden, dass Gegenstände unter sie fallen, wobei noch offen bleibt, woher beide kommen und was die Subsumtion ermöglicht und rechtfertigt.⁴⁹² Gegenüber der abstrakten Subsumtionslogik wird in der „Lehre vom Begriff“ oder der „subjektiven Logik“ begriffen, dass Begriffe es beim Begreifen von Gegenständen stets mit sich selbst zu tun haben. Es sind, so Hegel, die Momente der logischen „Subjektivität“, der (zunächst abstrakte) Begriff, das Urteil und der Schluss, die sich in „Mechanismus“, „Chemismus“ und „Teleologie“, den Strukturen der ihr scheinbar gegenüberstehenden Natur, als logische „Objektivität“ vergegenständlichen. Das wird spätestens an „Leben“ und „Erkennen“ deutlich, die, als Momente der Natur, doch Bedingung des Begreifens sind; sie lassen den Begriff „zu sich selbst kommen“, sich selbst als lebendigen und erkennenden begreifen und damit als Begriff selbstbezüglich werden. Als solchen nannte Hegel ihn „Idee“. Sie ist „absolute Idee“, wenn begriffen ist, dass alles Begreifen das Begreifen des Begreifens selbst ist, dass wir alles, was wir für Gegenstände halten, die dem Begreifen scheinbar gegenüberstehen, und auch Unterscheidungen wie

 Allport, Pattern and Growth in Personality, . Übersetzung nach Dierse/Lassahn/Graumann, Art. Persönlichkeit, .  Vgl. Pawlik/Amelang (Hg.), Differentielle Psychologie und Persönlichkeitsforschung, pass.  Vgl. Simon, Hegels Gottesbegriff. Simon interpretiert Hegel hier im Ganzen von der Differenz zur Subsumtionslogik her.

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XI Sich auszeichnende Orientierung

Subjektivität und Objektivität oder Leben und Erkennen Begriffe, Verbegrifflichungen sind.⁴⁹³ Nietzsche hat das als ‚Perspektivismus‘, Luhmann als ‚Konstruktivismus‘ aufgenommen (Kap. II). Hegel, Nietzsche und Luhmann verbindet, dass sie die Subsumtionslogik, die abstrakt von scheinbar schon vorhandenen Gegenständen ausgeht, um sie unter scheinbar schon vorhandene Begriffe ‚fallen‘ zu lassen, überschreiten und mit ihr die ‚transzendentale‘ Voraussetzung eines Subjekts als eines letzten Grundes der Vorstellungen solcher Gegenstände und Begriffe. Hegel führte in seiner Phänomenologie des Geistes vor, wie sich Schritt für Schritt alle bloßen Voraussetzungen, die das Begreifen scheinbar relativieren, ihrerseits begreifen lassen und so der im Anschauen, Vorstellen und abstrakten Erkennen befangene „Geist“ zum „absoluten Wissen“ befreit wird. Das Wissen eines so befreiten „freien Geistes“ ist darin und nur darin „absolut“, dass er weiß, dass alles nur aus dem Begriff selbst begriffen werden kann; es ist kein Wissen mehr von Gegenständen außer ihm. Eben das meint, dass der Begriff des Begriffs Persönlichkeit und nicht Gegenständlichkeit ist: nicht Gegenständlichkeit im Sinn der abstrakten Allgemeinheit scheinbar an sich bestehender und als solcher erkannter Gegenstände, sondern Persönlichkeit im Sinn des Sich-auf-sich-selbstbeziehen- und Über-seine-Begriffe-verfügen-Könnens des Begreifens. Die Wissenschaft der Logik entfaltet dieses „absolute Wissen“ als „Reich des reinen Gedankens“ oder als „die Wahrheit, wie sie ohne Hülle an und für sich selbst ist“.⁴⁹⁴ Das aber ist, so Hegel in der einleitenden Erläuterung zur Wissenschaft der Logik, die Wahrheit, die die Philosophie seit jeher als Gott begriffen hat, „die Darstellung Gottes […], wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist“.⁴⁹⁵ Sie ist nun als Wahrheit eines freien Geistes begriffen, der seinerseits die Natur und die Endlichkeit des Geistes begriffen und darin selbst seine Wahrheit hat; von daher hat die Wahrheit des Begriffs, so Hegel, „Leben“, „Seele“ und „Persönlichkeit“ und ist „als Person undurchdringliche, atome Subjektivität“, also Individualität:  Vgl. Hoffmann, Georg Wilhelm Friedrich Hegel,  –  und : „Die Philosophie des Deutschen Idealismus und dabei zuletzt diejenige Hegels hat ihren Standpunkt immer aus dem Axiom gerechtfertigt, daß alles Nur-Gegenständliche, Nur-Objektive und Gegenständliche seinen letzten Sinn in einem Reflexiven, einem Selbstverhältnis haben und darstellen können muß. In der Freiheit, der Autonomie des Begriffs, über die wir nicht nur verfügen, sondern die wir als Subjekte selbst sind, liegt darum auch der Schlüssel zur Auflösung des Externen, das der Macht des Reflexiven nicht standhält.“ – Unter den neueren Gesamtdarstellungen von Hegels Philosophie scheint mir die Hoffmanns, der Hegel zu verstehen, nicht, wie etwa Hösle, Hegels System, zu verbessern sucht, die angemessenste zu sein.  GW ./ThWA ..  GW ./ThWA ..

2 Persönlichkeit als Begriff des Begriffs (Hegel)

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Die absolute Idee als der vernünftige Begriff, der in seiner Realität nur mit sich selbst zusammengeht, ist um dieser Unmittelbarkeit seiner objektiven Identität willen einerseits die Rückkehr zum Leben; aber sie hat diese Form ihrer Unmittelbarkeit ebensosehr aufgehoben und den höchsten Gegensatz in sich. Der Begriff ist nicht nur Seele, sondern freyer subjectiver Begriff, der für sich ist und daher die Persönlichkeit hat, – der praktische, an und für sich bestimmte, objektive Begriff, der als Person undurchdringliche, atome Subjectivität ist, – der aber ebensosehr nicht ausschliessende Einzelheit, sondern für sich Allgemeinheit und Erkennen ist, und in seinem Anderen seine eigene Objectivität zum Gegenstande hat. Alles Uebrige ist Irrthum, Trübheit, Meynung, Streben, Willkühr und Vergänglichkeit; die absolute Idee allein ist Seyn, unvergängliches Leben, sich wissende Wahrheit, und ist alle Wahrheit. ⁴⁹⁶

In ihrer Individualität ist die Persönlichkeit und mit ihr der Begriff des Begriffs „unmittelbar“, so wie für die Anschauung Gegenstände der Natur unmittelbar sind. Sie tritt als unmittelbare Anschauung auf. Während sich Gegenstände der Natur aber widerstandlos unter abstrakte Begriffe subsumieren lassen, ist „die Persönlichkeit“, so Hegel, „eine unendlich intensivere Härte, als die Objecte haben“. Unter individuellen Persönlichkeiten, die über ihre Begriffe verfügen und entscheiden können, lassen sich begriffliche Bestimmungen nicht ohne weiteres, nicht „ohne alle Veränderung“ „continuiren“, also verallgemeinern und als abstrakt allgemeine lehren:⁴⁹⁷ eine freie individuelle Persönlichkeit kann sie „hart“ abweisen bis dahin, dass sie keine an sie von außen herangetragene abstrakte Bestimmung gelten lässt, auch und vor allem nicht, wenn es um die Bestimmung ihrer selbst geht. Sie ist frei darin, keinem Begriff unterworfen zu sein oder sich unterwerfen zu müssen, den sie nicht selbst eingesehen und gutgeheißen, nicht begriffen hat. Am Beispiel Gottes, der, wie die Philosophie spätestens mit Anselm von Canterbury begriffen hatte, kein Fall eines vorgegebenen Begriffs, also kein Fall für die Abstraktions- und Subsumtionslogik sein kann, wird besonders klar, wie zuletzt alles, bis hin zu seinem Dasein, aus ihm selbst begriffen werden muss. Hegel wollte das durch Spinoza verlorengegangene „Princip der Persönlichkeit“ im Begriff Gottes⁴⁹⁸ wiedergewinnen und machte dabei deutlich, dass der konkrete Begriff, „der die Persönlichkeit hat“, „Macht“ ist, Schöpfungs- und Ordnungsmacht wie die göttliche. Macht hat nach Hegel schon der abstrakte „allgemeine Begriff“, sofern er über alles übergreifen und es in sich begreifen kann. Da der konkrete Begriff das aber nicht gewaltsam tut, sondern dabei „ruhig und bey sich selbst ist“, könne man ihn nicht nur „die freye Macht“, sondern auch „die freye Liebe und schrankenlose Seligkeit“ nennen: „denn es ist ein Verhalten seiner zu

 GW ./ThWA ..  GW ./ThWA ..  GW ./ThWA ..

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XI Sich auszeichnende Orientierung

dem Unterschiedenen nur als zu sich selbst, in demselben ist es zu sich selbst zurückgekehrt.“⁴⁹⁹ Damit beschrieb Hegel zugleich das Verhältnis von Persönlichkeiten zueinander: Jede kann die andere nur von sich aus begreifen, und indem sie das tut, übt sie Macht auf sie aus; die andere kann sich dabei jederzeit ungerecht beurteilt sehen und dem ihre eigene Macht entgegensetzen. Sehen das aber beide ein, indem sie sich nicht als abstrakt, gewaltsam Subsumierende, sondern als einander Begreifende begreifen und damit als frei, die Begriffe der andern in die eigenen Begriffe einzubegreifen oder nicht, können sie ihre Macht übereinander anerkennen, in ihr keine Ungerechtigkeit mehr sehen und ihr Verhältnis als „freie Liebe und schrankenlose Seligkeit“ begreifen. Als diese schrankenlos selige freie Liebe, in der sich der Begriff des Begriffs erfüllt, wird das Verhältnis von Persönlichkeiten aus einem scheinbar äußerlichen und vermittelten wieder zu einem unmittelbaren „Sein“. Das kann man mit Hegel auch so ausdrücken, dass die absolute Idee als Persönlichkeit „in der absoluten Wahrheit ihrer selbst sich entschließt, […] sich als Natur frei aus sich zu entlassen“,⁵⁰⁰ abgekürzt: sich zu andern „natürlich“ verhält.⁵⁰¹ Sie tritt dann als natürliches Individuum, als natürliche individuelle Persönlichkeit auf – wie für Nietzsche.

3 Persönlichkeit als Rang von Philosophen (Nietzsche) Als Hegels hochkomplexe systematische Reflexion auf den Begriff des Begriffs als Persönlichkeit im Lauf der Zeit immer weniger verstanden und sein ‚Idealismus‘ immer mehr für realitätsfremd erklärt wurde, bis man einige Jahrzehnte nach seinem persönlichen Tod auch seine Philosophie für tot erklärte,⁵⁰² gab Nietzsche sie, trotz aller zeitgemäßen Abwehrreflexe, nicht ganz so leicht auf. Auch wenn er sich, wie in die meisten anderen großen Philosophien, kaum in sie einlas, erfasste er sie in wichtigen Grundzügen, bewunderte ihren dionysischen „Zauber“⁵⁰³ und sah in ihr, dies freilich nicht in Hegels Sinn, den Durchbruch zu Darwins Evolu-

 GW ./ThWA ..  Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (), § , ThWA ..  Vgl. Hoffmann, Hegel,  f.  Vgl. Simon, Art. Hegel/Hegelianismus.  Vgl. NL , [], KSA ./KGW IX/, N VII , , und dazu Stegmaier, Nietzsches Hegel-Bild,  – .

3 Persönlichkeit als Rang von Philosophen (Nietzsche)

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tionstheorie, die er selbst philosophisch weiterdachte.⁵⁰⁴ Unerschrocken hielt er zugleich an den Begriffen „Seele“, „Vernunft“ und „Geist“ fest.⁵⁰⁵ Vor allem aber gebrauchte er, gewollt oder ungewollt, weiter Hegels Begriff der Persönlichkeit, wenn nicht in dessen Sinn, so mit dessen Anspruch als Auszeichnung nun seines Begriffs des Begriffs. Soziologisch kann man darin eine semantische Antwort auf die unaufhaltsame funktionale Differenzierung und Demokratisierung der damaligen Gesellschaftsstruktur sehen (Kap. X). Auch demokratisch gleichgestellte Personen unterscheiden sich – durch ihre Persönlichkeit. ‚Persönlichkeit‘ wird nun zu einer Auszeichnung, die nur wenigen zugestanden wird. Der junge Nietzsche sprach sie vor allem – bewusst anachronistisch – den frühgriechischen Philosophen zu: Ich erzähle die Geschichte jener Philosophen vereinfacht: ich will nur den Punkt aus jedem System herausheben, der ein Stück Persönlichkeit ist und zu jenem Unwiderleglichen Undiskutirbaren gehört, das die Geschichte aufzubewahren hat […]; denn an Systemen, die widerlegt sind, kann uns eben nur das Persönliche interessiren, denn dies ist das ewig Unwiderlegbare. (PHG Vorreden)

In der Moderne schienen ihm solche Persönlichkeiten kaum mehr möglich; die Ideale, die man nun mit dem Begriff der Persönlichkeit verband, hielt er für „nothwendige Illusionen“.⁵⁰⁶ So verwendete er den Begriff später mit Vorliebe in seiner Negation: „Unpersönlichkeit“. Damit meinte er „eine geschwächte, dünne, ausgelöschte, sich selbst leugnende und verleugnende Persönlichkeit“, „die zu keinem guten Dinge mehr [taugt]“ (FW 345), und verknüpfte unmittelbar „Unpersönlichkeit und Allgemeingültigkeit“ (GM III 6, AC 11).⁵⁰⁷ Die frühgriechischen Philosophen und Schopenhauer, den der junge Nietzsche ihnen zuweilen gleichstellte,⁵⁰⁸ dagegen setzten für ihn, den philosophischen Autodidakten, nicht

 Vgl. NL , [], KSA ./KGW IX/, N VII , , und FW  und dazu Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie,  – .  Vgl. Stegmaier, Geist.  Vgl. das Notat NL , [], KSA .: „Begriff der Persönlichkeit, ja der der moralischen Freiheit nothwendige Illusionen, so daß selbst unsere Wahrheitstriebe auf dem Fundament der Lüge ruhn.“  Wie Hegel gebrauchte Nietzsche den Begriff ‚Persönlichkeit‘ nicht allzu häufig und auch nicht immer signifikant. Der Begriff ‚Unpersönlichkeit‘ erscheint von M  an (vgl. FW , FW ; GM III  u.ö.). Er ist laut dem Grimmschen Wörterbuch schon bei Schelling und Arndt nachgewiesen (DWG XI, III. Abt., . ). Dierse/Lassahn/Graumann, Art. Persönlichkeit, , stellen Nietzsches Gebrauch des Begriffs Persönlichkeit ganz einseitig und verzerrt, nur mit seinem Hohn auf Eduard von Hartmann und seiner „vollen Hingabe der Persönlichkeit an den Weltprozess“ (UB II , KSA .) dar.  Vgl. PHG , KSA . f. u. .

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XI Sich auszeichnende Orientierung

nur die Maßstäbe dessen, was Persönlichkeit, sondern auch, was Philosophie sein konnte. Persönlichkeiten waren für ihn vor allem, und das blieb so, Persönlichkeiten der Philosophie; von Philosophen erwartete er die umfassendste und reflektierteste Orientierung. Nietzsche blieb darin Hegel nahe. Der Hintergrund von Hegels Begriff des Begriffs aber hatte sich verändert. Er wurde nun seinerseits ein persönlicher. Wenn der junge Nietzsche in Schopenhauer als Erzieher schrieb, Philosophie sollte „ausserhalb der Universitäten ein höheres Tribunal“ verkörpern: „ohne staatliche Macht, ohne Besoldung und Ehren […], frei vom Zeitgeiste sowohl als von der Furcht vor diesem Geiste – kurz gesagt, so wie Schopenhauer lebte, als der Richter der ihn umgebenden sogenannten Kultur“ (UB III 8, KSA 1.425), so heißt das ebenso drastisch wie realistisch, dass die Philosophie Persönlichkeit sei. Doch sie ist für Nietzsche nicht mehr, sie verkörpert sich nun in Persönlichkeiten. Denn von ihrer leiblichen Natur, so gründlich sie sie auch begreifen mögen, können Philosophen sich nicht völlig lösen, sondern müssen weiter damit rechnen, dass sie ihr Denken mitbestimmt. Es wurde zu einer von Nietzsches Hauptthesen, dass es die „Grundtriebe des Menschen“ seien, die Philosophie treiben und „alle schon einmal Philosophie getrieben haben“ (Kap. VII, 2.1); so sei „jede grosse Philosophie […] das Selbstbekenntnis ihres Urhebers und eine Art ungewollter und unvermerkter mémoires“ (JGB 6). Einen Philosophen, jedenfalls einen eigentlichen oder großen Philosophen, nannte Nietzsche und nannte man zu Nietzsches Zeiten nur, wer das Begreifen im Ganzen auf neue Weise, also auf seine Weise begreift; die anderen blieben „Gelehrte“ oder, in Nietzsches Unterscheidung „philosophische Arbeiter“.⁵⁰⁹ Damit aber ist jede große, die Philosophie weiterführende Philosophie oder, in Nietzsches Diktion, jede Philosophie „ersten Ranges“ unmittelbar eine persönliche. Zugleich soll Philosophie nicht mehr, wie noch für Hegel, die Wahrheit des Begriffs zusammenführen, sondern nun produktiv weiterführen. Die Philosophie hat sich inzwischen nicht nur auf die Leiblichkeit, sondern auch auf die Zeitlichkeit so eingelassen, dass sie über beide im Denken nicht mehr verfügt, sondern das Denken so in sie einfügt, dass es selbst zur verändernden Kraft wird, die mit Gegenkräften und nachhaltigen Widerständen rechnen muss. Kurz, sie beansprucht nicht mehr, Leiblichkeit und Zeitlichkeit zu begreifen, sondern bescheidet sich damit, sich an ihnen zu orientieren. Schloss Nietzsche sich mit seinen „Grundtrieben“ zunächst an Schopenhauer an und suchte dessen Philosophie zu propagieren, so bewies er nach seiner „Loslösung“ von ihm auch Härte gegen ihn und darüber hinaus gegen alle

 Vgl. JGB  und JGB .

3 Persönlichkeit als Rang von Philosophen (Nietzsche)

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übernommenen Begriffe, traf seine eigenen Begriffsentscheidungen, auch über den Begriff der Persönlichkeit und mit ihm den Begriff des Begriffs. Das geschah vor allem in seinen späteren, reifen Aphorismenbüchern, in Jenseits von Gut und Böse, besonders in dessen IX. und letztem Hauptstück mit der Titelfrage „was ist vornehm?“, den kurz darauf folgenden neuen Vorreden und wiederum im V. Buch der Fröhlichen Wissenschaft. Nietzsche begriff dort die Persönlichkeit und mit ihr den Begriff des Begriffs, seinen Begriff des Begriffs, ausgehend vom (a) Begriff des Pathos der Distanz, in (b) den Begriffen der Vornehmheit und (c) der Rangordnung. Anders als die berühmt gewordenen Begriffe des Übermenschen und der ewigen Wiederkehr des Gleichen, die er seinen Zarathustra lehren ließ, trug er diese Begriffe als seine eigenen vor. Auf die ersten beiden sind wir oben anlässlich der Probleme der Verständigung (Kap. VI, 3.1) und der Ethik der Distanz (VIII, 8) schon eingegangen. Wir explizieren sie nun, im Anschluss an Hegel, in einem hegelschen Dreischritt: (a) Mit der Formel Pathos der Distanz begriff Nietzsche im Blick auf Persönlichkeiten, dass sie Individuen auch im Denken sind. In dieser Hinsicht stellte er das griechische páthos, also ‚Empfindung, Erfahrung, Leiden, Leidenschaft‘, gegen das griechische eîdos, ‚bleibender Anblick‘, ‚Form‘, ‚Art‘, ‚Begriff‘.Verbunden mit der lateinischen distantia, ‚Auseinanderstehen, Abstand‘, die gegen die begrifflich bestimmte differentia steht, ist Pathos der Distanz dann die persönlich erlebte Distanz zur abstrakten Allgemeinheit des Begriffs überhaupt. Eine Persönlichkeit im Sinn Nietzsches trifft ihre Begriffsentscheidungen nicht, weil auch andere sie so treffen, um der Allgemeinheit der Begriffe willen, sondern aus eigener Verantwortung und braucht dafür keine abstrakt allgemeinen Begriffe, keine vorgegebenen Kriterien. Sie hat einen eigenen sicheren Sinn für das Richtige, hat es nicht nur nicht nötig, sich durch andere nach abstrakt allgemeinen Begriffen zu rechtfertigen, sondern auch nicht, andere zu Gegenständen, zu Fällen abstrakt allgemeiner Begriffe zu machen. Werden solche Begriffe von andern an sie herangetragen, wehrt sie sie jedoch nicht ab, sondern nimmt sie hin und schweigt dazu; so wird sie inmitten der Gesellschaft einsam. Sie erlebt sich getrennt von ihr, sei es, in guten Zeiten, beglückt, sei es, in schlechten Zeiten, leidend. Das Pathos der Distanz ist, unter den nun veränderten Bedingungen der Philosophie, äquivalent zu Hegels Unmittelbarkeit der Persönlichkeit. (b) Mit dem Begriff der Vornehmheit reflektierte Nietzsche, wenn wir Hegels Strukturierung des Begriffs weiter folgen, das Pathos der Distanz als Unterscheidung, als, wenn man so will, begriffliche Differenz zur begrifflichen Differenz. Er machte, als seinerseits abstrakt allgemeine Bestimmung, die Paradoxie im Begriff des Pathos der Distanz und damit der Persönlichkeit sichtbar. ‚Vornehmheit‘ – Nietzsche benutzte das Abstraktum häufig – ließ zu seiner Zeit und lässt heute zunächst an Menschen in sichtbar herausgehobenen, aristokratischen

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XI Sich auszeichnende Orientierung

Lebensverhältnissen denken, und so führte Nietzsche den Begriff des Pathos der Distanz auch ein. Doch Nietzsche nannte damit nur mögliche, aber nicht zwingende genealogische Vorbedingungen für „jenes andre geheimnissvollere Pathos […], jenes Verlangen nach immer neuer Distanz-Erweiterung innerhalb der Seele selbst“ (JGB 257), und er hat zuvor ausdrücklich vor einem vordergründigen, oberflächlichen Verständnis dieses Geheimnisvolleren gewarnt, mit Hilfe der Unterscheidung des ‚Exoterischen‘ vom ‚Esoterischen‘: „Unsre höchsten Einsichten müssen – und sollen! – wie Thorheiten, unter Umständen wie Verbrechen klingen, wenn sie unerlaubter Weise Denen zu Ohren kommen, welche nicht dafür geartet und vorbestimmt sind.“ (JGB 30) Mitten in der demokratischen Bewegung von herrschenden aristokratischen ‚Kasten‘ zu sprechen (vgl. JGB 257) war zumindest eine Torheit, vielleicht auch ein Verbrechen (Kap. X, 1.2, 2.2). Nietzsche legte im Folgenden jedoch keinen Entwurf einer aristokratischen Gesellschaftsordnung im Sinn Platons vor, sondern machte nur auf einige „Zeichen der Vornehmheit“ (JGB 272) aufmerksam, die jeder auf seine Weise verstehen wird, die ihn aber erkennen oder „errathen“ (JGB 269) lassen können, ob und wie weit er im Pathos der Distanz lebt, und ihm, wenn die demokratische Bewegung ihn das vergessen lässt, Mut dazu machen. Wenn Nietzsche exoterisch schrieb, es sei das „Wesentliche an einer guten und gesunden Aristokratie […], dass sie sich nicht als Funktion (sei es des Königthums, sei es des Gemeinwesens), sondern als dessen Sinn und höchste Rechtfertigung fühlt“ und darum „mit gutem Gewissen“ andere im genannten Sinn „Sklaven“ sein lässt (JGB 258), und weiter schrieb: „Der vornehme Mensch trennt die Wesen von sich ab, an denen das Gegentheil solcher gehobener stolzer Zustände zum Ausdruck kommt: er verachtet sie“ (JGB 260), so verwies er esoterisch darauf, dass vornehme Menschen bei anderen keine „gute Meinung über sich zu erwecken suchen, welche sie selbst von sich nicht haben“ (JGB 261), und dass bei ihnen „grosse Verachtung“ (JGB 269) Bedingung „grosser Liebe“ sein kann.⁵¹⁰ Vornehme Menschen entziehen sich insoweit der Schauspieler-Gesellschaft (Kap. X, 2.3). Den Aphorismus JGB 260, in dem Nietzsche die abstrakt allgemeine, exoterische Differenz von „Herren-Moral und Sklaven-Moral“ einführte, schloss er mit einem Hinweis auf die „Liebe als Passion“, die die Troubadoure im hohen Mittelalter erfanden, einer alles gebenden Liebe, die keine Gegenleistung erwartet. Dies nennen wir, um es hier nochmals aufzunehmen, auch heute noch „vornehm“: Menschen, die andere nach ihren Werten gelten lassen können, ohne sie nach den eigenen Werten zu bewerten, auf Gegenseitigkeit keinen Wert legen, geben können, ohne etwas dafür zu erwarten, sind ethische Persönlichkeiten (Kap. VI, 3.1; VIII, 8). Eine vornehme Persönlichkeit will

 FW , GM II  u. ö.Vgl. dazu Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie,  – .

