Nietzsche – Philosoph der Kultur(en)? 9783110210453, 9783110201307

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Frontmatter
Inhalt
Siglenverzeichnis
Nietzsche – Philosoph der Kultur(en)? Einige einleitende Fragen
Vom „Arzt der Cultur“ zum „Arzt und Kranken in einer Person“. Eine Hypothese zur Entwicklung Nietzsches als Philosoph der Kultur(en)
Kultur als Vorbild und als Schranke
Nietzsche, Spengler, Heidegger: Kulturphilosophie und historiographische Forschung
Über die Funktion der Kultur im Denken Friedrich Nietzsches
Nietzsches Vision einer Kultur des freien Geistes
Nietzsche: Philosoph der Verfeindungskunst – Philosoph der Kulturen
Contra culturam: Nietzsche und der Übermensch. Ein Lesestück in 3 Teilen
Begegnung im Kanon? Die ,Kulturen‘ Heinses und Nietzsches
Vom Nutzen und Nachteil der Feststellung des unfestgestellten Tieres durch die Kultur. Nietzsche zwischen Herder und Gehlen
Der „werdende Europäer“ als Nomade. Völker, Vaterländer und Europa
„…feister und voller als ihr sind ja noch die Unterweltlichen!“ Nietzsches Paradigmenwechsel weg von alter deutscher Leitkultur hin zu neuer Forschungskultur
Die ewige Wiederkunft des G – W – G. ’Marx’ Spuren in Nietzsches Werk
„Ein weißer Stier will ich sein“ – Über die Kultur der Zukunft bei Nietzsche
Friedrich Nietzsche, Thomas Mann und die Unterscheidung von Kultur und Politik
Warum Kultur von Zeit zu Zeit an sich selbst zugrunde geht …Friedrich Nietzsche, die Décadence und die Ambivalenz einer sthetisch dominierten Kultur
Die Anzeichen der Kultur(philosophie). Nietzsches fröhliche Wissenschaft vom Sichtbaren
,Entlehnte Form‘. Jacob Burckhardts Rehabilitation der Spätantike und Nietzsches römischer Kulturbegriff
Der „Süden der Musik“ als System interkulturellen Experimentierens
Experimentum modernitatis. Zur Aktualisierung der Nietzsche-Wagner-Beziehung bei Martin Heidegger, Ernst Bloch und Theodor W. Adorno
„Ich-Überwindung muß der Gestaltung vorangehen“. Zur Nietzsche-Rezeption des Bauhauses
Transkulturelles Denken. Nietzsches frühe Kenntnisse anderer Religionen und Kulturen
Das Imaginäre als Irrtum – und Faszinosum. Ein Aspekt von Nietzsches Religionskritik, kritisch beleuchtet
Die Verantwortung und die zwei Dimensionen des Todes Gottes
Dostojewskis Antichrist
Nietzsche ist tot – die Kirche lebt. – Gnosisüberwindungsdefizite und katholische Urständ
Priestly Power and Damaged Life in Nietzsche and Adorno
Der common body als Grund und Norm humaner Körperkultur
Über Körper im Rausch. Nietzsche und das Problem der Vernderung der Rauschkultur
Ästhetik existenzieller Selbstentäußerung
Nietzsches Wanderer als interkultureller Interpret der menschlichen Gesundheit
Wie man wird, was man isst. Nietzsches Diätetik
Perspektiven eines Doppelgehirns – ein wegweisendes Gebot für die Kultur(en)
Kultur als Faltenwurf. Nietzsches Blick auf die Textur von Antike und Moderne
Zur Schulung der Sprache. Nietzsche als Philosoph der Kultur im Zeitalter der Arbeit
Der öffentliche Glanz des Philosophen. Nietzsches Philosophie der Kultur und ihre esoterisch-exoterische Textualität
„Das maßlose Wühlen im Schmerz“. Nietzscherezeption in Hofmannsthals Elektra
Das „größte Ausstrahlungsphänomen der Geistesgeschichte“. Stationen der Nietzsche-Rezeption im Werk Gottfried Benns
Wo liegt Nietzsches über-Europa? Das ambivalente Verhältnis Nietzsches zu primär mündlich kommunizierenden Kulturen
Nietzsche on Redemption. A Mahayana Buddhist
Der freie Geist, die amerikanische Rastlosigkeit und die Verschmelzung der Kulturen
Herr Casparis malt sich das Glück aus
Backmatter
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Nietzsche – Philosoph der Kultur(en)?
 9783110210453, 9783110201307

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Nietzsche - Philosoph der Kultur(en)?



Nietzsche Philosoph der Kultur(en)? Herausgegeben von

Andreas Urs Sommer Im Auftrag der Nietzsche-Gesellschaft e. V.

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein und der Philosophischen Fakultät der Universität Greifswald

앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-020130-7 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen

Inhalt Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XI

Andreas Urs Sommer Nietzsche – Philosoph der Kultur(en)? Einige einleitende Fragen

1

I. Begriff der Kultur Paul van Tongeren Vom „Arzt der Cultur“ zum „Arzt und Kranken in einer Person“. Eine Hypothese zur Entwicklung Nietzsches als Philosoph der Kultur(en) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Raymond Geuss Kultur als Vorbild und als Schranke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

Andrea Orsucci Nietzsche, Spengler, Heidegger: Kulturphilosophie und historiographische Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

Klaus Wellner ber die Funktion der Kultur im Denken Friedrich Nietzsches .

61

II. Kultur und (Im-)Moral Peter Andr Bloch Nietzsches Vision einer Kultur des freien Geistes . . . . . . . . . . . .

73

Jrgen Hofbauer Nietzsche: Philosoph der Verfeindungskunst – Philosoph der Kulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

Carsten Schmieder Contra culturam: Nietzsche und der bermensch. Ein Lesestck in 3 Teilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

97

VI

Inhalt

Leonhard Herrmann Begegnung im Kanon? Die ,Kulturen‘ Heinses und Nietzsches .

103

Andrea Christian Bertino Vom Nutzen und Nachteil der Feststellung des unfestgestellten Tieres durch die Kultur. Nietzsche zwischen Herder und Gehlen

113

III. Kultur und Politik Gert Mattenklott Der „werdende Europer“ als Nomade. Vçlker, Vaterlnder und Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

125

Christian Niemeyer „…feister und voller als ihr sind ja noch die Unterweltlichen!“ Nietzsches Paradigmenwechsel weg von alter deutscher Leitkultur hin zu neuer Forschungskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

149

Birte Lçschenkohl Die ewige Wiederkunft des G – W – G ’. Marx’ Spuren in Nietzsches Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

161

Stephan Braun „Ein weißer Stier will ich sein“ – ber die Kultur der Zukunft bei Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

173

Reinhard Mehring Friedrich Nietzsche, Thomas Mann und die Unterscheidung von Kultur und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

183

IV. Kultur und Kunst Renate Reschke Warum Kultur von Zeit zu Zeit an sich selbst zugrunde geht … Friedrich Nietzsche, die Dcadence und die Ambivalenz einer sthetisch dominierten Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

203

Knut Ebeling Die Anzeichen der Kultur(philosophie). Nietzsches frçhliche Wissenschaft vom Sichtbaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

227

Inhalt

VII

Angela Holzer ,Entlehnte Form‘. Jacob Burckhardts Rehabilitation der Sptantike und Nietzsches rçmischer Kulturbegriff . . . . . . . . . .

241

Manos Perrakis Der „Sden der Musik“ als System interkulturellen Experimentierens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

255

David Wachter Experimentum modernitatis. Zur Aktualisierung der Nietzsche-Wagner-Beziehung bei Martin Heidegger, Ernst Bloch und Theodor W. Adorno . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

263

Peter Bernhard „Ich-berwindung muß der Gestaltung vorangehen“. Zur Nietzsche-Rezeption des Bauhauses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

273

V. Kultur und Religion Johann Figl Transkulturelles Denken. Nietzsches frhe Kenntnisse anderer Religionen und Kulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

285

Tilo Klaiber Das Imaginre als Irrtum – und Faszinosum. Ein Aspekt von Nietzsches Religionskritik, kritisch beleuchtet . . . . . . . . . . . . . . .

305

Ana Carolina da Costa e Fonseca Die Verantwortung und die zwei Dimensionen des Todes Gottes

317

Yannick Souladi Dostojewskis Antichrist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

325

Miguel Skirl Nietzsche ist tot – die Kirche lebt. – Gnosisberwindungsdefizite und katholische Urstnd . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

335

Eric Sean Nelson Priestly Power and Damaged Life in Nietzsche and Adorno . . .

353

VIII

Inhalt

VI. Kultur und Kçrper Gunter Gebauer / Volker Caysa Der common body als Grund und Norm humaner Kçrperkultur

363

Konstanze Schwarzwald ber Kçrper im Rausch Nietzsche und das Problem der Vernderung der Rauschkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

381

Jutta Georg-Lauer sthetik existenzieller Selbstentußerung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

391

Toyomi Iwawaki-Riebel Nietzsches Wanderer als interkultureller Interpret der menschlichen Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

401

Tobias Nikolaus Klass Wie man wird, was man isst. Nietzsches Ditetik . . . . . . . . . . .

411

Miriam Ommeln Perspektiven eines Doppelgehirns – ein wegweisendes Gebot fr die Kultur(en) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

423

VII. Kultur und/als Text Friederike Felicitas Gnther Kultur als Faltenwurf. Nietzsches Blick auf die Textur von Antike und Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

435

Paolo Panizzo Zur Schulung der Sprache Nietzsche als Philosoph der Kultur im Zeitalter der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

443

Nikolas Zok Der çffentliche Glanz des Philosophen. Nietzsches Philosophie der Kultur und ihre esoterisch-exoterische Textualitt . . . . . . . .

453

Antonia Eder „Das maßlose Whlen im Schmerz“. Nietzscherezeption in Hofmannsthals Elektra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

467

Inhalt

Barbara Neymeyr Das „grçßte Ausstrahlungsphnomen der Geistesgeschichte“. Stationen der Nietzsche-Rezeption im Werk Gottfried Benns . .

IX

477

VIII. ber Kultur(en) hinaus Heinz Kimmerle Wo liegt Nietzsches ber-Europa? Das ambivalente Verhltnis Nietzsches zu primr mndlich kommunizierenden Kulturen . .

499

Andr van der Braak Nietzsche on Redemption. A Mahayana Buddhist Perspective . .

519

Vivetta Vivarelli Der freie Geist, die amerikanische Rastlosigkeit und die Verschmelzung der Kulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

529

Iso Camartin Herr Casparis malt sich das Glck aus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

545

Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

555

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

565

Siglenverzeichnis AC BAW BN

BNO CV DD DW EH FW GD GM GMD

Friedrich Nietzsche, Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum [1888], in: KSA, Bd. 6, S. 165 – 254. Friedrich Nietzsche, Werke und Briefe. Historischkritische Gesamtausgabe: Werke, 5 Bde. [Jugendschriften 1854 – 1869], Mnchen 1933 – 1940. [Max Oehler], Nietzsches Bibliothek = Vierzehnte Jahresgabe der Freunde des Nietzsche-Archivs, Weimar 1942 bzw. Campioni, Giuliano / D’Iorio, Paolo / Fornari, Maria Cristina / Fronterotta, Francesco / Orsucci, Andrea (Hg.): Nietzsches persçnliche Bibliothek, Berlin / New York 2003. Friedrich Nietzsches Briefwechsel mit Franz Overbeck, hrsg. von Richard Oehler und Carl Albrecht Bernoulli, Leipzig 1916. Friedrich Nietzsche, Fnf Vorreden zu fnf ungeschriebenen Bchern, in: KSA, Bd. 1, S. 753 – 792. Friedrich Nietzsche, Dionysos-Dithyramben [1888], in: KSA, Bd. 6, S. 375 – 411. Friedrich Nietzsche, Die dionysische Weltanschauung, in: KSA, Bd. 1, S. 551 – 577 Friedrich Nietzsche, Ecce homo. Wie man wird was man ist [1888], in: KSA, Bd. 6, S. 255 – 374 [Dem Werksigle folgt ggf. das der behandelten Schrift]. Friedrich Nietzsche, Die frçhliche Wissenschaft („la gaya scienza“) [1882/87], in: KSA, Bd. 3, S. 343 – 651. Friedrich Nietzsche, Gçtzen-Dmmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt [1888], in: KSA, Bd. 6, S. 55 – 161. Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift [1887], in: KSA, Bd. 5, S. 245 – 412. Friedrich Nietzsche, Das griechische Musikdrama, in: KSA, Bd. 1, S. 515 – 532.

XII GoA

Siglenverzeichnis

Nietzsche’s Werke, Leipzig 1894 – 1906 [GrossoktavAusgabe]. GoAK Nietzsche’s Werke [Grossoktav-Ausgabe, soweit von Fritz Koegel ediert], Leipzig 1894 – 1897. GSA Goethe- und Schiller-Archiv, Weimar GT Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik [1872], in: KSA, Bd. 1, S. 9 – 156. GWC Friedrich Nietzsche, Gesetz wider das Christenthum [1888], in: KSA, Bd. 6, S. 254 [angehngt an AC]. HkP Friedrich Nietzsche, Homer und die klassische Philologie. Ein Vortrag [1869], in: KGW, 2. Abt., Bd. 1: Philologische Schriften (1867 – 1873), S. 247 – 269. JGB Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft [1886], in: KSA, Bd. 5, S. 9 – 243. KGB Friedrich Nietzsche, Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin / New York / New York 1975 ff. KGW Friedrich Nietzsche, Werke, Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin / New York 1967 ff. KSA-Kommentar Giorgio Colli / Mazzino Montinari, Friedrich Nietzsche. Kommentar zu den Bnden 1 – 13 [der KSA] = KSA, Bd. 14. KSA Friedrich Nietzsche, Smtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbnden, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Mnchen / Berlin / New York 21988, 31999. KSB Friedrich Nietzsche, Smtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bnden, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Mnchen / Berlin / New York 2 1986. MA I-II Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch fr freie Geister [1878/86] = KSA, Bd. 2. M Friedrich Nietzsche, Morgenrçthe. Gedanken ber die moralischen Vorurtheile [1881], in: KSA, Bd. 3, S. 9 – 331. MD Friedrich Nietzsche, Mahnruf an die Deutschen, in: KSA, Bd. 1, S. 891 – 897.

Siglenverzeichnis

NJ NL (oder NF) NCW PHG SGT ST TA UB I DS UB II HL

UB III SE UB IV RW VM WA WL WS

XIII

Friedrich Nietzsche, Ein Neujahrswort an den Herausgeber der Wochenschrift „Im neuen Reich“, in: KSA, Bd. 1, S. 793 – 797. Friedrich Nietzsche, Nachlass, zitiert nach KSA oder KGW. Friedrich Nietzsche, Nietzsche contra Wagner. Aktenstcke eines Psychologen [1888], in: KSA, Bd. 6, S. 413 – 445. Friedrich Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen [1873], in: KSA, Bd. 1, S. 799 – 872. Friedrich Nietzsche, Sokrates und die griechische Tragoedie, in: KSA, Bd. 1, S. 601 – 640. Friedrich Nietzsche, Sokrates und die Tragoedie, in: KSA, Bd. 1, S. 533 – 549. Nietzsches Werke. Taschen-Ausgabe, 11 Bde., Leipzig o. J. [1906 – 1912 und çfters]. Friedrich Nietzsche, Unzeitgemsse Betrachungen. Erstes Stck: David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller [1873], in: KSA, Bd. 1, S. 157 – 242. Friedrich Nietzsche, Unzeitgemsse Betrachungen. Zweites Stck: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie fr das Leben [1874], in: KSA, Bd. 1, S. 243 – 334. Friedrich Nietzsche, Unzeitgemsse Betrachungen. Drittes Stck: Schopenhauer als Erzieher [1874], in: KSA, Bd. 1, S. 335 – 427. Friedrich Nietzsche, Unzeitgemsse Betrachungen. Viertes Stck: Richard Wagner in Bayreuth [1876], in: KSA, Bd. 1, S. 429 – 510. Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches. Anhang: Vermischte Meinungen und Sprche [1879], in: MA II. Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem [1888], in: KSA, Bd. 6, S. 9 – 53. Friedrich Nietzsche, ber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinne [1873], in: KSA, Bd. 1, S. 873 – 890. Friedrich Nietzsche, Der Wanderer und sein Schatten [1880], in: MA II.

XIV WzM1 WzM2 Za (oder Z) ZB

Siglenverzeichnis

Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht. [Erste Fassung] = GoA, Bd. 15, Leipzig 1901. Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht. [Zweite Fassung] = GoA, Bde. 15 und 16, Leipzig 1911. Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Ein Buch fr Alle und Keinen, [1883/85] = KSA, Bd. 4. Friedrich Nietzsche, ber die Zukunft unserer Bildungsanstalten. Sechs çffentliche Vortrge [1872], in: KSA, Bd. 1, S. 641 – 752.

Nietzsche – Philosoph der Kultur(en)? Einige einleitende Fragen Andreas Urs Sommer Dieser Band steht unter einem Fragezeichen. Dies muss kein „Fragezeichen so schwarz, so ungeheuer“ sein, „dass es Schatten auf Den wirft, der es setzt“ (GD Vorwort). Philosophie hat es auch ungeachtet der Verdsterung durch drohende Umwertung(en) nun einmal mit dem Fraglichen und Fragwrdigen zu tun. berhaupt ist es die Aufgabe der Wissenschaften, die richtigen Fragen zu stellen. Kultur ist in aller Munde, so dass man denken kçnnte, sie sei ein allgemeines Anliegen. Schlagworte wie „Kampf der Kulturen“ (Samuel P. Huntington) und „Leitkultur“ (Bassam Tibi) beschftigen die kollektive oder zumindest die mediale Imagination nachhaltig – derart nachhaltig, dass selbst die gegenwrtig nur selten imaginationsfreudigen Reprsentanten der Politik sich von diesen Kulturschlagworten in den Bann ziehen lassen. Kultur ist offensichtlich zu einem Thema mit erstaunlicher Mobilisierungskraft geworden. Aber was genau ist da Thema? Schaut man sich oberflchlich in den gegenwrtigen Kulturdebatten um, erhlt man leicht den Eindruck, Kultur sei alles Erdenkliche, nur nichts Klares und Eindeutiges: Kultur kann offensichtlich genauso eine bestimmte Lebensweise wie ein Konvolut lebensbestimmender Wertvorstellungen bedeuten, den Inbegriff der Eigenarten einer kleinen oder grçsseren Gruppe, eines Volkes oder eines Staates oder, so die Wikipedia, „die Gesamtheit der menschlichen Leistungen“ im Gegensatz zur Natur,1 oder gar, so Albert Schweitzer, „Herrschaft der Vernunft ber die Naturkrfte“ und „Herrschaft der Vernunft ber die menschlichen Gesinnungen“.2 Welche Art von Antworten auf diese Kulturfragen ist aus der Beschftigung mit Nietzsche zu erwarten? Und um welche Art von Fragen geht es nherhin?

1 2

http://de.wikipedia.org/wiki/Kultur, abgerufen am 13. Juli 2007. Albert Schweitzer, Kultur und Ethik [1923], Mnchen 1996, S. 35.

2

Andreas Urs Sommer

Kulturphilosophie ist heute im Zuge der allgemeinen Konjunktur des Themas „Kultur“ wieder einmal ein grosses Thema. Eine erste Blte erlebte das philosophische Nachdenken ber Kultur in der ersten Hlfte des 20. Jahrhunderts, und da durchaus unter dem Einfluss Nietzsches. Daraus ergibt sich eine erste, wirkungsgeschichtliche Problemstellung, der dieser Band nachgeht: Welche Rolle hat Nietzsche – der sich immerhin als „das krnkliche Culturthier“ charakterisierte3 – bei der Konzeption von Kulturphilosophien seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert gespielt? Inwiefern ist Nietzsches Philosophie richtungweisend fr sptere kulturphilosophische berlegungen? An diese wirkungsgeschichtliche Problemstellung schliesst sich unmittelbar eine zweite systematische Problemstellung an. Sie lautet: Kann Nietzsches Denken gegenwrtige kulturphilosophische Reflexion noch befruchten? Ist Nietzsches Philosophie ein tauglicher Ausgangspunkt heutiger Kulturphilosophie? Was kann Kulturphilosophie noch sein – mit Nietzsche und nach Nietzsche? Aber Nietzsches Wirkungsgeschichte blieb ja keineswegs auf die Philosophie im engeren Sinne beschrnkt, sondern ist gerade dadurch charakterisiert, dass sie sich zunchst in ausserphilosophischen und ausserakademischen Feldern, bei Literaten und Knstlern abspielte. Dies fhrt zu einer dritten Problemstellung: Ist Nietzsche in den Knsten als Kulturdenker wirksam geworden? Wie hat Nietzsches Kulturverstndnis auf die Vorstellung von Kultur ausserhalb der Philosophie gewirkt? Damit zusammen hngt die vierte Problemstellung, die wiederum direkt in die Gegenwart ausgreift: Die sogenannten Geistes- und Sozialwissenschaften haben sich in den vergangenen Jahrzehnten mehr und mehr als Kulturwissenschaften zu profilieren versucht. Hufig ist von einem cultural turn als neuem Paradigma dieser Disziplinen die Rede – auch wenn sich die jeweiligen Reprsentanten der neuen Kulturwissenschaften notorisch uneinig darber zu sein scheinen, worin genau dieser turn besteht (und es ohnehin in jngerer Zeit ein wenig viele turns gegeben hat). Die vierte Problemstellung heisst also: Ist Nietzsche ein Inspirator dieses cultural turn und kann sein Werk fr ein neues kulturwissenschaftliches Selbstverstndnis der Geistes- und Sozialwissenschaften fruchtbar gemacht werden? Auch die fnfte Problemstellung bezieht sich auf aktuelle Diskussionen. Hier geht es um „Nietzsches Versuch einer Loslçsung vom eu3

Im Brief an seine Schwester Elisabeth Fçrster vom 23. November 1885 (KSB 7, 111).

Nietzsche – Philosoph der Kultur(en)? Einige einleitende Fragen

3

ropischen Weltbild“, wie Andrea Orsucci das ausgedrckt hat,4 oder, um es mit Johann Figl zu sagen, um die „transkulturellen Perspektiven“ von Nietzsches Denken,5 also darum, ob Nietzsches Philosophie als entschiedene Distanzierungsanstrengung von den eigenen kulturellen Voraussetzungen in der gegenwrtigen Interkulturalittsdebatte noch etwas zu sagen hat. Wie greift Nietzsche vom Singular der eigenen Kultur auf den Plural der anderen Kulturen aus? Auch hieran hngt wiederum – als sechste Problemstellung – eine wirkungsgeschichtliche Frage, nmlich, inwiefern Nietzsche in anderen Kulturrumen als kulturbergreifender Denker wahrgenommen worden ist.6 Diese sechs eben genannten Problemstellungen sind auf eine siebte bezogen, die im Zentrum des ganzen Bandes steht, nmlich schlicht auf die, wie Nietzsche selbst Kultur verstanden und konzipiert hat. Nietzsche hat sich unentwegt ber Kulturfragen ausgelassen. Grob schematisiert entsteht der Eindruck, im Frhwerk habe er der Idee einer Einheitskultur gehuldigt, die er pointiert gegen den zeitgençssischen Dnkel ins Feld fhrt, mit dem Sieg des Deutschen Reiches gegen Frankreich sei auch ein kultureller Sieg errungen. In der Ersten unzeitgemssen Betrachtung gegen David Friedrich Strauß wird als Voraussetzung wahrer Kultur eine „Einheit des Stils“ (DS, KSA 1, 165) namhaft gemacht. Nietzsche hat, wie insbesondere Renate Reschke herausgearbeitet hat, seinen „Einspruch gegen ,abgeirrte Cultur’“ dezidiert als Kulturkritik formuliert,7 und Kultur an die Bedrfnisse des Lebens anbinden wollen. Kreativitt8 und Genie sind dabei leitende Ideen, wobei Nietzsche Kultur von Anfang an mit Grausamkeit assoziiert hat – eine Paarung, die uns heute vielleicht befremdet, zumal da, wo Nietzsche, wie in der nachgelassenen Schrift Der griechische Staat offen fr die Sklaverei als Bedingung fr kulturelle 4 5 6 7 8

Andrea Orsucci, Orient – Okzident. Nietzsches Versuch einer Loslçsung vom europischen Weltbild, Berlin / New York 1996. Johann Figl, Nietzsche und die Religionen. Transkulturelle Perspektiven seines Bildungs- und Denkweges, Berlin / New York 2007. Vgl. z. B. Hans-Joachim Becker, Die frhe Nietzsche-Rezeption in Japan (1893 – 1903). Ein Beitrag zur Individualismusproblematik im Modernisierungsprozess, Wiesbaden 1983. Renate Reschke, Denkumbrche mit Nietzsche. Zur anspornenden Verachtung der Zeit, Berlin 2000. Vgl. z. B. Andreas Urs Sommer, Was (er)schafft die Umwertung aller Werte? Zu Nietzsches Kreativittsmythologemen, in: Oliver Krger / Refika Sariçnder / Annette Deschner (Hrsg.), Mythen der Kreativitt. Das Schçpferische zwischen Innovation und Hybris, Frankfurt am Main 2003, S. 191 – 206.

4

Andreas Urs Sommer

Hçchstleistungen von Genies einzutreten scheint.9 Die dringende Frage ist, wie ernst man solche scheinbar radikal politischen usserungen Nietzsches zur Kultur nehmen soll und ob man eher zu einer metaphorischen Lesart neigt, die mit Volker Gerhardt Kultur als Sinngebung des Menschen durch sich selbst versteht.10 Whrend fr den frhen Nietzsche Mythos und Tragçdie eine kulturstiftende Einheit bilden, die sich im antiken Griechenland exemplarisch ausgebildet habe,11 verflchtigt sich die kulturelle Einheitsidee in Nietzsches spterem Werk nach und nach und macht einem pluralistischeren Kulturverstndnis Platz. Dennoch gibt Nietzsche die Vorstellung, Kultur msse auf Homogenitt beruhen (damit unter vernderten Vorzeichen die romantische Homogenittsidee von Novalis’ Die Christenheit oder Europa paraphrasierend), nie gnzlich preis – ebensowenig wie die Erkenntnis, dass Kultur Grausamkeit zugrunde liege (z. B. JGB 299, KSA 5, 166). Nietzsche kultiviert einen ausgeprgten Kulturaristokratismus und zugleich einen kulturreformatorischen Impetus. In seinem Kulturverstndnis macht sich so eine starke Spannung bemerkbar, ein Schwanken zwischen idealer Einheit und idealer Vielfalt. Aus dieser Spannung speist sich die nachhaltige Attraktivitt von Nietzsches Kulturdenken fr die Gegenwart. Als cultura animi hat Cicero in den Tusculanen (II 5) die Philosophie bezeichnet und damit den Kulturbegriff in die Philosophie eingefhrt. Freilich dauerte es 1800 Jahre, bis sich cultura gnzlich von einem spezifizierenden Genetiv abkoppelte und nun also als „Kultur“ ohne jedes Beiwerk das intellektuelle Gesprch zu bevçlkern begann. Kultur per se wurde im spten 18. Jahrhundert zu einem Thema und scheint es nicht zuletzt dank Nietzsche geblieben zu sein. Wie man dieses „dank Nietzsche“ verstehen soll, ist Gegenstand des vorliegenden Bandes. Es hngt unmittelbar mit der Provokationskraft, der Widerspenstigkeit von Nietzsches Kulturdenken zusammen, dass man sich nach wie vor dafr interessiert. Nietzsche htte das, was Vertreter einer grossen deutschen Partei heute als „deutsche Leitkultur“ mit christlichen und zugleich aufklrerischen Versatzstcken festschreiben wollen, kaum fr vereinbar mit jener 9 Vgl. Alfred Baeumler, Nietzsche, der Philosoph und Politiker, Leipzig 1931, S. 126: „Grausamkeit liegt auch im Wesen der Kultur, Zeugen, Leben und Morden ist eins“. Zum Thema einschlgig Martin Rhl, Politeia 1871: Young Nietzsche on the Greek State, in Paul Bishop (ed.), Nietzsche and Antiquity: His Reaction and Response to the Classical Tradition, Rochester 2004, S. 79 – 97. 10 Volker Gerhardt, Friedrich Nietzsche, Mnchen 1992, S. 80 f. 11 Vgl. Enrico Mller, Die Griechen im Denken Nietzsches, Berlin / New York 2005.

