Nietzsche-Studien: Band 24 1995 [Reprint 2021 ed.]
 9783112421567, 9783112421550

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NIETZSCHE-STUDIEN

NIETZSCHE-STUDIEN Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung

Begründet von

Mazzino Montinari • Wolfgang Müller-Lauter Heinz Wenzel Herausgegeben von

Ernst Behler • Eckhard Heftrich Wolfgang Müller-Lauter Jörg Salaquarda • Josef Simon

Band 24 • 1995

w DE

G 1995 Walter de Gruyter • Berlin • New York

Anschriften der Herausgeber: Prof. Dr. Ernst Behler Comparative Literature GN-32 University of Washington Seattle, Washington 98195, U.S.A. Prof. Dr. Dr. h. c. Eckhard Heftrich Germanistisches Institut der Universität Münster Domplatz 20-22, D-48143 Münster Prof. Dr. Wolfgang Müller-Lauter Klopstockstr. 27, D-14163 Berlin Prof. Dr. Jörg Salaquarda (geschäftsführend) Institut für Systematische Theologie der Universität Wien Rooseveltplatz 10, A-1090 Wien Prof. Dr. Josef Simon Philosophisches Seminar A der Universität Bonn Am Hof 1, D-53113 Bonn

Redaktion Mag. Kurt Dite Institut für Systematische Theologie der Universität Wien Rooseveltplatz 10, A-1090 Wien

ISBN 3 11 014037 3 ISSN 0342-1422 © Copyright 1995 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin

INHALTSVERZEICHNIS

Mitteilung der Herausgeber

IX

Verzeichnis der Mitarbeiter dieses Bandes

XI

I.

Ein Zustand ohne Kunst ist nicht zu imaginieren. Friedrich Nietzsches frühe Skizze zu einer Ästhetik der Moderne

1

Philosophie als „Leidenschaft der Erkenntnis". Zur erkenntnistheoretischen Metaphorik in den Schriften Nietzsches

17

Ein Seitenstück zur ,Geburt der Tragödie'. Nietzsches Abkehr von Schopenhauer und Wagner und seine Wende zur Philosophie . . .

45

R . RESCHKE,

S.

EBBERSMEYER,

M. P.

RIEDEL,

Cosmologie de l'éternel retour

D'IORIO,

S.

62

Eine Quelle der frühen Schopenhauer-Kritik Nietzsches: Rudolf Hayms Aufsatz .Arthur Schopenhauer' 124

BARBERA,

II. P. GASSER, „Columbus novus" — zum rhetorischen Impetus von Nietzsches Philosophie 137 D . LARGE,

Nietzsche and the Figure of Columbus

M.

LAUSTER,

W.

SIMSON,

162

Nietzsches Ubermensch und Baudelaires Giganten: ein motivischer und struktureller Vergleich 184 1886/87

Beobachtungen zur Typographie in Nietzsches Vorreden von 204

VI

Inhaltsverzeichnis

III. W.

„Der Wille zur Macht" als Buch der ,Krisis' philosophischer Nietzsche-Interpretation 223

MÜLLER-LAUTER,

A. VENTURELLI, Aspekte und Probleme der frühen Nietzsche-Rezeption in Frankreich: Charles Andler und Lucien Herr 261 P. BISHOP, Jung's Annotations of Nietzsche's Works: An Analysis

271

Dokumentationen J. FIGL, Die Abteilung I im Kontext der Kritischen Gesamtausgabe der Werke Nietzsches. Ein Zwischenbericht 315 W. RIES, Zur Nietzsche-Philologie in der gegenwärtigen Nietzsche-Rezeption 324 M. STINGELIN, Die Rhetorik des Menschen. Neuerscheinungen von Angele Kremer-Marietti, Peter Gasser und Rudolf Fietz zum Thema „Nietzsche und die Rhetorik" 336 P. MIKLOWITZ, New Recordings of Nietzsche Music

344

Bericht A. VENTURELLI, Nietzsches philosophische Identität und Heideggers Nietzsche-Interpretation 354

Beiträge zur Quellenforschung mitgeteilt von A . O R S U C C I mitgeteilt von G. CAMPIONI mitgeteilt von F. G Ö T Z

358 400 405

Rezensionen R. DUHAMEL, E. (Hrsg.): Die Kunst der Sprache und die Sprache der Kunst. (Nietzsche in der Diskussion.) W. SCHIRMACHER (Hrsg.): Schopenhauer, Nietzsche und die Kunst. Schopenhauer-Studien 4. (G. HÖDL)

409

Inhaltsverzeichnis

VII

D. M. H O F F M A N N : Zur Geschichte des Nietzsche-Archivs / Elisabeth Förster-Nietzsche, Fritz Koegel, Rudolf Steiner, Gustav Naumann, Josef Hofmiller / Chronik, Studien und Dokumente. (H.-M. G E R L A C H ) . . . 419 K.

ANSELL-PEARSON

(Hrsg.): Nietzsche and Modern German Thought.

( H . STEILBERG)

424

Werke und Nachlaß. Hrsg. von E . Stegemann u. a. Band 1 : Schriften bis 1873. Hrsg. von E. W. Stegemann und N. Peter. Band 2: Schriften bis 1880. In Zusammenarbeit mit Marianne StauffacherSchaub hrsg. von E . W. Stegemann und R. Brändle. (P. K Ö S T E R ) . . . .

427

F. O V E R B E C K :

Personalbibliographien H A N S E R I C H LAMPL ( 1 9 2 3 - 1 9 9 2 )

434

FEDERICO GERRATANA ( 1 9 5 8 - 1 9 9 4 )

436

Siglen

439

Register

441

Hinweise für den Benutzer

441

Literatur-Register

442

1. Nietzsche

442

2. Zu und über Nietzsche

447

Personenregister

458

Hinweise zur Manuskriptherstellung

464

Mitteilung der Herausgeber Heinz Wenzel ist aus dem Herausgebergremium ausgeschieden. Neu eingetreten sind Josef Simon (Bonn) und Jörg Salaquarda (Wien). Die Redaktion leitet von diesem Band an Kurt Dite (Wien). Dem bisherigen Redaktionsteam — Wilhelm Haumann, Gerburg Lindner und Hays Steilberg beim Lehrstuhl von Eckhard Heftrich in Münster — sei für die geleistete Arbeit herzlich gedankt. Marie-Luise Haase (Weimar) und Martin Stingelin (Basel) unterstützen Herausgeber und Redaktion bei der Betreuung der von Montinari angeregten Abteilung Quellenforschung. In Bd. 20/1991 (S. 314-328) des Jahrbuchs hat Reinhard Brandt einen Beitrag über „Die Titelvignette von Nietzsches Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" veröffentlicht. Durch ein bedauerliches Versehen ist es versäumt worden, die in dem Aufsatz behandelte Vignette mit abzudrucken. Im Zusammenhang mit Siegfried Mandels Artikel „Genelli and Wagner: Midwives to Nietzsche's The Birth ofTragedy" ist allerdings bereits in Band 19/1990 eine vergrößerte Version der Vignette wiedergegeben worden (S. 229). Wir bitten Sie, Manuskripte in Zukunft an die Redaktion in Wien zu senden und sich auch mit Anfragen dorthin zu wenden. Zur Zeit wird ein Gesamtregister zu den Bänden 1—20 der Nietzsche-Studien erarbeitet, das demnächst erscheinen wird.

VERZEICHNIS DER MITARBEITER DIESES BANDES

Prof. Dr. Sandro Barbera, Via Maffi, 18, 1-56127 Pisa Dr. Paul Bishop, Department of German Language & Literature, University of Glasgow, Glasgow Gl 2 8QL Prof. Dr. Giuliano Campioni, Via Napoli 27, 1-56123 Pisa Dr. Paolo D'Iorio, via Emilia, 80,1-55046 Querceta Dr. Sabrina Ebbersmeyer, Institut für Philosophie, Universität Hildesheim, Marienburgerplatz 22, D-31141 Hildesheim Prof. Dr. Dr. Johann Figi, Institut für Religionswissenschaft, Universität Wien, Freyung 6 a/II/8, A-1010 Wien Dr. Peter Gasser, Pourtalès 10, CH-2000 Neuchàtel Prof. Dr. Hans-Martin Gerlach, Erlenstraße 2 a, D-04105 Leipzig Lie. phil. Frank Götz, Vogesenstraße 45, CH-4056 Basel Dr. Hans Gerald Hödl, Institut für Religionswissenschaft, Universität Wien, Freyung 6 a/ II/8, A-1010 Wien Prof. Dr. Peter Köster, Regerstraße 6, D-33606 Bielefeld Duncan Large, Department of German, University College, GB-Swansea SA2 8PP Dr. Martina Lauster, Department of Modern Languages, Keele University, Staffordshire ST5 5BG, Großbritannien Prof. Dr. Paul Miklowitz, Department of Philosophy, California Polytechnic State University, San Louis Obispo, CA 93407, U.S.A. Prof. Dr. Wolfgang Müller-Lauter, Klopstockstraße 27, D-14163 Berlin Dr. Andrea, Orsucci, Via del Gallo 12, 1-55100 Lucca Prof. Dr. Renate Reschke, Schmollerstr. 9, D-12435 Berlin Prof. Dr. Dr. h. c. Manfred Riedel, Institut für Philosophie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Schleiermacherstraße 1, D-06114 Halle (Saale)

XII

Verzeichnis der Mitarbeiter dieses Bandes

Prof. Dr. Wiebrecht Ries, Innstraße 14, D-30519 Hannover Lic. phil. Wojciech Simson, Oberseenerstraße 78, CH-8405 Winterthur Hays Steilberg, Coerdestraße 31, D-48147 Münster Ass. lic. phil. Martin Stingelin, Deutsches Seminar Universität Basel, Engelhof, Nadelberg 4, CH-4051 Basel Prof. Dr. Aldo Venturelli, (Universität Urbino), via Asiago 6, 1-60124 Ancona

RENATE RESCHKE

E I N Z U S T A N D O H N E K U N S T IST N I C H T Z U IMAGINIEREN Friedrich Nietzsches frühe Skizze zu einer Ästhetik der Moderne*

I Die Kunst und nichts als die Kunst Der späte Nietzsche — in seiner emphatischen Nihilismus-Kritik — bündelt 1888 alle Kräfte seines Gegenkonzeptes im und am Phänomen Kunst: er fixiert, gleichsam einen geistigen Schritt in die reflektierende Distanz tretend, das Dilemma der Moderne am Spannungsfeld ihrer merkwürdigen Sorglosigkeit gegen die Kunst, gegen die Künste und ihrer zugleich auffälligen und sie charakterisierenden Kunstverfallenheit. Das gleichermaßen (selbst-)zerstörerische Potential beider Seiten ist ihm Anlaß zu seiner konsequenten Kunstapotheose, deren kulturkritische und ästhetische Wurzeln in den Denkeinsätzen der siebziger Jahre liegen. Wenn es heißt: „Die Kunst und nichts als die Kunst! Sie ist die große Ermöglicherin des Lebens, die große Verführerin zum Leben, das große Stimulans des Lebens" (KSA 13, 17 [3]), dann erhält dies u. a. seine herausragende Bedeutung durch die Verwobenheit mit einer Entdeckung Nietzsches, die ihm historisch und perspektivisch ungeheuerlich schien. Alle Besichtigung vergangener Kultur(en) hatte nichts ihresgleichen zutage gefördert. Daß ein „Zustand der Menschen, welcher die Kunst und Religion entbehren könnte [...] vielleicht keine Unmöglichkeit" (KSA 8 , 1 1 [20]) mehr sein würde (in nicht zu ferner Zukunft), daß dies der Zustand der Zukunft sein könnte, allein, daß dies denkmöglich schien, erschreckt den Kulturkritiker und Philosophen tief und hat ihn nicht wieder aus seiner Reichweite und Konsequenz endassen und zu immer neuen Versuchen getrieben, dagegen anzudenken und Alternativen zu formulieren. Was erschreckt so an dieser Entdeckung? Was macht sie zum KassandraRuf Nietzschescher Ästhetik? Welches Menetekel zeichnet sie an die Wand der * Vortrag zur Tagungsreihe Entdecken & Verraten (Tagungsreihe zu Leben und Werk Friedrich Nietzsches, 2. Tagung Unzeitgemäßes Bayreuth, veranstaltet von der Stißung Weimarer Klassik vom 18. bis 20. Februar 1994 im Schiller-Museum Weimar.)

2

Renate Reschke

(für die) Moderne? Mit Piaton und dessen Verhältnis zu Kunst-Idealstaat-Überlegungen im Hintergrund, gibt Nietzsche Auskunft: „Es könnten Kräfte, von denen die Kunst bedingt ist, aussterben z. B. die Lust am Lügen, am Undeutlichen Symbolischen usw., auch der Rausch könnte in Mißachtung kommen" (KSA 8, 5 [185]). Ein solcher Blick projiziert den kulturellen Alptraum hellenischer Krise in die Kunsträume der Moderne resp. den der Moderne in die antike Kultur und formuliert geradezu das — nicht ausgeschriebene und/oder nicht ausschreibbare — Szenario einer Kultursituation ohne Kunst als reale Möglichkeit zum bestimmenden Kennzeichen ihrer existenziellen Negativität. Mehr noch: Der Blick ruft zukünftige Trostlosigkeit(en) im Wortsinne auf, wenn die Kultur in eine Befindlichkeit gerät oder getrieben wird, aus der heraus sie sich der Kunst entledigen könnte. Ungleich radikaler und fundamentaler als Hegels Verkündigung vom „Ende der Kunst" 1 , die nur ihr Bedeutungsloswerden am Maßstab des begrifflichen Denkens und der Philosophie meinte, prognostiziert Nietzsche eine kunstlose — seinen Prämissen gemäße — leblos werdende und nicht (mehr) lebbare Kultur, in der alle und alles sich zur zahmen und schleichenden Barbarei verkehrt 2 . Dieses Un-Denkbare, das vorzustellen er sich weigert — „Wir können ihn (den Zustand ohne Kunst — R. R. [...] nicht einmal imaginiren" (KSA 8 , 1 1 [20]) — wird das eigentliche Thema seiner Ästhetik; ihm gelten alle denkerischen Anstrengungen in Sachen Kunst 3 . Was immer er zwischenzeitlich an anderen Möglichkeiten — etwa eine Favorisierung der Wissenschaften — diskutiert, am Ende wird stehen, was bereits die Anfänge konturiert: die Kunst als die einzige wirkliche und wirksame Form der „ E r l ö s u n g des E r k e n n e n d e n " , als „ E r l ö s u n g des H a n d e l n d e n " , und als „ E r l ö s u n g des L e i d e n d e n " , als Gegenkraft zur Verneinung des Lebens, als das „Antinihilistische par excellence" (KSA 13, 17 [3]). Im Kontext von Nihilismus und Décadence und der dazu konträren unbedingten Bejahung des Daseins gewinnt diese Bestimmung der Kunst ihre tiefe existenzielle Dimension, ihren hohen Stellenwert im Gesamt seines Denkens und ihre inhaltlichen Koordinaten. Die Befindlichkeit dessen, der „(v)erloren in dieser erbärmlichen Welt, coudoyé par les foules, bin ich wie ein müder Mensch, der rückwärts blickend nichts sieht, als désabusement et amertume in langen tiefen Jahren und vor sich einen 1

2

3

In seinen Berliner Ästhetik-Vorlesungen hat Hegel mit großer systematischer und historischer Stringenz für die romantische Moderne das „Ende der Kunst" festgestellt, denn der Gedanke habe die schöne Kunst überflügelt, die Reflexionsbildung des modernen Lebens sei der Kunst nicht günstig und mache sie nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung zu einem Vergangenen; was bleibt, sei: „Die Kunst ladet uns zur denkenden Betrachtung ein, und zwar nicht zu dem Zwecke, Kunst wieder hervorzurufen, sondern, was die Kunst sei, wissenschaftlich zu erkennen" (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ästhetik, Bd. 1, Berlin und Weimar 1965, S. 22). Im Zusammenhang der Philisterkultur spricht Nietzsche von ihrer Verkehrung, vom Absturz in die Barbarei (vgl. DS 2, KSA 1, S. 166). dazu: Theo Meyer, Nietzsche und die Kunst, Tübingen und Basel 1993, S. 3 ff.

Ein Zustand ohne Kunst ist nicht zu imaginieren

3

Sturm, in dem es Nichts Neues giebt, weder Lehre noch Schmerz" (KSA 13, 11 [234]), ist — wenn überhaupt — einzig durch Kunst zu kompensieren, besser: aufzulösen in das Nietzschesche amor fati 4 , das widersprüchlich-verräterisch den Bogen, „die Lust am Neinsagen und Neinthun aus seiner ungeheuren Kraft und Spannung des Jasagens" (KSA 13, 11 [228]) erfährt und trägt. Ein später Gedanke des Philosophen, der sich jedoch zurückbindet an die Ideen in der „Geburt der Tragödie", daß die Kunst (die dionysische) „uns von der ewigen Lust des Daseins überzeugen" (GT 17, KSA 1, S. 109) soll. Das ebenfalls späte Wort von der „ A p o t h e o s e n - K u n s t " hinsichtlich des dionysischen Dithyrambus als eines ,,Ausdruck(es) der D a n k b a r k e i t ü b e r g e n o s s e n e s G l ü c k (KSA 12, 2 [114]) unterstreicht und potenziert den Grundgestus dieses Gedankens durch unterschwellige und/oder offene Kontinuität. Warum nun gerade Kunst? Was ist ihr Tröstliches? Was vermag sie, um die Kultur nicht in die Katastrophe entgleiten, um den Menschen nicht an sich selbst zugrunde gehen zu lassen? Nietzsches Antworten im Umkreis der „Geburt der Tragödie" und der „Unzeitgemäßen Betrachtungen" — dieser Zeit- und Schaffensraum steht im Mittelpunkt des Interesses — skizzieren das Panorama einer internen Kunstnotwendigkeit, deren wesentlicher Grund in ihrem Entstehungsanlaß zu fundieren ist: „Wie e n t s t e h t die K u n s t ? Als Heilmittel der Erkenntniß" (KSA 7, 7 [152]). Als solches definiert sie sich als Palliativ für das Leben (vgl. KSA 8, 22 [26]), als Erfindsamkeit der Lust (vgl. KSA 8, 23 [81]), als Mäßigung gegen das Wirkliche, als Schleier der Maja, als Beschwichtigung und Ausgleich und nicht zuletzt als „Stufe der n i e d r i g e n H e i l k u n s t seelischer Schmerzen" (KSA 8, 5 [163]). Ihre Hoch-Zeit liegt im Nebeneinander von Dionysos und Apollo; danach separieren, d. h. steigern sich die Kunsttriebe in die Extreme, in den „Radikalismus des Denkens" (KSA 7, 7 [52]) und die Entfaltung des Rausches, der momentan endastet vom Druck der Erkenntnis und Individuation, um anschließend beiden tiefer und schmerzlicher ausgesetzt zu sein. Am historischen Punkt des Mythenaufbruches, der intellektuellen Verwerfungen zum Theoretisch-Begrifflichen hin, findet Kunst für Nietzsche ihren durch nichts zu ersetzenden systematischen und existenziellen Ort: Zunächst sozusagen am Eingangstor zur sokratischen Kultur steht sie als Bewahrerin des Lebendigen gegen die Abstraktion, als Asyl der Bilder gegen die Dominanz der Begriffe, als Rettung vor der klaren Sicht auf das Grauenvolle des Daseins, als Traumschutz gegen das zerstörend Chaotische des Wirklichen. Wie der zerstörte Mythos, aus dem sie erwächst und dem sie verwandt bleibt, bietet sie den (schönen) Schein einer lebbaren Wirklichkeit, bietet sie die Wirklichkeit als Schein 4

Wenn Nietzsche selbst auch kaum einen direkten Hinweis auf einen Zusammenhang 2\vischen seinen amor fati-Vorstellungen und den Erwartungen an die Kunst gibt, seine vita contemplativa ist nicht ohne oder außerhalb beide(r) Momente zu denken.