3 Persönlichkeit als Rang von Philosophen (Nietzsche)

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nicht vornehm sein, sie reflektiert ihre Vornehmheit nicht abstrakt allgemein, ist sich ihrer vielleicht nicht einmal bewusst, sie zeichnet sich für andere als vornehm, herausragend aus. (c) Das heißt: Ihre Vornehmheit ist konkret da als ihr Rang. Auch Nietzsche sprach von ihr als einem „Sein“, und weil es in der Gesellschaft zu einer „höheren Aufgabe“ befähigt, von einem „höheren Sein“ (JGB 258).⁵¹¹ Ein Sein in diesem Sinn ist kein abstrakter Begriff und auch kein Gegenstand eines Wollens oder Sollens, keine Leistung, kein Verdienst. Es ist kontingent.Wird es reflektiert, geschieht das ebenfalls kontingent, vom jeweiligen Sein oder Rang des Reflektierenden aus. So erklärt sich, dass es keine allgemeine und feststehende Rangordnung unter Menschen gibt, sondern dass jeder unvermeidlich von seinem Rang aus seine Rangordnung entwirft, um seinen Platz in seiner Rangordnung zu finden. Es ist dann für jeden bezeichnend, wie er sie bestimmt, ob er „gemein“ (JGB 268) in Nietzsches Sinn andern seine Rangordnung als allgemeine aufdrängen will, oder „vornehm“ darauf verzichten kann, ob er statt eines abstrakten Begriffs von ihr einen „Instinkt für den Rang“ hat (JGB 263). „Es sind“, wie Nietzsche später erläuterte, nicht die Werke, es ist der Glaube, der hier entscheidet, der hier die Rangordnung feststellt, um eine alte religiöse Formel in einem neuen und tieferen Verstande wieder aufzunehmen: irgend eine Grundgewissheit, welche eine vornehme Seele über sich selbst hat, Etwas, das sich nicht suchen, nicht finden und vielleicht auch nicht verlieren lässt. – Die vornehme Seele hat Ehrfurcht vor sich. (JGB 287)

Sie muss sich über ihren Rang nicht äußern, nur die müssen das, die eine Bestätigung durch andere brauchen, und sie werden dann nicht anders können, als niederträchtig, wie Nietzsche gerne sagte, im Vornehmen wieder das Gemeine zu suchen: „Wer das Hohe eines Menschen nicht sehen will, blickt um so schärfer nach dem, was niedrig und Vordergrund an ihm ist – und verräth sich selbst damit.“ (JGB 275) Nietzsche selbst ist es in der Forschung über ihn oft genug so ergangen. Er hat damit gerechnet.⁵¹² Der Rang einer Persönlichkeit zeigt sich in der Philosophie, so Nietzsche, im Grad ihrer „Geistigkeit“ (JGB 213).⁵¹³ Die Geistigkeit lässt sich ihrerseits nicht

 Vgl. zuvor GT , KSA . (die „dionysische Welt“ der griechischen Tragödie erinnert „mit mahnender Hand an ein anderes Sein und eine höhere Lust“) und danach AC  („ein ganz in Symbolen und Unfasslichkeiten schwimmendes Sein“).  Vgl. JGB .  Zum weiteren Spektrum von Nietzsches Gebrauch des Begriffs der Rangordnung, das vom Sozialen und Politischen über das Geistige und Moralische bis ins Physiologische reicht, vgl. Stegmaier, Nietzsche zur Einführung,  – .

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XI Sich auszeichnende Orientierung

abstrakt allgemein bestimmen, sondern besteht, wie schon für Hegel, im Mut und in der Kraft, abstrakt allgemeine Bestimmungen ihrerseits in Frage stellen zu können, in, so Hegel, der „Anstrengung des Begriffs“ zur „Bewegung des Begriffs“ in einer „Phänomenologie des Geistes“, in der er, der Geist, schrittweise zum Vorschein kommt, oder, so Nietzsche, in der „Feinheit“ und „Tiefe“ im Umgang mit Begriffen, ihrer Differenzierung bis hin zu Nuancen des „Geschmacks“ (JGB 43) und der Reflexion solcher Differenzierungen auf ihre Genealogie hin. Mut ist besonders bei der Infragestellung der Begriffe nötig, auf die man sich selbst am meisten stützt,von denen man überzeugt ist, an die man glaubt. Kraft ist nötig, um die Infragestellung auch dann noch durchzuhalten, wo sie die eigene Existenz bedroht, sie experimentell aufs Spiel setzt: Etwas dürfte wahr sein: ob es gleich im höchsten Grade schädlich und gefährlich wäre; ja es könnte selbst zur Grundbeschaffenheit des Daseins gehören, dass man an seiner völligen Erkenntniss zu Grunde gienge, – so dass sich die Stärke eines Geistes darnach bemässe, wie viel er von der „Wahrheit“ gerade noch aushielte, deutlicher, bis zu welchem Grade er sie verdünnt, verhüllt, versüsst, verdumpft, verfälscht nöthig hätte. (JGB 39)

So erregt Geist Furcht, und die „Furcht vor dem Geist“ lässt, wie Nietzsche dann im V. Buch der Fröhlichen Wissenschaft schrieb, von irgendeinem Punkt an auch und gerade Philosophen nach einem „Versteck“ vor ihm suchen (FW 359). Sie beschränken sich dann auf kleine Probleme, die man „mit den Fühlhörnern des kalten neugierigen Gedankens an[]tasten und […] fassen“, aus denen man sich selbst heraushalten, bei denen man „selbstlos“ bleiben kann, und vermeiden „grosse Probleme“, die ihr Philosophieren selbst in Frage stellen. Dringt die Kraft aber durch, überwindet sie alle Vorbehalte und Verstecke, die abstrakte Verallgemeinerungen bieten, so wird auch für Nietzsche ein so befreiter Geist zur hegelschen „freien Liebe und schrankenlosen Seligkeit“ fähig, zum Persönlichsten schlechthin, das über alle abstrakten Verallgemeinerungen hinaus ist. Und so hat Nietzsche denn auch die Persönlichkeit in FW 345 eingeführt (Kap. VII, 3.6). Die äußerste Konsequenz des Verzichts auf Vergegenständlichungen nach abstrakt allgemeinen Begriffen ist der Nihilismus, verstanden als Einsicht in die Entwertung aller scheinbar an sich bestehenden Werte und aller Begriffe, die sie zu fixieren suchen, nach dem Tod des „moralischen Gottes“,⁵¹⁴ mit der Folge, dass man für den Halt seiner Orientierung nun selbst verantwortlich ist (Kap. I). Auch nach Hegel war es das „Erste der Philosophie […], das absolute Nichts zu erken-

 NL /, [], KSA ./KGW IX/, N VII , .

4 Rangordnung als Ordnungsprinzip (Nietzsche vs. Luhmann)

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nen“,⁵¹⁵ und der Sinn der absoluten Idee, des Schlussbegriffs der Wissenschaft der Logik, dann, das absolute Nichts aller scheinbar an sich bestehenden Allgemeinheiten zu erkennen. Hegel blieb jedoch die Gewissheit, dass dieser Nihilismus sich im Allgemeinen selbst, durch dessen systematischen Selbstbezug, mit Notwendigkeit aufhebt, dass das Allgemeine, wenn es sich hinreichend reflektiert, bei sich selbst bleiben kann und sich nicht an das Kontingente, die Leiblichkeit, die wechselnden Umstände der Umwelt, die Zeit verliert. Ist diese Gewissheit verloren, braucht es noch stärkeren Mut, den Nihilismus, nun nietzscheschen Nihilismus, der sich entschieden der Ungewissheit aussetzt, standzuhalten, den Mut zu dem, was man nicht mehr wissen kann und doch „eigentlich weiss“ (GD Sprüche 2; Kap. I, 1.3). Dann schließt sich nichts mehr zur Beruhigung und Zufriedenheit, man kann immer weiter in die Ungewissheit gehen und muss doch irgendwo Halt machen, ohne dass ein notwendiger und also bleibender Halt durch bloße Einsicht in Aussicht stünde. Und so liegt die Stärke und der Rang einer Persönlichkeit für Nietzsche darin, wie weit ihr Mut zum „grundsätzlichsten Nihilismus“⁵¹⁶ reicht, wie wenig sie sich von ihm lähmen lässt: Darüber, wo Einer stehen bleibt {oder noch nicht}, wo Einer urtheilt „hier ist die Wahrheit“, entscheidet den Grad u. die Stärke seiner Tapferkeit; mehr jedenfalls als {irgend welche} die Feinheit oder Stumpfheit von Auge u. Geist.⁵¹⁷

Wenn nach Hegel der Begriff des Begriffs zuletzt individuelle Persönlichkeit ist, ist nach Nietzsche der Rang von Persönlichkeiten im Begreifen das Letzte, bei dem wir im Philosophieren ankommen.

4 Rangordnung als Ordnungsprinzip (Nietzsche vs. Luhmann) Nietzsche hat vom Rang von Persönlichkeiten aus die Ordnungen des Lebens im Ganzen als Rangordnungen gedacht. Er handelte, über sein Werk verstreut, nicht nur von der „Rangordnung zwischen Mensch und Mensch“ (JGB 228), der

 Hegel, Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den positiven Rechtswissenschaften, GW ./ ThWA .. Das Zitat lautet im Ganzen: „Das Erste der Philosophie aber ist, das absolute Nichts zu erkennen, wozu es die Fichtesche Philosophie so wenig bringt, so sehr die Jacobische sie darum verabscheut.“ Auch der – früher schon auftauchende – Begriff des Nihilismus war Hegel schon geläufig. Nachdem Friedrich Heinrich Jacobi ihn prominent gegen Fichte ins Spiel gebracht hatte, griff Hegel ihn für seine Philosophie nicht mehr auf. Vgl. Müller-Lauter, Art. Nihilismus,  f.  NL , [], KSA ./KGW IX/, W II ,  (Kap. I, ).  NL , [], KSA ./KGW IX/, W II , .

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XI Sich auszeichnende Orientierung

„Rangordnung der Geister“ (MA II,VM 263), der „Rangordnung der Grösse“ (M 548) und der „Rangordnung der Werthe-Schaffenden“,⁵¹⁸ von einer „Rangordnung der Probleme“ (JGB 213) und einer Rangordnung darin, wie lange sie nicht begriffen werden (JGB 285), und „einer Rangordnung der Philosophen“ selbst „nach dem Range ihres Lachens“ (JGB 294), sondern auch von einer „Ordnung des Ranges in der Welt […], unter den Dingen selbst – und nicht nur unter Menschen“ (JGB 219), darunter von der „Rangordnung der Organe und Triebe“, also einer „physiologischen Rangordnung“,⁵¹⁹ der „Rangordnung der menschlichen Triebe und Handlungen“ (FW 116), der „Rangordnung der Moralen“,⁵²⁰ der „Rangordnung seelischer Zustände“ (JGB 213), der „Rangordnung der Güter“ (MA I 42) und der „Rangordnung der Werthe“ (GM I 17, Anm.). In mehreren Werkplänen sah er Kapitel zur Rangordnung vor, hat sie dann jedoch nicht ausgearbeitet.⁵²¹ Worum es ihm erklärtermaßen nicht ging, was ihm jedoch immer wieder unterstellt wurde, war, wie erwähnt, eine Erneuerung der Ständeordnung, der alten oder einer neuen aristokratischen Gesellschaft. In seinem Lenzer Heide-Notat konzipierte er „eine Rangordnung der Kräfte, im Gesichtspunkte der Gesundheit […]. Natürlich abseits von allen bestehenden Gesellschaftsordnungen“,⁵²² und noch zuletzt schrieb er: Wir haben die absurden Grenzen der Rasse Nation und Stände überwunden: es giebt nur noch Rangordnung zwischen Mensch und Mensch und zwar eine ungeheure lange Leiter von Rangordnung.⁵²³

Nietzsche stellte das Problem der Rangordnung in erster Linie nicht in weltverbessernd-sozialkritischer, sondern in philosophisch-begriffskritischer Absicht. Er setzte dem Ordnungsprinzip der Gleichheit das Ordnungsprinzip der Ungleichheit entgegen; wo aber Ungleichheit und Wettbewerb ist, entstehen Rangkämpfe und, wo sie reflektiert werden, Rangfragen. Das Denken in Gleichheiten hatte sich in der europäischen Philosophie so tief eingewurzelt, dass es gar nicht mehr in Frage gestellt, sondern als selbstverständlich vorausgesetzt und im Weiteren von ihm ausgegangen wurde. Nietzsche sah es bestärkt durch die christliche Religion, die

 NL , [], KSA . f.  NL , [], KSA .; vgl. JGB .  NL , [], KSA ..  Die Übersicht verdanke ich zum erheblichen Teil Benjamin Alberts, der den Artikel Rangordnung zum Nietzsche-Wörterbuch und eine Dissertation zu Nietzsches Problem der Rangordnung vorbereitet. Nietzsche gebraucht den Begriff Rangordnung etwa  Mal, mit Schwergewicht in JGB, zumeist aber im Nachlass, den Begriff des Rangs etwa  Mal (zum Vergleich: den Begriff Übermensch unter Einschluss des Adjektivs übermenschlich etwa  Mal).  NL /, [], KSA ./KGW IX/, N VII , .  Brief an Georg Brandes (Entwurf), Anfang Dezember , Nr. , KSB ..

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„mit ihrem ,Gleich vor Gott‘“ „die abgründlich verschiedene Rangordnung und Rangkluft zwischen Mensch und Mensch“ nicht sehen wollte (JGB 62), und noch einmal durch die christliche geprägte Moral der Gleichheit: „Das moralische Urtheilen und Verurtheilen“ sei „die Lieblings-Rache der Geistig-Beschränkten an Denen, die es weniger sind, auch eine Art Schadenersatz dafür, dass sie von der Natur schlecht bedacht wurden“ (JGB 219). Ebenso aber sei „die Wissenschaft im Bunde mit der {Gleichheits-Bewegung}“, zum einen, weil gerade sie möglichst überall gleich geltende Gesetze zu formulieren sucht, und zum andern, weil die Personen der Wissenschaftler selbstlos hinter dem Wahrheitsbeweis ihrer Forschungen zurückzutreten haben, so dass insgesamt „alle Tugenden des Gelehrten die Rangordnung ablehnen“.⁵²⁴ Luhmann bestätigte das (SstW, 241). Auch er ging davon aus, dass die Gleichheit, das Unwahrscheinliche in einer unablässig evoluierenden und sich differenzierenden Welt, zu einem unbefragten Wert geworden sei. Nach seinem konstruktivistischen Ansatz gibt es Gleichheit nicht einfach. Sie ist ein Konstrukt, kommt erst durch gezielte Vergleichung und Selektion der Ungleichheiten des Verglichenen zustande. Danach ist alles Gleiche paradox, nämlich zugleich auch ungleich, und man kann sich jeweils entscheiden, ob man Gleichheit oder Ungleichheit beobachten und bewerkstelligen will. Die gewollte Gleichheit wird besonders auffällig und besonders relevant beim Recht: „Wenn man darauf verzichtet, in der Natur oder in einer Wertordnung feste Gesichtspunkte vorauszusetzen, die normativ diktieren, was als gleich und was als ungleich zu behandeln ist, muß der Sinn dieses Schemas in der vergleichenden Orientierung selbst zu finden sein.“ (GI, 169) Die Unterscheidung oder das Orientierungsschema gleich/ ungleich wurde in Luhmanns Sprache ähnlich wie wahr/falsch oder gut/schlecht traditionell de-asymmetrisiert (Einl., 1.5): Gleichheit wurde vorausgesetzt, Ungleichheit musste gerechtfertigt werden. Mit der Französischen Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts und der im 19. Jahrhundert einsetzenden Sozialpolitik wurde die Gleichheit zu einem hohen moralischen Wert; die Asymmetrisierung der Unterscheidung verhärtete sich noch einmal. Entsprechend schwer wurde ihre DeAsymmetrisierung, wie Nietzsche sie versuchte, auf den Luhmann sich aber auch hier nicht einließ. Aber Nietzsche hatte schon notiert, dass in demselben Maß, in dem Gleichheit festgestellt wird, Ungleichheit hervortritt und Kämpfe auslöst: 1. die Individuen machen sich frei / 2. sie treten in Kampf, sie kommen über „Gleichheit der Rechte“ überein ( – Gerechtigkeit – ) als Ziel / 3. ist das erreicht, so treten die thatsächl. Ungleichheiten der Kraft in eine vergrößerte Wirkung (weil im Großen Ganzen der Friede herrscht und die viel kleineren Kraft-Quanta schon Differenzen ausmachen, solche, die

 NL /, [], KSA ./KGW IX/, W I , .

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XI Sich auszeichnende Orientierung

früher fast = 0 waren). jetzt organisiren sich die Einzelnen zu Gruppen; die Gruppen streben nach Vorrechten u. nach Übergewicht. Der Kampf, in milderer Form, tobt von Neuem.⁵²⁵

Luhmann formulierte den Effekt so: Die Form der Gleichheit dient demnach dazu, Ungleichheiten auffällig werden zu lassen, die ihrerseits im Rahmen der entdeckten Unterschiede gleiche Behandlung verdienen, bis auch diese Gleichheit wieder das Beobachten und Bezeichnen von Ungleichheit nahelegt. Wie alles Vergleichen dient auch dieses dem Entdecken von Ungleichheiten und führt damit zu der Anschlußfrage, ob diese Ungleichheiten eine Gleichbehandlung verbieten oder nicht. Und dies erst ist die Frage, die in der Rechtsentwicklung praktische Bedeutung erlangt. / Von hier aus kann dann Gleichheit aus einer Form in eine Norm transformiert werden. (RechtG, 111)

Kurz: Je mehr Gleichheit, desto mehr Ungleichheit; es gibt nichts an sich Gleiches, und die Gleichheit hat auch keinen Wert an sich; die Unterscheidung von Gleichheit und Ungleichheit hat lediglich, so Luhmann, eine „Kontrastfunktion“ (GI, 171). Neben dem Recht stellt insbesondere die Wissenschaft gezielt Gleichheiten her, um sie dann wieder nach (gleichen) Ungleichheiten zu differenzieren. Eben das nötigte und nötigt sie auch, von der Gleichheit des Denkens oder der Vernunft wenigstens der Wissenschaftler(innen) auszugehen, die dann „bewiesen [wurde] durch die Möglichkeit, im Fortschritt der Wissenschaften Konsens zu erzielen“ (GI, 162). Die Gleichheit ist dann aber in beiden Fällen eine, die, wie Luhmann zuletzt schrieb, das Funktionssystem Wissenschaft selbst produziert: Gleichheit heißt: daß keine anderen Inklusionsprinzipien anerkannt werden, als die, die das Funktionssystem selber festlegt. Anders gesagt: Nur Funktionssysteme haben das Recht, aus systeminternen (und insofern für sie rationalen) Gründen Ungleichheiten zu produzieren. Alle Vorgaben müssen unter dem Gesichtspunkt der Gleichheit, also strukturlos, an das System herangetragen werden, also zum Beispiel: Gleichheit aller vor dem Recht mit Ausnahme der im Rechtssystem selbst begründeten Unterschiede. (GG, 1075)

So läuft in den Funktionssystemen Wissenschaft und Recht am Ende alles auf Gleichheit hinaus. Sie arbeiten so lange an der Vergleichbarkeit ihrer ‚Fälle‘, bis sie, unter den jeweiligen Vergleichshinsichten, Gleichheit zwischen ihnen hergestellt haben. Damit schließen sie Rangordnungen und Rangbewusstsein habituell aus. Das galt auch für Luhmann selbst, der sich des Rangs seiner Gesellschaftstheorie durchaus bewusst war und ihn gegen Einwände und Angriffe zu

 NL , [], KSA ./KGW IX/, W II , .

4 Rangordnung als Ordnungsprinzip (Nietzsche vs. Luhmann)

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verteidigen wusste, ohne sich jedoch wie Nietzsche persönlich ins Spiel zu bringen. Er blieb auch hier bei der Theorie. Nach seiner Theorie aber, in der der Übergang von der stratifikatorischen oder ständischen zu einer funktionalen oder leistungsbezogenen Differenzierung der Gesellschaft (SozA, 3.208) ein Hauptgegenstand war, lösten sich seit Jahrhunderten soziale Rangordnungen gerade auf. „Von Stratifikation wollen wir nur sprechen, wenn die Gesellschaft als Rangordnung repräsentiert wird und Ordnung ohne Rangdifferenzen unvorstellbar geworden ist.“ Die „Vorstellung einer ordnungsnotwendigen Rangdifferenz“ (GG, 679 f.) war inzwischen aber zu einem Ordnungsprinzip oder -typ unter anderen, neben Gleichheit z. B. Serie, Differenz von Zentrum und Peripherie, Ausdifferenzierung, geworden (SS, 38). Luhmanns Sorge war darum konträr zu der Nietzsches, dass nämlich unter den ausdifferenzierten Funktionssystemen der Kommunikation der Gesellschaft aufs Neue Rangordnungen behauptet werden, die dann, je nachdem, welches Funktionssystem als maßgeblich herausgestellt werden soll,widersprüchlich ausfallen: „Die Systemdifferenzierung wird also ausgenutzt, um widersprüchliche Rangordnungen der Funktionen nebeneinander zu praktizieren“ (SozA, 3.261). Doch: „Gesamtgesellschaftlich gesehen ist Politik natürlich nicht wichtiger als Wirtschaft, Recht nicht wichtiger als Wissenschaft, Wissenschaft nicht wichtiger als Politik. Zwischen notwendig zu erfüllenden Funktionen läßt sich keine Rangordnung herstellen“ (SozA, 3.315). Die Teilsysteme beeinflussen, ‚interpenetrieren‘ einander zwar intensiv, aber keines von ihnen, so Luhmanns credo und die Quintessenz seiner Theorie, auch nicht das Funktionssystem Politik oder das Funktionssystem Wissenschaft, kann die übrigen und damit die Kommunikation der Gesellschaft im Ganzen steuern. „Als Form gesellschaftlicher Differenzierung betont funktionale Differenzierung mithin die Ungleichheit der Funktionssysteme. Aber in dieser Ungleichheit sind sie gleich. Das heißt: das Gesamtsystem verzichtet auf jede Vorgabe einer Ordnung (zum Beispiel: Rangordnung) der Beziehung zwischen den Funktionssystemen.“ (GG, 746) Nietzsche dagegen hoffte noch, angesichts der haltlosen Zerstreuung der Wissenschaften und der Richtungslosigkeit der Politik, die er wahrnahm, auf eine „Gesetzgebung der Größe“ durch die Philosophie. Sie müsse, so der junge Nietzsche, den Wissenschaften die Wertmaßstäbe für die „wissenswürdigsten Dinge, der großen und wichtigen Erkenntnisse“ vorgeben (PHG 3, KSA 1.816 f.) und dem, was bisher, im Bismarck-Reich, so der späte Nietzsche, ‚grosse Politik‘ hieß, die Richtlinien einer wahrhaft „grossen Politik“, die mit der „Umwerthung aller Werthe“ auch „alle Machtgebilde der alten Gesellschaft […] in die Luft []sprengt“ (EH Schicksal 1). Davon war Luhmann am weitesten entfernt (Kap. XII, 1). Im Zug seiner Kritik der Wertesemantik (Kap. VIII, 6) räumte er auch keine Rangordnung unter Werten ein, die ihrer Umwertung erst Richtung und Sinn gäbe:

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XI Sich auszeichnende Orientierung

Je mehr Werte vorstellbar und aktualisierbar, je mehr Werte für ein System relevant werden, desto weniger wird es möglich, sie in eine dauerhafte und transitive Ordnung zu bringen, die allgemein gültige und durchgehende Vorrangrelationen festlegt; desto notwendiger wird es, sich an laufend wechselnden Präferenzen zu orientieren, und sich das legitimieren zu lassen. Die Vernunft einer Entscheidung beruht dann nicht auf richtiger Einsicht in eine natürliche oder moralische Rangordnung unter Werten, sondern auf einem situationsbezogenen Vergleich von Möglichkeiten der Verbesserung oder Verschlechterung einer Lage in bezug auf unvergleichbare Werte. Und die Identität eines Wertes findet ihren Halt dann nicht durch eine hierarchische Stelle im Wertsystem, sondern gerade durch die Variabilität der Werterfüllungen, die sicherstellen, daß er im Wechsel von Verzichten und Bevorzugungen immer wieder einmal an die Reihe kommt. / Eine Orientierung, die einen solchen Wechsel der Präferenzen zum Prinzip macht, läßt sich als opportunistisch bezeichnen. (PolPl, 166)

5 Reputation als Rang von Wissenschaftler(inne)n (Luhmann) Dennoch konnte Luhmann nicht umhin, gerade in den Wissenschaften, die ganz auf Vergleichung und Gleichheit hinarbeiten, Rangordnungen einzuräumen. Sie laufen nicht mehr und Luhmann führte sie auch nicht unter diesem Namen, der jetzt aus naheliegenden Gründen moralisch-politischer Korrektheit vermieden wird, sondern unter dem der Reputation von Wissenschaftler(innen). Der Name hebt auf die ‚Zurechnung‘, ‚Zuschreibung‘ von Rang durch andere ab, was Luhmanns Ansatz bei der Kommunikation entspricht, während Nietzsche noch vom Rang wie von einem – wenn auch selten gewürdigten und von den meisten nur verzerrt wahrgenommenen – Faktum ausging. Reputation entsteht, so die Vorgabe, durch Leistung, in der Wissenschaft in der Regel durch Forschungsleistungen und mehr und mehr auch durch wissenschaftsorganisatorische Leistungen; zur Reputation wird sie aber erst, wenn die Leistungen auch entsprechend kommuniziert werden. Auch hier wird verglichen, und auch hier lässt die Voraussetzung der Gleichheit aller vor der Wahrheit die Ungleichheiten hervortreten, unter denen Wissenschaftler(innen) Wahrheiten zutage fördern und durch die sie miteinander in Wettbewerb treten; der Wettbewerb ist hier institutionell gewollt und wird durch Berufungen auf Lehrstühle, finanzielle Ausstattungen, Mitgliedschaften in Akademien und in Forschungsverbänden von ausgewiesener ‚Exzellenz‘ und Auszeichnungen jeder Art um der Produktivität und Effektivität der Wissenschaft willen gezielt befeuert. Die Wissenschaft steuert sich auf diese Weise selbst. Denn sie hat, so Luhmann, ein Orientierungsproblem, das sie nur mit Hilfe des „Reputationscodes“ lösen zu können scheint. Er sei im Funktionssystem Wissenschaft als „Nebencode“ zu ihrem konstitutiven Code von wahr und falsch entstanden (WissG, 247) und habe darin eine unentbehrliche „Orientierungs-