Nietzsche – Philosoph der Kultur(en)? Einige einleitende Fragen

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kulturellen Einheit gehalten, nach der er im Frhwerk strebte. Auch Nietzsches Kultursynthetisierungsplne unter dem grossen Stichwort „Europa“ im mittleren und spten Werk sind mit „Leitkultur“ schwerlich kompatibel, auch weil diese Plne dezidiert auf metaphysische Letztabsicherung verzichten.12 Obwohl bei Integrationstests fr Einbrgerungswillige in manchen Bundeslndern auch nach Nietzsche als einem grossen deutschen Philosophen gefragt werden soll, wre er aus dem herausgefallen, was man heutzutage „Leitkultur“ zu nennen beliebt: Er htte, so wrde ich vermuten, die demokratische und christliche Fundierung der Kultur als Chimre zu entlarven sich bemht und sich dem vermeintlich aufklrerischen Konsens darber, was unsere Kultur ausmacht, frech entzogen – nicht zuletzt unter Hinweis darauf, dass Kultur immer Gewalt impliziere. Was den „Kampf der Kulturen“ angeht, wrde Nietzsche ihn vermutlich nicht im Verhltnis der christlich-abendlndischen und der islamisch-morgendlndischen Kultur ansiedeln, sondern innerhalb Europas als Kampf der alten platonisch-christlichen Kultur der Weltverleugnung und der nihilistischen dcadence mit einer neuen Kultur der Leiblichkeit, die auf einer Umwertung aller Werte beruht und die Nietzsche selbst initiiert zu haben beansprucht. Nicht das Aussenverhltnis ist fr Nietzsche das drngende Kulturproblem Europas,13 sondern vielmehr der innere Zwiespalt der eigenen Kultur. Auch bei ihm ist ein produktives Schwanken sprbar, ob nmlich dieser Zwiespalt als Verhngnis oder als Chance aufzufassen sei. Vielleicht ist es ja zukunftstrchtig, wenn der Zwiespalt nicht befriedet, der Bogen nicht abgespannt wird (vgl. JGB Vorrede). Der Kampf der Kultur(en) findet im Denken statt. Dieser Band ldt ein zu Expeditionen in Nietzsches und unsere eigenen Kulturlandschaften.14 Kultur heisst im abendlndischen Horizont wohl auch wesentlich, mit dem Reden und mit dem Denken nicht aufzuhçren. 12 Vgl. dazu das Vorwort der Herausgeber zu Georges Goedert / Uschi Nussbaumer-Benz (Hrsg.), Nietzsche und die Kultur – ein Beitrag zu Europa?, Hildesheim / Zrich / New York 2002, bes. S. 7, und jngst inbesondere Renate Reschke / Volker Gerhardt (Hrsg.), Nietzsche und Europa – Nietzsche in Europa = Nietzscheforschung. Jahrbuch der Friedrich Nietzsche-Gesellschaft, Bd. 15, Berlin 2007. 13 Wiewohl Nietzsche etwa in JGB 208 ein starkes Russland als eine mçgliche Nçtigung zur europischen Willenseinigung ansieht (KSA 5, 139 f.). 14 Auch wenn Nietzsches Geburtshaus, Taufkirche und Grab nun wohl doch nicht dem Kohleabbau zum Opfer fallen werden, wird das Nietzsche-Ensemble in

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Der vorliegende Band prsentiert ausgewhlte Beitrge einer internationalen Tagung „Nietzsche – Philosoph der Kultur(en)?“, die vom 23. bis 26. August 2007 von der Nietzsche-Gesellschaft e. V. in Naumburg ausgerichtet worden ist. Angesichts der Flle und der grossen thematischen Breite der dort vorgetragenen Beitrge musste fr diesen Band eine Auswahl getroffen werden. Das Auswahlkriterium bestand nicht nur in der hohen Qualitt der Aufstze selbst, sondern auch in der thematischen Kohrenz des Gesamtunternehmens. So konnten etliche gute Manuskripte nicht bercksichtigt werden, weil sie das ohnehin schon weite Feld „Nietzsche – Philosoph der Kultur(en)?“ derart ausgedehnt htten, dass dem Buch das scharfe Profil verloren gegangen wre. Der Band beleuchtet die Frage nach Nietzsche als Philosoph der Kultur(en) in ihren verschiedenen Facetten eingehend und formuliert verschiedene mçgliche Antworten. Bei aller Vorlufigkeit, die geisteswissenschaftlicher Arbeit an der Kultur stets eigen ist, sollen die ber 40 hier versammelten Aufstze das Panorama von Nietzsches Arbeit an der Kultur mçglichst umfassend umreissen. Denn trotz der zahllosen Publikationen zu Nietzsche spielt darin das Thema Kultur keine sehr prominente Rolle. Wenn dieser Band somit eine Lcke fllt und dieses Thema entschieden in den Vordergrund rckt, gewinnt er dadurch seine Existenzberechtigung. Die Naumburger Tagung untergliederte sich neben einigen Plenumsvortrgen in sechs Sektionen: Kultur(en) und Religion(en), Kultur und/als Text, Kultur und (Im-)Moral, Kultur und Kçrper, (sthetische) Kultur und Kunst sowie Kultur und Politik. Fr die Vorbereitung und Leitung dieser Sektionen sowie fr die Vorauswahl der zu druckenden Beitrge waren Christian Benne, Marco Brusotti, Volker Caysa, Knut Ebeling, Beatrix Himmelmann, Hans Gerald Hçdl, Karen Joisten, Enrico Mller, Renate Reschke, Martin Rhl und Christian Schrf, fr die organisatorische Gesamtleitung Ralf Eichberg verantwortlich, whrend mir selbst die wissenschaftliche Gesamtleitung oblag. Fertiggestellt wurde der Band an der Forschungsstelle „Nietzsche-Kommentar“ der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Fr die fruchtbare Zusammenarbeit von der ersten Idee bis zur letzten Druckfahnenkorrektur danke ich allen Beteiligten sehr herzlich. Zwar liegt die Sektionenstruktur der Tagung auch diesem Band zugrunde, sie wurde aber angesichts der getroffenen Auswahl von Beitrgen

Rçcken vielleicht bald das einzige berlebende Zeugnis einer sachsen-anhaltinischen Kulturlandschaft sein – eine Insel in der Mondlandschaft des Tagebaus.

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modifiziert und erweitert. Der Band unterteilt sich somit in acht Abschnitte: Im ersten Abschnitt wird dem Begriff der Kultur bei Nietzsche nachgegangen und untersucht, wie sich Nietzsches Kulturregenerationsprogramm bei ihm selbst und in seiner Nachfolge philosophisch artikuliert hat (Raymond Geuss, Andrea Orsucci, Paul van Tongeren, Klaus Wellner). Der zweite Abschnitt betrachtet das Verhltnis von Kultur und Moral, aber auch Immoral(ismus) in Nietzsches Sinn. Sein Konzept eines sich von moralischen Vorgaben kulturell emanzipierenden Geistes kommt dabei ebenso zum Tragen wie das Schlagwort des bermenschen, Nietzsches Bezug zur immoralistischen Tradition ebenso wie seine berlegungen zur kulturellen Bedingtheit des Menschseins (Andrea Christian Bertino, Peter Andr Bloch, Leonhard Herrmann, Jrgen Hofbauer, Carsten Schmieder). Der dritte Abschnitt widmet sich dem Wechselspiel von Kultur und Politik, sowohl in deutscher wie in europischer Perspektivierung. Zukunftsfhigkeit von Kultur bestimmt die Diskussion hier gleichermaßen wie die politisch-kulturellen (Fehl-)Gnge der Moderne (Stephan Braun, Birte Lçschenkohl, Gert Mattenklott, Reinhard Mehring, Christian Niemeyer). Im vierten Abschnitt werden Kultur und Kunst in Beziehung gesetzt und nach den Spezifika von Nietzsches kulturellem sthetisierungswillen gefragt. Kultureller Niedergang als sthetisches Phnomen stehen hier ebenso im Brennpunkt wie Nietzsches (inter)kulturelle Experimentierungspraktiken – aber auch das Thema der Musik und der Rezeption Nietzschescher Themen bei Knstlern der ihm nachfolgenden Generationen (Peter Bernhard, Knut Ebeling, Angela Holzer, Manos Perrakis, Renate Reschke, David Wachter). Mit Kultur und Religion sollen im fnften Abschnitt die Transzendierungsambitionen von Kultur eingefangen werden. Nietzsches Blick ber die Grenze religiçser Bedingtheit Europas hinaus wird anhand seiner Beschftigung mit aussereuropischen Kulturen nachgezeichnet, aber auch gezeigt, dass fr ihn der Katholizismus durchaus eine kulturelle Option htte sein kçnnen. Das Priesterliche als Fehlform von Kultur wird in den Horizont seiner Rezeption gestellt und Nietzsches Kritik am Imaginren in religionskulturphilosophischer Perspektive herausgearbeitet (Ana Carolina da Costa e Fonseca, Johann Figl, Tilo Klaiber, Eric Sean Nelson, Miguel Skirl, Yannick Souladi).

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Der sechste Abschnitt kehrt unter dem Titel Kultur und Kçrper zurck zum Irdischen, nicht ohne auch hier das Transzendieren als eine sowohl kçrperliche als auch kulturelle Erfahrung zur Sprache zu bringen. Nietzsches Motiv der Gesundheit wird in interkulturelle Horizonte gesetzt und seine Ditetik als Kulturaufgabe verstanden (Volker Caysa, Gunter Gebauer, Jutta Georg-Lauer, Toyomi Iwawaki-Riebel, Tobias Nikolaus Klass, Miriam Ommeln, Konstanze Schwarzwald). Im siebten Abschnitt gilt der Text als das Basale: Kultur und/als Text will ausloten, inwiefern Nietzsches Kulturkonzepte immer auch Konzepte des Textverstehens sind. Dabei ist der Rckgang auf Nietzsches Selbstschulung an der Kultur der Antike ebenso tunlich wie das Ausgreifen auf seine Rezeption in (dramatischer) Dichtung und Dichtungsreflexion (Antonia Eder, Friederike Felicitas Gnther, Barbara Neymeyr, Paolo Panizzo, Nikolas Zok). Im achten Abschnitt werden unter dem durchaus als Frage gemeinten Titel ber Kultur(en) hinaus die trans- und interkulturellen Horizonte von Nietzsches Kulturdenken zusammenfassend erçrtert – im Hinblick auf mndliche kommunizierende Kulturen und den Buddhismus gleichermaßen wie im Hinblick auf die Neue Welt (Andr van der Braak, Heinz Kimmerle, Vivetta Vivarelli). Den Abschluss macht ein Nietzsches Kulturdenken in erzhlende Literatur bersetzender Beitrag (Iso Camartin), der dokumentiert, dass Wissenschaft durchaus Kunst werden kann. Kultur begreift vieles und gerade dieses ein.

I. Begriff der Kultur

Vom „Arzt der Cultur“ zum „Arzt und Kranken in einer Person“ Eine Hypothese zur Entwicklung Nietzsches als Philosoph der Kultur(en)1 Paul van Tongeren In welchem Sinne kann Nietzsches Denken ber Kultur eine Philosophie der Kultur genannt werden? Diese Frage mag zunchst befremden, scheint mir aber nicht sinnlos. Es soll dabei nicht darum gehen, ganz pauschal zu fragen, ob Nietzsche ein Philosoph ist oder nicht, und ob er seinen Platz im Kanon der Philosophie verdient. Wichtig scheint mir aber doch zu fragen, was denn fr Nietzsche eigentlich „Philosophie“ bedeutet, und wie sich das damit Gemeinte auf eine etwaige „Philosophie der Kultur“ Nietzsches bezieht. Und die Frage, was fr Nietzsche „Philosophie“ bedeutet, muss ergnzt werden mit der Frage, was es fr ihn bedeutet, ein Philosoph zu sein. Die Frage, zu der ich in diesem Beitrag eine Hypothese versuchen werde, lautet daher: Wie beziehen sich diese Begriffe, d. h. „Philosophie/Philosoph“ und „Kultur“ in Nietzsches Denken aufeinander?

1. Nietzsches Sprachgebrauch mit Blick auf sein Denken ber die Kultur Nietzsche zwingt uns ja fast zu dieser Frage: durch seinen Sprachgebrauch. Sehen wir uns das genauer an. Zwar finden wir ein paar Stellen, wo Nietzsche Fragen stellt wie: „Wie sieht […] der Philosoph die Cultur in unserer Zeit an?“ (UB III 4, KSA 1, 366); auch finden wir einmal den – mçglicherweise auf eine Philosophie der Kultur hinweisenden – Ausdruck „Wesen der Kultur“ (NL 29[163], KSA 7, 699), und er spricht sogar zweimal von einer „Metaphysik der Cultur“ (NL 32[68], KSA 7, 1

Ich danke Dr. Gerd Schank fr seine Hilfe bei der bersetzung und fr wichtige Hinweise zur Verbesserung des Textes.

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778; NL 34[16], KSA 7, 797).2 Aber das sind nur sehr wenige Belege, fast alle im frhen Nachlass. Der Ausdruck „Philosoph der Cultur“ wird von Nietzsche weder im publizierten Werk noch im Nachlass benutzt.3 Der Ausdruck „Philosophie der Cultur“ kommt im publizierten Werk auch nicht vor, und im Nachlass nur einmal, und zwar in einem Entwurf zur Inhaltsbersicht von Menschliches, Allzumenschliches I (NL 25[3], KSA 8, 485). In dieser Notiz finden wir „Philosophie der Cultur“ als Titel des ersten Hauptstcks; und das ist der einzige Hauptstck-Titel aus diesem Entwurf, der nicht im endgltigen Buch bernommen wird. Das anfnglich als erstes geplante Hauptstck wird letztendlich zum fnften, und dessen Titel wird ersetzt durch „Anzeichen hçherer und niederer Cultur“. Wir werden also durch das augenscheinliche Zçgern Nietzsches zur Vorsicht gemahnt, von einer „Philosophie der Cultur“ zu sprechen. Es gibt hierzu noch etwas Merkwrdiges. Wie bekannt, ist Jenseits von Gut und Bçse aus einem Versuch zur Neubearbeitung von Menschliches, Allzumenschliches I entstanden. Nach einiger Zeit liess Nietzsche diesen Plan fallen und schrieb Jenseits. Die Spuren dieser Vorgeschichte sind aber noch deutlich im neuen Buch nachzuweisen. Menschliches I und Jenseits sind nicht nur die einzigen beiden Bcher mit jeweils neun Hauptstcken, es sind auch die einzigen beiden, in denen von „Hauptstcken“ die Rede ist (statt von „Kapiteln“, „Bchern“ oder „Abteilungen“). Die Parallele zwischen den zweimal 9 Hauptstcken der beiden Bcher ist unbersehbar, und zeigt, dass Nietzsche soweit wie mçglich die gleiche Reihenfolge angestrebt hat. In beiden Bchern finden wir die Kritik der Philosophie in Hauptstck I, die Kritik der Religion in III und politische Betrachtungen in VIII; Texte ber das „Weib“ stehen in Jenseits am Schluss von Hauptstck VII, whrend das VII. Hauptstck von Menschliches „Weib und Kind“ berschrieben ist. Diese bereinstimmungen zeigen auf signifikante Weise zugleich die Unterschiede, von denen einer fr uns wichtig sein drfte. Die Parallele zum V. Hauptstck von Menschliches („Anzeichen hçherer und niederer Cultur“) finden wir nmlich im II. Hauptstck von Jenseits. In beiden Bchern spielt das V. Hauptstck – d. h. das Hauptstck in der Mitte des ganzen Buches – eine 2 3

Einmal scheint es, als ob er eine Vorlesungsreihe plant unter dem Titel: „Ein Colleg ber ,System der Cultur’“ (NL 5[41], KSA 8, 52). Ein Beleg ist zweideutig. Im Nachlass (NL 30[9], KSA 8, 523) finden wir zwar den Satz: „er t y p i s c h als Philosoph und Fçrderer der Kultur“; aber abgesehen davon, dass Nietzsche sich hier nur auf Schopenhauer bezieht, ist keineswegs klar, ob der Genitiv („der Kultur“) hier auch zum „Philosoph[en]“ gehçrt und nicht nur zu „Fçrderer“.

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zentrale Rolle. Whrend diese Rolle in Menschliches offenbar der Kultur zugeteilt war, ist sie in Jenseits der Moral (oder Moralkritik) gewidmet. Und nicht nur verschwindet die Kultur als solche auf diese Weise aus dem Zentrum des Buches, das Wort „Kultur“ verschwindet auch aus dem Titel. Das parallele Hauptstck in Jenseits heißt: „Der freie Geist“. Der freie Geist, der inzwischen Nietzsches Ideal-Bild des Philosophen bestimmt hat, bernimmt hier also die Rolle der Kultur. Die Frage drngt sich auf: Was ist zwischen Menschliches und Jenseits geschehen? Wie wurde der Philosoph der Kultur zum freien Geist, und was kçnnen wir daraus fr die Beziehung zwischen Philosoph(ie) und Kultur lernen?

2. Der Arzt der Kultur Ich mçchte diese Frage noch auf eine andere Weise ergnzen. Die meisten Belege zum Wort „Kultur“ finden sich in der ersten Hlfte von Nietzsches Œuvre, global gesagt zwischen Die Geburt der Tragçdie und der Frçhlichen Wissenschaft. Wenn wir uns das Vokabular genauer ansehen, in dem Nietzsche seine Gedanken ber die Kultur formuliert, finden wir ein paar kennzeichnende Muster. Am hufigsten sind Wendungen, die auf eine Geschichte der Kultur verweisen, mit viel Interesse fr eine Entwicklungsgeschichte,4 aber vor allem fr die „Zukunft der Kultur“ (NL 19[59], KSA 8, 343). Neben dieser Entwicklungsgeschichte (die immer bewertend ist, und geprgt durch die Befrchtung vor einer drohenden „Ausrottung und Entwurzelung der Cultur“ (UB III 4, KSA 1, 366), und von einer Sorge um „Aufgabe“, „Werth“, „Hçhe“, „Ziel“, oder „Zweck“ der Kultur), finden wir ein paar andere typische Metaphern, die Nietzsche fr sein Denken ber Kultur verwendet. Ich meine Ausdrcke wie „Wetterzeichen der Cultur“ (MA II WS 182, KSA 2, 630), „Fruchtfelder der Cultur“ (MA II WS 275, KSA 2, 672), „Zonen der Cultur“ (MA I 236, KSA 2, 197); aber auch: „Mauer der Kultur“ (NL 10[1], KSA 7, 333), „Gebude“ und „Architektur der Cultur“ (MA I 276, KSA 2, 227 f.), wozu vielleicht auch die Formel von den „Fundamenten“ der 4

Vgl. z. B.: „Geschichte der Cultur“ (MA I 238, KSA 2, 200; NL 21[82], KSA 8, 378; M 23, KSA 3, 35; M 113, KSA 3, 102; NL 4[184], KSA 9, 147; NL 2[5], KSA 10, 44; NL 10[21], KSA 12, 466; 19[10], KSA 13, 546); „Geschichte der Entwicklung der Cultur“ (UB IV 4, KSA 1, 446; NL 11[22], KSA 8, 208); „Entwickelung der Cultur“ (MA I 11, KSA 2, 30); „Zeitalter der Cultur“ (MA I 236, KSA 2, 197).

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Cultur gehçrt.5 Es drfte sich lohnen, diese von Nietzsche fr sein Denken ber Kultur gewhlten Metaphern genauer zu untersuchen, und dabei auch zu fragen, was es bedeutet, dass bestimmte Metaphern nur in bestimmten Phasen seines Denkens erscheinen.6 Ich mçchte jetzt aber noch auf eine andere Metapher hinweisen, der m. E. eine besondere Bedeutung zukommt; ich meine die Metaphorik des Arztes. Die Philosophie soll nach Nietzsche „ein Bndniss der bindenden K r a f t s e i n , a l s A r z t d e r K u l t u r “ (NL 30[8], KSA 7, 733). Diese Metapher war zumindest eine Zeit lang wichtig fr Nietzsche, auch wenn er sie nicht sehr oft benutzt. In einer Notiz und auch in einem Brief an Erwin Rohde notiert er als Titel fr eine geplante Unzeitgemsse Betrachtung: „D e r P h i l o s o p h a l s A r z t d e r C u l t u r “.7 Vieles von dem, was er sich zu dieser Betrachtung notiert, ist wahrscheinlich in der 2. Unzeitgemssen Betrachtung verwendet worden.8 Die historische Krankheit, ber die er dort spricht, ist zumindest einer der Hintergrnde fr seine Reflexionen ber „Die h i s t o r i s c h e K r a n k h e i t a l s F e i n d i n d e r C u l t u r “ (NL 27[81], KSA 7, 611) wie auch ber „Kraft und Gesundheit der Cultur“ (NL 37[4], KSA 7, 829), usw. Die Metapher des Philosophen als eines Arztes kçnnte auch wichtig sein fr meine Fragestellung, nicht nur, weil sie eine Konstante in Nietzsches Denken bleibt, sondern auch und vor Allem, weil sie in der Zeit, in der auch Jenseits von Gut und Bçse entsteht, in Verbindung tritt mit jener Figur, der wir schon begegneten, nmlich mit dem freien Geist. „Freier Geist“ ist einer der wichtigsten Namen fr den Typ des Philosophen, wie Nietzsche ihn in dieser Zeit wnscht und erhofft. Wie gesagt: es hat sich einiges gendert in der Entwicklung des Philosophen von den frhen 70er Jahren bis zum freien Geist von 1886. Dass es aber noch immer um den Philosophen als Arzt der Kultur geht, ergibt sich u. a. 5 6

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Vgl. z. B.: NL 29[221], KSA 7, 718: „Es ist ernsthaft zu erwgen, ob fr eine werdende Kultur berhaupt noch Fundamente da sind. Ob die Philosophie als ein solches Fundament zu gebrauchen ist? – Aber das war sie nie.“ So spricht er z. B. nur in spten Texten, und dann ziemlich oft, von einem „Wachsthum der Cultur“ (AC 43, KSA 6, 218; NL 10[5], KSA 12, 456; NL 10[21], KSA 12, 466), und – ganz spt – von einer „konomik der Cultur“ (NL 25[7], KSA 13, 641). NL 23[15], KSA 7, 545; Brief an Erwin Rohde, 22. Mrz 1873, KSB 4, 136. Wahrscheinlich hat Nietzsche zunchst noch einen anderen Titel in Erwgung gezogen, nmlich: „Die Bedrngniss der Philosophie“ (NL 29[197], KSA 7, 709; vgl. auch NL 29[198], KSA 7, 710 und NL 30[15], KSA 7, 737).

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daraus, dass Nietzsche auch hier spricht vom „philosophische[n] A r z t im ausnahmsweisen Sinne des Wortes – ein Solcher, der dem Problem der Gesamt-Gesundheit von Volk, Zeit, Rasse Menschheit nachzugehen hat“ (FW Vorrede 2, KSA 3, 349). Dieses Zitat ist der neuen Vorrede zur Frçhlichen Wissenschaft entnommen, einem der Texte, die in diesem Rahmen am wichtisten sind, nmlich die Vorreden, die Nietzsche zur neuen Ausgabe seiner frheren Schriften hinzufgt – nach seiner Zarathustra-Erfahrung und aufgrund einer Lektre jener frheren Schriften im Licht dieser Erfahrung. Aber bevor wir fragen, wie die Arzt-Metapher in diesen neuen Vorreden verwendet wird und wie sie bei der Interpretation der Entwicklung von Nietzsches Denken ber die Kultur helfen kann, mçchte ich zunchst die Thematik der Kultur ausklammern und an Hand einer anderen Frage die Entwicklung von Nietzsches Philosophieren zwischen 1872 und 1886 kennzeichnen.

3. Nietzsches Fragezeichen Um herauszufinden, was zwischen den frhen Reflexionen Nietzsches ber den Philosophen als „Arzt der Cultur“ und dem spteren freien Geist, der „ein philosophischer Arzt im ausnahmsweisen Sinne des Wortes“ genannt wird, geschehen ist, konzentriere ich mich jetzt auf einen Aspekt seines Denkens, und zwar auf einen, der gewçhnlich fr die Philosophie im allgemeinen, aber fr die Philosophie Nietzsches im besonderen als wesentlich angesehen wird, nmlich das Fragen. Die Philosophie sei doch ganz besonders ein fragendes Denken, und das Fragen sei sogar „die Frçmmigkeit des Denkens“ (Heidegger). Nietzsche wird ein radikaler Denker genannt, weil er tiefer frage als andere. Wo diese Halt machen, fahre Nietzsche fort zu fragen, radikaler sogar als andere Neuerer, wie z. B. Descartes, der nach Nietzsche „oberflchlich“ war (JGB 191, KSA 5, 113): – An Stelle jener „unmittelbaren Gewissheit“, an welche das Volk im gegebenen Falle glauben mag, bekommt dergestalt der Philosoph eine Reihe von Fragen der Metaphysik in die Hand, recht eigentliche Gewissensfragen des Intellekts, welche heissen: „Woher nehme ich den Begriff Denken? Warum glaube ich an Ursache und Wirkung? Was giebt mir das Recht, von einem Ich, und gar von einem Ich als Ursache, und endlich noch von einem Ich als Gedanken-Ursache zu reden?“ Wer sich mit der Berufung auf eine Art I n t u i t i o n der Erkenntniss getraut, jene metaphysischen Fragen sofort zu beantworten, wie es Der thut, welcher sagt: „ich denke, und weiss, dass

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dies wenigstens wahr, wirklich, gewiss ist“ – der wird bei einem Philosophen heute ein Lcheln und zwei Fragezeichen bereit finden. (JGB 16, KSA 5, 30)

Fragezeichen, statt vorausgesetzte angebliche Selbstverstndlichkeiten, wren also kennzeichnend fr die Philosophie, und a fortiori fr die Philosophie Nietzsches. Ich mçchte daher versuchen, ein Merkmal der Entwicklung von Nietzsches Philosophieren zwischen 1872 und 1886 an Hand der Entwicklung seines Fragens in diesem Zeitraum zu beschreiben.9 Obwohl die Thematik der Kultur jetzt ausgeklammert wird, ist sie nicht abwesend, und ich mache diesen Umweg nur, um etwas darber zu lernen, was es heißt: „Philosoph der Kultur“ zu sein. 3.1 Die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik Wer einfach am Beginn der Kritischen Studienausgabe zu lesen anfngt, entdeckt schnell, dass es tatschlich eine Entwicklung von Nietzsches Fragen gibt. Dem ersten publizierten Text, der Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik von 1872, geht die Vorrede, die Nietzsche 14 Jahre spter, 1886, der neuen Ausgabe hinzufgte, voran. Unmittelbar wird klar, dass vieles sich in diesen 14 Jahren gendert hat, auch mit Blick auf das Fragen. Ich fange rein quantitativ an: im ursprnglichen Vorwort (mit nur 2 Seiten) kommt das Wort „Frage“ (oder verwandte Wçrter) 9

Hintergrund fr diesen Paragraphen ist die Arbeit fr das Nietzsche-Wçrterbuch (NWB) fr das ich im Moment das Lemma „Frage“ vorbereite. Das NWB arbeitet zunchst semasiologisch, d. h. ausgehend von den signifiants. In diesem Fall bedeutet dies, dass ich zunchst Nietzsches Gebrauch des Wortes ‘Frage’ und der Wçrter, die mit diesem Wort gebildet sind, untersuche (Frager, fragen, abfragen, ausfragen, befragen, erfragen, hinterfragen, nachfragen, vorfragen, gefragtwerden, fraglich, fraglos, fragwrdig/Fragwrdigkeit, fragezeichenwrdig, fragenreich, Fragestellung, Frageform, Fragesatz, Fragestellung, Fragebogen, Fragezeichen, (Selbst-)In-Fragestellung, Selbstbefragung, Anfrage, Nachfrage, Gegenfrage, Grundfrage, Hauptfrage, Cardinal-Frage, Streitfrage, Vorfrage, Vordergrunds-Frage, Anstandsfrage, Gewissensfrage, Existenzfrage, Lebens(ernst)frage, Moral-Frage, Rangfrage, Machtfrage, Nothdurftfrage, Lustund Unlustfrage, Arbeiter-Frage, Rassenfrage, Werthfrage, Duellfrage, Frauenfrage, Homerfrage, Hesiodfrage, Echtheitsfrage, Kunstfrage, Kultur- und Geschmacksfrage, Erziehungs- und Bildungsfragen, Schul- und Erziehungsfragen, Frage- und Antwortspiel; zusammen mehr als 1.500 Belege). Zweitens werden dann die Fragewçrter (wo, wann, wer, warum, wie, was, womit, wozu, usw.) und die Fragezeichen (mehr als 8.200) studiert. Da das Material sehr ausgiebig ist, muss das Folgende noch vorlufig bleiben.