4

Renate Reschke

und gibt sich so als Mittel, das verbürgt, daß der Mensch, der „gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend" (WL 1, KSA 1, S. 877), nicht abrupt erwacht und ins Bodenlose, in den Abgrund stürzt. Wenn Kultur — im Bilde Nietzsches zu sprechen — ein Apfelhäutchen über einem glühenden Chaos 5 ist, dann bewahrt die Kunst vor den bedrohlichen Rissen und Schrumpfungen, die durchlässig machen und so die Selbstzerstörung involvieren. Für diesen Prozeß verantwortlich zeichnet vor allem der Optimismus der Erkennenden, der der griechischen Tragödie den Todesstoß versetzt hat und dem noch die Moderne den Wahn eines zu instrumentalisierenden Rationalismus zu danken hat. Jenes Rationalismus, der „zuerst in der Person des Sokrates zur Welt kam" und als Kainsmal den ,,unerschütterliche(n) Glaube(n), dass das Denken, an dem Leitfaden der Causalität, bis in die tiefsten Abgründe des Seins reiche, und dass das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu c o r r i g i r e n im Stande sei" (GT 15, KSA 1, S. 99) trägt. Antikes steht in diesen Betrachtungen hintersinnig im Vordergrund; das querdenkerische Moment darin weist in die Moderne. Was sich vergangen liest, erhält in ihr eine neuartige Dimension und rumort kräftig im Kern der Gegenwart und Zukunft. Im Zusammenhang der Geburtsvergessenheit der Philosophie hat Peter Sloterdijk in seinen Frankfurter Vorlesungen davon gesprochen, Sokrates habe inmitten eines Blitzes gedacht und „erst Nietzsche hörte den Donner"; es hätten zweitausend Jahre Philosophie vergehen müssen, „bis ein anderer Denker in die Hörweite des Gewitters geriet" 6 . Nietzsche hat in diesem Sinne Sokrates als Verhängnis verstanden, als denjenigen, der aus tiefster Lebensangst und aus einem geheimen Ekel gefragt habe, der das Leben selbst in Frage gestellt habe, als Provokateur auch, der wußte, daß die Tragödie auf der Bühne nicht an die wirkliche Tragödie des Lebens reicht und der ihr deshalb kein großes Gewicht (mehr) beimessen wollte. Der antike Denker habe sich — so Nietzsche — der Kunst widersetzt mit dem Wahn der Erkenntnisgläubigkeit. Bis in seine letzten Stunden, in denen ihn der Traum quält, selbst nicht genügend Kunst betrieben zu haben 7 . So wollte ihn Nietzsche sehen, und hier setzt seine Verweigerung an und der Dissens. Und vielleicht der subtile Irrtum, das produktive Mißverständnis8. Die Summe der Kraft „im Dienste des Erkennens" (GT 15, KSA 1, S. 100) bindet nämlich nach seiner Auffassung die zerstörerischen Kräfte auf dem Wege in die Kultur, sublimiert sie zum theoretischen 5 6

7

8

„Cultur ist nur ein dünnes Apfelhäutchen über einem glühenden Chaos" (KSA 10, 9 [48]). Peter Sloterdijk, Die sokratische Mäeutik und die Geburtsvergessenheit der Philosophie, in: Zur Welt kommen — Zur Sprache kommen. Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt/M. 1988, S. 74. In Piatons Dialog Phaidon berichtet Sokrates: „Oftmals suchte mich in meinem vergangenen Leben der nämliche Traum heim bald in dieser bald in jener besonderen Gestalt, immer aber mit der gleichen Mahnung: Sokrates, übe und treibe die musische Tätigkeit" (Piaton, Sämtliche Dialoge, Bd. 2, Phaidon, Hamburg 1988, S. 32; Übersetzung von Otto Apelt). vgl. Peter Sloterdijk, a. a. O., S. 73.

Ein Zustand ohne Kunst ist nicht zu imaginieren

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Optimismus, der sich begierde- und lustvoll an der Verwandlung des Wirklichen in den Mechanismus der Begriffe abarbeitet. Wo für den platonischen Sokrates darin sich eine neue Form griechischer Heiterkeit manifestiert und eine Sicherheit im guten Leben, sieht Nietzsche mit den Augen der Moderne die perennierende Begehrlichkeit des Wissens an seine Grenzen stoßen. Der vermeintlich Wissende starrt ins „Unaufhellbare": „Wenn er hier zu seinem Schrecken sieht, wie die Logik sich an diesen Grenzen um sich selbst ringelt und endlich sich in den Schwanz beisst — da bricht eine neue Form der Erkenntniss durch, die t r a g i s c h e E r k e n n t n i s s , die, um nur ertragen zu werden, als Schutz und Heilmittel die Kunst braucht" (GT 15, KSA 1, S. 101). Das gilt für die Krisensituation antiker Kultur ebenso wie für die Moderne. Der vom Wissen zerfressende und ihm ausgelieferte moderne Mensch hat nur eine wirkliche Chance nach Nietzsche, die der Kunst. Und die Moderne sieht er auf dem besten Wege, auch sie zu vergeben bzw. zur Unkenntlichkeit zu entwerten.

II Pb 'dnomenalität der Moderne (I) Für die Moderne geht Nietzsche von einer „erstaunlich hohen Wissenspyramide" (GT 15, KSA 1, S. 100) als deren Signum aus. Sie sieht er verantwortlich für die Situation unzähliger Tode der Kunst (Künste) und zugleich für eine „Kunstbedürftigkeit" (ebd. S. 102), wie sie für keine andere Kultur zuvor kennzeichnend war. Diese Moderne ist für ihn daher nicht modern, „sondern alt und ganz verdorben" (KSA 8, 11 [26]). Ihr Kern ist morsch aus der Tiefe, historisch und existenziell: „Charakter der neuen Cultur. das W i s s e n [ist] ihr Fundament, der N u t z e n ihre Seele" (KSA 8, 11 [3]); diese Kultur ist krank, sie macht krank und die moderne Krankheit heißt „ein Übermaaß von E r f a h r u n g e n " (KSA 8, 17 [51]). Der Hamlet-Effekt als Kulturfolge und subjektive Grundbefindlichkeit ist ihr eingeschrieben und bedroht die Lebensmöglichkeiten des modernen Menschen bis an die Grenzen der Erträglichkeit. Ihm zu entgehen greifen Fluchtangebote Raum, die unter der Maske der Kunst — plump und/oder subtil — Verdrängungs-, Betäubungs- und Selbstbetrugsstrategien erfolgreich anbieten. Was sich als Kunst des Alltages drapiert, was unter dem Stichwort der Kulinarität der Künste firmiert 9 , was drogenähnlich sich den überreizten Nerven und Sinnen präsentiert und von ihnen aufgenommen wird, darin sieht Nietzsche vor allem Signaturen des Zu-Tode-Kommens der Kunst in der Moderne. Die Kunstverfal9

dazu: Renate Reschke, Einspruch gegen „abgeirrte Cultur". Zu einigen Konturen Niet^schescher Kulturkritik,, in: Weimarer Beiträge 37 (1991) 2.

6

Renate Reschke

lenheit, die sich als Bedürftigkeit in den Vordergrund drängt, ist für ihn ihre nachhaltigste Todes-Form. Wenn es von der „Kunst des Tages" heißt: „Sie soll [...] die moderne Art zu leben, rechtfertigen, als Abbild ihrer hastigen und überreizten Verweltlichung, als ein immer bereites Zerstreuungs- und Auseinanderstreuungsmittel, unerschöpflich in der Abwechslung des Reizenden und Prikkelnden, gleichsam der Gewürzladen des ganzen Occidents und Orients, für jeden Geschmack eingerichtet, ob ihm nun nach Wohl- oder Übelriechendem, nach Sublimirtem oder Bäurisch-Grobem, nach Griechischem oder Chinesischem, nach Trauerspielen oder dramatisirten Zoten gelüstet" (KSA 7, 35 [12], S. 814 f.), dann ist sie der verkehrte und korrumpierte Spiegel einer verkehrten und korrumpierten Kultur, die genau das zur Verfügung stellt, was der Moderne nach Nietzsche zugehörig ist und sie aus sich hervorbringen kann. Eine solche grundlegende Werteverkehrung ist ein Diffamierungsmoment für die Kunst, gegen das sie nur schwer abschwächende Argumente und Selbstdarstellungen einsichtig und glaubhaft machen kann. Kunst als „Stumpfsinn oder Rausch" (WB 6, KSA 1, S. 463), die der Mensch dazu verbraucht, vernutzt, um seine kulturelle Impotenz zu pflegen; sie entbindet ihn von der menschlichen Potenz ästhetischer Sensibilität, von der Fähigkeit des Hören- und Sehen-Könnens 10 , von der Kunst einer vita contemplativa11. Dieser von Nietzsche wesentlich an der Philister-(Un-)Kultur beobachtete Prozeß ist ihm Indiz für den Tod der Kunst. Die Depravation ihrer Mittel zu „gewaltsamsten Erregungsmittel(n), bei denen selbst der Halbtodte noch zusammenschrecken muss" (WS 170, KSA 2, S. 624), ihre im Wortsinne überwältigende Arbeit mit „Betäubungen, [...] Erschütterungen, Thränenkrämpfe(n)" (ebd.) auf der einen Seite und das erbauliche Moment am Kunstvergnügen andererseits sieht der Philosoph als ebenfalls adäquat der allgemeinen Kultursituation und als weitere Todesart für die Kunst. Und daß die Künstler diesen Trend bedienen, nicht nur mit Ergebenheit in das eigene Epigonentum, sondern hauptsächlich in ihrer Verfallenheit an die Leidenschaften — Nietzsches Einwurf: „als ob Leidenschaften Kunstwerke erzeugen könnten" (KSA 7, 9 [137]) — ist symptomatisch: Der moderne Künstler lebt nach seiner Ansicht vom unreflektierten Uberfall, er versteht nicht (mehr), mit den Leidenschaften umzugehen. Nichts ist mehr geblieben von der Besonnenheit der alten Kunst, die modernen Künstler „ziehen gleich mit aller Gewalt am Glockenstrange der Leidenschaft" (KSA 8, 23 [95]), sie sind ohne Maß nach innen und außen und verlieren sich 10

11

In der Fröhlichen Wissenschaft konstatiert Nietzsche dazu, daß das Gefühl für die Form, „das Ohr und Auge für die Melodie der Bewegungen" in der modernen Kultur immer mehr verloren gehe (FW 329, KSA 3, S. 556). „[•••] e s könnte bald so weit kommen, dass man einem Hange zur vita contemplativa (das heisst zum Spazierengehen mit Gedanken und Freunden) nicht ohne Selbstverachtung und schlechtes Gewissen nachgäbe" (FW 329, KSA 3, S. 557).

Ein Zustand ohne Kunst ist nicht zu imaginieren

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in einem Pathos der Nähe zu den Dingen, denen sie nicht zu widerstehen vermögen. In dieser begehrlichen Geste des Künstlers — die er als allgemeines Kennzeichen der Moderne nur besonders augenscheinlich repräsentiert — stirbt sein Metier ein weiteres Mal. Auf diese Weise wird das schöpferische Moment jeder Kunst zuschanden, wird Kunst dadurch als Maßstab für Kultur obsolet. George Sand war ihm ein geradezu peinliches Beispiel: „Ich halte diesen bunten Tapeten-Stil nicht aus, ebenso wenig diese aufgeregte Pöbel-Ambition nach ,vornehmen' Leidenschaften, heroischen Attitüden und Gedanken, die wie Attitüden wirken" (KSA 13, 11 [24]). Dem Wort von der Pöbel-Ambition der Schriftstellerin korrespondiert das der „Allgegenwart einer schmutzigen unersättlichen Begehrlichkeit" (WB 6, KSA 1, S. 462); es ist die Zudringlichkeit als (Un-)Kulturphänomen, die Nietzsche als Moment der Moderne verstanden wissen will und in dem er ihre interne Lebensuntüchtigkeit ansiedelt. Wer sich zu nah an die Dinge heranwagt, wer die Distanz aufhebt, der begibt sich des Scheines als dem Wesentlichen der Dinge 12 . Mit verkehrtem Vorzeichen hält Nietzsche der Moderne ihr (Selbst-)Bildnis entgegen: „Der Grad, in dem die Menschen mit der Kunst umgehen, die Tiefe oder Oberflächlichkeit der Beziehungen, die Wahrheit oder Eitelkeit in diesem Verkehr, wird zum Urtheil über die Zeiten und Völker benutzt. [...] Man kann von einem Menschen ziemlich viel wissen, wenn man genau weiß, ob er überhaupt Kunst hat, ob bildende oder tönende, welchen Meistern er sich zuneigt usw." (KSA 8, 12 [18]). Was für den einzelnen Menschen gilt, trifft auch auf die Kultur zu. Diesen Maßstab an die Moderne angelegt, bietet sich dem Philosophen ein Bild hoffnungsloser Zerfallenheit ins Formlose, Scheinlose, Werdose. Es ist für Nietzsche der Künsder, der diesen Maßstab zur Universalität erhebt: „Nimmt der Künsder selber diese Abschätzung vor, so kann man ihm nicht verargen, wenn er hier einen Werthmesser überhaupt zu haben glaubt: in seiner Betrachtung des Lebens ist die Kunst das Sonnensystem. Menschen ohne Kunst sind für ihn undenkbar, wie Menschen ohne Raum- und Zeitvorstellungen es sind" (ebd.) Und was er auf den Künsder bezieht, gilt auch dem Kulturkritiker und Ästhetiker Nietzsche als Kriterium seiner Besichtigung und Diagnose der Moderne. Was er positiv formuliert, ist bis in den Kern das, was ihr abgeht, was sie substanzlos macht: „Er (der Künsder — R. R.) findet nichts, worin nicht Kunst sich ausspräche: in der Art, wie ein Mensch denkt, träumt, geht, ißt, sich unterredet, schreibt, liest, kämpft, verehrt, erzieht, den Tag und das Leben eintheilt, wie er den Staat aufbaut, die Stände auseinanderhält: überall ist hier eine äußerliche Erscheinung und eine Gesinnung, aus der gehandelt wird, zu unter-

12

dazu: Renate Reschke, „Pöbel-Mischmasch" oder vom notwendigen Niedergang aller Kultur. Friedrich Nietzsches Ansätze einer Kulturkritik der Masse, in: Zwischen Angstmetapher und Terminus. Theorien der Massenkultur seit Nietzsche, hrsg. von Norbert Krenzlin, Berlin 1992.

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Renate Reschke

scheiden. In dieser äußerlichen Erscheinung, sowohl wie in dieser Gesinnung, ist etwas, was K u n s t ist" (ebd.) Indem Nietzsche die Kunst ins Zentrum der Kultur stellt, quasi als ihr lebensspendendes Element, inauguriert er eine (ästhetische) Werteordnung, deren Zentrum die Kunst ist. Dies geht konform mit seiner grundlegenden Auffassung, daß die Welt nur als ästhetisches Phänomen zu rechtfertigen sei. Dies verbindet sich auch seiner Vorstellung, daß alles Schöpferische sich dem Künstlerischen anverwandelt und umgekehrt. Und es fundiert Kunst im philosophisch Substanziellen, gleichrangig mit Raum und Zeit: undenkbar also ein Zustand ohne Kunst. Er würde ohne philosophische Reflexion bleiben (müssen), er würde jede Dimension der Reflexion und Lebbarkeit sprengen. Warum aber geht der Moderne ihr Kunstmoment verloren, genauer: warum verbiegt es sich im Wechselrahmen der Moden und Beliebigkeiten, der Kulissen und Tartüfferien? Der Gründe gibt es viele und auf unterschiedlichen Ebenen. Weil die „moderne Bewegtheit [...] so groß" geworden ist; weil für die großen Ereignisse der Kultur der Sinn abhanden kommt und sie in ihrem eigenen Sinnloswerden „verschwinden" (KSA 8, 17 [53]); weil die krankhafte Hast der Tätigen in immer größere und tiefere kulturelle Leere treibt, die nicht mehr künstlerisch zu reflektieren, die nur noch zu übertäuben ist; weil die krankhafte Hast sich als Signatur in die Moderne eintätowiert hat 13 , weil sich der moderne Mensch zum Sklaven der drei M — „des Moments, der Meinungen und der Moden" (KSA 7, 35 [12], S. 817). gemacht hat; weil die Fähigkeit der Kunst ambivalent geworden ist, „das wirklich m i t z u t h e i l e n , was man erlebt hat" (KSA 8, 11 [15]); weil ihr Kommunikationspotential in die Sprachlosigkeit abgedriftet ist und die allgemeine Sprachkrankheit auch sie infiziert hat 14 ; und schließlich last but not least, weil die Naivität der Kunst der Beunruhigung durch den Gedanken gewichen ist, weil — so Nietzsche — ihre Gedankenanfälligkeit sie sui generis bestimmt und unter dem Vorzeichen der Moderne erst ihre eigentliche Ausformung erhält und diese sie sogleich dadurch suspekt macht. Richard Wagners Musik (Operndramatik) ist ihm auch hierfür das herausragende Beispiel einer nicht wieder unbeschadet einzuholenden Naivität und Lebendigkeit; der Versuch gebiert eine krankhafte Raffinesse, eine Mischung aus Intellekt und Mimus, aus Emotionsgewalt, Attitüde und Sinnenverlogenheit, die nicht Leben spiegeln, sondern die Kunst und Leben gleichermaßen zugrunde richten. Richard Wagner ist nicht der neue Dionysos, kann es nicht sein, keine neue Verbindung zwischen Dionysos und Apollo, seine Musik ist keine Wiedergeburt des 13

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Den Menschen gräbt die würdelose Hast „Furchen ins Gesicht" und alles was sie tun, wird „gleichsam tätowirt" (SE 6, K S A 1, S. 392). Indizien für die Sprachkrankheit als Kennzeichen der Moderne sind für Nietzsche der Verlust ihres Verständigungs- und Mitteilungspotentials, der Wahnsinn der allgemeinen Begriffe und das Herabkommen ihrer Zeichen und Code zu bloßen Conventionen (vgl. W B 5, K S A 1, S. 455 f.).

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Mythos: Vielleicht ist seine Kunst — weil sie der Moderne so kongenial verbunden ist — ihr größter und nachhaltigster Tod. Ihre Geheimschrift dechiffriert (sich) Nietzsche als Hieroglyphen des Verfalls; sie sind ihm die gesprungenen Saiten der Kultur und nicht zu unterschätzenden Zeichen ihrer Stillosigkeit.

