Nietzsche als Kritiker und Denker der Transformation 9783110473339, 9783110472325

The contributors in this volume address Nietzsche as a critic of the present, a philosopher of transformation, and his c

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German Pages 316 Year 2016

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Siglenverzeichnis
Zur Einleitung: Kritik und Transformation bei Nietzsche
Analysen – Formen und Quellen der Kritik bei Nietzsche
Overcoming Nihilism Following Nietzsche’s Teaching
„daß der Mensch der Verklärer des Daseins wird, wenn er sich selbst verklären lernt“ – Nietzsches Neigung zur Verklärung
Riskante Redlichkeit – Wahrsprechen in Nietzsches Also sprach Zarathustra
Von der ‚Kritik des Intellekts‘ zur Perspektivierung des ‚Perspektivismus‘ – Überlegungen zum Problem des Perspektivischen in FW 373, 374 und 375
Critique and Transformation in Nietzsche’s Assessment of Epicurus
Nietzsche und der frühromantische Kritikbegriff
Genealogy and Perspectivism: Nietzsche’s Transformation of Kantian Critique
Angriffe – Nietzsches Spielarten kritischer Theorie
Jenseits der Revolte – Nietzsche als Denker und Kritiker sozialer Transformation
Towards Nietzsche’s ‘Critical’ Theory – Science, Art, Life and Creative Economics
Nietzsche and Habermas on Wille zur Macht: From a Metaphysical to a Post-Metaphysical Interpretation of Life
Thinking the Future: Criticism and Transformation in Nietzsche and Derrida
Nietzsches amor fatiEine Subversion
Aufhebungen – Kritische Transformationen mit Nietzsche
Nietzsches Sozio-Physiologie des Selbst und das Problem der Souveränität
Nietzsches Philosophie der Schuld/en als transformierende Kritik der Schuldenökonomie der Gegenwart
Nietzsches letzter Mensch als transhumanistische Dystopie
Die Zeit des Bewusstseins, das Tempo der Triebe und das Problem der Wirksamkeit des Willens bei Nietzsche
Transformationen der Zeit – „Wille zur Macht“ und Gedächtnis
Wissenschaftskritik in der Genealogie der MoralVom asketischen Ideal zur Erkenntnis für freie Menschen
Nietzsches radikales LachenSpuren einer Philosophiekritik der ungewohnten Art
Autorinnen und Autoren
Personenregister
Sachregister
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Nietzsche als Kritiker und Denker der Transformation
 9783110473339, 9783110472325

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Helmut Heit und Sigridur Thorgeirsdottir (Hrsg.) Nietzsche als Kritiker und Denker der Transformation

Nietzsche Heute

Band 6

Nietzsche als Kritiker und Denker der Transformation Herausgegeben von Helmut Heit und Sigridur Thorgeirsdottir im Auftrag der Nietzsche-Gesellschaft e. V.  

ISBN 978-3-11-047232-5 e-ISBN [PDF] 978-3-11-047333-9 e-ISBN [EPUB] 978-3-11-047240-0 ISSN 2191-5733 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis Siglenverzeichnis

IX

Helmut Heit und Sigridur Thorgeirsdottir Zur Einleitung: Kritik und Transformation bei Nietzsche

1

Analysen – Formen und Quellen der Kritik bei Nietzsche Luce Irigaray Overcoming Nihilism Following Nietzsche’s Teaching

15

Markus Kleinert „daß der Mensch der Verklärer des Daseins wird, wenn er sich selbst verklären lernt“ – Nietzsches Neigung zur Verklärung 25 Nina Tolksdorf Riskante Redlichkeit – Wahrsprechen in Nietzsches Also sprach Zarathustra 37 Jakob Dellinger Von der ‚Kritik des Intellekts‘ zur Perspektivierung des ‚Perspektivismus‘ – Überlegungen zum Problem des Perspektivischen in FW 373, 374 und 375 Oscar Rocha Santos Critique and Transformation in Nietzsche’s Assessment of Epicurus Manos Perrakis Nietzsche und der frühromantische Kritikbegriff

73

Melanie Shepherd Genealogy and Perspectivism: Nietzsche’s Transformation of Kantian Critique 81

62

49

VI

Inhaltsverzeichnis

Angriffe – Nietzsches Spielarten kritischer Theorie Martin Saar Jenseits der Revolte – Nietzsche als Denker und Kritiker sozialer Transformation 93 Babette Babich Towards Nietzsche’s ‘Critical’ Theory – Science, Art, Life and Creative Economics 112 George W. Shea IV Nietzsche and Habermas on Wille zur Macht: From a Metaphysical to a Post-Metaphysical Interpretation of Life 134 Jaanus Sooväli Thinking the Future: Criticism and Transformation in Nietzsche and Derrida 145 Christoph Türcke Nietzsches amor fati. Eine Subversion

155

Aufhebungen – Kritische Transformationen mit Nietzsche Herman Siemens Nietzsches Sozio-Physiologie des Selbst und das Problem der Souveränität 167 Sigridur Thorgeirsdottir Nietzsches Philosophie der Schuld/en als transformierende Kritik der Schuldenökonomie der Gegenwart 189 Thomas Schmaus Nietzsches letzter Mensch als transhumanistische Dystopie

206

William Mattioli Die Zeit des Bewusstseins, das Tempo der Triebe und das Problem der Wirksamkeit des Willens bei Nietzsche 222

Inhaltsverzeichnis

Cathrin Nielsen Transformationen der Zeit – „Wille zur Macht“ und Gedächtnis

236

Helmut Heit Wissenschaftskritik in der Genealogie der Moral. Vom asketischen Ideal zur Erkenntnis für freie Menschen 252 Silvia Stoller Nietzsches radikales Lachen. Spuren einer Philosophiekritik der ungewohnten Art 275 Autorinnen und Autoren Personenregister Sachregister

301 305

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Siglenverzeichnis Werkausgaben KGW

KGB

KSA

BAW

Werke. Kritische Gesamtausgabe. Begründet von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, weitergeführt von Wolfgang Müller-Lauter und Karl Pestalozzi, ab Abt. IX/4 von Volker Gerhardt, Norbert Miller, Wolfgang MüllerLauter und Karl Pestalozzi. Berlin, New York: De Gruyter 1967ff. Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe. Begründet von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, weitergeführt von Norbert Miller und Annemarie Pieper. Berlin, New York: De Gruyter 1975ff. Werke. Kritische Studienausgabe. 15 Bände. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. 2. durchges. Aufl. München, Berlin, New York: dtv/ De Gruyter 1999. Frühe Schriften 1854–1869. 5 Bände. Hrsg. von H.J. Mette, C. Koch und K. Schlechta. München: dtv.

Siglen einzelner Werke in den deutschsprachigen Beiträgen AC BA CV DD DS DW EH FW GD GM GT HL IM JGB M MA NL NW

Der Antichrist Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern Dionysos-Dithyramben David Strauss, der Bekenner und der Schriftsteller (UB 1) Die dionysische Weltanschauung Ecce homo Die fröhliche Wissenschaft Götzen-Dämmerung Zur Genealogie der Moral Die Geburt der Tragödie Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (UB 2) Idyllen aus Messina Jenseits von Gut und Böse Morgenröthe Menschliches, Allzumenschliches (I und II) Nachgelassene Notate, Aufzeichnungen, Fragmente Nietzsche contra Wagner

X

PHG SE SGT ST UB VM WA WB WL WS Z

Siglenverzeichnis

Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen Schopenhauer als Erzieher (UB 3) Sokrates und die griechische Tragödie Sokrates und die Tragödie Unzeitgemäße Betrachtungen Vermischte Meinungen und Sprüche (MA II) Der Fall Wagner Richard Wagner in Bayreuth (UB 4) Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne Der Wanderer und sein Schatten (MA II) Also sprach Zarathustra

Abbreviations of Nietzsche’s Works in English A AOM BGE BT CW D DD EH GM GS HH NL NW TI TL UM WS Z

The Antichrist Assorted Opinions and Maxims (HH II) Beyond Good and Evil The Birth of Tragedy The Case of Wagner Daybreak Dithyrambs of Dionysus Ecce Homo On the Genealogy of Morals The Gay Science Human, All Too Human (I and II) Posthumous notes, sketches, fragments Nietzsche contra Wagner Twilight of the Idols. How to Philosophize with a Hammer On Truth and Lying in a Non-Moral Sense Untimely Meditations The Wanderer and His Shadow (HH II) Thus Spoke Zarathustra

Ein sämtliche Werke, Aufzeichnungen und Vorlesungen Nietzsches umfassendes zweisprachiges Verzeichnis der Siglen findet sich auf: http://www.degruyter.com/staticfiles/content/dbsup/Nietzsche_05_Siglen.pdf

Helmut Heit und Sigridur Thorgeirsdottir

Zur Einleitung: Kritik und Transformation bei Nietzsche Man kann von Nietzsche nicht sprechen, ohne ihn eindeutig zur Aktualität in Beziehung zu bringen. (Horkheimer 1937, 414)

Friedrich Nietzsche war ein Kritiker und ein Denker der Transformation. Er ist genauso bekannt für seine kritischen und dekonstruktiven Einlassungen wie auch für seine transformativen Ansprüche und seine erwartungsvolle Betonung der Zukunft. Seine Kritik vergangener und gegenwärtiger Kultur, der Philosophie, der Moral, der Religion, der Kunst und der Wissenschaft ist eine auf Transformation zielende Kritik. „Ich“, so notiert er 1877, „denke ich habe durch meine Kritik von Religion Kunst Metaphysik ihren Werth gesteigert: Kraftquellen mehr als je“ (NL 1877, KSA 8, 402). Der Begriff der Kritik versteht sich im Zusammenhang mit Nietzsche in seiner wesentlich dreifachen Bedeutung. Einerseits ist Kritik in dem landläufig gebräuchlichen Sinne eine destruktive Kraft, die sich auf den Gegenstand der Kritik negativ, ablehnend, dekonstruierend und untergrabend bezieht, sie ist – wie Adorno in Anlehnung an die Jugendsprache seiner Zeit treffend sagt – eine Kunst des „Madig-Machens“ (Adorno 1970, 146). Andererseits ist Kritik aber nicht zuletzt durch den Nietzsche bestens vertrauten Gebrauch des Wortes in der klassischen Philologie sowie in der Philosophie seit Kant auch eine Form der Analyse, der Unterscheidung und Untersuchung, die einen Gegenstand klar zu umreißen und zu präzisieren sucht. Diese beiden Momente der Kritik sind eng verbunden, insofern eine Destruktion nur erfolgreich sein kann, wenn sie eine hinreichend gute Analyse des Kritisierten enthält, und eine gute Analyse greift immer auch Vorurteile und Unklarheiten an. In diesen Hinsichten hat Kritik etwas Parasitäres, sie hängt ab von dem, wogegen sie sich wendet und woran sie sich abarbeitet. Darin zeigt sich aber zugleich das dritte, transformative Moment der Kritik: Sowohl die analytische wie auch die destruktive Kritik sind auf Veränderung und auf den Gedanken einer Alternative, eines Anderen und Besseren bezogen. Kritik zehrt somit nicht unbedingt von einer positiven oder gar ausgemalten Utopie, auch muss sie die Alternative nicht gleich mitliefern können, aber sie lebt doch von der Antizipation des Anderen. Kritik enthält immer auch einen Anspruch auf Veränderung und den Gedanken der Transformation. Als reine Analytik oder Dekonstruktion bleibt Kritik letztlich leer und fruchtlos. Entsprechend unterscheidet Nietzsche wirkliche Philosophie von bloßer Kritik. Für ihn sind die theoretischen Arbeiter/innen und

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Helmut Heit und Sigridur Thorgeirsdottir

Kritiker/innen „Werkzeuge des Philosophen, und eben darum, als Werkzeuge, noch lange nicht selbst Philosophen!“ (JGB 211, KSA 5,144). Das Geschäft der Kritik besteht darin, innere und äußere Widersprüche von Phänomenen sichtbar und spürbar zu machen, um Entscheidungen und Veränderungen hervorzurufen. Diese Interdependenz von Kritik und Transformation zeigt sich auch an der etymologischen Verwandtschaft von kritikê tèchnê mit krísis. Beide Worte gehen auf das altgriechische Verb krínein zurück und verweisen somit zunächst auf Trennung, Scheidung und dann auch auf die (Kunst der) Unter- und Entscheidung. Krise bezeichnet die Phase, in der sich ein Konflikt entscheidet. Seit der Hippokratischen Medizin ist damit immer auch der Wendepunkt im Verlauf einer Krankheit gemeint, auf den entweder die Gesundung oder der Tod folgt. Kritik ist das Vermögen, diese Unterscheidung theoretisch zu fassen und mit Hilfe eines kompetenten Urteils möglichst günstig zu entscheiden, statt sie dem Zufall zu überlassen. Aus der Verwandtschaft der Begriffe der Krise und der Kritik leiten sich zwei unterschiedliche Varianten ab. Einerseits geht es um ein medizinisches, ethisches, politisches oder juristisches Urteilen, andererseits ist immer auch das Moment der Transformation angesprochen. In diesem Geiste schreibt Nietzsche mit Blick auf den kommenden Nihilismus, dass gerade die „größten K r i s e n “ zugleich ein „Augenblick der allertiefsten Selbstbesinnung des Menschen“ sein können (NL 1887–88, 11[119], KSA 13, 56). Wenig später taucht dieser Gedanke im Ecce homo wieder auf und nimmt eine programmatische Wendung. Dort lesen wir von der Aufgabe, „einen Augenblick höchster Selbstbesinnung der Menschheit vorzubereiten“, und „diese Aufgabe folgt mit Nothwendigkeit aus der Einsicht, dass die Menschheit n i c h t von selber auf dem rechten Wege ist“ (EH M 3, KSA 6,330). Die Selbstbesinnung im Zeichen der Fehlentwicklung und Krise verweist auf ein Moment der kritischen Reflexion auf die Vergangenheit und auf die Zukunft, in ihr verbinden sich destruktive, analytische, und prospektive Elemente zu einem Projekt grundsätzlicher Transformation. Die Spannweite der Kritik reicht von einem Fluch auf Bestehendes bis hin zur subtilen Dekonstruktion und zur Aufforderung zu einer liebenden und heilenden Erkenntnis. Selbst die Liebe zum Bestehenden, das Ja-Sagen und amor fati können so gedacht werden als Resultat eines kritisch-transformierenden Prozesses. Kritik und Transformation zusammenzudenken und von einer Interdependenz beider Begriffe in der Philosophie Nietzsches zu sprechen, liegt dennoch nicht ohne weiteres auf der Hand. Nietzsche hat weder eine detaillierte Theorie der Kritik noch der kulturellen, politischen oder individuellen Transformation vorgelegt. Er formuliert keinen klar konturierten Begriff der Kritik, der sich anhand seiner Texte zu einer kritischen Theorie verdichten ließe. Aber fast alles, was er schrieb, beinhaltet Kritik, sei es in der Gestalt einer neuen Perspektive auf

Zur Einleitung: Kritik und Transformation bei Nietzsche

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Vergangenes oder sei es in der Form einer eigenen und originellen Sichtweise auf Bestehendes. Nietzsche hat stets mit spitzer Feder geschrieben und sich regelmäßig in die Kritik im Handgemenge begeben. Das zeigt sich in seinen Bemerkungen zur Zukunft unserer Bildungsanstalten und zum desolaten Zustand der Philologie, in seinen vier unzeitgemäßen „Attentaten“ (EH UB 2, KSA 6, 317) und in seinen Gedanken über die moralischen Vorurteile ebenso wie in seiner Streitschrift zur Herkunft unserer Werte, in seinem Kampf mit Wagner und seinem finalen Fluch auf das Christentum. Immer wieder ist Nietzsches Philosophie wesentlich in kritischer Auseinandersetzung mit seiner Zeit zu verstehen. Dabei stieß er sich an der fehlenden kritischen und auch selbstkritischen Redlichkeit ebenso wie an den affirmativen Dimensionen des zeitgenössischen Geisteslebens. Die Lehre vom Staat, vom Volke, von der Wirthschaft, dem Handel, dem Recht – Alles hat jetzt jenen v o r b e r e i t e n d e n a p o l o g e t i s c h e n Charakter; ja es scheint, was von Geist noch thätig ist, ohne bei dem Getriebe des grossen Erwerbs- und Machtmechanismus selbst verbraucht zu werden, hat seine einzige Aufgabe im Vertheidigen und Entschuldigen der Gegenwart (WB 6, KSA 1, 463).

In solchen Formulierungen erscheint Nietzsche als aktueller Ideologie- und Gesellschaftskritiker. Seine anhaltende und bisweilen unterschätzte Bedeutsamkeit für kritische Gesellschaftstheorien liegt heute sicher auch darin, dass er hilft, das Individuelle und das Gesellschaftliche auf eine neue Weise zusammenzudenken. Eine Transformation der gesellschaftlichen Strukturen ist unmöglich ohne Veränderung der Individuen, ganz so wie die persönliche Transformation ohne gesellschaftliche Umstrukturierung belanglos und frustrierend bleiben muss. Damit verlässt Kritik zudem das nur akademische Feld und erkennt ihre Wahrheitsbedingung in der Praxis. Die einzige Kritik einer Philosophie, die möglich ist und die auch etwas beweist, nämlich zu versuchen, ob man nach ihr leben könne, ist nie auf Universitäten gelehrt worden: sondern immer die Kritik der Worte über Worte (SE 8, KSA 1, 417).