5 Reputation als Rang von Wissenschaftler(inne)n (Luhmann)

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funktion“ (WissG, 250): Je weiter sich die wissenschaftliche Forschung ausbreitet und differenziert, desto schwerer wird die Übersicht über sie und desto mehr bedarf sie einer „verkürzten Orientierung“ (WissG, 245), einer „Orientierungshilfe“ (WissG, 247), einer „Vereinfachung der Orientierung“ (WissG, 249) einerseits über das schon Geleistete, andererseits über das künftig zu Leistende. Orientierungen über das bereits Geleistete kann man in Hand- und Lehrbüchern zusammenstellen. Aber auch und gerade hier steht man vor einem Selektionsproblem: Was soll als tragend für die jeweilige Wissenschaft, was als besonders wichtig und herausragend dargestellt werden? Da hilft die „personale Orientierung“ (SstW, 244), die Orientierung an den ‚großen Namen‘ bestimmter Wissenschaftler(innen), ihrer Reputation. Die größere oder geringere Reputation wird als „zweite selektive Codierung“ (WissG, 352) benutzt. Während der Hauptcode von wahr und falsch digital ist, nur Ja- oder Nein-Entscheidungen erlaubt, fungiert der Nebencode der Reputation analog, lässt Grade, Abstufungen, also Rangunterschiede zu (WissG, 247). Die beiden Codes sind nicht formal zu koppeln; wieweit eine Reputation wahr oder falsch, klar zutreffend oder aus vielfältigen Gründen nur zugeschrieben ist, lässt sich mit wissenschaftlichen Mitteln kaum ausmachen. Die „Orientierung an Reputationssystemen“ (SstW, 244) ist naturgemäß „labiler“, „unsachgemäß beeinflußbarer“, „wahrheitsferner“ als der „sachlich arbeitende“ Wahrheitscode, und doch steuert sich die Wissenschaft durch diesen Reputationscode (SstW, 240). Dazu muss er bis zu einem gewissen Grad vom Wahrheitscode abgehoben, gegen ihn autonom sein. Das geschieht so, dass er ihn überlagert. Er kann dabei, so Luhmann unter Verweis auf zahlreiche wissenschaftssoziologische Forschungsarbeiten, „die Orientierung an wahr/unwahr mehr oder weniger verdecken“ (WissG, 251). Er ermöglicht ein „Übersehen und Vergessen“ des Wahrheitscodes (WissG, 352), bringt in „Distanz“ zu ihm (WissG, 353). Er fungiert auf charakteristische Weise als Orientierung: Wie immer bei Überforderung durch Komplexität tritt auch hier die kursorische Orientierung an Symptomen [in der Sprache der Orientierung an Anhaltspunkten, WS] an die Stelle der Sache selbst, die gemeint ist. […] Dank der Abkürzungen und Erleichterungen, die es ermöglicht, eignet dieses Medium symptomatischer Reputation sich vortrefflich für Vermittlungsdienste. Es verbindet den akademischen Meinungsmarkt mit dem System für offizielle Verteilungsentscheidungen. (SstW, 237)

Reputation wird Forscher(inne)n in der Regel für „die Leistung der Erstkommunikation neuen Wissens“ zugeschrieben, seien es „Neuheiten“, die „als Bedingungen für weitere Neuheiten geschätzt und daraufhin mit Reputation belohnt werden“, seien es Spezialisierungen: „Im Grenzfall mag man dann Reputation gewinnen als Fachmann für eine Frage, für die es nur einen Fachmann gibt“ (WissG, 250). Sie „kann persönliches Ansehen einzelner Forscher oder For-

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XI Sich auszeichnende Orientierung

schergruppen sein. Sie umfaßt aber auch den Ruf von Zeitschriften, Verlagen, Schriftenreihen, Nachschlagewerken, Instituten, Universitäten, wissenschaftlichen Gesellschaften, Vortragsveranstaltungen, Tagungsplätzen.“ Da Reputation „sich von der Ebene sachlicher wissenschaftlicher Kommunikation abheben und verselbständigen“ lässt, kann man sich über die Reputation von Wissenschaftler(innen), Forschungsgruppen,wissenschaftlichen Zeitschriften usw.vergleichsweise leicht verständigen, auch wenn man sonst getrennte Wege geht (SstW, 237). Denn man kann einverständig damit rechnen, dass unter Wissenschaftler(innen) Stabilisierung eines guten Rufes […] wesentliches Zweitziel [ist], ja nicht selten auch eingestandenes vorrangiges Ziel wissenschaftlicher Tätigkeit, das man bei der Wahl (oder der Vermeidung) von Themen, Publikationsweisen, Kontakten und Orten des Auftretens nicht ungestraft außer acht läßt. (SstW, 237)

Vieles ist hier im jeweiligen Reputationssystem schon vorgegeben, und so geht es mehr um laufende Justierungen und um Neueinstufungen von Nachwuchskräften. Entsprechend hat man sein „Reputationswissen“ auf dem Laufenden zu halten, um, zumal wenn man in der Wissenschaft noch ‚etwas werden‘ will oder muss, erfolgreich entscheiden zu können, welche Arbeit von wem man wo zitiert und wie man sie bewertet. Mit dem „Medium der Reputation“ wird so „das Erscheinen von Wahrheit reguliert“ und dadurch der Fortgang der Forschung maßgeblich beeinflusst (SstW, 238). Hohe Reputation ermöglicht richtungsweisende Orientierungsentscheidungen der jeweiligen Wissenschaft im Ganzen; hochrenommierte Wissenschaftler(innen) finden dabei mehr Glauben, auch wenn sie sich täuschen, und das nicht nur beim außerwissenschaftlichen Publikum, das naturgemäß leichtgläubiger ist (eingeschlossen die Geldgeber), sondern zumindest vorläufig auch innerhalb der scientific community. Die Kommunikation persönlicher Reputation vollzieht sich informal, selbstbezüglich und, soweit sie formal wird, paradoxerweise unpersönlich: informal nach persönlichen Einschätzungen von Kolleg(inn)en, selbstbezüglich, weil Einschätzungen von Kolleg(inn)en mit höherer Reputation auch höhere Reputation einbringen. Formal dagegen wird der Code persönlicher Reputation vermieden und erscheint meist nur in Festreden, denen nicht widersprochen werden kann und die darum unverbindlich bleiben. So ist er mit dem Gerücht in der alltäglichen Kommunikation vergleichbar, das die ursprüngliche Information nach Luhmann so verzerren kann, „daß sie immer noch und immer wieder interessant ist“ (RdM, 43) und aus dessen Fundus sich auch und gerade „Gedächtnisse“ von Organisationen gerne speisen (OuE, 194). Weil der Reputationscode nicht eigentlich wahrheitsfähig ist, aber Personen stark betreffen kann, zwingt er wie der Moralcode (Kap. VIII, 4) „zu kommunikativer Vorsicht, zu

5 Reputation als Rang von Wissenschaftler(inne)n (Luhmann)

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weitgehendem Gebrauch indirekter, maskierter, anspielender, unbeantwortbarer Kommunikation, vor allem zum Verzicht auf direktes Ansprechen von Personen“. So kann man sich auch der eigenen Reputation nicht sicher sein (SstW, 239). Um sich an ihr orientieren zu können, muss man daher in Nietzsches Sprache wieder einen „Instinkt für den Rang“ entwickeln, und ein guter Instinkt für den Gebrauchswert des Reputationscodes kann dann wieder Reputation einbringen und wird darin wiederum selbstbezüglich. Wird Reputation aber ihrerseits nach allgemeinen und vordefinierten ‚Kriterien‘ wie der Zahl an Publikationen, dem impact factor, der Höhe von Drittmitteleinwerbungen usw. gemessen, werden also formale rankings vorgenommen, tritt deren abstrakte Allgemeinheit für Insider, die sich auskennen, krass hervor. Die Subsumtionen fallen dann oft so oberflächlich und verzerrend aus, dass ihre Kriterien, wenn von ihnen Verteilungschancen abhängen, zum dauernden Streitobjekt werden. Dabei können formale rankings auch selbst zu Waffen in dann offenen Rangkämpfen benutzt werden, und so müssen sie, wenn Entscheidungen aus ihnen abgeleitet werden, wiederum informal interpretiert werden. Solche Interpretationen traut man dann aber am ehesten wiederum Persönlichkeiten mit ausgezeichneter Reputation oder ‚Köpfen von Rang‘ zu, die um entsprechende formale, aber zugleich persönliche Gutachten gebeten werden. Die Persönlichkeit und ihr Rang, die formal in der Wissenschaft keine Rolle spielen soll, kehrt, um ihr gewünschtes Funktionieren aufrechtzuerhalten, in allen Versuchen abstrakter Formalisierung informal zurück. Den so traditionsbeladenen Begriff der Persönlichkeit hat Luhmann wohl gelegentlich verwendet, als signifikanten Terminus seiner Theorie aber ebenfalls eher vermieden. In seiner frühen Schrift Funktionen und Folgen formaler Organisation hat er ihn noch eingeführt als „System der Erwartungen an sich selbst“ (FFfO, 54), zugleich jedoch mit dem Gegenbegriff der „Unpersönlichkeit“ konfrontiert, nun nicht mehr im Sinn Nietzsches als Mangel an Persönlichkeit, sondern im Sinn von „unpersönlichen Orientierungen“ in institutionalisierten Rollen (FFfO, 65). Bei der Einnahme von Rollen im alltäglichen und im öffentlichen Leben, besonders aber in Organisationen wird nicht die Persönlichkeit, sondern diese rollengemäße Unpersönlichkeit kultiviert. Wer eine definierte Rolle einnimmt, muss mit der Erwartung rechnen, dass er oder sie die eigene Person und Persönlichkeit aus der Rolle herauszuhalten hat. Das erfordert, so Luhmann, „eine doppelgleisige Orientierung“, eine reflektierte Orientierung über das eigene Rollenverhalten (FFfO, 67). Und an diesem Punkt kam auch Luhmann auf den Begriff (nicht der Rangordnung, aber) des Rangs zurück. Neben Berufsrollen, Mitgliedschaften in Gruppen („eine Form sachlicher Rollengeneralisierung von ungewöhnlicher Elastizität und Variierbarkeit“, GI, 87) und Organisationen („Rollenvorschriften […], die in ihrer Detailliertheit, Differenziertheit und zugleich in dem Maße an

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zugestandener Entscheidungsfreiheit weit über alles hinausgehen, was durch Zwang gesichert werden könnte“, GI, 91), hielt auch er „überlegenen Rang“ für ein „unentbehrliches Mittel generalisierter Orientierung und Integration“ und nicht nur in der Wissenschaft. Er sah darin ebenfalls ein „relativ konstantes Strukturprinzip“ (GI, 87) der Kommunikation der Gesellschaft, das nicht mehr weit von einem Ordnungsprinzip entfernt ist. Zumindest ist der Rang ein Orientierungsprinzip: Gerade eine funktional differenzierte Sozialordnung muss Individuen überall dort, wo sich in der Sache Entscheidungsspielräume auftun, entsprechende persönliche Entscheidungsspielräume lassen, und je überlegener die Orientierung von Personen im Blick auf solche Entscheidungen ist, desto überlegener wird ihr informaler Rang und mit Glück auch ihre formale Stellung in Organisationen sein. Operieren Individuen in beträchtlichen Entscheidungsspielräumen, wird nicht nur das Erwartbare erwartet, sondern auch und besonders aufmerksam alles nicht Erwartete, nicht Selbstverständliche, Abweichende, Überraschende in der Wahrnehmung ihrer Rollen registriert. Entscheider(innen) werden nicht nur daraufhin beobachtet, ob ihr aktuelles Verhalten tolerierbar ist, sondern auch daraufhin, ob es auch in künftigen Orientierungssituationen hilfreich sein könnte. Je mehr in modernen Gesellschaften entscheidbar wird, desto mehr rechnet man, so Luhmann, das „Mysterium“ der Entscheidung unter Ungewissheit (PolG, 377) dem Mysterium Persönlichkeit zu, hält man sich zuletzt an sie, orientiert man sich an ihr (um es zu wiederholen: im Guten wie im Schlechten). Dies wird, so Luhmann, besonders bei der demokratischen Besetzung politischer Ämter relevant: „die politische Attraktivität einer Persönlichkeit liegt speziell in ihrer Entscheidungs- und Durchsetzungsfähigkeit“ (PolG, 378). „Für Standardprobleme“ freilich „genügen Standardlösungen, genügt eine „Persönlichkeit von der Stange“ (GI, 53).

6 Auszeichnung als Orientierungsfunktion von Rangordnungen Der frühe Luhmann hat fast nebenbei, als er die Funktionen und Folgen formaler Organisation analysierte, Grundzüge der Orientierung beschrieben: Zur Orientierung einer Handlung gehören eine Fülle der verschiedensten Erwartungen, allgemeine kulturelle Typen ebenso wie kurzfristige, situationsgebundene Vermutungen, Kontinuitätserwartungen ebenso wie Erwartungen von Änderungen, Erwartungen, die auf Kenntnis allgemeiner Regeln und solche, die auf Kenntnis individueller Personen beruhen, Erwartungen über den Fortbestand einer sachlichen Umwelt von Gebäuden und ihren Einrichtungen über die Verläßlichkeit menschlicher Einstellungen, Vertrauen in die Haltbarkeit

6 Auszeichnung als Orientierungsfunktion von Rangordnungen

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von Knöpfen und in die Langsamkeit der Entwertung des Geldes. Diese Fülle orientierungsnotwendiger Erwartungen läßt sich nicht in einem System formalisieren. (FFfO, 27 f.)

Zwar bilden sich in der Orientierung „relativ feste wechselseitige Verhaltenserwartungen“ aus, die „mit einer gewissen Verläßlichkeit erfüllt“ (FFfO, 34), nach „Relevanz- bzw. Irrelevanzregeln“ (FFfO, 59) generalisiert werden. Sie sind dann „von einzelnen Abweichungen, Störungen, Widersprüchen nicht betroffen“, überdauern Schwankungen (FFfO, 55 f.) und dienen so „als sicheres Gehäuse für ängstliche Naturen“. Sie schaffen aber auch „Schutz des sachlich Handelnden vor launenhaften, kapriziösen Einfällen der Mächtigen im System oder als Basis für relativ freie, neuartige, experimentelle oder besonders komplexe Unternehmungen, deren Ausgang nicht voraussehbar ist“ (FFfO, 60 f.). Doch dazu muss das „Orientierungsgerüst“ „hochgradig abstrakt und elastisch gehalten werden“ (FFfO, 64). Eine „vorausbestimmbare Ordnung“ (FFfO, 54) ergibt sich daraus nicht. Sie darf sich nicht ergeben, wenn die Orientierung zugleich für Überraschungen offen bleiben soll. An dieser Stelle ließ Luhmann die Analyse der Orientierung ruhen. Nietzsche ging hier weiter. Er bestand, ohne seinerseits den Begriff der Orientierung zu gebrauchen, beharrlich auf der Distanz zwischen den Orientierungen, auf ihren Ungleichheiten gegenüber ihren Gleichheiten und den Rangunterschieden, die sich so eröffnen. In die Ungleichheiten bezog er auch die Rangordnungen ein, die sich Orientierungen entwerfen und die jede von ihrem eigenen Standpunkt aus und mit Blick auf ihn entwirft, um sich dort geeignet zu platzieren. Nietzsche selbst setzte sich, je weiter er sein Philosophieren im Zeichen des freien Geistes vordringen sah, desto entschlossener an die Spitze seiner Rangordnung. Er ist darin jedoch nicht der Regelfall, er behauptete sich auch nicht als solchen, und seine Rangordnung war ja zunächst eine andere – mit Schopenhauer und Wagner an der Spitze. Rangordnungen wirken nicht nur darin orientierend, dass sie auf andere herabblicken, sondern ebenso darin, dass sie zu anderen hinaufblicken lassen, zu solchen, die sich in dem, was man selbst am höchsten schätzt, besonders auszeichnen und der eigenen Orientierung starke Gesichtspunkte und Anhaltspunkte geben, Zeichen für sie setzen. Mehr ist in der Distanz der Orientierungen nicht möglich. Nietzsche und Luhmann waren sich einig darin, dass sich die „Orientierungsform“ (SstW, 244) der Distanz historisch am leichtesten an stratifizierten, hierarchisch differenzierten Gesellschaften studieren ließ. Nietzsche tat das vor allem im IX. Hauptstück von Jenseits von Gut und Böse und in den ersten beiden Abhandlungen Zur Genealogie der Moral, Luhmann in einer ausführlichen Studie zur Interaktion in Oberschichten: Zur Transformation ihrer Semantik im 17. und 18. Jahrhundert. Hierarchische „Rangverhältnisse“ sollten, so Luhmann, „distan-

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zieren“ (IiO, 73), sie „fleischten“, so Nietzsche, den „beständigen Ausblick und Herabblick der herrschenden Kaste auf Unterthänige und Werkzeuge“ geradezu „ein“ (JGB 257). Das galt jedoch nicht nur zwischen Ständen oder Schichten, sondern, was die oberste, herrschende Schicht betraf, auch für deren Angehörige untereinander. Unter der gesicherten Voraussetzung der gleichen Zugehörigkeit zur herrschenden Schicht wuchs das Interesse an luhmannscher Ungleichheit, und so kehrte in der herrschenden Schicht das nietzschesche Pathos der Distanz wieder: Da es sich um die Spitze der Hierarchie handelte, trug man mehr oder weniger offen mehr oder weniger raffinierte Rangkämpfe aus mit ständigem Blick auf die Eroberung der Spitze, die nicht nur glanzvoll ausgestattet, sondern eben dadurch auch gefährdet war (IiO, 76).Verlassen konnte man seinen Stand nur sehr schwer; für dessen Angehörige war er „nahezu ausweglos“, und entsprechend wurden sie „durch Ausweglosigkeit diszipliniert“ (IiO, 77). Sie mussten mit den Rangkämpfen leben. Die Orientierungsform der Rangordnung scheint sich auch nach Auflösung der hierarchischen Ordnung der Gesellschaft erhalten zu haben, nicht an sie gebunden zu sein. Auch und gerade in modernen demokratischen Gesellschaften kann man hoch steigen und tief fallen; man kann nach rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht aus ihnen herausfallen und wird durch sie diszipliniert. Gerade in funktional differenzierten Gesellschaften, die sich tendenziell demokratisch organisieren, ist Wettbewerb und sind damit Rangkämpfe funktionsnotwendig und werden auch, verdeckt und gedämpft durch die große und warme Decke einer Gleichheitsmoral und Konsensethik, allenthalben ausgetragen. Sie gelten jeder Art von auszeichnenden Statussymbolen, darunter auch Stellen und Einkommenshöhen und nicht zuletzt der Kapitalisierung moralischer Achtung am Achtungsmarkt (Kap. VIII, 3). Dabei müssen die nun sehr beweglich gewordenen Rangordnungen, die persönlich entworfenen und die gesellschaftlich etablierten, laufend verglichen werden. So kommt es in den zugleich beobachtenden und mitspielenden Orientierungen zu aufgestuften Rangordnungen von Rangordnungen und Auszeichnungen von Auszeichnungen mit immer offenem Ende; die Orientierung muss sie ebenso offen halten, wie ihre Beweglichkeit die Orientierung offen hält. Orientierungen können sich natürlich auch, soweit sie das nötig haben, dauerhaft auf bestimmte Rangordnungen und Persönlichkeiten, die sich in ihnen auszeichnen, festlegen und sich selbst dadurch festigen, mit dem Risiko freilich, dass sie dabei stehen bleiben und aus der Zeit fallen. So kann noch immer jemand zum Genie erklärt werden (oder sich selbst dazu erklären). Sie oder er darf dann, so Luhmann, lange als verkannt gelten, als jemand, der „die Reputation schon vor ihrem Eintreffen verdient hätte“ (WissG, 251) (wie es wohl Nobelpreisträger empfinden, wenn ihnen der Preis für die ausgezeichnete Leistung über Jahrzehnte vorenthalten wurde). Andererseits kann je-

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mand (was er bzw. sie selbst nicht kann) zum Klassiker bzw. zur Klassikerin erhoben werden, so dass im Bereich der Wissenschaft, wie Luhmann mit sanfter Ironie bemerkte, seine bzw. ihre „Werke auch dann noch wie gegenwärtiges Wissen zu behandeln sind, wenn sie ihre aktuelle Bedeutung für die Forschung längst verloren haben“ (WissG, 251). Doch schon Nietzsche arbeitete in reiferen Jahren daran, seinen jugendlichen Genie- und Klassiker-Kult abzubauen, und inzwischen scheint die Zeit der Genies und Klassiker vollends abgelaufen; auch bei durchschlagenden wissenschaftlichen und technischen Neuerungen sind die Namen ihrer Urheber(innen) über wenige Insider hinaus kaum mehr geläufig. Rangordnungen und die Wettbewerbe um sie sind ihrerseits so differenziert, komplex und unüberschaubar geworden, dass auf sie eigens mit einem ganzen Reputationssystem von Preisen aufmerksam gemacht werden muss – unter denen sich dann ihrerseits wieder Rangordnungen ausbilden. All dies reicht sichtlich über die Wissenschaft hinaus. Auch jenseits des Funktionssystems Wissenschaft, der Beschwörung von Genies und Klassiker(inne)n und dem Aggregat der Preisverleihungen bleibt der Maßstab der Orientierung für die Orientierung, was Hegel als Persönlichkeit des Begriffs des Begriffs, Nietzsche als persönlich freie Geister und Luhmann als Personen beschrieben hat, die Kommunikationssystemen mit hoch differenzierten Strukturen zum Umgang mit wachsender Komplexität gerecht werden: die Fähigkeit, die Unterscheidungen, von denen Orientierungen Gebrauch machen, soweit wie möglich als Unterscheidungen zu unterscheiden, um von Fall zu Fall, von Situation zu Situation über den Gebrauch der Unterscheidungen entscheiden zu können. Je rarer diese Fähigkeit ist, desto mehr kann sich eine Orientierung ‚von Rang‘ vor anderen und für andere Orientierungen auszeichnen. Und sollte die Orientierung am Rang anderer in der alltäglichen Orientierung ebenfalls ein Nebencode sein, so überlagert und verdeckt sie auch hier den Hauptcode, die Unterscheidung, ob eine Orientierungsentscheidung die richtige oder die falsche ist, ob es so gehen wird oder nicht: Sie selektiert vor, wie man sich am besten orientieren könnte. Personen, die sich durch ihre Orientierungsfähigkeit auszeichnen, sei es in ihrer alltäglichen Umgebung, sei es in dem Funktionssystem, in dem sie vorwiegend operieren, können, soweit die persönliche oder öffentliche Kommunikation das vermittelt, zum stärksten Anhalt für andere Orientierungen werden, zu Zeichen, wie eine Orientierung, wenn sie sich am umfassendsten und tiefsten auf ihre eigenen Bedingungen einlässt, in sich selbst auch Halt finden, Persönlichkeit haben kann.

XII Orientierung über Orientierung: Philosophie nach Nietzsche, Luhmann und Derrida Modernes Denken, darin stimmen Nietzsche und Luhmann überein, setzt bei seinem Selbstbezug ein, durch den es sich gegenüber seinen Fremdbezügen autonom setzt. Seither kann man nicht mehr von einem Sein an sich, einem Wahren an sich, einem Guten an sich sprechen und braucht es auch nicht. Stattdessen wird die Rücksicht auf vielfältige Perspektiven möglich, die reichere Bilder reicherer Realitäten geben und sich weiter vervielfältigen lassen, zumal wenn ihre Selbstbezüglichkeit selbst beobachtet wird. So wird die Steigerung jener Komplexität der Denk-, Handlungs- und Lebensmöglichkeiten in Gang gebracht, die moderne Gesellschaften auszeichnet und von denen unter einer Vielfalt von Themen in diesem Buch die Rede war. Nietzsche hat die Steigerung der Komplexität der Beobachtung durch den Perspektivismus seiner Philosophie, Luhmann durch den Konstruktivismus seiner soziologischen Systemtheorie ausdrücklich und entschieden denkbar gemacht (Kap. I u. II). Wir haben sie mit dem Begriff der Orientierung erfasst, die ihrerseits perspektivistisch und konstruktivistisch angelegt ist und nicht nur allem Leben, Handeln und Denken unbestreitbar vorausgeht, sondern sichtlich auf Distanz zu allem ‚an sich‘ jenseits ihrer selbst bleibt. Denn sie erfährt unentwegt, dass sie sich, wo immer sie sich über anderes orientiert, unvermeidlich auch an sich selbst, ihren bisherigen Orientierungserfahrungen orientiert, die im unablässigen Wechsel ihrer Perspektiven nie zu einem ‚an sich‘ gerinnen. Wie für jede Beobachtungsperspektive und jedes Beobachtungssystem ist diese Distanz ebenso zu anderem wie zu sich selbst für alle Orientierung konstitutiv, und sie verschafft der Orientierung zugleich den Spielraum, sich immer wieder anders auf anderes und sich selbst zu beziehen, also mit der Zeit zu gehen (Kap. III). Nach Nietzsche und Luhmann ist die Orientierung nicht auf scheinbar fixe Anhaltspunkte angewiesen wie das ‚Subjekt‘, einen aus allen ‚empirischen‘ Bedingungen gelösten ‚transzendentalen‘ Selbstbezug eines ‚reinen‘ Denkens (Kap. IV), oder die Einheit ‚des Menschen‘ als Kollektivsingular, soweit durch ihn ebenfalls von den unterschiedlichen physischen, psychischen und sozialen Bedingungen der einzelnen Menschen zugunsten einer allen gemeinsamen Vernunft und eines absolut freien Willens abgesehen wird (Kap.V). Aus jenen Bedingungen lassen sich stattdessen die hoch differenzierten Möglichkeiten der Verständigung unter getrennten Orientierungen (Kap.VI) und die nach vielfältigen Parametern veränderlichen Grenzen des Wissens (Kap. VII) besser, nämlich realitätsnäher verstehen, Moral und Ethik (Kap.VIII), Macht und Demokratie (Kap. IX

1 Beschreibungen von Beschreibungen der Wirklichkeit

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u. X) entidealisieren und in ihren beobachtbaren Funktionsweisen erschließen. Die nicht gleichen, sondern unterschiedlich verankerten, ausgeformten und ausgerichteten Orientierungen messen und halten sich überall aneinander, erfahren sich in wechselnden Hinsichten als einander über- und unterlegen und bleiben so, jenseits von hierarchischen Machtverhältnissen, in einem ständigen Rangwettbewerb, der ihre Komplexität weiter steigert (Kap. XI).