III Phänomenalität der Moderne (II)

„Wird das über das Dasein gebreitete Netz der Kunst, sei es auch unter dem Namen der Religion oder der Wissenschaft, immer fester und zarter geflochten werden oder ist ihm bestimmt, unter dem ruhelos barbarischen Treiben und Wirbeln, das sich jetzt ,die Gegenwart' nennt, in Fetzen zu reissen?" (GT 15, KSA 1, S. 102), diese Sorge treibt Nietzsche um. Sie ist ihm fundiert in der Gewißheit des Mediokren, des Effektiven, des Rationalen, in der Gewißheit der zerborstenen Geometrie im Geistigen. Der opaken Dichte der Moderne scheint sich die Kunst ebenso zu ergeben, wie sie sich der Möglichkeiten zu ihrer Rettung begiebt. Denn — so will es Nietzsche sehen — die Kunst allein vermag sich der Zerstörung der lebensnotwendigen Illusionen zu widersetzen, ihre Existenzform ist unangreifbar, „weil durch das Logische unauflösbar" (KSA 7, 3 [55]). Ende 1870 notiert Nietzsche in diesem Zusammenhang eine großartige „Gesetzmäßigkeit": die theoretische Kultur wird gegen Dionysos/Apollo immer nur Pyrrhus-Siege erringen, denn „aus den Ruinen der zerstörten Kunst blüht die Mystik" (KSA 7, 6 [12]). Damit nicht genug: „Gegen die Wahnvorstellungen: neue Weltbilder entgegengestellt, die dann wieder logisch zersetzt werden und zu neuen Schöpfungen auffordern" (ebd.). Aus den immer größer werdenden und vielschichtigeren Denksystemen werden Mythos und Kunst nur scheinbar ausgeschlossen; in Wahrheit werden sie immer tiefer eingesogen, „weil die erkannte Gesetzmäßigkeit immer großartiger wird. Man wird zur mystischen Conception gedrängt. Sodann aber drängt überhaupt die Wucht des logischen Denkens die Gegenmacht hervor, die dann mitunter auf Jahrtausende die Logik in Bande schließt" (ebd.) Dieser Prozeß durch die Geschichte ist mit Dramatik und Dialektik besetzt. Dialektik, indem er der Bewegtheit zwischen den Extremen Kunst (Intuition) und Intellekt Bewegungsformen verleiht, in denen sie existieren, Dramatik dadurch, daß er die Ratio selbst zum Grund für den Mythos, daß er die Wissenschaft zum Grund für die Kunst erklärt. Jeweils aus ihrem anderen, an ihm sich abarbeitend, treiben sie sich in immer neuen historischen Formen hervor. In der Moderne sieht Nietzsche dieses Skandalon auf die Spitze getrieben und zugleich an seinen Umschlagpunkt gekommen. Die Hoffnung auf die Kunst

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könnte sich als ein großes Umsonst erweisen. Zum ersten Male in der Geschichte der Kultur sieht er eine Situation entstanden, in der die Dialektik nicht in eine neue Bewegungsform des inhärenten Widerspruches führen, sondern in der die Dramatik das Szenario einer eskalierenden Katastrophe schreiben könnte. Die Macht des Rationalen ist Terror geworden; sie hat den Geist an die Kette einer Logik und Vernunft gelegt, deren Wesen Prostitution heißt — an den Egoismus, die Moral, den Staat, die Wahrheit, die Erkenntnis etc. — und/oder die Hybris gegen sich selbst ist und durch den Verlust der Gegenmacht die eigene Existenz aufs Spiel setzt. Sie hat das Denken in die Kolumbarien der Begriffsgerüste eingeschlossen mit dem Anspruch ihrer absoluten Gültigkeit. In einer Situation, die kunstbedürftig ist, wie keine andere zuvor, könnte das Heilmittel Kunst versagen, weil seine andere Seite selbst zu Schaden kommt und nicht mehr der Grund der Kunst ist. Nach Nietzsche versagt das Heilmittel bereits in vielfältiger Weise. Zum einen: Ihr wichtigstes Bestimmungselement, der Schein, ist in Verruf und Mißkredit geraten. Ihm kommt kaum noch eine lebenserhaltende Illusionierungsbedeutung im Sinne des Philosophen zu. Die Moderne bedarf des Scheines nicht mehr, sie ist die (selbst-)entblößte Kultur, hinter der nichts (mehr) ist; sie ist das Grauen, das — einmal entschleiert — nicht wieder zu verhüllen ist. Aus einer anderen Perspektive der gleiche Sachverhalt: Von der Maske der Objektivität ist auch die moderne Kunst angesteckt, und wie die positivistischen Wissenschaften bescheidet sie sich, die „äußerste Rinde" der Ereignisse „mit beleidigender Gründlichkeit" (KSA 7, 9 [42], S. 289) abzunagen. Und so negiert sie ihr eigenes Wesen, verzichtet auf den Schein der Dinge, löscht die (über-)lebensnotwendige Differenz zwischen Wirklichkeit und Schein aus, marginalisiert das Moment des Schutzes vor dem Wirklichen und depotenziert die eigenen Möglichkeiten bis in die Selbstauflösung und versagt sie sich der Lüge und der Lust an ihr als ihrem ureigensten Terrain. Zum anderen: Die Kunst muß in der Moderne so lange versagen, so lange ihr nicht ein grundlegender Blickwechsel gelingt: „Die Zukunft der Kunst (wenn die Menschheit ihr E n d e begreift). Ich könnte mir auch eine v o r w ä r t s blickende Kunst denken, die ihre Bilder in der Zukunft sucht" (KSA 8, 10 [13]). Sich vom Ende her zu verstehen, erst dies bedarf nach Nietzsche der tragischen Erkenntnis, des Pessimismus der Stärke — wie es in den späten Schriften heißt 15 — und dies wiederum erst bedarf einer Kunst, die den ,,große(n) Werth des u n r e i n e n D e n k e n s " (KSA 8, 17 [1]) für sich zu reklamieren hat, um nicht zur Statthalterin des Selbstbetruges zu werden. So ist auch Kultur, ist auch die Moderne — und gerade sie — eigentlich erst von ihrem

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Im Versuch einer Selbstkritik, die Nietzsche der neuen Ausgabe der Geburt der Tragödie 1886 voranstellt, thematisiert er den Pessimismus der Stärke als eine den allgemeinen Verfall konterkarierende kulturelle und mentale Möglichkeit (vgl. GT 1, KSA 1, S. 12 f.).

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Ende her sinnvoll zu denken, d. h. von der Gewißheit ihrer Endlichkeit. Erst wenn der Mensch das ihm einzig Sichere für sich annimmt, kann die Kunst ihre Bilder gewissenlos der Zukunft entnehmen, kann sie das Labyrinth der Zukunft betreten, ohne Zeichen ins Ungewisse setzen zu müssen. Der zeitgenössischen Kunst(Literatur-)szene — mit Vorausblick ins nächste Jahrhundert —, vorab dem französischen Realismus ä la Balzac, eignen beide Mängel: „Litteratur des 20. Jahrhunderts: verrückt und mathematisch zugleich, analytisch-phantastisch: die Dinge wichtiger und im Vordergrund, nicht mehr die Wesen" (KSA 13,11 [296], S. 120). Von ihr ist Erneuerung nicht zu erwarten. Nietzsches beharrlicher Rekurs auf die Opposition von Bild und Begriff, auf die Differenz ihrer Zeichen zwischen Offenheit und Hermetik, Viel- und Eindeutigkeiten), Lebendigkeit und Erstarrtheit signalisiert die Dominanz der Rationalität — gegen alle ihre gewußte Suspektheit mindestens seit dem Ende des 18. Jahrhunderts — als grundlegendes Phänomen der Moderne. So sehr der Philosoph dabei die Polarität zur Kunst absteckt, er weiß um die geheimen, von den Ursprüngen her zu begründenden Gemeinsamkeiten. Er thematisiert sie immer wieder, um dem aktuellen Zustand der Differenz, deren Nichtbeachtung tödlich sein kann, auf die Spur zu kommen. Es sei die Lust am Symbolischen, die Bilder und Begriffe gleichermaßen hervortreibt. Der Mensch beginnt mit „ B i l d e r p r o j e k t i o n e n und S y m b o l e n " (KSA 7, 8 [41]); und so ist auch der Begriff „im ersten Moment der Entstehung, ein künsderisches Phänomen" (ebd.) Sein Wesentliches jedoch — so legt es Nietzsche nahe — sei die Verfestigung im Eindeutigen, die Anmaßung der Adäquatheit gegenüber dem Wirklichen, das „Uebersehen des Individuellen und Wirklichen" (WL 1, K S A 1, S. 880). Der Begriff wird zum Tod der Metapher, des Bildes, des Intuitiven und Phantastischen, zum Tod letztlich der Kunst. Ein Prozeß, der nicht zu unterlaufen ist, solange man sich in ihm bewegt. Die moderne Kultur bewegt sich mit bewunderungswürdiger Konsequenz in ihm. Änderung ist nur außerhalb und durch Verweigerung möglich, durch die Progression der Anfänge: Der menschliche Fundamentaltrieb zur Metaphernbildung müßte (könnte) reaktiviert werden und als Grundfahigkeit des Menschen die der Intuition. Das historische Beispiel wird — die Moderne konterkarierend — aufgerufen: „Wo einmal der intuitive Mensch, etwa wie im älteren Griechenland seine Waffen gewaltiger und siegreicher führt, als sein Widerspiel, kann sich günstigen Falls eine Kultur gestalten, und die Herrschaft der Kunst über das Leben sich gründen" (WL 2, K S A 1, S. 889). Der Mensch der Abstraktion, der Begriffe, der Wissenschaft hat immer nur die Mittel zur Verfügung, Unglück abzuwehren, „nach möglichster Freiheit von Schmerzen" zu trachten; der intuitive Mensch dagegen erfährt „ausser der Abwehr des Uebels eine fortwährend einströmende Erhellung, Aufheiterung, Erlösung" (ebd.) Nietzsche ist weit entfernt, beide Seiten in einer Schwarz-WeißPerspektive zu polarisieren. Er weiß, daß das Leiden des intuitiven Menschen

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ungleich-heftiger ist, als das des theoretischen; er wird in punkto der Bewältigung des Schmerzes dem stoischen Menschen (der hier für den der Abstraktion steht) immer unterlegen sein. Der letztere ist Meister der Maskierung, er beweist seine Verstellungsfähigkeit im Unglück, seine Begriffswelt ist ihm die Maske, hinter der das Leid trügerisch beherrschbar und erträglich erscheint: „Wenn eine rechte Wetterwolke sich über ihn ausgiesst, so hüllt er sich in seinen Mantel und geht langsamen Schrittes unter ihr davon" (WL 2, K S A 1, S. 890). Der moderne Mensch bietet das Bild dessen, der jeder Situation gewachsen ist und der kraft seines Intellekts, kraft seines theoretischen Denkgebäudes in der Lage ist, stets jene Lebensstrategien auszubilden, die den kulturellen Befindlichkeiten sich anpassen und/oder diese bestätigen. Dies setzt voraus, daß die Begriffswelt beherrscht wird; das aber gerade zweifelt Nietzsche für die Moderne an. Der sich in ihr abzeichnende Hunger nach Begriffen, die Begriffssucht, spricht für eine fortgesetzte und sich fortsetzende Entmündigung von Kunst und Intuition, spricht dafür, daß es eskalierend mißlingt, Denk- und Verhaltensmuster zu entwickeln, die wirklich den Grundstrukturen der Moderne adäquat sind und eine ihr kongeniale Kultur ermöglichen. Als roter Faden der Moderne zieht sich diese Unfähigkeit; sie ist der kunstfressende Minotaurus, gegen den die List des Rational-Mythischen selbst auf der Strecke zu bleiben droht. Dem steht der Traum von der Macht der Kunst, den auch Nietzsche träumt, machtlos gegenüber. „Der Mensch selbst aber hat einen unbesiegbaren Hang, sich täuschen zu lassen und ist wie bezaubert vor Glück, wenn der Rhapsode ihm epische Märchen wie wahr erzählt oder der Schauspieler im Schauspiel den König noch königlicher agirt, als ihn die Wirklichkeit zeigt. Der Intellekt, jener Meister der Verstellung, ist so lange frei, und seinem sonstigen Sklavendienste enthoben, als er täuschen kann, ohne zu s c h a d e n und feiert dann seine Saturnalien" (WL 2, K S A 1, S. 888): Angesichts der Täuschungsmöglichkeiten medialer Art in der späten Moderne entbehren Nietzsches Beobachtungen nicht einer gewissen Naivität der Anfänge. Wie bezaubert sein vor Glück, die Wirklichkeit wirklicher machen als sie ist: Die Verwandlung der Wirklichkeit in eine virtuelle, künstliche Welt in den und durch die audiovisuellen Medien, die Informations- und Bilderflut entzaubern solche Visionen ästhetischer Welt- und Wertbezüge nachhaltig und dramatisch. Die Qualität von Schein, Täuschung und Illusionierung erhält eine andere Dimension. Die TV-Scheinwelt auf den Bildschirmen, die Computeranimationen und rechnergesteuerten Bilder, in die einzutauchen Bildschirmbrille, Datenhandschuh und Kopfhörer unerläßlich sind, machen die Grenzen verschwinden zwischen Wirklichkeit und Fiktion, zwischen Echtheit und Künstlichkeit der Bilder, der vorgeführten Handlungen und — letztlich — der agierenden simulierten Individuen und den wirklichen Menschen. Es kommt immer weniger darauf an, der Wirklichkeit eine Scheinwelt als Heilmittel — im

Ein Zustand ohne Kunst ist nicht zu imaginieren

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Sinne Nietzsches — entgegenzusetzen, zur Seite zu stellen, vielmehr wird die Wirklichkeit immer wirklichkeitsentleerter. Gleichgültigkeit, Unaufmerksamkeit und Desinteresse sind als Strategien ihrer Verdrängung gefragt. In die Scheinwelt der Medien, in die Harmonie der Virtual reality nicht die Realität einbrechen zu lassen, dazu bedarf es neuartiger Strategien der Verhinderung, der Blockierung von Realität, um Dissonanzen kognitiver und emotionaler Art dazu nicht aufkommen zu lassen. Auf eine geradezu paradoxe Weise greift an diesem Punkt dann doch Nietzsches Konzept vom lebensnotwendigen Schein, allerdings um eine wesentliche Position verschoben: Der von ihm intendierte Schein als Wirklichkeit ist zum Schein seiner selbst geworden, mit der Konsequenz einer Sogund Suchtwirkung bei denen, die sich ihm aussetzen und keine Rettung (mehr) vor der Gefahr suchen.

IV Damit der Bogen nicht breche ... Mit Blick auf das Wagnerische Bayreuth versucht Nietzsche hinsichtlich ihrer Wirkungsmöglichkeiten eine Bestimmung der Kunst, die diese in das Zentrum eines für die Moderne charakteristischen und in ihr eskalierenden Konfliktes stellt, in die Spannung zwischen den möglich gewordenen Erkenntnis- und Produktivitätspotentialen des Daseins und der Menschen und dem sittlich-geistigen Vermögen des Menschen, damit umzugehen und diese Spannung auszuhalten. Für die Moderne konstatiert der Philosoph das Auseinanderdriften von Erkenntnis und Ethik, von Rationalität und Emotionalität, von Wissen und Wert (Sinn-)gebung, sieht er den Druck auf den einzelnen Menschen wie auf die gesamte Kultur grenzenlos, maßlos werden, und er nimmt dies als Gefahr ernst. Der Herrschaftsgestus der Moderne gegen sich selbst, der immer tiefer in die Abhängigkeit von äußeren, selbstproduzierten Zwängen treibt und durch Nichtbeherrschbarkeit ihrer inneren Potenzen diese ins Destruktive abgleiten läßt, der die kulturelle Energie, die sich in hilflos wirkenden oder aggressiv werdenden Kompensationsmustern für die diesen Prozessen ausgesetzten Menschen erschöpft, er braucht den Ausgleich, den Versuch des Gleichgewichtes. Und einen solchen Ausgleich, der den Kollaps der Kultur, ihren Infarkt (vielleicht) verhindern könnte, sieht Nietzsche in der Kunst. Sie entlastet vom Druck des Erkennens, des zu großen Wissens und der daraus resultierenden Aktionen; sie verschiebt die Perspektiven und Wertungen ins Erträgliche: „Wie im Traume ist die Schätzung der Dinge, so lange wir uns im Banne der Kunst festgehalten fühlen, verändert ... Die Kämpfe, welche sie zeigt, sind Vereinfachungen der wirklichen Kämpfe des Lebens; ihre Probleme sind Abkürzungen der unendlich verwickel-

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ten Rechnung des menschlichen Handelns und Wollens. Aber gerade darin liegt die Grösse und Unentbehrlichkeit der Kunst, dass sie den S c h e i n einer einfacheren Welt, einer kürzeren Lösung der Lebens-Räthsel erregt" (WB 4, KSA 1, S. 452). Wie niemand des Schlafes, der temporären Beruhigung, der Regenerierung der Kräfte entbehren kann, so „begehren wir nach dem Scheine jener Vereinfachung, wenn auch nur für Augenblicke" (ebd. S. 453). Die beständige Abwesenheit beruhigender Konstanten in der Moderne, der zerstörte Boden unter den Füßen der Kultur, das Diffusgewordensein tradierter Wertesysteme macht die Kluft immer größer und: „dem Einzelnen (wird) eine immer höhere Spannung zugemuthet" (KSA 8, 11 [20]). Weil dem so ist, wird die Kunst zur Rettung: „so kommen wir in e i n e P e r i o d e d e r K u n s t , wie sie noch nie n ö t h i g w a r und noch nie da war" (ebd.). Die ungeheuren Spannungen auszuhalten, den Ekel am Dasein zu ertragen 16 , Sicherheit im Unsicheren zu haben, den tragischen Gedanken leben zu können: „ D a m i t d e r B o g e n n i c h t b r e c h e , ist die Kunst da" (WB 4, KSA 1, S. 453). Das Bild des Bogens als spannungsentlastendes Moment, als harmoniebewirkender Ausgleich von Gegensätzen zur widersprüchlichen Einheitlichkeit hin, trägt geistesgeschichtlich viele Namen und besitzt in der Ikonographie der Kulturgeschichte^) einen vielschichtig besetzten Ort. Tradiert, ästhetisch relevant von Anfang an, philosophisch brisant durch seine Affinität zu den Vorstellungen vom Leben, wird das Bild von Nietzsche kulturkritisch aufgeladen, dem modernen Nihilismus seitenverkehrt beigestellt, um auf der Kulturlandkarte der Moderne die existenziellen Spannungen transparent zu machen. Der erste Name, der der Geschichte dieses Bildes eingeschrieben ist, ist der Heraklits; dem Denker aus Ephesus fühlte sich Nietzsche wie kaum einem anderen verbunden. Heraklits großer Denkentwurf von der internen gegensätzlichen Strukturiertheit des Seins setzt auf beziehungsreiche Weise das Bild vom Bogen ein. Dem Ineinanderübergehen der einzelnen Momente der Gegensätze eignet eine spezifische Spannung, die aushalten zu können Harmonie begründet. Auf der Achse von Bewegtheit und Ruhe, Position und Negation, Sein und Nichts, Leben und Tod vollzieht sich permanent der Ausgleich, die Balance, das Gleichgewicht. Die Einheit des auseinanderstrebenden und mit sich übereinstimmenden Seins fixiert er mit dem Bild: „widerstrebende Harmonie wie bei Bogen und Leier" (DK 51) 1 7 und „Des Bogens Name also ist Leben (ßiöDie Kunst, gut zu lesenRuhm und Ewigkeit< „die unerhörte poetologische Abstraktion" erörtert, „die der Begriff >Zeichen< im Kontext der Dithyramben ausdrückt"11, er aufweist, wie Nietzsche in der Verbindung von neuzeitlich astronomischem Wissen und mythologischen Konnotationen der ältesten Lektüren der Sternbilder das „Sternbild" eines griechischen Heroen zum reinen „Zeichen" verdichtet: Herkules, der als Säugling die Milchstraße verursacht hat und als Held die Last des Himmels zu tragen vermag, repräsentiert im Schweigen des Kosmos die Bejahung der Wiederkehr durch die Imagination des „Ubermenschen". In der Herausarbeitung dieser wie anderer Bezüge und Analogien sind die aus ihnen gewonnenen Ergebnisse von Groddecks philologischen Leistungen Kostbarkeiten ersten Ranges. — Indem Nietzsche die Zeitlichkeit der Zeit zum Erdenken der Ewigkeit überschreitet, wird er aus einem unzeitgemäßen Kritiker seiner Zeit zu einem letzten Liebhaber einer ehernen „Notwendigkeit" der in 10 11