Das kritische Potenzial Nietzsches als Denker liegt darin begründet, dass nicht nur das theoretisch Durchschaute, sondern immer auch das innerlich oder äußerlich Erlebte und Erfahrene zur Quelle seiner kritischen Kraft wurde. Das mag einer der Gründe dafür sein, dass er seine Hoffnung auf freie Geister, auf große Individuen setzte, auf den Übermenschen oder die Philosophen (und Philosophinnen) der Zukunft. Der Gedanke der Transformation hat dabei zugleich die Form einer geänderten inneren Einstellung wie auch einer geänderten Situation. Schon sein religionskritischer Freund Franz Overbeck sah die Genialität Nietzsches „in seiner Begabung als Kritiker. Dieser genialen Begabung hat er aber die

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Helmut Heit und Sigridur Thorgeirsdottir

gefährlichste Anwendung gegeben, nämlich auf sich“ (Overbeck 1906, 214). Die Kraft zur Selbstschaffung durch Kritik hat jedoch Grenzen, insofern das Individuum nicht unabhängig und autonom ist, sondern es ist auch verletzlich, von anderen abhängig und anderen ausgesetzt. Die konstitutive Bedeutung der anderen und der sozialen Strukturen für die Schöpfung und das Gedeihen des eigenen Selbst zeigt sich regelmäßig im Nachdenken über Nietzsches Konzept von Transformation. Die Courage, seine Leserinnen und Leser zu provozieren und sich selbst der Kritik auszusetzen, macht Nietzsches Texte auch heute immer noch irritierend. Manches, was er sagt oder zu sagen scheint, etwa zu Frauen, zu Politik, zu Religion und Christentum, Demokratie und sozialen Bewegungen, aber auch zu Fragen der Erkenntnis und Ethik bleibt für zeitgenössische Verhältnisse verstörend. Nietzsche ist ein philosophisch und politisch unkorrekter Denker. Dabei ist die irritierende Attraktion und auch Begeisterung durch Nietzsche in den ersten Jahrzehnten seiner Rezeption besonders wirksam. Die unterschiedlichsten Denker, Literaten, Künstler und Aktivisten ließen sich von diesem enigmatischen Autoren anstecken. Nicht nur Spengler, George, Benn, Jünger und Bäumler, sondern auch Goldman und Stöcker, die Brüder Mann, Musil, Tucholsky, Brecht, Beckmann, Grosz, Benjamin, Bloch, Adorno und Horkheimer zeigten sich nachhaltig fasziniert von der kritischen und weltumstürzenden Kraft Nietzsches. Für sie alle – wenn auch aus unterschiedlichen Blickwinkeln – war Nietzsche die große Empörergestalt des 19. Jahrhunderts […, welche] die Krankheiten der bürgerlichen Gesellschaft scharf diagnostizierte und dem stehenden Sumpf abgelebter Verhältnisse das Bild einer neuen Kultur – geschaffen von starken Persönlichkeiten – entgegenstellte (Reschke 1989, 369).

Diese Stimmung lässt sich nicht ohne weiteres auf die Gegenwart übertragen. Dass Nietzsches Philosophie „nichts Ansteckendes mehr“ habe, wie Jürgen Habermas einmal erleichtert mit Blick auf seine Anziehungskraft in den Zwischenkriegsjahren formulierte (Habermas 1968, 237), muss dennoch als Übertreibung gelten. Sicher, seither hat sich vor allem in der akademischen Philosophie die Beschäftigung mit Nietzsche stark professionalisiert, er ist zu einem Klassiker geworden und hat die entsprechenden Formen der Edition und Exegese erfahren. Symptomatisch dafür ist die Feststellung von Mazzino Montinari, es sei heute „unerlaubt, ja beinahe unanständig, Nietzscheaner zu sein“ (Montinari 1982, 3). Stattdessen ginge es zunächst und vor allem um eine „philologisch-historisch fundierte Lektüre seiner Werke“ (Montinari 1982, 4). Die Vorzüge dieser Herangehensweise sind unbestritten und bilden auch für einen Blick auf Nietzsche als Kritiker die unverzichtbaren Quellen jeder ernsthaften Beschäftigung. Gleichwohl

Zur Einleitung: Kritik und Transformation bei Nietzsche

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wusste auch Montinari um die Gefahren einer „Historisierung und Philologisierung seiner Philosophie“ (Montinari 1982, 7), die Nietzsche zu einem Objekt der Geschichtsschreibung machen kann, sei sie nun antiquarisch, monumental oder kritisch. In den angloamerikanischen Debatten zeigen sich ebenfalls klare Tendenzen, die entlarvenden, destruktiven und transformativen Ambitionen Nietzsches zu marginalisieren, wenn auch aus anderen Gründen. In der von historischen und philologischen Erwägungen vergleichsweise wenig beeindruckten anglophonen Forschung ist man eher über das Ende der Postmoderne erleichtert und legt das Augenmerk auf die Rekonstruktion von Nietzsches potentiellen positiven Beiträgen zu aktuellen Debatten der Gegenwartsphilosophie. Die Herausgeber einer Anthologie zu Naturalismus und Normativität bei Nietzsche konstatieren wohl mit Recht, dass „thirty years ago such a collection might have seemed rather unlikely,“ denn „Nietzsche was widely regarded as a debunker of central regions of normative thought, rather than someone to whom positive normative views could be ascribed“ (Janaway und Robertson 2012, 1). Heute kann man Nietzsche einen sinnvollen Platz auf der aktuellen Landkarte philosophischer Positionen zuweisen, aber auch das kommt häufig einer entschärfenden Eingemeindung gleich. Bemühungen dieser Art haben schon aus Gründen des methodischen Pluralismus ihr volles Recht, zumal sie häufig die kritischen Debatten um und mit Nietzsche bereichern und gerade in ihrer professionellen Nüchternheit seine analytische Dimension stärken. Allerdings haben sie in den letzten Jahrzehnten auch dazu beigetragen, die Sicht auf die aktuelle oder potentielle Wirksamkeit Nietzsche’scher Kritikformen zu verstellen. Demgegenüber hat vor allem die französische Philosophie das Erneuerungspotential seiner philosophischen Kritik in unterschiedlichen Weisen zu nutzen gewusst. Die Genealogien Nietzsches sind richtungweisend für die poststrukturalistische Methode Foucaults, seine Kritik der Substanz ist ein Bezugspunkt für die französische Philosophie der sexuellen Differenz, sein Differenzdenken Grundlage für die Philosophie von Deleuze und Derrida, seine Philosophie des Leibes maßgebend für die Kritik dualistischer oder monadischer philosophischer Konzeptionen des epistemischen, moralischen und politischen Subjekts. Mit diesem Band ist nun allerdings durchaus keine einfache Revitalisierung des ‚französischen Nietzsche’ anvisiert, obschon manche Autorinnen und Autoren wichtige Impulse von dort erfahren haben. Vielmehr geht es darum, die Elemente kritischen und transformierenden Denkens bei Nietzsche herauszuarbeiten und sie auf die kulturelle, intellektuelle, soziale, politische und ökonomische Situation des noch jungen 21. Jahrhunderts zu beziehen. Das bedeutet zugleich auch, über die Texte Nietzsches hinauszugehen. Die hier versammelten Beiträge stellen sich diesen Aufgaben in je verschiedener und eigenständiger Weise. Trotz der schon durch das Thema bedingten

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Helmut Heit und Sigridur Thorgeirsdottir

thematischen, methodischen und perspektivischen Varianz bei gleichzeitigen Überschneidungen und systematischen Verbindungen lassen sie sich unter drei Schlagworte gruppieren: Analysen, Angriffe, Aufhebungen. Die erste Gruppe widmet sich vornehmlich den analytischen Formen und Quellen der Kritik bei Nietzsche, während die zweite seine dekonstruktiven Attacken und Spielarten kritischer Theorie ins Auge fasst. Die dritte Gruppe von Texten schließlich wendet sich gegenwärtigen kritischen Transformationen mit Nietzsche zu.

1 Analysen – Formen und Quellen der Kritik bei Nietzsche Den Auftakt des Bandes macht Luce Irigaray, eine der großen Interpretinnen der Philosophie Nietzsches, deren Buch Amante Marine (1980) ein Meilenstein in seiner Wirkungsgeschichte ist. Auch in diesem Beitrag präsentiert sie eine kreative und kritische Aneignung dieses Denkers, der ihr ein Leben lang Freund und Begleiter war. Nietzsche, so Irigaray, scheitere an der Transformation, die die Überwindung des Nihilismus ermögliche. Dazu hätte er den Willen zur Macht, der nur in ihm entsteht, aufgeben und statt dessen einsehen müssen, dass das Teilen des Verlangens mit dem Anderen zwar die Grenzen des eigenen Willens aufzeigt, aber zugleich Kraft für ein Weiterkommen bereitstellt. Die bevorstehende große Transformation liegt für Irigaray in einer Kultivierung der Geschlechterdifferenz, da diese tiefe Differenz von enormer Bedeutung für das philosophische Denken und das Überleben der menschlichen Gattung ist. Hätte Nietzsche seine Geschlechteridentität in seinem Denken aufmerksamer berücksichtigt, so wäre die Überwindung der platonischen Metaphysik, die in der Geschlechterdualität begründet ist, in Gang gebracht. Im Anschluss an den Essay Irigarays folgen drei Beiträge, die sich den spezifischen Formen von Kritik und Transformation im Denken Nietzsches widmen. Markus Kleinert bespricht den Gedanken der Transformation vor dem Hintergrund der für Nietzsche viel gebräuchlicheren Topoi ‚Verklärung‘ und ‚Transfiguration‘, indem er die Deutungs- und Wirkungsgeschichte der Verklärungsperikope vor und bei Nietzsche rekonstruiert. Der christlichen und der Nietzsche’schen Annäherung ist die enge Verknüpfung von Verklärung und Kritik gemeinsam, da die affirmierte Verwandlung die Veränderung und Überwindung des Bestehenden voraussetzt. Kleinert zufolge nimmt Nietzsche lutherische Elemente christlicher Verklärung auf, wobei die Verklärung Jesu als Vorbild für eine Verklärung des Leibes gedeutet werden kann. Nina Tolksdorf spürt Nietzsches Konzept der Redlichkeit nach, welches einerseits eine zentrale kritische Instanz in seinem Denken

Zur Einleitung: Kritik und Transformation bei Nietzsche

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zu bleiben scheint, andererseits aber von seiner grundsätzlichen Kritik klassischer Auffassungen von Wahrheit und Moral nicht unbetroffen sein kann. Mit Hilfe von Foucaults Analyse der parrhesia, des riskanten Wahrsprechens, und einer differenzierten Lektüre der Seiltänzer-Episode zeigt Tolksdorf, wie der Text des Zarathustra selbst zu einer riskanten Redlichkeit wird, die sich zu einem Schrei der Philosophie steigert. Konzentrierte Aufmerksamkeit auf die Details der textuellen Gestaltung zeigt auch der Beitrag von Jakob Dellinger, indem er Nietzsches Perspektivierung des sogenannten ‚Perspektivismus‘ anhand von drei Abschnitten aus Die fröhliche Wissenschaft rekonstruiert. Nietzsches Formen der Kritik werden nicht von einer stabilen oder gar absoluten Position aus geführt, sondern transformieren und reflektieren sich durch vielfältige Selbstbezüglichkeitsfiguren. Daher unterscheidet sich Nietzsches Verfahren der kritischen Selbstprüfung des Intellekts in FW 373–375 letztlich grundsätzlich von der transzendentalphilosophischen Kritik Kants. Selbst Nietzsches mutmyaßlicher ‚Perspektivismus‘ wird nicht etwa als Position vorgetragen, sondern seinerseits kunstvoll perspektiviert. Die drei weiteren Beiträge dieser Rubrik erhellen Nietzsches Konzepte der Kritik im Lichte seiner Beziehung zu anderen Denkern und Schulen. Nachdem Dellinger in seiner Analyse von FW 375 bereits auf die Epikureer zu sprechen gekommen war, rückt Oscar Augusto Rocha Santos Nietzsches Beziehung zu dieser Bewegung ins Zentrum seines Beitrags und konstatiert dabei eine Wandlung im Werk Nietzsches. Am Anfang der mittleren Phase greift Nietzsche auf Epikurs Kritik des metaphysischen Bedürfnisses zurück und stellt damit die Freiheit des Geistes heraus. In den späteren Werken weicht dieser positive Bezug einer zunehmend kritischen Sichtweise auf Epikur. Diesen Umstand leitet Santos vor allem von einer Akzentverschiebung in Nietzsches Verständnis des Philosophen ab, die in Jenseits von Gut und Böse mit der Idee des Philosophen als Führer und Gesetzgeber einen Höhepunkt erreicht. Nietzsche stellt sich, so Santos, Philosophen vor, die sich einmischen, an öffentlichen Debatten teilnehmen und damit im Dienste einer gesellschaftlichen Transformation agieren. Manos Perrakis widmet sich einer anderen, vielleicht ebenfalls überraschenden Bezugsgröße Nietzsche’scher Kritik. Während Nietzsches bekannte Ablehnung der Romantik vor allem auf ihre späteren Formen in Frankreich und bei Wagner bezogen ist, lassen sich positive Verbindungen zur frühen Romantik bei Novalis und Schlegel ausmachen. Gerade der Gedanke des Romantisierens als Prozess des ständigen Wechsels der Perspektiven und der unendlichen Reflexion findet sich in Nietzsches Auffassung von Kritik wieder, wie Perrakis auch anhand einer Deutung von FW 374 „U n s e r n e u e s U n e n d l i c h e s “ zeigt. Melanie Shepherd geht der Beziehung von Nietzsches Kritik der Erkenntnis zur kantischen Kritik der Vernunft nach und betont, dass beide auf ihre je eigene Weise den normativen Charakter

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Helmut Heit und Sigridur Thorgeirsdottir

des Denkens herausstellen. Auch Nietzsches kritische Genealogie der Erkenntnis ist in der Einsicht begründet, dass moralische Werte der Erkenntnissuche zu Grunde liegen. Mit ihrer Interpretation arbeitet Shepherd so die enge Bindung von Moral und Kritik als Besonderheit der ‚Erkenntniskritik’ bei Nietzsche heraus. Seine Transformation des kantischen Projektes unterstreicht so nicht nur die untrennbare Verbindung von Erkenntnis und Werten, sondern auch die Kontingenz beider Relata.