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nicht vor (abgesehen vielleicht von den „Bedenklichkeiten“, die Nietzsche von sich fern halten will, und vom „aesthetische[n] Problem“, das er ernst nehmen will); und jedenfalls gibt es hier kein einziges Fragezeichen. In der neuen Vorrede (mit 12 Seiten) finden wir 18 Mal ein Wort mit dem Stamm „Frag“, 10 Mal ein Wort mit „Problem“, und 74 Fragezeichen. Natrlich: das erste Vorwort war eine Widmung an Wagner, whrend die neue Vorrede ein „Versuch einer Selbstkritik“ war. Aber die Vermutung, dass Nietzsche im Laufe seiner Entwicklung allmhlich mehr Fragen stellt und mehr Frage-Wçrter bentzt, wird besttigt werden – wenigstens bis 1886, wo diese Entwicklung einen Hçhepunkt zu erreichen scheint. Wenn wir (nicht nur das Vorwort, sondern) das Buch Die Geburt der Tragçdie mit der Vorrede vergleichen, finden wir noch einen anderen – ebenfalls ußerlichen, aber dennoch interessanten – Unterschied, und zwar im Bereich des Frage-Vokabulars. In der Geburt finden wir eigentlich nur das Wort „fragen“, ein paar Mal „sich fragen“ und „befragen“, aber keine Spur aller jener Zusammensetzungen und Adjektive, mit denen Nietzsche spter seine Fragen spezifiziert, und die zeigen, dass er auf das Fragen selbst aufmerksam geworden ist. Die einzige Ausnahme bildet das Wort „fragwrdig“, das aber in der Geburt ganz einfach „problematisch“ bedeutet; es wird von etwas gesagt, das Fragen hervorruft, die vom Autor diskutiert werden. In der Geburt werden drei Sachverhalte fragwrdig genannt: Euripides’ Behandlung des Mythos, Sokrates und unsere Kultur. In allen drei Fllen ist klar, dass Nietzsche dazu kaum explizite Fragen stellt, abgesehen von solchen, die er durch seine Thesen zu diesen Sachverhalten implizit zum Ausdruck bringt. Es scheint mir fraglich, ob es in der Geburt berhaupt echte Fragen gibt. Klar ist jedenfalls, dass die meisten angeblichen Fragen einfach nur literarische Instrumente zur Strukturierung und Belebung der Darstellung sind. In der spteren Vorrede aber nennt Nietzsche unmittelbar in der ersten Zeile sein eigenes Buch „fragwrdig“; also nicht etwas, worber er schreibt, sondern seine eigene Schrift. Und diese Bezeichnung „fragwrdig“ wird nachher in Fragen erlutert und entfaltet: Nietzsche fragt sich, welche Fragen diesem Buch zu Grunde gelegen haben; er vermutet, dass es jedenfalls „eine Frage ersten Ranges“ und dazu „eine tief persçnliche Frage“ sein muss. Dann werden die Fragen differenziert: es gibt persçnliche, psychologische, physiologische, irrenrztliche Fragen, Fragen unterschiedlichen Ranges, Grundfragen, schwere Fragen und die „schwerste Frage“. Auch das fhrt zu einer Vermutung, die besttigt werden wird: Nietzsches Fragen-Vokabular wird immer differenzierter.

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Das Wichtigste ist aber, dass jetzt die Fragen betont werden, und dass Nietzsche erklrt, jetzt erst den Ernst des Problems, das er schon 14 Jahre frher gestellt hat, zu sehen. Dieses Problem wird auf vier unterschiedliche Arten expliziert: an erster Stelle als „das grosse Fragezeichen vom Werth des Daseins“ (GT Vorrede 1), dann als: „das Problem der Wissenschaft“ oder „Wissenschaft als problematisch, als fragwrdig gefasst“ (GT Vorrede 2); drittens als eine In-Frage-Stellung der Moral (GT Vorrede 5) und schließlich als „das Problem, dass hier [mit Blick auf das Dionysische als Merkmal der griechischen Kultur] ein Problem vorliegt“ (GT Vorrede 3), d. h. dass das Dionysische ein „grosse[s] […] Fragezeichen“ ist (GT Vorrede 6). An dieser Stelle reicht die Feststellung, dass der Autor in dieser Vorrede erklrt, dass er damals viel mehr Fragen hatte, als er sich vergegenwrtigte. Kehren wir also zurck zur chronologischen Reihenfolge. 3.2 Die Unzeitgemßen Betrachtungen In den frhen kulturkritischen Versuchen, den Unzeitgemßen Betrachtungen, finden wir wiederum Nietzsches Verwendung der Frage als eines Instruments. Die Darlegung wird mittels Fragen aufgebaut, die in sie einfhren, sie strukturieren und regelmssig die Aufmerksamkeit des Lesers wieder auf sich ziehen. Ein Beispiel: in der ersten Unzeitgemßen Betrachtung stellt Nietzsche am Ende der einfhrenden Bemerkungen drei Fragen, die dann nachher in der Abhandlung beantwortet werden: „Erstens: wie denkt sich der Neuglubige seinen Himmel? Zweitens: wie weit reicht der Muth, den ihm der neue Glaube verleiht? und drittens: wie schreibt er seine Bcher?“ (UB I 4, KSA 1, 177). Aber jetzt wird noch deutlicher als vorher, dass diese Fragen nicht angeben, worum es sich im Text eigentlich handelt. Sie sind nur Instrument zur Strukturierung einer Darlegung, in der es um andere Fragen geht. Gegen die Bildungsphilister, die blçde Fragen stellen (UB I 1, KSA 1, 167), gegen Strauss, der von Lebensfragen redet ohne „wirkliche[.] Erfahrung“ (UB I 8, KSA 1, 204), gegen die Leute, die „den wichtigsten Fragen […] entfliehen“ und sogar „die allernchste[n] Frage[n]“ nicht stellen (UB I 8, KSA 1, 203), gegen den Geist der Zeit, in der „fast Niemand“ die Frage stellt, wie es mit der Kultur steht (UB I 8, KSA 1, 202), will Nietzsche gerade diese Fragen doch vorbringen. Das Gleiche sehen wir auch in den anderen Betrachtungen. Sie wollen alle die eigentlichen Fragen zur Sprache bringen, die „Fragen und Sorgen in Betreff der Gesundheit eines Menschen, eines

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Volkes, einer Cultur“ (UB II 1, KSA 1, 257), vor allem aber die ganz individuelle Frage „wie und wozu gelebt werde“ (UB II 1, KSA 1, 255), oder: „was ist das Leben berhaupt werth?“ (UB III 3, KSA 1, 363), oder: „die Frage: wozu lebst du?“ (UB III 4, KSA 1, 374), oder: „die Frage […]: wie erhlt dein, des Einzelnen Leben den hçchsten Werth, die tiefste Bedeutung? Wie ist es am wenigsten verschwendet?“ (UB III 6, KSA 1, 384), oder – zum Schluss: „wozu du Einzelner da bist, das frage dich“ (UB II 9, KSA 1,319). Merkwrdigerweise werden diese eigentlichen Fragen aber in einer Darlegung prsentiert, die von anderen Fragen strukturiert wird. Nietzsche predigt (d. h. expliziert und formuliert explizit verbal) also andere Fragen als diejenigen, welche er praktiziert.10 Der Zwiespalt, in dem Nietzsche damals lebte – er war ja Professor fr Philologie in Basel, whrend er eigentlich ein philosophischer Erzieher sein wollte – drckt sich offenbar auch in seinem Fragen-Vokabular und in seiner Fragestrategie aus. Ich vermute, dass Nietzsches Fragen seine eigene Form erst in den aphoristischen Bchern findet, die nun folgen. Die Unterschiede zwischen den Schriften von Menschliches, Allzumenschliches bis zur ersten Ausgabe der Frçhlichen Wissenschaft sind nur klein. Was ich jetzt fr diese Bcher erwhne, gilt mehr oder weniger fr die ganze Periode. 3.3 Menschliches, Allzumenschliches In Menschliches, Allzumenschliches I ist auffllig, dass das Fragen zwingender wird als vorher. Bis jetzt war es der Autor, der Fragen stellte und Fragen vorbrachte; von jetzt ab wird er immer mehr zu einem, der gehorcht. Er gehorcht einem Fragen, das sich herandrngt, oder etwas in ihm, das ihm Fragen aufzwingt. Er sprt einen „Hang“ in sich selbst zu Fragen, die die Menschheit gerne vergisst (einen Hang, zu dem man daher „fast entmenscht sein“ muss; MA I 1, KSA 2, 24); „der Geist fragt“ (MA I 13, KSA 2, 34); „unsere Sinne[.]“ stellen Fragen (MA I 217, KSA 10 Vielleicht ist UB IV eine – interessante – Ausnahme. Hier finden wir kaum oder gar keine Fragen von Nietzsche selber, sondern nur Fragen, die er Wagner zuschreibt. Fast ohne Ausnahme wird die Abhandlung strukturiert von Wagners Fragen. Nur sein Fragen wird „rastlos“ (UB IV 8, KSA 1, 472) und „schmerzlich einschneidend“ (UB IV 8, KSA 1, 477) genannt. Die Ausnahme steht ganz am Ende, wo er schreibt „Wer so sich fragt und sorgt, hat an Wagner’s Sorge Antheil genommen“ (UB IV 10, KSA 1, 496), und dann: „Und nun fragt euch selber, ihr Geschlechter jetzt lebender Menschen!“ (UB IV 11, KSA 1, 509).

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2, 177); die „Wissenschaft, welche nach Ursprung und Geschichte der sogenannten moralischen Empfindungen fragt“ gebietet uns (MA I 37, KSA 2, 59) usw. Und wenn es schon der Autor selber ist, der Fragen stellt, dann sind es nicht lnger bloß rhetorische Fragen, oder solche, die nur dazu dienen, dem Autor Gelegenheit zu seinen Antworten zu bieten. Ganz im Gegenteil: ab jetzt finden wir çfters die Formel „Zuletzt darf man fragen“, mit der Nietzsche eine Frage einfhrt, die er nicht beantwortet. Manchmal scheint es, als ob er die Frage, die sich ihm aufzwngt, kaum aussprechen kann: „Eine Frage scheint uns die Zunge zu beschweren und doch nicht laut werden zu wollen: ob man bewusst in der Unwahrheit bleiben kçnne?“ (MA I 34, KSA 2, 53 f.). Sehr oft sehen wir von hier an, dass ein Aphorismus in Fragen endet, meist nicht in rhetorischen. Bemerkenswert ist auch, dass Nietzsche, wenn er seine Fragen durch ein Zitat introduziert, nicht mehr wie frher auf fiktive Figuren verweist (ein Kçnig, ein Spartaner, Tristan, Tannhuser, Isolde, usw.), sondern auf echte Autoritten: Plato (MA I 212), Pascal (M 549), Novalis (MA I 142). Weil die Fragen sich aufdrngen, kçnnen sie auch leicht unheimlich oder bedrohlich werden. Nietzsche spricht von einer „schauderhafte[n] Frage“ (MA I 55, KSA 2, 74), und von dem „grausame[n] Anblick“ (MA I 37, KSA 2, 59), den sie bietet. Weil es nicht lnger der Fragende selber ist, der sein Fragen fhrt und beherrscht, wird es durchaus mçglich, dass es seinem Wohlsein und Vorteil schadet: „wird so unsere Philosophie nicht zur Tragçdie? Wird die Wahrheit nicht dem Leben, dem Besseren feindlich?“ (MA I 34, KSA 2, 53 f.). Der Denker ist nicht lnger der Regisseur seiner Fragen, sondern er gehorcht einem Fragen, das er in sich sprt. Die vielen Dialog-Texte, die wir vor Allem ab dem 2. Band von Menschliches, Allzumenschliches finden, sind ein Symptom dieser Entwicklung. Im Prolog zum zweiten Buch sagt der Wanderer zu seinem Schatten: „Ein paar hundert Fragen drcken auf meine Seele, und die Zeit, da du auf sie antworten kannst, ist vielleicht nur kurz.“ (KSA 2, 538). Der Denker stellt sich selber Fragen, die nicht rhetorisch sind, und die er oft nicht beantworten kann; er wird so zu einer Frage fr sich selber. Und immer mehr bezieht sich dieses Fragen auf sein Fragen selbst. Ein gutes Beispiel liefert MA II WS 43 (KSA 2, 572 f.): Der Denker hlt aber Alles fr geworden und alles Gewordene fr discutirbar, ist also der Mann ohne Pflicht, – solange er eben nur Denker ist. Als solcher wrde er also auch die Pflicht, die Wahrheit zu sehen und zu sagen, nicht anerkennen und diess Gefhl nicht fhlen; er fragt: woher kommt sie? wohin will sie?, aber diess Fragen selber wird von ihm als

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fragwrdig angesehen. […] Insofern scheint hier zur H e i z u n g das selbe Element nçthig zu sein, das vermittelst der Machine untersucht werden soll.

3.4 Morgenrçthe Das letzte Zitat zeigt etwas, was sich ab der Morgenrçthe noch verstrken wird. Das leidenschaftliche Befragen des eigenen Denkens bringt einen inneren Konflikt hervor. Die spter hinzugefgte Vorrede zur Morgenrçthe sagt, dass dieses Buch das Vertrauen in die Moral zu untergraben begann. Allerdings hatte Nietzsche damit schon frher begonnen; aber in diesem Buch wird diese Untergrabung verbunden mit der Selbst-Befragung und sie wird dadurch existentieller, als sie vorher war. Es wird ja immer deutlicher, dass seine Selbstprfung, seine „Leidenschaft der Erkenntnis“ (M 429, KSA 3, 265), diese „persçnlichsten Fragen der Wahrheit. – ,Was ist Das eigentlich, was ich thue? Und was will gerade ich damit?’“ (M 196, KSA 3, 170), dieses misstrauische Hinterfragen des eigenen Fragens (vgl. M 523, KSA 3, 301) selber moralisch geboten ist; es ist eine Form der „Redlichkeit“ (M 482, KSA 3, 286) und fordert Tapferkeit.11 Nun: gerade diese moralischen Merkmale der Selbstprfung werden in zunehmendem Maaße problematisch werden, wie wir an Hand der Frçhlichen Wissenschaft sehen werden. 3.5 Die frçhliche Wissenschaft Denn jetzt wird klar, dass die „Leidenschaft der Erkenntniss“ (FW 3, 107 und 123) zwar einerseits eine moralische Qualitt darstellt, andererseits aber eine Bedrohung fr das eigene Leben: Wer leidenschaftlich fragt und Erkenntnis sucht, wird alle Lgen bekmpfen, auch die, welche angenehm oder sogar lebensnotwendig sind. Der Denker wird zu einem Kampfplatz, wo der Trieb zum Leben und der Trieb zur Erkenntnis miteinander kmpfen. Dass dieser Kampf unumgnglich ist und nicht einfach durch eine Entscheidung fr die eine oder die andere Partei gelçst werden kann, wird klar, wenn Nietzsche zeigt, wie die beiden Parteien ineinander verschlungen sind: Es ist ein „Gewissen hinter deinem ,Gewissen’“, das die „,Festigkeit’ deines sogenannten moralischen Urtheils“ 11 Vgl. M 18, KSA 3, 31: „Die heldenhaftesten Seelen mçgen sich darber mit sich befragen.“

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untergrbt (FW 335, KSA 3, 561 f.). Auch „der Trieb zur Wahrheit [erweist] sich als eine lebenerhaltende Macht“ (FW 110, KSA 3, 471): Der Denker: das ist jetzt das Wesen, in dem der Trieb zur Wahrheit und jene lebenerhaltenden Irrthmer ihren ersten Kampf kmpfen […]. Im Verhltniss zu der Wichtigkeit dieses Kampfes ist alles Andere gleichgltig: die letzte Frage um die Bedingung des Lebens ist hier gestellt, und der erste Versuch wird hier gemacht, mit dem Experiment auf diese Frage zu antworten. Inwieweit vertrgt die Wahrheit die Einverleibung? – das ist die Frage, das ist das Experiment. (FW 110, KSA 3, 471)

Mit einem Blick auf unsere Frage nach der Bedeutung des Philosophen, der in den frhen Schriften ein Arzt der Kultur sein wollte, ist es wohl wichtig zu sehen, dass Nietzsche jetzt die Gesundheit des Philosophen selbst thematisiert, und dass er ,die grosse Frage’ aufwirft, ob gerade fr einen, der vom „Durst nach Erkenntniss und Selbsterkenntniss“ gezeichnet ist, d. h. fr einen Philosophen, Krankheit nicht ein notwendiger Bestandteil der Gesundheit sei: „ob wir der Erkrankung e n t b e h r e n kçnnten“ (FW 120, KSA 3, 477). In den letzten Zitaten hçrten wir von einer „letzte[n] Frage“, und von einer „grosse[n] Frage“. Diese werden von Nietzsche letztendlich bersetzt werden in die Frage des „grçsste[n] Schwergewicht[s]“: „die Frage bei Allem und Jedem ,willst du diess noch einmal und noch unzhlige Male?’“ (FW 341, KSA 3, 570). Der mit dieser Frage angedeutete Gedanke der ewigen Wiederkehr steht im Mittelpunkt von Also sprach Zarathustra. In diesem Buch finden wir die meisten Frage-Wçrter und sogar bei weitem die meisten Fragezeichen.12 Nur die neuen Vorreden von 1886 und das ebenfalls 1886 hinzugefgte V. Buch der Frçhlichen Wissenschaft, d. h. die Schriften, die Nietzsche unmittelbar nach der Zarathustra-Erfahrung schrieb, haben jeweils relativ mehr Fragezeichen. Die Vermutung liegt nahe, dass wir hier einen sehr wichtigen Punkt in der 12 Die Zhlung ist nicht exakt, und der Vergleich von Bchern ist problematisch. Wenn wir die zwei Bnde von Menschliches (mit ihren neuen Vorreden) zusammen als ein Buch rechnen, oder die endgltige Fassung der Frçhlichen Wissenschaft (also einschliesslich der neuen Vorrede und Buch V), dann enthalten diese (etwas mehr) Fragewçrter (MA I hat 56, MA II 38, FW 88, Z 81). Zudem haben nicht alle Bcher gleich viele Seiten. Aber wie wir auch zhlen oder vergleichen, die Anzahl der Fragezeichen ist im Zarathustra sowohl absolut wie auch relativ bei weitem am grçssten; ich zhlte dort 838, was brigens noch wenig ist verglichen mit der noch viel grçsseren Anzahl von Ausrufezeichen in diesem Buch: mehr als 2.200; viele davon stehen bigens wieder vor Fragezeichen!

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Entwicklung des Fragens in Nietzsches Philosophieren erreichen. Weil die Fragen von Zarathustra, u. a. wegen der Form des Buches, eine Interpretation fr sich erfordern (und weil viele dieser Fragen wieder rhetorisch sind), lasse ich diesen Text hier außer Betracht und behandle nur noch kurz das V. Buch der Frçhlichen Wissenschaft und die neuen Vorreden. 3.6 Die Schriften von 1886 (Frçhliche Wissenschaft V und die neuen Vorreden) Die ersten 4 Paragraphen des V. Buches der Frçhlichen Wissenschaft zeigen klar diesen wichtigen Punkt, den wir erreicht haben. Ich zitiere den Titel: „W a s e s m i t u n s e r e r H e i t e r k e i t a u f s i c h h a t “ (FW 343, KSA 3, 573): dieser bespricht die Folgen des Todes Gottes; FW 344, „I n w i e f e r n a u c h w i r n o c h f r o m m s i n d “, thematisiert die Wissenschaft und das Suchen nach Wahrheit; FW 345, „M o r a l a l s P r o b l e m “ bespricht die Moral, und die Reihe wird abgeschlossen mit einer Zusammenfassung unter dem Titel: „U n s e r F r a g e z e i c h e n “ (FW 346, KSA 3, 579). Es ist fast eine Parodie auf Kants berhmte Zusammenfassung der Philosophie in 3+1 Fragen: „was kann ich wissen?“, „was soll ich tun?“, und „was darf ich hoffen?“,13 zusammengefasst als: „was ist der Mensch?“14 Der Denker hat jeden Glauben, jedes Handeln und jede Erkenntnis grndlich hinterfragt und konfrontiert sich jetzt mit dem eigenen Fragen, und entdeckt, dass Glaube, Moral und Wahrheitssuche darin weiterexistieren: „auch zu uns noch redet ein ,du sollst’“ (M Vorrede 4, KSA 3, 16). Auch diese Philosophie ist Symptom eines Leibes und seiner Gesundheit oder Krankheit (FW Vorrede). Der selbstbewusste Ton dieser Vorreden kann leicht irrefhren. Der Autor spricht zwar von einer berwindung, aber das ist „ein rthselhafter fragenreicher fragwrdiger Sieg“ (MA I Vorrede 3, KSA 2, 16). Er hat durch diese berwindung das Problem nicht hinter sich gelassen, sondern er kann es jetzt erst vçllig zulassen: „Man frchtet, mit diesem Willen in der Brust, nicht das Furchtbare und Fragwrdige, das allem Dasein eignet; man sucht es selbst auf.“ (MA II Vorrede 7, KSA 2, 376 f.). Wer diesen Sieg erkmpft hat, hat seine Fragen nicht endgltig beantwortet, sondern er hat „ein[..] Fragezeichen mehr, vor allem mit 13 Kritik der reinen Vernunft A 805/B 833. 14 Logik (Leipzig 1904), S. 27.

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dem Willen, frderhin mehr, tiefer, strenger, hrter, bçser, stiller zu fragen als man bis dahin gefragt hatte“, wie Nietzsche in der Vorrede zur Frçhlichen Wissenschaft (FW Vorrede 3, KSA 3, 350) schreibt. 3.7 Fazit Nietzsches Fragen entwickelt sich, ausgehend von einer Technik, mit der er Thesen in einer rhetorisch strukturierten Darlegung vorbringt, ber eine rhetorische Technik, um den Leser auf bestimmte Fragen aufmerksam zu machen, und ber ein dann immer bedenklicher und misstrauischer werdendes Fragen, in dem zudem immer mehr das eigene Fragen Gegenstand der Untersuchung wird, bis es letztendlich Ausdruck einer existentiellen Haltung des freien Geistes wird, der nicht lnger selber die Fragen stellt, sondern sich als „ein Stelldichein […] von Fragen und Fragezeichen“ erfhrt, wo es unklar ist „[w]er von uns […] hier Oedipus [ist?] Wer Sphinx?“ (JGB 1, KSA 5, 15). Hier erreicht Nietzsche seine eigentliche und endgltige Frage. Ab jetzt werden wir auch weniger rhetorische Fragen in seinen Schriften finden und çfter Fragen, die er auch selber nicht beantworten kann. In der Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches II spricht er von „de[m] Weg zu ,mir’ selbst, zu meiner Aufgabe. Jenes verborgene und herrische Etwas, fr das wir lange keine Namen haben, bis es sich endlich als unsre Aufgabe erweist“ (MA II Vorrede 4, KSA 2, 373). Wenn man (mit Nietzsche) sagen kann, dass jede Philosophie in einer Frage zusammengefasst werden kann, dann ist das fr Nietzsche die Aufgabe, „auf den Versuch hin leben und sich dem Abenteuer anbieten zu drfen“ (MA I Vorrede 4), die Aufgabe, mit der „das eigentliche Fragezeichen erst gesetzt wird“ (FW 382, KSA 3, 637), oder wie er es schon im 3. Buch der Frçhlichen Wissenschaft formulierte: die letzte Frage um die Bedingung des Lebens ist hier gestellt, und der erste Versuch wird hier gemacht, mit dem Experiment auf diese Frage zu antworten. Inwieweit vertrgt die Wahrheit die Einverleibung? – das ist die Frage, das ist das Experiment. (FW 110, KSA 3, 471)

Und weil er hier seine eigentliche Frage entdeckt, kann er jetzt auch die Einheit in allem sehen, was er bis jetzt gemacht habe: „dass es etwas Gemeinsames […] an allen meinen Schriften gbe“ (MA I Vorrede 1, KSA 2, 13). Die Hermeneutik sagt, dass man einen Autor oder einen Text erst versteht, wenn man die Frage versteht, zu der er die Antwort ist. Die

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Frage, zu der Nietzsches Denken eine Antwort darstellt (und wahrscheinlich gilt das Gleiche fr jede Philosophie), wird aber auch vom Autor selber erst im Laufe seines Denkens entdeckt. Der „Fall Nietzsche“ zeigt, wie das vor sich geht: nmlich dadurch, dass der Autor seine Fragen auf das eigene Fragen richtet, dass er sein Denken auf sich selbst bezieht und existentiell macht, damit „das eigentliche Fragezeichen […] gesetzt wird, das Schicksal der Seele sich wendet, der Zeiger rckt, die Tragçdie beginnt…“ (FW 382, KSA 3, 637).

4. „Nietzsche – Philosoph …“ Was hat nun die dargestellte Entwicklung mit der anfangs gestellte Frage zur Beziehung zwischen Philosoph(ie) und Kultur zu tun? Die Entwicklung hat gezeigt, wie der Philologe, der Philosoph sein wollte, zum freien Geist wurde. Der Philolog/Philosoph vom Beginn prsentierte sich als „Arzt der Cultur“. Was ist aus dieser Metapher bei dem freien Geist geworden? Die Vorreden von 1886 sind alle – mehr oder weniger – ein Protokoll von Nietzsches Genesungsprozess oder „[s]einer Kur und Selbst-Wiederherstellung“ (MA I Vorrede 1, KSA 2, 14). Aber die Texte umfassen mehr als nur den persçnlichen Bericht, in dem der Philosoph Nietzsche davon erzhlt, wie er krank war und gesund wurde. Zum Ersten ergibt sich, dass dieser Prozess der Genesung damit anfngt, dass der Kranke entdeckt und anerkennt, dass er krank ist. Und in unserem Rahmen ist es besonders wichtig, dass Nietzsche gerade seine eigenen ersten explizit kulturkritischen Verçffentlichungen als Symptome der Krankheit entdeckt, oder vielleicht sogar als Symptome einer Verkennung der Krankheit: als eine „Falschheit“, ein „Selbst-Betrug“, die als „List der Selbst-Erhaltung“ fungierten (MA I Vorrede 1, KSA 2, 14). In diesem Sinne finden wir alle Figuren und Themen von Nietzsches frhen kulturkritischen Schriften in diesen Texten wieder: Strauss, Schopenhauer und Wagner, die Griechen, die Deutschen und Europa, „Deutschtmelei“, „Bildung und Bildungsphilisterei“, „historische Krankheit“, Pessimismus und Romantik, aber auch die grossen Domnen der Nietzscheschen Kulturkritik, wie man sie das ganze Œuvre hindurch findet: Erkenntnis (oder Philosophie und Wissenschaft), Handeln (oder Moral und Politik) und Glauben (oder die Religion und namentlich das Christentum) erscheinen hier im Rahmen seiner Krankheitsgeschichte.

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Dies bedeutet zum Zweiten, dass der Arzt der Kultur entdeckt, dass er selber der zu genesende Patient ist, dass er – wie er in der Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches II (5, KSA 2, 375) schreibt – „Arzt und Kranker in einer Person“ ist. Jetzt erst entdeckt er dadurch wirklich, was er in gewissem Sinne auch in den frhen 70er Jahre schon wusste, nmlich dass ein Arzt nur den Kranken helfen kann, wenn er sich selber helfen kann. So wie er es mit den Worten des Evangeliums (Lukas 4, 23) sagt: „Arzt, hilf dir selber, so hilfst du auch deinem Kranken noch“ (Z I Tugend 2, KSA 4, 100).15 Nietzsche wusste das auch schon in den 70er Jahren. In einer Aufzeichnung aus der zweiten Hlfte von 1873 lesen wir: Der Philosoph hat z w e i S e i t e n : e i n e k e h r t e r d e n M e n s c h e n z u , die andere bekommen wir nicht zu sehen, da ist er Philosoph fr sich. Wir betrachten zuerst das Verhltniss des Philosohen zu den anderen Menschen. Resultat fr unsere Zeit: es kommt bei diesem Verhltniss nichts heraus. Warum wohl? S i e s i n d n i c h t P h i losophen fr sich selbst. „Arzt hilf dir selber!“ Mssen wir ihnen zurufen. (NL 29[213], KSA 7, 714 f.)

Nietzsche hat selber mehr als 10 Jahre gebraucht, um gerade dies auch fr sich selber zu entdecken. In seinen frhen Arbeiten war er wie ein Philosoph, der kein Philosoph und kein Arzt fr sich selber war. Er hat versucht, eine kranke Kultur gesund zu machen, indem er seine Diagnose gab und seine Therapeutik vorschrieb. In den Vorreden von 1886 beschreibt er, wie er seitdem entdeckt hat, dass die Krankheit auch in ihm selber war. Dadurch hat er – zum Dritten – aber allmhlich auch noch etwas anderes entdeckt, nmlich, dass Genesung nicht durch ein Medikament erreicht werden kann, und dass Gesundheit nicht ein ganz anderer Zustand ist, der von dem der Krankheit ganz geschieden ist,16 sondern dass Gesundheit, oder besser: Genesung, gerade darin besteht, dass man sich zu seiner Krankheit in der rechten Weise zu verhalten lernt, oder wie 15 Vgl. Nietzsche-Wçrterbuch, hrsg. von der Nietzsche Research Group (Nijmegen) unter Leitung von Paul van Tongeren, Gerd Schank und Herman Siemens, Bd. 1, Berlin / New York 2004, s. v. „Arzt“, hier bes. S. 147. 16 Vgl. die sogenannte „ontologische“ Interpretation von Gesundheit und Krankheit, wie sie sich seit dem 16. Jahrhundert entwickelte. Vgl. O. Temkin, Health and Disease, in: Philip P. Wiener (Hrsg.), Dictionary of the History of Ideas. Studies of Selected Pivotal Ideas, Bd. 2, New York 1973, S. 398 – 406, und Thomas A. Long, Nietzsche’s Philosophy of Medicine, in: Nietzsche-Studien 19 (1990), S. 112 – 128, hier bes. S. 115.