W. Groddeck, Bd. 2, S. 209. ebenda, S. 237.

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der Widerwendigkeit des Werdens stehenden Welt-Ewigkeit jenseits von Absicht, Wille und Zweck. Die philosophische Formel der „Ewigkeit" und „Notwendigkeit" ist aber, sprachkritisch reflektiert, tautologisch und daher „Nichts sagend"; vom Antiplatonismus Nietzsches aus erweist sie sich für die Rettung der Erscheinungen als nicht mehr anwendbar. Sie wird selber rettungsbedürftig und „überlebt" nurmehr als ästhetischer „Gegenstand": als — wie Groddeck nachweist — >Schrift-Bild< in der Selbstbewegung des Textes. Die Konstellation dieses „Schrift-Bildes" ergibt auf der leeren Schwärze der poetischen Abstraktion ein „Sternbild", dessen funkelnde Schönheit reine Trostlosigkeit ist. Der poetische Nihilismus in Nietzsches Spätdichtung ist unverkennbar. Bereits die dionysische Sprache der ewigen Wiederkehr in den labyrinthischen Gehörgängen von Zarathustras kleinen Ohrmuscheln ist keine bedeutungsartikulierte Rede mehr, sondern „Echo" eines rein dichterischen Sprechers, das nur noch sich selbst zum Inhalt hat. Aus der Perspektive einer akroamatischen Hermeneutik legitimiert sich der Wahrheitsgehalt von Nietzsches Rede nurmehr als eine „Rhetorik des Schweigens". Diese bestimmt in der Weise des andeutenden Verschweigens die Stilgesetze von Nietzsches Arbeit am „Mythos" der ewigen Wiederkehr und am Dionysos-Mythos. Ihr korrespondiert im Zyklus der „Dionysos-Dithyramben" eine angedeutete Hermeneutik des Todes, deren „Bedeutungsfeld" an Nietzsches vollkommenster lyrischer Dichtung, dem sechsen Dithyrambus „Die Sonne sinkt", ablesbar wird. Ist das aristotelische Paradigma der „Metapher nach der Analogie", der „Lebensabend", die poetologische Begründung für die Metaphorik des sechsten Dithyrambus, so pointiert die in ihm waltende Abendstimmung als memento mori — wie bereits auch der Schluß von „Das Tanzlied" aus dem zweiten Teil des „Zarathustra" — eine „Verführung zum Tode" 12 . Die prinzipielle empirische Negativität des Todes bringt mit sich, daß seine Nähe nurmehr in Gestalt einer symbolischen Chiffrierung benannt werden kann, „wo ein >ich< in der Nähe des >Todes< auf den >Mittag< des Lebens zurückschaut" 13 . Ist die Farbenchiffrierung „weiß", „braun" und „blau" mit der Konnotation „Tod" verbunden, so verknüpft der „Nachen" als traditionelles Symbol des Todes „zwei disparat erscheinende Bedeutungen von ,Kahn' als Bild des >principium individuationis< und als topische Metapher für das Gedicht. Mit dem Versinken des individuellen Prinzips im Gedicht schwindet auch die Bedingung der Möglichkeit des lyrischen Gedichts. Was bleibt, ist die Erkenntnis eines subjektlosen ,S', das keinen Namen hat" 14 . Am Ende des zweiten Bandes hat Groddeck den Nachweis erbracht, daß „Nietzsches letztes Werk eine Dichtung über das Werk Nietzsches (ist), in desebenda, S. 400. ebenda, S. 163. Seele< und >Dionysos< in der Selbstbewegung des Textes gegeben und nur in ihr. Vielleicht vermag aber die Fügung der Trias von Denken, Seele und Dionysos näher noch in den Erfahrungsbereich Nietzsches gestellt werden, wenn sie als eine „affektive Spannung" im Sinne einer primär „musikalischen Gestimmtheit" aufgefaßt wird, deren Widerklang in der „Klangrede" Zarathustras und der „Dionysos-Dithyramben" zu finden ist. Dem korrespondiert die Bemerkung Scheiers, daß „im Unterschied zum begreifenden Ich die schaffende Seele ursprünglich dichtenctiZX ist. Problematisch bleibt nach Scheier die stete Möglichkeit einer >Ubersetzung< 20 21

F. Nietzsche, Ecce autor; a. a. O., S. XLIII. ebenda, S. XXVIII. Zum Verhältnis von Philosophie und Dichtung bei Nietzsche: G. Kaiser, Wortwelten — Weltworte. Die ersten beiden Dionysos-Dithyramben Nietzsches, in: Augenblicke deutscher Lyrik, Frankfurt a. M. 1987, S. 350 f.

Zur Nietzsche-Philologie

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des poietischen „Affektes" in die ideologische Realisierung als „politisch-soziale >Mobilmachung< des faktischen Daseins" sowie die kreative Realisierung der „ .Züchtung' der Seele zur Selbstüberwindung in die mögliche dionysische Parusie" 22 , Assimilationen, die in Nietzsches exoterischer Philosophie prinzipiell angelegt sind und die in der Geschichte der in den „Vorreden" wie im „Ecce homo" dokumentierten Stationen der „Selbstüberwindungen" Nietzsches den Umriß einer „Erkenntnistragödie" abzeichnen, die Scheier in eindrucksvoller Weise am Ende seiner „Einleitung" vor Augen stellt, wenn er schreibt: „Die Katastrophe der nietzscheschen Existenz ist so die zum Widerspruch zugespitzte Paradoxie, daß Dionysos' Ausbleiben, seine Apusie, die schaffende Seele nötigt, selber die schlechthin unvorgreifliche Bedingung des Schaffens, die Parusie des Gottes, zu schaffen als creatio ex nihilo. Um dieser Sehnsucht der Seele willen verwandelt sich Nietzsche in Dionysos — mit der ungeheuren Umkehrung, daß Dionysos zum Dichter und .Hanswurst' wird. Im Januar 1889 ist darum dieser ursprüngliche Glaube der Welt an die göttliche Erneuerung, der auf je andere Weise die Ursprungsgeschichte des nachhegelschen Denkens bestimmt hatte, selber gestorben. Ein Tod Gottes, den das zeitgenössische Bewußtsein zu erfahren seine Zeit brauchen würde. Daraus entsprang einerseits das ideologische Bewußtsein, daß der Mensch, so wie er ist, die Verwandlung der Welt in der Hand hätte, andererseits eine neue Gestalt des Denkens, die sich Rechenschaft darüber ablegte, nicht poietisch sein zu können, und die deshalb, weil sozusagen nichts übrig geblieben war als jener reine Widerspruch theoretisch und logisch sein würde" 23 . Die in dieser Passage gebrauchten Wendungen „Apusie" des Dionysos (als gegengewendeter Ausdruck zur christlichen „Parusie") wie „creatio ex nihilo" verweisen auf jene bereits von Karl Löwith in seinen maßgeblichen NietzscheArbeiten herausgestellte Bewandtnis, daß Nietzsches groß angelegter Versuch der Wiederholung einer tragischen Weisheit „auf der Spitze der Modernität" gescheitert ist, weil er von Anfang an gebrochen war durch den auf eine eschatologische Zukunft gerichteten Willen der jüdisch-christlichen Tradition, sodaß Nietzsches Denken, von daher beurteilt, vielleicht den am schärfsten zugespitzten Ausdruck für die aus dem Grundkonflikt von Mensch und Welt resultierende Krise der Neuzeit darstellt. Es bleibt nachdenkenswert, ob diese Krise durch eine ästhetische Radikalisierung des Mythos zur Kunst des „Erzählens" zu entschärfen ist. Die ästhetische Eigenart dieses Erzählens liegt, das hat Scheier scharfsinnig am Beispiel von Nietzsches „Zarathustra" angemerkt, in dem „Spiel" seiner „synchronen" und „diachronen" Ordnungen. „Der Text geht diagonal weiter, Aussage reiht sich an Aussage, aber die Sätze, die Satzreihen, die 22 23

ebenda, S. X X X . ebenda, S. CXXII.

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Aphorismen wenden leidenschaftlich in die Tiefe, und in diesem je unvorgreiflichen Wenden blitzt die Hoffnung der ungeteilten Welt a u f ' 2 4 . In den großen „Symbolen" dieser Kunst, Zarathustra, Ariadne, Dionysos, — in ihrem Gefüge — scheint die „Wahrheit" des einen Lebens im verdichteten Gleichnis geschaut zu sein, erfüllt sich ein ursprünglicher Sinn von „Theorie", aber das im Blick auf den aufsteigenden „Gedanken" der ewigen Widerkehr ineins gedichtete Ganze der Welt zerfällt einer ernüchterten gedanklichen Auseinandersetzung in unaufhebbare Widersprüche und läßt es lediglich in der sprachlichen Repräsentanz jeweiliger Sinnordnungen von Texten anwesend sein, „außerhalb" derer es keinen

autonomen Wirklichkeitsstatus

zu beanspruchen

vermag. Das

von

Scheier verhement hervorgehobene änigmatische Denken Nietzsches ist, dies haben die philologischen Analysen Groddecks erneut unter Beweis gestellt, hermetische Dichtung. Sie beruht, wie in den „Dionysos-Dithyramben" auf teilweise tief verschwiegenen „Erfahrungen", die, fundiert in einer „musikalischen Gestimmtheit", sich in die „Sprache" „selbsterworbener Zeichen" (M. K o m m e rell) transformieren, und die sich ihrer „Ubersetzung" in die Sprache des philosophischen Begriffs grundsätzlich zu entziehen scheinen. In diesem Zusammenhang scheint mir die Differenz zwischen der „exoterischen" Lehre und der „esoterischen" Mitteilung bei Nietzsche für ein angemessenes Verständnis seines Denkens von großer Relevanz zu sein. D e r Akzent der Bedeutung dieses D e n kens verlagert sich auf die letztere, wenn man, wie M. Heidegger und E . Staiger, von einer „Welt-Durchstimmtheit" der dichterischen Sprache ausgeht, deren „halkyonische" Gestimmtheit die Zuständigkeit des Innestehens im „dionysischen Fortriß" (Th. Böning) der Welt erschließt. 2 5 V o m Stand gegenwärtiger Nietzsche-Rezeption aus, scheint es sich als dienlich zu erweisen, immer noch primär auf die sprachliche

Repräsentation seines

Denkens zu „hören" und sie zu reflektieren. Was dabei offen bleibt, ist, ob die hier teilweise vorgestellten Methoden einer solchen Reflexion hinsichdich des durch Nietzsche gestellten Problems einer als Ära des vollendeten Nihilismus diagnostizierten Moderne nach dem Verlust des ältesten griechischen Weltdenkens und nach dem „Tode G o t t e s " eine „Lösung" bieten oder ob sie nicht dieses Problem „ausklammern", wie es im Wesen des Methodischen selbst angelegt ist. Durch seinen philosophischen

Gedanken der ewigen Wiederkehr als Wiederholung

einer vorsokratischen Ansicht der Welt scheint Nietzsche selbst in einer Gegenwendung zur Modernität dieses „Problem" unterlaufen zu haben. In seinem unzeitgemäßen Versuch der Wiedergewinnung eines (kosmologischen) Standpunktes, der über der klassischen Metaphysik wie auch über den transzendenta-

24

25

ebenda, S. XLII.

Hierzu vor allem: Th. Böning, Metaphysik,

York 1988, insbes. S. 305 ff.

Kunst und Sprache beim frühen

Nietzsche,

Berlin/New

Zur Nietzsche-Philologie

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len Subjektivismus hinausliegt, denkt er das Sein als Zeit und versucht im Zeichen seiner „Dionysischen Philosophie" von „Mittag und Ewigkeit" ein „neues" Verstehen der Welt als Ganzes, das an ältestes griechisches Weltdenken einer Aternität des Werdens anknüpft, in welchem in jedem Augenblick die Welt in der „Bejahung des Vergehens und Vernichtens" 26 zugleich verklärt und „gerechtfertigt" ist, wobei die sprachlichen Wendungen der „Bejahung", der „Verklärung" und der „Rechtfertigung" die eigentümliche Gebrochenheit dieses Versuches belegen, da ihre Herkunft nicht griechischer, sondern jüdisch-christlicher Tradition entspringt. 27 Abgesehen von dieser „Gebrochenheit", die Nietzsche als die janusköpfige Figur zwischen den Epochen erscheinen läßt — des vom Spätlicht des Christentums umdunkelten 19. Jahrhundert und einer von der „Morgenröte" der natürlichen Welt überglänzten unbewiesenen Zukunft — ist aber sein entscheidend philosophischer Gedanke das Denken des Seins als Zeit, das „philosophisch" wohl unausgeführt geblieben ist. 28 Jedoch läßt sich diesem Denken eine Dimension des „Zeit"-Verständnisses abgewinnen, wie sie vor allem G. Colli in seinem 1968 geschriebenen Nachwort zu der italienischen Ausgabe des „Zarathustra" in den Blick gebracht hat, wenn er schreibt: „Als Wurzel der Vision von der ewigen Wiederkunft suche man weniger das Nachklingen doxographischer Berichte über eine alte pythagoreische Lehre oder wissenschaftliche Hypothesen des 19. Jahrhunderts als vielmehr das Wiederauftauchen kulminierender Momente der vorsokratischen Spekulation, die auf eine Unmittelbarkeit hingewiesen haben, die in der Zeit wieder auffindbar ist, jedoch aus ihr hinausführt und so ihre nicht umkehrbare Eingleisigkeit aufhebt. Wenn man zurückgeht bis zu diesem nicht mehr Darstellbaren, so läßt sich nur sagen, daß das Unmittelbare außerhalb der Zeit — die „Gegenwart" des Parmenides und das „Aion" des Heraklit — in das Gewebe der Zeit eingeflochten ist, so daß in dem, was vorher oder nachher wirklich erscheint jedes Vorher ein Nachher und jedes Nachher ein Vorher ist und jeder Augenblick ein Anfang." 29 Ich erinnere an diese Passage, weil sie mir eine hermeneutische Maxime zu sein scheint. Von Philologie und Philosophie gleichermaßen wäre erneut zu beachten, in welch einem entscheidenden Maße Nietzsche „den Griechen" verpflichtet ist, den einzigen, von denen er gelernt hat, „ja zu sagen" (G. Colli), und was er vornehmlich Heraklit verdankt: die Wiedergewinnung des antiken Bodens der Physis, „als Streit der Kräfte und Insichkreisen entmoralisiert, entlogifiziert und ästhetisch

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EH, GT 3; KSA 6, 313. Hierzu vor allem K. Löwith, Nietzsches „Vorspiel einer Philosophie der Zukunft", in: Samt!. Schriften 6, Stuttgart 1987, S. 427-446. Hierzu: J. Stambaugh, Untersuchungen %um Problem der Zeit bei Nietzsche, Den Haag 1959. - Zur Kritik: E. Fink, Nietzsches Philosophie, Stuttgart 1973, S. 99 f. G. Colli, KSA 4, 416.

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Wiebrecht Ries

gerechtfertigt." 30 Neben Beiträgen von M. Djuric31 und U. Hölscher''1 verdient in diesem Zusammenhang das Buch von G. Wohlfart33 zu Nietzsches HeraklitRezeption Beachtung. Seine historische Untersuchung setzt ein bei Nietzsches Darstellung der Heraklit-Fragmente in den Basler Vorsokratiker-Vorlesungen, „Die Vorplatonischen Philosophen", und in der frühen Schrift über „Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen" und erstreckt sich bis zum späten Nietzsche. Eine genaue Analyse dreier Kapitel aus „Also sprach Zarathustra" (Von den drei Verwandlungen, Der Genesende, Mittags) erweist die zentrale Bedeutung von Heraklits Fragment B 52 als Schlüssel zum Verständnis von Nietzsches ästhetischer Metaphysik. Im Blick auf dieses Fragment hat bereits T. Borscbei's' detailliert dargelegt, daß Nietzsche seiner Deutung die Interpretation von J. Bernajs35 zugrunde legt, „der Heraklits Bezeichnung des aicbv als jiczii; Jiai^cov unter Rückgriff auf die (stoische) Auslegung des Bildes bei Plutarch als >weltbildende Thätigkeit< übersetzt hat". 36 Nietzsches Interpretation geht jedoch über Bernays hinaus, insofern er den Heraklitischen Gedanken des Seins-Spiels der >Zeit< für seine eigene Ästhetik adaptiert, in welcher „der Begriff der Welt der Kunst zu dem der Welt als Kunst erweitert wird". 37 Unklar bleibt aber in diesem Zusammenhang meines Erachtens, inwiefern Nietzsches nicht nur durch Heraklits Fragment B 52, sondern auch durch die Ästhetik Kants und Schillers inspirierte „Spiel"-Theorie ihn ausgerechnet zu einem Protagonisten der Postmoderne machen soll. Nietzsches zentraler Gedanke des „Spiels" ist primär die ästhetische Konzeption eines tief tragischen Weltverständnisses, das wohl in der Gebärde der Bejahung in die Dimension göttlicher Leichtigkeit gehoben —, aber nicht aufgehoben ist. Ein solches Weltverständnis ist aber gerade der Postmoderne gänzlich fremd. In der fruchtbaren Verbindung von philologischer Analyse und philosophischer Interpretation gelingt Wohlfart der Nachweis, daß Nietzsches Bild der ewigen Wiederkunft „auf Heraklitischem Grund gemalt ist" 38 , und Nietzsches „Grundperception" von der Vollkommenheit der Welt zur Stunde des vollkommenen „Mittags" einer von ihm Heraklit zugeschriebe30 31

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H. Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, Berlin/New York 1987, S. 56. M. Djuric, Die antiken Quellen der Wiederkunftslehre, in: Nietzsche-Studien, Bd. 8, Berlin/New York 1979, S. 1 - 1 6 . U. Hölscher, Die Wiedergewinnung des antiken Bodens. Nietzsches Rückgriff auf Heraklit, in: Neue Hefte für Philosophie 15/16: Aktualität der Antike, Göttingen 1979, S. 156-182. G. Wohlfart, lyAlso sprach Herakleitos". Heraklits Fragment B 52 und Nietzsches Heraklit-Re%eption, Freiburg 1991. T. Borsche, Nietzsches Erfindung der Vorsokratiker, in: Nietzsche und die philosophische Tradition, Bd. 1, hg. V. J. Simon, Würzburg 1985. Bernays, Heraklitische Studien, in: Gesammelte Abhandlungen, hg. v. H. Usener, Berlin 1885. B. von Reibnitz, Ein Kommentar %u Friedrich Nietzsches „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" (Kapitel 1-12), Stuttgart 1992, S. 171. G. Wohlfart, S. 277. ebenda, S. 329.

Zur Nietzsche-Philologie

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nen „ästhetischen Grundperception" vom „Welt-Spiel der Welt-Zeit" 39 entspricht, deren „Kulminationspunkt" im Gedanken der ewigen Wiederkehr zu sehen ist. Und indem Nietzsches befremdlicher Blick auf das älteste Griechentum, „den orphischen Zagreus und den Heraklitischen Aion zusammenschaut" 40 , eröffnet sich ihm „das dionysische Phänomen" einer im Doppellicht ewiger Selbsterschaffung und Selbstzerstörung liegenden Weltewigkeit. Die von Wohlfart erneut unter Beweis gestellte Allgegenwart Heraklits im Denken Nietzsches darf jedoch nicht vergessen machen, daß Heraklits ursprüngliches Denken der Physis sich ontologisch gleichwohl von Nietzsches im Spiel interpretatorischer Konfigurationen gegründeten Welt-Begriff unterscheidet.41 Jedoch zeigen sich dem Betrachter in der Verwebung der Texte von Heraklit und Nietzsche, ihrer Nähe und ihrer Abständigkeit, die Nahtstellen einer als poiesis begriffenen Welt, die sich im Werk Nietzsches in der Weise ihrer Sprachfindung reflektiert.

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ebenda, S. 351. ebenda, S. 365. Siehe hierzu: F. Kaulbach, Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie, Köln 1980, S. 128.