1 Beschreibungen von Beschreibungen der Wirklichkeit: Der Wettbewerb von Philosophie und soziologischer Systemtheorie In ihrer Orientierung aneinander müssen Orientierungen andere und sich selbst nicht nur laufend beobachten, sondern, über längere Zeitdistanzen hinweg, sich auch ein Bild von sich selbst machen oder kurz und mit dem Begriff Luhmanns: sich selbst beschreiben. Sie entwerfen Fremd- und Selbstbeschreibungen, die über kurzfristige Orientierungssituationen hinausreichen und dennoch, auf lange Sicht, wiederum mit der Zeit gehen können. Sie haben nicht schon eine Identität, sondern operieren mit fluktuanten Identitäten, in denen Fremd- und Selbstbeschreibungen zusammenwirken. Das geschieht so, dass Orientierungen perspektivische Identifikationen ihrer selbst durch andere und durch sich selbst beobachten und sich von Fall zu Fall oder auf Dauer mit ihnen identifizieren, auch hier mit immer wachem Vorbehalt für Veränderungen.⁵²⁶ Im ständigen Wandel der Fremd- und Selbstbeschreibungen benötigen sie darum Beschreibungen auch dieses Wandels, also Orientierungen über Orientierungen oder Orientierungen zweiter Ordnung. Solche Orientierungen über Orientierungen beginnen im alltäglichen Leben mit situativen Reflexionen und enden in der wissenschaftlichen Reflexion mit Theorien und Philosophien. Sie bleiben ebenfalls im Wettbewerb, werden als einander über- und unterlegen wahrgenommen und entsprechend angenommen oder abgelehnt. Auch sie kommen, wie die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte hinreichend gezeigt hat, nicht zu einer gemeinsamen und endgültigen Wahrheit, auch wenn oder eben weil jede einzelne sie für sich beansprucht. Nietzsche und Luhmann haben, jeder auf seine Weise, aber beide in denkbar weiten Horizonten, die Konkurrenz der Fremd- und Selbstbeschreibungen auch unter der Philosophie und den Wissenschaften oder, im Fall Luhmanns, zwischen der Philosophie und der soziologischen Systemtheorie ausgetragen, Nietzsche von der Seite der Philosophie, Luhmann von der Seite der Wissenschaft.

 Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, Kap. ,  – .

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XII Orientierung über Orientierung

Wir vergleichen abschließend ihre Beschreibungen der Beschreibungen dessen, was darin jeweils als Wirklichkeit gilt, und tun das noch einmal im Horizont der Philosophie der Orientierung, nun bereichert durch die Ergebnisse der thematisch fokussierten Spiegelungen von Nietzsches Philosophie und Luhmanns soziologischer Systemtheorie aneinander. Beschreibungen und zumal Selbstbeschreibungen sind immer auch Selbstdarstellungen für andere (Kap. X, 2.3); sie sind in dem, was sie, gewollt oder ungewollt,von sich mitteilen, gerade für andere informativ. In der Kommunikation der Gesellschaft gilt das auch für Philosophien und Wissenschaften, die sich selbst thematisieren. In der Sprache der Philosophie der Orientierung sind Fremd- und Selbstbeschreibungen Anhaltspunkte der Orientierungen füreinander, zu denen sich beide auf Distanz halten. Aber auch für die, die sich in ihnen selbst beschreiben, sind sie nur Anhaltspunkte; sie mögen, was ihre Selbstbeschreibungen betrifft, besser informiert sein, sind zugleich aber stärker befangen. Es gibt also auch bei Selbstbeschreibungen kein wahres Wissen von einem wahren Wesen, auch nicht bei Selbstbeschreibungen von Philosophien und Wissenschaften, geschweige denn ein wahres Wissen von einem wahren Wesen der Philosophie oder der Wissenschaften überhaupt, sondern auch hier nur doppelt kontingente Verständigungen unter getrennten Orientierungen, mit all den Spielräumen und Wandlungsmöglichkeiten, die solche Verständigungen offen halten (Kap. VI). Nietzsche und Luhmann haben sich diese Spielräume je auf ihre Art wie nur wenige bewusst und zu einem der Ausgangspunkte ihrer Philosophie bzw. wissenschaftlichen Theorie gemacht. Hegel hatte mit seiner in der Vorrede zu seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts geprägten Formel, die Philosophie sei „ihre Zeit, in Gedanken erfaßt“, deren Bestimmung bereits ausdrücklich auf seine eigene Zeit bezogen und durch sie begrenzt. Gleichwohl war er noch von der Möglichkeit einer einheitlichen und allgemein gültigen Bestimmung der Philosophie ausgegangen, bewahrte den alten Anspruch der Philosophie, die Kategorien der Weltbeschreibung allgemein gültig darzulegen und steigerte ihn zu dem Anspruch, sie nun vollständig und systematisch aus dem Begriff des Begriffs selbst heraus entwickelt zu haben. Die Bestimmung der individuellen Persönlichkeit, in die er den Begriff des Begriffs am Schluss seiner Wissenschaft der Logik fasste (Kap. XI, 2), sollte anzeigen, dass ein Individuum, das alles Allgemeine in einem systematischen Durchgang durch seine individuellen Erfahrungen mit ihm begriffen hat, sich selbst als allgemeines ansehen kann. So wird das Allgemeine seinerseits zu einem Individuellen, und ein Individuum, hier Hegel selbst, kann zu Recht für das Allgemeine sprechen. Das ist der philosophische Anspruch des Idealismus bis heute. Die Kommunikation der Gesellschaft mit ihrem „Spielraum und Tummelplatz des Missverständnisses“ (JGB 27) wird dann im wörtlichen Sinn unwesentlich und darauf verpflichtet, jenen

1 Beschreibungen von Beschreibungen der Wirklichkeit

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Anspruch zu erfüllen. Als man, darunter Nietzsche, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den idealistischen Glauben verlor, band man die individuelle Persönlichkeit, was immer sie an Allgemeinem begreifen mochte, an ihre kontingenten physischen, psychischen und sozialen Bedingungen zurück. Nietzsche machte von ihnen nun konsequent die unterschiedlichen Philosophien abhängig, die im Lauf der europäischen Geistesgeschichte entstanden waren. Auch Philosophien und ihre Abfolge in der Geschichte wurden kontingent, jedoch nicht beliebig. Die scheinbare Beliebigkeit blieb durch eben jene Bedingungen in einer historisch oder, mit Nietzsches Begriff, ‚genealogisch‘ beschreibbaren Weise begrenzt: Die „Grundtriebe des Menschen“, also schwer fassbare und nichtsdestoweniger stark wirksame physische, psychische und soziale Bedingungen, hätten „als inspirirende Genien […] ihr Spiel“ und dabei „alle schon einmal Philosophie getrieben“ (JGB 6; Kap. VII, 2.1) und dies in steter Auseinandersetzung miteinander. Nietzsche und Luhmann sahen sich selbst in solchen Auseinandersetzungen. Weil sie mit ihren Beschreibungen wirken wollten, traten sie bewusst in die Auseinandersetzung ein und dies umso kämpferischer, je weniger sie ihre Wirkung absehen konnten. Nietzsche bekannte sich ausdrücklich und öffentlich zu einer „Kriegs-Praxis“, die Teil seiner Weisheit sei. Er habe sich mit seinen Beschreibungen dessen, was ihm als Realität galt, und seinen Beschreibungen dieser Beschreibungen (und gerade mit dieser) bewusst „compromittirt“ (EH weise 7) – mit der wiederum öffentlich erklärten Absicht, andere sich an ihm kompromittieren zu lassen (EH WA 3). Luhmann blieb hier zwar zurückhaltender; seine Auseinandersetzung mit der Philosophie aber lässt sich ebenfalls so verstehen. Nietzsche hat die Ansprüche der Philosophie gegenüber den Wissenschaften im 6. Hauptstück von Jenseits von Gut und Böse unter dem (selbstbezüglichen) Titel Wir Gelehrten bündig zusammengefasst,⁵²⁷ Luhmann seine Statements zu den Ansprüchen seiner soziologischen Systemtheorie gegenüber der Philosophie dagegen über sein Werk verstreut. Eine gezielte Auseinandersetzung mit der Philosophie hat er nicht vorgelegt; sie scheint ihm der Mühe nicht mehr wert gewesen zu sein. Dagegen hat er in seiner Münsteraner Antrittsvorlesung von 1967 unter dem Titel Soziologische Aufklärung (SA) und in seiner Bielefelder Abschiedsvorlesung von 1993 unter dem Titel ‚Was ist der Fall?‘ und ‚Was steckt dahinter?‘ Die zwei Soziologien und die Gesellschaftstheorie (WF) seine Ansprüche an sein eigenes Fach klar auf den Punkt gebracht und vor allem mit dem Begriff der Aufklärung auch die Philosophie berührt. Wir beginnen mit Luhmann.

 Zum Begriff der Philosophie beim frühen und mittleren Nietzsche vgl. zuletzt Schärf, Das Gesetz der Philosophie, und Skowron, Das Spiel der Gegensätze.

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XII Orientierung über Orientierung

2 Luhmann: Ablösung der Philosophie durch soziologische Systemtheorie Luhmann pflegte zur Philosophie ein ebenso differenziertes wie prekäres Verhältnis.⁵²⁸ Er schloss vielfach an sie an, hielt sie zugleich für überholt und, was die Philosophie seiner Zeit betraf, weitgehend für irregeleitet, ratlos und überflüssig. Er kannte die europäische Philosophie gut und nicht nur die berühmten Namen, zog immer wieder auch der akademischen Philosophie wenig geläufige Autoren heran. Die Philosophie hatte über Jahrtausende neben der Theologie Beschreibungen der Beschreibungen dessen geliefert, was als Wirklichkeit galt; an die einflussreichsten unter ihnen, Aristoteles’ ontologische Metaphysik, Descartes’ Subjektphilosophie und Kants Transzendentalphilosophie, schloss Luhmann regelmäßig an – um sich von ihnen abzustoßen. Ihre Prämissen, ein Sein an sich, ein sich rein auf sich selbst beziehendes Denken und ein unbeoachtbarer Standpunkt der Beobachtung, schienen ihm zum Verständnis der funktional differenzierten Kommunikation der modernen Gesellschaft nicht mehr hilfreich: Die Philosophie simuliert gleichsam unter gesellschaftlichen Bedingungen, die noch keine Vollausdifferenzierung von universell zuständiger Wissenschaft zulassen, deren Möglichkeiten. (WissG, 327)

Luhmann schätzte gleichwohl Cusanus’ Sinn für Paradoxien, ohne durch sie Gott näherkommen zu wollen. Über sein Schluss-Werk Die Gesellschaft der Gesellschaft setzte er ein Motto Spinozas, in dem er offenbar, wie schon Nietzsche, einen herausragenden Vorgänger erkannte.⁵²⁹ Bei allem Verzicht auf Aprioris fragte er mit Kant methodisch nach ‚Bedingungen der Möglichkeit‘, durch die das Wahrscheinliche als unwahrscheinlich gesetzt und so der Forschung ausgesetzt werde. Er anerkannte bei Fichte die Anfänge eines radikal differenztheoretischen Vorgehens, das freilich noch in den Grenzen der Subjektphilosophie blieb. Er bewunderte Hegels Kunst der systematischen Differenzierung und Integrierung von Differenzen und die Einbeziehung des philosophischen Beobachters in seine Beobachtung, gab Hegels Insistieren auf Einheit aber auf und stellte den Systembegriff von Identität auf Differenz um. Er begrüßte Whiteheads radikale Temporalisierung alles scheinbar Seienden und sein Theorem „autopoietischer Reproduktion“ (SS, 395), ließ aber die Metaphysik und Kosmologie, die Whitehead

 Vgl. Stegmaier, Nietzsches und Luhmanns Aufklärung der Aufklärung, und Stegmaier, Niklas Luhmann als Philosoph.  Auch sonst kommt Luhmann anerkennend auf Spinoza zurück, doch nur in gelegentlichen Bemerkungen, z. B. WirtG, , ; GG, .

2 Luhmann: Ablösung der Philosophie durch soziologische Systemtheorie

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ihm erneut abzugewinnen versuchte, zurück. Husserl und Derrida widmete er eigene Beiträge, den Wiener Vortrag Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie von 1995 und Dekonstruktion als Beobachtung zweiter Ordnung von 1993. Darin bekannte er sich zu Husserls Unterscheidung von nóaesis und nóaema als dem Vorbild seiner eigenen Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz⁵³⁰ und zu Derridas unterscheidungstechnischer Figur der Verschiebung des Sinns einer Unterscheidung (différence) durch ihren bloßen Gebrauch (différance). In beiden Fällen leitete er aber rasch zur Entfaltung seines eigenen Ansatzes über. Philosophie war für Luhmann eine Hilfswissenschaft, die ihm freilich, und zumal die Philosophie seiner Zeit, nicht mehr viel Hilfe bot, weder die kontrafaktisch angelegte Diskursethik von Habermas, die ihm zu einfach und zu realitätsfern schien, noch die Philosophie des Zeichens von Josef Simon, deren Zeichen-Begriff ihm an Unmittelbarkeit hängen zu bleiben schien.⁵³¹ Kurz: Luhmann erwartete nichts mehr von der Philosophie. Worum es ihm ging, ließ sich klarer und aussichtsreicher mit den von ihm regelmäßig aufgerufenen Gewährsleuten Gregory Bateson, George Spencer Brown, Gotthard Günther und Heinz von Förster konzeptualisieren,⁵³² allesamt keine Philosophen. Bei der Entstehung von deren Begriffswelt sei die Philosophie nicht gefragt worden. So sei es „nur allzu verständlich, wenn sie“ – die Philosophie – „jetzt wie die böse Fee auftritt, um sich zu rächen“, auch an ihm (NWPh, 47).Wie einst Hegel das Ende der Kunst verkündete Luhmann, wenn auch verhaltener, das Ende der Philosophie: Ihre Begriffe veralteten,weil sie der Komplexität der Gegenwart nicht mehr gerecht würden, wie Luhmann im Blick auf die Moralphilosophie schrieb (Kap. VIII, 3): Die klassischen Titel des Subjekts – Bewußtsein, Willensfreiheit, Geist, Reflexion – werden eigentümlich undifferenziert und gehaltlos erscheinen. Ihr appeal wird verblassen, und wer in ihrem Namen Moral zu treiben sucht, wird prüfen müssen, wieweit die guten Namen noch wirken. (MorG, 95; Kap. VIII, 3)

Die Funktion der Gesamtbeschreibung der Beschreibungen dessen, was als Wirklichkeit gilt, werde nun von der soziologischen Systemtheorie übernommen, die einen umfassenderen Horizont biete: Wir kommen […] weder auf eine subjekttheoretische (handlungstheoretische) noch auf eine zeichentheoretische (sprachtheoretische, strukturalistische) Grundstellung zurück, sondern

 In seiner Antrittsvorlesung hatte Luhmann zunächst noch auf den transzendental-phänomenologischen Ansatz Husserls und seine ihm abgewonnene Konstitution von Intersubjektivität gesetzt (SA, ), beide dann aber aufgegeben (Kap. IV, ).  Vgl. BdM, , , , .  Vgl. etwa DBzO,  f.

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XII Orientierung über Orientierung

müssen gegebenenfalls fallweise prüfen, welche von den Einsichten, die in diesen Theorieperspektiven gewonnen sind, sich als übernehmbar erweisen. (SS, 203)

Übrig blieb Mahnung, Ironie und Spott. Das „unter dem Namen der Philosophie akzeptierte unbedingte Theorieinteresse“, das Husserl noch geleitet habe, sei inzwischen weithin verlorengegangen: Manche Philosophen sind nur noch an der Textgeschichte des Faches interessiert, andere an Modethemen wie Postmoderne oder Ethik; wieder andere präsentieren die Verlegenheiten einer Gesamtübersicht literarisch oder feuilletonistisch; und am schlimmsten vielleicht: die an Pedanterie grenzende Bemühung um mehr Präzision. (NWPh, 16 f.)

Die „analytische Philosophie“ habe mit ihrem Ansatz bei der logischen Analyse der Sprache zwar „wichtige Schritte getan, um soziale Bedingungen in die Erkenntnistheorie einzubauen“, jedoch „ohne zureichende Theorie der Kommunikation, allein auf Grund einer Orientierung an der Sprache“ (WissG, 7). Sie habe seit Kants Unterscheidung analytisch/synthetisch keine „Unterscheidungen vorgeschlagen, in denen sie sich selbst placieren kann“ (WissG, 8). Philosophen hingen, so Luhmann, an Überholtem fest (WissG, 13), besonders an alten Namen: Sie „argumentieren oft so, als ob die maßgebliche Unterscheidung jetzt wäre: Platon oder Aristoteles, Kant oder Hegel. Sie unterscheiden Texte. Eine stärker empirisch ausgerichtete Forschung zwingt zur Abstraktion.“ (WissG, 63) Das „Lektürepensum“ sei weitgehend auf die eigene Disziplin begrenzt (WissG, 114): „Was einst Philosophie war, verkommt so zu bloßer Expertise in der Behandlung philosophischer Texte, und Philosophen werden zu Philosophieexperten.“ (WissG, 159) Die alten Namen bänden sie auch an die Semantik „Alteuropas“, der sie auch noch in deren Kritik mehr oder weniger verhaftet blieben (GG, 890). So befassten sie sich mit längst als unlösbar erkannten Problemen bzw. mit Problemen so, dass sie unlösbar bleiben, machten sich also überflüssige Gedanken (GG, 909). Wohl seien die „ungeheuren Anstrengungen der Philosophie“ und deren „Fruchtbarkeit […] zu würdigen“ (GG, 928). Es gebe durchaus „Perlen der Philosophie, die man […] bewundern kann“. Für Soziologen sei nur fraglich, „welche ursprüngliche Verschmutzung sie erzeugt haben mag“ (GG, 911). „‚Philosophie‘“ erscheint bei Luhmann darum gerne in Anführungszeichen,⁵³³ als etwas, das „neue Worte, neue Begriffe, Ideen über Ideen […] absondert“ (GG, 541), vorzugsweise „hohe Abschlußgedanken“ (GG, 1097), wo es längst nicht mehr um Abschlüsse gehe (GG, 1122). Nachdem sie über Jahrtausende „eine Unterkunft für alles“ geboten habe, sei sie nach der Ausdifferenzierung des Funktionssystems  Z. B. SS, ; WissG, , ; GG, .

3 Nietzsche: Ausdehnung der Philosophie auf Soziologie und ‚große Politik‘

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Wissenschaft seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zu einem bloßen Fach unter anderen geworden, das für die übrigen Wissenschaften, die sich nun ihre eigenen Grundlagen schufen, immer entbehrlicher wurde, auch und gerade in der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie (WissG, 460 f.). Und seit sie müde und „nihilistisch“ geworden sei (WissG, 548), wirke sie „innerhalb der akademischen Welt wie eine Enklave, in der gleichsam zollfrei geforscht werden kann und Sonderrechte in Anspruch genommen werden können“. Man müsse sie darum nicht schon „als Metaphysik, als Spekulation, als Literatur“ abtun; denn immerhin könne die Philosophie auch mit ihrer „Verwaltung“ von „Texttraditionen“ „ein gutes Urteil in bezug auf längst Bekanntes und schon Durchdachtes beisteuern“ (WissG, 531 f.). Wenn die „‚Philosophie‘“ aber weiterhin „eine externe Position“ gegenüber der Kommunikation der Gesellschaft einnehmen wolle, brauche man sich um sie nicht mehr zu kümmern: „Dann mögen die Philosophen darüber Auskunft geben, wie sie es machen.“ (WissG, 534, Anm.) „Ganz ausgeschlossen“ aber schien Luhmann unter den Bedingungen der Gegenwart eine „Spitzenposition“ in einer Wissenshierarchie, wie sie die Philosophie seit Platon in Anspruch genommen hat (WissG, 457), eine Spitzenposition zumal, von der aus sich die Gesellschaft im Ganzen auch politisch steuern ließe. Eben darin aber sah Nietzsche die Aufgabe der Philosophie. Luhmann musste er darum am fremdesten sein.

3 Nietzsche: Ausdehnung der Philosophie auf Soziologie und ‚große Politik‘ Denn Nietzsche stellte seinerseits die höchsten Ansprüche an die Philosophie, die wohl je ein Philosoph erhoben hat. Er bezog in seine Philosophie die erst sich entwickelnde Soziologie (Comte, Spencer⁵³⁴) ein, gegen die er skeptisch blieb, trieb sie selbst auf eigene Faust weiter (und wurde dafür von späteren Soziologen hoch geschätzt⁵³⁵) und erweiterte die ‚Aufgabe‘ der Philosophie darüber hinaus um ‚große Politik‘ mit dem Ziel eben einer Gesamtsteuerung der Gesellschaft (Kap. X, 2.2; XI, 6). Auch er hatte die überlieferte Philosophie ebenso wie die Philosophie seiner Zeit, sofern sie jener verhaftet blieb, zurückgelassen, als Philosoph nicht nebenbei wie Luhmann, sondern in großen Inszenierungen seiner „Loslösung“ (MA I Vorrede 3) von der Philosophie Schopenhauers, die er, als Autodidakt, zunächst für die bedeutsamste gehalten hatte (Kap. XI, 3). Dessen „wegwerfende

 Vgl. Baier, Die Gesellschaft.  Vgl. Solms-Laubach, Nietzsche and Early German and Austrian Sociology.

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XII Orientierung über Orientierung

Werthschätzungen anderer Philosophen“ (JGB 204) hatte auch ihn „unter dem Namen der Philosophie“ nur noch „ein schwächliches Phantom“ wahrnehmen lassen, „jene gelehrtenhafte Katheder-Weisheit und Katheder-Vorsicht“, die der Philosophie ihre „Würde“ genommen und zu einer „lächerlichen Sache“ gemacht habe, wo sie doch von höherem Rang sei als „die Existenz eines Staates“ oder „die Förderung der Universitäten“ (UB III 8, KSA 1.425 f.). Auch der späte Nietzsche sah das nicht anders. Ihm schien „die ganze neuere Philosophie allmählich gesunken“ und nur noch ein „Rest Philosophie“ übrig, etwas, das „Misstrauen und Missmuth, wenn nicht Spott und Mitleiden gegen sich rege macht“: Philosophie auf „Erkenntnisstheorie“ reduzirt, thatsächlich nicht mehr als eine schüchterne Epochistik und Enthaltsamkeitslehre: eine Philosophie, die gar nicht über die Schwelle hinweg kommt und sich peinlich das Recht zum Eintritt verweigert – das ist Philosophie in den letzten Zügen, ein Ende, eine Agonie, Etwas das Mitleiden macht. (JGB 204)

Hier war sich Nietzsche über die Zeiten hinweg mit Luhmann einig. Nicht einig war er sich mit ihm darin, dass die Philosophie, habe sie einmal das Rechte erkannt, „mit der rücksichtslosesten Tapferkeit auf die Verbesserung der als veränderlich erkannten Seite der Welt loszugehen“ habe,wie er in seinen frühen Unzeitgemässen Betrachtungen schrieb (UB IV 3, KSA 1.445). Sie habe, hielt er auch noch nach seiner Loslösung von Schopenhauer fest, an der „Spitze der gesammten Wissenspyramide“ zu stehen (MA I 6). Ihre „Aufgabe“ (JGB 203) müsse die „Erhöhung der Cultur“ sein (JGB 239). Philosophie solle „herrschen“ (JGB 204). Man muss das nicht als politische Herrschaft im engeren Sinn verstehen. Gemeint sein dürfte eher eine philosophische Herrschaft über die Wissenschaften im Sinn eines Vordenkens der kommenden Weltgesellschaft und Erdregierung (Kap. X, 1.1). Aber auch mit diesem Anspruch konnte Philosophie nicht, wie es zu Nietzsches Zeit schon zur Regel geworden war, auf ein akademisches Fach, geschweige denn auf darin herrschende Theorien und Methoden beschränkt bleiben. Nietzsche verlegte denn auch die Philosophie, wie er sie sich dachte, in die Zukunft, stellte sich „Philosophen der Zukunft“ vor, die dann schon „freie, sehr freie Geister“ (JGB 44) und als solche zu großen Umwertungen und Neuorientierungen fähig sein sollten. So könnten sie „in Hinsicht auf die Zukunft des Menschen“ der „schauerlichen Herrschaft des Unsinns und Zufalls“ ein Ende machen, die in der Entwicklung des Menschen bisher zu beobachten sei (JGB 203). Es ging Nietzsche dabei nicht, gerade nicht um eine einheitliche Orientierung aller Menschen, die nach der Prämisse seines Perspektivismus gar nicht denkbar war, sondern um eine Orientierung, an der sich nach der Aufdeckung des Nihilismus und dem Einbruch der alten Orientierung an Sein, Wahrheit, Vernunft und einer von Gott garantierten unbedingten Moral jeder nach seinen Bedingungen neu und

3 Nietzsche: Ausdehnung der Philosophie auf Soziologie und ‚große Politik‘

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auf Zeit orientieren könnte.Wenn Nietzsche dabei, was uns heute schaudern lässt, von „Befehlshabern“ und „Führern“ und von „Zucht und Züchtung“ sprach (JGB 203), so führte er dafür soziologische Gründe an: Bisher, in alten Gesellschaften, hätten die Menschen vor allem Gehorchen gelernt, es habe „immer sehr viel Gehorchende im Verhältniss zu der kleinen Zahl Befehlender“ gegeben, „Gehorsam“ sei „am besten und längsten unter Menschen geübt und gezüchtet worden“, und so erwarteten die meisten Menschen noch jetzt alles „von irgend welchen Befehlenden – Eltern, Lehrern, Gesetzen, Standesvorurtheilen, öffentlichen Meinungen“ (JGB 199; Kap. X, 2).⁵³⁶ Sie folgten unwillkürlich dem „Heerden-Instinkt des Gehorsams“, verhielten sich wie „Menschenheerden“, die stets „Führer und Leithammel“ brauchten. So sei ein „Bedürfniss“ nach „Befehlenden“ entstanden, das, auch wenn man das im Zug der demokratischen Bewegung immer weniger wahrhaben wolle, nach Erfüllung verlange. Dazu aber brauche es „Unabhängige“ (JGB 199), freie Geister in Nietzsches Sinn, die nach unseren Begriffen auch in Situationen allgemeiner Orientierungslosigkeit so plausible Orientierungen vorgeben können, dass sie wie Befehle angenommen werden (Kap. IX, 1.4). Nietzsches Sorge war darum, dass solche Geister am Ende „fehlen“ (JGB 199) oder aber „missrathen und entarten“ (JGB 203), ihre Orientierungsmacht politisch missbrauchen könnten (so wie es dann auch geschah). Eine ihrer Verantwortlichkeit entsprechende Orientierungs-, Urteils- und Entscheidungsfähigkeit sah er dennoch am ehesten bei Philosophen, die sie ihrerseits über Jahrtausende wenn nicht eingeübt, so doch sich in sie hineingedacht hätten. Seine ‚große Politik‘ war darin ‚über-politisch‘.⁵³⁷ Dabei sprach er auch von „Führern“ im Plural, sah sie, wie er schon früh klar gemacht hatte,⁵³⁸ als ‚geistige‘ Führer wiederum im Wettbewerb untereinander. Und soweit die europäischen Philosophen nach Nietzsche gerade in den Nihilismus geführt hatten, konnte für sie derselbe Schluss gelten, den er für seinen Zarathustra zog: „Zarathustra schuf diesen verhängnissvollsten Irrthum, die Moral: folglich muss er auch der Erste sein, der ihn erkennt.“ (EH Schicksal 3) Wenn Philosophen (im Bund mit Theologen) einmal eine solche Orientierungsmacht bewiesen hatten, dass sie eine Kultur prägten, hier die Kultur des ‚asketischen Ideals‘, so mussten wohl auch „neue Philosophen“ in der Zukunft eine neue Orientierungsmacht beweisen und „den Willen von Jahrtausenden auf neue Bahnen zwingen“ können (JGB 203). Nietzsches ungeheurer Anspruch an die Philosophie ist so nicht völlig unplausibel, auch wenn er selbst damals noch kaum und wir inzwischen noch weniger Anhaltspunkte dafür sehen, dass irgendjemand

 Am Frankfurter Institut für Sozialforschung sprach man dann vom ‚autoritären Charakter‘.  Van Tongeren, Nietzsche as ‚Über-Politischer Denker‘.  In Homer’s Wettkampf, KSA . – , bes. .