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Thomas Long Nietzsches Begriff der Gesundheit umschreibt: „a transformative capacity to respond in an assertive way to a painful stimulus“.17 Die neue Gesundheit, „d i e g r o s s e G e s u n d h e i t “ (FW 382, KSA 3, 635 f.), die er so entdeckt hat, ist deshalb eine, „welche der Krankheit selbst nicht entraten mag“ (MA I Vorrede 4, KSA 2, 17); „ – eine solche, welche man nicht nur hat, sondern auch bestndig noch erwirbt und erwerben muss, weil man sie immer wieder preisgiebt, preisgeben muss!…“ (FW 382, KSA 3, 636). Ein solcher Genesender – „Arzt und Kranker in einer Person“ – entwickelt seine Philosophie aus dem Schmerz seiner Krankheit heraus. Diese grosse Gesundheit existirt gerade in dem, was wir am Ende der Entwicklung von Nietzsches Fragen schon sahen: „a u f d e n V e r s u c h hin leben und sich dem Abenteuer anbieten zu drfen“ (MA I Vorrede 4, KSA 2, 18). Fr ihn heisst Leben und Philosophieren das Gleiche, nmlich „alles, was wir sind, bestndig in Licht und Flamme verwandeln, auch alles, was uns trifft“ – „diese Kunst der Transfiguration ist eben Philosophie“ (FW Vorrede 3, KSA 3, 349 f.).

5. „…der Kultur(en)?“ Aber haben wir jetzt nicht die Kultur aus dem Auge verloren? Was hat dies Alles mit einer Philosophie der Kultur zu tun? Ich mçchte zum Schluss die Vermutung formulieren, dass sich in der beschriebenen Entwicklung auch die Bedeutung der Kultur gendert hat. Aus einem Philosophen, der die Kultur im Sinn des Ganzen der hçheren und niederen Ausdrucksformen der Sitten und des Geschmacks eines Volkes betrachtet und kritisiert, hat Nietzsche sich bis zu einem solchen entwickelt, der sozusagen selber die philosophische Praxis wird, in der die Kultur sich zu sich selber verhlt. Dort, wo er zum Fragezeichen wird, oder zum „Stelldichein von Fragen und Fragezeichen“, dort wird der frhere Arzt der Kultur mit seiner usserlichen Beziehung zu der von ihm kritisierten Kultur zu einer Gestalt, in der die Kultur sich selbst – in einer problematisierenden und experimentellen Weise – auf sich selber bezieht. Whrend er frher vor allem interessiert war an dem Verhltnis zwischen dem Philosophen und der Kultur (an den „Wirkungen des Philosophen auf die Nichtphilosophen“, oder an „den Culturwirkungen der Philoso17 Ebd., S. 117.

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phie berhaupt“ – NL 29[205], KSA 7, 712 f.), wird er jetzt selber als Philosoph zum Laboratorium der Kultur. Die grosse Aufgabe von damals, nmlich „ein Bndniss der bindenden K r a f t [zu] s e i n , a l s A r z t d e r K u l t u r “ (NL 30[8], KSA 7, 733), wird daher jetzt zur Aufgabe, „unsre[n] Leidenschaften und Begierden […] großen Stil zu geben“ (NL 2[21], KSA 12, 75); oder wie Nietzsche es in der Frçhlichen Wissenschaft (FW 290, KSA 3, 530) schrieb: „E i n s i s t N o t h . – Seinem Charakter ,Stil geben’“. Und genau wie frher, ist auch diese neue Bndelung, Bindung, Stilisierung oder „Mssigung“18 kein Argument gegen die wesentliche Pluralitt der Kulturen. Gemß der Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches I ist der Perspektivismus und das damit gegebene „Problem der Rangordnung“ der wichtigste Ertrag der beschriebenen Loslçsung (MA I Vorrede 6 f.), und die „Kunst der Transfiguration“, die wir schon erwhnten, ist wesentlich eine Kunst der Vielheit und deshalb dem Philosophen vorbehalten, „der den Gang durch viele Gesundheiten gemacht hat und immer wieder macht“ (FW Vorrede 3, KSA 3, 349). Der Philosoph wird selber das Laboratorium, in dem die Kultur sich selbst untersucht und mit sich experimentiert. Dieses Experiment ist keine einmalige Sache, sondern prgt eine Lebensweise. Die skizzierte Entwicklung von Nietzsches Denken zeigt, wie dieses Denken letztendlich mndet in eine praktische Frage („Inwieweit vertrgt die Wahrheit die Einverleibung? – das ist die Frage, das ist das Experiment.“ – FW 110, KSA 3, 471), d. h. eine Frage, die von keiner theoretischen Antwort aufgehoben, sondern nur in einer Praxis vollzogen werden kann. Diese praktische Natur der Frage bestimmt sie auch zu einer individuellen, die nie fr jemand Anderen beantwortet werden kann. Wir werden an die auffllige Singularitt Zarathustras erinnert („Das – ist nun m e i n Weg, – wo ist der eure? […] D e n Weg nmlich – den giebt es nicht!“ – Z III Schwere 2, KSA 4, 245), und an die Singularitt der Vorreden von 1886, wo es immer um „meine“ oder eventuell „unsre“ Entwicklung geht. In der Vorrede zur Morgenrçthe unterstreicht Nietzsche nochmals, wie sehr es um „eigene Wege[.]“ geht, auf denen man mit allem „allein fertig werden“ muss und wo man „Niemandem“ begegnet (M Vorrede, KSA 3, 12). Ich schließe mit der Vermutung, dass auch die spteren Schriften alle im Licht der hier erreichten Singularitt gelesen werden mssen; einer Singularitt, die in den letzten Schriften (Der 18 Vgl. Paul van Tongeren, Nietzsche’s Greek Measure, in: The Journal of Nietzsche Studies 24 (Fall 2002), S. 5 – 24.

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Antichrist und Ecce Homo) bis ins Extreme gesteigert werden wird, und die die Konsequenz dessen ist, was Nietzsche schon in einer frhen Aufzeichnung zur „Frage nach der Culturwirkungen der Philosophie berhaupt“ notiert: „Das Product des Philosophen ist sein Leben (zuerst, vor seinen Werken). Das ist sein Kunstwerk.“ (NL 29[205], KSA 7, 712). Eine Philosophie, die die Kunst der Transfiguration versteht, wird unvermeidlich eine singulre Philosophie sein – was etwas ganz anderes ist als eine partikulre, denn: „was geht es uns an, dass Herr Nietzsche wieder gesund wurde?…“ (FW Vorrede 2, KSA 3, 347).

Kultur als Vorbild und als Schranke Raymond Geuss Bekanntlich wurde Friedrich Nietzsche als Altphilologe ausgebildet und ist auf eine ihm eigentmliche Art bis an sein Lebensende dieser ursprnglichen Berufswahl treu geblieben.1 „Philologie“ allerdings hat Nietzsche von Anfang an als eine philosophische Disziplin verstanden, und zwar in einem doppeltem Sinne, sowohl was ihre Form als auch was ihren Inhalt angeht. Einerseits ist die philologische Einbung in die Kunst des genauen Lesens schwieriger Texte und der feinen Deutung vergangener Sinngebilde die beste wissenschaftliche Vorbereitung auf die Bewltigung einer der zentralen Aufgaben der modernen Philosophie: nmlich der kulturkritischen Diagnose der Gegenwart. Die in der Philologie ausgebildeten Methoden und Forschungsgewohnheiten bleiben also in dieser Hinsicht fr den Philosophen vorbildlich und konstitutiv. Andererseits hat die moderne Philologie zu wesentlichen inhaltlichen Einsichten gefhrt, die eine philosophische Herausforderung der Gegenwart darstellen. Was zunchst die Form der philologischen Erkenntnis betrifft, ist die moderne Philologie eine ausgesprochen historische Wissenschaft. Der gute Philologe muss zwar, wie jeder andere Wissenschaftler auch, zunchst eine Reihe von Bedingungen erfllen, die eher moralischer Natur sind, insofern er lernen muss, sich der Askese der „Objektivitt“ zu unterwerfen. Die Erziehung des Willens, um die es sich dabei handelt, beinhaltet, dass der Philologe in sich das Vermçgen ausbildet, „sein Fr und Wider in der Gewalt zu haben, und aus- und einzuhngen“ (KSA 5, S. 364) bzw. dass er sich in die Lage versetzt, seine Wnsche den Erfordernissen der betreffenden wissenschaftlichen Methode, den feststellbaren Tatsachen, und der strengen Beweisfhrung zu opfern. Darberhinaus muss er sich aber, um die ihm vorliegenden Texte und Artefakte richtig deuten zu kçnnen, auch der Historizitt sowohl des Erkenntnisgegenstandes als auch des Erkenntnisprozesses stndig bewußt bleiben. Der zeitliche Abstand zwischen der Antike und der Neuzeit bedingt mindestens eine Komplikation und mçglicherweise eine vollstndige 1

Siehe beispielsweise NL 1888, KSA 13, S. 458 – 460.

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Revision des im spten 19. Jahrhundert herrschenden neukantianischen Wissenschaftsbildes. Das neukantianische Subjekt sieht sich mit historisch gleichbleibenden Objekten konfrontiert, die es in ein einheitliches raumzeitliches Koordinatensystem durch Anwendung einfacher Kausalgesetze integrieren soll. Der Philologe hat aber seinerseits ganz andere Forschungsobjekte und andere Erkenntnisinteressen, und soll auch der qualitativen Differenz zwischen Altertum und Gegenwart, soweit mçglich, gerecht werden. Nicht nur waren die gngigen Begriffe, die im Altertum verwendet wurden, ganz andere als die, die wir heutzutage umgangssprachlich oder wissenschaftlich benutzen, sondern sie bezogen sich auf eine anders geartete menschliche Wirklichkeit. Um nur drei Beispiele anzufhren, die Grundeinheit der modernen Politik ist der Staat; in der Antike gab es aber keine Staaten. Weder die griechische polis noch die rçmische res publica noch das imperium romanum kann man sinnvollerweise als „Staat“ im heutigen Sinne des Wortes bezeichnen, d. h. weder die polis noch die res publica waren gesellschaftliche Verbnde, die durch einen Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol der legitimen Gewaltanwendung innerhalb eines bestimmten Gebietes ausbten. Die antike Religion unterschied sich grundlegend von den monotheistischen Buchreligionen, die unsere modernen Vorstellungen prgen, gab es doch bei den vorchristlichen Griechen keine kanonischen heiligen Bcher, keine dogmatischen Glaubensstze, und keine klerikale Gerichtsbarkeit. Sptestens seit dem Erscheinen des zweiten Bandes der mehrbndigen Geschichte der Sexualitt von Michel Foucault2 haben wir einsehen gelernt, dass sogar menschliche Grundphnomene wie Sexualitt in der Antike anscheinend anders konstituiert und strukturiert waren als heute. Derartige berlegungen ließen einige fortschrittliche Historiker der zweiten Hlfte des 19. Jahrhunderts zu dem Schluß kommen, dass man aus erkenntnistheoretischen Grnden, nmlich um die Vergangenheit nicht systematisch zu flschen, der natrlichen, unreflektierten Gegenwartsbezogenheit der Historie entgegenarbeiten msse. In der Darstellung der Antike seien Anachronismen um jeden Preis zu vermeiden. Nicht nur sollten wir uns hten, den Menschen im Altertum unsere spezifische Motivationsstruktur, unsere Bewertungsmaßstbe und unsere Meinungen und Einstellungen zuzuschreiben, sondern wir drfen nicht einmal unsere Grundbegriffe wie Religion, Staat, Sexualitt einfach und ohne Vorbehalt auf die Antike bertragen. 2

Michel Foucault, Histoire de la sexualit 2: L’usage des plaisirs, Paris 1984.

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Wer sich das Anachronismusverbot konsequent zu Herzen nimmt, kann leicht der Versuchung erliegen, anzunehmen, man kçnne und solle die Antike nur aus sich selbst heraus verstehen, deuten, und bewerten. Der vereinzelte Gebrauch von griechischen Ausdrcken, wie eben polis fr charakteristische Institutionen ist in Grenzen statthaft, sofern solche Vokabeln genau erklrt werden, aber wer es unternehmen wollte, alle modernen Vorstellungen aus seiner Darstellung systematisch zu entfernen, wrde sehr schnell einsehen, dass sein Unterfangen widersinnig ist. Zwei weitere Schwierigkeiten, die sich hier ergeben, beziehen sich auf die Zielsetzung der Philologie. Erstens, auch wenn es mir gelnge, mich in einen Athener des 5. Jahrhunderts v. Chr. zu verwandeln, wre der modernen Philologie damit nicht gedient. Schließlich soll der moderne Philologe die Schriftsteller des Altertums nicht anderen Mitgliedern antiker Gesellschaften verstndlich machen und nher bringen, sondern den heutigen Menschen. Der Philologe soll bersetzen kçnnen und die Philologie ist ebensosehr auf uns, die modernen Adressaten der Wissenschaft, bezogen, wie auf die Antike. Der Athener des 5. Jahrhunderts war womçglich ein kompetenter Teilnehmer an seiner sprachlich strukturierten Lebensform, wre aber nicht von sich aus in der Lage, seine eigenen sprachlichen ußerungen zu bersetzen. Die Grenzen dessen, was wir verstehen kçnnen, sind gleichzeitig fr uns die Bedingungen der mçglichen Darstellbarkeit der Antike. Zweitens war die antike Rhetorik durchaus praxisbezogen; wie steht es aber um den Praxisbezug der modernen Philologie? Schon in den Frhschriften findet man bei Nietzsche die ausgeprgte These, es gehe in der historisch orientierten Philologie weder um die reinwissenschaftliche Erforschung eines uns weiter gar nichts angehenden Gegenstandes, noch um das bloße Verstndlichmachen einer vergangenen Lebensform, sondern die Philologie solle letzten Endes dem Leben, nicht der reinen Erkenntnis, dienen. Der Lebensdienst der Philologie vollzieht sich allerdings, so Nietzsches These, durch ihre Kulturkritik. Die kulturkritische Aufgabe der Philologie entzog sich im 19. Jahrhundert leicht dem Blick, angesichts der von Nietzsche sehr scharfsinnig und kritisch beschriebenen Philologenwirklichkeit, nmlich des alltglichen Sprachunterrichts im Gymnasium, aber gerade die mitteleuropische Kultur des 19. Jahrhunderts war aus zwei Grnden auf eine direkt oder indirekt kulturkritische Philologie angewiesen. Erstens ist schließlich die Kultur Europas aus den antiken Kulturen entstanden und sie war im 19. Jahrhundert immer noch von antiken Vorstellungen sehr stark abhngig. Zweitens messen wir modernen Menschen uns andauernd an der

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Antike. Das, was Nietzsche die „immer neue Akkomodation jeder Zeit an das Altertum, das sich daran Messen“ (KSA 8, S. 31) nannte, muss nicht unbedingt darin bestehen, dass man sich die Antike zum positiven Vorbild nimmt. Das Christentum tat sich viel darauf zugute, dass es gewisse Zge der Antike „berwunden“ hatte, aber es zeigte sich gerade durch diese ihm wesentliche, negative Bezugnahme als vom Altertum immer noch abhngig. Da die Orientierung an antiken Mustern ein inneres Wesensmerkmal der europischen Kultur darstellt, ist eine Auseinandersetzung mit dem klassischen Altertum immer auch gleichzeitig eine Stellungnahme zur eigenen zeitgençssischen Kultur. Die historische und gesellschaftliche Situation, von der die moderne Altphilologie ausgeht, ist eine, in der man sich der „Verkehrtheit“ (KSA 8, S. 28) der Gegenwart dumpf bewußt geworden ist, ohne sie explizit fassen und kritisieren zu kçnnen. Wo finden wir aber den Standpunkt, der es uns ermçglicht, uns von der Gegenwart kognitiv zu befreien und ihre „Verkehrtheit“ zu erkennen? Ein Kantianer kann sich immer auf den sogenannten „transzendentalen Standpunkt“ zurckziehen, der im Prinzip jedem Menschen zugnglich ist, doch Nietzsche hat die Mçglichkeit eines transzendentalen Standpunktes unentwegt bestritten. Jede Perspektive ist eine konkrete Perspektive, die eine spezifische historische Genesis hat. Zum Glck ist der Altphilologe aufgrund seiner sprachlichen und historischen Kenntnisse in der Lage, eine andere, von der unseren deutlich abweichende, konkrete Perspektive bereitzustellen, und sie kritisch auf die Gegenwart zu beziehen. Genauer gesagt, es werden in einer guten philologischen Untersuchung Gegenwart und Vergangenheit gegenseitig aufeinander bezogen, in der Absicht, jede durch die andere zu kritisieren. „[Das Altertum] ist nur fr Wenige zugnglich. […] Diese Wenigen messen daran unsere Gegenwart, als Kritiker derselben und sie messen das Altertum an ihren Idealen und sind so Kritiker des Altertums.“ (KSA 8, S. 35) Durch diese kritische Einstellung unterscheiden sich die sich ihrer idealen Aufgabe bewußten Philologen von den unreflektierten Normalmitgliedern moderner Gesellschaften, und vor allem von den sogenannten Bildungsphilistern, die keine gegenseitige Kritik, sondern eine schmerzlose (und verflschende) Anpassung von Altertum und Gegenwart anstreben. „Die Stellung des Philologen [d. h. der Philologen, wie sie nun einmal sind, nicht aber wie sie sein sollten] zum Alterthum ist entschuldigend oder auch von der Absicht eingegeben, das was unsere Zeit hochschtzt, im Alterthum nachzuweisen. Der richtige Ausgangspunkt ist der umgekehrte: nmlich von der Einsicht in die moderne Verkehrtheit auszugehn und zurckzusehn.“ (KSA 8, S. 28)

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Gewisse moderne Institutionen, beispielsweise das Christentum, sind „Verkehrtheiten“, weil das normale Funktionieren dieser Institutionen auf eine Unterdrckung der menschlichen Lebenskrfte oder eine Einschrnkung der Entwicklungsmçglichkeiten bestimmter menschlicher Individuen hinausluft. In einer guten philologischen Abhandlung wird die jeweilige Gegenwart als Missbildung sichtbar. Auf diese Weise kann die kritische Philologie zur Befreiung und Entwicklung unterdrckter Lebenskrfte zumindest indirekt beitragen. Wenn freilich das Anachronismusverbot unreflektiert gehandhabt und als vollstndige Aufhebung der Gegenwartsbezogenheit der Philologie verstanden wird, wird die kritische Aktualisierung der Vergangenheit erschwert oder gar unmçglich gemacht. Antike und moderne Religiçsitt, drfen nicht ganz auseinanderfallen und vollkommen divergente Sachverhalte bezeichnen; anderenfalls gibt man den kritischen Anspruch der Philologie preis. Der philologisch Gebildete muss in der Lage sein, das Moderne auf das Antike zu beziehen, und umgekehrt; folglich muß eine Philologie, die dem Leben dient, zwangslufig in gewissem Sinne gegenwartszentriert sein. Mit anderen Worten: Der Anachronismus ist zwar aus erkenntnistheoretischen Grnden zu vermeiden, man weiß jedoch, dass er sich nicht absolut und konsistent vermeiden lßt. Auch wenn das Anachronismusverbot konsequent durchfhrbar wre – was aus philosophischen Grnden an sich unmçglich ist – wre eine eventuelle, absolut anachronismusfreie philologische Wissenschaft, gemessen an der kulturkritischen Aufgabe der Philologie, vollkommen unzweckdienlich. Aus dem Versuch, mit diesen Spannungen fertig zu werden, lebt die Altphilologie. Der Altphilologe wird durch die methodologischen Schwierigkeiten seiner eigenen Forschungspraxis gezwungen, sich philosophische Fragen zu stellen und zu beantworten. Ungelçste Antinomien sind aber eine Brutsttte fr den philosophischen Skeptizismus. Der betreffende Skeptizismus ist natrlich die radikale antike Spielart dieser philosophischen Position, nicht der „Skeptizismus“ im umgangssprachlichen oder im modernen philosophischen Sinne. Der antike Skeptiker ist ein Philosoph, der eine bestimmte Lebenspraxis hat. Wenn man nmlich in seiner Gegenwart irgendeinen Satz aufstellt, der inhaltlich etwas aussagt, was ber den unmittelbaren Augenschein hinausgeht, versucht er zu beweisen, dass man mit ebenso guten Grnden fr oder gegen die Richtigkeit des Satzes argumentieren kçnne (vgl. KSA 5, S. 364; KSA 2, S. 20). Da es ihm jedesmal gelingt, das Pro gegen das Contra (und das Contra gegen das Pro) auszuspielen, zieht der Skeptiker es vor, sich ganz des Urteils zu

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enthalten. Statt etwa die Existenz der Außenwelt zu leugnen oder zu bejahen, berprft der antike Skeptiker die Argumente pro und contra, und enthlt sich des Urteils. Von der Urteilsenthaltung verspricht er sich einen Zustand der Seelenruhe ohnegleichen (ataraxia). Fragen kann man sich freilich, inwiefern sich dieser Zustand von dem geistigen Tod unterschiedet. In den Unzeitgemßen Betrachtungen spricht Nietzsche nachdrcklich von dem Vorrecht der Jugend auf Hoffnung (KSA 1, S. 331 f.), aber eine minimale Hoffnung ist ein wesentliches Element eines jeden menschlichen Lebens. Schließlich ist Hoffnung das Gegenteil der absoluten psychischen Unerschtterlichkeit. Gibt es Hoffnung jenseits des Skeptizismus, und, gegebenenfalls, welche? Gewisse durch ihre Wissenschaft vermittelte inhaltliche Einsichten werden bei verstndigen Altphilologen die Tendenz zum Skeptizismus nur weiter bestrken. Zumal Nietzsche der Meinung ist, dass die ganze moderne Kultur, einschließlich der modernen Geschichtswissenschaften und der Altphilologie, ihre Fundamente und ihre notwendigen Vorbilder in der Antike haben. Aus diesem Grunde ist die Altphilologie eine besonders wichtige und typische moderne Kulturerscheinung; andererseits ist sie selbst ein Teil und ein Ausdruck des Selbstauflçsungsprozesses der Moderne. Die Altphilologie unterminiert nmlich die ganze neuzeitliche Kultur und damit auch sich selbst. Mit den Religionen, welche an Gçtter, an Vorsehungen, an vernnftige Weltordnungen, an Wunder und Sakramente glauben ist es vorbei, auch bestimmte Arten von heiligem Leben, von Askese sind vorbei, weil wir leicht auf ein verletztes Hirn und auf Krankheit schließen. […] Wer glaubt noch an die Unsterblichkeit der Seele! Alles Segensvolle und Verhngnisvolle, was somit auf gewissen irrthmlichen physiologischen Annahmen beruhte, ist hinfllig geworden, sobald diese Annahmen als Irrthmer erkannt sind. […] In Betreff der Cultur heißt dies: Wir kannten bisher nur eine vollkommene Form, das ist die Stadtcultur der Griechen, auf ihren mythischen und socialen Fundamenten ruhend, und eine unvollkommene, die rçmische, als Dekoration des Lebens, entlehnend von der griechischen. Jetzt haben sich nun alle Fundamente, die mythischen und die politisch-socialen verndert; unsere angebliche Cultur hat keinen Bestand, weil sie sich auf unhaltbare, fast verschwundene Zustnde und Meinungen aufbaut. – Die griechische Cultur vollstndig begreifend sehen wir also ein, dass es vorbei ist. So ist der Philologe der große Skeptiker in unseren Zustnden der Bildung und Erziehung; das ist seine Mission. – Glcklich, wenn er, wie Wagner und Schopenhauer, die verheißungsvollen Krfte ahnt, in denen eine neue Cultur sich regt. (KSA 8, S. 37 f.; vgl. auch KSA 8, S. 56)

Nun kçnnte man meinen, derartige berlegungen allein begrndeten noch keine radikale Skepsis nach dem antiken Muster. Wenn der Alt-

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philologe beweist, dass die moderne Kultur auf antiken Grundlagen beruht, die jetzt hinfllig geworden sind, dann hat er eine gezielte Kritik gewisser Einzelzge der Moderne geliefert. Derart gezielte Kritik ist aber etwas anderes als Skepsis. Wenn die Kritik stichhaltig ist, muss man zwar womçglich die moderne, auf bauflligem Fundament ruhende Kultur aufgeben, aber warum sollte man dann nicht einfach eine neue aufbauen? So wird etwa, um ein Beispiel zu nehmen, das von Nietzsche selbst in der Geburt der Tragçdie diskutiert wird, die „Kultur der Oper“ durch die Kultur des Wagnerischen Musikdramas abgelçst (KSA 1, S. 120 – 129). Diese Abschwchung des skeptischen Potentials bersieht allerdings einen wichtigen Aspekt der gegenwrtigen Kultursituation, wie sie von Nietzsche dargestellt wird. Fr Nietzsche ist nmlich jede Kultur eine Fantasiekonstruktion, deren Fundamente sich nicht sehen lassen drfen. Aufgabe: Der Tod der alten Cultur unvermeidlich: die griechische ist als Urbild zu kennzeichnen und zu zeigen, wie alle Cultur auf Voraussetzungen ruht, die hinfllig sind (KSA 8, S. 83)

Nietzsches philologische Skepsis findet einen angemessenen Ausdruck in seinen „Genealogien“. So geht seine Genealogie der Moral von einer Reihe erzphilologischer Beobachtungen aus, z. B. der, dass das Wort „gut“ in vielen europischen Sprachen nicht einen, sondern zwei verschiedene Gegenbegriffe hat: „schlecht“ und „bçse“, und dass das Gegensatzpaar „gut/schlecht“ lter zu sein scheint als das Paar „gut/bçse“. In einer Genealogie wird durch historisch-philologische Arbeit ein gewisser Schein aufgelçst: Gelufige Begriffe, die sich als selbstverstndlich und eindeutig prsentieren, werden als historisch kontingente Zusammenstellungen von verschiedenen, sich manchmal sogar widersprechenden, semantischen Komponenten entlarvt. Hier lassen sich „Begriffsgeschichte“ und „Realgeschichte“ nicht sauber voneinander trennen. Der Begriff „Moral“ gibt sich als eindeutig, ist aber zutiefst mehrdeutig, weil das zugrundeliegende Phnomen ein historisch wechselndes Zusammenspiel von verschiedenen Bewertungshandlungen in einem sich wandelnden institutionellen Rahmen ist. Die Nietzschesche Genealogie der (abendlndischen) Moral ist die vertrackte Geschichte gewisser kontextbedingter menschlicher Reaktionen, die sich langsam verselbstndigen und ihre ursprngliche Kontextbezogenheit zu verdrngen suchen, um sich am Ende absolut zu setzen. Ein mit dem Gebrauch des Begriffs verbundener, normativer Absolutheitsanspruch wird durch den Nachweis der historischen Kontingenz seiner Genese in Frage gestellt.