M A R T I N STINGEUN

DIE RHETORIK DES MENSCHEN

Neuerscheinungen von Angele Kremer-Marietti, Peter Gasser und Rudolf Fiet^ yum Thema „Nietzsche und die Rhetorik"

Seit 1970/71 — dem Zeitpunkt, zu dem auch Nietzsche von der internationalen Renaissance der Rhetorik-Forschung erfaßt worden ist 1 — steht Philippe Lacoue-Labarthes Diktum zur Aktualität der Rhetorik in Nietzsches Werk nach 1875 2 im Raum: „Von 1875 an ist die Rhetorik kein privilegiertes Instrument mehr. Man könnte fast sagen, daß Nietzsche ihr sämtliche Rechte entzieht, daß sie praktisch aufhört, ein Problem zu sein"3. Zu diesem Schluß kommt LacoueLabarthe, indem er die Rhetorik ausschließlich an Nietzsches Sprachkritik bindet: „die Rhetorik wird nur insofern in Betracht gezogen, als sie zur Enthüllung des Wesens der Sprache beiträgt"4. Die Aporien, in die sich der noch immer der Metaphysik verpflichtete Versuch verstrickt, das Wesen der Sprache als Rhetorik zu bestimmen — wenn auch unter dem Vorzeichen der „Umkehrung", aber worin soll die Gewißheit der in der romantischen Tradition stehenden Bestimmung gründen, daß die Übertragung den Ursprung jeder „eigentlichen" Bedeutung bildet? —, sollen dieses Problem schließlich bis zu seiner Erschöpfung auf-

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Den Auftakt in der deutschsprachigen Nietzsche-Forschung bildeten Wilfried Barner, „Nietzsche über ,Barockstil' und ,Rhetorik'", in: ders., Barockrhetorik. Untersuchungen ihren geschichtlichen Grundlagen, Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1970, S. 3—21, und Joachim Goth, Nietzsche und die Rhetorik, Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1970 (= Untersuchungen %ur deutschen Uteraturgeschichte Band 5). Im Sommersemester 1875 liest Friedrich Nietzsche als Ordinarius für klassische Philologie zum letzten Mal über Rhetorik, und zwar über „Aristoteles' Rhetorik 3st." (Fortsetzung einer Veranstaltung des Wintersemesters 1874/75), worauf sich Lacoue-Labarthe allerdings nicht explizit bezieht; die für das Wintersemester 1877/78 und das Sommersemester 1879 angekündigten Vorlesungen „Die Rhetorik des Aristoteles 2st." und „Einleitung in die griechische Beredsamkeit 2st." sind mit größter Wahrscheinlichkeit entfallen, vgl. Richard Meister, „Nietzsches Lehrtätigkeit in Basel 1869-1879", Sitzung der philosophisch-historischen Klasse vom 10. März 1948, in: Anzeiger der Osterreichischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse 85. Jg. (1948), Nr. 7, S. 103-121, hier S. 105-107. Philippe Lacoue-Labarthe, „Der Umweg" (1971), aus dem Französischen übersetzt von Thomas Schestag, in: Werner Hamacher (Hrsg.), Nietzsche aus Frankreich, Frankfurt/Main—Berlin: Verlag Ullstein 1986, S. 75-110, hier S. 78. Ebd., S. 84.

Die Rhetorik des Menschen

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gerieben, Nietzsche es verlassen haben; so habe die Rhetorik zwar Nietzsches G l a u b e n an die Metaphysik erschüttert, zu ihrer Kritik aber soll er sich in der Folge anderer Strategien bedient haben. A u c h Paul de M a n , der i m G e g e n s a t z zu Philippe Lacoue-Labarthe „Implikationen dieser f r ü h e n Spekulationen ü b e r Rhetorik in späteren S c h r i f t e n " 5 Nietzsches entwickelt und gezeigt hat, „daß der Schlüssel zu Nietzsches Kritik der Metaphysik [...] im rhetorischen Modell der T r o p e liegt" 6 , genauer in der Metonymie, die Nietzsche in der f ü r die Metaphysik konstitutiven Vertauschung v o n Ursache und W i r k u n g wiedererkennt und als V e r f ü h r u n g durch die „Logik" der Sprache kritisiert, gibt der Rhetorik bei Nietzsche eine w e n n auch praktische, so d o c h ausschließlich sprachkritische W e n d u n g 7 . D u r c h diese Reduktion der Rhetorik vernachlässigen s o w o h l Lacoue-Labarthe w i e de M a n das ihr eigene Spannungsfeld zwischen Sprachform/-stilistik und A n t h r o p o l o g i e 8 , in d e m Nietzsche sie in seiner Rhetorik-Vorlesung v o m W i n t e r s e m e s t e r 1 8 7 2 / 7 3 9 erörtert; diese V o r l e s u n g bildet den B r e n n p u n k t des Interesses einer Reihe v o n Neuerscheinungen z u m T h e m a „Nietzsche und die R h e t o r i k " 1 0 . D e r unvermittelte Widerstreit zwischen d e m sprachstilistischen und 5

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Paul de Man, „Rhetorik der Tropen (Nietzsche)" (1974), in: ders., Allegorien des Lesens, aus dem Amerikanischen von Werner Hamacher und Peter Kruppe, Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag 1988, S. 146-163, hier S. 149. Ebd., S. 152. Zu den geistesgeschichtlichen Konsequenzen von Nietzsches Sprachkritik vgl. Karl Pestalozzi, Sprachkritik und deutsche Literatur im 20. Jahrhundert, Rektoratsrede gehalten an der Jahresfeier der Universität Basel am 30. November 1990, Basel: Verlag Helbing & Lichtenhahn 1990 (= Basler Universitätsreden 86. Heft). Vgl. zu diesem Spannungsfeld Rüdiger Campe, Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1990 (= Studien %ur deutschen Literatur Band 107), ders., „Die zwei Perioden des Stils", in: Comparatio. Revue Internationale de Littérature Comparée 2/3 (1991), S. 73-101 (zu Nietzsche insbes. S. 98-99), und ders., „RhetorikForschungen (und Rhetorik)", in: Modern Language Notes Vol. 109 (1994), S. 519-537. Die einzige bislang vollständige, zweisprachige Edition von Nietzsches „Darstellung der antiken Rhetorik (1872-73)", in: Friedrich Nietzsche on Rhetoric and Language, Edited and Translated with a Critical Introduction by Sander L. Gilman, Carole Blair and David J. Parent, New York-Oxford: Oxford University Press 1989, S. 1-167, ist von Anton Bierl and William Calder III, „Friedrich Nietzsche: .Abriss der Geschichte der Beredsamkeit'. A New Edition", in: NietzscheStudien Band 21 (1992), S. 363—389, als unzulänglich zurückgewiesen worden. Methodologisch ertragreich ist die Quellenkritik von Anthonie Meijers und Verf., „Konkordanz zu den wörtlichen Abschriften und Übernahmen von Beispielen und Zitaten aus Gustav Gerber: Die Sprache als Kunst (Bromberg 1871) in Nietzsches Rhetorik-Vorlesung und in ,Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne'", in: Nietzsche-Studien Band 17 (1988), S. 350—368, weitergeführt worden von Glenn Most und Thomas Fries, „(«)>: Die Quellen von Nietzsches Rhetorik-Vorlesung", in: Josef Kopperschmidt und Helmut Schanze (Hrsg.), Nietzsche oder „Die Sprache ist Rhetorik", München: Wilhelm Fink Verlag 1994 (= FIGUREN Band 1), S. 17—38 und 251—258 (schematische, vereinfachte Darstellung der Quellenlage zu § 2 und § 7 der Rhetorik-Vorlesung). Rudolf Fietz, Medienphibsophie. Musik, Sprache und Schrift bei Friedrich Nietzsche, Würzburg: Königshausen & Neumann 1992 (— Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften. Reihe Philosophie Band 117), 440 Seiten; Peter Gasser, Rhetorische Philosophie. Leseversuche zum metaphorischen Diskurs

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d e m anthropologischen A s p e k t d e r Rhetorik k o m m t i m G e d a n k e n s p r u n g z u m A u s d r u c k , mit d e m Nietzsche Bewußtsein und U n b e w u ß t e s zueinander in Beziehung setzt, w e n n er schreibt: „Es ist aber nicht schwer zu beweisen, dass was man als Mittel bewusster Kunst .rhetorisch' nennt, als Mittel unbewusster Kunst in der Sprache und deren Werden thätig waren, ja, dass die R h e t o r i k e i n e F o r t b i l d u n g d e r in d e r S p r a c h e g e l e g e n e n K u n s t m i t t e l ist, am hellen Lichte des Verstandes. Es giebt gar keine unrhetorische .Natürlichkeit' der Sprache, an die man appelliren könnte: die Sprache selbst ist das Resultat von lauter rhetorischen Künsten." 11 I m G r u n d e steht bereits hier nicht die „Natürlichkeit" d e r Sprache, s o n d e r n die „Natürlichkeit" des M e n s c h e n auf d e m Spiel: W i e bei der A f f e k t e n p s y c h o l o gie des 17. u n d 18. Jahrhunderts, die i m M e n s c h e n die Rhetorik entdeckt hat, indem sie seinen G e m ü t s b e w e g u n g e n einzelne rhetorische Figuren zuordnete, in denen sie Gestalt a n n e h m e n 1 2 , stellt sich auch hier die Frage nach d e m A b hängigkeitsverhältnis zwischen M e n s c h und Rhetorik. Ist die Rhetorik als U n b e w u ß t e s o d e r gar in F o r m des U n b e w u ß t e n 1 3 unvordenklich im M e n s c h e n einge-

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in Nietzsches,,Also sprach Zarathustra", Bern-Berlin-Frankfurt/Main-New York-Paris-Wien: Peter Lang 1992 (= Europäische Hochschulschriften. Reihe I: Deutsche Sprache und Uteratur Band 1371), 265 Seiten, und Angèle Kremer-Marietti, Nietzsche et la rhétorique, Paris: Presses Universitaires de France 1992 (= L'interrogation philosophique), 269 Seiten. Friedrich Nietzsche, „Rhetorik", in: GA XVIII, S. 237-268, hier S. 248-249. Vgl. dazu Rüdiger Campe, „Rhetorik und Physiognomik oder Die Zeichen der Literatur", in: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch Band 9 (1990), „Rhetorik und Strukturalismus", S. 68-83. In dieser Pointierung, dem Unbewußten im Anschluß an Roman Jakobsons linguistisches ZweiAchsen-Modell der Sprache die Struktur von Metapher und Metonymie zuzuschreiben, besteht bekanntlich Jacques Lacans „Rückkehr zu Freud"; vgl. Jacques Lacan, „Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die Vernunft seit Freud" (1957, 1966), aus dem Französischen übersetzt von Norbert Haas, in: ders., Schriften IL, ausgewählt und herausgegeben von Norbert Haas, Olten-Freiburg/Br.: Walter-Verlag 1975, S. 15-55. Schon Roman Jakobson hat in Freuds Traumarbeitsmechanismen der „Verdrängung" und der synekdocheisch verstandenen „Verdichtung" das Kontiguitätsprinzip der Metonymie, in den -mechanismen der „Identifizierung" und des „Symbolismus" das Similaritätsprinzip der Metapher wiederentdeckt; vgl. Roman Jakobson, „Zwei Seiten der Sprache und zwei Typen aphatischer Störungen" (1956), aus dem Englischen übersetzt von Georg Friedrich Meier, in: ders., Aufsätze ^ur Linguistik und Poetik, herausgegeben von Wolfgang Raible, Frankfurt/Main-Berlin-Wien: Ullstein Verlag 1979, S. 117-141, insbes. S. 137-138. So überrascht es - gerade bei der Verwirrung, die Jakobsons Zuordnung der „Verdichtung" zur Metonymie ausgelöst hat — nicht, daß die Rhetorik in den letzten Jahren auch innerhalb der Psychoanalyse zu einem vielbeachteten Problem geworden ist; vgl. etwa Emile Benveniste, „Remarques sur la fonction du language dans la découverte freudienne", in: ders., Problèmes de linguistique générale, Paris: Éditions Gallimard 1966, S. 75—87, Tzvetan Todorov, „La rhétorique de Freud", in: ders., Théories du symbole, Paris: Éditions du Seuil 1977, S. 285—321, Hans Hiebel, „Witz und Metapher in der psychoanalytischen Wirkungsästhetik", in: Germanischromanische Monatsschrift N. F. Band 28 (1978), S. 129-154, Maria Ruegg, „Metaphor and Metonymy: The Logic of Structualist Rhetoric", in: Glyph Vol. 6 (1979), S. 141-157, Samuel Jaffe, „Freud as Rhetorician: Elocutio and the Dream-Work", in: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch Band 1 (1980), S. 42-69, und Günter Everhartz und Andreas Mones, „Text - Traum - Text oder Das Nichts einer Differenz", in: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch Band 9 (1990), „Rhetorik und Strukturalismus", S. 38-51.

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lassen und i m m e r schon am W e r k oder ist sie M e n s c h e n w e r k , b e w u ß t e s W e r k v o n seiner H a n d und damit H a n d w e r k ? Diese Frage v e r s c h ä r f t sich im Verlauf v o n Nietzsches W e r k noch, in d e m m e h r u n d m e h r die A n t h r o p o l o g i e in den V o r d e r g r u n d rückt. W o i m m e r sich Nietzsche die Frage nach d e m M e n s c h e n stellt, ist sie gleichzeitig eine Frage der Rhetorik, im F r ü h w e r k eher im systematischen, zusehends m e h r jedoch in einem handgreiflich-praktischen Sinne. Für die Genealogie ist das menschliche Wesen, „der schreckliche G r u n d t e x t h o m o natura", interpretationsbedürftig 1 4 : „Den Menschen nämlich zurückübersetzen in die Natur; über die vielen eitlen und schwärmerischen Deutungen und Nebensinne Herr werden, welche bisher über jenen ewigen Grundtext homo natura gekritzelt und gemalt wurden; machen, dass der Mensch fürderhin vor dem Menschen steht, wie er heute schon, hart geworden in der Zucht der Wissenschaft, vor der a n d e r e n Natur steht, mit unerschrocknen Oedipus-Augen und verklebten Odysseus-Ohren, taub gegen die Lockweisen alter metaphysischer Vogelfänger, welche ihm allzulange zugeflötet haben: ,du bist mehr! du bist höher! du bist anderer Herkunft!' — das mag eine seltsame und tolle Aufgabe sein, aber es ist eine A u f g a b e — wer wollte das leugnen!" 15 Paradoxerweise also besteht „die Natur" des M e n s c h e n , in die ihn die G e nealogie „zurückübersetzen" will, gerade in ihrer Interprederbarkeit. Mit dieser B e s t i m m u n g des menschlichen Wesens steht der G e n e a l o g e gleichzeitig unter d e m G e b o t , es im D i e n s t des Lebens festzustellen und G e s c h i c h t e zu m a c h e n 1 6 . A u c h dazu bedient sich Nietzsche der Rhetorik. V o n einem erkenntniskritischen I n s t r u m e n t zur A n a l y s e der menschlichen Natur im F r ü h w e r k — das in einer

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Vgl. dazu Verf., „Der Körper als Schauplatz der Historie. Albert Hermann Post, Friedrich Nietzsche, Michel Foucault", in: FRAGMENTE. Schriftenreihe %ur Psychoanalyse Nr. 31 (Okt. 1989), „Schnittstelle Körper - Versuche über Psyche und Soma", S. 119-131. JGB, Siebentes Hauptstück: unsere Tugenden 230, KSA 5, S. 169; zu Nietzsches Bestimmung der philosophischen Aufgabe vgl. insbes. JGB, Sechstes Hauptstück: wir Gelehrten 211, KSA 5, S. 144-145. Vgl. zu diesem Gebot Heinz Dieter Kittsteiner, „Nietzsches .souveränes Individuum' in seiner .plastischen Kraft'", in: Internationale Zeitschrift für Philosophie Heft 2/1993, „Individuum und Person", S. 294—316, insbes. S. 299 und 311-316, und Werner Hamacher, „Das Versprechen der Auslegung. Überlegungen zum hermeneutischen Imperativ bei Kant und Nietzsche", in: Norbert W. Bolz und Wolfgang Hübener (Hrsg.), Spiegel und Gleichnis, Festschrift für Jacob Taubes, Würzburg: Königshausen & Neumann 1983, S. 252-273, insbes. S. 264: „Die Geschichtsschreibung steht unter dem Imperativ, selber Geschichte zu machen. Sie kann dabei aber nicht umhin, gerade auch diejenigen Momente anzuerkennen, die sich der Autorität des Willens nicht unterwerfen. Geschichtsschreibung, die sich selber performativ versteht und an der Erzeugung eines souveränen, gesetzgebenden Willens mitzuwirken sucht, kann die Kontingenz, der er sich zu entwinden hat, nicht verleugnen, sondern muß sie durch Affirmation zu bannen suchen. Sie ist dazu auf ein Verfahren angewiesen, das Nietzsche als Interpretation bezeichnet hat, das aber mit ebenso gutem und besserem Recht als Umdeutung, Erdichtung und Verfälschung charakterisiert werden kann."

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sich gegen sich selbst wendenden Aporie gleichzeitig die eigene Tauglichkeit bestreitet — wird sie zu einem praktischen Mittel, diese Natur zu gestalten. 17 In Angèle Kremer-Mariettis Monographie Nietzsche et la rhétorique18 steht dagegen — wie bei Philippe Lacoue-Labarthe und Paul de Man — ganz jene „rhetorische Wendung" von Nietzsches Philosophie im Vordergrund, welche die Autorin als sprachkritische versteht („Chapitre premier: Le tour rhétorique"). In Form einer genetischen Untersuchung will Kremer-Marietti ihre innere Dynamik sowohl unter einem historischen wie unter einem systematischen Aspekt entfalten. Originell ist dabei ihr Versuch, Nietzsches Begegnung mit der Rhetorik auf den christlichen Symbolbegriff zurückzuführen, in dessen Geist Nietzsche erzogen wird. Auch auf die altphilologische Tradition, in der Nietzsches Studium steht, geht Kremer-Marietti näher ein. Leider erschöpft sich in den folgenden Kapiteln ihre Vermittlungsfunktion, dem französischen Publikum zum erstenmal Nietzsches Rhetorik umfassend vorzustellen, weitgehend in zum größten Teil wörtlichen Paraphrasen von Nietzsches Metrik-Studien und seinen Vorlesungen über die „Geschichte der griechischen Beredsamkeit" und über die „Rhetorik" in französischer Übersetzung. Da die Monographie dabei die deutschsprachige Forschung kaum berücksichtigt, ist ihr Gebrauchswert über eine erste Lektüre von Nietzsches Texten hinaus beträchtlich geschmälert. So findet sich zum Beispiel im Zusammenhang mit Nietzsches Metrik-Studien kein bibliographischer Hinweis auf die einschlägige Untersuchung von Bornmann 19 , im Zusammenhang mit den Empedokles-Fragmenten kein Hinweis auf Söring 20 , im Zusammenhang mit Nietzsches Rezeption von Friedrich Albert Langes Geschichte des Materialismus (1866) kein Hinweis auf Salaquarda und Stack 21 , um nur die naheliegendsten Versäumnisse zu nennen (vom fehlenden Hinweis auf die einschlägige Konkordanz zu Nietzsches Gerber-Rezeption ganz zu schweigen). Am Ende bleiben nur ein paar interessante Erwägungen zu Nietzsches Sprachkritik im Spiegel der Sprachreflexionen von Charles Sanders Peirce, Fritz Mauthner und Ludwig Wittgenstein. Rudolf Fietz' Bonner Dissertation Medienphilosophie. Musik, Sprache und Schrift bei Friedrich Nietzsche22 bewegt sich „im Gesamtkontext der Frage nach dem 17

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Diese Entwicklung gliedert Gerhard Rupp, „Wahrheit, Strategie und Kalkül. Nietzsches rhetorische Praxis", in: Kopperschmidt und Schanze (Hrsg.), Nietzsche (Anm. 9), S. 1 7 1 - 1 8 2 , einsichtig in vier Stufen. Kremer-Marietti, Nietzsche et la rhétorique (Anm. 10); Seitenzahlen im Text beziehen sich im folgenden auf diese Monographie. Fritz Bornmann, „Nietzsches metrische Studien", in: Nietzsche-Studien Band 18 (1989), S. 472-489. Jürgen Söring, „Nietzsches Empedoldes-Plan", in: Nietzsche-Studien Band 19 (1990), S. 176—211. Jörg Salaquarda, „Nietzsche und Lange", in: Nietzsche-Studien 7 (1978), S. 236-260, und George J. Stack, Lange und Nietzsche, MTNF 10, Berlin 1983. Fietz, Medienphilosophie (Anm. 10); Seitenzahlen im Text beziehen sich im folgenden auf diese Dissertation.