2 Angriffe – Nietzsches Spielarten kritischer Theorie Nietzsches Formen der Kritik lassen sich nicht nur mit Blick auf seine literarischen und philosophischen Strategien oder im Verhältnis zu früheren Traditionen verstehen, sondern auch anhand seiner Gegenstände und Angriffsflächen sowie im Kontext seiner breiten Rezeption im Feld kritischer Theorien. Martin Saar macht Nietzsche vor allem als innovativen Denker und Kritiker sozialer Transformation sichtbar. Im Unterschied zu den verschiedenen Modi gesellschaftlicher Entwicklung, die seit dem 19. Jahrhundert im Angebot sind, stellt Nietzsche nicht so sehr auf kulturellen und sozialen Fortschritt durch Bildung, Aufklärung, Revolution oder Aufstand ab. Die Abgrenzung Nietzsches von den sozialen Bewegungen seiner Zeit erhellt zugleich seine grundsätzlichen Vorbehalte gegen Konzepte sozialer oder soziotechnischer Transformation insgesamt. Dennoch ist damit keine kategorische Absage an den Gedanken auch gesellschaftlicher Veränderung verbunden, wie Saar anhand einer Analyse der für Nietzsche zentralen Selbstumwandlung herausstellt. Ohne eine Transformation des Selbst bleibt indes auch das gemeinsame Anders-Werden unmöglich. Während hier die Gedankenwelt der Frankfurter Schule eher implizit bleibt, stellt Babette Babich Nietzsches Begriff der Kritik explizit in diesen Zusammenhang. Sowohl linke wie rechte Nietzscheaner marginalisierten Nietzsches Anteil an der kritischen Theorie. So hat Habermas zwar seine Bedeutung für die Kritik der Erkenntnis anerkannt, aber im Gegensatz zu Adorno und Horkheimer das Grundsätzliche seiner Problematisierung von Aufklärung und moderner Politik ausgeklammert und ihn damit aus der kritischen Tradition der Frankfurter Schule ausgesperrt. Babich stellt dagegen die anhaltende Bedeutung von Nietzsches Kritik der Politik, der Erkenntnis und der kapitalistischen Marktwirtschaft für radikale, zeitgenössische politische Bewegungen heraus. Diese Diskussion wird auch von George W. Shea IV weitergeführt, indem er Nietzsche gegen Habermasʼ Vorwurf des inkonsistenten Irrationalismus im Philosophischen Diskurs der Mo-

Zur Einleitung: Kritik und Transformation bei Nietzsche

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derne verteidigt. Den Einwänden von Habermas liege ein Konzept von Vernunft zu Grunde, welches Nietzsche gerade ablehnt. Nietzsche verfalle dennoch weder einem dogmatischen Skeptizismus noch einer dogmatischen Metaphysik. Seine post-metaphysische Position ist, so Shea, vielmehr eine Interpretation des Lebens, die gar keine Einsicht in das absolute Wesen der Wirklichkeit sein will. Jaanus Sooväli setzt Nietzsche in Beziehung zu einer anderen Form kritischer Philosophie, nämlich zu Jacques Derrida, und erläutert auf diesem Wege vor allem Nietzsches Nachdenken über die Zukunft. Genealogische Dekonstruktionen eröffnen das Feld für eine radikale Transformation des Gewordenen und Bestehenden, aber die Zukunft wird von Nietzsche nicht als modifizierte Fortsetzung der Gegenwart gedacht, sondern in ihrer grundsätzlichen Verschiedenheit. Der Weg zur Zukunft führt durch „ein Ereigniss, das nicht seines Gleichen hat“ (EH Schicksal 8, KSA 6, 373). Sooväli lenkt daher mit Derrida die Aufmerksamkeit auf Nietzsches häufigen Gebrauch des Wortes ‚vielleicht‘, denn nur in diesem Modus ist die Zukunft schon in der Gegenwart denk- und sagbar. Christoph Türcke schließlich erläutert – nach süffisanten Bemerkungen zum akademischen Nietzsche-Diskursbetrieb – den Gedanken des amor fati anhand der italienischen Tragikomödie Das Leben ist schön. Die von Roberto Benigni verkörperte Hauptfigur verwendet eine Schopenhauer karikierende Form des Willens als Selbsthypnose, um seinem Sohn ein Leben im KZ zu ermöglichen. Die Liebe zum Schicksal erweist sich so als Subversion, sie wirft einen bejahenden Blick auf das Gegebene gerade dort, wo es schrecklich ist. Auch Nietzsches Modell des amor fati, darin dem Eingedenken bei Benjamin vergleichbar, ist für Türcke keine verdoppelnde Affirmation des Erfolgs, sondern wohnt bei den Gottverlassenen und Leidenden. Es ist eine Notwehr, die dem Schrecken das letzte Wort nicht lassen will und darin nicht nur Mut, sondern auch Übermut beweist.

3 Aufhebungen – Kritische Transformationen mit Nietzsche Im Anschluss an die vorherigen Diskussionen der Formen, Kontexte, Wirkungen und Ambitionen von Kritik und Transformation bei Nietzsche wenden sich die im dritten Teil dieses Bandes versammelten Texte ausdrücklicher der Signifikanz Nietzsches für aktuelle Problemkonstellationen zu. Herman Siemens rekonstruiert Nietzsches sozio-physiologische Konzeption des Subjekts seit den frühen 1880er Jahren und setzt das damit verbundene Konzept von Freiheit in einen produktiven Kontrast zu heute gängigen vertragstheoretischen Modellen. Anders als John Rawls versteht Nietzsche die Konstitution des Selbst als mühsamen Weg vom

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Helmut Heit und Sigridur Thorgeirsdottir

funktionalen Organ einer bestimmten Lebensform zu einem sich selbst regulierenden Organismus. Die damit gewonnenen Möglichkeiten zu Autonomie und Freiheit bleiben dabei dauerhaft an die internen und externen Antagonismen unserer prekären Existenz als Dividuen gebunden. Auf der Grundlage dieser EntSubstanzialisierung und Vernatürlichung und dem damit verbundenen neuen Begriff von Souveränität ergeben sich weitreichende Revisionen für jede Theorie der Gesellschaft. Die Kritik und Transformation der Moral heutiger Ökonomie ist das Thema des Beitrages von Sigridur Thorgeirsdottir. In neueren sozialwissenschaftlichen und philosophischen Studien zur Geschichte und Gegenwart der Finanzökonomie als Schuldenökonomie (Graeber, Lazzarato) hat Nietzsches Gläubiger-Schuldner-Modell aus der Genealogie der Moral neue Aktualität erlangt. Thorgeirsdottir führt diese Debatte weiter, indem sie zeigt, wie Nietzsches Modell der gängigen vertragstheoretischen Regulation dieses Verhältnisses überlegen ist. In einem weiteren Schritt interpretiert sie Nietzsches Ethik der Generosität als Modell zur Lösung einer nicht-nachhaltigen Schuldenökonomie. Grundlage für eine solche Interpretation ist eine von Irigaray und feministischer Philosophie inspirierte Interpretation der Schuldner und Gläubiger als Relation leiblicher Subjekte. Neben diesen sozialwissenschaftlichen Themen zeigt sich die transformative Kraft Nietzsches auch in Hinsicht auf die Gegenwart und Zukunft des menschlichen Selbstverständnisses. In dem Beitrag von Thomas Schmaus wird die Indienstnahme Nietzsches als einem Vordenker des Transhumanismus und des Übermenschen als Ideal einer transhumanistischen Utopie kritisiert. Zwar betrachtet Nietzsche den Menschen tatsächlich als werdendes und nicht festgestelltes Tier, aber die Idee des Übermenschen ist dennoch nicht mit dem Ziel einer technologischen Optimierung vereinbar. Vielmehr ist hier an den Antipoden des Übermenschen, also an den letzten Mensch zu denken, den Schmaus unter Rekurs auf die Anthropologie Heinrich Rombachs als transhumanistische Dystopie interpretiert. Statt sich wie ein technisches Objekt von außen perfektionieren zu wollen, geht es Nietzsche um die Kraft des Menschen zur innerlichen Selbstüberwindung. Eine andere Dimension dieser anthropologischen Debatten verfolgt William Mattioli, indem er Nietzsches Kritik der Moral von Absichtlichkeit und bewusster Intentionalität erörtert. Die Aktualität von Nietzsches Dekonstruktion des Glaubens an die freie Absicht als Ursache einer Handlung zeigt sich dabei nicht zuletzt in den Befunden zeitgenössischer Neurowissenschaften. Mit seiner Konzeption der triebhaften Dimensionen des Leibes hat Nietzsche nicht nur die bewusste Absicht als Folgeerscheinung der Handlung, sondern gerade auch ihren Spielraum markiert. Das ‚Fenster des freien Willens‘ besteht in dem Vermögen des Bewusstseins, die schon physiologisch initiierte Handlung auszusetzen. Cathrin Nielsen eruiert Nietzsches Beitrag zu einem veränderten Verständnis von

Zur Einleitung: Kritik und Transformation bei Nietzsche

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menschlicher Zeitlichkeit und Gedächtnis im Kontext seiner Notate zum ‚Willen zur Macht’. Zum Ausgangspunkt nimmt sie dabei eine rätselhafte Bemerkung Nietzsches, wonach sich das bloße Ringen um Wachstum von Machtgefühl mit dem Eintritt in die Geschlechtsreife verändere. Der Mensch ist kein Ego, sondern eine Dynamik, ein zeitliches Geschehen, Strömen, Streben und Verschwenden. Aber zugleich entwickelt diese „A r i s t o k r a t i e von ‚Zellen‘“ (NL 1885, KSA 11, 650) auch ein Gedächtnis, ein Gespür für die Zeit und vielleicht das Vermögen zu versprechen, mithin etwas für die Zukunft zu sagen. Mit dieser Spannung zwischen Verschwendung und Askese verbindet Nielsen die Idee, die Unschuld des Werdens nicht einfach ‚blind zu leben, sondern sehend zu sein‘. Helmut Heit wendet die kritischen und transformativen Impulse Nietzsches auf ein zeitgemäßes Verständnis der Wissenschaften an, indem er zunächst Parallelen zwischen Paul Feyerabend und Nietzsches Bild einer fröhlichen Wissenschaft aufzeigt. Anhand einer Deutung der letzten Abschnitte der Genealogie der Moral arbeitet Heit heraus, inwiefern sowohl die Normalwissenschaft akademischer Arbeit wie auch das Wahrheitspathos der letzten Idealisten Ausdruck des asketischen Ideals ist, welches es zu überwinden gilt. Nietzsches Frage nach dem Wert der Wahrheit ist dennoch nicht selbstwidersprüchlich, wie etwa Charles Larmore fälschlicherweise behauptet. Vielmehr erscheint die fröhliche Wissenschaft als eine Form der selbstreflexiven und selbstbewussten Erkenntnisweise freier Menschen. Als solche ist sie indes von der Geschichte der Askese und Sublimation nicht zu trennen; sie erweist sich als ein möglicher Lohn des Ernstes. Den Abschluss dieses Bandes schließlich bildet ein Beitrag, der die Dimensionen des Fröhlich-Kritischen und des Übermütig-Transformativen auf die Philosophie selbst anwendet. Silvia Stoller interpretiert Nietzsche als einen Philosophen des radikalen Lachens, der so eine Selbstkritik der Philosophie zum Zwecke der Transformation ermöglicht. Das Lachen in seinen Texten ist radikal, weil die Philosophie selbst auf dem Spiel steht. Im Mittelpunkt steht daher nicht das Lachen über andere, sondern das Lachen über sich selbst. Dazu bedarf es nicht zuletzt einer selbstkritischen Distanz, um seine eigenen Wahrheiten in Frage zu stellen. Hier sieht Stoller einen erhellenden Zusammenhang zwischen Nietzsches Philosophie des radikalen Lachens und feministischen Forschungen zur Rolle des Lachens in der Philosophie. Dabei geht es nicht nur um Lachen aus dem Bauch, sondern auch darum, aus der ganzen Wahrheit heraus zu lachen. Die intellektuelle Sprengkraft des Lachens zeigt sich so in ihrer übermütigen Kraft zur Selbstkritik und Transformation. Die Philosophie als kritisch-transformatives Denken ernst zu nehmen bedeute zugleich, über sie auch lachen zu können, und so den Abstand zu erlangen, der philosophische Weisheit ermöglicht. ***

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Helmut Heit und Sigridur Thorgeirsdottir

Wir möchten den folgenden Institutionen und Personen für Unterstützung danken. Vor allem bedanken wir uns bei der Nietzsche Gesellschaft und der Friedrich Nietzsche Stiftung, in deren Namen und mit deren Hilfe wir im Oktober 2014 eine Tagung im Nietzsche Dokumentationszentrum (NDZ) in Naumburg veranstaltet haben, aus der dieser Band hervorgegangen ist. Unser Dank gilt dabei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des NDZ und ganz besonders Dr. Ralf Eichberg, der die Hauptlast der Organisation wie immer souverän getragen hat. Dankbar sind wir dem Helsinki Collegium for Advanced Studies an der Universität Helsinki, insbesondere Svetlana Kirichenko für redaktionelle Assistenz bei der Erstellung des Bandes. Wir danken auch dem Institut für Philosophie an der Universität Island sowie dem Institut für Philosophie an der Tongji Universität in Shanghai. Unser erster und letzter Dank gilt den Autorinnen und Autoren, die hier die unterschiedlichsten Mittel der Kritik im Umgang mit Nietzsches Texten, mit ihren Gegenständen und mit sich selbst zur Anwendung bringen und dabei auf eine variantenreiche Vielfalt von Transformationen verweisen. Shanghai und Reykjavik, im April 2016

Literaturverzeichnis Adorno, Theodor W. (1970): Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959 bis 1969. Frankfurt am Main (Suhrkamp), S. 133–147. Habermas, Jürgen: „Nachwort“ (1968), in: Habermas, Jürgen (Hg.): Friedrich Nietzsche. Erkenntnistheoretische Schriften. Frankfurt am Main (Suhrkamp), S. 237–261. Horkheimer, Max (1937): „Bemerkungen zu Jaspers’ ‚Nietzsche‘“. In: Zeitschrift für Sozialforschung Heft VI, S. 407–414. Janaway, Christopher und Simon Robertson (2012): „Introduction: Nietzsche on Naturalism and Normativity“. In: Janaway, Christopher und Simon Robertson (Hg.): Nietzsche, Naturalism, and Normativity. Oxford (Oxford University Press), S. 1–19. Montinari, Mazzino (1982): Nietzsche lesen. Berlin, New York (de Gruyter). Overbeck, Franz (1906): „Erinnerungen an Friedrich Nietzsche“, hg. von Carl A. Bernoulli, in: Die Neue Rundschau Band 16, S. 209–231 und S. 320–330. Reschke, Renate (1989): „Friedrich Nietzsches ‚Fröhliche Wissenschaft‘ oder Vom zerbrechlichen Gleichgewicht einer Philosophie“. In: Reschke, Renate (Hg.): Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft (›la gaya scienca‹). Leipzig (Reclam), S. 357–413.

Analysen – Formen und Quellen der Kritik bei Nietzsche

Luce Irigaray

Overcoming Nihilism Following Nietzsche’s Teaching Abstract: Overcoming Nihilism Following Nietzsche’s Teaching. For want of beginning from a determined subjectivity, Nietzsche was forced to continue going round the question of overcoming nihilism within the same horizon. Only his sexuate identity could provide him with a positive way out because it corresponds to a bridge between nature and culture which allows for a passage from the one to the other and a cultivation of our natural origin that our tradition lacks. Nietzsche’s sexuate identity could provide him with a syntax which did not force him to stay subjected to the logos of Platonism, to the Platonic logic. Sexuate belonging gives us a double means to transcend our nature: cultivating our own nature towards our human blossoming and cultivating our sexual attractions towards the fulfillment and sharing of our human desire.

1 A Companion of My Life For a long time, Friedrich Nietzsche has been a companion of my life. This companionship is different from that of Heidegger, or even Hegel, whose texts I read and reread almost every day. It is true that at a certain epoch of my life, I had at all times a book of Nietzsche with me, especially Thus Spoke Zarathustra, and it was not only because I was writing Marine Lover. The writing of this book happened as a consequence rather than as a cause of this. The real reason was that listening to Nietzsche’s words was necessary for my will to continue living. There is probably no need for me to make clear that Nietzsche was a companion of tragedy and not the dandy, funny, superficial character, in a way the superman as is imagined by many Nietzscheans who, to give only an example, smoke a cigar or wear a cap to teach the work of Nietzsche in some American universities. In my opinion, to perceive and to try to say something about the thought of Nietzsche rather requires experiencing a complete destitution, asceticism, and solitude. It is in such conditions and circumstances that I began to hear the voice of Nietzsche and he became a companion of my life. I felt myself close to the man who spent periods of cold weather almost without heating in the mountains of the Graubünden, who had fragile health and was afraid of losing his sight, and to whom the springtime finally brought a new vigor, a new sap, which inspired his book Dawn, the man who remained alone apart from his friend Peter Gast. I think

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that it is perhaps in such a total abandon and poverty that new horizons for life and thought can, and must, be opened. Am I, in this way, saying that Nietzsche and I are companions in misfortune, or in unhappiness? Not at all. Rather, I am saying that, as Nietzsche, I wanted and I still want to live, and living always entails a tragic destiny. No doubt, suprasensitive values have been imposed on us by our culture aimed at rendering us unaware of such a truth, and even at anaesthetizing us in this respect. But these values, at the same time, prevented us from living. And each time something has been unveiled of this reality, the sociocultural body has expelled the one who tried to wake, and awaken others, about what living meant and how to cultivate one’s own life, instead of letting it be molded and held in abeyance by values extraneous to it. The thing is particularly obvious with the academy and all those who imagine that they are the custodians of culture. And it is not by chance that I, not unlike Nietzsche for his own health reasons, have been dismissed from teaching at the university. We represented a real danger for the academic world and its way of conceiving culture, which has more to do with sterilizing life than developing it. For my part, the fact that I have been expelled from the university, and from all the intellectual circles that constituted my cultural environment, has sent me back to nature and to the early Greek culture, at a time when cosmos and logos were not yet divided from one another. If I defended the same values as Antigone, I had the fortune not to be deprived of my relation to air, and to the light and the warmth of the sun because my contemporaries did not consider that they had value enough for sentencing me to death by depriving me of them, as it was the case with Antigone – the most emblematic figure of the tragedy that the Western tradition represents. For them, social and cultural backgrounds were the only important things of which they had to deprive me. And it is true that most of people today have become only what has been imposed on them as constructed environment, and have lost their living energy in forms which have nothing to do with their natural forms and a living development. They have become nothing regarding their own life, regarding life itself. Indeed, life is endowed with forms of its own, and if these are neutralized by constructed forms extraneous to it, life vanishes in this process. Perhaps being expelled from my sociocultural background was not completely deadly for me because, from my infancy, I sought refuge in nature, and especially in the vegetal world. Thus, I could survive and even start wondering about what life was. I had opted for life, too, during my first university course when I refused to think in a neuter way and tried hard to remain who I was as a living being: a woman. It was not an easy matter! However, without yet knowing his words, I was already faithful to Nietzsche’s teaching: Become who you are.