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ihm gerecht werden könnte oder dass irgendjemandem auch nur das Recht und die Chance dazu eingeräumt würde. Eben darin sah Nietzsche die Schwäche der jetzigen Philosophie. Er deutete durch die Unterscheidung von Befehlen und Gehorchen nun auch das Verhältnis der Philosophie, wie er sie projektierte, zu den Wissenschaften, wie er sie vorfand. Er setzte bei der „Rangverschiebung“ zwischen Wissenschaft und Philosophie an, die sich zu seiner Zeit deutlich abzeichnete (JGB 204), und bei der paradoxen Situation, in die „Philosophen der Zukunft“ (JGB 210) durch sie geraten. Denn sie müssen sich vor allem anhand der Beschreibungen der Wissenschaften über die Wirklichkeit orientieren, werden durch das Übermaß solcher Beschreibungen aber zugleich in ihrer philosophischen Orientierung gehindert und entmutigt. Sie verlieren dadurch unvermeidlich wieder den „Überblick“: Der Umfang und der Thurmbau der Wissenschaften ist in’s Ungeheure gewachsen, und damit auch die Wahrscheinlichkeit, dass der Philosoph schon als Lernender müde wird oder sich irgendwo festhalten und „spezialisiren“ lässt: so dass er gar nicht mehr auf seine Höhe, nämlich zum Überblick, Umblick, Niederblick kommt. (JGB 205)

Auf „seine Höhe“ kommt „der Philosoph“ nur, wenn er die Wissenschaften zu „Werkzeugen“, zu Funktionen seiner Orientierung, wenn er sie sich dienstbar machen und insofern in das Verhältnis von Befehlen und Gehorchen bringen kann.⁵³⁹ Das ist, wie auch Nietzsche klar war und er es selbst laufend vorführte, wiederum nur mit hochgradigen Selektionen, Simplifikationen und Abstraktionen möglich. Dass die Wissenschaften sich aber überhaupt als Werkzeuge für eine Philosophie, die ihnen auf den Grund geht, eignen und anbieten, begründete Nietzsche erneut soziologisch mit dem Argument, gerade ihre Arbeit im Dienst der Wahrheit setze „Entselbstung und Entpersönlichung des Geistes“ voraus und Wissenschaftler würden so zur „sublimsten Art des Sklaven“ (JGB 207; Kap. X, 2.2).⁵⁴⁰

 Darin folgte Nietzsche, wenn auch nicht mit diesen aggressiven Unterscheidungen, noch Karl Jaspers mit seiner Philosophischen Weltorientierung, dem . Band seiner dreibändigen Philosophie von .  In MA II, WS , hatte Nietzsche noch zurückhaltender formuliert. Dort schrieb er: „Die eigentlich tüchtigen und erfolgreichen Gelehrten könnte man insgesammt als ‚Angestellte‘ bezeichnen.“ Sie sind „um der Wissenschaft willen da: aber es giebt seltnere, selten gelingende und völlig ausreifende Naturen, ‚um derentwillen die Wissenschaft da ist‘ – wenigstens scheint es ihnen selber so —: oft unangenehme, oft eingebildete, oft querköpfige, fast immer aber bis zu einem Grade zauberhafte Menschen. Sie […] bedienen sich dessen, was von Jenen erarbeitet und sichergestellt worden ist, in einer gewissen fürstenhaften Gelassenheit und mit geringem und

3 Nietzsche: Ausdehnung der Philosophie auf Soziologie und ‚große Politik‘

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Es ging Nietzsche dabei nicht um die Entgegensetzung von Personen (hier die gegenwärtigen Wissenschaftler, dort die künftigen Philosophen mit ihm selbst als deren Vorbild), sondern um die „Rangordnung“ dessen, was er „Geistigkeit“ nannte (Kap. XI, 3): die Fähigkeit, „die höchsten Probleme“ ins Auge fassen und ihnen gerecht werden zu können (JGB 213; Kap.VII, 3.6). Ein Philosoph von „hoher unabhängiger Geistigkeit“ (JGB 201), wie Nietzsche ihn sich dachte, hat sich schrittweise eben aus dem Wissenschaftler und hier wieder aus dem „geistigsten“ (JGB 208, 209) herauszuarbeiten: über den Skeptiker, der zunächst fähig ist, alle Werte in Frage zu stellen, ohne selbst schon zu neuen Orientierungs- und Wertentscheidungen zu kommen (JGB 208); den Skeptiker von „verwegener Männlichkeit“, der bei aller Einsicht in die letzte Haltlosigkeit der Urteile orientierungs-, urteils- und entscheidungsfähig bleibt – Friedrich der Große habe diese Skepsis vor-, die „grossen deutschen Philologen und Geschichts-Kritiker“ hätten sie nachgelebt (JGB 209); und schließlich den „Kritiker“, der sicher in seinen „Werthmaassen“ ist, „eine Einheit von Methode“ handhaben kann, über „gewitzten Muth“ verfügt, das „Alleinstehn und Sich-verantworten-können“ gelernt hat und sich beim „Neinsagen und Zergliedern […] eine gewisse besonnene Grausamkeit“ zugestehen darf (JGB 210) – hier, unter die philosophischen Kritiker, ordnete Nietzsche als „edle Muster“ Kant und Hegel ein (JGB 211). Erst unter solchen schwer erworbenen und lange erprobten Voraussetzungen könnten die „eigentlichen Philosophen“ entstehen, die selbst Wertmaße setzen, „Werthe schaffen“ und dadurch „Befehlende und Gesetzgeber“ werden (JGB 211). Nietzsche erwartete von ihnen Orientierungserfahrungen im weitesten Umkreis, Orientierungsperspektiven von größter Vielfalt und Orientierungsstrukturen von äußerster Flexibilität, kurz: eine Orientierung von überragender Komplexität. Ein „wirklicher Philosoph“ müsse selbst vielleicht Kritiker und Skeptiker und Dogmatiker und Historiker und überdies Dichter und Sammler und Reisender und Räthselrather und Moralist und Seher und „freier Geist“ und beinahe Alles gewesen sein, um den Umkreis menschlicher Werthe und Werth-Gefühle zu durchlaufen und mit vielerlei Augen und Gewissen, von der Höhe in jede Ferne, von der Tiefe in jede Höhe, von der Ecke in jede Weite, blicken zu können. (JGB 211)

Eine solche Orientierung macht für Nietzsche aus disziplinierten Fachwissenschaftlern Philosophen, „wirkliche“, „eigentliche Philosophen“, und es ist dann zweitrangig, aus welcher Wissenschaft sie kommen.

seltenem Lobe: gleichsam als ob Jene einer niedrigern Gattung von Wesen angehörten.“ Und dann formulierte er – schon hier – den Gegensatz des „Arbeiters des Geistes“ und des „Philosophen“.

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XII Orientierung über Orientierung

Mit dem Begriff „Gesetzgeber“ ging Nietzsche von der soldatischen zur uns heute eher geheuren Rechtssprache über. Beides sind keine bloßen Metaphern: Wird ein Befehl Einzelnen von Einzelnen für einzelne Handlungen gegeben, so ein Gesetz einer Gesellschaft im Ganzen von einer dazu berechtigten Instanz für allgemeine Handlungsweisen. Ein Befehl ordnet an, ein Gesetz legitimiert. Philosophie würde also dort Gesetz, wo sie als dazu berechtigte Instanz allgemeine Handlungsweisen legitimiert. Sie kann der Gesellschaft natürlich kein juridisches Grundgesetz, keine Verfassung geben, eher schon Grundlagen ihrer moralischen Legitimierung, wie es für moderne Verfassungen Kant gelang, am ehesten aber eine Beschreibung der Grundverfassung der menschlichen Orientierung überhaupt. Eine solche hat Nietzsche offenbar im Auge gehabt, eine Orientierung nach der Aufdeckung des Nihilismus im Nihilismus (Kap. I). Und so scheint er auch die ‚große Politik‘ verstanden zu haben, als Orientierung der Gesellschaft im Ganzen für eine Zukunft im Nihilismus. Den Sinn einer solchen Orientierung und das Bedürfnis nach ihr wird man kaum bestreiten, ihre Möglichkeit bleibt fraglich – so lange, bis sie gelingt. Was aber würde, weitergefragt, die Philosophie zur Instanz der Legitimierung einer solchen Orientierung legitimieren, wie immer sie in der jeweiligen Zukunft ausfallen mag und wie immer die Einzelnen sich an ihr orientieren werden? Nietzsche sprach zum Abschluss des Sechsten Hauptstücks von Jenseits von Gut und Böse vom „Recht auf Philosophie – das Wort im grossen Sinne genommen“, und begründete dieses Recht mit der (nicht biologischen) „Züchtung“ „des Philosophen“ durch „viele Geschlechter“ hindurch (JGB 213). Er argumentierte selbstreferentiell: Die Philosophie hat dieses Recht, wenn sie es sich selbst schaffen kann. Darin gipfelt Nietzsches heute so befremdliche Beschreibung der Philosophie. Vor nicht langer Zeit hat Derrida sie, was das Recht der Philosophie betrifft, jedoch wiederholt, und an ihn wollte Luhmann, was die Philosophie seiner Zeit betraf, noch am ehesten anschließen. Schalten wir ihn darum ein.

4 Derrida: Das Recht der Philosophie Die Aufgabe, die Nietzsche der Philosophie zuschrieb und die nach Luhmann gar nicht mehr denkbar ist, scheint hoffnungslos unerfüllbar zu sein. Und dennoch lebte Nietzsches Anspruch an die Philosophie, der Welt und den Wissenschaften nach dem Tod Gottes und dem Fragwürdig-Werden auch der Vernunft ein neues Maß zu geben, im 20. Jahrhundert zunächst weiter. Das gilt einerseits für Heideggers schroffe Überhebung der Philosophie über die Wissenschaften („Die

4 Derrida: Das Recht der Philosophie

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Wissenschaft denkt nicht“⁵⁴¹) im Blick auf die ‚Seinsfrage‘, andererseits aber auch für den nicht weniger anspruchsvollen Versuch des Logischen Empirismus, die Wissenschaften in einem ‚logischen Aufbau der Welt‘ auf wiederum philosophisch konstruierte ‚Tatsachen‘ zu fundieren und so zur Einheit zu bringen. Und es gilt erst recht für den Anspruch der Kritischen Theorie, im ‚Falschen‘ der modernen Gesellschaft das ‚Richtige‘ aufzuzeigen. Sie alle orientierten sich, in Anschluss oder Abwehr, auch an Nietzsche. Am Ende des 20. Jahrhunderts empfahl dann jedoch Richard Rorty, der sich wie kaum jemand sonst die Aufgabe der Philosophie als solche zum Thema machte, die Philosophie solle auf alle Größe in universalistischen Ansprüchen verzichten, die sie in eine unhaltbare „geistige Höhe“ treibe, und ebenso auf romantische „tiefste Tiefen der menschlichen Seele“. Stattdessen solle sie pragmatisch bleiben, die Demokratie fördern und überhaupt die Idee fahren lassen, „es gebe eine besondere Tätigkeit namens ‚Philosophieren‘, die in der Kultur eine spezifische Rolle spielt“. Soweit die Philosophie eine Rolle gespielt habe, sei sie ein „Übergangsgenre“ zwischen Religion und Literatur gewesen. Nietzsche habe dabei die weltentwerfende Dichtung der wahrheitsfixierten Philosophie vorgeordnet und damit gegenüber Platon immerhin „das bessere Gedicht geschrieben“.⁵⁴² Aber Rorty, der es bei „Kontingenz, Ironie und Solidarität“ belassen wollte, sah bewusst von Nietzsches – und seinem eigenen Pathos ab, woran ihn wiederum Habermas, der ihn gut kannte, erinnerte. Er beschrieb auch Rorty als „von einem gewissen Pathos geprägt, denn die Deflationierung erhabener Begriffe und das understatement können durchaus ihr eigenes Pathos haben“. Auch Rorty habe den Glauben oder die Hoffnung geteilt: „Fundamentale Weltsichten strukturieren Lebensformen.“⁵⁴³ So bleibt das Pathos. Nietzsche war es mehr noch als Platon gelungen, sein hohes Pathos in der Sache, das er in seiner Lehrdichtung Also sprach Zarathustra aufs äußerste steigerte, durch die Leichtigkeit seiner schriftstellerischen Formen im Übrigen, vor allem seiner Aphorismenbücher, zu brechen, um es mit der dabei gewonnenen Selbstdistanz und Selbstironie dann in Streitschriften als Kampfmittel hervorzukehren. Leser(innen) können in diesen wechselnden Formen Nietzsches Pathos als solches beobachten, ohne es teilen zu müssen. Nietzsche führte seine Ansprüche an die Philosophie als seine Ansprüche vor, und indem er sie nur für eine ‚Philosophie der Zukunft‘ geltend machte, erhob er sie noch nicht einmal für sich selbst, sondern für die Philosophie als solche. Mit welchem Recht also?  Heidegger, Was heißt Denken?, .  Rorty, Philosophie als Kulturpolitik, , ,  ff., .  Habermas, „ … And to define America, her athletic democracy“. Im Andenken an Richard Rorty,  f.

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XII Orientierung über Orientierung

Rortys Zeitgenosse Derrida, seinerseits stark von Nietzsche geprägt, sah sich genötigt, auf die Frage nach dem „Recht auf Philosophie“ (droit à la philosophie) zu antworten, als er das von ihm und anderen begründete neue Institut für Philosophie, das Collège international de philosophie, zu rechtfertigen hatte, das von den Universitäten und vom Staat einerseits unabhängig sein sollte, aber andererseits vom Staat genehmigt werden musste, um von ihm gefördert zu werden.⁵⁴⁴ Derrida setzte sich in dieser ebenso pragmatischen wie paradoxen Entscheidungssituation vorrangig mit Kant und Hegel, zuweilen auch mit Heidegger auseinander. Nietzsche ließ er hier beiseite; mit seinen übergroßen Ansprüchen scheint er selbst ihm nicht geheuer gewesen zu sein. Und doch kam er ihm auch hier sehr nahe. Derrida arbeitete heraus,wie Kant für die Kritik der reinen Vernunft einen letztinstanzlichen Gerichtshof (tribunal de dernière instance) einsetzte, an dem die Vernunft alleine Richterin und dabei auch Richterin ihrer selbst sein sollte. Zugleich bestellte Kant die Leser des gleichnamigen Buchs zu Richtern dieser Einsetzung,⁵⁴⁵ zu Richtern also des Autors Kant. De facto bestand jenes Tribunal jedoch aus ihm allein, sofern er selbst die Kriterien der Vernunft vorgab, nach denen er seinerseits beurteilt werden wollte. Der junge Nietzsche hatte in Schopenhauer als Erzieher eines solches „höheres Tribunal“ geradewegs Schopenhauer zugestanden: „als dem Richter der ihn umgebenden sogenannten Kultur“ (UB III 8, KSA 1.425; Kap. XI, 3). Für Kant legitimierte Kants Begriff der Vernunft, für Schopenhauer und Nietzsche deren eigene Persönlichkeit die Philosophie zu diesem von allen dreien in Anspruch genommenen Richteramt. Nach Derrida nun nimmt oder gibt sich die Philosophie als solche das Recht und damit das „Privileg“, allem Übrigen seinen Sinn zu geben, und Derrida wollte das Privileg ganz konkret nutzen, um die neue Institution zu legitimieren.Weil es sich um eine öffentliche, vom Staat unterstützte Institution handeln sollte, privilegierte er, anders als Kant, Schopenhauer und Nietzsche, zwar nicht die eigene Philosophie, aber ein Philosophieren, das ihr entsprach: Das neue Institut sollte von allen thematischen, theoretischen und methodischen Vorgaben frei, mit Nietzsche gesprochen ein erklärtes Institut des ‚freien Geistes‘ sein, zu nichts mehr als dem Geist dieses freien Geistes verpflichtet. Es sollte auch nicht durch universitäre Disziplinierung legitimiert sein, Lehrende brauchten nicht das Fach Philosophie als Disziplin studiert zu haben, und das Collège sollte auch keine Diplome ausgeben, die zu bestimmten Karrieren berechtigen. Es sollte um eine von ihr selbst privilegierte Philosophie um ihrer selbst willen gehen.

 Vgl. Derrida, Privilège, deutsch: Privileg.  Vgl. KrV, Vorrede A XXI. Dies entfiel in der zweiten Auflage der Vorrede, und der Beweis der „Richtigkeit der Kritik“ trat in den Vordergrund (B XLIII).

5 Das Pathos der Philosophie

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5 Das Pathos der Philosophie Wenn von allen spezifischen Aufgaben, Themen, Theorien und Methoden der Philosophie abgesehen wird, um solche Aufgaben, Themen, Theorien und Methoden sich im Wettbewerb miteinander entfalten zu lassen, dann hat oder gibt oder nimmt sich die Philosophie ihr Recht und ihr Privileg zuletzt nur noch in Gestalt jenes Pathos, das Nietzsche so stark hervorkehrte und von dem Habermas auch noch im Blick auf Rorty sprach, der es so weit wie möglich zu ‚deflationieren‘ suchte. Sie legitimiert sich dann nicht dadurch, wovon sie spricht, sondern wie sie spricht. Das Pathos der Philosophie liegt dann schon und allein in der Abstraktionshöhe ihrer Begriffe, die sie auszeichnet und die auch von niemandem bestritten wird. Nietzsche (in hochpathetischer Formulierung): Der graue Himmel der Abstraktion wie von Blitzen durchzuckt; das Licht stark genug für alles Filigran der Dinge; die grossen Probleme nahe zum Greifen; die Welt wie von einem Berge aus überblickt. – Ich definirte eben das philosophische Pathos. (WA 1)⁵⁴⁶

Nach Robert Musils Mann ohne Eigenschaften sind die philosophischen Begriffe die, „in denen das Leben hängt wie der Adler in seinen Schwingen“.⁵⁴⁷ Nietzsche hat den Adler, das Symbol der machtvollen Herrschaft des Gesetzes in einem ‚Reich‘, eines Gesetzes und eines Reichs in Konkurrenz mit anderen, zu Zarathustras vornehmstem Tier erkoren. Der Adler steht symbolisch für das Pathos, sich in erhabenen Abstraktionshöhen mit größtem Scharfblick über dem Alltag zu halten und von Zeit zu Zeit in das „Lamms-Schafs-Wohlwollen“ hineinzufahren:⁵⁴⁸ „Wer den Abgrund sieht, aber mit Adlers-Augen, wer mit Adlers-Krallen den Abgrund fasst: Der hat Muth.“⁵⁴⁹ Aber Nietzsche gab dem Adler die Schlange bei, die immer am Boden bleibt, es sei denn, der Adler trägt sie in die Höhe.⁵⁵⁰ Und zum  Zum Erhabenen oder der Selbsterhöhung, die im philosophischen Pathos liegen, vgl. Ansell Pearson, ‚Holding on to the Sublime‘, zum frühen Nietzsche, und Ansell Pearson, Nietzsche, the Sublime, and the Sublimities of Philosophy, zum mittleren Nietzsche.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Kap. , S. .  Vgl. Z IV Schwermuth , KSA . f.: „dem Adler gleich, der lange, / Lange starr in Abgründe blickt, / In seine Abgründe: – — / Oh wie sie sich hier hinab, / Hinunter, hinein, / In immer tiefere Tiefen ringeln! – / Dann, / Plötzlich, geraden Zugs, / Gezückten Flugs, / Auf Lämmer stossen, / Jach hinab, heisshungrig, / Nach Lämmern lüstern, / Gram allen Lamms-Seelen, / Grimmig-gram Allem, was blickt / Schafmässig, lammäugig, krauswollig, / Grau, mit Lamms-Schafs-Wohlwollen!“  Z IV Menschen , KSA ..  Zur mythologischen, allegorischen und sprichwörtlichen Tradition der Gesellung von Adler und Schlange – sie erscheinen zusammen u. a. in der Ilias und in Sophokles’ Antigone, im frühen Christentum siegt Christus in Gestalt des Adlers über den Teufel in Gestalt der Schlange – vgl.

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XII Orientierung über Orientierung

Schluss ließ er seinen Zarathustra bei einem Löwen ankommen, der noch häufiger als der Adler das Pathos politischer Herrschaft verkörperte, – jedoch bei einem lachenden Löwen.⁵⁵¹ Im Übrigen sind Zarathustras „Erlebnisse“, wie Enrico Müller gezeigt hat, „Pathos-Ereignisse, aus denen heraus ‚Themen‘ generiert werden“: „Handlung und Wort“ bleiben nachrangig „gegenüber einem nur noch ‚symbolisch‘ darstellbaren Pathos“; die ganze Figur des Zarathustra ist nicht nur pathetisch, sondern überdeutlich pathologisch angelegt.⁵⁵² Man kann die ganze zwischen Begriffen und Metaphern oszillierende Lehrdichtung, die Nietzsche zuletzt in den Mittelpunkt seines Werkes rückte, als Darstellung des Pathos seines Philosophierens verstehen. Und auch Platon hatte im Dialog Phaidros, der ebenfalls als sein zentrales Werk gelten kann, seinen Sokrates in einen pathetischpathologischen Zustand versetzt.⁵⁵³ Das sind höchste Spitzen des Pathetischen. Dennoch greift die für Nietzsches Denken maßgebende Formel vom ‚Pathos der Distanz‘ (Kap. V, 4.3; VI, 3.1; VIII, 8) für die Philosophie im Ganzen: Philosoph(inn)en, die je nach den Aufgaben und Problemen, denen sie sich stellen, untereinander ‚Rangordnungen‘ bilden (Kap. XI, 3), müssen miteinander keine gemeinsamen Begriffe haben, bleiben darin in Distanz zueinander. Was sie als Philosoph(inn)en aber gemeinsam haben und woran sie einander erkennen, ist ihr Pathos, ist der Wille, in einsamen Abstraktionshöhen zu denken und zu sprechen, um im Ganzen beschreiben zu können, was als Wirklichkeit gilt. Festgelegt weder auf eine Theorie noch ein System im hegelschen Sinn können ihre Beschreibungen sich über pragmatische und wissenschaftliche Grenzen hinaus erweitern und zum Unbeschreiblichen und Unbegreiflichen hinführen, (fast) alles bisher Selbstverständliche fraglich werden lassen. Wenn Nietzsche sein Philosophieren zuletzt eine „Umsetzung des Dionysischen in ein philosophisches Pathos“ nannte (EH GT 3), so mythisierte er mit ‚dem Dionysischen‘ diese Fraglichkeit und Entscheidbarkeit aller Unterscheidungen und Wertunterscheidungen. Sie beschränkt sich nicht auf Nietzsches eigenes Philosophieren; auch weniger radikale, aufs Ganze gehende Ansätze setzen Thatcher, Eagle and Serpent in Zarathustra. Indem Nietzsche Adler und Schlange zu Vertrauten machte, kehrte er die Tradition um.  Vgl. Acampora/Acampora (Hg.), A Nietzschean Bestiary. Vom Adler wird hier merkwürdigerweise nicht gehandelt.  Müller, Das Pathos Zarathustras,  f. u. : So „ringt Zarathustra oftmals mit seinen Gedanken wie mit einem Wahnsinn, er leidet körperlich an ihnen. Er kann tagelang schlafen, auf Essen und Trinken verzichten sowie mit Tieren sprechen. Im Wissen darum, was ihm jeweils bevorsteht, weint er bitterlich oder lacht übermenschlich, wird abwechselnd von Sehnsucht ergriffen, mit Verachtung erfüllt, von Schwermut übermannt oder Schüben depressiver Indifferenz heimgesucht.“  Vgl. Müller, Raum und Rede.