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medialen Status von Sprache und Schrift" (S. 8). In ihrem methodologischen Selbstverständnis, das an Jacques Derridas poststrukturalistischer Kritik der strukturalistischen Linguistik und Semiotik geschult ist, betreibt sie im Anschluß an Roland Barthes „Philologie als ,Lehre' von den Möglichkeitsbedingungen literarischen Bedeutens" (S. 418). Unter der mit dem Diskursanalytiker Friedrich A. Kitder geteilten Prämisse: „Nietzsche denkt und argumentiert durchaus medientheoretisch und medienhistorisch" (S. 309) 23 , wendet sie Nietzsches Rhetorik, die sie aus ihrer Abhängigkeit vom ersten Band des Buches Die Sprache als Kunst (Bromberg 1871) von Gustav Gerber entwickelt, vorab metaphysikkritisch (wobei sie für den zweiten Teil ihrer Prämisse den Nachweis weitgehend schuldig bleibt; als Medienhistoriker ist Nietzsches Physiognomie — bis auf seine Erwägungen zum Ubergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit im 6. und 5. vorchristlichen Jahrhundert — weiterhin blaß). Metaphysik nennt Fietz originellerweise „die Negation des Mediums, die Negation der unhintergehbaren Medialität von Inhalten" (S. 282), wie sie etwa in Aristoteles' Begriff des Begriffs zum Ausdruck kommt, der auf dem Umweg über die „uneigentliche", „übertragene", „figurative" Bedeutung der Metapher als „eigentliche", „wörtliche" Bedeutung bestimmt und dadurch von der Medialität der Sprache gereinigt wird. Dagegen kehrt Nietzsche — dessen „Schreiben über Sprache" mit der Lektüre Gerbers „eine Qualität semiotischer Reflektiertheit" erreicht haben soll, „die es so vorher nicht hatte" (S. 135) — dieses Verhältnis um: Der metaphorische Begriff „Metapher" entlarvt den „Begriff selbst als Metapher. So verweist Nietzsches Metaphorik, seine metaphorische Praxis als implizite Metaphorologie, „auf die medialen Bedingungen der Möglichkeit, unter denen Sinn und Referenz allererst zustande kommen". Auch Nietzsches Musikphilosophie mündet für Fietz in die Erkenntnis: „Ästhetische Autoreflexivität von Zeichen [...] ist gerade die Möglichkeitsbedingung des Funktionierens von Zeichen und Zeichenprozessen überhaupt. Zeichenhaftigkeit ist selbstreferentielle Medialität." (S. 174) Diese globale Ästhetisierung von Zeichenprozessen, die den anthropologischen Aspekt der Rhetorik bei Nietzsche vernachläßigt, hat methodisch allerdings einen hohen Preis: Sie nimmt Nietzsches Begriff der Interpretation, den Fietz nicht reflektiert — immerhin „ein Ü b e r w ä l t i g e n , H e r r w e r d e n [...], ein Zurechtmachen [...], bei dem der bisherige ,Sinn' und ,Zweck'" eines Dings, eines Organs oder eines Brauchs „nothwendig verdunkelt oder ganz ausgelöscht werden muss", so daß sich seine Geschichte wie „eine fortgesetzte ZeichenKette von immer neuen Interpretationen und Zurechtmachungen" 24 liest —, jede Gewaltsamkeit. 23

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Vgl. dazu vor allem Friedrich A. Kittler, „Nietzsche (1844-1900)", in: Horst Türk (Hrsg.), Klassiker der Literaturtheorie. Von Boikau bis Barthes, München: Verlag C. H. Beck 1979, S. 191-205 und 338-340. GM, Zweite Abhandlung: „Schuld", „schlechtes Gewissen" und Verwandtes 12, KSA 5, S. 314.

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Martin Stingelin

Diese kommt auch in Peter Gassers Neuenburger Dissertation Rhetorische Philosophie25 nicht in den Blick; sie zieht die poetologischen Konsequenzen, die sich aus Hans Blumenbergs Bestimmung ergeben: „Rhetorik ist das Wesen der Philosophie Nietzsches" (S. 8), wobei sie von allen hier angezeigten Arbeiten explizit den restringiertesten Begriff von Rhetorik pflegt, sieht sie diese doch in Nietzsches Rhetorik-Vorlesung und in „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" „weder als Stillehre noch als Technik der Beredsamkeit gefasst, sondern als Figuren- und Tropenlehre" (S. II) 2 6 . So kann sie sich letztlich ganz auf die Metapher beschränken, da Nietzsches Begriff der Metapher gelegentlich — aber in Gassers Lektüre folgerichtig — selbst metaphorisch ist und im übertragenen Sinn alle Formen der Übertragung meint. In dieser Selbstimplikation, in der sich Sprachreflexion nicht länger in Form der Trennung zwischen Objektund Metasprache, sondern performativ vollzieht, erweist sich Nietzsches Philosophie als Dekonstruktion: „Das rhetorische Selbstverständnis überschreitet die Reflexionstätigkeit, die Philosophie schon immer betrieben hat: die Reflexion über Sprache. Philosophie ist Darstellung durch Rede. Diese grundsätzliche These des ,linguistic turn', auf die sich die neuere Hermeneutik und der Poststrukturalismus gleichermassen berufen [...], bestreitet das Verfahren der logozentrischen Philosophie, die sich, ihrer Wissenschafdichkeit zuliebe und um der Sache willen, von der Sprache, in der sie sich ausdrückt, dispensiert." (S. 8) In zehn Studien über den metaphorischen Diskurs, die Gleichnisse, die Metamorphosen, das Bild der Sonne, die rhetorischen Darstellungsweisen des Gedankens von der Ewigen Wiederkunft, die Reden Zarathustras, das Rollen- und Maskenspiel, die Sprache des Leibes, die philosophische Selbstdarstellung als Parodie und das Verhältnis von Rhetorik und Philosophie erbringt Gasser den Nachweis, „dass Nietzsches Diskurs" in Also sprach Zarathustra „weniger auf einer referentiellen Basis denn auf einer rhetorischen fungiert, in der die figurale Rede auch Prozesse der Defiguration auslöst" (S. 12), der die herkömmliche dichotomische Gegenüberstellung von philosophischem Inhalt und sprachlicher Form nicht gerecht wird. (Es überrascht allerdings gerade bei Gassers Aufmerksamkeit für formale Gestaltungsmittel wie Satzzeichen — die er mit Rudolf Fietz teilt —, daß Zitate aus Also sprach Zarathustra in der Regel ohne Absätze wiedergegeben werden.) So ist etwa der „Ubermensch" „nicht das Dargestellte einer darstellenden Rede, sondern eine Sprachfigur, die mit immer wieder neuen rhetorischen Mit25

26

Gasser, Rhetorische Philosophie (Antn. 10); Seitenzahlen im Text beziehen sich im folgenden auf diese Dissertation. Zur Kritik dieses Begriffs von Rhetorik vgl. Gérard Genette, „Die restringierte Rhetorik" (1970), aus dem Französischen übersetzt von Wolfgang Eitel, in: Anselm Haverkamp (Hrsg.), Theorie der Metapher,, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1983 (= Wege der Forschung Band 389), S. 229-252; Gasser räumt allerdings ein, daß seine Lektüre von Nietzsches Philosophie unter dem Vorzeichen ihrer Metaphorik „ein theoretisches Bestreben nach einer generell .restringierten Rhetorik' [...] keineswegs" einschließe (S. 12).

Die Rhetorik des Menschen

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teln artikuliert wird" (S. 20). Gassers multiperspektivische Lektüre erschließt „die strategische Sturkturvielfalt des Textes" (S. 28) unter dem Vorzeichen der Metapher, ohne zu vergessen, daß dieser „Schauplatz einer Auseinandersetzung konkurrierender Auslegungsperspektiven" (S. 31) ist. Letztlich ist aber auch in dieser Form der rhetorischen Lektüre die Interpretation eine Frage des Textes und nicht der Text eine Frage der Interpretation. So konfrontieren die Monographien von Kremer-Marietti, Fietz und Gasser ihre Leser mit dem Paradox, daß ihre Textauslegungen in demjenigen Maße an Detailgenauigkeit gewinnen, wie sich ihr Begriff von Rhetorik verengt. Damit erweisen sie sich nicht zuletzt als Prüfsteine für die Frage, wie sehr die philologische Verbindlichkeit allein von dieser Detailgenauigkeit abhängt.

PAUL S. MIKLOWITZ

NEW RECORDINGS OF NIETZSCHE

MUSIC*

T h a t Nietzsche c o m p o s e d music has never been a secret; nevertheless, real knowledge

of

his musical

e f f o r t s has

never

been v e r y

common

among

Nietzsche's readers either. A l r e a d y in 1 8 6 8 , after praising his genius and p r o p h e sying his future greatness as a philologist in a letter w h i c h w o u l d

secure

Nietzsche's only stable source o f income, Leipzig University's Friedrich Ritschl noted, by the way, that Nietzsche was also a gifted musician — "which is irrelev a n t here." N o r have m a n y scholars since f o u n d Nietzsche's compositions any m o r e relevant 1 — a curious thing w h e n o n e r e m e m b e r s that Nietzsche so o f t e n

* Piano Music of Friedrich Nietzsche, John Bell Young and Constance Keene, piano (Newport Classic compact disc NPD 85513, 1992): The Music of Friedrich Nietzsche for Piano Four Hands: "Nachklang einer Sylvesternacht" and "Monodie ä deux", Performance Edition by John Bell Young (HLH Music Publications, 1992) 1 There are important exceptions. Curt Paul Janz is perhaps the most prolific philosopher to address himself to questions raised by Nietzsche's music; indeed, he has declared that, without knowledge of his compositions, "wir einfach nicht den ganzen Nietzsche kennen und verstehen können" ("Die Kompositionen Friedrich Nietzsches," Nietzsche-Studien, Bd. 1, [1972], S. 184). Of Janz's writing, see also: "Die 'tödtliche Beleidigung.' Ein Beitrag zur Wagner-Entfremdung Nietzsches," Nietzsche-Studien, Bd. 4 (1975), S. 263-278; "Friedrich Nietzsches Verhältnis zur Musik seiner Zeit," Nietzsche-Studien, Bd. 7 (1978), S. 308-326; Friedrich Nietzsche. Der musikalische Nachlaß (Basel, 1976). Other recent philosophical studies of this aspect of Nietzsche's aesthetic practice include: Roger Hollinrake, "Wagner and Nietzsche: The Triumphlied Episode," Nietzsche-Studien, Bd. 2 (1973), S. 196—201; Frederick R. Love, "Prelude to a Desperate Friendship: Nietzsche and Peter Gast in Basel," Nietzsche-Studien, Bd. 1 (1972), S. 261-285, "Nietzsche's Quest for a New Aesthetic of Music. 'Die allergrößte Symphonie,' 'Großer Stil,' 'Musik des Südens'", Nietzsche-Studien, Bd. 6 (1977), S. 154-194, "Nietzsche, Music and Madness", Music and Letters, Great Britain, Vol. LX/ 2 (April 1979) [Mr. Love's 1958 Yale University dissertation, Nietzsche and Peter Gast. A Study in Musical Taste, details Nietzsche's specific influences on Peter Cast's development of opera buffa in response to abandoning his earlier Wagnerian ideal]; David S. Thatcher, "Nietzsche and Brahms: a Forgotten Relationship," Music and betters; Great Britain, LIV/3 (July 1973), "Musical Settings of Nietzsche Texts: An Annotated Bibliography," Parts I and II, Nietzsche-Studien, Bd. 4 (1975), S. 284-323 and Bd. 5 (1976), S. 355-383, "Nietzsches Totengericht über Brahms," Nietzsche-Studien, Bd. 7 (1978), S. 339-356. Finally, see Nietzsche's New Seas, ed. Michael Allen Gillespie and Tracy B. Strong, Part II, "Toward a New Logic: Singing the Siren's Song" (Chicago: The University of Chicago Press, 1988) for translations of Curt Paul Janz, "The Form-Content Problem in Nietzsche's Conception of Music," and Jean-Michel Rey, "Commentary," as well as Gillespie's essay "Nietzsche's Musical Politics."

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describes his prose style and his very ideas as kinds of music, that his faithful friend and co-literary executor, Heinrich Koselitz, was the composer "Peter Gast," whose musical career Nietzsche championed, or that his formative friendship with Richard Wagner climaxed with Nietzsche's brazen attempt to share the Maestro's muse — and honor his wife — by dedicating a score for four hands at the piano to Cosima for her birthday! Furthermore, while it is true that the relative neglect of Nietzsche's music among philosophers is perpetuated by a paucity of interested performers who might make recordings and give concerts, musicians have by no means ignored this aspect of Nietzsche's creative life. Also sprach Zarathustra, to begin with the most obvious example, is a title associated almost as commonly with Richard Strauss as it is with Nietzsche. Completed in 1896, four years before Nietzsche's death, Strauss' eponymous tone poem was the first to be inspired by the philosopher. To date, at least 174 composers, representing 19 nationalities, have set 89 of Nietzsche's texts in more than 370 compositions! 2 The cornucopia of musical forms that have been exploited includes four operas, an oratorio, a mass and a requiem, four symphonies and five tone poems, cantatas, songs, sonatas, string quartets, eleven wordless compositions — even a pantomime-melodrama! Although many of these works have not been published and relatively few have been recorded, the list of composers who wrote them is impressive indeed: Strauss, Mahler, Schoenberg, Webern, Delius, Orff, Hindemith, Busoni, Foss, Hugo Wolf ... A story is told that Strauss once counseled a young composer who had asked him how he might proceed with his art to "Read Nietzsche!" A century of musical ears evidently heard — or already agreed with — this advice. It is not surprising that modern composers, seeking an anchor in the deep seas of German cultural expression, have looked to Nietzsche. German philosophy since Beethoven has tended to grant a privileged place to music. While the epic closure and transcendent reach of Beethoven's music echoes the conceptual grandeur of absolute idealism, Wagner's concept of the Gesamtkunstwerk represents an aesthetic instantiation of such synthetic ambitions — although Wagner sought confirmation of his self-conception as an artist in Hegel's nemesis (and Nietzsche's educator) Schopenhauer, who taught that music expressed more directly than any words could do the true essence and "in-itself" of all reality. If music were translated into words, Schopenhauer provocatively speculated, it would be the true philosophy.3 Paraphrasing Leibniz, Schopenhauer remarks that "Musica est exercitium metaphysices occultum nescientis se philosophari animi'."4 And, although he regarded the shackling of music to inferior expressive forms as 2 3

4

See David S. Thatcher, "Musical Settings of Nietzsche Texts," Parts I and II, op. cit. Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung (Berlin und Wien: Hans Heinrich Tillgner Verlag, 1924), Bd. 1, § 52, S. 266-67. Ibid., S. 267.

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a deleterious compromise - "Wenn also die Musik zu sehr sich den Worten anzuschließen und nach den Begebenheiten zu modeln sucht, so ist sie bemüht, eine Sprache zu reden, welche nicht die ihrige ist" 5 — Wagner nevertheless bore Schopenhauer before him in those days like a shield. In the end, Nietzsche was to have nothing but scorn for this opportunistic obsequiousness. Reflecting on ascetic ideals in art, Nietzsche remarked in 1887: Mit dieser ausserordentlichen Werthsteigerung der Musik, wie sie aus der Schopenhauer'schen Philosophie zu erwachsen schien, stieg mit Einem Male auch der Musiker selbst unerhört im Preise: er wurde nunmehr ein Orakel, ein Priester, ja mehr als ein Priester, eine Art Mundstück des 'An-sich' der Dinge, ein Telephon des Jenseits, - er redete fürderhin nicht nur Musik, dieser Bauchredner Gottes, — er redete Metaphysik [...]. 6

In any case, it was during an early discussion of such ideas, then close to both of their hearts, that Wagner and Nietzsche became friends in 1868. But his friendship with Wagner defined and defiled Nietzsche's life-long relationship with music. Having received substantial musical training as a child growing up in a musical household, Nietzsche's earliest success — during a youth filled with little else than conspicuous success — was as an improvisor at the piano and, inevitably, as a composer. While at the prestigious boarding school Pforta, Nietzsche formed a student Bund called "Germania," to which he presented both essays and compositions. But Wagner's agenda would have a place for Nietzsche as his philosophical spokesman — and as Wagner's extravagant artistic dreams were ultimately bankrolled by King Ludwig II, propelling his career into a fulfillment such as few artists have ever known, Nietzsche's career took a downward trajectory from the publication of his very first book — his Dionysian paean to Wagner, true (perhaps!) to the spirit of ancient Greece, but scandalously distant from its nineteenth century incarnation in German letters. Nietzsche was never to purge himself of Wagner's potent spirit, although he repeatedly tried to do so; among his very last works are three final attempts at textual exorcism. Instead, Wagner remained a painful symbol to Nietzsche of what he himself could not seem to achieve: worldly recognition of uncompromisingly original genius, a passionate erotic life (Nietzsche was also in love with Cosima), and above all, success in the highest form of human expression, music. For Wagner's rejection of Nietzsche's efforts as a composer, reinforced by the savage judgment he received of his "Manfred Meditation" from Hans von Bülow (Cosima's former husband!), snuffed out the young man's attempts to express himself in the only form that he believed might not compromise its own true emotional content.7 5 6 7

Ibid., S. 264. Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, Dritte Abhandlung, § 6, Bd. 5, S. 346. Hans von Bülow, in response to Nietzsche's fawning dedication of his "anti-overture to Manfred" to him, cruelly fulminated "Your Manfred Meditation is the most extreme fantastical

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Internalizing and repressing this frustration, Nietzsche's mature philosophy became a new kind of music. Retrospectively lamenting the pedantic style of his first book — whose anti-pedantic iconoclasm had nevertheless scandalized the academic world — Nietzsche wrote nostalgically that "Sie hätte singen sollen, diese 'neue Seele' — und nicht reden!" 8 Music is, in fact, the dominant metaphor Nietzsche himself employed for the literally uncategorizable interdisciplinary discourse he produced. In a letter to Peter Gast he went so far as to claim that Also sprach Zarathustra, which had "grown out of the spirit of music," was more nearly a symphony than anything else — composed, as it is, in four "movements" that follow a slow introduction. 9 Gast would enthusiastically remark years later, upon visiting him in the mental institution, how Nietzsche's ability to speak through the piano survived the silencing of his philosophical voice: "Then he sat down to improvise. Not one wrong note! Interweaving tones of Tristan-like sensitivity, ... Beethoven-like profundity, and jubilant songs rising above it. Then again reveries and dreams." 10 In light of the complex connections between Nietzsche's work and "madness" — its extreme disregard for conventions and its visionary passion, which contributed to its misappropriation in our own century by such notorious madmen as Hitler — the image of the "insane" philosopher, his "proper" voice transfigured by mental illness, performing with virtuosity at the piano is striking indeed. And it is not surprising that the musical structure of his polymorphic prose has been posthumously evident to his readers as well; Albert Schweitzer, for example, regarded all his work as symphonic in form, full of "kleinen fugierten Intermezzi, womit Beethoven in seinem Werken manchmal verweilt." 11 For these and other reasons to be considered in a moment, the commercial release of recordings of Nietzsche's musical compositions is an important event for anyone interested in Nietzsche's work and influence. It should be noted that various privately-pressed recordings have been available for years at the Nietzsche-Haus in Sils-Maria; that the pianist Carsten Storm has recorded many of the same early works that appear on the Newport Classic CD (Storm's inter-

8 9

10 11

extravagance, the most irritating and anti-musical set of notes on manuscript paper I have seen for a long time. [...] Apart from psychological interest [...] your meditation has, from the musical viewpoint, only the value of a crime in the moral world." Von Biilow suggested that the piece might perhaps have been meant as a joke, a parody of Wagner's Zukunftsmusik, and he concluded that Nietzsche's cautious, self-depricating description of his music as "frightful" was really accurate. See Ronald Hayman, Nietzsche: A Critical Life (New York: Penguin, 1980), p. 155. Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, Versuch einer Selbstkritik, § 3 (KSA, Bd. 1, S. 15). Curt Paul Janz, "Die Kompositionen Friedrich Nietzsches," Nietzsche-Studien, Bd. 1 (1972), S. 175. Quoted in Hayman, op. cit., p. 341. Quoted in Curt Westernhagen, Richard Wagner (Zürich, 1956), S. 463, and in Thatcher, "Musical Settings of Nietzsche Texts," Part II, op. cit., p. 383.