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This task is not obvious for a human, because, differently from plants, we have neither simple nor fixed roots. Developing those who we are in fact requires us first to free ourselves from all the constructions which have molded our natural belonging without cultivating it. But how to undertake to do that without a clear living rooting? Rejecting me outside of their world after the publication of Speculum, the presumed keepers of our culture helped me to clear the way. They could not tolerate that I attempted to think as a living being, that is, as a sexuate being. They demanded from me thinking as a neuter, better a neutralizing, living being. Now this is radically impossible! Any thought is sexuate, even if it is not recognized as such, including by the thinker. Only technical or mechanical comments, or even discourses, can be asexuate, but they start from, or apply to, a thought without amounting to thinking. A machine can use a thought, but it cannot think by itself. Unfortunately, many intellectuals stop at a mechanical or imitative stage of the mental functioning. Now, thinking asks for overcoming this phase.

2 A Cultivation of Energy Allowing Us to Leave Platonism But how to be a human without thinking and when remaining a sort of automaton? Is not thinking both the condition and the flowering of our living being as human? That said, flowering for the one who has no fixed roots planted in a fertile soil is not obvious. How could Nietzsche discover other roots after having given up the ideal roots with which Platonism had provided him? Turning the Platonic model upside down was almost impossible without substituting for the Platonic Idea and the Good another anchoring of energy. It is this anchoring that Nietzsche lacked. And, by spreading his energy here and there without a place for collecting, concentrating, and transforming it, he could only come to exhaustion. If Nietzsche had really inspired intuitions about the impasses of our Western tradition and its necessary deconstruction, if he glimpsed – as and differently from Heidegger – the possibility of another horizon of life and of thought, he did not succeed in completely opening up and entering a new world. Contrary to certain interpretations of Nietzsche’s work, I do not think that the “eternal return” corresponds to an end regarding his intention, but, rather, to a starting point which allowed him to give up his past culture in order to elaborate another one suitable for becoming the man he wanted to be. The fact that Nietzsche, then, spoke of a superman, and not of becoming the man he was, reveals the point about and from which many of his commentators wander, in my opinion, and, perhaps, Nietzsche himself lost his way. Indeed, this

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superman would amount to a mere turning upside down of Platonism without really leaving its economy. The matter would be one of freeing energy from idealities, but without shaping it differently. In reality, the Ideas and the Good already correspond to a will-to-power of man. And giving them up without renouncing the masculine will-to-power undoes the past world, but is not sufficient to construct another world. This might even endanger the human being, and also human life, if another way of arousing and structuring energy is not supplied. Such care must intervene at least at two levels: at a vital level and at a level which ensures the passage from bodily matter to psychological and spiritual matter. No doubt, Nietzsche paid attention to the existence of the body, but perhaps not in an adequate way. For example, if he cared about his diet, especially in order to maintain the good functioning of his intestine, he did not worry enough about breathing. Now, the combustion of food needs a good ventilation of the organism. And if one objects that Nietzsche often lived in the mountains, I will answer that air in the mountains is rarefied and that, as such, it is more favorable to thinking than to digesting. I am also afraid that Nietzsche, more often than not, speaks about the body without taking charge of his body. Would this be a masculine feature? At least in Western culture? For example, why didn’t Nietzsche, who approached Eastern traditions, try to do yoga as a help in order to carry out his way? Cultivating one’s breathing is a means not only to survive but also to develop one’s natural energy toward its transformation into a loving and thinking one. Is it because I live in another epoch or because I am a woman that I resorted to yoga when I was left on my own, and felt my life endangered? Probably some Nietzscheans will laugh at the picture of Nietzsche doing yoga. Is it not symptomatic of a remainder of Platonism? Are they not stopping at an idea of the body instead of taking care of their living body? As Nietzsche himself in great part still did? Might this be because the Western man remains dependent on his mother, including on nature as his mother, to survive? Indeed, living by oneself first requires breathing by oneself. For overcoming a sociocultural background which has used and molded breath in a certain way, one needs to learn consciously to breathe and to cultivate one’s breathing as a condition of an autonomous life and a development of one’s own energy. Nietzsche did not think about this elementary truth, as is the case for most of Western thinkers. Be they idealist or materialist, they forget that breathing is a requirement for living by oneself and for going from a vital bodily subsistence to a cultural and spiritual existence. If air is an element essential to our bodily subsistence and functioning, it can also be transformed into the material allowing us to pass to a transcendental level without resorting to idealities. Cultivating one’s breathing is certainly the first prerequisite for the one who aspires to overcome nihilism. For lack of cultivating

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one’s breathing, one remains trapped in a culture which keeps the breath in abeyance through idealities which can lead us to nothing. Might such idealities not substitute for a mothering presence yet with the risk of annihilating our life instead of contributing to its preservation? Does not our cultural horizon act as a kind of collective placenta which provides us with an artificial breathing, which prevents us from thinking in a personal and autonomous way? Is not breathing by oneself the first step towards becoming the superman, or, better, the new man whom Nietzsche wanted to be? And, by the way, dwelling in the woods, surrounded by trees and other plants, is then a better choice than staying in the mountains accompanied by some animals that, perhaps, can bring food to you, but not air and breath. What is more, any newborn needs warmth and a good balance between the elements in order to develop, and the mountains are not the best place for the survival and the growth of a fragile existence. Nietzsche was really a Western idealist or a little incoherent materialist! And this happens to many Western people who do not realize that they were born and must take charge of their living existence by themselves without leaving such care to some maternal substitute. Nietzsche did not care enough about cultivating his living energy. Now, this was all the more necessary since his work involved a great part of heated criticism and, if this can bring adrenaline, it neither maintains nor develops an ongoing energy. And what does the will-to-power mean without energy? What feeds it?

3 Sexuation as a Possible Substitute for Idealities If Nietzsche finally remained short of energy to pursue his work, even at a critical level, neither does he seem to have discovered the means of structuring energy in order to carry out the positive part of his work: becoming a new man in comparison with the old man of the West. He lacked a framework for shaping living energy in a way different from Platonism and also from Aristotelianism. However, he could use his sexuate belonging as a framework to relate to the world, to the other(s), and first to himself. In any case, his male and masculine identity intervened as a framework in his way of living and thinking, but without his knowing. No behavior, no intention, no discourse, can be indifferent to the sexuation of the Subjekt. And the worst error of our culture is probably to have believed that the way of perceiving and saying could and ought to be neuter. Perhaps such a mistake results from the fact that the Greeks put the stress on what was perceived, and not on who was perceiving. To wonder about subjectivity was not yet a problem for them. The Subjekt as such did not yet exist, even if

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man began to interpret and to organize the world in a specific way. But he did not yet know that, and I am not sure that even today he recognizes this fact. However, becoming aware of this reality could bring about more lucidity and provide him with a framework to structure his energy. But he ought, then, to accept that he cannot decide alone concerning truth and the government of the world. Could Nietzsche agree with such a perspective, perhaps the only one that makes overcoming nihilism possible, while taking his teaching into account? To undertake such a change in our way of thinking requires us to consider two main stages in our development. First, we must admit that the mode in which we perceive the real and gather it into a whole, especially through language, is not neuter but sexuate. I discovered this irrefutable truth, beyond my own experience, by means of many surveys of language conducted with mixed populations of various ages, cultures, and socio-cultural backgrounds (Irigaray 1987; 1989; 1990; 1993; 1993a; 1996). I hope I have begun to make clear that to sexuate belonging corresponds a specific syntax, that is, a particular way of structuring the relations with the world, the other(s), and oneself. If this fact can appear to be a sacrilege with respect to our traditional truth, and even to our social and political rules and norms, it is nevertheless quite understandable at least for two reasons: first, our body already has a morphology of its own which is different for a man and a woman, and this determines our manner of approaching everyone and everything, including space and time; second, the relational context of our birth is different according to whether we are a boy or a girl, and we will build our relational world starting from these original data. As a crucial example, it is not the same to be born of a person of the same sex with the possibility of engendering as her, as is the case for the girl, and to be born of a person of another sex without the possibility of engendering as her, as is the case for the boy. In a few words, I could say that the uncertainty with respect to his origin is greater for the latter, the former being to a certain extent at the origin and even the origin of which the latter is in search. It is one of the aspects of the relational context of our birth that, too often, covers others. The question of the relation to our origin generally conceals that of our sexuate belonging – the mother being considered to be nature – even if it is already dependent on our gender in the manner of arising. The intertwining of these two original and determining components of our existence often leads us to enter and stay in a vicious circle. A circle which has something to do with the eternal return of the same, out of which it is possible to go by assuming our sexuation as a framework starting from which we can build our existence.

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4 How to Become a New Man Perhaps Nietzsche had this intention when he said that he needed a woman to pursue his path. However, he could begin alone to use his masculine belonging as a framework to build a new way of existing and thinking. Instead of doing this, he continued resorting to an external framework – or a Gestell as Heidegger says in his text on The Question Concerning Technology – to relate to the real: the technique that logos itself represents. But this choice gave rise to problems for finding a syntax suitable for overcoming the past metaphysics that he criticized. And it is not by chance that his discourse has generally remained fragmented: he lacked a syntax of his own to structure his insights. Now his sexuate identity could provide him with a syntax which did not force him to stay subjected to the logos of Platonism, to the Platonic logic. The first, preliminary gesture was, thus, to assume his subjectivity as determined and partial, and not as that of a universal and neuter individual. Because subjectivity, then, amounts, originally, to nothing and must be embodied through its relations to “objects”, as Hegel taught us. But if Hegel aimed to recapitulate the evolution of Western thought, Nietzsche aimed to leave behind its foundations and its logic in order to overcome the nihilism inherent to our tradition. For want of beginning from a determined subjectivity, Nietzsche was forced to continue going round the question of overcoming nihilism within the same horizon. Only his sexuate identity could provide him with a positive way out because it corresponds to a bridge between nature and culture which allows for a passage from the one to the other and a cultivation of our natural origin that our tradition lacks. No other determination is sufficient to achieve such a purpose, because none offers the opportunity to transcend nature while staying faithful to it. The morphology of our sexuate body is a framework provided by nature to get over a mere material and empirical constitution. Furthermore, it is what procures not only a syntax for building a world of our own but also a syntax for us entering into relations with the other(s). It allows us to construct our horizon, but also compels us to go beyond this horizon in order to form and generate a world with the other, a world that will be built and shared through cultivating our natural difference. Sexuate belonging gives us a double means to transcend our nature: cultivating our own nature towards our human blossoming and cultivating our sexual attractions towards the fulfillment and sharing of our human desire. The latter point corresponds to the second step that Nietzsche ought to have carried out to overcome nihilism. Obviously, this gesture forced him to give up the will-to-power which arose only within, and from, himself. But, in my opinion, such pretention was more reactive than really taking part in the generation of a

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Luce Irigaray

new man in an affirmative and creative manner. And, as we know, it led Nietzsche to exhaust his energy potential, and ended in nothing but a mere and provisory survival. Sharing desire with a different other entails agreeing with the limits of one’s own will, but brings energy resources for pursuing one’s journey. If Nietzsche seems to have felt belated longing for such a sharing at all levels, he had not the chance of meeting the woman with whom the thing was possible. It is true that this does not happen frequently in our traditional context, within which we remain more often than not torn between sexual relations and cultural relations without being able to reach sharing at a global level. Our conception of values does not train us to estimate the potential of carnal sharing at all levels. No doubt, we assess the reproductive power of sexual intercourse, but we do not consider it to be the origin of humanity not only at a natural level but also at a spiritual level. Now, it is the place where we can be born and reborn, or spring up again. And a new world, as a new man, cannot exist outside of a new relationship between the two parts which compose humanity. To realize this truth perhaps can lead to turning Platonism upside down without venturing to fall into a worse nihilism. Indeed, it requires us to start from the real, especially the real that we are, in order to undertake its cultivation as living, instead of suspending the development of life on idealities which paralyze its growth and its sharing in difference. Following this way asks of us to substitute an ethical behavior for subjection to moral rules, that is, to respect all living beings and the environment that they need, instead of subjecting them to abstract and presumed universal rules which remove them from their natural roots. Moreover, if idealities aimed at keeping nothingness outside the valid horizon, then to consider the qualitative difference between living beings, and first between the man and the woman, as a place which needs the respect for transcendence, demands from us taking at each moment the negative, and even nothing, into account in order to be, or to become a new human. Henceforth, I am only if I accept that I am not you. Far from attempting to annihilate or deny the nothing that exists between us, I use it to maintain the difference between two natural identities, two subjectivities, and two worlds. In this way, I both permit their particular individuality to develop and render possible the fecundity of their meeting in difference. In such a perspective, we continuously combine natural generation and cultural creation. And the first task – in particular the first work of art – that we have to achieve is to make each one of us blossom as a human living being capable of sharing in difference with another living being.

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5 To Conclude Conceiving the negative or the nothing in this way allows us to resort to a dialectical process at the service of a dialogue in difference and the construction of a shareable world. On the contrary, Hegelian dialectics aims at overcoming nothingness by defining a unique absolute corresponding to whatever human subjectivity and objectivity; which erases the difference between subjectivities and objectivities and prevents their real and natural encounter from happening. Moreover, the Hegelian way of overcoming nothing, in fact, leaves consciousness being what it was at the beginning for him: nothing. And this can be at the origin of any nihilism. I, thus, propose starting with a consciousness determined in a way that is faithful to a natural identity but allows for transcending and cultivating it, that is, starting from a consciousness which is sexuate. Consciousness will, then, little by little develop through both cultivating its own belonging and entering into dialogue with another consciousness while respecting its irreducible, thus, transcendental, difference. In this way, each consciousness keeps natural energy for evolving and moving, and can at any time return to its natural origin, in order to be faithful to it and its limits, which permits each one to share and grow with the other without giving up its own development. The will-to-power now corresponds to cultivating the vigor – I would like to say the sap – with which life provides us, notably through its sharing. This can happen only if we become able to behave with ethics and sensitivity toward the other different from ourselves. And such a behavior needs to practice justice and love, the two conditions that Nietzsche considered essential to reaching a new humanity and building a new world.1

Bibliography Irigaray, Luce (1987): „L’ordre sexuel du discours (Le sexe linguistique)“. In: Langages. 21(85), 81–23. Irigaray, Luce (1989): Thinking the Difference. For a Peaceful Revolution. London/New York (Athlone). Irigaray, Luce (1990): Sexes et genres à travers les langues. Paris: Grasset. Irigaray, Luce (1993): Je, Tu, Nous. Toward a Culture of Difference. London/New York (Routledge).

1 Written in the Alps in July 2014. I heartily thank Michael Marder for rereading my English version of the text.

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Luce Irigaray

Irigaray, Luce (1993a): “Importance du genre dans la constitution de la subjectivité de de l’intersubjectivité” (Genres culturels et interculturels). In: Languages 27(111), 12–23. Irigaray, Luce (1996): I Love to You. Sketch of a Possible Felicity in History. London/New York (Routledge).

Markus Kleinert

„daß der Mensch der Verklärer des Daseins wird, wenn er sich selbst verklären lernt“ – Nietzsches Neigung zur Verklärung Abstract: “that man becomes the transfigurator of existence, if he learns to transfigure himself” – Nietzsche’s Tendency towards Transfiguration. To address the topic of transformation, Nietzsche prefers the term Verklärung (transfiguration). The first part of the paper outlines this term’s conceptual history, reconstructing its complex meaning (glorification/explanation) and highlightning Luther’s terminological and theological impact. The second part of the paper demonstrates Nietzsche’s in both quantitative and qualitative respect notable use of the term and indicates in which ways Nietzsche draws on the conceptual background, including the religious concept of transfiguration (emphasis on structural characteristics of transformation like corporeity, overcoming, transience). The cross-cultural interest in the topic of transfiguration is illustrated by the example of transcendentalism in the third part of the paper, before some preliminary conclusions are drawn.

1 Luthers Prägung des Verklärungsbegriffs „Verklärung ist ein schöner, jetzt vielgebrauchter, zunächst aber unbestimmter Ausdruck.“ Das hält der Hegel-Schüler Karl Rosenkranz 1834 in seinem Tagebuch fest, und er bestimmt den Ausdruck dann folgendermaßen: Unmittelbar bezeichnet er das Lichtwerden des Dunkeln. Mittelbar den Übergang aus dem Verworrenen ins Geordnete, den Verstand Anmuthende. Weiterhin das Übergehen von einem niedrigern Zustand in einen höhern überhaupt. Hierbei ist aber zu merken, daß nicht nur von quantitativer Steigerung, sondern auch von qualitativer Veränderung die Rede sein muß. Wir nennen z. B. Verstorbene auch Verklärte. (Rosenkranz 1854, 3)1

Aufhellung, Entwicklung zum Klaren und Deutlichen, sich qualitativ auswirkende Weiter- und Höherentwicklung – das wären demnach die wesentlichen Bedeutungen des Verklärungsbegriffs bei wörtlicher und übertragener Verwendung.