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Nietzsche hat in seinen Schriften eine Reihe moderner Kulturerscheinungen scharf kritisiert, aber merkwrdigerweise scheint seine Skepsis vor dem Begriff „Kultur“ haltzumachen. Wir finden bei ihm zwar eine Genealogie der Moral und der Religion aber keine, oder zumindest keine explizite, Genealogie der Kultur. Dabei ist „Kultur“ mindestens ebenso problematisch wie „Moral“. Nietzsche war weder gottglubig noch moralglubig, aber er zeigte gelegentlich die Tendenz, naiv-kulturglubig zu sein. „Kultur im Dienste des Lebens“ ist nur insofern eine sinnvolle Formulierung als man wissen kann was „Leben“ besagen soll. Wenn mit „Leben“ das biologische Leben, oder gar das biologische berleben gemeint ist, haben wir es mit einem reduktionistischen Programm zu tun. Wenn „Leben“ eine (oder: „die“) kulturell bestimmte Form menschlichen Lebens und Zusammenlebens heißt, dann drehen wir uns im Kreis. „Die wilhelminische Kultur ,soll’ im Dienste der teilweise durch sie selbst definierten wilhelminischen Lebensform stehen“, ist keine sinnlose Forderung, denn es kçnnte sein, daß die wilhelminische Kultur die durch sie teilweise spezifizierte Lebensform unterminierte, aber die Forderung gibt uns bestenfalls ein negatives Kriterium an die Hand, und lßt eine wichtige Frage unbeantwortet: Welche mçglichen Gefahren sind damit verbunden, dass man seine Hoffnungen berhaupt als Hoffnung auf eine neue Kultur bestimmt? „Kultur“ ist zunchst einmal ein moderner Begriff, fr den es in der Antike, und, nebenbei gesagt, auch im Mittelalter, kein quivalent gibt. Trotz des Anachronismusverbots wird dieser vieldeutige, moderne Begriff von Nietzsche mit scheinbarer Selbstverstndlichkeit als Schlssel zum Verstndnis der Antike verwendet. Man kann zunchst zwischen zwei verschiedenen Familien von Verwendungen des Kulturbegriffs in der Moderne unterscheiden. Ich werde im folgenden von „Kultur in der Vertikalen“ und „Kultur in der Horizontalen“ sprechen. Um mit Kultur in der Vertikalen anzufangen, das deutsche Wort „Kultur“ geht auf das lateinische Substantiv „cultura“ zurck, das seinerseits von dem Zeitwort „colo“ abgeleitet ist. Nach seiner Urbedeutung heißt „colo“ „sich (regelmßig oder lngerfristig) aufhalten“, „bewohnen“ oder dann „pflegen“. Der „agricola“ ist der Landbewohner, der den Acker bestellt. „Cultura“ bedeutet also ursprnglich „Pflege“, und wird berwiegend mit einem abhngigen Genetiv benutzt: zuerst etwa „horti+cultura“ oder „agri+cultura“ oder „arborum+cultura“. In allen diesen Fllen handelt es sich um ganz handfeste Verwendungen des Wortes. Um den Boden zu pflegen, muss man wissen, wie er beschaffen ist: Hat man es mit sandigem Boden oder mit Karst zu tun? Wein

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gedeiht nmlich auf Karst; Gemse auf sandigem Boden. Man muss auch wissen, was man anbauen will, bzw. was man braucht. Wenn Wein im berfluß da ist, sollte man womçglich Getreide anbauen. Wenn genug Getreide da ist, wre es vielleicht besser, Gemse anzubauen. Im Prinzip kann man die Gçtter genauso „pflegen“ („colere deos“) wie den Acker oder den Weinberg, d. h. man kann versuchen, durch Erbringung geeigneter Opfer sie freundlich zu stimmen, in der Absicht sie womçglich eventuellen menschlichen Zwecken dienstbar zu machen Schon Platon wendet sich in seinem Dialog Euthyphron gegen diese archaische Vorstellung der Religion, wonach das hosion in der therapeia ton theon besteht. Da es sich hier offensichtlich um einen Wertbegriff handelt, erhebt sich sofort die Frage, in wessen Interesse (to sympheron) das gepflegt wird, was gepflegt wird. Diese Frage wird am Anfang der abendlndischen Philosophie sehr ausfhrlich im ersten Buch von Platons Politeia diskutiert. Htet der Hirt die Herde im Interesse der Herdentiere selbst? Er will schließlich, dass es seinen Tieren so gut geht wie mçglich. Oder ist der Hirt nicht eigentlich wie der Bauer, der ein Schwein in seinem eigenen Interesse, nicht im Interesse des Schweins mstet, um es am Ende zu schlachten? Im Laufe der Geschichte wird der Kulturbegriff mit abhngigem Genetiv auf immer abstraktere Bereiche bertragen. So spricht Cicero in den Tusculanen (II 13) von Philosophie als „animi cultura“. Damit setzt eine Entwicklung in Richtung auf eine selbstbezgliche Internalisierung von „cultura“ ein. Wenn ich meine Seele pflegen soll, heißt das effektiv, dass die Seele sich selbst pflegen soll. Wie soll aber die Seele wissen, wie sie sich pflegen soll, wenn sie selbst pflegebedrftig ist? Die Durchchristianisierung Europas hat auch schwerwiegende Konsequenzen fr den Kulturbegriff. Dem „absoluten“ Christengott gebhrt ein „absoluter“ Gottesdienst, der „cultura Domini“ heißen kann, wie in der Inschrift3 auf dem im Naumburger Dom befindlichen Grabstein eines gewissen Dr. Caesar Pflug, eines Wrdentrgers der Kirche, der im frhen 17. Jahrhundert lebte. Der „in Geusnitz und Golßschau“ amtierende Dr. Pflug hat laut dieser Inschrift: „auf edle Weise im Dienste des Herrn den Pflug gefhrt“ („in cultura Domini nobile duxit aratrum“). „Cultura“ hat sich hier schon ziemlich weit von der ursprnglichen Bedeutung entfernt, denn wenn man die strengste Form der christlichen Lehre befolgt, soll hier jeder Bezug auf ein mçgliches, von Gott unab3

Vom Verfasser selbst an Ort und Stelle transkribiert.

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hngiges, nur relatives oder kontextbezogenes „Interesse“ der Menschen gnzlich entfallen. Hieß „Kultur“ am Anfang die Unterordnung eines bestimmten Gebiets unter eine hçhere Zielsetzung, so macht sich „Kultur“ allmhlich von seinem jeweils angehngten Genetiv und von dem Begriff einer spezifischen hçheren Zielsetzung unabhngig und wird absolut gebraucht. Der bergang von „cultura“ mit einem abhngigen Genetiv zu dem absoluten Gebrauch des Wortes ist aber alles andere als unproblematisch, denn nicht unbedeutende Relativitten scheinen in den Kulturbegriff selbst eingebaut zu sein. Was wird gepflegt? Die Musik? Den Stdtebau? Den Gartenbau? „Die Tugend“? Welche Tugend? Der Verzicht auf den klrenden Genetiv erçffnet die Mçglichkeit, stillschweigend normative Vorentscheidungen in einen angeblich wertneutralen, „absoluten“ Begriff der Kultur hineinzuschmuggeln: „X ist kein Kulturvolk, weil es keine (eigene) Musik hat, oder weil das Volk eine Sprache spricht, die nie schriftlich fixiert wurde“. Eine weitere mçgliche Relativitt liegt in den zugrundegelegten Wertvorstellungen. Soll ein gut gepflegter Garten mçglichst wie eine scharf gezeichnete geometrische Figur aussehen, oder wie ein Stck veredelter „Natur“? Wie geschickt ist die Pflege? Wie erfolgreich das Resultat? Entsprechend den sich hier ergebenden Unterschieden kann man von Stufen oder Graden der Kultur sprechen. Nietzsche bedient sich hier der gngigen rumlichen Metapher und trennt in der vertikalen Dimension „hçhere“ und „niederen“ Kulturen (KSA 2, S. 187 – 237). Trotz der Vorliebe Nietzsches fr botanische Metaphern unterscheidet sich eine menschliche Kultur von der Pflanzenzucht erstens dadurch, dass eine menschliche Kultur immer ein gesellschaftliches Phnomen ist, und zweitens dadurch, dass eine menschliche Kultur in der Lage ist, sich selbst ihre eigenen Ziele zu setzen. Die hçhere Kultur unterscheidet sich von der niederen entweder dadurch, dass sie einem vorgegebenen Ziel oder Vorbild nher kommt als die niedere, oder dadurch, dass sie sich selbst ein Ziel oder Vorbild setzt, das es verdient, hçher bewertet zu werden als das Ziel oder das Vorbild, das sich die niedere Kultur setzt. Kultur A gilt also als „hçher“ im Vergleich zu Kultur B entweder weil Kultur A bessere Dichter oder Maler produziert als Kultur B; oder Kultur A gilt als hçher, weil sie bessere Dichter produziert, whrend Kultur B besser Kçche ausbildet (unter der Voraussetzung dass Dichtkunst wichtiger ist als Kochkunst). Es bleibt natrlich die Frage: „Wer soll sagen, dass Dichtung wichtiger oder wertvoller ist als Kochkunst?“

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Kultur als expliziter „vertikaler“ Wertbegriff hat also ganz alte Wurzeln in der rçmischen Antike. Eine zweite Familie von Verwendungen des Kulturbegriffs hat sich aber im Laufe des 19. Jahrhunderts eingebrgert. Menschliche Gruppen unterschieden sich untereinander durch ihre Sitten und Umgangsformen, durch ihre charakteristischen Ttigkeiten, Meinungen, Einstellungen und Erwartungen. Die einen essen mit Gabel und Messer; die anderen mit Stbchen. Es gibt wohl nichts Menschliches, was man nicht auf die eine oder andere Weise auf Werte beziehen kann, aber zunchst einmal sind das rein deskriptive Unterschiede. Es ist nicht von vornherein klar, dass die Verwendung von Stbchen oder von Gabel und Messer Zeichen einer „hçheren“ Kultur ist. Eßgerte und -sitten sind auf die Art und Weise zugeschnitten, wie das Essen jeweils zubereitet und serviert wird. Menschliche Gruppen unterscheiden sich also nicht nur durch einzelne Sitten, sondern durch Systeme von aufeinander abgestimmten Sitten, Einstellungen, und Meinungen, die ein Ganzes bilden. Man nennt ein solches System von aufeinander verweisenden Gebruchen eine „Kultur“. Ich werde von „Kultur in der Horizontalen“ sprechen. Whrend der Wertbegriff Kultur (also „Kultur in der Vertikalen“) durch eine Hierarchie – ein Oben und Unten – definiert ist, ist Kultur in der Horizontalen durch ein quasi rumliches Nebeneinander von verschiedenen Mçglichkeiten charakterisiert. Es gibt also eine chinesische Kultur, eine arabische Kultur, eine franzçsische Kultur, ohne dass schon durch den Begriff der Kultur selbst festgelegt ist, dass die eine „hçher“ sein muss als die anderen. Kulturen kçnnen ineinander verschachtelt sein: Es gibt orthodoxe, katholische und protestantische Spielarten der gemeinsamen „christlich-abendlndischen“ Kultur, und sie kçnnen sich berlappen. bzw. es kçnnen Mischgebilde entstehen, wie etwa die verschiedenen sogenannten „Kreolkulturen“ im karibischen Raum. Auch wenn verschiedene Kulturen undeutliche oder historisch fließende Grenzen haben, ganz ohne Grenzen kommt eine Kultur nicht aus, denn sie hat berhaupt erst dadurch Identitt und Bestand, dass sie gewisse Verhaltensweisen, Gedankenkomplexe, Einstellungen ausschließt, es sei denn, natrlich, man verzichtet ganz auf den traditionellen Begriff der Kultur. Als Franzose kann man ohne weiteres in ein vietnamesisches Restaurant gehen und mit Stbchen essen, aber es gehçrt ganz eindeutig nicht zur franzçsischen Kultur, dass man bifteck mit Stbchen ißt. Der Ausschließungseffekt einer Kultur hat nicht nur negative Bedeutung. In der Zweiten unzeitgemßen Betrachtung heißt es, dass der Mensch „einen Horizont“ braucht, um sich zu orientieren (KSA 1, S. 330). „Kultur“ ist eine Art knstlicher Horizont. Die Schranken, die eine Kultur setzt, sind

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auch gleichzeitig Ermçglichungsbedingungen dafr, dass man berhaupt ein sinn- und wertvolles Leben fhrt. Der sogenannte „Multikulturalismus“ stellt scheinbar gewisse traditionelle Voraussetzungen auf diesem Gebiet in Frage. Man kann mindestens drei Arten des Multikulturalismus unterschieden. Erstens kann man Multikulturalismus als die These verstehen, dass moderne Gesellschaften faktisch ihre ehemals einfache Kultureinheit verloren haben und jetzt Gruppen mit grundverschiedenen Kulturen in sich fassen. Die betreffenden „Kulturen“ sind sich gegenseitig zum Teil ausschließende Kulturen in der Horizontalen. Das Phnomen der Multikulturalitt ist womçglich nicht ganz so neu wie man manchmal annimmt. Wenn man etwa die Gedichte des antiken Satyrikers Juvenal liest,4 kann man leicht zu dem Schluß kommen, das alte Rom des 2. Jahrhunderts sei genauso multikulturell gewesen wie das gegenwrtige London. Juvenals Kritik speist sich aus der Angst des Kleinbrgers vor der kulturellen berfremdung, die als Vorbote des materiellen Abstiegs gedeutet wird. Im Gegensatz zu Juvenal ist Multikulturalitt in diesem deskriptiven Sinne fr Nietzsche vollkommen unproblematisch. Erstens htte Nietzsche mit ziemlicher Sicherheit jede angebliche Einheitlichkeit der Kultur sofort als bloßen Schein diagnostiziert. Auch Homer war kein naiver Volkssnger einer einheitlichen heilen Urkultur, sondern er hatte sich einer Kunstsprache bedient, die aus Anleihen bei verschiedenen griechischen Dialekten bestand; auch die homerische Dichtung ist das Dokument einer Kreolkultur; oder, genauer gesagt, das Wort „Homer“ ist an sich ein „sthetisches Urteil“, und kein Eigenname fr eine bestimmte Person.5 Zweitens hat Nietzsche gegen die Verschmelzung der Kulturen im Prinzip nichts einzuwenden gehabt, wie man aus seiner Verwendung einer Anekdote ber Benvenuto Cellini ersehen kann: Die Statue der Menschheit. – Der Genius der Kultur verfhrt wie Cellini, als dieser den Guß seiner Perseus-Statue machte: die flssige Masse drohte, nicht auszureichen, aber sie sollte es: so warf er Schsseln und Teller und alles was ihm sonst in die Hnde kam, hinein. Und ebenso wirft jener Genius Irrtmer, Laster, Hoffnungen, Wahnbilder und andere Dinge von schlechterem wie von edlerem Metalle hinein, denn die Statue der Menschheit muss herauskommen und fertig werden; was liegt daran, dass hie und da geringerer Stoff verwendet wurde? (KSA 2, S. 212) 4 5

Vgl besonders Satire III. HkP, KGW 2/1, S. 248 – 269.

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Ein ernsthaftes Problem des Multikulturalismus entsteht erst, wenn man von der Gleichwertigkeit aller Menschen ausgeht, und diese Voraussetzung auf Kulturen bertrgt. In einem zweiten Sinne spricht man von Multikulturalismus in einem sehr starken Sinne, nmlich von der These, dass alle Kulturerscheinungen gleichwertig sind oder als gleichwertig behandelt werden sollen oder mssen. Das luft auf eine Verweigerung hinaus, den Begriff der Kultur in der Vertikalen berhaupt anzuerkennen. Nietzsche ist selbstverstndlich ein entschiedener Gegner des Multikulturalismus in diesem Sinne, aber man braucht sozusagen gar nicht Nietzscheaner zu sein, um einzusehen, dass der Multikulturalismus in diesem Sinne eine besonders grobe und verderbliche Illusion darstellt. Wer ist ernstlich der Meinung, die Witwenverbrennung, die karitative Versorgung der Witwe durch die Kirche, und die bertragung der Rente des Verstorbenen auf seine Witwe seien gleichwertige Kulturmçglichkeiten? Der „radikale Relativismus“ ist ein Philosophenspuk, eine eingebildete Gefahr, die Philosophen selbst heraufbeschwçren, um ihren eigenen akademischen Betrieb aufzuwerten und zu rechtfertigen. In einem dritten Sinne kann man unter Multikulturalismus die Abwesenheit eines einheitsstiftenden gesellschaftlichen Gesamtwillens verstehen. Multikulturalismus in diesem dritten Sinne darf man nicht mit Multikulturalismus im zweiten Sinne einfach identifizieren. Man kann durchaus zugeben, dass nicht alle Kulturerscheinungen gleichwertig sind, ohne dadurch schon zuzugestehen, dass es in der Gesellschaft einen einheitlichen kulturschaffenden Willen geben muss. Hier liegt es nahe, wieder auf ein beliebtes Motiv des Liberalismus zurckzugreifen, nmlich auf die Theorie der „unsichtbaren Hand“. Es kçnnen durch „anonyme“ Prozesse, die kein Individuum allein beherrscht, „hinter dem Rcken der Beteiligten“ Gleichgewichtszustnde erreicht werden, in denen gewisse Kulturerscheinungen als minderwertig erkannt werden und einfach aussterben, so wie, angeblich, ein minderwertiges Produkt auf dem freien Markt keine Kufer findet und eines Tages einfach nicht mehr produziert wird. Mit dem Begriff eines Systems von anonymen Kulturprozessen kann sich Nietzsche natrlich nicht explizit anfreunden. Benvenuto Cellini unterwirft den mehr oder weniger wertvollen Stoff seinem eigenen Kunstwillen. Wenn dieser einheitliche Wille fehlt oder versagt, entsteht kein Kunstwerk, sondern Mll. hnliches soll auch fr eine Kultur im ganzen gelten. So heißt es sogar an einer Stelle bei Nietzsche, man brauche eine „imperativische Behçrde der Kultur“ (KSA 7, S. 266) Andererseits war sich Nietzsche der Scheinhaftigkeit der ganzen Kultursphre wohl bewußt. Kulturschaffende mssen sich womçglich von

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Vorstellungen wie Einheitlichkeit und Vorbildlichkeit leiten lassen, die Kulturwissenschaftler, z. B. historisch orientierte Philologen oder Philosophen, als illusionr durchschauen. Das gilt sowohl fr Kultur in der Vertikalen wie fr Kultur in der Horizontalen. In der horizontalen Dimension ist jede Kultur auf Anderes innerlich bezogen. Zu behaupten die moderne Kultur sei auf ein vorbildliches Anderes (bzw. auf die griechische Antike) bezogen und sei eine „Kultur des Vergleichs“, heißt nur, dass diese zwei Eigenschaften in besonderem Maße die Moderne prgen. Um es paradox auszudrcken, keine Kultur ist nur sie selbst; die Fremde fngt immer schon „bei uns zu Hause“ an. Um die Einheitlichkeit und Vorbildlichkeit der Kultur „in der Vertikalen“ steht es keineswegs besser. Gibt es wirklich nur eine Art, die Pflanze Mensch zu pflegen? Meine Unterschiedung zwischen Kultur in der Vertikalen und Kultur in der Horizontalen sollte man nicht mit der Unterschiedung zwischen einer Philosophie der Kultur (Einzahl) und einer Philosophie der Kulturen (Mehrzahl) gleichsetzen. In der Tat ist die Rede von „Kultur in der Horizontalen“ nur dann sinnvoll, wenn man eine historische Situation voraussetzt, in der verschiedene Kulturen miteinander in Verbindung stehen, aber Kultur in der Vertikalen setzt nicht notwendigerweise einen allgemeinen und einheitlichen Bewertungsmaßstab voraus. Wenn der Grundbegriff der Kultur (in der Vertikalen) eben „Pflege“ ist, so gibt es immer, erst recht wenn man sich moderne Vorstellungen ber die Originalitt der Kunst zueigen gemacht hat, mehrere Arten der Pflege, die nicht ohne weiteres miteinander verglichen werden kçnnen. Debussy war vielleicht ein besserer Komponist als D’Indy oder Eugne Ysay . Wer aber htte im Jahre 1920 sagen kçnnen ob Debussy, Schçnberg, oder Strawinsky „bessere“ Musik komponierte? Adorno hat zwar versucht, hier mit komplizierten Argumenten fr eine letzte bergreifende Einheit der Beurteilung zu pldieren, aber seine, inzwischen recht unplausibel gewordenen Argumente sind unvertrglich mit tiefverwurzelten Nietzscheschen Einstellungen. Kann man Nietzsche allen Ernstes den Gedanken einer einheitlichen Leitkultur zuschreiben, wie sie heutzutage gelegentlich von (deutschen) Politiker beschworen wird? Auch seine imperativische Kulturbehçrde wre, philosophisch gesehen, eine Illusionenfabrik, und wir haben allen Grund anzunehmen, dass der Philosoph Nietzsche das auch eingesehen htte. Am Ende steht man wieder vor dem immer wiederkehrenden Paradox eines Scheins der zum Weiterleben nçtig ist, der aber zugleich als bloßer Schein erkannt werden kann. Die Nietzschesche Grundfage bleibt unbeantwortet: Wie soll der Mensch mit seinen notwendigen Illusionen umgehen?

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Im ersten Winter des „Großen Krieges“ zwischen den Athenern und den Peloponnesiern, so berichtet der Historiker Thukydides, hielt der athenische Kriegsfhrer Perikles eine Grabrede fr die Gefallenen der Stadt (II 34 – 46). Es ging in dieser Rede um das Verhltnis zwischen Politik und Kultur – wenn ich mich hier einmal der anachronistischen Ausdrucksweise Nietzsches bedienen darf. Politik und Kultur, so behauptet der von Thukydides referierte Perikles, bedingen sich gegenseitig und befçrdern einander, aber die Politik behlt einen gewissen Vorzug: Die wirkliche Grçße Athens besteht in den tatschlichen politischen Leistungen ihrer Brger, die sich „zu jedem Meer und Land mit Wagemut Zugang verschafft haben“ und „berall unvergngliche Denkmler“ ihrer Macht gesetzt haben. Eine solche Stadt „braucht keinen Homer als Lobredner“ der mit schçnen Worten die Zuhçrer „fr den Augenblick“ entzckt (II 41). Nietzsches Urteil ber diese Rede und die darin enthaltenen Vorstellungen ist verheerend: sie sei „ein großes optimistisches Trugbild“ (KSA 2, S. 308). Der eigenstndige „ewigwhrende Ruhm“ (kleos aphtiton) politischer Machtleistungen ist eine Illusion. Ohne die altathenische Kultur – ohne Sophokles, Sokrates und Thukydides —, wer wrde heute noch ber das Schicksal des ersten Attischen Seebundes nachdenken? Perikles wre unbekannt geblieben, wenn es Thukydides nicht gegeben htte, aber er wre vielleicht nicht der Perikles geworden, der er gewesen ist, wenn er nicht gewhnt htte, ohne Thukydides auszukommen. Trotzdem sollte man die „Kultur“ genausowenig verabsolutieren wie die Moral.

Nietzsche, Spengler, Heidegger: Kulturphilosophie und historiographische Forschung Andrea Orsucci I. Ab Ende der 20er Jahre beschftigt sich Heidegger wiederholt mit den immer deutlicher hervortretenden Symptomen „der heute herrschenden Bodenlosigkeit des Denkens und Verstehens“. Gegenstand des von Heidegger umrissenen Zeitbildes ist „der heutige stdtische Mensch und Affe der Zivilisation“, der „das Heimweh lngst abgeschafft“1 habe und haltlos-frenetisch dahinlebe. In dieses Bild fge sich – als nur scheinbar widersprchlicher Zug – der Enthusiasmus, mit dem die von der „‘Sumpf ’-‘Philosophie’ des Herrn Klages“ oder von Nietzsches ‘Biologismus’ geblendeten Intellektuellen einer entfesselten und angeblich wohltuenden urtmlichen Instinktseligkeit das Wort reden: „Man sucht das Lebendige im ‘Leben’ und kann nicht wissen und noch nicht einmal fragen, was das ‘Lebendige’ sei“.2 Auch das plçtzliche und großartige Auftreten einer „neuen Disziplin“, der philosophischen Anthropologie, gehçrt in diesen Zusammenhang, wie Heidegger 1929 bemerkt: „Weil alles Wirkliche zuerst und zuletzt auf den Menschen bezogen wird, muß die Philosophie des Menschen, die philosophische Anthropologie, alle brigen philosophischen Probleme wie in einem Becken sammeln“.3

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Martin Heidegger, Der deutsche Idealismus (Fichte, Schelling, Hegel) und die philosophische Problemlage der Gegenwart, Sommersemester 1929, in: Gesamtausgabe, Bd. 28, Frankfurt am Main 1997, S. 18. Martin Heidegger, Die berwindung der Metaphysik (1938 – 39), in: Metaphysik und Nihilismus, in: Gesamtausgabe, Bd. 67, Frankfurt am Main 1999, S. 117 u. 121 f. Martin Heidegger, Der deutsche Idealismus (Fichte, Schelling, Hegel) und die philosophische Problemlage der Gegenwart, Sommersemester 1929, in: Gesamtausgabe, Bd. 28, Frankfurt am Main 1997, S. 18.

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Diese neue Disziplin sei im Begriffe, die Stelle einzunehmen, die „das Jahrhundert der Historie, das 19. Jahrhundert“,4 der Kulturgeschichte zugewiesen hatte. Je dunkler und beunruhigender der ideelle Hintergrund des Zeitalters sichtbar werde, desto strker werde das Verlagen nach ‘philosophischer Anthropologie’ – zu diesem Schlusse kommen, in der zweiten Hlfte der 20er Jahre, sowohl Heidegger als auch Scheler. Daß die philosophische Anthropologie „gegenwrtig immer mehr Interesse und Bedeutung gewinnt“, fordere, so Scheler, zum Nachdenken ber die tiefgreifenden Umbrche auf, denen die europische Zivilisation im ganzen unterworfen sei: „In keinem Zeitalter sind die Ansichten ber Wesen und Ursprung des Menschen unsicherer, unbestimmter und mannigfaltiger gewesen als in dem unsrigen“.5 Wieviel „Neugier, Modesucht und Sensationslust“ komme nicht, sagt Heidegger, „in dem […] aufgeregten Interesse fr Charakterologie und Physiognomik, Graphologie, Astrologie, Psychoanalyse und Typologie der Weltanschauungen“6 zum Ausdruck, das seit Beginn des Jahrhunderts die Gemter bewege. Eine solche „Gier“ sei nicht aus einem Augenblicksbedrfnis zu erklren, einem Greifen nach Unterhaltung, die der Tag gibt. Vielmehr offenbare sie einem schrferen Blick „ihre Wurzeln in einer freilich ganz verborgenen letzten inneren Ratlosigkeit“.7 Auch die jngeren philosophischen Diskussionen seien, so Heidegger weiter, durch einen tiefen Widerspruch gekennzeichnet. Nie zuvor sei das anthropologische Problem „in einer so eindringlichen und bestrickenden Weise“ angegangen worden, mit einer solchen Vielfalt der Methoden und Anstze. „Keine Zeit hat je so viel und so Mannigfaltiges vom Menschen gewußt wie die heutige […]. Und doch: Keine Zeit wußte weniger, was der Mensch sei, als die heutige. Keiner Zeit ist der Mensch so fragwrdig geworden wie der unsrigen“.8 Auf dem Boden eines allgemeinen Unbehagens gedeihen ppig, doch unfruchtbar, die ‘Geschichtsphilosophien’, die ‘philosophischen Anthropologien’ und, wie Heidegger mit indirektem 4 5 6 7 8

Martin Heidegger, Die Grundfrage der Philosophie (Sommersemester 1933), in: Sein und Wahrheit. Gesamtausgabe, Bde. 36 – 37, Frankfurt am Main 2001, S. 28. Max Scheler, Philosophische Weltanschauung (1929), in: Spte Schriften (Gesammelte Werke, Bd. 9), Bern u. Mnchen 1976, S. 82 u. 120. Heidegger, Der deutsche Idealismus, S. 14. Ebd. Ebd., S. 16. Fast gleichlautend Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, in: Spte Schriften, S. 11.