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pretations are available on vinyl from PANOMIA e. V. in Bornheim/Rheinland); that even so well-known a figure as Dietrich Fischer-Dieskau recorded some of Nietzsche's songs (three are included on "Lieder der Neudeutschen," EMI C 065-02 674). There are , undoubtedly, still other examples. But the recent Newport Classic digital issue (NPD 85513) makes an important contribution to this somewhat evanescent field, while the Nietzsche Music Project's promise of a second CD, to include the "Manfred Meditation" that so underwhelmed von Biilow, a violin fantasy, and 17 songs, is also welcome news.11 a Mr. Young's reading of Nietzsche's sometimes awkward scores is sensitive to nuance and intelligent in its grasp of structure, and Constance Keene's accompaniment on the pieces for four hands is skilled and sympathetic. There are some technical infelicities: bar 30 of "Unendlich" is awkwardly executed, someone seems to stumble in several passages of the "Nachklang einer Sylvesternacht," and the quality of the recorded sound tends to muddy more saturated musical textures. But such qualifications are of only marginal significance in the context of the historical and intellectual value of making Nietzsche's music readily available to a wide audience. Much of the material on the new recording dates from Nietzsche's school days, seven years before meeting Wagner while "Fritz" was still a teenager (1861—63), and it thus ranks — both chronologically and qualitatively — as juveSince the writing of this article, the promised CD has appeared ("The Music of Friedrich Nietzsche:" John Bell Young, piano; John Aler, tenor; Nicholas Eanet, violin; Thomas Coote, piano; Newport Classics NPD 85535). It contains Nietzsche's "musikalische Dichtung" "Eine Sylversternacht" for violin and piano, the "Manfred-Meditation" for piano four hands, and sixteen songs accompanied by piano: "Ständchen," "Ungewitter," "Es winkt und neigt sich," "Da geht ein Bach," "Aus der Jugendzeit," "Mein Platz vor der Tür," "Das Kind an die erloschene Kerze," "Junge Fischerin" "Beschwörung," "Unendlich," "Gern und gerner," "Verwelkt," "Wie sich Rebenranken schwingen," "Nachspiel," "Kirchengeschichtliches Responsorium," and "Gebet an das Leben." The recording is much more transparent than had been the case with the first CD, and the performances are consistently good. Three of the songs — "Nachspiel," "Wie sich Rebentanken schwingen," and "Verwelkt" - can also be heard on the Fischer-Dieskau LP mentioned above. "Kirchengeschichdiches Responsorium" is a witty and very personal gesture to commemorate the birthday of Franz Overbeck, while "Gebet an das Leben," set to a poem by Lou Salomé, was ultimately to be re-figured several times by Nietzsche; a late version, the "Hymnus and die Freundschaft" for piano recorded on the first Newport Classic CD, is discussed below. Nietzsche's tendency to recycle his own better musical ideas is evident as well in the identity of principal theme(s) of "Eine Sylversternacht" and the "ManfredMeditation," the first and last selections of the new collection; the same theme also animates the "Nachklang einer Sylvesternacht," recorded on the first CD. Finally, it should be noted here that Wolfgang Bottenberg, of Concordia University, Montreal, Canada, has released a two CD set that presents Nietzsche's compositions, performed by various artists, "in chronological order of their dates of creation, and following the sequence which Curt Paul Janz established in Der Musikalische Nachlaß'' Dr. Bottenberg is presendy preparing orchestral and choral versions of several of Nietzsche's larger compositions, and he hopes to arrange a performance and subsequent recording of Peter Gast's orchestration of Nietzsche's "Hymnus and die Freundschaft."

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nilia. Mr. Young himself admits, in his introductory notes to the simultaneously published performing edition of the score for the two pieces for four hands (the "Monodie ä Deux" and the "Nachklang"), that "the smaller [works] are unremarkable for their use of conventional formal patterns." 12 Besides "Einleitung" and "Nachspiel" (the latter, a charming song originally set to words of Alexander Petöfi, can be heard on the Fischer-Dieskau album mentioned earlier), Mr. Young's selection from among Nietzsche's many smaller works includes an evocation of running water in "Da geht ein Bach" and the romantic pathos of "Das zerbrochene Ringlein," a Hungarian march, "Two Polish Dances" (although the second, "Aus der Czarda," is actually a Hungarian dance — properly, "Csardas"), and a "Symphonic Poem." The most ambitious of these early pieces, this last is named for the Ostrogothic King Ermanerich whose Wagneresque life story also provoked the young Nietzsche to compose poems and a well-received essay for the same teacher — August Koberstein — for whom he wrote his best known and most highly regarded early prose, the Pforta essay on Hölderlin. Although it has been acclaimed for its precocity and insight by more than a century of scholars, this essay was recendy revealed to be a plagiarism (see my article "Same As It Ever Was: Plagiarism, Forgery and the Meaning of Eternal Return "Journal of Nietzsche Studies, Autumn 1993). The two most substantial and significant pieces on the ne^v recording, then, both dating from just about the time of Die Geburt der Tragödie, are the "Hymnus an die Freundschaft" and the "Nachklang einer Sylvesternacht" ("dedicated to Cosima Wagner on the occasion of her birthday (December 25, 1871)," as the score informs us). Melodrama, never far from Nietzsche's explicitly emotional musical romanticism, attends the circumstances of the composition and presentation of the "Nachklang." The previous Christmas Nietzsche had been present at the Wagner's Lucerne villa "Tribschen" for the maestro's birthday gift to his new wife: the house awoke that day to the music of what is now known as the "Siegfried Idyll," a grand gesture that brought tears to everyone's eyes (according to Cosima's journal account). Cosima had already borne Wagner's son Siegfried before their marriage severed her liaison with von Bülow; the Wagners' first Christmas together was indeed a "Tribschen Idyll." But Nietzsche's attempt to match this gift with a musical offering of his own the following year was rather less memorable; Wagner was driven from the room in laughter, and Cosima was later annoyed to learn that Nietzsche had also sent a copy of the score to his mother and sister that Christmas, dedicating the work to them. 13 It is 12 13

Piano Series P 100 (HLH Music Publications, 1992), p. iii. See Nietzsche's letter to Franziska and Elizabeth Nietzsche, Basel, Saturday [December 23, 1871]: "von Herzen wünsche ich daß Ihr an meinen kleinen Weihnachtsgeschenken einige Freude haben mögt. Zur Erklärung derselben beginne ich mit dem, was Euch Beiden gemeinsam gewidmet ist: die Composition mit dem Titel 'Nachklang einer Sylvesternacht' mußt Ihr Euch recht bald einmal wirklich vortragen lassen; [...]". KGB, Abt. II, Bd. 1, S. 261.

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true that Wagner's own Geburtstagstück conspicuously inhabits Nietzsche's, but that in itself would not have been grounds for Wagner's distress. In fact, traces of Beethoven's B flat sonata, Opus 106, are evident in the score as well. Nietzsche's aggressively rhythmical use of the piano, evident already in the bold heroics of "Ermanerich," is most dramatically demonstrated in the "Bauerntanz" that begins at bar 188 of the "Nachklang." Thundering fortissimo fifths — which Mr. Young indicates in a note to the score are to sound "as if they were played by a horn, or perhaps a bagpipe" — drive this dance passage virtually throughout, resounding vigorously in G major. Unfortunately, however, neither this nor any of the other "Echoes" within this piece resonant with personal pathos manage to form a disciplined expression of compelling musical continuity or organic unity. And the other piece for four hands, the "Monodie à Deux" — composed for a wedding out of material for an oratorio that Nietzsche had attempted in 1861 — is chiefly of historical interest to readers of Nietzsche's letters. But if we accept Nietzsche's own lasting judgment, the most important — and the longest — piece of music to appear on the new CD is the "Hymnus an die Freundschaft." Originally composed in 1874, it was to be re-worked eight years later when Nietzsche was in thrall to another woman, Lou Salomé (a remarkable person in her own right, who was to inspire an opera by Giuseppe Sinopoli more than one hundred years later), subsequently arranged for mixed chorus and orchestra by Peter Gast in 1887 (a recording of which would be of interest), and ultimately recommended by Nietzsche in a letter to Georg Brandes as the one composition "von meiner Musik übrig zu bleiben und einmal 'zu meinem Gedächtniß' gesungen zu werden." 14 Enthusiastic mention of the piece first enters Nietzsche's correspondence during the summer of 1882, when the twenty-one-year-old Lou, with whom Nietzsche had what came closest in his solitary life to a real romance, moved him to set her poem "Gebet an das Leben" to music. In a letter to her from the end of August, 1882, Nietzsche boasted "In Naumburg kam wieder der Dämon der Musik über mich — ich habe Ihr Gebet an das Leben componirt." 15 Although the score was not entirely new,16 mating it with Lou's words seems to have given it a special place in Nietzsche's mind, a preference which survived the short love affair (if such it can be called) that so decisively came to an end 14 15

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Nietzsche to Georg Brandes, Nizza, December 2, 1887 (KGB, Abt. III, Bd. 5, S. 207). Nietzsche to Lou von Salomé in Stibbe [Naumburg, Ende August 1882] (KGB, Abt. III, Bd. 1, S. 247). "In Wirklichkeit aber schrieb er keine neue Musik dazu, sondern zwang den Text unter die Melodie seines 'Hymnus auf die Freundschaft' von 1873." Ekkhart Kroher, " 'Hörte jemand ihr zu?' Erinnerung an den Komponisten Friedrich Nietzsche und seine Musik," Música, Heft 6, November-Dezember 1977, S. 503.

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only months after it had begun. As late as November 1887, not much more than a year before his breakdown, Niet2sche's letters record his delight in a newly published version of the orchestrated score, now entided "Hymnus an das Leben", and his pride in the limited critical acclaim it received (besides his friends' praise, the Geneva professor of music Adolph Ruthardt, later of the Leipzig Conservatory, commended the composition as "sehr würdig, rein im Satz und wohlklingend"). 17 Encouraged at long last, Nietzsche sent the score to Brahms, Fuchs, Krug, Overbeck, and a number of prominent conductors. To Hermann Levi, a conductor favored by Wagner in spite of the "tragic flaw" of his being Jewish, Nietzsche confessed "Vielleicht hat es nie einen Philosophen gegeben, der in dem Grade am Grunde so sehr Musiker war, wie ich es bin." 18 Levi, his sympathy aroused, actually made plans to conduct the work for Nietzsche's funeral, but his own death interceded (the first performance was given in Vienna by the Berliner Wagner-Verein in 1926). 19 Thus, Nietzsche affirmed — in a moment of modesty that contrasts with the bold confidence he expressed in the profound destiny of his prose — that the "Hymnus," of all his music, "soll von mir übrig bleiben, gesetzt, daß ich selbst übrig bleibe."20 Nietzsche did himself survive; much more, he became, in the century on whose doorstep he left his corpse, the "destiny" he insanely proclaimed himself to be from within the isolation that produced Ecce Homo. But his musical judgment, even of music not his own, was less reliable, more fickle and emotional. When his love for Wagner soured, it fermented into an almost lewd infatuation with Bizet's Carmen; similarly, Nietzsche's fondness for his "Hymnus (Gebet) an die (das) Freundschaft (Leben)" has, perhaps, more to do with Lou than with the prophetic insight of the philosopher. The music shows the influences of Beethoven in particular gestures, and of Schumann throughout, but finally fails to sound a compelling voice of its own. Cascading scales reminiscent of the first movement of the "Emperor" concerto, and near quotation of part of the Arietta theme from the Piano Sonata Opus 111 — but without its sustaining context — punctuate this sprawling piece whose loose "literary" structure fails to cohere into the romantic magic Schumann commanded. Ironically, the most "authentic" elements here are those that honestly pay tribute, but they are sewn together by an alternately ponderous and wandering texture. It seems that Nietzsche — to borrow a metaphor from Zarathustra — was himself both the heavy drops of the last man and the lightning heralding the advent of the next. The composer's awkward attempts to re-inhabit past expres17

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Quoted by Nietzsche in a letter to Peter Gast, Nizza, November 10, 1887 {KGB, Abt. III, Bd. 5, S. 191). Nietzsche to Levi (draft), dated October 20, 1887 KGB, Abt. III, Bd. 5, S. 172. Thatcher, "Musical Settings of Nietzsche Texts," Part II, op. cit., p. 383. Nietzsche to Carl Fuchs, Pension de Genève, 14. Dez. 1887 (KGB, Abt. III, Bd. 5, S. 211).

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sive forms appear, in retrospect, as the inverse of his radical philosophical iconoclasm. Nietzsche's creative work has served Western culture as a rope, if not between beast and overman, then between modernity and what has come after, for coming to terms with the exhaustion of an age that has already tried everything is the problematic legacy left to us. Nietzsche, "the central figure in postmodern thought in the West,"21 was muse to the Zeitgeist at its own margins. Dietrich Schubert remarks that the work of such artists as Peter Behrens, Wilhelm Lehmbruck, Max Beckmann and Oskar Schlemmer reflect "Konkretionen von Nietzsches Ideen in Malerei und Plastik oder in Grafik und Baukunst." 22 Also inspiring the expressionists, Franz Marc and Edvard Munch (who, working from photographs, painted an "Ideal Portrait" of the philosopher after his death), the surrealists Max Ernst and Giorgio Chirico, Dadaists like Hans Arp and less easily labeled figures such as Franz von Stuck and Wassily Kandinsky, Nietzsche's current presence in the museum is perhaps most conspicuously mediated by Anselm Kiefer. 23 While Rodin is said to have remarked of Zarathustra "What a subject to put into bronze!", 24 Nietzsche's Geist is also palpable, if transmogrified, in the postmodern "archisculpture" (to coin a term) of Peter Eisenman. And from the high modernism of Strauss and Mahler through the rigorous formalism of Schoenberg, Nietzsche's spirit has survived the "active nihilism" of John Cage to be reincarnated in rock groups such as The Will to Power. The aesthetic eschatology of the last hundred years has brought us to the brink of a new millennium: "unsere bisherigen Werthe selbst [...] sind [es], die in ihm ihre letzte Folgerung ziehn," Nietzsche warns in an unpublished fragment, "weil der Nihilism die zu Ende gedachte Logik unserer großen Werthe und Ideale ist." 25 The position of art, therefore, is one of "absolute [/«Originalität ihrer Stellung in der modernen Welt" 26 because, when everything is permitted, "Dieser Antagonismus, das was wir erkennen, nicht zu schätzen und das, was wir uns vorlügen möchten, nicht mehr schätzen zu dürfen — ergiebt einen Auflösungsproceß." 27 The postmodern way beyond the exhaustion of modernism lies, perhaps, in an ironic reappropriation of the past. As Umberto Eco writes, "The postmodern 21

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24 25 26 27

Cornell West, "Nietzsche's Préfiguration of Postmodern American Philosophy", Boundary 2, Spring/Fall 1981, p. 242. Dietrich Schubert, "Nietzsche-Konkretionsformen in der Bildenen Kunst 1890—1933," Nietzsche-Studie», Bd. 10/11 (1981/82), S. 292. See also Dietrich Schubert, "Nietzsche und seine Einwirkungen in die Bildende Kunst — Ein Desiderat heutiger Kunstgeschichtswissenschaft?", Nietzsche-Studien, Bd. 9 (1980), S. 374-382. See John C. Gilmour, Fire on the Earth: Anselm Kiefer and the Postmodern World (Philadelphia: Temple University Press, 1990). Thatcher, "Musical Settings of Nietzsche Texts " Part II, op. cit., p. 378. Friedrich Nietzsche, Nachgel. Frag. {KSA, Bd. 13, 11 [411], S. 190). Friedrich Nietzsche, Nachgel. Frag. {KSA, Bd. 12, 2 [127], S. 127). Friedrich Nietzsche, Nachgel. Frag. {KSA, Bd. 12, 5 [71], S. 212).

New Recordings of Nietzsche Music

353

reply to the modern consists of recognizing that the past, since it cannot really be destroyed, because its destruction leads to silence, must be revisited: but with irony, not innocently."28 Thus, a possible alternative to the futile proliferation of empty new forms beyond the end of formal constraints is to recycle the old, reinvesting them with a meaning that no longer naively presumes them to be adequate to the spiritual energy that animates them. Postmodern irony presupposes the sophistication of an extreme aesthetic and intellectual distance. But by recognizing that creation is recreation, by refusing to allow the cold solidity of past forms to "boldly present themselves as the true meaning and value of our existence," 29 a new relationship with them becomes possible — a playful, liberating relationship that affirms the freedom and dynamism of life and spirit. Nietzsche's music provides an unexpected occasion to realize this liberation from the tyranny of history. Listening to Nietzsche now, knowing what we do of his radically forward-looking philosophical insight, and being situated as we are at a historical moment when composers are looking backward for inspiration to fire "new romanticism," our experience is not what Wagner's must have been. In its youthful naivete, its explicit and unabashed emotionalism, Nietzsche's music was composed on the eve of its own antithesis. But we late-comers have lived through this antithesis as well, lived through the experiment of aesthetic intellectualism; perhaps we are ready to say with Nietzsche, after listening to his other voice: "— Der hier das Wort nimmt [...] als ein Wahrsagevogel-Geist, der zurückblickt, wenn er erzählt, was kommen wird [...]". 30

28

29

30

Umberto Eco, Postscript to The Name of the Rose, tr. William Weaver (New York: Harcourt Brace Jovanovich, 1983), p. 67. Georg Simmel, "The Conflict in Modern Culture," in P. A. Lawrence, ed., Georg Sim mei: Sonologist and European (New York: Barnes and Noble Books, 1976), p. 25. Friedrich Nietzsche, Nachgel. Frag. {KSA, Bd. 13, 11 [411], S. 190).

BERICHT ALDO VENTURELLI NIETZSCHES

PHILOSOPHISCHE

HEIDEGGERS

IDENTITÄT

UND

NIETZSCHE-INTERPRETATION

In Band 3 der Schriftenreihe der Martin-Heidegger-Gesellschaft sind die Akten der wichtigen Tagung veröffentlicht worden 1 , die die Gesellschaft im Oktober 1993 in Meßkirch zum Verhältnis Heidegger—Nietzsche abgehalten hat. Der Band leistet einen bedeutsamen Beitrag zur Uberwindung der stereotypen Wendungen, mit denen jenes komplexe Verhältnis oft charakterisiert wird, und regt damit eine nochmalige aufmerksamere Lektüre der langen und stetigen philosophischen Auseinandersetzung Heideggers mit Nietzsches Werk an, die sicherlich einen Schnittpunkt in der philosophischen Debatte dieses Jahrhunderts darstellt. In seinem inhaltsreichen Eröffnungsaufsatz analysiert Manfred Riedel diese Auseinandersetzung aus der Perspektive des ,Agon'. Heideggers Bemühungen um Nietzsches Denken tragen insofern ,Agon'-Charakter, als sie nicht einfach Polemik sind, sondern ein hermeneutischer Kampf um denkerisches Einverständnis, das über die eigenen Gedanken der beiden Widersacher hinausgeht, um zu den wahren Ursprüngen der verborgenen Geschichte des Seins zurückzukehren. Auf dieser Ebene zeigt der ,Agon' einen fragenden und experimentellen Charakter, der jenen Gang ins Offene in seiner gesamten Bedeutungsvielfalt nachzuvollziehen gestattet, die Nietzsches Philosophie und dem postmetaphysischen Denken eigen ist. Die von Riedel herausgestellte hermeneutische Öffnung kennzeichnet in vortrefflicher Weise auch die verschiedenen in diesem Band versammelten Beiträge: sie alle tragen entscheidend dazu bei, vorgefaßte Meinungen zu überwinden und neue Horizonte für eine philosophische Hinterfragung des Verhältnisses Heidegger—Nietzsche zu eröffnen. Mehrmals in diesem Band stellt sich ein unausgesprochenes Bewußtsein für die unerwartete Nähe der beiden philosophischen Grunderfahrungen des Den„ IVerwechselt mich vor allem nicht!". Heidegger und Nietzsche, hrsg. v. Hans-Helmuth Gander (Schriftenreihe der Martin-Heidegger-Gesellschaft, Band 3, Frankfurt/Main, Vittorio-Klostermann) 1994.