1 Vgl. Dorschel 2013, 270f.

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Doch lässt sich damit schon die konstatierte Attraktivität und Verbreitung erklären? In seiner Abhandlung Die Verklärung der Natur, die Rosenkranz drei Jahre später in der Zeitschrift für spekulative Theologie veröffentlicht, versteht er unter Verklärung im Einklang mit seiner Definition einen auf vielfältige Weise erfolgenden Prozess der Vergeistigung, der im Christentum kulminiert, ohne dass jedoch die biblische Begrifflichkeit der Verklärung berücksichtigt würde (Rosenkranz 1837). Die Bedeutung des Verklärungsbegriffs bleibt so trotz des Definitionsversuchs und trotz oder gerade wegen vielfacher Verwendung schillernd. Was mag da Nietzsche dazu bewegen, die mit seiner fundamentalen Kritik verbundene Aussicht auf eine ebenso fundamentale Verwandlung so auffallend oft und nachdrücklich als Verklärung zu bezeichnen (beziehungsweise als Transfiguration)? Um diese Frage zumindest ansatzweise beantworten zu können, ist zunächst die zeitgenössische Komplexität des Verklärungsbegriffs zu rekonstruieren, ehe Nietzsches Affinität zu dem Begriffskomplex anhand einiger Belege aus dem Werk illustriert und durch Aufweis des dabei realisierten semantischen Potentials plausibilisiert werden kann; dabei werden auch einige kulturgeschichtliche Kontexte angedeutet. Der Begriff ‚Verklärung’ hat im 19. Jahrhundert zwei Hauptbedeutungen: Verherrlichung und Erklärung, wobei erstere im gewöhnlichen oder religiösen Sinne verstanden werden kann (DWB 1854–1961, XXV, 654f.). Im religiösen Sinne, der bei Rosenkranz nicht expliziert wird, bezieht sich die Verklärung auf das Gottesattribut der Herrlichkeit und das entsprechende biblische Begriffsfeld (kabod, doxa, gloria), einschließlich der Lichtsymbolik von Glanz und Strahlenkrone. Sie ist besonders mit einer Episode des Neuen Testaments verbunden, in der Herrlichkeit auf einzigartige Weise dargestellt wird: mit der Verklärung Jesu auf dem Berge (Mk 9,2–10 parr.). An dieser Stelle ist der Einfluss Luthers zu vermerken, der die im Griechischen als ‚Metamorphose’ bezeichnete Verwandlung Jesu in seiner Bibelübersetzung – damit eine in der deutschsprachigen Kirche bereits vorkommende Begrifflichkeit aufnehmend (Reiser 2007, 29) – mit ‚Verklärung’ wiedergegeben hat. Die Vulgata ist mit der Übersetzung ‚transfiguratio’ konservativer. Die durch die Lutherbibel autorisierte und popularisierte Terminologie ruft zusätzliche und andere Vorstellungen hervor, und sei es auch nur, dass der visuelle Aspekt der Verwandlung, das Leuchten (claritas), betont wird. Luthers Einfluss ist für unser Thema noch in anderer Hinsicht zu beachten, da seine Theologie mit dafür verantwortlich sein dürfte, dass die Verklärungsperikope im protestantisch geprägten Kulturkreis verhältnismäßig wenig Interesse gefunden hat. Diese Vernachlässigung ist keineswegs selbstverständlich, ist die Verklärung in den synoptischen Evangelien doch schon durch ihre zentrale Positionierung hervorgehoben. Der Aufstieg von Jesus mit drei Jüngern auf einen hohen Berg, seine Verwandlung („und sein Angesicht leuchtete wie die Sonne“,

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Mt 17,2; „und seine Kleider wurden hell und sehr weiß, wie sie kein Bleicher auf Erden so weiß machen kann“, Mk 9,3), das Erscheinen von Moses und Elias, die Bestürzung und Benommenheit der Jünger, die Bekräftigung der Gottessohnschaft durch die Stimme aus der Wolke, der Abstieg, die Ratlosigkeit der Jünger mit Bezug auf das, was sie da gerade erlebt haben – dieses Ereignis bleibt irritierend. Luther nimmt vor allem im Anschluss an II Kor 3,7–18 in typologischer Weise darauf Bezug, demnach verdeutlicht die Verklärung auf dem Berge, dass der dauerhafte Glanz des Evangeliums den vergänglichen Glanz des Gesetzes endgültig überstrahlt hat. Schwierig zu fassen bleibt der Zusammenhang von Transfiguration und Passion, Vorschein der Herrlichkeit und Vorausdeutung auf das Kreuz, da die Überwältigungsästhetik der Verklärung eher dazu verführt, den Aspekt der Herrlichkeit aus dem heilsgeschichtlichen Zusammenhang herauszulösen und zu verabsolutieren („Herr, hier ist gut sein!“, Mt 17,4). Eine derart vereinfachte und verfälschte Verklärung passt zu einer auf Gottes unverborgene Herrlichkeit gerichteten Theologie, in der das Kreuz dezentriert, als spekulatives Moment oder moralisches Werk relativiert ist. In scharfem Kontrast zu einer solchen ‚Theologie der Ehren’ hat Luther in seiner Heidelberger Disputation von 1518 die eigene ‚Theologie des Kreuzes’ dargestellt, der zufolge dem Menschen nur durch Leiden und Kreuz die unter ihrem Gegenteil verborgene göttliche Offenbarung zugänglich ist.2 Diesen Gegensatz pointiert die 21. Disputationsthese: „Theologus gloriae dicit malum bonum et bonum malum, Theologus crucis dicit id quod res est.“ (Luther 1883, 354)3 Wenn es auch ein Missverständnis ist, dass Luthers theologia crucis schlechterdings Abwendung von der Herrlichkeit fordere, wohingegen sie durch Kritik der theologia gloriae das Fundament einer angemessenen Rede von der Herrlichkeit bildet (Lexutt 2008), so hat dieses Missverständnis doch dazu beigetragen, dass die Thematik der Herrlichkeit und Verklärung im Protestantismus, in ähnlicher Weise aber auch in der katholischen Kirche an den Rand gedrängt worden ist – was besonders deutlich wird, wenn man die Bedeutung der Verklärung für die Ostkirchen dagegenhält. Diese Marginalisierung hat Folgen nicht nur für die religiöse Sphäre, sie ist eine Voraussetzung dafür, dass die Verklärungsterminologie und der Diskurs über Verklärung in der westlichen Moderne primär in die Kunst und Philosophie überführt werden. In den vorherrschenden theologischen Positionen des 19. Jahrhunderts wird die Verklärungsperikope beiläufig als Vision, Traum, Mythos oder auch Naturphänomen gedeutet,4 wobei sich durchaus, etwa bei David Friedrich Strauß, im Hin2 Vgl. z. B. Westhelle 2014. 3 „Der Theologe der Ehren nennt das Böse gut und das Gute böse. Der Theologe des Kreuzes nennt die Dinge beim rechten Namen.“ (Luther 1933, 117). 4 Einen Überblick vermittelt z. B. Moulton 1901, 176–188.

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blick auf Nietzsche interessante Beiträge finden. Und ist es nicht merkwürdig, dass sich nach Nietzsches Tod ausgerechnet Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff noch an der Exegese der Verklärungsperikope beteiligt (Wilamowitz-Moellendorff 1967 [1926])? Innerhalb der religiösen Sphäre wird die Verklärung am ehesten in heterodoxen oder esoterischen Strömungen behandelt, nicht zuletzt zur Neubewertung des Verhältnisses von Kreuz und Herrlichkeit. Viel bedeutsamer erscheint die Verklärung jedoch außerhalb der religiösen Sphäre: in der Kunst, insbesondere in der Literatur, von Jean Paul über Stifter bis zu Fontane (wobei hier zwischen religiösen und nicht-religiösen Verklärungsbegriffen nicht immer eindeutig zu unterscheiden ist), und in der Philosophie – dafür ist Nietzsche das Musterbeispiel. Wenn man diese begriffsgeschichtlichen Linien bis in die Gegenwart verlängert, wird verständlich, weshalb hier solch aufwändige Rekonstruktion nötig ist. Im 20. Jahrhundert wird die Mehrdeutigkeit der Verklärung auf die Bedeutung der Verherrlichung reduziert, dabei vor allem auf deren negative Variante, die Beschönigung; das religiöse Verständnis von Verherrlichung verliert entsprechend dem Verlust religiöser Bildung an Relevanz. Das zeigt sich innerhalb der Kirchen – welcher Kirchgänger verbindet schon viel mit dem Fest der Verklärung? – wie in der säkularen Gesellschaft, denn die Verklärung gehört nicht zu den Elementen der christlichen Tradition, die als Bildungsgut unter säkularen Bedingungen konserviert werden – wie viele Passagiere eines ICE denken beim Halt in Montabaur wohl an den Mons Tabor (den Berg, der seit dem frühen Christentum mit dem Berg der Verklärung identifiziert wird)? Die Irrelevanz oder genauer Latenz der Verklärungsthematik spiegelt sich in der Forschung: Nur wenige Studien befassen sich in systematischer Weise mit dem Thema der Verklärung, und diese sind zum Teil von religiösen oder weltanschaulichen, etwa anthroposophischen Positionen geprägt, die sowohl die Sensibilität für das Thema wie dessen Behandlung beeinflussen.5

2 Nietzsches Aneignung des Verklärungsbegriffs Setzt man die vorangestellten Fragmente zur Begriffsgeschichte der ‚Verklärung’ zusammen, wird auch verständlich, weshalb der Begriffskomplex in der NietzscheForschung lange Zeit wenig beachtet und in den entsprechenden Glossaren meist übergangen wurde (das gilt noch für einen großen Teil der aktuellen Literatur). 5 Vgl. z. B. die katholisch, protestantisch bzw. anglikanisch geprägten Arbeiten von Anton de Waal, Konrad Onasch und Arthur M. Ramsey (Waal 1912, Onasch 1944, Ramsey 1969 [1. Aufl. 1944]); die grundlegende, anthroposophisch geprägte Studie von Manfred Krüger (Krüger 2003); die Ideengeschichte der Verwandlung von Andreas Dorschel (2009, v. a. 49–84).

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Doch sind einige Ausnahmen zu erwähnen: So hat Manfred Kaempfert in seiner 1971 erschienenen Studie zur religiösen und religionsbezogenen Sprache bei Nietzsche dessen Affinität zum Begriffskomplex der Verklärung vermerkt (und das, obwohl in dem der Studie beigegebenen Wörterbuch nur ungefähr ein Drittel der Belege verzeichnet sind, Kaempfert 1971, 486–489). Später hat zum Beispiel Paul van Tongeren dargelegt, dass die Transfiguration, vor allem Raffaels Gemälde, für Nietzsche in allen Werkphasen ein orientierendes Sinnbild bleibt, nicht zuletzt im Hinblick auf das Konzept der Autobiographie (Tongeren 1994, vgl. Anderson 2009). Unter Bezugnahme auf die Schriften der mittleren Werkphase wurde die Verklärung zu Nietzsches Chiffren des ‚Südens‘ (Bretz 1996) und des ‚großen Lebens‘ (Nicodemo 2012) ins Verhältnis gesetzt. Heinrich Detering hat die Verklärungsthematik im Spätwerk verfolgt, bis in die letzten Briefe hinein, mit besonderer Rücksicht auf die temporale und narrative Struktur, die Spannung zwischen Zeitlosigkeit und Geschichte (Detering 2010). Diese Studien konzentrieren sich auf die Bedeutung der Verklärung in Nietzsches Werk, lassen dabei aber die komplexe Begriffsgeschichte mehr oder weniger außer Acht, indem etwa auf die biblische Verklärung verwiesen, nicht aber die Deutungs- und Wirkungsgeschichte der Verklärungsperikope berücksichtigt wird – und das dürfte auch der Grund sein, weshalb kulturgeschichtliche Kontexte, die Präsenz der Verklärungsthematik in Nietzsches unmittelbarem und literarisch vermitteltem Umfeld gar nicht erst in den Blick geraten. Eine Ausnahme bildet in dieser Hinsicht Louis Marin, der die Präsenz der Verklärungsthematik bei Stendhal und Nietzsche parallelisiert hat, (Marin 1988).6 Wenn nun die Präsenz des Begriffskomplexes der Verklärung in Nietzsches Werk anhand einiger Belege illustriert wird, dann können die begriffsgeschichtlichen Überlegungen vielleicht dazu beitragen, Nietzsches Affinität zu diesem Begriffskomplex etwas besser zu verstehen (und nicht nur Nietzsches). Fällt im Zusammenhang mit Nietzsche das Stichwort Verklärung, kommen einem als Erstes gewiss die frühen Schriften in den Sinn, die Tragödienschrift mit der Beschreibung von Raffaels testamentarischer Transfiguration (GT 4, KSA 1, 39f.), vielleicht auch jene eindrücklichen Passagen aus der Betrachtung über Schopenhauer als Erzieher, in denen die durch den Genius verklärte Natur „die grosse Aufklärung über das Dasein“ ausspricht (SE 5, KSA 1, 380). Der Verklärungsbegriff ist in den frühen Schriften allgegenwärtig, auch in einer Vielzahl von Nietzsche geprägter Begriffskombinationen. Die damit bezeichnete Rechtfertigung des Daseins kann auf verschiedene Weise erfolgen, durch die Tragödie (mit ihrer symbolischen Verschränkung von dionysischer Welterlösung und apollinischem Verklärungsschein), durch die wissenschaftliche Rationalisierung,

6 Ansätze zur hier entwickelten Perspektive finden sich in Kleinert 2012.

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nicht zuletzt durch die Musik, deren „verklärende Macht […] alle Dinge verwandelt aussehen“ lässt (NL 1869, 3[54], KSA 7, 75);7 wobei diese Weisen nicht zu vereinheitlichen, sondern nur per Analogie zu vergleichen, auch nicht zu beherrschen, sondern nur in ihrer Eigendynamik zu beobachten sind. Mit dem Verklärungsbegriff wird so einerseits eine Funktion bezeichnet, andererseits lassen sich bei der Beschreibung konkreter Möglichkeiten, diese Funktion zu erfüllen, Bedeutungskomponenten des Verklärungsbegriffs miteinander kombinieren: die Aufklärung erscheint als Modus der Verherrlichung, die künstlerische Darstellung der biblischen Verklärung als intuitiv fassliche Philosophie. Daneben verwendet Nietzsche den Verklärungsbegriff auch im Sinne der Beschönigung, der unechten oder unberechtigten Verherrlichung. So könne der moderne Mensch die griechische Antike gar nicht schätzen, „hätte [sie] nicht diese traditionelle Verklärung um sich“, würde er sie „mit Abscheu von sich stossen: die Verklärung also ist unächt, von Goldpapier.“ (NL 1875, 3[14], KSA 8, 18)8 Auch in Nietzsches aphoristischen Schriften bleibt der Verklärungsbegriff präsent, man denke zum Beispiel an den Aphorismus „Die guten Drei“ aus Der Wanderer und sein Schatten, dessen Feier zugleich erhebender, beruhigender und aufhellender Gedanken, „in denen alles Irdische zur Verklärung kommt“ (WS 332, KSA 2, 697f.), wie ein halkyonisches Gegenstück zum eingangs zitierten Tagebucheintrag von Rosenkranz anmutet. Auffallend häufig und hervorgehoben erscheint der Verklärungsbegriff jedoch in den nachgelassenen Fragmenten der späteren Jahre. So zum Beispiel bei der Gegenüberstellung von ästhetischer Hingabe an des Lebens Überfluss und philosophischer Askese: In der Hauptsache gebe ich den Künstlern mehr Recht als allen Philosophen bisher: sie verloren die große Spur nicht, auf der das Leben geht, sie liebten die Dinge ‚dieser Welt‘, – sie liebten ihre Sinne. […] Ich wünsche mir selber und allen denen, welche ohne die Ängste eines Puritaner-Gewissens leben – leben dürfen, eine immer größere Vergeistigung und Vervielfältigung der Sinne; ja wir wollen den Sinnen dankbar sein für ihre Feinheit, Fülle und Kraft und ihnen das Beste von Geist, was wir haben, dagegen bieten. […] es ist ein Merkmal der Wohlgerathenheit, wenn Einer gleich Goethen mit immer größerer Lust und Herzlichkeit an ‚den Dingen der Welt’ hängt: – dergestalt nämlich hält er die große Auffassung des Menschen fest, daß der Mensch der Verklärer des Daseins wird, wenn er sich selbst verklären lernt. (NL 1885, 37[12],KSA 11, 587f.)9

7 Vgl. z. B. NL 1884, 25[241], KSA 11, 75: „Die Musik als Nachklang von Zuständen, deren begrifflicher Ausdruck Mystik war – Verklärungs-Gefühl des Einzelnen, transfiguration.“ 8 Vgl. z. B. NL 1874, 34[23], KSA 7, 799: „Überhaupt ist ‚verklären‘ jetzt das beliebteste Verfahren bei Dingen, die nicht reinlich sind […].“ 9 Vgl. NL 1885, 35[73], KSA 11, 541: „der Übermensch, der Verklärer des Daseins“; NL 1885, 35[84], KSA 11, 547f.