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Bezug auf Werner Jaeger hinzufgt, die vielen „neuhumanistischen, aus der Antike oder sonstwoher geschçpften Programme“.9 Historiker und Philologen kçnnen sich, wie Jaeger 1914 in seiner berhmten Antrittsvorlesung erklrt, nicht mehr darauf beschrnken, Andenken zu bewahren und die ‘Kenntnis’ von Glaubensvorstellungen, Institutionen und Geschehnissen lngst vergangener Zeiten zu fçrdern. Vielmehr seien sie aufgerufen, sich zu ‘Interpreten’ der Vergangenheit zu machen und im Bewußtsein ihres „ungeheuren Einfluss[es] auf die moderne Geisteskultur“, zum Verstndnis der Ideale und „Werte“ beizutragen. Nicht lnger sollen sie, so Jaeger, abseits stehen „vom unmittelbarsten Lebensbedarf und Lebensdrang der Gegenwart“.10 Auch der Altertumsforscher drfe am Ende nicht vergessen, daß „die Fruchtbarkeit des geschichtlichen Wissens einzig von der Tiefe der Fragen abhngt, welche der Forschende […] an den unendlichen Stoff richtet“. Werten und „Erlebnissen“ komme bei der Aneignung der Vergangenheit die allergrçßte Bedeutung zu: „Alles Verstehen […] ist ein ‘Deuten’ aus der Flle des eigenen Seins“.11 9 Heidegger, Der deutsche Idealismus, S. 18. Heidegger vermerkt in den 20er Jahren als Anzeichen der allgemeinen Verwirrung einerseits den Lrm von „Literaten“, die „Theosophie, Okkultismus“ und dergleichen betreiben („heute besonders stark emporschießend“) und solches fr eine „Auferstehung der Metaphysik“ ausgeben; andererseits eine neue „Herrschaft der Philosophie der Kultur“ (Die Grundbegriffe der Metaphysik, in: Gesamtausgabe, Bd. 29/30, Frankfurt am Main 1983, S. 63 u. 114). Letztere betrachtet er als eine Art ‘Verzicht’ und ‘Abkrzung’, indem sie, wie der Historismus, nur die Oberflche der Erscheinungen behandele: „es ist eine heute verbreitete Meinung, daß gerade am Leitfaden der Idee des Ausdrucks, Symbols, sowohl die Kultur als der Mensch […] eigentlich und einzig philosophisch begriffen werden kçnnen. Wir haben heute eine Kulturphilosophie des Ausdrucks, des Symbols, der symbolischen Formen […]. Der Mensch als Seele und Geist, was sich ausdrckt, niederschlgt in Gestalten, die in sich eine Bedeutung tragen […]. Der Mensch […] wird so vom Ausdruck seiner Leistungen her dargestellt“ (ebd., S. 113). Unter ‘Kultur’ aber sei zu verstehen „jene Auffassung der Geschichte, die mit der italienischen Renaissance beginnt und die Neuzeit einleitet“ (Die berwindung der Metaphysik, S. 118). Daher: „Die Begriffe des ‘Geistes’ und der ‘Kultur’ sind […] Vorstellungen des neuzeitlichen Denkens“ (Martin Heidegger, Parmenides, in: Gesamtausgabe, Bd. 54, Frankfurt am Main 1982, S. 134). 10 Werner Jaeger, Philologie und Historie, in: Humanistische Reden und Vortrge, Berlin 1960, S. 13 f. 11 Werner Jaeger, Geschichte und Leben, in: Neue Jahrbcher fr das klassische Altertum 42 (1918), S. 169 f. Whrend seiner Studienjahre, 1906 bis 1911, hatte sich Jaeger auch fr Philosophie interessiert, zunchst in Berlin, wo er die Bekanntschaft Adolf Lassons, des „letzten Hegelianers“, machte; sodann in Mar-

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Um 1910 feiert Worringer, in kunsthistorischem Zusammenhang, den „nordischen Menschen“ und die „gotische Seele“, ausgezeichnet durch eine „erhabene Hysterie“, die ausgeglichene, harmonische Formen verschmhe; durch „eine suchende, drngende Bewegtheit, eine ruhlose Aktivitt“,12 an der allein sie ein Genge finde. Zur gleichen Zeit geben die Historiker, wie Troeltsch bemerkt, mit Vorliebe ‘allgemeine Typologien’ und bedienen sich ‘anthropologischer Modelle’ und sthetischer Kategorien. Immer hufiger sehe man sie, in der Nachfolge Alois Riegls und der Wiener kunstgeschichtlichen Schule, „bertragungen der Perioden der Kunstgeschichte auf die Universalgeschichte“13 vornehmen. Auch die Philosophen kommen, dank Spengler, zu neuartigen Kombinationen von Geschichtsschreibung, sthetik und Anthropologie. Spenglers Geschichtsphilosophie will, letzten Endes, nachweisen, daß es keinerlei Gemeinsamkeit gebe zwischen dem „faustischen Menschen“, der in der Unendlichkeit von Raum und Zeit zuhause sei, und dem „apollinischen Menschen“ der klassischen Welt, dem der Begriff der Zeitlichkeit fremd sei und der sich nur mehr „als Kçrper unter Kçrpern“ erkenne, eingeschlossen in ein „statisches und euklidisches Weltgefhl“ und in „eine reine, punktfçrmige Gegenwart“.14 Die Antike, die „das Unendliche in jedem Sinne von sich wies“ und „die Zeit auf die Gegenwart, das Ausgedehnte auf den greifbaren Einzelkçrper“ zurckfhre, ist fr Spengler, in einem gewissen Maße, Symbol der Moderne. Denn eben „der zivilisierte Mensch“, der „jenes spte, knstliche, wurzellose“ Dasein „unsrer grossen Stdte“ kenne, lebe „nach aussen, im Raume, unter Kçrpern und ‘Tatsachen’“.15 Spenglers „historische Morphologie“ beschftigt sich also unter verschiedenen Gesichtspunkten mit kulturgeschichtlichen Problemen, doch ihr eigentliches Ziel ist es, die Grundgegenstze „Gestalt“ und „Gesetz“, „Schicksal“ und „Kausalitt“, „Gehirn“ und „Seele“ herauszustellen, die die Weltgeschichte bestimmen. Spenglers Interpretation kçnne man, so Worringer 1921, als einen „visionr hellsichtigen Historismus“ ansprechen, der in die Kulturgeschichtsschreibung „jene expressionistische berspannung der Horizon-

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burg, wo er mit dem Neukantianer Paul Natorp Fhlung hatte (Wolfgang Schadewaldt, Gedenkrede auf Werner Jaeger, Berlin 1963, S. 9). Wilhelm Worringer, Formprobleme der Gotik, Mnchen 1911, S. 48 ff. Ernst Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, Tbingen 1922, S. 734. Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, Mnchen 1995, S. 332, 489, 499, 799. Ebd., S. 450.

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te“ einfhre, jene gewaltige „Perspektivenerweiterung, jenen geistigen Vedutenrausch […], jene visionre Schlagkraft der aufgesetzten Lichter, die in der […] Bildwelt des Expressionismus nur vorgegeben wurden“.16 Dieses Urteil Worringers wird, noch im selben Jahre, von Troeltsch aufgegriffen und wiederholt: „Die neuen visionren Geisteswissenschaften eines Bertram, Gundolf, Scheler, Spengler“ seien Ausdruck einer „geistigen Revolution“, einer einzigartigen „Verschmelzung von Denken und sinnlich plastischer Anschauung, wie sie der knstlerische Expressionismus vergeblich und unzulnglich […] erstrebt“ habe.17 Die neuen Ausrichtungen in ‘Geisteswissenschaften’ und Geschichtsforschung sind fr Troeltsch Zeichen einer tiefen „Krisis […] in den allgemeinen philosophischen Grundlagen […] des historischen Denkens, in der Auffassung der historischen Werte, von denen aus wir den Zusammenhang der Geschichte zu denken und zu konstruieren haben“.18 Wie Historiker und Philosophen ber das Faktische der Geschichte hinauszugehen sich bestreben, so verknden die Theologen die Nichtigkeit und „reine Negativitt“ der ‘Welt’ – in den Worten Karl Barths: „Nichts Menschliches bleibt brig, was mehr sein wollte als Hohlraum, Entbehren […], als Staub und Asche vor Gott, wie Alles, was in der Welt ist“.19 Schon in der ersten Fassung seines Rçmerbriefs verweigert sich Barth jeglicher Einschrnkung durch „die ‘Geschichte’, die die Historie und Psychologie beschreiben“,20 und spottet ber den „armen Historizisten“,21 der genauso wenig wie der „Schwrmer“ den Abstand kenne zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen. Auch Barth brigens bemerkt, „wie die Diskussion der tiefsten Lebensfragen jetzt berall in Fluß kommt“ und „was fr eine Unsicherheit […] entstanden ist in Bezug auf die letzten Grundlagen und Voraussetzungen der Kultur“, die „nicht mehr als das mßige Spiel mit Theorien und Weltanschauungen“ zu begreifen sei.22 Mit anderen, auf Nietzsche anspielenden Worten: „[Wir] fhlen […] uns letzlich von dem Netz des Menschlichen, Allzu16 Wilhelm Worringer, Knstlerische Zeitfragen, Mnchen 1921, S. 30. 17 Ernst Troeltsch, Die Revolution in der Wissenschaft (1921), in: Gesammelte Schriften, Bd. 4, Tbingen 1925, S. 665. 18 Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, S. 4. 19 Karl Barth, Der Rçmerbrief (Zweite Fassung), Zollikon u. Zrich 1954, S. 84 u. 113. 20 Karl Barth, Der Rçmerbrief (Erste Fassung, 1919), Zrich 1985, S. 64. 21 Ebd., S. 71, 74 und 100. 22 Ebd., S. 57.

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menschlichen, das uns gerade als religiçs Menschliches am erstickendsten bedrckt und wrgt, – gelçst“.23 Den genannten Autoren ist, wie Arthur Liebert es 1923 formuliert, die Anschauung gemein, daß es bedenklich sei, „sich […] mit der Unruhe der Geschichte zu erfllen, sich ihrem Spiel nicht zu verschliessen“.24 Die Verderbtheit der Zeit erzeuge das Bedrfnis nach einer „metaphysischen Konstruktion der Geschichte“,25 die Aussicht auf ein Ende des Elends, auf einen ‘neuen Anfang’ gewhren msse. „Und je ‘realistischer’, positivistischer, relativistischer wir geworden sind, um so lebhafter und heftiger wird die Sehnsucht nach einer […] Erlçsung, nach einem Freiwerden von den endlosen und kleinen empirischen Engungen […]. berall regt sich, und oft mit leidenschaftlicher Nachdrcklichkeit und Inbrust, das Verlangen nach einer Erhebung und Verklrung, Reinigung und […] Verewigung des Lebens“.26 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts befreien sich die Geisteswissenschaften, auch wo sie es mit Kulturgeschichte zu tun haben, von dem Ideal einer „rein darstellenden Historie“, das dem eben vergangenen Jahrhundert teuer gewesen war, und versuchen im Gegenteil zu Ergebnissen zu gelangen, die normativ nutzbar zu machen wren. Das Wirken des Historikers ziele, wie auch Troeltsch befindet, nach 1900 immer bewußter darauf, geschichtliche Ereignisse und Prozesse durch die Darstellung des in dem „Individuellen eingeschlossenen und konkretisierten Allgemeinen“ zu erhellen und „eine Aufgabe und ein Sollen“ zu formulieren.27 In dem neuen Jahrhundert, so Troeltsch weiter, machen sich die Historiker zunehmend mit Problemen vertraut, die durch ein „Ineinander von Sein und Sollen, Tatschlichem und Ideellem“ gekennzeichnet seien. Die Geschichtsschreibung berhre sich also mit der „Wertlehre“ und entdecke einen „neuen und tieferen Sinn der Individualitt“: „Nicht bloß die Faktizitt des Besonderen und Einmaligen […], sondern die jedesmalige Individualisation eines Ideellen, die Konkretion eines jedesmaligen Seinsollenden“ stehe immer hufiger im Mittelpunkte des Interesses.28 23 24 25 26 27 28

Ebd., S. 218 f. Arthur Liebert, Die geistige Krisis der Gegenwart, Berlin 1923, S. 23. Ebd., S. 13 f. Ebd., S. 199 f. Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, S. 78. Ebd., S. 200, 208.

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Die Abkehr von der Geschichte und „diese metaphysische Sehnsucht, dieses Verlangen nach Erfllung und Erlçsung“29 zu Beginn des 20. Jahrhunderts entspringen der damals verbreiteten Auffassung der Gegenwart als einer Zeit, der „in so besonders hohem Maße der Charakter der Zerrissenheit und Aufgewhltheit eigne“.30 In dieser Epoche der „Weltverdsterung“ – dieses Ausdrucks bedient sich Heidegger gelegentlich – entwickele man die verschiedensten Strategien, sich die niederdrckenden „Begebenheiten der ‘weltgeschichtlichen’ Umwlzungen“ und den „Lrm“, den sie verursachen, fern zu halten.31 Die NietzscheInterpretationen des beginnenden 20. Jahrhunderts lassen daher dessen Interesse fr kulturgeschichtliche Fragen ganz außer acht. Sein Werk wird also im Sinne eines Nietzsche vçllig fremden ‘Zeitgeistes’ wiedergelesen, der die Philosophen zur Aufopferung der „Faktizitt des Besonderen und Einmaligen“ zu nçtigen scheint.

II. Der Aphorismus 7 der Frçhlichen Wissenschaft zeigt durch seinen besonderen Aufbau, warum Nietzsche sich so ausgiebig der Kulturgeschichte zuwendet. Er enthlt die dringende Aufforderung zur geschichtlichen Erforschung konkreter Lebensbereiche, zur monographischen Untersuchung der Leidenschaften und Gefhle, der Ehe und des Rechtswesens, der Alltagsorganisation und der Zusammenhnge zwischen Ernhrung und Charakter, der Folgen des Klosterlebens und der Verhaltensweisen, die den Angehçrigen der verschiedenen Berufsstnde eigen sind. „Wer jetzt aus den moralischen Dingen ein Studium machen will, erçffnet sich ein ungeheueres Feld der Arbeit […]. Bisher hat alles Das, was dem Dasein Farbe gegeben hat, noch keine Geschichte“ (FW 7). Der Anfang dieses Aphorismus betont nachdrcklich den Bezug auf die Gegenwart („Wer jetzt […] Bisher hat alles […]“). Das Ende aber, in einer gewiß nicht unabsichtlichen Symmetrie, bezeichnet den eingangs nur angedeuteten zeitlichen Horizont, nach dem Nietzsche ausschaut: Kulturgeschichtliche Studien der genannten Art nmlich sind mçglich nur in einer bergangszeit, einer Epoche des „Experimentierens“, eines jahrhundertelangen Experimentierens, „welches alle grossen Arbeiten und 29 Ebd., S. 200. 30 Ebd., S. 188. 31 Martin Heidegger, Beitrge zur Philosophie (Vom Ereignis), in: Gesamtausgabe, Bd. 65, Frankfurt am Main 1989, S. 97.

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Aufopferungen der bisherigen Geschichte in Schatten stellen kçnnte. Bisher hat die Wissenschaft ihre Cyclopen-Bauten noch nicht gebaut; auch dafr wird die Zeit kommen“ (FW 7). Der Aphorismus macht deutlich, daß Nietzsches Interesse an der Kulturgeschichte mit seinen Reflexionen ber die Grundzge der sich anbahnenden Zeit in Zusammenhang steht. Epochendiagnose und geschichtlicher Rckblick gehen Hand in Hand. Der „historische Sinn“ – die „eigenthmliche Tugend und Krankheit“ der letzten Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts (FW 337) – ist nach Nietzsche ein „sechster Sinn“,32 der sich, wie im folgenden gezeigt werden soll, gerade in einer Zeit großer Umwlzungen besonders schrft. Um das Problem recht ins Auge zu fassen, sei zunchst daran erinnert, wie Nietzsche selbst seine Zeit charakterisiert. In Menschliches, Allzumenschliches heißt es: „Unsere Zeit macht den Eindruck eines InterimZustandes; die alten Weltbetrachtungen, die alten Culturen sind noch theilweise vorhanden, die neue noch […] ohne Geschlossenheit und Consequenz. Es sieht aus, als ob Alles chaotisch wrde, das Alte verloren gienge, das Neue […] immer schwchlicher werde.“ In einer so wirren und unsicheren Situation gebe es keine festen Punkte mehr: „Wir schwanken, aber es ist nçthig […]. Ueberdies kçnnen wir in’s Alte nicht zurck, wir haben die Schiffe verbrannt“ (MA I 248). Nach 1870/71 sprten viele Zeitgenossen, daß grundstrzende Vernderungen bevorstnden, die den ehrwrdigsten Traditionen und ltesten Gewohnheiten ein Ende bereiten wrden. Eugen Dhring erklrt 1875 in einer Schrift, die fr Nietzsche wichtig werden wird, daß die Philosophie als „ruhende Weltbetrachtung“ ausgespielt habe, „in einer Epoche […], in welcher sich eine Weltwendung aller Zustnde immer mchtiger anbahnt“.33 Der Typ des ‘freien Geistes’, den eine „heftige gefhrliche Neugierde nach einer unentdeckten Welt“ und ein „aufrhrerisches […] Verlangen nach Wanderschaft, Fremde, Entfremdung“ umtreibe, reprsentiert bei Nietzsche eine den verwirrenden, schwierigen Zeitumstnden angemessene Geisteshaltung.34 In einem bergangszeitalter verlange die „Freiheit des Geistes“, daß man fhle und lebe, „wie Jeder, der einmal ein ungeheures Vielerlei unter sich gesehen hat“, um „Wege zu vielen und ent32 FW 357 und JGB 224. 33 Eugen Dhring, Cursus der Philosophie als streng wissenschaftlicher Weltanschauung und Lebensgestaltung, Leipzig 1875, S. 2. 34 MA, Vorrede 1886, 3.

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gegengesetzen Denkweisen“ beschreiten zu kçnnen.35 Da alles Herkommen zerfalle, msse man sich freimachen von „jenen bekannten lstigen Eigenschaften alter Hunde und Menschen, die lange an der Kette gelegen haben“ (MA I 34). Ein Denker, der die Zeichen einer bergangszeit lesen wolle, msse sich anstandslos auf die Seite der „edle[n] Verrther aller Dinge, die berhaupt verrathen werden kçnnen“ stellen (MA I 637). Was ihn auszeichne, sei „seine Freude an dem Wechsel und der Vergnglichkeit“ (MA I 638), an der „Unsicherheit des geistigen Horizontes“ (VM 7). Da er „zu viele Motive und Gesichtspunkte“ kenne, habe er „eine unsichere, ungebte Hand“ (MA I 230). Epochemachende Vernderungen treten, sagt Nietzsche, mit der Gewalt eines „Erdbebens“ auf, das „die alten Grnzen und Umrisse der Bodengestalt verrckt“.36 Im gegenwrtigen „Zeitalter der Cyclopenbauten“ (WS 275) seien Umwlzungen in den verschiedensten Lebensbereichen im Gange. Aufmerksam registriert Nietzsche die Brche und Wandlungen, die innerhalb weniger Jahre nicht nur das Widerspiel der gesellschaftlichen Krfte und das internationale Gleichgewicht verndert haben, sondern auch das ‘System der Wissenschaft’. Erstens habe sich die Logik der politischen Auseinandersetzung drastisch gendert: Neue Massenbewegungen – sozialistische Parteien, doch auch antisemitische Verbindungen – entstehen und versuchen, auf die çffentliche Meinung zu wirken. „Der demagogische Charakter und die Absicht, auf die Massen zu wirken, ist gegenwrtig allen politischen Parteien gemeinsam.“ (MA I 438) Zweitens fhre das rasche Wachstum des internationalen Handels und Kulturaustauschs in kurzer Frist „eine Vernichtung der Nationen, mindestens der europischen“ herbei, wodurch „in Folge fortwhrender Kreuzungen, eine Mischrasse, die des europischen Menschen, entstehen muss“ (MA I 475). Es stehe mithin eine Zeit bevor, in der „das Europa der Vçlker eine dunkle Vergessenheit“ sein werde (WS 125). Drittens finde eine folgenschwere Entwicklung der „Zivilisation“ und der Technik statt: „Die Presse, die Maschine, die Eisenbahn, der Telegraph sind Prmissen, deren tausendjhrige Conclusion noch Niemand zu ziehen gewagt hat.“ (WS 278) All dies bewirke – viertens – , daß die ‘Weltgeschichte’ erstmals zu etwas werde, das mehr sei als ein abstrakter Begriff: ein „ungeheure[r] Weitblick menschlich-çkumenischer, die ganze bewohnte Erde umspannender Ziele“ (VM 179) tue sich auf. 35 MA, Vorrede 1886, 4. 36 MA I 438.

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Zu diesem Bilde rapider Entwicklungen von nicht abzusehenden Folgen, die Politik und Wirtschaft, Technik und Sitten betreffen und gar Rasseeigenschaften nicht unberhrt lassen, gehçren auch die ‘Revolutionen’, die damals die wissenschaftliche Forschung erschttern. „Fast in allen Wissenschaften“, liest man in Menschliches, Allzumenschliches, „ist die Grundeinsicht entweder erst in jngster Zeit gefunden oder wird noch gesucht“ (MA I 257). Die Umwlzungen der bergangszeit machen demnach – fnftens – die ‘architektonische Systematik’ des Wissens wanken und die traditionelle Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften obsolet, indem „zum ersten Male zwischen Natur und Geist, Mensch und Thier, Moral und Physik die alten Mauern zerbrochen“ werden (VM 185). Immer schneller gehe der Rhythmus des Wandels auf allen Feldern, und diejenigen, die „in dieser zerbrechlichen zerbrochnen Uebergangszeit“ die Zeichen dieses Wandels zu lesen versuchen, werden zu „Heimatlosen“ und skeptischen „Kinder[n] der Zukunft“ (FW 377). „Wir Neuen, Namenlosen […], wir Frhgeburten einer noch unbewiesenen Zukunft“, heißt es in der Frçhlichen Wissenschaft, ahnen, daß wir „ein noch unentdecktes Land vor uns haben, dessen Grenzen noch Niemand abgesehen hat“ (FW 382). Reinhart Koselleck hat gezeigt, „daß sich die Zuordnung von Erfahrung und Erwartung im Laufe der Geschichte verschoben und verndert hat“. Nietzsche ist der Chronist und Interpret eines Zeitalters, in dem, wie Koselleck es ausdrckt, die „Differenz zwischen berkommener Erfahrung und neu zu erschließender Erwartung“, zwischen „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ bermßig groß wird.37 Nietzsche bezeichnet dieses Auseinandertreten nicht nur durch die Metapher des „Erdbebens“, sondern auch durch Bilder wie das der „wieder offenen Meere“ (FW Vorw. 2,1): „Endlich erscheint uns der Horizont wieder frei […], das Meer, unser Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch niemals ein so ‘offnes Meer’“.38 Ab 1875 spricht er wiederholt von dem Bevorstehen eines tiefen historischen Einschnitts, der die im Laufe vorangegangener Jahrhunderte angehuften Erfahrungen mit einem Male hinfllig machen werde: „Denn man darf von der Zukunft der Menschheit nicht zugleich alles Das erwarten, was ganz bestimmte Be37 Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1979, S. 354 – 361. 38 FW 343. Vgl. FW 124: „I m H o r i z o n t d e s Un e n d l i c h e n . – Wir haben das Land verlassen und sind zu Schiff gegangen! Wir haben die Brcke hinter uns“.

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dingungen irgend welcher Vergangenheit allein hervorzubringen vermochten […]. So wird es nie wieder einen religiçs umgrnzten Horizont des Lebens und der Cultur geben.“ (MA I 234) Nietzsches Diagnose dieses Einschnittes scheint fr seine Interpreten – fr die heutigen ebenso wenig wie fr die des beginnenden 20. Jahrhunderts – keine Schlsselfunktion zu haben, wo es darum geht, den Zugang zu den verschiedenen Seiten seiner Philosophie sich zu erçffnen. Und doch ist Forschern, die sich mit den Problemen der Globalisierung befassen, durchaus bewußt, daß die Entwicklungen in jenen Jahren die schwersten Folgen nach sich gezogen haben. In den Worten Ian Clarks: „Die verschiedenen Faktoren – Imperialismus und Bndnissysteme […], Erfordernisse der Innenpolitik und Wirkungen des Industriekapitalismus –, die den Ausbruch des Ersten Weltkriegs mitbedingt haben, werden von der Mehrheit der Historiker als integrierender Bestandteil der Geschichte ab 1870 aufgefaßt.“39 Ulrich Beck mißt Nietzsches Gedanken zur ‘großen Politik’ hohe Bedeutung bei und zitiert aus Jenseits von Gut und Bçse: „Die Zeit fr kleine Politik ist vorbei: schon das nchste Jahrhundert bringt den Kampf um die Erd-Herrschaft, – den Zwang zur grossen Politik“ (JGB 208).40 In einer Zeit, in der die berkommenen Verhltnisse aus dem Gleichgewicht geraten und „der Mensch aus einem Auflçsungs-Zeitalter“, der „Mensch der spten Culturen und der gebrochenen Lichter“ (JGB 200) auf den Plan tritt, tut es not – das ist Nietzsches These –, sich der Kulturgeschichte zuzuwenden, die sich nunmehr auch zuvor vernachlssigter Forschungsfelder bemchtigen msse. Und es sei, bei Bercksichtigung der allgemeinen Unsicherheit, die Forderung an sie zu richten, neue Kompetenzen zu erwerben: Kulturen und Traditionen einander gegenberzustellen; Besonderheiten in Sitten und Denkweisen aufzufassen, die bisher fr irrelevant gehalten wurden, doch in neuen Zusammenhngen sich als bedeutsam herausstellen mçchten; vorzudringen in das „Labyrinth der unvollendeten Culturen“ (JGB 224) und ltestem Erbe nachzuspren, das bis in die Gegenwart nachwirkt. Erstens: Da nunmehr „die Erde als Ganzes çkonomisch“ verwaltet werden kçnne (MA I 24), ziehe auf der geistig-moralischen Ebene ein „Zeitalter der Vergleichung“ (MA I 23) herauf, in dem endlich, dank besonders der Ethnologie und der vergleichenden Rechtswissenschaft, ein 39 Ian Clark, Globalization und Fragmentation, Oxford 1997, S. 24. 40 Ulrich Beck, Was ist Globalisierung?, Frankfurt am Main 1997, S. 125.

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produktives und „freies […] Schweben ber Menschen, Sitten, Gesetzen und den herkçmmlichen Schtzungen der Dinge“41 mçglich sein werde. Zweitens: Die Kulturgeschichte wandele sich in der bergangszeit nicht nur vermçge einer Erweiterung ihrer Horizonte, sondern auch dadurch, daß sie ihre Interessen auf Gegenstnde konzentriere, die in den Zeiten der traditionsgeprgten „gebundenen Geister“ gar keinen Wert zu haben schienen. „Cultus der Cultur“ bedeute also auch „verstndnissvolle Wrdigung“ alles „Stofflichen, Geringen, Niedrigen, Verkannten, Schwachen, Unvollkommenen, Einseitigen“ (VM 186). Drittens: In den Umbrchen der Zeit werde berraschend auch ltestes Erbe sichtbar. In dem Augenblick, in dem die berkommenen Formen der Vergesellschaftung zerbrechen, werde es einfacher, „die Entstehungsgeschichte [der] Gefhle und Wertschtzungen“ (FW 345), deren Wirksamkeit ungebrochen fortdauere, ans Licht zu bringen. Indem „die allerjngste Gestaltung des Menschen“ (MA I 2) zu Grunde gehe, breche umso mchtiger die „Gewalt uralter Gewohnheiten der Empfindung“ (MA I 16) hervor. Herdenverhalten sei „im Groben berall bis in die tiefste Thierwelt hinab zu finden“ (M 26). Die in der Massengesellschaft so wichtigen Ntzlichkeitsmoralen appellieren an einen uralten „Heerden-Instinkt“, an die Furcht, „allein [zu] sein, einzeln [zu] empfinden“, die seit jeher alle gesellschaftliche Entwicklung begleitet habe.42 In der Gestalt der „uninteressierten, gemeinntzigen […] Handlungen“ sei auch in der modernen Welt ein „residuum christlicher Stimmungen“ gegenwrtig (M 132). Das Christentum seinerseits, indem es einen uralten Glauben an „bçse Gçtter“ fortfhre, die sich am Unglck der Menschen erquicken, sei ein Beleg fr die Beharrlichkeit – aber auch fr die erstaunliche Wandelbarkeit – uralter Vorstellungen, ausgeprgt in „langen pfadsuchenden und grundlegenden Jahrtausenden […], an welche man freilich nicht denkt, wenn man, wie gewçhnt, von ‘Weltgeschichte’, von diesem lcherlich kleinen Ausschnitt des menschlichen Daseins redet“ (M 18). Nietzsche grbt also vielerlei unterirdische Gnge auf, durch die noch die hçchstentwickelte Gesellschaft mit den Frhzeiten der Gesittung verbunden sei. Auch das moderne „Gefhl der Macht“ ist in seinen Augen ein Atavismus: Es habe sich in langen Jahrtausenden herausgebildet, whrend deren „das Gefhl der Ohnmacht und der Furcht so stark […] und fast fortwhrend in Reizung war“ (M 23). Ebenfalls in ferne 41 MA I 34. S. auch VM 179 und WS 188. 42 M 173 und 174, FW 50 und 117.