5 Das Pathos der Philosophie

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sie voraus. Dass die Philosophie den Mut zu dieser Entscheidbarkeit aller Unterscheidungen und Wertunterscheidungen hat, ist bezeichnend für ihr Pathos, aber auch für „das ausserordentliche Privilegium der Verantwortlichkeit“, das sie damit für sich beansprucht. Nietzsche sprach hier auch von „Gewissen“ (GM II 2). Wird damit neuerlich jener „vornehme Ton“ in der Philosophie erhoben, den Kant niederzukämpfen versucht hatte?⁵⁵⁴ Nein. Das philosophische Pathos ist wohl ‚vornehm‘ in Nietzsches (Kap. VI, 3.1; XI, 3), nicht aber in Kants Sinn, nach dem sich Vornehme schlicht der Mühe der Arbeit entziehen wollen, sich ihrer überhoben zu sein glauben. Auch Kant trug die „Arbeit“ seiner Kritik mit hohem Pathos vor, umso mehr, als er sich seiner Neuorientierung der Philosophie sehr sicher war und auch sein durfte, und Nietzsche setzte, wie dargestellt, für die ‚eigentlichen Philosophen‘ die strenge Aufarbeitung der Kritik voraus. Mit dem höheren Maß an Orientierungsfähigkeit oder, mit Nietzsches Begriff, an ‚Geistigkeit‘ beanspruchen die ‚eigentlichen Philosophen‘ keine besonderen, der Kritik nicht Stand haltenden Quellen der philosophischen Einsicht wie „intellectuelle Anschauung“, pythagoräisch-mathematische Spekulation, „höheres Gefühl“ und „Ahnung des Übersinnlichen“, mit denen „sein wollende Philosophen vornehm thun“ und die nach Kant den „Tod aller Philosophie“ bedeuten würden.⁵⁵⁵ Sie stellen lediglich auch in Frage, was Kant noch sicher schien, jene Voraussetzung einer allen gemeinsamen Vernunft und deren Fähigkeit zu definitiver Selbsteingrenzung. An der Vernunftkritik und der daraus neu zu gewinnenden Metaphysik hatte die Philosophie für Kant noch einen festen Inhalt, und Kant, so Derrida, „abstrahiert[e] niemals vom Inhalt“.⁵⁵⁶ Aber dieser Inhalt franste auch für ihn selbst schon aus, nicht nur darin, dass in der „allgemeinen Menschenvernunft […] ein jeder seine Stimme hat“⁵⁵⁷ und „sich seiner eigenen Vernunft zu bedienen“ habe,⁵⁵⁸ und darin, dass ein „gegebener“, nicht mathematisch „konstruierter“ Begriff niemals „zwischen sicheren Grenzen [steht]“, also auch der der Vernunft selbst nicht,⁵⁵⁹ sondern auch und vor allem darin, dass die ‚reine‘ Vernunft, wo

 Kant, Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, AA VIII,  – .  Kant, Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, AA VIII, , , , , .  Derrida, D’un ton apocalytique adopté naguère en philosophie, deutsch: Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie, .  Kant, KrV, A /B .  Kant, Was ist Aufklärung, AA VIII, . – Simon, Kant, legte, bisher wenig beachtet, von hier aus Kants Philosophie im Ganzen neu aus.  Kant, KrV, A /B . – Um es zu wiederholen (Kap. IV, ): Nach den Kriterien der Kritik der reinen Vernunft, nach denen alles Wirkliche sinnlich gegeben sein muss, kann man von der Vernunft selbst nicht sagen, sie sei wirklich. Ihr eigener Begriff steht nicht in sicheren Grenzen.

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XII Orientierung über Orientierung

immer sie sich auf die Welt bezieht, ein „Bedürfniß“ fühlt, „sich zu orientiren“. Sie ist dann, wie Kant einräumte, darauf angewiesen, sich, selbstbezüglich auch darin, „lediglich durch ihr eigenes Bedürfniß zu orientiren“, und muss mit dem „Recht [dieses] Bedürfnisses der Vernunft“, eines bloßen „Gefühls“, über die von ihr gesicherte „Einsicht“ hinausgehen. Damit zog, schon für Kant, nicht nur im ästhetischen Urteil „ein subjectives Princip“ in das „Führwahrhalten“ auch der Philosophie ein.⁵⁶⁰ Bei Nietzsche wurde daraus das komplexe Konzept der unvermeidlich subjektiven Rangordnung. Rechtfertigt das bloße Pathos des Philosophierens weiterhin Nietzsches Rede von ‚Befehlenden und Gesetzgebern‘? Ja. In ihrem Pathos nimmt oder gibt sich die Philosophie das Privileg, auch Fragen zu stellen, die sie nicht beantworten kann, sei es nur vorläufig nicht oder weil sie zeigen kann, dass sie gar nicht beantwortet werden können. Sie wird dadurch nicht überflüssig, sondern zeigt eben dadurch Grenzen der Einsicht an, an denen sich auch die Wissenschaften wieder orientieren können. Weil man aber auch jede wissenschaftliche Antwort wieder hinterfragen kann und hinterfragen können muss, wenn sie falsifizierbar sein soll, endet nicht nur alle Philosophie, sondern auch alle Wissenschaft irgendwo in Fragen ohne Antwort. Spricht eine Wissenschaft selbst davon, sagt man, sie werde ihrerseits ‚philosophisch‘, und das kann sie dann, je nach ihrem Anspruch an sich selbst, für ihren tiefsten Ernst oder für überflüssiges Gerede halten. Die Philosophie hat generell darauf bestanden und die Wissenschaftsgeschichte hat detailliert gezeigt, dass auch alle Legitimierungsinstanzen und Legitimierungsstrategien der Wissenschaften entscheidbar sind und die Wissenschaften dadurch in manchmal beflügelnde, manchmal sperrige philosophische Zonen geraten. Wenn, wie Nietzsche betont hat, der „Wille zum System“, zu einem Theorieaufbau, der vorgibt, auf ein unumstößliches Prinzip begründet zu sein, einen „Mangel an Rechtschaffenheit“ beweist (GD Sprüche 26; Kap. II, 3.2) – und darin scheinen heute immer mehr auch die Wissenschaften, einschließlich der Physik (Heisenberg) und der Mathematik (Gödel), einzustimmen –, dann ist das Prinzip, das bleibt, der Wille zur Entscheidung über die Prinzipien. Und solche Entscheidungen, die in schwindelnder Abstraktionshöhe getroffen werden müssen, haben wiederum ihr eigenes Pathos. Sind solche Entscheidungen aber einmal getroffen, werden sie zum ‚Gesetz‘, nach dem Wissenschaften bis auf weiteres arbeiten. Haben sie solche Entscheidungen fraglos von andern übernommen, nicht allein, aber auch von plausiblen philosophischen Orientierungen, wirken sie wie Befehle. Haben sie sie nach ihren eigenen Prämissen getroffen, wirken sie wie Selbstver-

 Kant, Was heißt: Sich im Denken orientiren?, AA VIII,  – , hier , , , ,  Fn,  Fn. – Vgl. Stegmaier, Philosophie der Orientierung,  – .

5 Das Pathos der Philosophie

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pflichtungen und als solche ebenfalls wie Befehle. Sofern die Philosophie ihnen das sichtbar und begreiflich macht, wird sie zum ‚Gesetzgeber‘, ob das bemerkt und anerkannt wird oder nicht. Heidegger hat das gerade im Blick auf Nietzsche gesehen. Der „Satz vom Widerspruch“, der Grundsatz der zweiwertigen Logik, sei in dessen Sinn ein „Befehl“, der aber erst als solcher erkannt wurde, als alternative Logiken denkbar wurden. „Die Bestandsicherung des menschlichen Lebens vollzieht sich demnach in einer Entscheidung darüber, was überhaupt als seiend gelten solle, was Sein heiße.“ Ihr „Grundakt“ sei eine „Perspektivengründung“. Darin spielten „Befehlen und Dichten“ zusammen, „Dichten“ so verstanden, dass im „grundlosen Gründen eines Grundes“ die „Freiheit“ „sich selbst das Gesetz ihres Wesens gibt“.⁵⁶¹ Nietzsche könnte, bei aller Distanz zu Wesensbegriffen, mit seinem hohen Pathos, das er als solches erkennbar gemacht hat, tatsächlich erkennbar gemacht haben, was Philosophie ‚eigentlich‘ ist und immer noch ist.

 Heidegger, Nietzsche, . – . – Die philosophische Gesetzgebung bei Nietzsche und ihre Verbindung mit dem Pathos ist seit langem Thema der Forschung. Djurić, Das philosophische Pathos, hat dargelegt, wie vom Pathos der Philosophie, das seit den Griechen bis zu Hegel ein Pathos des Staunens und ein Pathos für die Wahrheit gewesen sei, bei Nietzsche, dessen Zeitalter die Überzeugung gewonnen hatte, „daß wir die Wahrheit nicht haben“ (NL , [], KSA .), das bloße Pathos zurückblieb. Wenn Nietzsche in einem späten Notat schließlich das „‚Wirken‘“ der Willen zur Macht aufeinander „ein Pathos“ nannte, das auch der Unterscheidung von Sein und Werden noch vorausgehe als „die elementarste Thatsache, aus der sich erst ein Werden, ein Wirken ergiebt …“ (NL , [], KSA ./KGW IX/,W II , ), versuchte er das Pathos auch inhaltlich zur Grundbestimmung seiner Philosophie oder seines Philosophierens zu machen. Djurić hat offengelassen, was das für Nietzsche, die Philosophie überhaupt und für die gegenwärtige Philosophie bedeutet. Simon, Der Philosoph als Gesetzgeber, der es sich wie Friedrich Kaulbach zum erklärten Ziel machte, „mit Kants Hilfe der Schreibart Nietzsches den Eindruck des Schrillen und Irrationalen zu nehmen“ (), hat dann gezeigt, dass schon für Kant nach dem Fragwürdigwerden der Gesetze einer Natur an sich der Philosoph, der das bedachte, selbst zum „Gesetzgeber“ werden musste (). Während Kant jedoch noch eine allgemeingültige Gesetzlichkeit der Logik, des Rechts und der Natur vor Augen hatte, erweiterte Nietzsche zu seiner Zeit das philosophische Gesetzgeben zur „Setzung neuer Grundbegriffe um der weiteren Orientierung willen“ (), das hieß für ihn: zur Kunst, Gedanken zu herrschenden Gedanken machen: „Philosophie wird so zur Kunst, aus dem eigenen beschränkten Horizont heraus Bestimmungen so zu formulieren, daß sie als wesentliche einleuchten. Im individuellen Stil, nicht mehr im ‚Sein‘, aber auch nicht mehr allein in allgemeinen Gesetzen der Logik liegt nun die Quelle von Notwendigkeit.“ () Siemens, Nietzsche and the Temporality of (Self‐)Legislation, unterscheidet dann Typen von philosophischen Gesetzgebern bei Nietzsche (z. B. Schopenhauer, Wagner, Zarathustra) und verfolgt sie sein Werk hindurch. Gemeinsam sei ihnen, dass sie immer auch Selbstgesetzgeber sein müssten: „For Nietzsche, then, self-legislation is to be both the source of orientation and unifying power in modernity.“ ()

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XII Orientierung über Orientierung

6 Ununterscheidbarkeit von Philosophie und soziologischer Systemtheorie als Gesamtbeschreibungen von Beschreibungen der Wirklichkeit Als Luhmann sich gegen die Philosophie und für die Soziologie entschied – „Wir haben die Soziologie gewählt“ (WissG, 461) –, schlug er keinen Weg ein, der gegenüber der Philosophie enger begrenzt und bescheidener gewesen wäre. Er trieb seine Theorie seinerseits in nietzschesche Dimensionen, kündigte sie in seiner Antrittsvorlesung als „große Theorie“ an, die „der abrutschenden, universell werdenden Entlarvungsaufklärung“ – man darf im Blick auf Nietzsche wohl ergänzen: dem Nihilismus – „einen Gegenhalt bieten“ sollte, „letztlich durch die Art, wie sie der unfaßlichen Komplexität einer sozial kontingenten Welt entgegenarbeitet“ (SA, 68 f.). Und um die Soziologie seiner Zeit war es für Luhmann, wie er dann in seiner Abschiedsvorlesung deutlich machte, nicht viel anders bestellt als um die Philosophie, so wie er sie einschätzte. Die Beschreibungen ähneln sich stark: Das Fach Soziologie habe sich in den Gegensatz „einer positivistischen und einer kritischen Einstellung“ verrannt und sei darin ermattet (WF, 245); Theoriediskussionen fänden „überwiegend unter dem Vorzeichen der Postmoderne, also im Aufgreifen vergangener Positionen“ statt; man greife auf Klassiker zurück, deren „Zeitdiagnostik überholt“ sei und mit denen man sich vor allem beschäftige, weil „andere sich mit ihnen beschäftigen“; auf „die Einheit der Beschreibung der Gesellschaft, an der das Beschreiben selbst teilnimmt“, habe man resigniert verzichtet (WF, 246). Luhmann sah sich in Äquidistanz zur Philosophie und Soziologie. Dennoch wollte er sein Fach nicht ebenfalls zur „eigenen Abdankung“ auffordern, vielmehr dazu, seiner „Aufgabe“ gerecht zu werden, eine Gesamtbeschreibung der Gesellschaft zu liefern, die die Möglichkeit ihrer selbst einbeziehe. Dazu müsse sie radikal neue „theoretische Ressourcen“ entwickeln. Zu finden seien sie in der Systemtheorie, die auf die Differenz von System und Umwelt aufbaut und aus ihr aufschlussreiche Paradoxien gewinnt (WF, 254). Der Anspruch von Luhmanns soziologischer Systemtheorie war, aus philosophischer Sicht, in der Sache ein philosophischer: Mit der Selbstbeschreibung der Soziologie als „Teil einer weltaufklärenden Wirklichkeitswissenschaft“ (SA, 73) oder als „Theorie des Welt beschreibenden Gesellschaftssystems“ (GG, 1115) übernahm Luhmann die traditionelle Selbstbeschreibung der Philosophie (den Zusatz „Teil“ arbeitete er rasch ab). Er grenzte zwar die Soziologie auf das Funktionssystem Wissenschaft ein, in dem sie zum Subsystem eines Subsystems und Luhmanns eigene Systemtheorie noch einmal zu einem Subsystem wird. Als solche aber sollte sie alle Funktionssysteme in ihren Selbstbeschreibungen so beschreiben können, dass diese im Gesamtsystem der Kommunikation der Gesellschaft in ihren funktionalen Äquivalenzen vergleichbar und so zumindest in

6 Ununterscheidbarkeit von Philosophie und soziologischer Systemtheorie

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ihren Grundzügen nach einheitlichen Kriterien beschreibbar wurden. Luhmann gab dem Höhenflug von Hegels Eule (SS, 13, 661; Vorw.) oder nun von Nietzsches Adler einen neuen Kurs vor und wies mit zwar ironisch gebrochenem Pathos, aber nicht geringerer Entschiedenheit allen Funktionssystemen ihre Funktionen zu. Die Ausdifferenzierung der Funktionssysteme schloss systemtheoretisch jetzt wohl eine Gesamtsteuerung der Gesellschaft aus, die Nietzsche der Philosophie zugetraut hatte und die manche Ethiker ihr weiterhin zutrauen, nicht aber das alte Geschäft der Philosophie, den orientierenden Gesamtüberblick. In der Sache machte Luhmann, auch wenn er es nicht aussprach, darin ein „Übernahmeangebot“ an die Philosophie (MorG, 191; Kap. VIII, 8). Schon mit dem Titel seiner Münsteraner Antrittsvorlesung, „Soziologische Aufklärung“, stellte er sich bewusst in die bedeutendste Tradition der Philosophie der Moderne, um sie nun auf dem Weg ihrer „Abklärung“, den Verzicht auf die Prämisse einer allen gemeinsamen Vernunft, unter neuen Prämissen weiterzuführen. Die neuen Prämissen, die Entscheidungen für einen methodischen Immoralismus, für einen reflektierten Realismus der Beobachtbarkeit, für die Steigerung der Komplexität in Selbst- und Fremdbezügen der Beobachtung, für Evolution und Funktionalität, für Paradoxien als Denkmittel und, alles zusammengenommen, für Entscheidbarkeit überhaupt (Einl., 1), hatte schon Nietzsche erarbeitet, und Luhmann zog darin mit seiner Philosophie gleich. Philosophie, wie Nietzsche, und soziologische Systemtheorie, wie Luhmann sie betrieb, als sich selbst einbeziehende Gesamtbeschreibungen der Beschreibungen dessen, was als Wirklichkeit gilt, werden so in ihrem thematischen Ausgriff, in ihrem methodischen Zugang, in der Höhe ihrer Abstraktionen und im Pathos ihrer Selbstprivilegierungen ununterscheidbar. Auch in den Bedingungen, unter denen sie antreten: Wie die Philosophie muss die soziologische Systemtheorie ihre Begriffe als gegebene aufnehmen und mit ihren Konstruktionen an sie anschließen, um überhaupt etwas über die Welt sagen und darin verständlich sein zu können; was Kant in seiner Methodenlehre deutlich gemacht hat,⁵⁶² gilt auch für sie. Die soziologische Systemtheorie muss zwar, wenn sie als Wissenschaft soll auftreten können, auf Theorie bestehen; Luhmann behielt sich in seiner Theorie aber die philosophische Freiheit vor, den Begriff von Theorie auf sie selbst zuzuschneiden (Kap. III, 6). Und angesichts ihrer Abstraktionshöhe muss auch die soziologische Systemtheorie, wiewohl Teil der empirischen Disziplin der Soziologie, wie die Philosophie ohne durch Experimente beglaubigte Empirie auskommen: „Die ‚so ist es‘-Attitüde wird ersetzt durch ein Begriffsspiel, das an sich selber Halt findet.“ (GG, 1132) Da Luhmann anders als etwa sein Gegenspieler

 Kant, KrV, A /B .

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XII Orientierung über Orientierung

Habermas dem Fach Soziologie unbeirrt weiter zugehören wollte, reagierte das Fach unschlüssig: Seinerseits durch Luhmanns denkbar weit ausgreifende Gesellschaftstheorie in seinen Grundfesten beirrt, changierte es ihr gegenüber „zwischen Spott und Anerkennung“,⁵⁶³ wenn nicht mit Ausgrenzung – als bloßer Philosophie im wissenschaftlich abwertenden Sinn. Aus philosophischer Sicht kann sich Luhmanns Theorie in der Weite, Tiefe und Dichte ihres Aufklärungsanspruchs einerseits mit Hegels, andererseits mit Nietzsches Philosophie messen: mit der Hegels in ihrer strengen theoretischen Durchführung – „das müßte man können“, hatte Luhmann seine Hegel-Preis-Rede geschlossen (Pl, 48) –,⁵⁶⁴ mit der Nietzsches in ihrer fast unbegrenzten Bereitschaft zu Experimenten im Denken (Einl., 1; Kap. I, 3; III, 1; IV, 2; V, 3, 5; XI, 3). Hegels Philosophie wollte ihrerseits „Wissenschaft“ sein, nicht weniger als Luhmanns soziologische Systemtheorie, wenn auch noch unter anderen Prämissen, und bezog ebenfalls sich selbst in sich ein. Aber auch für Nietzsche blieb die Philosophie Wissenschaft, wurde nach der Neuentscheidung der philosophischen Prämissen nun aber eine ihre eigenen Grenzen überschreitende ‚fröhliche Wissenschaft‘, die sich nicht mehr auf einen vorgefassten Begriff von Theorie verpflichtete, sondern jeden Begriff und jede Theorie, wenn sie neue Experimente im Denken behinderten, in Frage stellte. Und so verfuhr auch Luhmann – anhand jener ‚inkongruenten Perspektiven‘, die er so sehr schätzte und mit denen für ihn stets der Name Nietzsches verbunden war, ohne dass er ihn immer nennen wollte (Einl., 2).

 Nassehi, Art. [Rezeption in der] Soziologie, .  Spaemann, Niklas Luhmanns Herausforderung der Philosophie, hätte in seiner Laudatio anlässlich der Verleihung des Hegel-Preises an Luhmann diesen angesichts „seiner ungewöhnlichen philosophischen und philosophiegeschichtlichen Bildung“, der „Unerbittlichkeit seiner Reflexion“ und der „Präzision und Tiefenschärfe seines begrifflichen Instrumentariums“ (Pl,  f.) gerne unter die Philosophen aufgenommen: „Durch seine reflektierte Universalität ist Luhmanns Anspruch dem der Philosophie verwandt.“ (Pl, ) Die Systemtheorie bleibe jedoch „Antiphilosophie“ – „wobei jede Antiphilosophie eines gewissen Ranges selbst Philosophie“ werde (Pl, ). Spaemann, seinerseits stark dem deutschen Idealismus und dem „alteuropäischen“ Verständnis von Philosophie verpflichtet, zog die Grenze dadurch, dass die Philosophie an „Abschlußgedanken“ hänge (Pl, ), was Luhmann gerne übernahm (GG, , s.o.). Doch die Grenzziehung ist zu einfach: Nietzsche und die, die ihm folgten, hingen nicht an Abschlussgedanken, und auch sie würden dann, vielleicht im Sinn Spaemanns, aus der Philosophie ausgeschlossen. Schließlich bot Spaemann, seinerseits Luhmanns Titel Paradigm lost aufgreifend, den vermittelnden Begriff eines neuen „Paradigmas“ an, in dem sich die Soziologie ebenso wie die Philosophie, beide voneinander lernend, neu formieren könnten (Pl, ). Das bleibt plausibel. Dem hatte sich wiederum Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, , widersetzt. Er wollte Luhmanns Theorie nur den Status einer „Metabiologie“ zugestehen und schloss sie so aus der Philosophie aus.

7 Wirkung von Beschreibungen als Orientierungen

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7 Wirkung von Beschreibungen als Orientierungen Gesamtbeschreibungen der Beschreibungen dessen, was als Wirklichkeit gilt, seien es philosophische oder gesellschaftstheoretische, haben immer wieder stark gewirkt. Sie müssen und können sich auch damit begnügen, die Welt und die Gesellschaft zu interpretieren: Sie verändern sie dadurch schon. Bei Luhmann heißt das: Wenn die Kommunikation einer Gesellschaftstheorie als Kommunikation gelingt, verändert sie die Beschreibung ihres Gegenstandes und damit den diese Beschreibung aufnehmenden Gegenstand. (GG, 15)

Eine Beschreibung verändert die Gesellschaft so weit, wie sie der Kommunikation der Gesellschaft durch neue Unterscheidungen neue Entscheidungen ermöglicht – sie umorientiert. Nietzsche scheint das vor Augen gehabt zu haben, wenn er notierte: Meine Aufgabe: die Menschheit zu Entschlüssen zu drängen, die über alle Zukunft entscheiden! ⁵⁶⁵

Er glaubte intensiv an die Wirkungskraft philosophischer Einsichten. Anders hätte er von seiner Aufdeckung des Nihilismus keine die europäischen Gesellschaft über Jahrzehnte und Jahrhunderte aufwühlende Krise erwarten können und auch nicht, dass ein Gedanke wie der der ewigen Wiederkehr des Gleichen ‚züchtend‘ wirken werde. Einsichten, philosophische ebenso wie gesellschaftstheoretische, wirken nur durch ihre Kommunikation. Ihre Kommunikation gelingt nach Nietzsche und Luhmann aber nicht ohne weiteres (Kap.VI). Da sie sich vorwiegend über Schriften verbreiten, sind sie nicht nur dem Wettbewerb auf einem anonymen Markt konkurrierender Orientierungsangebote ausgesetzt. In der Abwesenheit sowohl der Autor(inn)en als auch der Wirklichkeiten, die sie beschrieben haben, werden sie auch interpretationsbedürftig, und die Interpretationen kommen dann, wenn überhaupt, von Dritten mit ihren Spielräumen des Anders- oder Missverstehens. Die Beschreibungen der Autor(inn)en, die sich in ihren Situationen an Anhaltspunkte ihrer Wirklichkeiten hielten, werden ihrerseits Anhaltspunkte für andere Orientierungen in anderen Situationen. In der doppelten Kontingenz von Orientierungen aneinander wird die Wirkung auch der bestimmtesten Beschreibungen unberechenbar, und angesichts der Abstraktionshöhe philosophischer und ge-

 NL , [], KSA ..

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XII Orientierung über Orientierung

sellschaftstheoretischer Beschreibungen erweitern sich die Spielräume noch einmal. Keine der großen Beschreibungen ist darum auf kurze und lange Sicht so verstanden worden, wie ihre Autor(inn)en es sich gewünscht oder erwartet hatten. Nietzsche und Luhmann waren sich darüber im Klaren. Nietzsche versuchte dennoch gegenzusteuern. Den Zeilen „Meine Aufgabe: die Menschheit zu Entschlüssen zu drängen, die über alle Zukunft entscheiden!“ fügte er darum hinzu: „Höchste Geduld – Vorsicht – den Typus solcher Menschen zeigen, welche sich diese Aufgabe stellen dürfen!“⁵⁶⁶ Man kann den ‚Spielraum und Tummelplatz des Missverständnisses‘ einengen, wenn man in der Kommunikation hinreichende Erfahrungen miteinander gemacht hat und weiß, mit wem man es beim Gegenüber zu tun hat. Und man kann den Spielraum in jeder Kommunikationssituation weiter einengen, indem man, wo immer nötig, die zunächst gebrauchten Zeichen durch weitere Zeichen ergänzt und so die Spielräume der Zeichen durcheinander einschränkt. Dennoch bleiben stets Spielräume im Gebrauch der Zeichen, und so wuchs auch Nietzsches Sorge um das „Hat man mich verstanden?“, je bestimmter und entschiedener er gegen Ende seines Werkes sprach. Luhmann teilte diese Sorge sichtlich weniger. Offenbar glaubte er sich auf die wissenschaftliche Überzeugungskraft seiner Theorie wenigstens in der Wissenschaft verlassen zu können. Doch auch er stieß immer wieder auf massive Missverständnisse. Er führte, anders als Nietzsche,⁵⁶⁷ die Hauptstränge seiner Theorie in seinem integralen Hauptwerk Die Gesellschaft der Gesellschaft noch zusammen, nun mit den ‚Selbstbeschreibungen‘ als Orientierungs- und Zielpunkt. Ihr Verständnis sicherte er dadurch jedoch kaum. Stattdessen steigerte er die Komplexität seiner Theorie erneut und machte so die Orientierung über sie und an ihr für die meisten noch schwerer. Nietzsche mag auch deshalb auf ein vergleichbares Werk verzichtet haben.

8 Schluss: Orientierung als Einheit der Unterscheidung von Luhmanns Theorienähe und Nietzsches Theorieferne Diese Studie ging von der Vermutung aus, dass Nietzsche und Luhmann, so groß die Distanz zwischen ihnen scheint, doch von demselben handeln: von den Grundentscheidungen für eine Orientierung im Nihilismus. Methodisch versuchte sie, die Grundentscheidungen zu konturieren, indem sie Luhmanns und Nietzsches Ansätze aneinander spiegelte. Nach Luhmann bleibt alles Wissen und

 NL , [], KSA ..  Winteler, Nietzsches Antichrist als (ganze) Umwerthung aller Werthe.