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Allerdings wird die Rolle der Künstler in derselben Aufzeichnung mit Verweis auf Wagners Pessimismus gleich wieder relativiert. Ja, am Maßstab der mit dem Namen Dionysos bezeichneten „höchsten bisher auf Erden erreichten Welt-Bejahung und Daseins-Verklärung“ versagen selbst die herausragenden Künstler der Moderne, wie Raffael oder Goethe (NL 1885, 41[7], KSA 11, 681).10 So gehört die Intensivierung der Wechselwirkung zwischen menschlichen Sinnen und weltlichen Dingen zu den Aufgaben einer Philosophie der Zukunft, ohne dass dabei bekannte Verwandlungsmuster einfach wiederholt oder erweitert werden könnten: „– es muß solche geben, die alle Verrichtungen heiligen, nicht nur Essen und Trinken: und nicht nur im Gedächtniß an sie, oder im Eins-Werden mit ihnen, sondern immer von Neuem und auf neue Weise soll diese Welt verklärt werden.“ (NL 1885, 1[127], KSA 12, 40) Diese Thematik ließe sich anhand von Nietzsches Andeutungen zur ‚Physiologie der Ästhetik‘11 entfalten und bis zur emphatischen Verkündigung der Verklärung in den letzten Manuskripten und Briefen weiterverfolgen, etwa der originellen Auslegung der trinitarischen Symbolik im Antichrist: Aber es liegt ja auf der Hand, was mit den Zeichen ‚Vater‘ und ‚Sohn‘ angerührt wird – nicht auf jeder Hand, ich gebe es zu: mit dem Wort ‚Sohn‘ ist der Eintritt in das GesammtVerklärungs-Gefühl aller Dinge (die Seligkeit) ausgedrückt, mit dem Wort ‚Vater‘ dieses Gefühl selbst, das Ewigkeits-, das Vollendungs-Gefühl. (AC 34, KSA 6, 206f.)

Doch die durchgängige und starke Präsenz des Begriffskomplexes der Verklärung in Nietzsches Werk ist hier hinreichend illustriert. Rückblickend auf Belegreihe und Begriffsgeschichte lässt sich der Versuch einer Antwort auf die Frage nach den Gründen für Nietzsches Neigung zur Verklärung wagen. Zunächst abstrakt: der Verklärungsbegriff verbindet die Idee des Wandels mit einer starken Wertung, deren Spektrum von der positiven Verherrlichung bis zur negativen Beschönigung reicht. Betrachtet man die derart qualifizierten Verwandlungen genauer, lassen sich strukturelle Entsprechungen zwischen Nietzsches Verklärungsbegriff und dem religiösen, insbesondere der Verklärung auf Tabor und ihrer Deutungsgeschichte, erkennen: beide betonen den Leib und die Dinge (religiös: Antlitz und Gewand), erscheinen als Steigerung und Überbietung (religiös: Gesetz und Evangelium), zudem handelt es sich jeweils um

10 Vgl. mit Bezug auf das Dionysos-Symbol NL 1885, 41[6], KSA 11, 680f.; ferner NL 1884, 26[3], KSA 11, 151: „Es [das Christenthum] verdirbt zuletzt gar noch den Begriff des Künstlers: es hat eine schüchterne Hypocrisie über Raffael gegossen, zuletzt ist auch sein verklärter Christus ein flatterndes schwärmerisches Mönchlein, das er nicht wagt, nackt zu zeigen. Goethe steht gut da.“ 11 Vgl. z. B. GM III 8, KSA 5, 351–356; NL 1887, 8[1], KSA 12, 323–326; NL 1887, 9[6], KSA 12, 341f. (vgl. AC 23, KSA 6, 189–191); NL 1887, 9[102], KSA 12, 393f.; NL 1887, 9[119], KSA 12, 403–405.

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eine zeitweilige Verherrlichung.12 Solche Entsprechungen können zu Nietzsches Vorliebe für den Verklärungsbegriff beigetragen haben, was nicht bedeutet, dass er den religiösen Bezugsrahmen übernommen hätte: er pointiert seine Distanz schon dadurch, dass er ein vernachlässigtes Element der christlichen Religion aufnimmt und gegen den Wertungsrahmen von Kreuz und Herrlichkeit stellt. Schließlich, und das gilt für Nietzsches Verklärungsbegriff wie für den christlichen, unabhängig von Gemeinsamkeiten und Unterschieden, darf die Dialektik der Verklärung nicht übersehen werden: die affirmierte Verwandlung setzt die Kritik des vorherigen Zustands voraus, in der emphatischen Bejahung ist die Verneinung noch zu vernehmen. Sonst wird die Verklärung eindimensional und banal: die christliche Verklärung zum Triumphalismus, die künstlerische Verklärung zum Kitsch, Nietzsches amor fati zur Identifikation mit dem Bestehenden.13 Gerade solchen Simplifizierungen begegnet Nietzsche mit seiner die Vorprägungen und Vielschichtigkeit nutzenden Aneignung des Verklärungsbegriffs, die das Konzept der Transformation spezifiziert.

3 Transfiguration und Transzendentalismus Was nun die Präsenz der Verklärungsthematik in Nietzsches Umfeld anbelangt, so würde es sich lohnen, die beiden im oben zitierten Fragment genannten Künstler, Goethe und Wagner, unter diesem Aspekt zu betrachten. Oder die von Nietzsche geschätzten russischen Autoren, was bei der Prägung durch die orthodoxe Kirche nicht überrascht. Ich möchte hier allerdings noch kurz auf einen weniger naheliegenden kulturgeschichtlichen Kontext eingehen. Dass Emerson in seinen Essays Raffael und die Transfiguration behandelt, ist bekannt. Weniger bekannt ist der Umstand, dass Emerson die Transfiguration zeitweilig als Sinnbild für den Concord Circle favorisiert, doch könnte das nur eine persönliche Vorliebe sein. Dagegen spricht, dass im Kreis der Transzendentalisten und in den von ihnen inspirierten geistigen Bewegungen die Transfiguration in religiösen wie profanen Varianten ein zentrales Thema bildet, das in einer Vielzahl von Schriften behandelt wird. Die Besonderheiten der deutschen Begrifflichkeit spielen dabei natürlich keine Rolle, doch ist diese intensive Beschäftigung mit dem Thema der Transfiguration schon deshalb bemerkenswert, weil sie die schematische Gegenüberstellung von Prominenz des Themas im Einflussbereich der

12 In dieser Hinsicht scheint die Verklärung Jesu religionsgeschichtlich singulär, Reiser 2007, 34f. 13 Vgl. den Beitrag von Christoph Türcke in diesem Band.

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Ostkirchen und Marginalisierung des Themas im Einflussbereich der Westkirchen unterläuft. Als ein Beispiel für diese Thematisierung der Transfiguration in der Neuen Welt sei die Rede „The Transfiguration of Life“ von James Freeman Clarke genannt, die postum 1909 im Verlag der American Unitarian Association veröffentlicht wurde.14 Clarke, der zum Transcendental Club in Concord gehörte, deutet die Verklärung Jesu als Vorbild für eine Verwandlung des Leibes, die diesen beseelt und dadurch verschönt, die dabei gar nichts Irrationales an sich hat und deren schwächeres Abbild aus dem Alltag vertraut ist: „It was a higher example of what we see every day, the body glorified by the soul.“ (Clarke 1909, 230f.) Eine solche Verwandlung zeigt sich auch im Verhältnis von Mensch und Natur, wenn die Natur zu gewissen Zeiten als kosmische Harmonie erfahren wird, beispielhaft dafür die Atmosphäre des Nachsommers:15 There are some spring and October days which are like a concert or oratorio – when earth, air, trees, sunshine, blue sky, grass, are all in the same happy mood, all in tune together, no discord to jar the full harmony. In such days the earth becomes a Bible – the rocky strata its Book of Genesis, the singing of the birds its Book of Psalms, the air full of sunlight and fragrance its Gospels, and the changing lights, the advancing hours, its Book of Revelation, showing to us how God is all in all. (Clarke 1909, 233f.)

Die Transfiguration des Lebens durch den Vorschein eines höheren oder idealen Daseins ereignet sich letztlich in allen Lebensbereichen, bei der niedersten Arbeit wie bei der Lesung der Schrift. Sie lässt sich weder erzwingen noch verstetigen, eine gewisse Verbundenheit hat sie höchstens mit der Kunst (wobei Clarke auf die Dichtung und Malerei eingeht, die Musik aber seltsamerweise übergeht)16 und mit der institutionalisierten Religion. Als weiteres Beispiel für diese amerikanische Affinität zur Transfigurationsthematik möchte ich eine Dichtung heranziehen, die im Zentrum des Transzendentalismus entstanden ist und doch innere Distanz zu diesem wahrt: Nathaniel Hawthornes 1846 veröffentlichten Bericht über seinen Aufenthalt in dem alten

14 Die Entstehungszeit dieser Rede konnte leider nicht ermittelt werden. 15 Man denke an Nietzsches Wendung „verklärt-reine Herbstlichkeit“ zur Kennzeichnung der von Goethe und Stifter empfangenen Eindrücke (NL 1888, 24[10], KSA 13, 634f.). 16 Clarkes Bemerkungen zur bildenden Kunst lassen sich vielleicht auch auf die zeitgenössische Malerei, etwa die Hudson River School, beziehen: „The true landscape painter gives us Nature transfigured by the soul. We delight in a picture of Claude or Poussin, because it not only expresses what the artist saw, but adds to it a gleam of lustre known neither to sea nor land, but borrowed from the soul itself.“ (Clarke 1909, 239) Für diesen Hinweis danke ich Magnus Schlette (Heidelberg).

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Pfarrhaus, das er in der Nachfolge Emersons in Concord bewohnt hat. In Hawthornes Erzählessay bereiten einige abwertend anmutende Kommentare zum Concord River dessen umso eindrucksvollere dichterische Verherrlichung vor: In the light of a calm and golden sunset, it becomes lovely beyond expression […]. Each tree and rock, and every blade of grass, is distinctly imaged, and, however unsightly in reality, assumes ideal beauty in the reflection. The minutest things of earth, and the broad aspect of the firmament, are pictured equally without effort, and with the same felicity of success. All the sky glows downward at our feet; the rich clouds float through the unruffled bosom of the stream, like heavenly thoughts through a peaceful heart. We will not then, malign our river as gross and impure, while it can glorify itself with so adequate a picture of Heaven that broods above it; or, if we remember its tawny hue and the muddiness of its bed, let it be a symbol, that the earthliest human soul has an infinite spiritual capacity, and may contain the better world within its depths. But, indeed, the same lesson might be drawn out of any mud-puddle in the streets of a city – and, being taught us everywhere, it must be true. (Hawthorne 1846, 5)17

Der Fluss erscheint als verklärender Spiegel, der im goldenen Licht der untergehenden Sonne alle Dinge eigentümlich klar und schön wiedergibt, die ganze Realität idealisiert. Bemerkenswert ist, wie sich in dieser Verklärung religiöse Anklänge mit milder Ironie vertragen (dazu gehört auch das Abrücken von romantischer Naturschwärmerei). Im Vergleich zu Nietzsches Thematisierung der Transfiguration fällt an der angedeuteten amerikanischen Tradition auf, dass einerseits die mit der Verwandlung verbundene Kritik abgemildert ist oder fehlt, andererseits die religiöse Transfiguration mit einer solchen Unbefangenheit und einem solchen Optimismus von der Theologie des Kreuzes abgelöst wird, wie es sich Nietzsche wohl kaum hätte träumen lassen.

4 Vorläufiges Fazit Mit diesen begriffs- und kulturgeschichtlichen Anmerkungen sollte zumindest ansatzweise die Frage beantwortet werden, warum Nietzsche die mit seiner Kritik anvisierte Verwandlung mit Vorliebe als Verklärung bezeichnet.18 Der Begriffskomplex der Verklärung erscheint als eine Nietzsches Philosophie angemessene Ausdrucksweise, deren Beschaffenheit erst durch Rekonstruktion und Kontextua17 Vgl. die Kahnfahrt mit Ellery Channing, Hawthorne 1846, 18–23; zu Hawthornes Text siehe Ott 2011. 18 Eine ausführlichere Darstellung muss dem entsprechenden Eintrag im Nietzsche-Wörterbuch (NWB) vorbehalten bleiben.

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lisierung freigelegt werden musste und deren Ausdruckskraft nicht einfach wiederbelebt werden kann. Wenn die Welt immer von Neuem und auf neue Weise verklärt werden soll, dann betrifft das eben auch die Vokabulare, mit denen eine solche Verwandlung performativ realisiert werden kann oder mit denen über eine solche Verwandlung gesprochen wird.19 Wie komplex Nietzsches Verhältnis zur Verklärungsterminologie und Transfigurationsthematik auch ist, wie schwierig insbesondere die Unterscheidung zwischen religiösen und nicht-religiösen Bedeutungskomponenten, es ist auf jeden Fall ein schönes Sinnbild, dass sich in Naumburg an der Saale die Friedrich-Nietzsche-Straße und die Taborer Straße kreuzen.

Literaturverzeichnis Anderson, R. Lanier (2012): „Nietzsche on Redemption and Transfiguration“. In: Joshua Landy & Michael Saler (Hg.): The Re-Enchantment of the World. Secular Magic in a Rational Age. Stanford (Stanford University Press), S. 225–258, 339–350. Bretz, Martina (1996): „Kunst der Transfiguration. Die Geburt eines neuen Philosophiebegriffs aus dem Geist des Südens“. In: Günter Oesterle & Bernd Roeck & Christine Tauber (Hg.): Italien in Aneignung und Widerspruch. Tübingen (Niemeyer), S. 137–161. Clarke, James Freeman (1909): „The Transfiguration of Life“. In: Ders.: The Transfiguration of Life. Boston (American Unitarian Association), S. 229–242. Detering, Heinrich (2010): Der Antichrist und der Gekreuzigte. Friedrich Nietzsches letzte Texte. Göttingen (Wallstein). Dorschel, Andreas (2009): Verwandlung. Mythologische Ansichten, technologische Absichten. Göttingen (V & R Unipress). Dorschel, Andreas (2013): „Denktagebücher. Zur Poetik des philosophischen Journals“. In: Philosophische Rundschau 60, S. 264–298. DWB (1854–1961): Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bde. in 32 Teilbänden. Leipzig (S. Hirzel). Hawthorne, Nathaniel (1846): „The Old Manse“. In: Ders.: Mosses from an Old Manse. Part I. New York (Wiley and Putnam), S. 1–31. Kaempfert, Manfred (1971): Säkularisation und neue Heiligkeit. Religiöse und religionsbezogene Sprache bei Friedrich Nietzsche. Berlin (Erich Schmidt). Kleinert, Markus (2012): „Glanz und Ermattung. Über die Verklärung als Bezugspunkt von Kunst und Religion“. In: Thomas Erne & Peter Schüz (Hg.): Der religiöse Charme der Kunst. Paderborn et al. (Schöningh), S. 201–217.

19 Zu Recht wird daher zur Thematisierung der Verwandlung im vorliegenden Band mit dem Transformationsbegriff ein Terminus gewählt, der in begriffsgeschichtlicher Hinsicht der Transfiguration nahesteht (z. B. Kuni 2002, 73), dessen Bedeutung jedoch weder in Nietzsches Vokabular noch im gegenwärtigen Sprachgebrauch vergleichbar vorbestimmt ist.

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Nina Tolksdorf

Riskante Redlichkeit – Wahrsprechen in Nietzsches Also sprach Zarathustra Abstract: The Risks of Truth-Telling in Nietzsche’s Thus Spoke Zarathustra. The German term Redlichkeit, which Nietzsche frequently uses, can be translated into English as sincerity, honesty, integrity, or truthfulness. But considering Nietzsche’s radical critique of both truth and morality, it appears to be impossible to adhere to a traditional understanding of the term. With the help of Foucault’s concept of parrhesia, the following essay considers Redlichkeit to be a performative speech act of truth-telling. This reading not only exposes that the truth-telling Zarathustra poses a great risk to himself, but it also reveals that the inexhaustible production of speech within Zarathustra marks its philosophy to be absolutely risky.