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Vergangenheiten reiche die Geschichte der „hçheren Empfindungen (der Ehrfurcht, der Erhabenheit, des Stolzes, der Dankbarkeit, der Liebe)“, in jene Zeiten nmlich, in denen die Menschen sich zu Naturkatastrophen und Seuchen „dmonische Ursachen“ erdachten und solchermaßen „den Sinn und die Lust am Wirklichen“ verloren. Auf dieser „erblichen Verkehrtheit des menschlichen Intellects“ beruhe es, daß spterhin auch alle zwischenmenschlichen Verhltnisse gelebt und verstanden worden seien als Widerschein einer aus geistigen „Symbolen“ bestehenden „eingebildeten Welt“ (M 33). Die Auseinandersetzung mit der Kulturgeschichte in mannigfacher Gestalt – als Ethnologie, Orientalistik, Religionsgeschichte – ist, nach alledem, fr Nietzsche von vorzglicher Bedeutung. Sie ist einerseits auf das engste mit seiner Gegenwartsdiagnose verbunden; andererseits unverzichtbares Ausrstungsstck bei seinen Expeditionen im Gebiete der Ethik und der Theorie der Gefhle. Spencer definiert die Ethik als „die Wissenschaft vom guten Handeln“, die herauszufinden habe, „wie und warum gewisse Handlungsweisen verderblich und gewisse andere wohlthtig sind“.43 Nietzsche dagegen hat gar kein Interesse an einer Klassifizierung „sittlichen Handelns“ – diesen Ausdruck selbst, den Spencer gebraucht, wird man bei ihm nicht finden. Nietzsche geht es vielmehr um eine Beschreibung der Vielfalt und Wandelbarkeit der „moralischen Werthurtheile“ und der „Werthschtzungen der Sittlichkeit“.44 Moralische Fragen angehen, heißt fr ihn, die Mechanismen untersuchen, durch die gesellschaftliche Identitt geformt und kollektiver Willen ausgeprgt werden. Jede Erkundung eines Komplexes „moralischer Werte“ – wie dieselben sich durchsetzen und wandeln – fhrt, nach Nietzsche, zur Erschließung eines weiten Feldes von Gegenstzen und Konflikten zwischen Klassen und Ethnien: „‘Der Gute’ entsteht nur am Gefhl eines Gegensatzes“.45 Die „Wertschtzungen“ der Moral seien stets Ausdruck von „Distanz“ und „Unterschied“ (JGB 257 u. 260) und dienen Geschlechtern und sozialen Gruppen zur Legitimierung und „Verherrlichung“ der eigenen Vorherrschaft und zur Verchtlichmachung ihrer Gegenspieler.46

43 44 45 46

Herbert Spencer, Die Tatsachen der Ethik, Stuttgart 1879, S. 62. FW 345, Nachlass 26[184], Sommer-Herbst 1884 (KSA 11, S. 198). Nachlass 7[113], Frhjahr-Sommer 1883 (KSA 10, S. 281). Nachlass 35[17], Mai-Juli 1885 (KSA 11, S. 514); Nachlass 16[27], Herbst 1883 (KSA 10, S. 508).

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Spencers „Wissenschaft vom guten Handeln“ sollte ein Teilgebiet der Biologie sein. Nietzsches Erforschung der „moralischen Werthunterscheidungen“ dagegen gehçrt, wenn nach seinen Vorgaben betrieben, unzweifelhaft zur Disziplin der Kulturgeschichte. Das gleiche gilt fr jedwede Untersuchung der Affekte. Die Instinkte, schreibt Nietzsche zu wiederholten Malen, besonders in seinen Aufzeichnungen aus dem Frhjahr 1884, stellen sich als „Urtheile auf Grund frherer Erfahrungen“ dar.47 Sie seien „die Nachwirkungen lange gehegter Werthschtzungen, die jetzt instinktiv wirken […]. Zuerst Zwang, dann Gewçhnung, dann Bedrfniss, dann natrlicher Hang (Trieb)“.48 Und der nmliche Instinkt kçnne im Wandel der Kulturen auf geradezu entgegengesetzte Weise „empfunden“ und beurteilt werden, also eine von Fall zu Fall verschiedene „zweite Natur“ annehmen. Die großen historischen Vernderungen geschehen demnach kraft neuer Interpretationen, die von Instinkten und Leidenschaften ‘Besitz ergreifen’ und sie im Innersten umgestalten: „Der selbe Trieb entwickelt sich zum peinlichen Gefhl der Feigheit, unter dem Eindruck des Tadels, den die Sitte auf diesen Trieb gelegt hat: oder zum angenehmen Gefhl der Demuth, falls eine Sitte, wie die christliche, ihn […] gut geheissen hat“ (M 37). Auch die Wahrnehmung beruhe im brigen auf „Gewohnheiten“ (M 117), die sich nach und nach verndern und also in die Sphre der „moralischen Erlebnisse“ (M 114) fallen. Durch die Behandlung dieser Themen – der Empfindungen, der Wahrnehmungen, der Kçrperlichkeit im allgemeinen – gliedert Nietzsche, „das krnkliche Culturthier“,49 immer neue Forschungsbereiche dem Gebiete der Kulturgeschichte ein.

47 Nachlass 25[378], Frhjahr 1884 (KSA 11, S. 111). 48 Nachlass 25[460], Frhjahr 1884 (KSA 11, S. 135). 49 KSB, Bd. 7, S. 111 (23. November 1885).

ber die Funktion der Kultur im Denken Friedrich Nietzsches Klaus Wellner Schon in der Morgenrçthe warnt Nietzsche vor den Systematikern; denn sie wollen einheitliche starke Naturen darstellen und lassen deshalb ihre schwcheren Eigenschaften im Stile ihrer strkeren auftreten.1 Auch spter bringt er in der Gçtzen-Dmmerung zum Ausdruck, dass er allen Systematikern misstraue und ihnen aus dem Wege gehe.2 Der Wille zum System sei ein Mangel an Rechtschaffenheit. Das Grundvorurteil der großen Systeme sei es jedenfalls, anzunehmen, dass Ordnung, bersichtlichkeit, das Systematische dem wahren Sein der Dinge anhaften msse und umgekehrt Unordnung, das Chaotische, Unberechenbare nur in einer falschen oder unvollstndig erkannten Welt zum Vorschein komme, also Irrtum sei.3 Dem Anspruch der Systeme auf vollstndige und endgltige Wahrheit setzt Nietzsche die vorlufigen Wahrheiten entgegen. Unter dem Titel Die vorlufigen Wahrheiten fhrt er im Nachlass aus, dass es etwas Kindisches an sich habe oder gar eine Art Betrgerei sei, wenn ein Denker ein Ganzes von Erkenntnis, ein System hinstelle. Wir mssten heute den tiefsten Zweifel an der Mçglichkeit eines solchen Ganzen in uns zu tragen. Es sei genug, wenn wir ber ein Ganzes von Voraussetzungen der Methode bereinkommen, ber vorlufige Wahrheiten, nach deren Leitfaden wir arbeiten wollen.4 Dieser Einsicht muss die Darstellungsform der Werke folgen. Nietzsche whlt bekanntlich als seine Form den Aphorismus. In den Streifzgen eines Unzeitgemßen der Gçtzen-Dmmerung nimmt er hierzu Stellung und erklrt ihn zur Form der Ewigkeit. Er wolle in zehn Stzen sagen, was jeder andre in einem Buch sagt oder auch nicht sagt.5 Auch im Nachlass heißt es, daß die 1 2 3 4 5

M 218. Zustzlich verwendete Siglen: KTB = Friedrich Nietzsche, Werke. Krçners Taschenausgabe Bde. 70 – 78, 83 u. 84, Stuttgart 1955 ff.; darin: WzM = Der Wille zur Macht; UdW = Die Unschuld des Werdens. GD Sprche und Pfeile 26. KGW VIII/3, S. 364; KSA 11, S. 632; UdW II 223. NL Frhjahr 1884 – Herbst 1885, KSA 11, 25[449]. GD Streifzge 51.

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tiefsten und unerschçpftesten Bcher wohl immer etwas vom aphoristischen und plçtzlichen Charakter von Pascals Penses haben werden.6 Zur Charakterisierung eben dieser Wirkung seiner Aphorismen heißt es dann auch, daß in seinen Aphorismenbchern zwischen und hinter kurzen Aphorismen lauter verbotene lange Dinge und Gedankenketten stehen, und manches sei darunter, das fr dipus und seine Sphinx fragwrdig genug sein mag.7 Das System wird abgelehnt. Damit aber wird der Versuch aufgegeben, eine in sich konsistente Wahrheit ber die Wirklichkeit als solche zu erreichen. Vorlufige Wahrheiten und nicht mehr die Wahrheit sollen seine Aphorismen aussagen. Wenn sie auch noch ein ganzes Feld von nicht unmittelbar Gesagtem mit sich fhren, grenzen benachbarte Aphorismen auch nicht direkt aneinander. ber- und Unterordnung sind aufgehoben. Jeder einzelne ist eine Perspektive auf die Wirklichkeit. Dennoch hat Nietzsche diese Vielperspektivitt in seinen Werken geordnet, jede Ordnung ist selber wieder eine Perspektive. Diese vielfltigen Beziehungen wrde man wohl gegenwrtig als ein Netzwerk bezeichnen, das an die Stelle einer hierarchischen Ordnung tritt. Ein auf einer Ebene ausgebreitetes Netz kann aber dadurch verndert werden, dass einer seiner Knoten herausgegriffen und nach oben gezogen wird. Auf diese Weise verbindet sich das Hierarchische mit dem Netzwerk. Ein derartiges Gebilde liegt nun vor, wenn man in Nietzsches Denken anhand eines bestimmten Begriffs eindringt. Man beginnt eben mit z. B. Wahrheit, Wert, Sein, Religion, Kunst oder wie hier mit der Kultur. Bei allem, was man dann ber den herausgehobenen Begriff sagt, muss man jedoch im Blick behalten, dass alles Lineare und Hierarchische nur eine Folge davon ist, dass man gezwungen ist, nacheinander zu erzhlen; denn eigentlich bleiben die zurckgetretenen Themen mit dem Hauptthema so verbunden, dass sie sich wechselseitig durchdringen. Kultur ist das Gegenteil von Natur. Durch sie unterscheidet sich der Mensch vom Tier. Oder tut er dies vielmehr durch die Sprache als Ermçglichung aller Kultur? Fnf Begriffe, die man gleichzeitig behandeln mßte, was in der Praxis nur nacheinander mçglich ist. Auch Nietzsche folgt diesem Gesetz und spricht an bestimmter Stelle nur von einem Zusammenhang, so in der Zweiten Unzeitgemßen von dem Verhltnis zur Natur: Die Kultur kçnne nur aus dem Leben hervorwachsen. Damit entschleiere sich der griechische Begriff der Kultur als verbesserte Physis, ohne innen und außen, ohne Verstellung und Konvention, als eine Einheitlichkeit zwi6 7

KGW VII/3, S. 244; KSA 11, S. 522; WzM 424. KGW VII/3, S. 305; KSA 11, S. 579; UdW 1251.

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schen Leben, Denken, Scheinen und Wollen. Sie ist also das Ergebnis eines Kampfes zwischen roher Natur und der uns eigentmlichen Geistigkeit. Da sie also ein immer wieder herzustellender Zustand gegenstrebiger Krfte ist, hlt es Nietzsche fr eine grausame Wahrheit, dass zum Wesen einer Kultur das Sklaventum gehçre. Das Elend der mhsam lebenden Menschen msse noch gesteigert werden, um einer geringen Anzahl olympischer Menschen die Produktion der Kunstwelt zu ermçglichen.8 Dieser Zusammenhang ergibt sich schon aus dem ontologischen Grundzug des Werdens; denn nach Nietzsches Auffassung frisst jeder Augenblick den vorhergehenden, jede Geburt sei der Tod unzhliger Wesen. Zeugen, Leben und Morden sei eins. Deshalb vergleicht er auch die herrliche Kultur mit einem bluttriefenden Sieger, der bei seinem Triumphzuge die an seinen Wagen gefesselten Besiegten als Sklaven mitschleppt.9 Die Metaphern vom Siegenden und Besiegten auf dem Schlachtfeld und vom Sklaventum schildern die ontologische Grundverfassung des Seins. Deren Sublimierung ist die Kultur = verbesserte Physis. Nur so zeigt sie sich als Einheit der verschiedenen ußerungen des Lebens. Man wird sehen, dass ein Misslingen der Einheit, ein Zerfallen in Kultur und Natur, fr Nietzsche ein Indiz fr eine schwache Kultur ist. Zwischen beiden besteht auch kein kompensatorischer Gegensatz wie bei Herder, bei dem die Kultur der notwendige Ausgleich fr ein von der Natur mangelhaft ausgestattetes Tier ist. Auch Gehlen folgt mit seiner Definition der Kultur als in die Natur gebautem Nest diesem Gedanken, obwohl in der Formulierung Kultur ist neuformierte Natur ein Zusammenhang beider Momente anklingt.10 Fr Nietzsche spielt der Begriff Mngelwesen jedoch keine Rolle. Er bestimmt den Menschen vielmehr als das noch nicht festgestellte Tier. 11 Das verweist auf den von den Anthropologen des 20. Jahrhunderts favorisierten Unterschied von Weltoffenheit und Umweltverhaftung. Nur den Menschen kommt Welt als Folge der Kultur zu. Aber Nietzsche fragt nicht aus rein wissenschaftlicher Neugier nach dem Wesen der Kultur, sondern wie es das Vorwort zur Schrift ber die Griechische Philosophie andeutet, statt der Systeme suchte er nach der Persçnlichkeit dahinter, weil das zum Unwiderleglichen gehçre, das die 8 KGW III/3, S. 345; KSA 7, S. 333; KTB, Bd. 70: Der griechische Staat, S. 212. 9 KGW III/2, S. 258; KSA 1, S. 764; KTB, Bd. 70, S. 213. 10 Arnold Gehlen, Anthropologische Forschung, Reinbek bei Hamburg 1961, S. 21. [Vgl. zu diesem Thema auch den Aufsatz von Andrea Christian Bertino im vorliegenden Band, Anm. des Hrsg.]. 11 JGB 62.

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Geschichte aufzubewahren habe. Die Aufgabe sei, das ans Licht zu bringen, was wir immer lieben und verehren mssen, nmlich: der große Mensch. 12 Dieser aber gedeiht nur auf dem Boden einer entsprechenden Kultur. Deshalb ußert er in Vom Nutzen und Nachtheil der Historie fr das Leben seine Sorge ber die Fehlentwicklung in der deutschen Kultur seiner Zeit. An die Stelle einer existenziellen Verwurzelung in der Geschichtlichkeit wird der junge Mensch zu einem wissenschaftlichen Verhltnis zur Vergangenheit erzogen und damit der Barbarei des ußerlichen Wissens ausgesetzt. Dagegen setzt er, dass die Kultur eines Volkes der Gegensatz jener Barbarei sei als Einheit des knstlerischen Stiles in allen seinen Lebensußerungen. Das Volk, dem man eine Kultur zuspreche, soll nur in aller Wirklichkeit etwas lebendig Eines sein und nicht so elend in Inneres und usseres, in Inhalt und Form auseinanderfallen. Aber die Form gelte uns Deutschen gemeinhin als eine Konvention, als Verkleidung und Verstellung und werde deshalb nicht geliebt. Der Formensinn werde von den Deutschen „geradezu ironisch abgelehnt – denn man hat ja den Sinn des Inhaltes: sind sie doch das berhmte Volk der Innerlichkeit.“13 Damit sind bei Nietzsche zu der damaligen Zeit bereits alle wesentlichen Elemente seines Denkens beisammen: zum Menschen gehçrt die Kultur, ihre Aufgabe ist, den großen Menschen hervorzubringen und hierzu muß sie eine bestimmte Verfassung haben, d. h. einen einheitlichen Stil. Aus diesem Ansatz heraus hlt er in Basel seine Vortrge ber die Zukunft unserer Bildungsanstalten, weil fr ihn der Sinn des menschlichen Daseins darin liegt, jene Kultur zu schaffen, die den Menschen in eine hçhere Form bringt. In seinem zweiten Vortrag fhrt er aus, daß es deshalb nicht gelingen konnte, das Gymnasium zur Form der klassischen Bildung zu bringen, weil allen Bildungsbemhungen ein kosmopolitischer Charakter zugrunde lag. Dies sei eine Folge des Wahnes zu glauben, man kçnne in die entfremdete hellenische Welt durch Verleugnung des deutschen Geistes direkt zurck springen. Vom deutschen Geist fhrt er allerdings aus, daß man ihn sehr lieben msse, um ihn auch unter Trmmerhaufen oder in der verkmmerten Form als deutsche Kultur der Jetztzeit zu finden. Diese nennt er ein kosmopolitisches Aggregat, das am strksten von der Zivilisation der Franzosen beeinflußt sei. Es soll versucht werden, herauszuarbeiten, daß hiermit von Nietzsche eine Grundstruktur dargestellt ist, die allen ußerungen ber Nationen zu12 KGW III/2, S. 295; KSA 1, S. 801; KTB, Bd. 70: Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, Vorwort. 13 UB II 4.

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grunde liegt. Sie kreist um die Polaritt hellenisch – deutsch. Dabei ist das Hellenische das berragende Vorbild der Kultur. Das Deutsche verfgt ber ein verschttetes oder unentwickeltes Potential und muß auf den richtigen Weg gebracht werden. Hierbei sind die romanischen Kulturen, besonders die franzçsische berlegen, weil ursprnglicher und am Stil orientiert. Im Aphorismus 221 von Menschliches, Allzumenschliches I setzt sich Nietzsche mit dem Verhltnis der Deutschen und der Franzosen zur poetischen Form auseinander. Die klassische franzçsische Tragçdie stand demnach dem griechischen Maß entschieden nher „weil die Natur des Franzosen der griechischen viel verwandter ist, als die Natur des Deutschen“. Um aus dem Naturalisieren herauszukommen, gebe es kein anderes Mittel als den strengen Zwang, den sich franzçsische Dramatiker auferlegten in Hinsicht auf Einheit der Handlung, des Ortes und der Zeit, auf Stil, Vers- und Satzbau, Auswahl der Worte und Gedanken. Den vorbildlichen Griechen stellt nun Nietzsche die lteren Franzosen ußerst nahe. So schreibt er: „Man ist beim Lesen von Montaigne, La Rochefoucauld, La Bruyere, Fontenelle, Vauvenargues, Chamfort dem Altertum nher als bei irgend welcher Gruppe von sechs Autoren anderer Vçlker.“ Wren ihre Bcher griechisch geschrieben, wren sie auch von Griechen verstanden worden.14 In Ecce Homo rechnet er noch einmal mit der deutschen Bildung ab und betont, daß es im Grunde eine kleine Anzahl lterer Franzosen sei, zu denen er immer wieder zurckkehre. Er glaube nur an eine franzçsische Bildung und halte alles, was sich sonst in Europa Bildung nenne, fr Missverstndnis, nicht zu reden von der deutschen Bildung.15 Hiermit ist das Schema vollendet, in dem die Nationalkulturen ihrem Range nach dargestellt sind. Den maßgebenden und obersten Rang nimmt das Griechentum ein, eng gefolgt vom Rçmertum. Beide kann man unter der Antike zusammenfassen. Die franzçsische Kultur steht beiden – auf jeden Fall in der lteren Zeit – sehr nahe. Die deutsche folgt erst mit weitem Abstand, gibt aber zu Hoffnungen Anlaß. An letzter Stelle befindet sich die englische mit ihrem Naturalismus. Ein Nachlaßstck ergnzt diesen Gedanken bei der Charakteristik des nationalen Genius in Hinsicht auf Fremdes und Entlehntes. Der englische vergrçbere und vernatrliche alles, der franzçsische verdnne, vereinfache, logisiere, putze auf, der deutsche vermische, vermittle, verwickle, vermoralisiere, der italienische habe bei weitem den freiesten und feinsten Gebrauch vom Entlehnten gemacht und hundertmal mehr hineingesteckt 14 MA II 214. 15 EH Warum ich so klug bin 3.

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als herausgezogen. Er sei der reichste Genius, der am meisten zu verschenken hatte.16 Der Aphorismus 192 in der Morgenrçthe vertieft das Problem der franzçsischen Kultur. Die Franzosen seien das christlichste Volk der Erde gewesen, weil sich bei ihnen die schwierigsten christlichen Ideale in Menschen verwandelt haben. Dafr stehe Pascal, in der Vereinigung von Glut, Geist und Redlichkeit als der erste aller Christen. Er verweist auf Fnelon, Frau von Guyon, den Grnder der Trappistenklçster Bouthillier de Ranc, der mit dem asketischen Ideale des Christentums den letzten Ernst gemacht habe, nicht als eine Ausnahme unter Franzosen, sondern recht als Franzose. Die Hugenotten hebt er hervor wegen ihrer Vereinigung des kriegerischen und arbeitsamen Sinnes. Und in Port Royal kam zum letzten Male das große christliche Gelehrtentum zum Blhen. Daß aber die Franzosen das christlichste europische Volk waren und es so waren, daß Menschen davon geprgt worden sind, hat auch seinen Preis gehabt. Nietzsche nennt Pascal „das lehrreichste Opfer des Christentums, langsam hingemordet, erst leiblich, dann psychologisch, die ganze Logik dieser schauderhaftesten Form unmenschlicher Grausamkeit“.17 „Man soll es dem Christentum nie vergeben, daß es solche Menschen wie Pascal zugrunde gerichtet hat.“ Sein Ziel sei, gerade die strksten und vornehmsten Seelen zu zerbrechen. Es kehre ihren Willen zur Macht rckwrts, gegen sich selber, bis die Starken an der Selbstverachtung und der -mißhandlung zugrunde gehen.18 Nietzsche erarbeitet sich also Bilder der europischen Kulturen und gewichtet sie, so daß eine Rangordnung entsteht. Zwar verfhrt er methodologisch wie ein Gelehrter, aber er verfolgt nicht die Ziele eines Gelehrten, sondern eines Philosophen, allerdings eines, der kein Metaphysiker mehr ist, sondern freier Geist. Dieser hat die hçhere Aufgabe, die Wege und Ziele der Kultur zu zeigen. Als die hierzu gehçrige neue Methode hat er das historische Philosophieren gewhlt, also das historisch-philologische Arbeiten als Interpretation, d. h. die Hermeneutik. Damit verfolgt er die Absicht, auf empirischen Grundlagen die selbstgestellten philosophischen Aufgaben zu bewltigen. Nachdem er bei der Untersuchung der Kulturen gelernt hat, wie der große Mensch in der Geschichte mçglich ist, kann er seine Lehre vom bermenschen als des Typus des großen Menschen nach der Umwertung aller Werte entwickeln. Die gedanklichen Elemente hierfr sind: 1. die christliche Ontologie ist an eine Hinterwelt geknpft; 2. die 16 KGW VIII/2, 9[5]; WzM 831. 17 EH Warum ich so klug bin 3. 18 KGW VIII/2, 11[55]; WzM 252.

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Ontologie gemß den modernen Ideen ist an die Perspektive des letzten Menschen gebunden; 3. eine Umwertung aller Werte ist erforderlich, um eine wahrere Ontologie zu gewinnen und damit den Grundstein fr eine hçhere Kultur zu legen, deren Stil den großen Menschen regelmßig hervorbringt. Dass die Umwertung nçtig ist, ergibt sich fr Nietzsche aus der Einsicht in die Logik unserer Geschichte. Mit der Heraufkunft des Christentums ist eine im Hintergrund nihilistische Bewegung zur Herrschaft gelangt. Diagnostiziert man fr unseren gegenwrtigen kulturellen Zustand den Verlust an Vertrauen in die christlichen Antworten, so ergibt sich die Aussage, dass die obersten Werte sich entwerten, und genau das eben bedeutet Nihilismus. 19 Von Nietzsches Standpunkt aus gesehen, ist er die Geschichte der nchsten zwei Jahrhunderte, d. h. als der Prozess seines Offenbarwerdens. 20 Dieser Blick in die Zukunft ist aber auch mit einem Rckblick auf die Geschichte unserer abendlndischen Werte verbunden. Im Aphorismus 32 von Jenseits von Gut und Bçse versucht Nietzsche den Entwicklungsgang der Werte in drei Perioden zu skizzieren. Die prhistorische Zeit, als lngste, leitet den Wert einer Handlung von deren Folgen ab. Sie ist die vormoralische Periode. In den letzten 10 Jahrtausenden ist man dazu bergegangen, die Herkunft der Handlung zu bewerten, was zur moralischen Periode fhrte. Die Gegenwart kçnnte nun an der Schwelle einer nochmaligen Selbstbesinnung stehen und zur außermoralischen Periode hinber fhren. Mit der Genealogie der Moral unterscheidet Nietzsche innerhalb der moralischen Periode das unmittelbare Setzen der Vorstellung vom Guten durch die vornehmen Stnde (GM I 11) von dem ressentimentgeleiteten Entgegensetzen der priesterlichen Wertung (GM I 7). Hier wird das Ressentiment schçpferisch und erklrt die Vornehmen fr bçse (GM I 10). Der Aphorismus 46 von Jenseits von Gut und Bçse erklrt diese Ressentiments-Perspektive mit der Herrschaft des Christentums als Sieg der Sichtweise des orientalischen Sklaven ber das vornehme Rom. Es kommt zur Umwertung aller antiken Werte und damit zum Sieg des Christentums. Blickt man nun zurck auf die Kritik an der deutschen Kultur und an der negativen Wirkung des Christentum in Frankreich, kçnnte man die Bevorzugung des Griechentums in der Rangordnung der Kulturen derart auf die Umwertung aller antiken Werte beziehen, dass man folgert, Nietzsche pldiere fr eine Rckkehr zur rçmisch-griechischen Wertewelt. Nietzsche hat aber die Geschichte auch noch unter einem anderen Aspekt als dem der Werte 19 KGW VIII/2, S. 14; KSA 12, S. 350; WzM I, 2. 20 KGW VIII/2, S. 298; KSA 13, S. 56; WzM Vorrede 2.

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eingeteilt und zwar unter dem der Entstehung und Entwicklung der Sprache in ber Wahrheiten und Lge im außermoralischen Sinne. Demnach stand die Entstehung der Sprache unter der Notwendigkeit, gesellschaftlich zu existieren. Folglich wird eine verbindliche Bezeichnung der Dinge erfunden.21 Die weitere Entwicklung steht unter dem schçpferischen Trieb der Metaphernbildung.22 In einer dritten Epoche schreitet die Sprachbildung weiter zur Bildung von Begriffen, wobei jeder Begriff durch ein Gleichsetzen des Ungleichen entsteht.23 Diese Arbeit, die Metaphern zu Schemen zu verflchtigen, setzt die Wissenschaft fort. Von der dadurch auftretenden Spannung zur Kunst befreit sich der Geist mit einer Verwandlung, infolge der er jenes „ungeheure Geblk und Bretterwerk der Begriffe“ zerschlgt, durcheinanderwirft und ironisch wieder zusammensetzt und dabei von Intuitionen geleitet wird. Er redet in lauter verbotenen Metaphern und unerhçrten Begriffsfgungen.24 Hieraus ergibt sich die umfassendste Gliederung unserer Kulturgeschichte. Nach der metaphernbildenden Epoche setzt die Schematisierung zu Begriffen ein und damit das metaphysische Zeitalter, das ja mit seiner Bevorzugung der Allgemeinheiten die Struktur der Wissenschaftlichkeit prgt. Das Ende des metaphysischen Zeitalters setzt mit dem Offenbarwerden des Nihilismus ein. Dieser wiederum kçnnte die Chance eines Neubeginns beinhalten. Mit dem Zerschlagen des Bretterwerkes der Begriffe und dem ironische Wiederzusammenfgen, ist die spter mit dem Zarathustra anbrechende Umwertung gemeint. Dagegen steht die griechisch-rçmische Antike noch unter dem Zwang des Allgemeinen, also unter der ethischen Forderung des „du-sollst“ – nur eben ressentimentfrei gedacht. Die Wiederherstellung der Ressentimentfreiheit, verbunden mit der Ausbildung eines souvernen Individuums ist dagegen die von Zarathustra proklamierte neue Stufe der Geistigkeit. Somit kehren wir zum Anfang zurck: der Sinn der Kultur (und damit der Geschichte) ist der große Mensch, der Genius, nur trgt der jetzt die Bezeichnung bermensch. 25 Wenn das Individuum am reifsten ist, folgt auch, dass die Kultur am hçchsten und fruchtbarsten ist.26 Somit hat Nietzsche mit dem

21 22 23 24 25 26

KGW III/2, KGW III/2, KGW III/2, KGW III/2, GM I 2. FW 23.

S. 369; S. 380; S. 369; S. 380;

KSA KSA KSA KSA

1, 1, 1, 1,

S. 875. S. 886. S. 875. S. 886; KTB, Bd. 71, S. 620.

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Zarathustra versucht, ein Individuum zu entwerfen, zu dem eine noch das Griechentum bertreffende Stufe der Kultur gehçren wrde.