8 Schluss: Orientierung als Einheit der Unterscheidung

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bleiben alle Werte im Letzten haltlos, einfach deshalb, weil sie durch Unterscheidungen zustande kommen, Unterscheidungen zwei Seiten haben und, wenn die eine Seite zur Bestimmung von etwas genutzt wird, immer die andere bleibt, um die Bestimmung wieder in Frage zu stellen. Nach Nietzsche steht hinter jeder Bestimmung, hinter jedem Wissen, hinter jedem Wert ein Fragezeichen, auch und gerade dann, wenn man sich seiner sicher zu sein glaubt. Letzte Garantien gibt es nicht, aber man braucht sie zur Orientierung auch nicht. Man kann sich auch im Nihilismus orientieren. Und nur im Verzicht auf letzte Garantien kann man in seiner Orientierung mit der Zeit gehen. Die Generierung von Sicherheit im Wissen und in Werten ist paradox, weil sie immer auch Unsicherheit generiert. Beide steigen zugleich, aber sie steigen. Man kann die Paradoxie der gleichzeitigen Steigerung von Sicherheit und Unsicherheit ignorieren. Man kann sie aber auch nutzen, indem man zur Einheit der jeweiligen Unterscheidung weitergeht (Kap. III, 4). Wir hatten es bei der Spiegelung der Ansätze Nietzsches und Luhmanns vor allem mit der Unterscheidung und Entscheidung zwischen Theorienähe (Luhmann) und Theorieferne (Nietzsche) zu tun. Wissenschaftlich kann die Unterscheidung und Entscheidung wieder nur durch Theorie getroffen werden. So verfuhr Luhmann, wenn er bei Nietzsche „theoretisch-hilflose Verlegenheit“ konstatierte (GG, 35; Einl., 2). Er machte die eigene Präferenz zum Ausschlusskriterium und folgte so dem, was er selbst „ScheideSemantik“ nannte: Er grenzte die Philosophie Nietzsches aus wie die Hellenen die Barbaren, die Christen die Heiden, die Zivilisierten die Wilden. Sie belegten, so Luhmann, die Sicht der anderen „mit Verachtung oder doch mit dem Siegel kosmischer Minderwertigkeit“ (GG, 956). Die andern kamen gar nicht in Frage. Aber Nietzsche war nicht hilflos gegenüber der Theorie. Er hatte sich in seinem frühen Werk ausführlich mit ihrer Funktion auseinandergesetzt und sich bewusst und mit guten Gründen im Folgenden gegen sie entschieden, ohne ihr Recht generell auszuschließen. So sah er an dieser Stelle mehr als Luhmann. Dennoch entwickelte er keine distinkte Begrifflichkeit, um die Einheit der Unterscheidung von Theorienähe und Theorieferne zu fassen. Durch Luhmann wurde die Formel vom ‚blinden Fleck‘ jeder Beobachtung berühmt. Er liege eben „in der Einheit der Unterscheidung, die einer Bezeichnung zugrundegelegt wird“ (WF, 257). Zur Überwindung von Luhmanns gegen Nietzsche gerichteter Scheide-Semantik haben wir auf den Begriff der Orientierung gesetzt: Er umfasst theoretische und nicht-theoretische Orientierung und lässt zugleich zwischen ihnen unterscheiden und entscheiden. Menschliche Orientierung kann sich von sich selbst distanzieren und theoretische Überblicksflüge in größte Abstraktionshöhen unternehmen. Aber sie bleibt dabei immer am Boden, an einen Standpunkt, eine Situation und deren Bedingungen gebunden. Sie kann sich durch Theorien begrenzen, die Begrenzungen aber auch wieder entgrenzen und

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XII Orientierung über Orientierung

neue Anhaltspunkte für neue Orientierungen und neue Theorien erkunden. Beide, Nietzsche und Luhmann, verfuhren so, der eine theorieferner, der andere theorienäher. Sie nutzten die Spielräume der Orientierung. Wenn sie die Beschreibungen von Beschreibungen der Wirklichkeit in einer Beobachtung zweiter Ordnung beschrieben, so wird die Philosophie der Orientierung als vergleichende Beschreibung ihrer Beschreibungen zu einer Beobachtung dritter Ordnung. Luhmann hat, wie diese Studie zeigte, die Unterscheidungen seiner Theorie regelmäßig auch mit dem Begriff der Orientierung verdeutlicht und ihn dazu vielfältig differenziert. Er hat die Funktionen und Funktionsweisen der Orientierung aber, von einem peripheren Passus abgesehen (SS, 363), nicht selbst zum Gegenstand seiner Theorie gemacht, auf den omnipräsenten Gebrauch der Orientierungsbegrifflichkeit in seiner Theorie nicht geachtet. Er beobachtete mit ihrer Hilfe, ohne sie selbst zu beobachten. So ist sie, nach seinem eigenen Kriterium, ein blinder Fleck seiner Beobachtungen und Beobachtungen von Beobachtungen. Nietzsche, der gerade die nicht-theoretischen Orientierungsmöglichkeiten beobachtete und erklärtermaßen eine Philosophie des Perspektivismus entwickelte, dabei aber auf den Begriff der Orientierung verzichtete, der ihm als Einheit auch seiner Unterscheidungen hätte dienen können, hielt sich stattdessen, darin bleibend von Schopenhauer geprägt, an große Einzelne. So blendete er seinerseits die Orientierungsmöglichkeiten ab, die die Theorie bietet. Denn die Theorie erreicht, wie seit Aristoteles bekannt, Einzelnes und Einzelne nicht. Aber man kann sich an ihnen, wie auch an Theorien, orientieren. Eine Philosophie der Orientierung kann die blinden Flecke beider, Luhmanns und Nietzsches, sichtbar machen und mit beiden weiterdenken.

Anhang Nachweise früherer Veröffentlichungen I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

XI.

XII.

In einer früheren Fassung teilweise veröffentlicht unter dem Titel „Wie leben wir mit dem Nihilismus? Nietzsches Nihilismus aus der Sicht einer aktuellen Philosophie der Orientierung“ in: Tijdschrift voor Filosofie  (),  – . In einer gekürzten Fassung veröffentlicht unter dem Titel „Die Wirklichkeit der Orientierung. Perspektivität und Realität nach Nietzsche und Luhmann“ in: Nietzscheforschung  (),  – . In einer erweiterten Fassung veröffentlicht unter demselben Titel „Orientierung an der Zeit: Logik, Paradoxie und Theorie nach Nietzsche und nach Luhmann“ in: Nietzsche-Studien  (),  – . In einer früheren ins Englische übersetzten Fassung veröffentlicht unter dem Titel „Subjects as Temporal Clues to Orientation: Nietzsche and Luhmann on Subjectivity“, übers. v. Bartholomew Ryan and João Constâncio, in: João Constâncio/Maria João Mayer Branco/ Bartholomew Ryan (Hg.), Nietzsche and the Problem of Subjectivity, Berlin/Boston ,  – . In einer früheren und anders ausgerichteten Kurzfassung veröffentlicht unter dem Titel „Orientierung an Menschen. Zur Kritik der Anthropologie“, in: Oliver Müller/Giovanni Maio (Hg.), Orientierung am Menschen. Anthropologische Konzeptionen und normative Perspektiven, Göttingen ,  – . In zwei Teilen unter den Titeln „Verständigung unter Orientierungen nach Nietzsche und Luhmann“ und „,… ich habe Einsamkeit nöthig …‘ Kunst der Kommunikation als Lebenskunst des Einsamen“ teilweise zweitveröffentlicht in: TEORIA, Sonderheft „Beziehung und Intersubjektivität“ , hg. von Adriano Fabris,  – , und in: Günter Gödde/Jörg Zirfas (Hg.), Nietzsche und die Lebenskunst. Ein philosophisch-psychologisches Handbuch, Stuttgart/ Weimar  (im Erscheinen). Frühere, anders ausgerichtete Fassung zur Veröffentlichung vorgesehen unter dem Titel „Orientierungsmittel. Wissen nach Nietzsche, Luhmann und Abel“ für: Ulrich Dirks/Astrid Wagner (Hg.), Abel im Dialog, Berlin/Boston, in Vorbereitung für . Frühere, thematisch anders orientierte Fassung veröffentlicht unter dem Titel „Rang und Reputation. Zur Theoretisierbarkeit der Persönlichkeit“ in: Christian Benne/Enrico Müller (Hg.), Ohnmacht des Subjekts – Macht der Persönlichkeit, Basel ,  – . Frühere, thematisch anders orientierte Fassung veröffentlicht unter dem Titel „Nietzsches Hoffnungen auf die Philosophie und die Gegenwart“ in: Marcus Andreas Born/Axel Pichler (Hg.), Texturen des Denkens. Nietzsches Inszenierung der Philosophie in Jenseits von Gut und Böse, Berlin/Boston ,  – .

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Anhang

Literaturverzeichnis Schriften Nietzsches und Luhmanns Nietzsches Schriften werden zitiert nach: Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München/Berlin/New York 1980 [= KSA], darüber hinaus nach Friedrich Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/New York 1967 ff. [= KGW]. Seit  wird der Nachlass des späten Nietzsche aus den Jahren  bis  (KGW VII und VIII bzw. KSA, Bd.  – ) als zusätzliche Abteilung IX der KGW von Marie-Luise Haase und anderen herausgegeben [= KGW IX]. Montinari hatte Nietzsches oft immer wieder korrigierte Varianten der Notate zugunsten ihrer leichteren Lesbarkeit als glatt lesbare Texte wiedergegeben, die so nicht existieren. Wir greifen daher, wo die Notate bereits ediert sind (Stand Ende ), auf die differenzierte Transkription der Notizhefte in der KGW IX zurück (die Mappen sind noch nicht neu ediert). Die dort kenntlich gemachten Streichungen werden als solche angeführt, die nachträglichen Einfügungen in geschwungene Klammern gesetzt, Unterstreichungen als Kursivierungen wiedergegeben. Für Nietzsches Schriften (in chronologischer Reihenfolge nach ihrem Entstehungs- bzw. Ersterscheinungsjahr) werden folgenden Siglen verwendet: ZA GT PHG WL UB UB I UB II UB III UB IV MA I MA II VM WS M FW Z JGB GM GD WA AC

Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne Unzeitgemässe Betrachtungen David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben Schopenhauer als Erzieher Richard Wagner in Bayreuth Menschliches, Allzumenschliches. Erster Band Menschliches, Allzumenschliches. Zweiter Band Vermischte Meinungen und Sprüche Der Wanderer und sein Schatten Morgenröthe Die fröhliche Wissenschaft (FW I–IV , FW I–V ) Also sprach Zarathustra Jenseits von Gut und Böse Zur Genealogie der Moral Götzen-Dämmerung Der Fall Wagner Der Antichrist

Literaturverzeichnis

EH NW NL

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Ecce homo Nietzsche contra Wagner Nachgelassene Notate

Bloße Flexionsangleichungen werden nicht angezeigt, auch nicht in Luhmann-Zitaten. Luhmanns Schriften werden nach den bisher erschienenen Einzelausgaben, Aufsätze nach den Sammelbänden zitiert, in die Luhmann oder andere sie aufgenommen haben. Ihre Titel werden nach folgenden Siglen abgekürzt (in chronologischer Reihenfolge nach dem Ersterscheinungsjahr der Schriften): Veröffentlichungen zu Lebzeiten: FFfO Funktionen und Folgen formaler Organisation [Berlin ], . Aufl. mit einem Epilog , Berlin . GI Grundrechte als Institution. Ein Beitrag zur politischen Soziologie [Berlin ], . Aufl. . SA Soziologische Aufklärung [], in: N.L., Soziologische Aufklärung : Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, Opladen ,  – . ReflMech Reflexive Mechanismen [], in: N.L., Soziologische Aufklärung : Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, Opladen ,  – . KnZ Die Knappheit der Zeit und die Vordringlichkeit des Befristeten [], in: N.L., Politische Planung. Aufsätze zur Soziologie von Politik und Verwaltung [Opladen ], . Aufl. ,  – . SstW Selbststeuerung der Wissenschaft [], in: N.L., Soziologische Aufklärung : Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, Opladen ,  – . ZuS Zweckbegriff und Systemrationalität. Über die Funktion von Zwecken in sozialen Systemen [Tübingen ], Neudruck Frankfurt am Main . NsP Normen in soziologischer Perspektive [], in: N.L., Die Moral der Gesellschaft, hg. v. Detlef Horster, Frankfurt am Main ,  – . Ve Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität [Stuttgart ], . Aufl. Stuttgart . LdV Legitimation durch Verfahren [Neuwied ], Neudruck der . Aufl.  Frankfurt am Main . SpS Soziologie des politischen Systems, in: N.L., Soziologische Aufklärung : Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, Opladen ,  – . TGS Jürgen Habermas/Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung?, Frankfurt am Main . SGS Sinn als Grundbegriff der Soziologie, in: Jürgen Habermas/Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung?, Frankfurt am Main ,  – . KuD Komplexität und Demokratie, in: N.L., Politische Planung. Aufsätze zur Soziologie von Politik und Verwaltung [], . Aufl., Wiesbaden ,  – . Wg Die Weltgesellschaft [], in: N.L., Soziologische Aufklärung : Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Opladen ,  – .

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Anhang

Art. Funktion IV, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. , Basel/Darmstadt ,  f. Art. Funktionalismus, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. , Basel/ Darmstadt , . Weltzeit und Systemgeschichte. Über Beziehungen zwischen Zeithorizonten und sozialen Strukturen gesellschaftlicher Systeme [], in: N.L., Soziologische Aufklärung : Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Opladen ,  – . Das Phänomen des Gewissens und die normative Selbstbestimmung der Persönlichkeit, in: Franz Böckle/Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hg.), Naturrecht in der Kritik, Mainz ,  – . Macht [Stuttgart ], . Aufl. Stuttgart . Interaktion, Organisation, Gesellschaft. Anwendungen der Systemtheorie, in: N.L., Soziologische Aufklärung : Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Opladen ,  – . Systemtheorie, Evolutionstheorie und Kommunikationstheorie [], in: N.L., Soziologische Aufklärung : Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Opladen ,  – . Komplexität, in: N.L., Soziologische Aufklärung : Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Opladen ,  – . Art. Komplexität, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. , Basel/Darmstadt ,  – . Soziologie der Moral, in: N.L./Stephan H. Pfürtner (Hg.), Theorietechnik und Moral, Frankfurt am Main ,  – . [Wiederabgedruckt in: N.L., Die Moral der Gesellschaft, hg. v. Detlef Horster, Frankfurt am Main ,  – .] Zeit und Handlung. Eine vergessene Theorie [], in: N.L., Soziologische Aufklärung : Soziales System, Gesellschaft, Organisation, Opladen ,  – . Temporalstrukturen des Handlungssystems: Zum Zusammenhang von Handlungsund Systemtheorie [], in: N.L., Soziologische Aufklärung : Soziales System, Gesellschaft, Organisation, Opladen ,  – . Interaktion in Oberschichten. Zur Transformation ihrer Semantik im . und . Jahrhundert, in: N.L., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. , Frankfurt am Main ,  – . Frühneuzeitliche Anthropologie. Theorietechnische Lösungen für ein Evolutionsproblem der Gesellschaft, in: N.L., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. , Frankfurt am Main ,  – . Temporalisierung von Komplexität: Zur Semantik neuzeitlicher Zeitbegriffe, in: N.L., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. , Frankfurt am Main ,  – . Selbstreferenz und binäre Schematisierung, in: N.L., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. , Frankfurt am Main ,  – . Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, München . Wie ist soziale Ordnung möglich?, in: N.L., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. , Frankfurt am Main ,  – . Ist Kunst codierbar?, in: N.L., Soziologische Aufklärung : Soziales System, Gesellschaft, Organisation, Opladen ,  – . [Wiederabgedruckt in: N.L., Aufsätze und Reden, hg. v. Oliver Jahraus, Stuttgart ,  – .]

Literaturverzeichnis

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407

Zur Ausdifferenzierung von Erkenntnisgewinn. Zur Genese von Wissenschaft [unveröffentlichter Entwurf von ], in: N.L., Ideenevolution. Beiträge zur Wissenssoziologie, hg. v. André Kieserling, Frankfurt am Main ,  – . Gesellschaftliche Grundlagen der Macht: Steigerung und Verteilung [], in: N.L., Soziologische Aufklärung : Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, Opladen ,  – . Zwei Quellen der Bürokratisierung in Hochschulen [], in: N.L., Soziologische Aufklärung : Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, Wiesbaden ,  – . Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt am Main . Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main . Die Soziologie und der Mensch [], in: N.L., Soziologische Aufklärung, Bd. : Die Soziologie und der Mensch, Opladen ,  – . Partizipation und Legitimation: Die Ideen und die Erfahrungen [], in: N.L., Soziologische Aufklärung : Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, Wiesbaden ,  – . Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? [Opladen ], . Aufl. . Die Lebenswelt – nach Rücksprache mit den Phänomenologen, in: Archiv für Rechtsund Sozialphilosophie  (),  – , wiederabgedruckt in und zitiert nach: Gerhard Preyer/Georg Peter/Alexander Ulfig (Hg.), Protosoziologie im Kontext. „Lebenswelt“ und „System“ in Philosophie und Soziologie, Würzburg ,  – . Die Zukunft der Demokratie [], in: N.L., Soziologische Aufklärung : Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, Wiesbaden ,  – . Systeme verstehen Systeme [], in: N.L., Schriften zur Pädagogik, hg. von Dieter Lenzen, Frankfurt am Main ,  – . Tautologie und Paradox in den Selbstbeschreibungen der modernen Gesellschaft [], in: N.L., Protest. Systemtheorie und soziale Bewegungen, hg. u. eingeleitet v. Kai-Uwe Hellmann, Frankfurt am Main ,  – . Enttäuschungen und Hoffnungen. Zur Zukunft der Demokratie, in: N.L., Soziologische Aufklärung : Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, Wiesbaden ,  – . Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in: N.L., Soziologische Aufklärung : Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, Wiesbaden ,  – . Was ist Kommunikation? Vortrag auf dem Symposium „Lebende Systeme. Konstruktion und Veränderung von Wirklichkeiten und ihre Relevanz für die systemische Therapie vom ..–. . , Heidelberg, abgedruckt in: Information Philosophie, März , wiederabgedruckt und zitiert nach: N.L., Soziologische Aufklärung, Bd. : Die Soziologie und der Mensch, Opladen ,  – . [Wiederabgedruckt in: N.L., Short Cuts, hg. v. Peter Gente/Heidi Paris/Martin Weinmann, Frankfurt am Main (Zweitausendeins) ,  – .] Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt? [], in: N.L., Soziologische Aufklärung, Bd. : Die Soziologie und der Mensch, Opladen ,  – .

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Anhang

Erkenntnis als Konstruktion [Bern: Benteli ], wieder abgedruckt und zitiert nach: N.L., Aufsätze und Reden, hg. v. Oliver Jahraus, Stuttgart ,  – . Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main . Geheimnis, Zeit und Ewigkeit, in: N.L./Peter Fuchs, Reden und Schweigen, Frankfurt am Main ,  – . Staat und Staatsräson im Übergang von traditionaler Herrschaft zu moderner Politik, in: N.L., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. , Frankfurt am Main , –. Individuum, Individualität, Individualismus, in: N.L., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. , Frankfurt am Main ,  – . Theorie der politischen Opposition, in: Zeitschrift für Politik  (),  – . Ethik als Reflexionstheorie der Moral, in: N.L., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. , Frankfurt am Main ,  – . [Wiederabgedruckt in: N.L., Die Moral der Gesellschaft, hg. v. Detlef Horster, Frankfurt am Main ,  – .] Paradigm lost: Über die ethische Reflexion der Moral. Rede von Niklas Luhmann anläßlich der Verleihung des Hegel-Preises , Frankfurt am Main . Rationalität in der modernen Gesellschaft [um ], in: Ideenevolution. Beiträge zur Wissenssoziologie, hg. v. André Kieserling, Frankfurt am Main ,  – . Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main . Das Erkenntnisprogramm des Konstruktivismus und die unbekannt bleibende Realität, in: N.L., Soziologische Aufklärung, Bd. : Konstruktivistische Perspektiven, Opladen ,  – . Haltlose Komplexität, in: N.L., Soziologische Aufklärung : Konstruktivistische Perspektiven, Opladen ,  – . Gleichzeitigkeit und Synchronisation, in: N.L., Soziologische Aufklärung, Bd. : Konstruktivistische Perspektiven, Opladen ,  – . Ich sehe, was Du nicht siehst, in: N.L., Soziologische Aufklärung, Bd. : Konstruktivistische Perspektiven, Opladen ,  – . Soziologie des Risikos, Berlin/New York . Verständigung über Risiken und Gefahren. Hilft Moral bei der Konsensfindung?, in: Das Problem der Verständigung. Ökologische Kommunikation und Risikodiskurs. Neue Strategien der Unternehmenskultur, Tagungsband, . November , hg. vom Gottlieb-Duttweiler-Institut für Wirtschaftliche und Soziale Studien, Rüschlikon ,  – , wiederabgedruckt in und zitiert nach: N.L., Die Moral der Gesellschaft, hg. v. Detlef Horster, Frankfurt am Main ,  – . Politik und Moral. Zum Beitrag von Otfried Höffe [Otfried Höffe, Eine entmoralisierte Moral: Zur Ethik der modernen Politik, in: Politische Vierteljahresschrift . (),  – ], in: Politische Vierteljahresschrift . (),  – . Sthenographie und Euryalistik, in: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.), Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, Frankfurt am Main ,  – . Beobachtungen der Moderne, Opladen . Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt am Main . Die Ehrlichkeit der Politiker und die höhere Amoralität der Politik, in: Peter Kemper (Hg.), Opfer der Macht: Müssen Politiker ehrlich sein?, Frankfurt am Main ,  – , wiederabgedruckt in und zitiert nach: N.L., Die Moral der Gesellschaft, hg. v. Detlef Horster, Frankfurt am Main ,  – .

Literaturverzeichnis

MRRM

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PF WF DBzO

GpsS TüS PMr

IuE ÜN KhB BvI MdS SozW RdM P NWPh ORe

PDM

GG

409

Die Moral des Risikos und das Risiko der Moral, in: Gotthard Bechmann (Hg.), Risiko und Gesellschaft: Grundlagen und Ergebnisse interdisziplinärer Risikoforschung, Opladen ,  – , wiederabgedruckt in und zitiert nach: N.L., Die Moral der Gesellschaft, hg. v. Detlef Horster, Frankfurt am Main ,  – . Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen?, Heidelberg , wiederabgedruckt in und zitiert nach: N.L., Die Moral der Gesellschaft, hg. v. Detlef Horster, Frankfurt am Main ,  – . Die Paradoxie der Form, in: Dirk Baecker (Hg.), Kalkül der Form, Frankfurt am Main ,  – . ‚Was ist der Fall?‘ und ‚Was steckt dahinter?‘ Die zwei Soziologien und die Gesellschaftstheorie, in: Zeitschrift für Soziologie . (),  – . Dekonstruktion als Beobachtung zweiter Ordnung, in: N.L., Aufsätze und Reden, hg. v. Oliver Jahraus, Stuttgart ,  – . [Im Orig.: Deconstruction as SecondOrder Observing, in: New Literary History  (),  – .] Die operative Geschlossenheit psychischer und sozialer Systeme, in: N.L., Soziologische Aufklärung : Die Soziologie und der Mensch, Opladen ,  – . Die Tücke des Subjekts und die Frage nach dem Menschen, in: N.L., Soziologische Aufklärung : Die Soziologie und der Mensch, Opladen ,  – . Das Paradox der Menschenrechte und drei Formen seiner Entfaltung, in: N.L., Soziologische Aufklärung, Bd. : Die Soziologie und der Mensch, Frankfurt am Main ,  – . Inklusion und Exklusion, in: N.L., Soziologische Aufklärung, Bd. : Die Soziologie und der Mensch, Frankfurt am Main ,  – . Über Natur, in: N.L., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. , Frankfurt am Main ,  – . Kultur als historischer Begriff, in: N.L., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. , Frankfurt am Main ,  – . Die Behandlung von Irritationen: Abweichung oder Neuheit, in: N.L., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. , Frankfurt am Main ,  – . Metamorphosen des Staates, in: N.L., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. , Frankfurt am Main ,  – . Die Soziologie des Wissens: Probleme ihrer theoretischen Konstruktion, in: N.L., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. , Frankfurt am Main ,  – . Die Realität der Massenmedien, ., erweiterte Aufl. Opladen . Protest. Systemtheorie und soziale Bewegungen, hg. und eingel. von Kai-Uwe Hellmann, Frankfurt am Main . Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie, Wien . Observing Re-entries, in: Gerhard Preyer/Georg Peter/Alexander Ulfig (Hg.), Protosoziologie im Kontext. „Lebenswelt“ und „System“ in Philosophie und Soziologie, Würzburg ,  – . Politik, Demokratie, Moral, in: Konferenz der deutschen Akademien der Wissenschaften (Hg.), Normen, Ethik und Gesellschaft, Mainz ,  – , wiederabgedruckt in und zitiert nach: N.L., Die Moral der Gesellschaft, hg. v. Detlef Horster, Frankfurt am Main ,  – . Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main .

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Postume Veröffentlichungen: ÖffD Öffentliche Meinung und Demokratie, in: Rudolf Maresch/Niels Werber (Hg.), Kommunikation – Medien – Macht, Frankfurt am Main ,  – . OuE Organisation und Entscheidung [Wiesbaden ], . Aufl. . PolG Die Politik der Gesellschaft, hg. v. André Kieserling, Frankfurt am Main . RelG Die Religion der Gesellschaft, hg. v. André Kieserling, Frankfurt am Main . RzK Die Rückgabe des zwölften Kamels. Zum Sinn einer soziologischen Analyse des Rechts, in: Gunther Teubner (Hg.), Die Rückgabe des zwölften Kamels. Niklas Luhmann in der Diskussion über Gerechtigkeit, Stuttgart ,  – . ES Einführung in die Systemtheorie, hg. v. Dirk Baecker, Heidelberg . ErzG Das Erziehungssystem der Gesellschaft, hg. v. Dieter Lenzen, Frankfurt am Main . IE Ideenevolution. Beiträge zur Wissenssoziologie, hg. v. André Kieserling, Frankfurt am Main . MorG Die Moral der Gesellschaft, hg. v. Detlef Horster, Frankfurt am Main . PolSoz Politische Soziologie, hg. v. André Kieserling, Frankfurt am Main . MiS Niklas Luhmann, Macht im System, hg. v. André Kieserling, Berlin . Aufsatzsammlungen: PolPl Politische Planung. Aufsätze zur Soziologie von Politik und Verwaltung, Opladen . SozA Soziologische Aufklärung, Bd.  – , Opladen  – . GS Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd.  – , Frankfurt am Main  – . Interviews, Gespräche, Vorträge, Zeitungsartikel, Erinnerungen Auw Archimedes und wir. Interviews, hg. v. Dirk Baecker und Georg Stanitzek, Berlin . EaL „Gibt es eigentlich den Berliner Zoo noch?“ Erinnerungen an Niklas Luhmann, hg. v. Theodor M. Bardmann und Dirk Baecker, Konstanz . SC Short Cuts, hg. v. Peter Gente, Heidi Paris und Martin Weinmann, Frankfurt am Main . LG Warum haben Sie keinen Fernseher, Herr Luhmann? Letzte Gespräche mit Niklas Luhmann, hg. v. Wolfgang Hagen, Berlin . VlG Was tun, Herr Luhmann. Vorletzte Gespräche mit Niklas Luhmann, hg. v. Wolfgang Hagen, Berlin . NuG Wie halten Sie’s mit den Außerirdischen, Herr Luhmann? Nicht unmerkwürdige Gespräche mit Niklas Luhmann, hg. v. Klaus Dammann, Berlin .