Immer wieder taucht der Begriff Redlichkeit in Nietzsches Texten auf, wird aber weder bei Nietzsche noch in der Forschung hinreichend diskutiert. Was der Leser erfährt, ist, dass die Redlichkeit „eine der jüngsten Tugenden“ und „etwas Werdendes“ ist und dass sie „ihrer selber noch kaum bewusst“ (M 456, KSA 3, 275) ist. Außerdem kommt sie „weder unter den sokratischen, noch unter den christlichen Tugenden“ vor (M 456, KSA 3, 275). Eine Untersuchung dieses im Zeichen der Norm und Moral stehenden Begriffs ist jedoch vor allem vor dem Hintergrund von Nietzsches Wahrheits- und Moralkritik signifikant. Wenn man sich der Bedeutung von Redlichkeit nähern will, dann begegnet man in Wörterbüchern und in der Forschung Synonymen wie: gewissenhaftes Handeln, Vernünftigkeit, Rechtmäßigkeit, Aufrichtigkeit, Rechtschaffenheit und Ehrlichkeit (u.a. von der Lühe 2007). Redlich bedeutet zum Beispiel vernünftig, tüchtig und wofür man Rede stehen kann (Grimm und Grimm 1854; 1971, Pfeifer 1993, Fricke 1997). In allen diesen Begriffen und Erklärungen geht jedoch das Moment des Redens verloren, das die Redlichkeit und die redliche Rede gerade von ihren Synonymen unterscheidet. Unter anderen haben Jean-Luc Nancy (2003) und Alan White (2001) die Redlichkeit bei Nietzsche untersucht.1 Sie verweisen auf die Wurzeln des Begriffs

1 Andere Untersuchungen erörtern zwar Redlichkeit bei Nietzsche, ohne jedoch genauer auf den Begriff selbst einzugehen. So zum Beispiel Wilhelm S. Wurzer. Er will Redlichkeit als hermeneu-

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im Kaufmännischen, da er sowohl von Rede als auch von Rechnung Zeugnis ablegt und das Gewicht damit auf die kaufmännische Ehrlichkeit und die „wohlausgeführte Rechnung“ (Nancy 2003, 234) lenke. So betrachtet, tue die Redlichkeit „dem arithmos und dem logos Genüge“ und bezeichne die „gewissenhafte Angemessenheit ans Gesetz.“ (Nancy 2003, 234) Beide nennen auch Wahrhaftigkeit (Nancy 2003, 235) bzw. truthfullness (White 2001, 64) als mögliches Synonym, beide schalten jedoch der redlichen Rede eine leitende und überlegene Instanz vor. So meint Alan White, dass es uns nicht möglich sei, die Wahrheit zu sagen und dass die Redlichkeit uns zwinge, genau das anzuerkennen (White 2001, 77). Nancy hingegen verweist auf den performativen Zug der Redlichkeit: „Sie ist weniger eine Entsprechung zu etwas, das außerhalb, das jenseits der Rede bliebe, als eine Rede, die selber die Herstellung oder Ausführung […] einer Rechnung, einer Erwägung, eines ‚logos’ ist.“ (Nancy 2003, 235) Aber auch er schaltet ihr eine lenkende Instanz vor, wenn er meint, dass die Qualität der Redlichkeit immer diejenige einer Person sei, bevor sie die einer Rede sein könne (Nancy 2003, 235). Im Folgenden möchte ich anhand von Nietzsches Also sprach Zarathustra eine Lesart von Redlichkeit herausarbeiten, die weder eine Instanz noch eine Person beziehungsweise ein Subjekt vor die Redlichkeit schaltet. Redlichkeit zeigt sich dann als ein bestimmter Modus des Redens, der nicht nur wahrhaft sondern auch subjektkonstitutiv ist. Für eine solche Untersuchung ist Nietzsches Zarathustra besonders vielversprechend, weil der Text nicht nur unterschiedliche Modi des Redens aufweist, sondern darüber hinaus auch das Reden Zarathustras und anderer Figuren ständig thematisiert.2 Es lässt sich so ein Konzept von Redlichkeit artikulieren, das vorerst jenseits von Moral eine Praxis des

tisches Konzept verstehen, das Ähnlichkeiten mit Paideia aufweise (Wurzer 1983). Melissa Lane versteht Redlichkeit als „cognitive virtue“ und Summe aller Tugenden. Ihre Ausführungen sollen „a severe challange to attempts to approriate Nietzsche for a postmodernist attack on truth“ darstellen, indem sie Redlichkeit als „honesty“ und als „honest acknowledgement of the inconvenient and unpleasent aspacts of reality or nature“ versteht. (Lane 2007). Gerd-Günther Grau macht vor allem darauf aufmerksam, dass es laut Nietzsche nicht zu einem Über-Gebrauch von intellektueller Redlichkeit kommen dürfe (Grau 2000). Auch Elisabeth Kuhn macht vor allem Anhand des Nachlasses von Nietzsche auf den Über-Gebrauch der Redlichkeit hin zum Nihilismus und der décadence aufmerksam (Kuhn 1992; 2011). Zur intellektuellen Redlichkeit siehe u.a. auch Markus Kleinert (Kleinert 2012). Das Begriffspaar ‚intellektuelle Redlichkeit‘ ist allerdings in Nietzsches Schriften nicht zu finden (Grau 2000). 2 Nietzsches Texte behandeln/verwenden den Begriff Redlichkeit und redlich sehr unterschiedlich. Ziel der vorliegenden Untersuchung ist keinesfalls, den Begriff zu systematisieren, vor allem deswegen nicht, weil meines Erachtens gerade das Redliche der Redlichkeit ihre Systematisierung verweigert.

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Wahrsprechens beschreibt, das sich weder außerhalb der Rhetorik,3 noch ohne die performative Kraft der Sprache denken lässt.

1 Redlichkeit und Wahrsprechen Angenommen, Redlichkeit könnte tatsächlich im semantischen Umfeld von Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit gedacht werden, ohne die Rede dabei in den Hintergrund zu drängen, dann heißt das, dass Redlichkeit die Bedeutung annehmen kann, dass das, was jemand sagt, auch die Wahrheit ist. Dieser Form der Rede hat sich Michel Foucault vor allem in seinen späten Vorlesungen gewidmet, wo er sich mit dem Konzept der parrhesia auseinandersetzt beziehungsweise mit dessen Problematisierung (Foucault 1988; 1996; 2009; 2010; 2012).4 Der Begriff parrhesia bedeutet etymologisch „alles zu sagen“ von pan [παν] (alles) und rhema [ρήμα] (das Gesagte).” (Foucault 1996, 10) Foucault zufolge sagt der parrhesiastes das, „was wahr ist, weil er weiß, daß es wahr ist; und er weiß, daß es wahr ist, weil es wirklich wahr ist.“ (Hervorhebungen im Original. Foucault 1996, 12) Ein wesentliches Moment der parrhesia ist das Risiko beziehungsweise ist Wahrsprechen erst dann eine parrhesiastische Sprechtätigkeit, wenn sich die Sprecherin einem Risiko aussetzt: Jemand soll parrhesia gebrauchen und verdient Anerkennung als parrhesiastes nur, wenn es für ihn oder sie beim Sprechen der Wahrheit ein Risiko oder eine Gefahr gibt. […] Wenn man das parrhesiastische Spiel akzeptiert, in dem das eigene Leben exponiert wird, nimmt man eine spezifische Beziehung zu sich selbst auf: man riskiert den Tod, um die Wahrheit zu sprechen, anstatt in der Sicherheit eines Lebens auszuruhen, in dem die Wahrheit unausgesprochen bleibt. Die Todesdrohung kommt natürlich vom Anderen und erfordert dadurch eine Beziehung zum Anderen. Aber der parrhesiastes wählt in erster Linie eine spezifische Beziehung zu sich selber: Er bevorzugt sich selber als Wahrheits-Sprecher gegenüber sich selber als einem Lebewesen, das zu sich selber unehrlich ist. (Foucault 1996, 14f.).

3 Weil laut Nietzsche jedes Sprechen immer schon rhetorisch beziehungsweise künstlich ist, es also kein „unrhetorisches“ Sprechen gibt, gehe ich davon aus, dass auch die Redlichkeit nicht unabhängig von rhetorischem Sprechen zu denken ist. Vgl. dazu v.a. die Vorlesungsaufzeichnungen (KGW II/4), so wie „Ueber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“ (WL, KSA 1, 873– 890). 4 Branham erwähnt parrhesia als Übersetzungsmöglichkeit für Redlichkeit, um auf Nietzsches Identifikation mit den Kynikern aufmerksam zu machen, verfolgt diesen Gedanken jedoch nicht weiter (Branham 2004, 178–179).

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Gebunden an die Möglichkeit des Wahrsprechens, gibt es also mindestens zwei Möglichkeiten der Selbst-Konstitution: Entweder man spricht die Wahrheit und setzt sich dadurch in eine Beziehung zu sich selbst als Wahrsprechende, oder man schweigt und ist damit gleichzeitig ein unehrliches Lebewesen. Es geht also vor allem darum, in welche Beziehung man sich zu sich selbst setzt. Denn mit dem Sprechen der Wahrheit exponiert sich der parrhesiastes und geht das Risiko des Todes ein; oder mit Giorgio Agamben: das Subjekt konstituiert sich im Wahrsprechen „und setzt sich als solches aufs Spiel, indem es sich performativ an die Wahrheit der eigenen Versicherung bindet.“ (Agamben 2010, 73): „Was wir heute im engeren Sinne ein Performativ nennen […], ist die in der Sprache konservierte Reliquie dieser grundlegenden Erfahrung des Wortes – das Wahrsprechen –, das nur so lange Bestand hat, solange gesprochen wird, weil das aussagende Subjekt nicht vorher existiert noch sich sukzessive daran bindet, sondern vollständig mit dem Sprechakt zusammenfällt.“ (Agamben 2010, 73) Von Foucault abweichend, doch mit Bezug auf ihn, verbindet Agamben hier performative Akte und Wahrsprechen. Während Foucault Performativität strikt von parrhesia unterscheidet (Foucault 1988, 30; 1996, 11; 2012, 90)5 wird sie mit Agamben zur Struktur von Wahrsprechen, weil sich das Subjekt erst im Vollzug des Wahrsprechens konstituiert. Die Todesdrohung, die bei Foucault meist vom Tyrann, aber auch vom Freund ausgeht, muss nicht von einer zweiten Person ausgehen, sondern kann ebenso als Struktur der Alterität, das heißt als das Andere des Sprechaktes, als das dem Sprechakt Fremde gelesen werden: Die Bedrohung des Sprechaktes trifft dann einerseits den Sprechakt selbst, der immer Gefahr läuft nicht gehört oder nicht verstanden zu werden und sich insofern immer aufs Spiel setzt, als er seine diskursive Position etabliert oder verteidigt, damit eine andere vernichtet und sich selbst der Vernichtung preisgeben muss und will. Andererseits trifft die Bedrohung das Subjekt der Äußerung, das mit seinem Körper und in seiner Körperlichkeit für das Gesagte einsteht. Wie seine dispositive Position gibt das Subjekt sich selbst preis, weil es sich mit seinem Sprechakt sowohl verwundbar macht als auch verwundet.6

5 Verschiedenen Studien haben die Trennung, die Foucault zwischen parrhesie und Performativität vollzieht, bereits in Frage gestellt und Performativität und parrhesie zusammen gedacht (Waldenfels 2012; Seitz, 2012; Möller, 2012). 6 Bezüglich des parrhesiastes, der sich durch sein Sprechen der Gefahr der körperlichen Gewalt aussetzt, fragt auch Waldenfels: „Gewalt, die man zufügt, oder Gewalt, die man erleidet?“ (Waldenfels 2012, 70). Zu Sprechakten, die körperliche Handlungen und damit verletzend sind beziehungsweise Gewalt zufügen, siehe vor allem Judith Butler 1997.

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2 Redliche Rede Die Körperlichkeit der Rede wird mit der produktiven Redlichkeit Zarathustras in „Von den Hinterweltlern“ deutlich: Ja, diess Ich und des Ich’s Widerspruch und Wirrsal redet noch am redlichsten von seinem Sein, dieses schaffende, wollende, werthende Ich, welches das Maass und der Werth der Dinge ist. Und diess redlichste Sein, das Ich — das redet vom Leibe, und es will noch den Leib, selbst wenn es dichtet und schwärmt und mit zerbrochnen Flügeln flattert. Immer redlicher lernt es reden, das Ich: und je mehr es lernt, um so mehr findet es Worte und Ehren für Leib und Erde. (Z Von den Hinterweltler, KSA 4, 36)

Das Zitat beginnt mit dem Demonstrativpronomen „diess“ und suggeriert damit, dass über dieses Ich bereits gesprochen wurde. Da das grammatisch jedoch nicht zutrifft, verweist das „diess“ gleichermaßen auf das Ich als auch ins Leere. Das heißt, dass die grammatische Struktur des Satzes über sich selbst hinausweist und dadurch dem Ich, so wie seinem Widerspruch und Wirrsal, die Leere hinzufügt. Diese Struktur ist deswegen interessant, weil das Ich, das in alle Richtungen weist, höchst produktiv und seine differenzielle Pluralität Teil seiner ständig neuen Wertungen ist. Die Produktivität des Vielen und Differenten zeigt sich auch im redlichen Reden des Ich. Denn hier und an anderen Stellen im Text treten reden und redlich meist zusammen auf. Die doppelte, aber klar differenzierte Verwendung des Morphems „red“, das sowohl das Wort reden als auch redlich generiert, verweist auf eine Spannung und Ungleichheit, die überaus produktiv ist: Je redlicher das Ich reden lernt, desto mehr Worte findet es, um sich zu beschreiben. Die redliche Rede nährt sich selbst mit Worten, die sie in ihrer eigenen Spannung und Differenz findet. Die produktive Spaltung scheint dabei gleichsam die Spaltung des Wortes, des logos in seiner Bedeutungsvielheit als Wort und Vernunft zu sein. Die redliche Rede ist dann vorerst weder eine Rede der Vernunft noch eine vernünftige Rede. Vielmehr konstituiert sich das Ich in dieser redlichen Rede und wird durch sie produziert, wenn es heißt, dass das redliche Ich den Leib will. Aus der Begierde heraus, die immer erhalten wird, weil sie sich selbst das Ziel ist, findet das Ich Worte für den Leib, den es will (Z Von den Hinterweltlern, KSA 4, 36). Dadurch will es vor allem sich selbst: „Hört mir lieber, meine Brüder, auf die Stimme des gesunden Leibes: eine redlichere und reinere Stimme ist diess. Redlicher redet und reiner der gesunde Leib, der vollkommne und rechtwinklige: und er redet vom Sinn der Erde.“ (Z Von den Hinterweltlern, KSA 4, 38)

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Dass aber die Produktion des Ich nicht vornehmlich auf der Grundlage des „Was?“ der Rede, sondern vor allem im Redlichen der Rede, das heißt, im Akt des Redens erfolgt, wird darüber hinaus mit der Alliteration – dem Anfangskonsonanten von redlich, rein, rechtwinklig, reden – unterstrichen. Denn die Alliteration ist auch hier, wie Wolfram Groddeck es allgemein für die Alliteration in Erwägung zieht, „nicht nur eine sprachliche Akzentuierung, sondern auch eine Akzentuierung des Sprachlichen“ (Groddeck 2008, 235) und betont somit abermals die sprachliche Seite der Redlichkeit. Wenn die redliche Rede keine Rede der Vernunft, keine angemessene Rede und somit nicht verifizierbar ist,7 dann stellt sich die Frage, wie sie dennoch als wahrhaftige Rede verstanden werden kann. Eine mögliche Antwort auf diese Frage gibt Zarathustras Rede „Von den Dichtern“. Hier heißt es: „Doch was sagte dir einst Zarathustra? Dass die Dichter zuviel lügen? – Aber auch Zarathustra ist ein Dichter. Glaubst du nun, dass er hier die Wahrheit redet? Warum glaubst du das?“ (Z Von den Dichtern, KSA 4, 163) Was anhand dieser Fragen deutlich wird ist, dass Wahrheit und Lüge hier keine kategorische Funktion mehr haben. Denn Zarathustras Aussage lässt sich weder logisch lösen noch ist Zarathustra bemüht, den Schein aufzubauen, er kenne die Wahrheit und wisse sie von der Lüge zu unterscheiden.8 Als Dichter ist er Lügner, wodurch die Lüge zu dem Ort wird, an dem sich seine Aussagen vollziehen. Die Lüge wird zum unmöglichen aber einzigen Ort des Wahrsprechens. Denn gerade weil Zarathustra sich nicht dem Kreis derjenigen Dichter entzieht, die sich ihre Götter erschleichen, weil er sich mitten in den Schein hineinstellt, zeigt er sich zwar als Lügner, ist darin aber wahrhaft. Damit ist die wahrhafte Rede insofern unbegründet, als sie von ihrer Wahrhaftigkeit und ihrem Wissen keine Gründe zu geben vermag und auch nicht verteidigt werden muss: „‚Warum? sagte Zarathustra. Du fragst warum? Ich gehöre nicht zu Denen, welche man nach ihrem Warum fragen darf. Ist denn mein Erleben von Gestern? Das ist lange her, dass ich die Gründe meiner Meinung erlebte …‘“ (Z Von den Dichtern, KSA 4, 163). Wenn Zarathustra sich Gründe nicht merken kann, dann, weil seine Rede keinen rationalen Strategien unterliegt. Wahrsprechen ist also nicht gebunden an begründete Rede, vielmehr ist sie grundlos und grundlos wahrhaft.9 Das zeigt sich auch anhand der Rede des Zauberers im vierten Teil des Zarathustra. Der Zauberer will Zarathustra mit seiner Schauspielkunst versuchen, vollzieht dann aber einen wahrsprechenden Akt, wenn er sagt: „Einen grossen Menschen wollte ich vorstellen und überredete Viele: aber diese Lüge gieng über meine 7 Das betont auch Nancy 2003, 235. 8 Vergleiche zum Lügner–Paradox auch Lyotard (2000) und bezüglich dieser Passage im Zarathustra vor allem Zittel (2000, 37–42). 9 Zum grundlosen Sprechen siehe Andreas Hetzel 2011, 213–230.