II. Kultur und (Im-)Moral

Nietzsches Vision einer Kultur des freien Geistes Peter Andr Bloch Nietzsche hat, was sein Kulturverstndnis betrifft, im Laufe seines Lebens mehrere Entwicklungsstufen durchschritten, die sein Schaffen stark geprgt und es mit immer neuen Impulsen erneuert und ergnzt haben. Die einzelnen Phasen haben sich oft berschnitten, zum Teil auch berlagert, bis hin zu einem eigenstndigen, gegenber andern Vorstellungen oft provokanten Kulturbegriff, der sich in seiner visionren Mehrschichtigkeit mit praktisch allen Vorstellungen seiner Zeit auseinandersetzt und als Entwurf bis heute eine ausserordentliche Wirkung auf alle mçglichen Kunst- und Kultursparten ausbt. Viele schtzen vor allem den Kulturkritiker, der sich gegen die bestehenden Denk- und Verhaltenshierarchien wendet, und suchen in ihm den systematischen Philosophen, der ganz bestimmte Sinngebungen der menschlichen Existenz entwickelt, die sich grundstzlich von der Metaphysik lçsen, um sich ganz auf den innerweltlichen Charakter raumzeitlich-menschlicher Bedingtheit zu beschrnken, um daraus verbindliche Vorstellungen menschlicher Ethik zu entwickeln. Seine Entwrfe werden gern auf ihre systematische Stimmigkeit berprft und mit den bestehenden und ihm bekannten philosophischen Denksystemen verglichen, die er analytisch zu berwinden und in der Perspektive des sich kritisch selbst setzenden, eigenverantwortlichen Bewusstseins zu fassen sucht, das je von eigenen Voraussetzungen aus auf je selbst gewhlte Synthesen zugeht, die den Dimensionen seiner Wahrnehmungsmçglichkeiten, die es dauernd zu erweitern gilt, entsprechen. Es ist die Methode des konsequenten sich selbst Befragens, das in permanent sich berholenden Selbstentwrfen mndet, das Nietzsche fr die Postmoderne so bedeutend macht, weil jeder Schritt zu neuen Fragen fhrt, die ihrerseits neue Antworten auslçsen, die sich in ihrer Besonderheit auch auf ihre eigene berzeitlichkeit hin beziehen. In einem versuchten berblick sollen Nietzsches unterschiedliche Positionen angedeutet und miteinander verglichen werden, nicht nur in seinen kulturkritischen Haltungen und Urteilen, sondern auch in den eigenen – kreativen – Versuchen kulturstiftender Ttigkeit. Oft haben sich seine Auffassungen in ihr Gegenteil gewandelt; er htte aber keine seiner spteren berzeugungen so klar und so kenntnisreich vertreten

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Peter Andr Bloch

kçnnen, wenn er deren philosophische und geistesgeschichtliche Hintergrnde von ihren Voraussetzungen her nicht so genau gekannt und in ihrer Bedeutung seine eigene Bildungsgegenwart nicht so intensiv erfahren htte. Nietzsche brauchte Anregungen und Widerstand, um mit seinen Gedanken und Argumentationen weiterzukommen und konnte sich nur so impulsiv fr oder gegen etwas entscheiden und die eigenen Beweggrnde dazu nur deshalb so offen darlegen und vertreten, weil es ihm – positiv oder negativ – um die Rechtfertigung von Auffassungen geht, die den eigenen Lebenssinn betrafen, im Sinne von Kierkegaards existentieller Konfrontation von „entweder – oder“.

I Von der Kultur meditativer Gotteskindschaft Es ist bekannt, wie sehr sich Nietzsche als Kind pietistischer Eltern im Kreis von Familie und Kirche aufgehoben sah und wie sehr ihn der frhe Tod seines Vaters zu dessen verantwortungsbewusstem Nachfolger machte. Frh lernte er es, ber den ihm aufgegebenen Lebenssinn nachzudenken und sich in meditativen Schriften ber die eigenen Aufgaben und Charaktereigenschaften Rechenschaft zu geben; bereits mit vierzehn Jahren fasste er seine ersten Erinnerungen als bewussten Lebensbericht zu einem Bchlein zusammen, unter bewusster Bercksichtigung einer – noch familiren – Leserschaft.1 Dazu legte er fr sich im voraus eine Art Erfahrungs- und Gewissensspiegel an, nach dem er seine Darlegungen systematisch – nach dem Gesichtspunkt der zunehmenden Erfahrungen und Kenntnisse – ordnete, sich als Teil eines ihn umgebenden Kreises verstehend, fr den er an Festen und Feiern auch eigene Texte und Kompositionen verfasste. Dazu gehçrten nicht nur die eigenen Angehçrigen, sondern auch Nachbarn, Freunde und Schulkameraden und letztlich auch die Zugehçrigkeit zur Landeskirche, zu Gemeinde und Staat, was er durch den gemeinsamen Geburtstag mit dem preussischen Kçnig, auf dessen Namen ihn sein Vater bewusst hatte taufen lassen, in

1

Cf. Peter Andr Bloch, Aus meinem Leben. Der Selbstportrtcharakter von Nietzsches frhen Lebensbeschreibungen: Selbstdialog als Selbstbefragung, in: Nietzscheforschung 2 (1994), S. 61 – 94.

Nietzsches Vision einer Kultur des freien Geistes

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der Jugendzeit selbst immer wieder stolz – spter bald mit ironischem Unterton – hervorhob.2

II Zwischen Glauben und Lernen, Wissen und beginnenden Zweifeln Die Selbstttigkeit steht bei Nietzsche von Anfang an im Vordergrund. Alle seine Vorbilder, musikalische wie literarische Werke, werden von ihm selbst auf die eigenen Mçglichkeiten umgesetzt und in die Perspektive der eigenen Vorstellungen gebracht. Wichtig sind fr ihn die lebendige Erinnerung an den verstorbenen Vater, dessen Tod man durch gemeinschaftlich-feierliche Momente des Glaubens und des Familienzusammenhalts zu berwinden suchte, zu Weihnachten, Neujahr wie auch Ostern, den christlichen Festen der Erlçsung und der Auferstehung. Nietzsche hat fr diese Gelegenheiten zahlreiche Gedichte verfasst und Musikstcke komponiert, mit der steten Thematik des berwundenen Leids, der wieder gefundenen Harmonie, in unerschtterlicher Glaubensgewissheit und absolutem Gottvertrauen.3 In seiner Freizeit wie im Schulunterricht in Naumburg und vor allem Schulpforta geht es um Erkenntnis, durch die mçglichst intensive Aneignung von Wissenswertem, der biblischen wie auch der menschlichen Geschichte, von der Antike bis zur Gegenwart, mit dem Ziel einer universellen Bildung. „Mich hat ein ungemeiner Drang nach Erkenntnis und nach universeller Bildung ergriffen“, bemerkt er mit Stolz zu seinem 15. Geburtstag. Die Entfaltung der eigenen Fhigkeiten stehen noch ganz im Zeichen der bernahme der ihm durch seine Erziehung bermittelten Weltbilder eines zutiefst christlich geprgten Humanismus; whrend Jahren arbeitet Nietzsche in dieser Zeit an der Komposition eines Weihnachtsoratoriums, das „einfach“ und „erhaben“ und – auch fr einfache Menschen „von einfacher Wirkung“ und auch allgemein „verstndlich“ sei. Nach vielen Vorarbeiten bricht er diesen Versuch ab, denkt nach der Konfirmation viel ber die christlichen Glaubensinhalte und den Verlauf der Kir2 3

Cf. Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche. Biographie, Bd. 1, Mnchen 1978, S. 42 ff. Dazu auch Johann Figl, Nietzsche und die Religionen. Transkulturelle Perspektiven seines Bildungs- und Denkweges, Berlin / New York 2007. Vgl. Peter Andr Bloch, Nietzsches ,Weihnachten’ und ,Neujahr’. Feiertage des jungen Nietzsche im Naumburger Familien- und Freundeskreis. Vortrag gehalten im Mnchner Nietzsche-Forum, 17. Dezember 2005 (im Druck).

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chengeschichte nach. „Zweifel“ seien immer mit grossen schmerzlichen Erfahrungen verbunden, aber „notwendig“, um den eigenen Standort zu finden, notiert er fr sich in den Osterferien 1862: Ein „unparteiisches und der Zeit angemessenes Urteil ber Religion und Christentum“ sei nicht das Werk einiger Wochen, sondern eines Lebens […]. Die Macht der Gewohnheit, das Bedrfnis nach Hçherem, der Bruch mit allem Bestehenden, Auflçsung aller Formen der Gesellschaft, de Zweifel, ob nicht zweitausend Jahre schon die Menschheit durch ein Trugbild irre geleitet, das Gefhl der eignen Vermessenheit und Tollkhnheit: das alles kmpft einen unentschiedenen Kampf, bis endlich schmerzliche Erfahrungen, traurige Ereignisse unser Herz wieder zu dem alten Kinderglauben zurckfhren. Den Eindruck aber zu beobachten, den solche Zweifel auf das Gemth machen, das muß einem Jeden ein Beitrag zu seiner eignen Kulturgeschichte sein.4

III Von der Kultur des krisenhaften Sich-Selber-Vergewisserns Nachdem er in Schulpforta das Reifezeugnis in Empfang genommen hat, verfasst Nietzsche zum Abschluss seiner Jugendzeit eine Art meditatives Gebet, in welchem er die Spannungen zwischen dem frheren sicheren Kinderglauben und dem ihm Unbekannten, Fernen, Zuknftigen andeutet und damit auch die Probleme und Interessen, die seine Studienwahl an der Universitt Bonn bestimmen: Noch einmal eh’ ich weiterziehe Und mein Blicke vorwrts sende Heb ich vereinsamt meine Hnde Zu Dir empor, zu dem ich fliehe, Dem ich in tiefster Herzenstiefe Altre feierlich geweiht Daß allezeit Mich seine Stimme wieder riefe. Darauf erglhet tiefeingeschriebe Das Wort: Dem unbekannte Gotte: Sein bin ich, ob ich in der Frevler Rotte Auch bis zur Stunde bin gebliebe : Sein bin ich – und ich fhl’ die Schlinge, Die mich im Kampf darniederziehn Und, mag ich fliehn Mich doch zu seinem Dienste zwinge. Ich will dich kenne, Unbekannter, 4

KGW I/2, S. 431 – 433.

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Du tief in mein Seele Greifender, Mein Leben wie ein Sturm durchschweifender Du Unfassbarer, mir Verwandter ! Ich will dich kennen, selbst dir diene.5

Es bieten sich mehrere Deutungsversuche an, in denen sich unterschiedliche Glaubenshaltungen spiegeln. Nietzsche selbst befindet sich selbst in einer Phase des bergangs: Dem naiven Kinderglauben ist das Bewusstsein des Nicht-Wissens gefolgt, damit aber auch der bewusste Wille, sein Verhltnis zu Gott, als dem ihm Unbekannten, fr sich zu klren. Statt in selbstverstndlicher Ergebenheit traditionelle Glaubenswahrheiten zu bernehmen, gilt es, sich im Dienste der eigenen Willenskraft, dem Kampf der eigenen Erkenntnismçglichkeiten zu stellen. Die Frage nach Gott erweist sich als Herausforderung an sich selbst, den eigenen Standort unter dem Aspekt von Ursprung und Ziel zu berprfen, im Hinblick auf einen mçglichen Neubeginn, in welchem Offenbarung und Selbstbefragung eins werden. Die Anrufung Gottes im Gebet wird zur Bitte um Erkenntnis; Glauben wird ein Prozess des Fragens und Suchens, nicht des Wissens. Gott kann nur erkannt werden, wenn man sich in Beziehung zu ihm setzt, indem man sich vorerst entschliesst, sich als Fragenden zu verstehen, den Gottesdienst als Gottesbefragung begreifend. In der Auseinandersetzung mit dem Gçttlichen allein kann man sich selbst finden, in der Spannung zwischen dem Unfassbaren und Bekannten, in Anerkennung des eigenen Willens und der eigenen Denk- und Vorstellungsmçglichkeiten. In diesem Sinn zeichnet Nietzsche seinen Weg vom naiven Kinderdasein zum selbstbewussten Erwachsenen nach, dem es um vor allem um den Prozess des Erkennens geht, und nicht um die blosse Besttigung von bereits Gewusstem.

IV Kritisches Selbstsuchen und Selbstbefragen Der Beginn des Studiums steht fr Nietzsche unter dem Zeichen der Entscheidung fr eine sinnvolle berufliche Ttigkeit. Besteht sie in der bernahme der bestehenden – statischen – Lebensformen und Denkinhalte, oder ist es mçglich, die eigenen Zweifel und Selbstsetzungen auf einen begrifflichen – kreativen – Nenner zu bringen? Immer mehr schreckt er vor der Absolutheit der Glaubensverpflichtung zurck und 5

KGW I/3, S. 391.

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entscheidet sich fr das dynamische Fragen nach den Mçglichkeiten des Denkens und Formulierens, nach den unterschiedlichen Auffassungen von Wahrheit und Lge, in der Relativitt ihrer historischen, raumzeitlichen Perspektive. Sinn und Form sind keine absoluten Werte, sondern ergeben sich aus vernderbaren Voraussetzungen, in der Auseinandersetzung des Subjektiven mit dem Objektiven, des Besonderen mit dem Allgemeinen. Seine theologischen Interessen fr das Absolute werden unterlaufen von der philologischen Frage nach dem Weg zur Erfahrung von Wahrheit in ihrer historischen – denkerischen und sprachlichen – Erscheinung, in Geschichte und Gegenwart, wie er es seiner Schwester gegenber als Selbstrechtfertigung formuliert: Bonn, am Sonntag nach Pfingsten 1865 […] ist es wirklich so schwer, das alles, worin man erzogen ist, was allmhlich sich tief eingewurzelt hat, was in den Kreisen der Verwandten und vieler guten Menschen als Wahrheit gilt, was außerdem auch wirklich den Menschen trçstet und erhebt, das alles einfach anzunehmen, ist das schwerer, als im Kampf mit Gewçhnung, in der Unsicherheit des selbstndigen Gehens, unter hufigen Schwankungen des Gemths, ja des Gewissens, oft trostlos, aber immer mit dem ewigen Ziel des Wahren, des Schçnen, des Guten neue Bahnen zu gehn? Kommt es denn darauf an, die Anschauung ber Gott, Welt und Versçhnung zu bekommen, bei der man sich am bequemsten befindet, ist nicht viel mehr fr den wahren Forscher das Resultat seiner Forschung geradezu etwas Gleichgltiges? Suchen wir denn bei unserem Forschen Ruhe, Friede, Glck? Nein, nur die Wahrheit, und wre sie hçchst abschreckend und hßlich. Noch eine letzte Frage: Wenn wir von Jugend an geglaubt htten, daß alles Seelenheil von einem Anderen als Jesus ist, ausfließe, etwa von Muhamed, ist es nicht sicher, daß wir derselben Segnungen theilhaftig geworden wren? Gewiß, der Glaube allein segnet, nicht das Objektive, was hinter dem Glauben steht. Dies schreibe ich Dir nur, liebe Lisbeth, um dem gewçhnlichsten Beweismittel glubiger Menschen damit zu begegnen, die sich auf ihre innern Erfahrungen berufen und daraus die Untrglichkeit ihres Glaubens herleiten. Jeder wahre Glaube ist auch untrglich, er leistet das, was die betreffende glubige Person darin zu finden hofft, er bietet aber nicht den geringsten Anhalt zur Begrndung einer objektiven Wahrheit. Hier scheiden sich nun die Wege der Menschen; willst Du Seelenruhe und Glck erstreben, nun so glaube, willst Du ein Jnger der Wahrheit sein, so forsche. – Dazwischen giebt es eine Menge halber Standpunkte. Es kommt aber auf das Hauptziel an.6

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Brief an Schwester Elisabeth vom 11. Juni 1865.

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Dass Fragen keine Snde sei, sondern eine Aufgabe des freien Sich-SelbstSuchens und wissenschaftlichen – d. h. bewussten – Forschens, das erfhrt Nietzsche in Schulpforta und auch in Bonn beim Studium der Philosophen und Autoren der Antike. Deren freie Geisteshaltung und kritische Neugierde gegenber allem, was wirklich, wahr und mçglich sei, versucht er fr sich und seine wissenschaftliche Gegenwart zu realisieren. Fr sein Denken scheint ihm bisher alles festgefahren, spannungslos, der Vergangenheit zugewandt. An der Universitt wird Theologie als Religionsgeschichte betrieben; es geht um die Zerwrfnisse zwischen den einzelnen Bekenntnissen, um Rechtsglubigkeit und Macht. Nietzsche wird es immer mehr bewusst, wie orientierungslos er sich im Grunde fhlt, wie stark seine Ansichten und Urteile noch von seiner Herkunft und den usseren Schuleinflssen bestimmt werden, so dass er den eigenen Standpunkt kaum kennt und sich oft stark vom jeweiligen Diskussions- oder Briefpartner beeinflussen lsst. Diese anerzogene Sensibilitt im Mitvollziehen fremder Denkmodelle kommt ihm indessen beim Altphilologen Friedrich Ritschl sehr zustatten, im Umgang mit dessen damals neuen wissenschaftlichen Methode des Kollationierens: Im Vergleich der unterschiedlichen Fassungen antiker Schriften, die sich in den verschiedensten Kloster- oder Universittsbibliotheken befinden, kann man deren mçgliche Urform herausarbeiten, wenn man den ideellen Grnden ihrer Vernderungen durch ihre Vermittler auf die Spur kommt. In diesem Bereich der Textkritik entwickelt Nietzsche meisterhafte Fhigkeiten, wird Mitbegrnder des Philologischen Vereins in Leipzig, wo ber das grundstzliche Zusammenspiel von Philologie, Philosophie und Geistesgeschichte diskutiert wird, besonders auch im Hinblick auf die eigene – kreative – Auseinandersetzung mit Textvarianten in unterschiedlichen Interpretationen. Es wird ihm klar, dass seine Arbeit Sinn macht, dass es dabei um Selbstsetzung geht, im Ernstnehmen bedeutender Stellungnahmen auf vergleichender Grundlage.7 Den Durchbruch zu sich selbst erfhrt er schlagartig beim Lesen des ihm damals noch fremden Hauptwerks Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung im Antiquariat seines damaligen Vermieters in Leipzig. Er wird davon derart elektrisiert, dass er sich spontan zum Kauf entschliesst, sich tagelang in dessen Lektre vertieft und schliesslich diese Erfahrung selbst noch in ihrer ganzen Bedeutung fr ihn in seinen Tagebuchnotizen festhlt: 7

Eine besonders grosse Rolle spielte in der Entwicklung dieser Methode des Kollationierens Erwin Rohde. Cf. dazu Janz, Friedrich Nietzsche, S. 208 ff.

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Ich hing damals gerade mit einigen schmerzlichen Erfahrungen und Enttuschungen ohne Beihlfe einsam in der Luft, ohne Grundstze, ohne Hoffnungen, ohne eine freundliche Erinnerung. Mir ein eignes passendes Leben zu zimmern, war mein Bestreben von frh bis Abend […]. Nun vergegenwrtige man sich, wie in einem solchen Zustande die Lektre von Schopenhauers Hauptwerk wirken mußte. Eines Tages fand ich nmlich im Antiquariat des alten Rohn dieses Buch, nahm es als mir vçllig fremd in die Hand und bltterte. Ich weiß nicht, welcher Dmon mir zuflsterte: „Nimm dir dies Buch mit nach Hause.“ Es geschah jedenfalls wider meine sonstige Gewohnheit, Bchereinkufe nicht zu berschleunigen. Zu Hause warf ich mich mit dem erworbenen Schatze in die Sofaecke und begann, jenen energischen dsteren Genius auf mich wirken zu lassen. Hier war jede Zeile, die Entsagung, Verneinung, Resignation schrie, hier sah ich einen Spiegel, in dem ich Welt, Leben und eigen Gemt in entsetzlicherer Großartigkeit erblickte. Hier sah mich das volle interesselose Sonnenauge der Kunst an, hier sah ich Krankheit und Heilung, Verbannung und Zufluchtsort, Hçlle und Himmel. Das Bedrfnis nach Selbsterkenntnis, ja Selbstzernagung packte mich gewaltsam; Zeugen jenes Umschwunges sind mir noch jetzt die unruhigen, schwermtigen Tagebuchbltter jener Zeit mit ihren nutzlosen Selbstanklagen und ihrem verzweifelten Aufschauen zur Heiligung und Umgestaltung des ganzen Menschenkerns. Indem ich alle meine Eigenschaften und Bestrebungen vor das Forum einer dsteren Selbstverachtung zog, war ich bitter, ungerecht und zgellos in dem gegen mich selbst gerichteten Haß.8

Endlich kann er zu sich selber stehen und es auch wagen, den neuen geistigen Standort gegenber Mutter und Schwester darzulegen. Mit geradezu sokratischer Argumentationskraft versucht er, die beiden ihm nchsten Menschen zu bewegen, ihn zu verstehen und das eigene, in sich widersprchliche Pflichtverhalten aufzugeben: Tragt Ihr es nur wirklich so leicht, dieses ganze widerspruchsvolle Dasein, wo nichts klar ist als daß es unklar ist? Mir ist es immer, als ob Ihr im Scherze darber hinwegkmt […]. Oder tusche ich mich? Wie glcklich mßt Ihr sein, wenn ich richtig sehe […] „Thue Deine Pflicht!“ Gut, meine Verehrten, ich thue sie oder strebe darnach sie zu thun, aber wo endet sie? Woher weiß ich denn das alles, was mir zu erfllen Pflicht ist? Und setzen wir den Fall, ich lebte nach der Pflicht zur Genge, ist denn das Lastthier mehr als der Mensch, wenn es genauer als dieser das erfllt, was man von ihm fordert? Hat man damit seiner Menschheit genug gethan, wenn man die Forderungen der Verhltnisse, in die hinein wir geboren sind, befriedigt? Wer heißt uns denn uns von den Verhltnissen bestimmen zu lassen?9

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KGW I/4 S. 513. Brief an Mutter und Schwester vom 5. November 1865.

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V Von der Kultur wissenschaftlicher Forschung Nietzsche versteht sein Forschen immer in seinem direkten Bezug zur Gegenwart; er weiss immer, dass er auch das Vergangene aus der Warte des kritischen Denkens, d. h. in seiner wissenschaftlichen Bedeutung fr die eigene Erkenntnis, zu betrachten hat. Aus diesem Grund mçchte er seine Fhigkeiten in Paris, dem Zentrum der damaligen unabhngigwissenschaftlichen Methodendiskussion, vertiefen. „Meine Wnsche tragen mich, den Philologen nach Paris in die kaiserliche Bibliothek, wohin ich vielleicht im nchsten Jahre abgehe, wenn bis daher der Vulkan nicht ausgebrochen ist.“10 Er muntert mehrere Freunde dazu auf, mit ihm nach Paris zu ziehen, um „eine ganze Kolonie deutscher Gelehrter“ um sich zu scharen, „auf der schçnsten Scene der Welt, zwischen den buntesten Coulissen und einer Unzahl glnzender Statisten. Ach wie schçn ist diese Luftspiegelung!“11 Erwin Rohde, Carl von Gersdorff, Rudolf Kleinpaul und Hermann Mushacke sollen sich an der Bibliothque Nationale durch die historisch-kritische Herausgabe griechischer und rçmischer Texte einen Namen zu schaffen. Seine Abreise wird indes einerseits durch die deutsch-franzçsischen Spannungen, anderseits durch die intensiven Vorarbeiten zu seiner Promotion verhindert: alle meine Arbeiten [erhalten] ohne meine Absicht, aber gerade deshalb zu meinem Vergngen eine ganz bestimmte Richtung; sie weisen alle wie Telegraphenstangen auf ein Ziel meiner Studien, das ich nchstens auch fest ins Auge fassen werde. Es ist die Geschichte der litterarischen Studien im Althertum und in der Neuzeit. Es kommt mir zunchst wenig auf die Details an; jetzt zieht mich das Allgemein-Menschliche an, wie das Bedrfniß einer literar-historischen Forschung sich bildet und wie es unter den formenden Hnden der Philosophen Gestalt bekommt.12

Was Nietzsche an der Universitt Leipzig im Kreise seiner philologischen Freunde erfahren hat, versucht er auf die hçhere Ebene einer beispielhaften, philolophisch-sprachwissenschaftlichen Arbeitsgruppe zu bertragen, die im Zentrum des damaligen europischen Kulturzentrums Paris daran geht, ein neues Denk- und Kommunikationsverhalten unter den Menschen zu begrnden, im friedlichen Erarbeiten eines gemeinsamen Kulturverstndnisses, ohne Zwang und ohne traditionelle Vorurteile.

10 Brief an Carl von Gersdorff vom 6. April 1867. 11 Brief an Erwin Rohde vom 20. November 1868. 12 Brief an Erwin Rohde vom 1.–3. Februar 1868.

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Seine Berufung an die Universitt Basel macht seine Pariser Plne zunichte, wie er es seinem damals besten Freund, Erwin Rohde, als erstem am 16. Januar 1869 anvertraut, noch bevor die endgltigen Beschlsse gefasst sind: Lieber Freund, ich habe die wahrscheinliche, ja sichere Aussicht, allernchster Zeit an die Universitt Basel berufen zu werden: ich habe mich darauf einzurichten, von Ostern an akademischer Lehrer zu sein – […] die gemeinsamen Pariser Plne flattern in alle Lfte. Und mit ihnen flattern meine schçnsten Hoffnungen. Ich hatte es noch einmal recht wohl haben wollen, bevor ich an die Berufskette gelegt wrde, ich hatte sehnlich begehrt, den tiefen Ernst und den zauberhaften Reiz eines Wanderlebens auszukosten, noch einem das unbeschreibliche Glck, Zuschauer und nicht Mitspieler zu sein, mit dem treusten und verstndnißreichsten Freunde zu schlrfen. Ich dachte mir uns beide, wie wir mit ernstem Auge und lchelnder Lippe, mitten durch den Pariser Strom hindurch schreiten, ein paar philosophische Flaneurs, die man berall zu sehen sich gewçhnen wrde, in den Museen und Bibliotheken, in den Closeries des Lilas und der Notre dame, berall hin den Ernst ihres Denkens und das zarte Verstndniß ihrer Zusammengehçrigkeit tragend.13

VI Der Sinn einer Kultur stiftenden wissenschaftlichen Ttigkeit „Wissenschaft“ bedeutete fr Nietzsche nicht in erster Linie „Berufserfolg“ oder „Professoren-Karriere“, sondern hçchste geistige Verpflichtung. Als Schler Schopenhauers wusste er sich mit seinen Freunden vereint im „Bunde der Hoffenden“, die sich fr das freie Denken einsetzten gegen die herrschenden Hierarchien im Dienste bestehender Machtstrukturen im Denken, Verhalten wie auch im Selbstverstndnis der Menschen. Als Universittslehrer wusste er sich der grçsstmçglichen geistigen Selbstverwirklichung seiner Studenten verpflichtet. In Vortrgen und Publikationen setzte er sich fr eine freiheitliche Erziehung und einen anspruchsvollen Universittsunterricht ein, mit der Forderung nach der grçsstmçglichen Herausforderung aller geistigen und moralischen Krfte, wie es ihm bei den antiken Schriftstellern, den franzçsischen Moralisten wie nunmehr auch in der Naturwissenschaft und der Verhaltenspsychologie begegnete, in der Fçrderung von Selbstndigkeit, Eigenverantwortung, Kreativitt. In diesem Sinne arbeitete er an der Universitt 13 Brief an Erwin Rohde vom 16. Januar 1869.

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gleichzeitig auf mehreren Ebenen: als Forscher und Lehrer, als Kulturphilosoph und ruheloser Publizist sowie als knstlerisch ttiger sthet. Seine Reflexionen ber Erziehung und Kunst grnden alle in der tiefen berzeugung, dass der rckwrtsgewandte Zeitgeist zu berwinden sei in der Begrndung einer neuen Kultur-Epoche der Selbstwerdung und der Selbstverantwortlichkeit im Kampf gegen jede ussere wie auch innere Beeinflussung. Trotz des Verzichts auf seine deutsche Staatsbrgerschaft nimmt er am Deutsch-Franzçsischen Krieg als Krankenpfleger teil und beginnt, angesichts der Kriegsmisere, im Lazarett vor den Mauern von Metz, mit der Konzeption der Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik. Das Werk widmet er demonstrativ Richard Wagner, mit dem Ziel einer gemeinsamen Erarbeitung einer innovativen Kultur individueller Freiheit. Es geht ihm darum, die allgemeine Verlogenheit der Dekadenz im europischen Zivilisationsraum zu bekmpfen, durch eine grundlegende Reformierung von Kunst und Bildung, die ber die bloss universitren oder gesellschaftlichen Verpflichtungen hinausgeht und zur Entstehung eines neuen Menschenbildes fhren soll, welches die bisher geltenden Erfolgs- und Machtvorstellungen durch andere Prioritten ersetzt. Mit einem geradezu religiçsen Sendungsbewusstsein stellt er sich in den Dienst einer neuen Philosophie der Freiheit, die sich an den alten Griechen, aber auch an Kant, Schopenhauer und Wagner orientiert. Gegenber Erwin Rohde formuliert er zu deren Realisierung einen eigentlichen Lebensplan, als Antwort auf einen usserst beunruhigenden – als eigentliche „Nachmittagspredigt“ bezeichneten Brief seines Freundes aus Kiel vom 11. Dezember 1870, in dem ihm dieser auf das Jahresende hin seine Eindrcke vom dortigen Universittsleben schildert, das nicht nur alle kreativen Krfte abtçte, sondern vor allem auch keinerlei Gegenkrfte zur „immer çdere, immer