Heidegger und Nietzsche

355

kens heraus, die auf den ersten Blick so weit voneinander entfernt scheinen: Riedel erinnert beispielsweise — mit einem Zitat von Gadamer — daran, daß der wahre Vorbereiter der Heideggerschen Stellung der Seinsfrage eher Nietzsche als Dilthey oder Husserl gewesen ist. Figal bemerkt scharfsinnig, wie Nietzsche und Heidegger sich auf dem gemeinsamen Boden der hermeneutischen Rede vom Göttlichen begegnet sind und beide den Versuch unternommen haben, in einer weder mythischen noch spekulativ-theologischen Weise einen Gott zu denken. Pascal David stellt in einer stringenten Analyse zunächst die unterschiedlichen Auffassungen von der Metaphysik bei Heidegger und Nietzsche heraus, betont dann aber auch die Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Philosophen. Fast formelhaft faßt er einige seiner Betrachtungen zusammen: „Heidegger kann Nietzsche lesen und sehen, weil er die Geschichte der Philosophie als ein Ganzes sieht, und er sieht die Geschichte der Philosophie als ein Ganzes, weil er Nietzsche gelesen hat" (vgl. S. 118). Die Nähe der beiden Grunderfahrungen des Denkens muß vor allem zu einer historiographischen Vertiefung der Entstehung und Entwicklung des Verhältnisses führen, das Heidegger zu Nietzsches Werk hatte. Den bedeutendsten Beitrag in dieser Hinsicht liefert der umfangreiche und leidenschaftliche Aufsatz von Wolfgang Müller-Lauter, der die unterschiedliche Auffassung des Nihilismus bei Nietzsche und Heidegger in ihren verschiedenen Facetten und Verzweigungen rekonstruiert. Besonders wichtig ist zum Zweck einer genaueren historischen Einordnung der Heideggerschen Interpretation die von Müller-Lauter vorgenommene Analyse des Einflusses, den Ernst Jünger auf die Auffassung des Philosophen vom „wirklichen Nihilismus" ausgeübt hat. Jüngers Interpretation der Technik und der totalen Mobilmachung als geschichtliche Ausformungen des Willens zur Macht verdankte Heidegger ein besonderes Verständnis des Ganzen des Seienden in seiner metaphysischen Spätgestalt. Der Beitrag MüllerLauters richtet seine Aufmerksamkeit u. a. auf einen zentralen Punkt von Heideggers Nietzsche-Deutung, nämlich auf das Problem des vermeintlichen Psychologismus oder Biologismus des Philosophen der ,Ewigen Wiederkehr'. Nicht zuletzt dieses Problem hat Heidegger veranlaßt, konsequent zwischen einem .historischen' Nietzsche und einem im Sinne seines Ansatzes vor seiner philosophischen Aufgabe stehenden Nietzsche zu unterscheiden. Müller-Lauter macht deutlich, daß sich in diesem Punkt das große hermeneutische Potential der neuen Kritischen Gesamtausgabe der Werke Nietzsches erweist, ebenso der Wert der Quellenforschungen, die diese Ausgabe angeregt hat. Die nahezu vollständige Veröffentlichung des Nietzscheschen Nachlasses in seiner chronologischen Abfolge und die Berücksichtigung der von Nietzsche gelesenen Bücher erlauben es heute, — fern von den Verkrustungen und Verzerrungen, mit denen im Laufe der Zeit die Figur Nietzsches überhäuft worden ist — das Spannungsfeld, die Schwankungen, die graduellen Verschiebungen etc. mit größerer Genau-

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Aldo Venturelli

igkeit wieder zu lesen, durch die sich in Nietzsches Denken die Anregungen, die er aus zeitgenössischen wissenschaftlichen Debatten empfangen hatte, und die plötzlichen Einfälle, ausgelöst durch seine spezifische philosophische Betrachtung der Geschichte der Metaphysik, begegnet sind und sich verdichtet haben. Gerade um die hermeneutischen Möglichkeiten, die sich durch die neue kritische Gesamtausgabe und die Quellenforschung eröffnen, in ihrer gesamten Bedeutung zu erfassen, ist es zugleich äußerst wichtig, die Gefahr zu vermeiden, in den Biographismus, Psychologismus oder Biologismus zurückzufallen. Im Gegenteil, solche Potentialitäten müssen zu einem schärferen hermeneutischen Bewußtsein führen, das nur aus einer ständigen Auseinandersetzung mit der Heideggerschen Nietzsche-Deutung Nahrung und Lebenskraft für sich gewinnen kann. Es ist zwar hier nicht unsere Aufgabe herauszufinden, wie sich diese neue Situation der Nietzsche-Forschung auf die Interpretation des Philosophen von Meßkirch niederschlagen kann. Aber man gewinnt den Eindruck, daß sich im Vergleich zur Situation der Nietzsche-Forschung das Problem hier spiegelverkehrt stellt: Die Forschung wird wohl damit beginnen müssen, hinter dem Philosophen Heidegger die Formen jener spezifischen geschichtlichen Bedingtheiten festzustellen, die dieser immer mit großer Meisterschaft zu verbergen verstanden hat. Eine solche Bestimmung könnte das phänomenologische Denken dazu bringen, sich mit erneuertem Interesse das Verhältnis zwischen historischer Zufälligkeit und ihrer Projektion innerhalb der Geschichte der Metaphysik in der Phase ihrer Vollendung vorzunehmen, das sehr stark als das bestimmende Thema im Verhältnis Heidegger—Nietzsche auftaucht. Die Tagung von Meßkirch hat dazu beigetragen, neue, attraktive Wege in dieser Richtung zu eröffnen. So hat Josef Simon eine scharfsinnige Analyse der Sprache als einer Weise des In-der-Welt-Seins vorgelegt. Auch dieses Thema stellt sich bei genauerem Hinsehen letztlich als eine weitere Variante des oben schon berührten Verhältnisses zwischen Philosophie und Geschichte heraus. Dieses Verhältnis betrifft tatsächlich direkt „den Status des Philosophen Heidegger in seiner Differenz zu dem individuellen Menschen dieses Namens" (S. 77). Die Möglichkeiten für einen Philosophen, seine Stimme zu erheben gegenüber allem „Gerede" und gegenüber aller dem Schema der „Grundbegriffe" der seinsvergessenen Metaphysik folgenden Philosophie wird so zu einer Hauptaufgabe der phänomenologischen Forschung: Simon umreißt deutlich den schmalen Weg, den Heidegger öffnen wollte in seinem Versuch, die Philosophie vor den Anfang der Metaphysik zurückzuführen und sie von der Verschleierung und den Abweichungen zu befreien, die der traditionellen Sprache innewohnen. Er bestimmt genau die wichtigen Stationen von Kant zu Heidegger über Nietzsche, über die sich die Reflexion über das Verhältnis von Sein und Sprache entwickelte. Indem er an Nietzsches Kritik an der Verwurzelung des metaphysischen Denkschemas im grammatischen Bau indoeuropäischer Sprachen erinnert, betont Simon die

Heidegger und Nietzsche

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Unverwechselbarkeit und Unaustauschbarkeit von Nietzsches Philosophie, seine stetige Auseinandersetzung „gegen einen Begriff vom Denken, für den seine sprachliche Ausformung und das ,In-der-Welt-Sein' des Denkenden gleichgültig seien" (vgl. S. 89). Der schwierige und schmale Weg, den die Philosophie zurücklegen muß, um die eigene Stimme über die Zufälligkeit der Geschichte und des alltäglichen Geredes zu erheben, überschneidet sich notwendigerweise mit ihrem Wahrheitsanspruch. In ihrem Beitrag Zur Frage der Wahrheit bei Nietzsche und Heidegger behandelt Ingeborg Schüssler stringent und bündig die Art und Weise, in der die beiden Philosophen als Grunderfahrung ihres Denkens das Problem des Schwunds der Wahrheit in der modernen Welt behandelt haben. Von Nietzsches Entdeckung des irrtümlichen Charakters der platonischen Ideen-Metaphysik gelangt man so zur Bestimmung der Offenheit des Seins bei Heidegger. Die Wahrheit als Richtigkeit wird dann durch ein Wahrheitswesen ersetzt, in dem die wahrheitslose Richtigkeit von der Wahrheit des Seins selbst her gedacht wird; als ein wiederholtes Spiel von Verschleierung und Enthüllung wird die Lichtung des Seins als Lichtung des Geheimnisses des Seins so das vorherrschende Kennzeichen dieser neuen Auffassung von Wahrheit. Die anderen Aufsätze in dem wichtigen Band der Heidegger-Gesellschaft — von Raphael Capurro, Parvis Emad und Mihaly Waida, zusammen mit der sorgfältigen Einleitung des Herausgebers Hans-Helmuth Gander — bereichern mit weiteren Anregungen dieses „Fest des Denkens", das einen neuen Abschnitt der unerschöpflichen Reflexion über die komplexen Themen zum Verhältnis Heidegger—Nietzsche eröffnen wird.

BEITRÄGE

ZUR

QUELLENFORSCHUNG*

mitgeteilt von ANDREA ORSUCCI

GDG, S. 31: Im Ganzen hat sich die italische Religion reiner erhalten, der griechische Anthropomorphismus ist eine verhältnissmässig junge Bildung. IVgl. H. Nissen: Das Templum. Antiquarische Untersuchungen, Berlin, 1869, S. 229: Diesem fein berechneten und durchgebildeten System [der italischen Religion] gegenüber erscheinen die Hellenen gar sehr im Rückstand. Wenn beide Religionen aus derselben Wurzel entstammen, so liegt die Frage nahe, welche von dem gemeinsamen Grundstock am Wenigsten abgewichen sei. Im Großen und Ganzen scheint es nicht bezweifelt werden zu können, daß die italische Religion reiner und unverfälschter sich gehalten hat, der griechische Anthropomorphismus dagegen eine verhältnißmäßig junge Bildung ist. Dies gilt auch von der Weltanschauung, welche die Tempelordnung bestimmt und bedingt hat. GDG, S. 31: Als etwas Gemeinsames ergiebt sich dies: das Verhältniss der Längenaxe zur aufgehenden Sonne bezeichnet den Gründungstag und Festtag des Tempels, bei Griechen wie bei Italikern. IVgl. H. Nissen: Das Templum, a. a. O., S. 230: Vielmehr folgt daraus ohne Weiteres, daß nach demselben Gesetz, das wir für Italien nachgewiesen haben, [auch in Hellas] das Verhältniß der Längenaxe zur aufgehenden Sonne den Gründungstag und Festtag des Tempels bezeichnet. Die moderne Forschung hat bisher über Gebühr den italischen Cultus gegenüber dem hellenischen vernachlässigt, sie hat übersehen, daß das Verständniß des letzteren vielfach nur durch den Umweg über Italien zu gewinnen ist. GDG, S. 31: Ueber der Absteckung des decumanus ruht eine höhere Weihe: die groma wird aufgestellt auspicaliter, d. h. nach Befragung des Götterwillens, der Gründer selbst ist * Fortsetzung der „Beiträge zur Quellenforschung" von Andrea Orsucci (erster Teil in: NietzscheStudien 23/1994, S. 443-479). Die Sigle G D G bezieht sich auf Friedrich Nietzsche: „Der Gottesdienst der Griechen. [Alterthümer des religiösen Cultus der Griechen, dreistündig, Winter 1875/ 76.]", in: Nietzsche'r Werke, Band XIX, Dritte Abteilung, Philologica, Dritter Band: Unveröffentlichtes zur antiken Religion und Philosophie, herausgegeben von Otto Crusius und Wilhelm Nesde, Leipzig: Alfred Kröner Verlag, 1913, S. 1-124.

Beiträge zur Quellenforschung

359

anwesend, die Ceremonie bezeichnet den Gründungstag des Templum. Der decumanus entspricht der Richtung, in welche die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne fallen. Wie jeder Mensch, so hat auch der Gott und die Götterwohnung einen Geburtstag; ebenso die Stadt. Wenn nun die Richtung des decumanus dem Sonnenaufgange am Gründungstage des templum entspricht, so lässt sich aus dem decumanus der Gründungstag finden oder, falls der Tag bekannt, die Richtung des decumanus. Vgl. H. Nissen: Das Templum, a. a. 0., S. 166: Ferner ruht über der Absteckung des Decumanus eine höhere Weihe: die Groma wird aufgestellt auspicaliter; d. h. nach Befragung des Götterwillens, der Gründer selber ist anwesend, offenbar bezeichnet die Ceremonie den Gründungstag des Templum. Der Decumanus entspricht der Richtung, in welche die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne fallen: p. 183 immo contendisse feruntur ortum cum esse singulis regionibus unde primum sol appareat, occasum ubi novissime desinat: bactenus dirigere mensuram laboraverunt. Diese Erklärung, welche sich aus den Worten der Gromatiker mit Notwendigkeit ergiebt, eröffnet eine ganz neue Betrachtungsweise. Wie jeder Mensch, so hat auch der Gott und die Götterwohnung und das Templum in seinen verschiedenen Anwendungen überhaupt einen Geburtstag. Dies gilt ebenso, von der Stadt: einige Geburtsjahre italischer Städte sind S. 56 zusammengestellt. So wenig wir hiervon wissen, erscheint unsere Kunde bezüglich der Geburtstage doch noch weit dürftiger. Für Rom wird er bezeichnet durch das Parilienfest am 21. April, für die Colonie Brundisium durch das Fest der Salus auf dem Quirinal am 5. August. Nach dem oben Gesagten muß also die Richtung des Decumanus entsprechen dem Sonnenaufgang am Gründungstag des Templum. Und um die Theorie auf gegebene Fälle anzuwenden, läßt sich aus dem Decumanus der Gründungstag finden, oder falls der Tag bekannt, die Richtung des Decumanus. GDG, S. 31: Ueber Sonnenauf- und Untergang ruht eine besondere religiöse Weihe; mit dem Aufgang beginnen die Babylonier ihren bürgerlichen Tag, mit dem Untergang die Athener. Vgl. H. Nissen: Das Templum, a. a. 0., S. 168: Nach der eben dargelegten Theorie ruht über Sonnenaufgang und -Untergang eine besondere religiöse Weihe. Beide bilden die Hauptabschnitte in dem was wir Tag nennen; die Babylonier begannen ihren bürgerlichen Tag mit dem Aufgang, die Athener mit dem Untergang (Plin. N. H. 2, 188. Censorin 23, 3). GDG, S. 31-32: Mane et vesperi fand die religiöse Feier bei den Römern statt, der Mittag war dem bürgerlichen Verkehr überlassen. Am Sonnenaufgang werden auspicia eingeholt, Bündnisse gegründet. Die besondere Heiligkeit beider Tageszeiten prägt Hesiod op. 340 ein. Mit der Bedeutung der aufgehenden Sonne hängt es zusammen, dass der Betende sein Antlitz nach Osten wendet. Die römische Sitte verlangt, dass, nachdem ein Theil des Gebetes gen Osten gesprochen, man sich rechtsum drehe und das Antlitz nach Westen wende, also von Ost durch Süd nach West dem Lauf der Sonne entsprechend. Ebenso bei den Kelten, nicht aber bei den Griechen. Vgl. H. Nissen: Das Templum, a. a. O., S. 168-171: Die Römer rechneten zwar ihren bürgerlichen Tag von Mitternacht, aber nichts desto weniger bildete der natürliche Tag durchaus die Grundlage aller Zeitmessung und -ein-

360

Andrea Orsucci

theilung. Wenn man sich aus den Fesseln der modernen, vielfach das Naturleben und das Naturgefühl zerstörenden Civilisation heraus denkt, so bedarf es in der That keiner langen Auseinandersetzung, warum die Zeiten um Auf- und Untergang als besonders heilige angesehen wurden. Um zu beweisen, daß sie als solche im antiken Cultus die hervorragendste Rolle gespielt haben, mögen einige Zeugnisse nachfolgen. Hierher gehören zuerst die dies intercisi, deren der römische Kalender 8 zählt: um Sonnenaufgang und Untergang (mane et vesperi vgl. Censorin 24) fand die religiöse Feier statt, die Mitte des Tages war bürgerlichem Verkehr überlassen (Varro LL. 6, 31 intercisi dies sunt per quos mane et vesperi est nefas, medio tempore inter hostiam caesam et exta porrecta fas; a quo quod fas tum intercedit aut eo est interdsum nefas, intercisum. Ovid Fast. 1, 49 nec toto perstare die sua iura putaris: qui iam fastus erit, mane nefastus erat, nam simul exta deo data sunt, licet omnia fan, verbaque honoratus libera praetor habet. Macrob. Sat. 1, 16. 2. 3. Fast. Praen. ad Ian. 10). Um Sonnenaufgang werden Auspicien eingeholt Dion. 1, 86. 2, 5. 6. Fest. p. 241. 348. Ebenso betet Aeneas zu den Flüssen des Landes Verg. 8, 67 fg. noxAenean somnusque reliquit. surgit et aetherii spectans orientia solis lumina... effundit voces. So schließen Aeneas und Latinus ihr Bündniß ad surgentem conversi lumina solem (Aen. 12, 172); ferner das Gebet Valer. Flacc. 3, 437). Unter gleichen Verhältnissen war das augustum augurium, nach dem Rom gegründet ward, empfangen; wie es in der prächtigen Schilderung des Ennius (p. 15 Vahlen) heißt: sie expectabat populus atque ora tenebat rebus, utri magni victoria sit data regni. interea sol albus recessit in infera noctis, exin Candida se radiis dedit icta foras lux. et simul ex alto longe pulcherrima praepes laeva volavit avis: simul aureus exoritur sol. cedunt de caelo ter quatuor corpora saneta avium, praepetibus sese pulchrisque locis dant. Nicht anders bei den Griechen: die besondere Heiligkeit von Tagesanfang und -ende bezeugen Hesiod. op. 340 äXXors Se rrnovSfjai Oveaai re iMtJxecsöai rinev ÖT' evvd^i/ Kai öz' äv ipäog ispöv eX9rj. [...] Mit der Bedeutung der aufgehenden Sonne hängt es weiter zusammen, daß der Betende sein Antlitz nach Osten wendet. Servius zu der oben angeführten Stelle Aen. 12, 172 bemerkt non utique nunc solem surgentem dixit, iamdudum enim dies erat, sed diseiplinam ceremoniarum secutus est, ut orientem spectare diceret eum qui esset precaturus. Vitruv 4, 5 verlangt, daß Tempel und Götterbild nach Westen orientirt sei: uti qui adierint ad aram immolantes aut sacrißäa faäentes, spectent ad partem caeli orientis et simulacrum quod erit in aede, et ita vota suseipientes contueantur aedem et orientem caeli, ipsaque simulacra videantur exorientia contueri supplicantes et sacrißcantes; quod aras omnes deorum necesse esse videatur ad orientem spectare. Die nämliche Vorschrift wird auch in einzelnen Fällen erwähnt: zur Pales am Feste der Parilien soll man beten conversus ad ortus (Ov. Fast. 4, 777); der Promagister der Arvalbrüder sagt im Pronaos des Concordiatempels velato capite contra orientem den Tag des Opfers der Dea Dia an (Henzen inscr. 7419 a). Pacatus paneg. 3 nam ut divinis rebus operantes in eam caeli plagam ora convertimus, a qua Iuris exordium est; sic ego vota verborum quae olim nuneupaveram soluturus, id oratione tempus adspiciam, quo Romana lux coepit. Eine eigentümliche römische Sitte verlangte, daß man, nachdem ein Theil des Gebetes gen Osten gesprochen, sich rechtsum drehend das Antlitz nach Westen wandte, sei es im Allgemeinen der Weltgegend oder auch dem Tempel zu, vor welchem man gerade betete. Die Sitte wird auf Numa zurückgeführt: Plut. Num. 14 r) Se Kepiarpoipi) zäv npo-

Beiträge zur Quellenforschung

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OKVVOOVTWV Xsyezai pev ärcopipr]atg eivai zi)g xov KÖapov jiepitpopäg, Soleis 8' äv päXXov ö npooKvvwv, ejiei ttpög sco xmv iepmvßXeicövxcov äjzeaxpanxai xäg ävaxoXäg, pexaßdXXeiv eavxöv evxavöa Kai nepicxpe