Weitere Quellen Gorgias von Leontinoi, Reden, Fragmente und Testimonien. Griechisch/Deutsch, hg. v. Thomas Buchheim, Hamburg 1989. Aristoteles, Scriptorum Classicorum Bibliotheca Oxoniensis: Met.: Aristotelis Metaphysica, ed. W. Jaeger, Oxford , Phys.: Aristotelis Physica, ed. W.D. Ross, Oxford , Pol.: Aristotelis Politica, ed. W.D. Ross, Oxford .

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Personenregister Aufgeführt werden nur im Haupttext und in den Fußnoten erwähnte Autor(inn)en, jedoch nicht Herausgeber(innen) und Briefempfänger(innen), und unter den Autor(inn)en nicht Nietzsche und Luhmann. Abel, Günter 201, 203, 216 Agamben, Giorgio 301 Allport, Gordon W. 352 f. Anders, Anni 96 Andreas-Salomé, Lou 32 Ansell-Pearson, Keith 292 Anselm von Canterbury 355 Anter, Andreas 205, 273, 276, 281 Arendt, Hannah 280 Aristoteles 5, 8, 10 f., 22 f., 64, 68, 93 – 97, 101, 103 f., 107, 109, 112, 121, 142, 164, 209, 236, 295, 297, 338, 380, 382, 402 Arndt, Ernst Moritz 357 Austin, John L. 189 Babich, Babette E. 213 Baecker, Dirk 174 Bagehot, Walter 304 Baier, Horst 12, 18, 383 Balibar, Étienne 122, 133 Balke, Friedrich 292 Barel, Yves 109 Bataille, Georges 19, 133 Bateson, Gregory 104, 188, 381 Baudelaire, Charles 304 Beelmann, Axel 123 Bertino, Andrea Christian 96, 102, 130, 160, 167, 201 Beyme, Klaus von 306, 328 Bien, Günter 297 Bismarck, Otto Fürst von 338, 367 Bittner, Rüdiger 216 Blumenberg, Hans 63, 123 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 305 Bolz, Norbert 19 Bonaparte, Napoléon 167, 338 Born, Marcus Andreas 34 Borsche, Tilman 201 Braatz, Kurt 332 Brendel, Elke 108

Brobjer, Thomas H. 302, 314, 343 Brock, Eike 33 f. Brusotti, Marco 342 Buchheim, Thomas 29, 93 Buchstein, Hubertus 302, 306 Bühler, Karl 189 Burckhardt, Jacob 237, 276, 303 Burkard, Franz-Peter 108 Burke, Kenneth 16 f. Burnham, Douglas 33 Cassin, Barbara 122, 133 Cassirer, Ernst IX Cicero, Marcus Tullius 295 Claesges, Ulrich 123 Clairmont, Heinrich 123 Clam, Jean 19, 109, 120 Clark, Maudemarie 216, 220 Cobben, Paul 352 Comte, Auguste 383 Conant, James 70 Connolly, William E. 327, 344 Constâncio, João 40, 132 Cosmann, Peggy 123 Czerwick, Edwin 302, 319, 328 f. Deleuze, Gilles 37 Dellinger, Jakob 64, 71, 86, 219 f., 345 Derrida, Jacques IX, 13, 15, 26 f., 109, 111, 122, 297, 299, 301, 319, 381, 388, 390, 393 Descartes, René IX, 4, 7, 9, 44, 56, 65 f., 68, 95, 106, 122, 124 f., 128, 130, 134 – 136, 139, 165, 212, 380 Dierse, Ulrich 351 – 353, 357 Dixsaut, Monique 114 Djurić, Mihailo 395 Dockstader, Nels 66 Dreisholtkamp, Uwe 123 Drochon, Hugo 302, 327

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Personenregister

Dühring, Eugen XI, 259 Dunlop, Frank W. 352 Dziewas, Ralf 147 Elberfeld, Rolf 307 Elias, Norbert 328, 341 Elling, Elmar 123 Erb, Maurice 149, 292 Esposito, Elena 107 Faber, Karl-Georg 279 Fichte, Johann Gottlieb 30, 352, 363, 380 Fietz, Rudolf 182 Figl, Johann 160 Fischer, Joachim 143 Fischer, Klaus 212 Flaig, Egon 296 f. Flaubert, Gustave 304 Förster, Heinz von 381 Förster-Nietzsche, Elisabeth 34 Foucault, Michel 25 f., 122, 142, 149, 272 f., 280, 288, 290 – 292 Forschner, Maximilian 239 Freud, Sigmund 13, 16, 166 Friedrich II. von Preußen 387 Fuchs, Peter 79, 109 Galtung, Johan 239 García, André Luiz Muniz 181 Garfinkel, Harold 91 Gasser, Reinhard 166 Gehlen, Arnold 143, 146, 159, 286 Geisenhanslücke, Achim 143 Gemes, Ken 216 Gerhardt, Volker 187, 278, 280 Giegel, Hans-Joachim 346 f. Gillespie, Michael Allen 159 Glockner, Hermann 352 Göbel, Andreas 302 Gödel, Kurt 116, 394 Goetz, Rainald 3 Goethe, Johann Wolfgang von 167, 223, 351 f. Goffman, Erving 346 Gorgias von Leontinoi 28, 30, 32 Gregorio, Giuliana 33 Grizelj, Mario 183 Goedert, Georges 128

Grau, Gerd-Günther 198 Graumann, Carl Friedrich 351 – 353, 357 Günther, Gotthard 64, 208, 268, 381 Gutmann, Thomas 292 Haas, Gerrit 88 Habermas, Jürgen 18, 122, 184, 237, 252, 266, 381, 389, 391, 398 Hahn, Alois 89, 175 Halbfass, W. 123 Hales, Steven D. 216 Hamann, Johann Georg 201 Han, Byung-Chul 273 Hartmann, Eduard von 357 Hatab, Lawrence J. 327 Havemann, Daniel 186 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich IX-XII, 25, 29 f., 32, 43, 67 f., 74, 83, 95, 105, 124, 201, 261, 351 – 359, 362 f., 375, 378, 380 – 382, 387, 390, 392, 395, 397 f. Heidegger, Martin 13, 15, 19, 29 f., 33 f., 39, 83, 115, 128, 132, 141, 171, 205, 256, 260, 273, 388 – 390, 395 Heimsoeth, Heinz 158 Heisenberg, Werner 394 Heit, Helmut 130, 216 Hellmann, Kai-Uwe 302 Herder, Johann Gottfried 160, 201 Hesiod 93 Hobbes, Thomas 298, 304 Höffe, Otfried 187, Hoffmann, Thomas Sören 149, 354, 356 Hölscher, Uvo 29 Hölscher, Thomas 61, 104 – 106, 111 Homer 93, 385, 391 Hösle, Vittorio 354 Honneth, Axel 292 Horn, Annette 166 Horster, Detlef 19, 238, 305 Hübner, Dietmar 12 Hügli, Anton 256 Humboldt, Wilhelm von 201, 351 Husserl, Edmund IX, XII, 13, 16, 46, 105, 122, 135, 145, 199, 381 f. Jacobi, Friedrich Heinrich 30, 48, 363 James, William 145

Personenregister

Jaspers, Karl 180, 386 Jesus Christus 167, 185 f., 333, 391 Joas, Hans 260 f. Jonas, Hans 266 Johnson, Dirk Robert 68 Jolly, Julius 192 Jullien, François 195 Kagan, Donald 343 Kannetzky, Frank 108 Kant, Immanuel IX, 6, 29 f., 45 – 48, 56, 67 f., 76 f., 83, 91, 95 f., 101, 103 f., 111, 121 – 123, 125 – 129, 133 – 135, 141 f., 159, 164, 184, 201 f., 222, 251 f., 261, 265, 310, 351, 380, 382, 387 f., 390, 393 – 395, 397 Karskens, Michael 123 Kaulbach, Friedrich 67, 395 Kerger, Henry 18 Kible, Brigitte 123 Klowski, Joachim 93 f. Knebel, Sven K. 123 Kobusch, Theo 51 König, Gert 66 Körnig, Stephan 18, 204 Köselitz, Heinrich (alias Peter Gast) 34 Krämer, Sybille 183 Kraus, Manfred 29, 93 Krause, Detlef 11 Kremer, Klaus 66 Kuhn, Elisabeth 34, 198 Lampl, Hans Erich 192 Landgraf, Edgar 103 Lassahn, Rudolf 351 – 353, 357 Lau, Felix 61, 104, 108 Leibniz, Gottfried Wilhelm 7, 67, 70, 72, 107, 133, 165 Leiter, Brian 220 Lemm, Vanessa 160 Levinas, Emmanuel 122, 155, 199 Libera, Alain de 122, 133 Lichtblau, Klaus 12 Lincoln, Abraham 293 Link, Jürgen 291 Liske, Michael-Thomas 95 Lorenz, Kuno 108

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Lotter, Maria-Sibylla 302 Lotze, Hermann 256 Loukidelis, Nikolaos 97, 146 Löwith, Karl 39 Luther, Martin 167, 333 Machiavelli, Niccolò 304 Maier, Hans 297 Marquard, Odo 142 Marti, Urs 302, 304 Martinsen, Renate 288 Marx, Karl 16 Maturana, Humberto 64, 80, 103, 119 Mayr, Ernst 209 Meckel, Markus 159 Meier, Christian 295 Metzger, Jeffrey 31 Meyer, Matthew 70, 97 Mill, John Stuart 304 Miranda de Almeida, Rogério 114 Montaigne, Michel de 319 Montinari, Mazzino 96, 260 Müller, Enrico 392 Müller-Lauter, Wolfgang 30, 34, 83, 205, 363 Musil, Robert 27, 391 Nassehi, Armin 103, 398 Nancy, Jean-Luc 295, 297 Neckel, Sighard 263 Nicolaus Cusanus IX, 180, 380 Niemeyer, Christian 198 Nolte, Paul 301, 315, 333 Onnasch, Ernst-Otto 123 Owen, David 327 Parmenides 22 f., 28 f., 65, 93 – 95 Parsons, Talcott 119, 151 – 153, 186, 221, 248 Pascal, Blaise 49, 71 f., 102, 233, 319 Peirce, Charles Sanders 248 Perikles 343 Pfürtner, Stephan H. 261 Piazzesi, Chiara 12 Pichler, Axel 132, 345 Platon 65, 171, 295 f., 312, 315 f., 331, 360, 382 f., 389, 392 Plessner, Helmuth 143

432

Personenregister

Poellner, Peter 216 Politycki, Matthias 166 Poljakova, Ekaterina XIII Popitz, Heinrich 281 Popper, Karl 212 Porter, James I. 31 Portmann, Adolf 143 Reckermann, Alfons 11 Regenbogen, Arnim 123 Reginster, Bernard 33 Rehn, Rudolf 123 Reich, Hauke 231 Reinhardt-Becker, Elke 292 Reinicke, Helmut 352 Remhof, Justin 44 Renan, Ernest 304 Rescher, Nicholas 17 f., 75 f., 107 Reschke, Renate 231, 332 Richardson, John 68, 96 Riedel, Manfred 93 Röllin, Beat 193 Rolke, Lothar 149 Rorty, Richard 389 – 391 Roth, Florian 216 Rothacker, Erich 143 Roughley, Neil 256 Rousseau, Jean-Jacques 121 f., 142, 264, 296, 298, 304, 333 Rupschus, Andreas 349 Rust, Alois 256 Searle, John 189 Salehi, Djavid 128 Sainsbury, R. M. 107 Sainte-Beuve, Charles-Augustin 304 Santis, Andrea de 108 Schaber, Peter 256 Schank, Gerd 176 Schacht, Richard 158 f. Schärf, Christian 379 Scheffer, Bernd 6, 44 Scheler, Max 143 Schelling, Friedrich Wilhelm Josef 68, 357 Schenk, Günter 123 Schimank, Uwe 144 f. Schipperges, Heinrich 160

Schlechta, Karl 96 Schleiermacher, Friedrich 142 Schlimgen, Erwin 177 Schloßberger, Matthias 143 Schlotter, Sven 256 Schmidt, Jochen 236 Schmitt, Carl 273, 328 Schnädelbach, Herbert 256 Scholz, Leander 341 Schönwälder, Tatjana 61, 104 f., 111 Schopenhauer, Arthur 30, 32, 36 f., 40, 64, 111, 205, 217, 304, 314, 349, 357 f., 373, 383 f., 390, 395, 402 Schroeder-Heister, Peter 88 Schwemmer, Oswald 123 Shannon, Claude E. 188 Shaw, Tamsin 318 Siemens, Herman 302 f., 314, 328, 334, 339, 395 Simon, Josef 127, 182, 201, 216, 248, 351, 353, 356, 381, 393, 395 Skowron, Michael 160, 379 Sloterdijk, Peter 171 Small, Robin 64, 93, 96, 177 Snellman, Johann Wilhelm 352 Sokrates 28, 114, 167, 213, 305, 333, 392 Solms-Laubach, Franz Graf zu Sommer, Andreas Urs 32, 198 Sophokles 391 Spaemann, Robert 398 Spencer, Herbert 210, 304, 383 Spencer Brown, George 61, 64, 88, 103 – 107, 111, 113, 119, 126, 188, 207, 381 Spengler, Oswald 16 Spinoza, Baruch de IX, 66, 111, 223, 355, 380 Stekeler-Weithofer, Pirmin 216 Stendhal (Marie-Henri Beyle) 304 Sternschulte, Klaus Peter 180 Stichweh, Rudolf 116, 306 Stolzenberg, Jürgen 123 Straßheim, Holger 350 Taine, Hippolyte 304 Teichmüller, Gustav, 64 Thatcher, David S. 392 Thiel, Christian 88, 108 Thukydides 167, 295

Personenregister

Tietz, Udo 132 Tocqueville, Alexis de 304 Tongeren, Paul van 30, 33, 176, 385 Trappe, Tobias 123 Treiber, Hubert 102 Trenkle, Franziska 193 Varela, Francisco 64, 80, 103 Visser, Gerard 160 Wagner, Falk 352 Wagner, Richard 30, 64, 177 – 179, 281, 304, 314, 318, 335, 349, 373, 395 Weaver, Warren 188 Weber, Max 12, 19, 147, 149, 272 f., 278, 324 Wellbery, David E. 115

433

Welshon, Robert C. („Rex“) 216 White, Alan 34 Whitehead, Alfred North IX, 380 Wille, Katrin 61, 104 f., 111 Wimmer, Hannes 328 Wimmer, Maria 18 Winteler, Reto 179, 400 Wittgenstein, Ludwig 97, 101, 131, 201, 205, 248 Whitlock, Gregory 96 Wolf, Jürgen 263 Wolf, Ursula 65 Zima, Peter V. 132 Zittel, Claus 83, 213

Sachregister Andersverstehen 186 – 197 Anfang 29, 79, 106, 110 f. Anpassung, Assimilation 98, 209 f. Anthropologie 141 – 146, 157 – 160, 273 Asymmetrisierung/De-Asymmetrisierung 9 f., 91, 97, 365 Aufklärung 5, 16, 379, 396 – 398 Ausdifferenzierung 78 – 82 Auszeichnung 351, 357, 372 – 375 Authentizität, Echtheit 198, 249, 345 Autonomie 79 f., 135, 153, 181 f., 294 – 299 Autopoiesis 80, 88 – 91, 103, 119, 347 Autorität 228 – 230, 279, 286 f., 319 – 321, 342 Begriff (des Begriffs) 8, 77, 100, 115 – 117, 120, 127, 144, 162 f., 196, 212 f., 248 291, 351 – 363, 378 Beobachtung, Beobachtbarkeit, Beobachtungssystem 5 – 7, 133 – 137, 206 – 208 Beobachtung erster/zweiter/dritter Ordnung 6 f., 81 f., 87 f., 93, 95, 107, 109, 114, 118, 262, 308, 402

Funktion, Funktionalität, Funktionsäquivalenz 8 f., 12, 19, 84, 87, 92, 171, 221 f., 247 – 249, 277, 281, 287, 308, 319 – 324, 396 f. funktionale Differenzierung 135, 137, 249, 271, 328 f., 332 – 348, 357 Funktionssystem 58, 92, 103, 137, 208, 249 – 251, 271, 366 f. Flüssigkeit des Sinns 14, 52, 87 f., 92, 98, 183, 324 Geistigkeit 361 – 363, 387, 393 Generalisierung, symbolische 247 f. Gesetzgeber, philosophischer 342, 387 f., 394 f. Gremienentscheidung 335 f. Herrschaft, Herrschafts-Gebilde 39, 84, 117, 130, 170, 224, 235 f., 247, 273, 293 – 298, 311 f., 324, 329 – 331, 337, 340, 384 Hierarchie/Heterarchie 144, 217, 229, 285, 287, 300, 316, 320, 330 f., 350, 373 f., 377, 383

Demokratie 292 – 347 Denken 9, 28, 55 f., 65, 93, 96, 98, 103, 107, 122 Designationswert/Reflexionswert 208, 212, 218, 233 Differenz, Differenztheorie X, 78 f., 105, 111, 117, 144, 150, 235, 266, 270, 359, 380 Disziplinarität 224 f.

Immoralität/Amoralität, höhere 4, 261 – 265 Immoralismus, methodischer 4 f., 175, 197, 202, 263 f., 334 Individuum, Individualität 78, 129, 131, 133, 136, 150, 162 f., 170, 209, 226, 244, 255 f., 270, 283, 332 – 347, 354 – 356, 372, 378 Interindividualität 244 – 250 Intersubjektivität 123, 135, 173, 381 Invisibilisierung 10, 61, 109, 112

Einheit X, 9, 43, 45, 47, 68 f., 84, 98 f., 105, 110 f., 113 f., 118, 130 f., 141, 144 f., 148, 160, 162 f., 166 f., 205, 235, 248, 266, 277 f., 380 f. Entscheidung, Entscheidbarkeit (s.a. Selektion) X f., 8, 11 f., 52, 58, 63, 78, 89, 111, 134, 140, 153 f. Ethik der Distanz 265 – 271 Evolution 8 f., 30, 42 f., 68, 81, 83, 87 – 89, 159 f., 163, 170, 208 f., 219 – 221, 235

Kommunikation IX, 1 f., 7, 13 f., 47, 56, 86 f., 100, 103, 133 – 138, 145 – 149, 151, 165, 173 – 200, 211, 244 Komplexität (Reduktion/Steigerung von Komplexität) 9, 46, 81, 89, 110, 113, 145, 169, 186 – 188, 209, 221, 244, 247, 286, 288, 303, 328 – 332, 376, 387 Konstruktivismus 5 – 7, 44 – 48, 75, 134, 233 Kontingenz, doppelte 1 f., 13, 57, 186 – 188, 245 – 249, 399

Sachregister

Leben 9, 32, 42, 129 – 133, 213 – 215, 247, 251, 355 Limitation/Delimitation 221 – 234, 262 Logik 29, 37 f., 43 f., 93 – 113, 116, 118 f., 164, 191, 217, 353 Macht IX, 8, 83, 249, 272 – 293, 296 – 301, 319 f., 331 f., 337, 350, 355 f. Medium und Form 183, 217 f., 248, 258 f., 287 f. Mensch 141 – 172 Moral, Moralität, Moral im Umgang mit Moral 235 – 271 Nichts 28 – 33, 42 – 48 Nihilismus IX-XI, 11, 15, 30 – 44, 48 f., 57, 145, 259 f., 362 f., 385, 396, 400 f. Orientierung XI f., 16 – 18, 48 – 49, 138 – 140, 153 – 158 Orientierung an anderer Orientierung 56 f., 173 – 200, 290 f. Orientierung an Menschen 155 – 157 Orientierung und Situation 138, 152 – 158, 208 Orientierung von Angesicht zu Angesicht 199 f. Orientierung über Orientierung 27, 376 – 402 Orientierungssicherheit/Orientierungsunsicherheit 174, 201 – 203, 213, 218 – 220, 231, 248, 285 Paradoxie 6, 10 f., 15 f., 31, 36, 44 f., 47, 50 – 52, 58, 61 – 63, 67, 69, 74, 83, 85, 95, 102 – 116, 118, 122 f., 126 – 130, 135 f., 175, 194, 198 f., 204, 210, 219, 233 f., 236, 240, 256 – 262, 266, 287, 293 – 295, 325 f., 359, 365, 370, 396 f., 401 Pathos 391 – 395 Pathos der Distanz 169, 196 f., 270, 359 f., 374, 392 Persönlichkeit 132, 227 f., 346 f., 351 – 363, 371 f., 374 f., 390 Perspektive, Perspektivität, Perspektivismus 5 f., 47, 50 f., 52 f., 60 – 79, 81 f., 84 – 86, 92, 96, 110, 128 – 134, 137 – 139, 206, 269, 345, 376, 402

435

Philosophie 377 – 398 Problem, Problemdignität 226 – 228 Rang, Rangordnung 228, 240, 316, 337 f., 348 – 376, 387, 392, 394 Realität, Realismus X, 5 – 7, 36 f., 41, 43 – 49, 60 – 92, 101, 117 – 119, 136, 142 f., 171 f., 183, 185 f., 201, 215 f., 233, 242, 266, 303, 315 f., 334 Redlichkeit 24, 73, 197 – 199, 253, 259, 270, 345 Reflexivität 60 – 68, 77 – 89, 91 f. Rekursivität 62 f., 68, 87 – 92 Reputation 368 – 375 Risiko 57, 233 f., 266 f. Routine XI, 57 – 59, 91 f., 139, 288 – 291 Satz des zu vermeidenden Widerspruchs 94, 96 – 101, 112, 118, 164 Schauspielergesellschaft 332 – 347 Selbstbezug/Fremdbezug, Selbstreferenz, Selbstreferentialität 7, 29, 32, 36, 38 – 40, 43, 45 f., 60, 62 f., 65 – 68, 74, 77 – 87, 91 f., 95, 107 – 109, 111 f., 114, 116 f., 124 f., 130, 133 f., 135 f., 138 f., 154, 158, 164, 183, 186 f., 204, 206 – 208, 217 f., 220, 222, 228, 233, 240, 246 f., 261, 264 – 266, 293 – 295, 298, 307, 313, 319, 328, 331 f., 335 f., 345, 349 – 351, 353 f., 370 f., 376, 381, 388, 394 Selbstüberwindung, Selbstaufhebung 39 – 42, 82 f., 115, 242 Selektion (s.a. Entscheidung u. Wahl von Unterscheidungen) 8 f., 42, 60, 68 f., 81, 83, 87 – 90, 181 f., 186 – 192, 194 f., 197, 199, 209 – 218, 224 f., 226 f., 230 f., 235, 271, 285 – 288, 309 f., 312, 328 f., 365, 369, 375 Souveränität 57, 98, 111, 133, 139, 219 – 221, 224, 270 f., 298, 319 Spielraum 49 – 53, 56, 89 f., 100, 104, 147, 153 f., 160 f., 182, 187, 190, 193, 195 f., 201, 217, 231, 245, 257 – 260, 267 f., 271, 280, 283, 286, 290, 346 f., 372, 400 Subjekt 44, 56, 62 f., 67, 70, 76 f., 94, 99, 121 – 140, 151 f., 199, 241, 274, 291 f. Supertheorie 85, 261 f., 268

436

Sachregister

System 30, 78 – 80, 110, 136, 145, 207, 353 Systemtheorie 3, 73, 103, 152, 377 – 381, 396 – 398 Systemtypen (physisches, psychisches, soziales) 145 – 153, 181 f., System-Umwelt-Differenz 46, 61, 76, 79 – 81, 136 f., 150, 152 – 154, 188, 278 Theorie IX f., 1 – 3, 20, 70, 73 f., 81 f., 85, 87 f., 96, 102, 105, 111, 115 – 120, 136, 150, 152 – 154, 156, 185, 204, 233, 261, 273 f., 325, 328, 346, 367, 392, 396 – 402 Übermensch 115, 132, 160 – 164, 171, 342 Verständigung 132, 146, 173 – 201, 213, 245 Vertrauen 57 f., 155 f., 201, 210 f., 233, 237, 275, 279, 282, 284, 312, 322 Vornehmheit 196 f., 270 f., 316, 359 – 361, 393 Wahl von Unterscheidungen (s.a. Entscheidung u. Selektion) 8, 13, 49, 69, 81, 104, 112 f., 117 f., 137, 153, 157, 181, 197, 215, 223, 257, 264, 268, 285, 396 Wahrheit 4, 8, 12, 31 f., 38 – 40, 43 – 45, 66, 81, 93, 96, 98, 101, 108 f., 137, 176, 190, 203, 208, 210 – 212, 216 – 218, 222, 226,

229, 249, 288, 296, 313, 316, 354 – 356, 362 f., 368 – 370, 384, 386 Weltgesellschaft 301, 306 – 316, 332, 334, 344, 384 Werte von Unterscheidungen (s.a. Designationswert/Reflexionswert) 8 – 10, 43 f., 93, 104, 107 – 109, 118, 240, 258, 267, 271 Wert, Wertschätzung, Wertorientierung/Orientierungswert, Wertesemantik 2, 9 f., 12, 18, 33, 37 – 40, 43 f., 76, 84, 89, 100, 104, 152 f., 167, 220, 229, 240 – 271, 364 f., 367 f., 387, 392 f., 400 f. Wille, freier Wille, guter Wille 88, 123, 127 f., 151 f., 166, 191 f., 205 – 207, 224, 241, 247, 254, 268, 272 f., 278, 286, 381 Wille(n) zur Macht 15, 18, 33 f., 39 f., 69 f., 83 – 85, 87 f., 115, 132, 135 f., 204 f., 207 – 209, 221, 268, 277 f., 292, 313, 395 Wissen/Unwissenheit/Ungewissheit 9, 32, 52, 54, 57 f., 82, 90, 201 – 234, 354, 378, 401 Wissenschaft 4, 29, 67, 73, 86, 90, 100, 103, 114, 116 f., 119, 125 f., 221 – 234, 312, 366 – 370 Zeit 8, 10 f., 29, 41, 49 – 70, 80, 93 – 106, 109 – 121, 125 f., 129 f., 136, 138 – 141, 160, 202, 209 f., 275.