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Kraft. An ihr zerbreche ich. Oh Zarathustra, Alles ist Lüge an mir; aber dass ich zerbreche – diess mein Zerbrechen ist ä c h t !“ (Z Der Zauberer 2, KSA 4, 319) Auch hier vollzieht sich der wahrhafte Sprechakt in der Lüge, weil alles am Zauberer Lüge ist. Trotzdem hat diese „ächte“ oder wahrhafte Aussage zur Folge, dass Zarathustra erwidert: „Du schlimmer alter Zauberer, d a s ist dein Bestes und Redlichstes, was ich an dir ehre, dass du deiner Müde wurdest und es aussprachst: ‚ich bin nicht gross’“ (Z Der Zauberer 2, KSA 4, 319). Das Redlichste ist nicht die Übereinkunft über eine Wahrheit oder eine wohl begründete Meinung. Es geht nicht um einen bestimmten Gegensand, über den die Wahrheit gesprochen oder gelogen werden könnte. Die zur Debatte stehende Größe des Zauberers scheint dies zwar zu suggerieren, wird jedoch mit Zarathustras ausleitenden Worten noch im gleichen Gespräch karikiert (Z Der Zauberer 2, KSA 4, 320). Vielmehr geht es um die Wahrhaftigkeit des Zauberers, die sich im Sprechakt „ich bin nicht gross“ zeigt. Die Rede ist wahrhafte Rede und das nicht, weil sie etwas Außer ihr angemessen beschreibt, sondern weil sich die Rede im wahrsprechenden Akt auf Spiel setzt. Deswegen zerbricht der Zauberer, wenn er mit seinem Sprechakt seine vorhergehenden Sprechakte einreißt und vernichtet.

3 Das Risiko von Zarathustra und Zarathustra Was von der wahrhaften, redlichen Rede im Zarathustra erschüttert werden kann, ist also nicht ihr logischer Grund, dem sie sich ja von vornherein entzieht. Vielmehr zeigt sich, dass sich das wahrsprechende Subjekt, sobald es spricht, im wahrsprechenden Sprechakt aufs Spiel setzt, ebenso wie der Sprechakt selbst auf dem Spiel steht, weil er Gefahr läuft, nicht gehört oder verstanden zu werden. Zarathustra und Also sprach Zarathustra stehen von Beginn an unter dem Vorzeichen dieser Gefahren: Als Zarathustra in der Vorrede mit dem toten Seiltänzer die Stadt verlassen will, spricht ihn der Possenreißer an, wodurch sich Zarathustra eine Gefahr in den Weg stellt: „Dein Glück war es, dass man über dich lachte: und wahrlich, du redest gleich einem Possenreisser. […] Geh aber fort aus dieser Stadt– oder morgen springe ich über dich hinweg, ein Lebendiger über einen Todten.“ (Z Vorrede 8, KSA 4, 23) Weil sich der Possenreißer mit seiner Rede auf den soeben übersprungenen Seiltänzer bezieht, entsteht hier zwischen den Figuren eine dichte Verweisstruktur,10 anhand derer vor allem deutlich wird, dass die Gefahr im Zarathustra immer

10 Auf die Verknüpfung zwischen Seiltänzer, Possenreißer und Zarathustra verweist u.a. Stegmaier 2012, 150.

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auch selbstreferenziell ist, weil jeder Sprechakt, sich auch gegen sich selbst wendet. So sieht sich Zarathustra kurz vor dem Sturz des Seiltänzers dem Hass des Volkes und damit einer Gefahr ausgesetzt (Z Vorrede 5, KSA 4, 21). Gleichzeitig heißt es, dass er selbst die Gefahr der Menge sei (Z Vorrede 8, KSA 4, 23). Einerseits redet Zarathustra laut Possenreißer wie einer seinesgleichen, wodurch ihm Eigenschaften des Possenreißers zugeschrieben werden und gleichsam dem Possenreißer Eigenschaften Zarathustras. Andererseits bezeichnet sich Zarathustra als „Mitte“ (Z Vorrede 7, KSA 4, 23), was ihn an die Stelle des Seiltänzers versetzt. Die Verweisstruktur der drei Figuren macht so deutlich, dass sich jede der Figuren sowohl in der bedrohten als auch in der bedrohenden Position befindet und sich letztendlich die Figuren selbst bedrohen, weil sich ihre Sprechakte gegen sie selbst wenden. Die Wendung gegen sich selbst vollzieht auch Also sprach Zarathustra, was ebenfalls in der „Vorrede“ deutlich wird. Da aber geschah Etwas, das jeden Mund stumm und jedes Auge starr machte. Inzwischen nämlich hatte der Seiltänzer sein Werk begonnen: er war aus einer kleinen Thür hinausgetreten und gieng über das Seil, welches zwischen zwei Thürmen gespannt war, also, dass es über dem Markte und dem Volke hieng. Als er eben in der Mitte seines Weges war, öffnete sich die kleine Thür noch einmal, und ein bunter Gesell, einem Possenreisser gleich, sprang heraus und gieng mit schnellen Schritten dem Ersten nach ‚Vorwärts, Lahmfuss, rief seine fürchterliche Stimme, vorwärts Faulthier, Schleichhändler, Bleichgesicht! Dass ich dich nicht mit meiner Ferse kitzle! Was treibst du hier zwischen Thürmen? In den Thurm gehörst du, einsperren sollte man dich, einem Bessern, als du bist, sperrst du die freie Bahn!‘ — Und mit jedem Worte kam er ihm näher und näher: als er aber nur noch einen Schritt hinter ihm war, da geschah das Erschreckliche, das jeden Mund stumm und jedes Auge starr machte: — er stiess ein Geschrei aus wie ein Teufel und sprang über Den hinweg, der ihm im Wege war. Dieser aber, als er so seinen Nebenbuhler siegen sah, verlor dabei den Kopf und das Seil; er warf seine Stange weg und schoss schneller als diese, wie ein Wirbel von Armen und Beinen, in die Tiefe. Der Markt und das Volk glich dem Meere, wenn der Sturm hineinfährt: Alles floh aus einander und übereinander, und am meisten dort, wo der Körper niederschlagen musste. (Z Vorrede 6, KSA 4, 21)

Es ist die Anwesenheit des Possenreißers,11 vor allem aber seine Worte, die den Seiltänzer bedrohen.12 Ja, es scheint sogar der Text selbst die Bedrohung zu sein, wenn seine Struktur im Verhältnis zum Geschehen betrachtet wird. Denn der Seiltänzer gelangt in die Mitte des Seiles, während Zarathustra im vierten und

11 Zu einer ausführlichen Interpretation dieser Szene siehe u.a. Schubert 2011; Burnham und Jesinghausen 2010, 24; Honneth 2004, 223–5. 12 Honneth verweist zwar auf die Worte, die den Seiltänzer bedrohen, meint aber, dass man Tat und Wort nicht gleichsetzen dürfte (Honneth 2004, 239).

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fünften Teil der „Vorrede“ seine Rede hält.13 Für die Narration im sechsten Abschnitt der Vorrede bedeutet das, dass sie, wie der Possenreißer den Seiltänzer, den Beginn der Erzählung aufholen muss. Der Abschnitt beginnt ja mit den Sätzen: „Da aber geschah Etwas, das jeden Mund stumm und jedes Auge starr machte. Inzwischen nämlich, hatte der Seiltänzer sein Werk begonnen.“ (Z Vorrede 6, KSA 4, 21 Hervorhebung von N.T.) Beginnend mit „inzwischen“ holt die Narration auf, bis sie an der Stelle angelangt ist, an der sie im sechsten Teil begonnen hat, das heißt, bis sie an der Stelle ist, an der „Etwas“ geschieht. Wenn also der Possenreißer den Seiltänzer bedroht, indem er ihm mit jedem Worte näher und näher kommt, kommt auch der Text seinem Anfang immer näher. Wenn der Possenreißer zum Sprung ansetzt, hat der Text den Sprung aufgeholt, den er zu Beginn der Erzählung machen musste, um zu dem Punkt zu gelangen, an dem der Possenreißer zum Sprung ansetzt und der Seiltänzer stürzt. Text und Possenreißer müssen also den Anfang beziehungsweise den Seiltänzer einholen. Nicht der Possenreißer allein, sondern seine Worte und vor allem der Text bringen den Seiltänzer in Gefahr. Nicht der stürzende Körper des Seiltänzers bedroht die Menge auf dem Marktplatz, sondern der Textkörper des Zarathustra. Der Text wendet sich gegen sich selbst, er wird sich sein eigenes Risiko und zerbricht an sich selbst.

4 Der Schrei der Philosophie Redlichkeit zeigt sich im Zarathustra als riskantes Wahrsprechen, das bei Nietzsche immer rhetorisch zu denken ist und insofern auch immer performativ, als sich das Subjekt im Akt des Sprechens konstituiert und sich als Wahrsprechendes (aufs Spiel) setzt. Damit ist das Risiko schon benannt, das mit dem redlichen Sprechakt einhergeht, denn mit ihm stellt sich das Subjekt ins Offen, indem es die eigenen Masken zerstört und sich dem Adressaten ausliefert. Das eindeutige und deutliche Wahrsprechen, das Foucault in der Antike findet, erfährt im Zarathustra eine wesentliche Umschrift: Die redliche Rede, die nicht versiegt, weil sie immer neue Worte finden will, steigert sich dann und wann aus der Not heraus, sich im Reden immer wieder neu generieren zu wollen, zu einem Schrei, in welchem die Worte konturlos ineinander übergehen. Dieser Schrei ist im Zarathustra immer wieder zu hören: Von der Vorrede — „Spracht ihr schon so? Schriet ihr schon so?“ (Z Vorrede 3, KSA 4, 16) — und dem Schrei des

13 Bereits am Ende des dritten Teils heißt es „Der Seiltänzer aber, welcher glaubte, dass das Wort ihm gälte, machte sich an sein Werk.“ (Z Vorrede 3, KSA 4, 16).

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Possenreißers — „er stiess ein Geschrei aus wie ein Teufel und sprang über Den hinweg, der ihm im Wege war“ (Z Vorrede 6, KSA 4, 21) — über die schreiende Wahrheit in „Von alten und jungen Weiblein“ (KSA 4, 86), Zarathustras AlptraumSchrei nach der Begegnung mit dem Wahrsager (KSA 4, 174) und dem Schrei des Hirten, der von einem Schrei Zarathustras abgelöst wird (KSA 4, 201), bis zum Notschrei, der fast den gesamten vierten Teil durchzieht. Wenn es sich als Schrei an der Grenze zur Artikulation positioniert, besteht das Wahrsprechen am wirksamsten auf seinen Ort außerhalb jeglicher Verifikation. Die redliche Rede wird zu einem Schrei der Philosophie, die nicht danach trachtet Wahrheiten zu (er)finden, sondern danach, sich im Wahrsprechen zu konstituieren. Sie folgt darin einer Begierde, die laut und hörbar ist – und wahrhaft: „Jedes Redlichen Schritt redet; die Katze aber stiehlt sich über den Boden weg. Siehe, katzenhaft kommt der Mond daher und unredlich. —“ Die „Rein– Erkennenden“, wie Zarathustra sie nennt, heucheln über ihre Begierde, weshalb sie nie gebären werden, liegen sie auch „breit und trächtig am Horizonte“ (Z Von der unbefleckten Erkenntniss, KSA 4, 156f). Diejenigen Wahrheiten, die geboren werden, sind jene, die die Rede nicht dazu verwenden, Begierden und Lügen zu verdecken und über sie hinweg zu lügen, sondern solche, die offenlegen und preisgeben, welche auch die eigenen Lügen ankündigen, so wie solche, die immer neue Wahrheiten erzeugen, die sich selbst preisgeben und aufs Spiel setzen. Nietzsches Zarathustra ist nicht nur als Figur, sondern auch als Also sprach Zarathustra ein Schrei riskanter Philosophie, die, weil und indem sie wahrspricht und sich permanent aufs Neue befragt, sich selbst das Risiko ist.

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Jakob Dellinger

Von der ‚Kritik des Intellekts‘ zur Perspektivierung des ‚Perspektivismus‘ – Überlegungen zum Problem des Perspektivischen in FW 373, 374 und 375 1

Abstract: From the ‘critique of the intellect’ to the perspectivisation of ‘perspectivism’. Some considerations on the problem of the perspectival in GS 373, 374 and 375. GS 374’s famous theme of a “self-examination of the intellect,” in which it “cannot avoid seeing itself under its perspectival forms,” has often been linked to the self-referential character of Kant’s critique of reason. This article demonstrates that while the notion of the perspectival is indeed being applied to itself throughout GS 373–375, this reflexivity undermines the idea of a singular transcendental point of view from which to draw a line between knowledge and illusion in the Kantian sense. Contrary to common interpretations, GS 373– 375 do not straightforwardly proclaim a philosophical position called ‘perspectivism,’ but rather they put ‘perspectivism’ into perspective and thereby demonstrate the problem of the perspectival in a performative way: In GS 373 and 374, the awareness of perspectivity is itself cast as a perspective with certain moral and aesthetic motivations, and, in GS 375, this awareness is represented by the typological group of the “Epicureans,” who bear resemblance to typological incarnations of the ascetic ideal, which leads to a subtle critical distancing.

Dass es sich beim Motiv der „Analysis und Selbstprüfung des Intellekts“, bei der dieser „nicht umhin kann, sich selbst unter seinen perspektivischen Formen zu sehn“ (FW 374, KSA 3, 626), um eine Anspielung auf den kantischen Topos selbstbezüglicher Vernunftkritik handelt, ist offenkundig – in einer Vorstufe war noch ausdrücklich von einer „Kritik des Intellekts“ (KGW IX, N VII 3, 2) die Rede. Nietzsche bringt hier also sein Schlüsselmotiv des Perspektivischen und dessen Selbstbezüglichkeit mit der kritizistischen Tradition in Verbindung. Werner Stegmaier vertritt demgemäß mit Bezug auf FW 374 die These, dass „Nietzsche auch hier in

1 Eine ausführlichere Fassung dieses Beitrags, in der u.a. auch die Korrekturen am Druckmanuskript sowie das Bild des Zügelns der ‚feurigen Pferde‘ in FW 375 analysiert werden, findet sich in Dellinger 2015b, 171–196.

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der kritischen Bahn [bleibt]“: „[W]ie Kants Kritik eine Kritik der Vernunft durch die Vernunft selbst so ist auch die Kritik des Intellekts für Nietzsche eine selbstbezügliche Kritik.“ (Stegmaier 2012, 414) Doch stellt sich jene Selbstbezüglichkeit für Nietzsche und Kant tatsächlich derart ähnlich dar, wie Stegmaiers Formulierung suggeriert? Dass eine ‚Kritik des Intellekts‘ auch für Nietzsche nicht umhin kommt, sich selbstbezüglich zu vollziehen, muss keineswegs bedeuten, dass sie im Sinne Kants erfolgreich sein kann. Vielmehr wird dies bereits in der erwähnten Vorstufe in Zweifel gezogen, wenn es heißt, dass jene „Kritik immer mit dem Fehler behaftet ist, daß ein Werkzeug seinen Werth u. seine Grenze nicht selbst ‚erkennen‘ kann“ (KGW IX, N VII 3, 2). Der Selbstbezug der ‚perspektivischen Formen‘ des Intellekts scheint für Nietzsche eine im doppelten Sinne grundlegende Kritik wie jene Kants, die ‚Wert und Grenze‘ des Vernunftgebrauchs zuverlässig zu bestimmen beansprucht, schlechterdings unmöglich zu machen. Der folgende Beitrag demonstriert anhand einer skizzenhaften Lektüre der von FW 373, 374 und 375 gebildeten „Aphorismenkette“ (Stegmaier 2012, 385), wie sich Nietzsches perspektivische Kritik in diesen Abschnitten konfiguriert, und dass es dabei nicht zur Stabilisation einer kritischen Position namens ‚Perspektivismus‘ kommt, sondern vielmehr zu deren reflexiver Perspektivierung. Entgegen Stegmaiers These liegt demgemäß im Selbstbezug des Perspektivitätsmotivs eine entscheidende Divergenz zwischen Nietzsches und Kants Formen philosophischer Kritik.2

1 FW 373: Zwei Ebenen perspektivischer Kritik an unreflektierten Perspektiven Obwohl FW 373 erst durch Korrekturen am Druckmanuskript explizit auf die Begrifflichkeit des Perspektivischen und der Interpretation bzw. auf FW 374 zugeschnitten wurde, inszeniert der Aphorismus von Anfang an ein Problem der Perspektivität: Dem „geistigen Mittelstand“ zugehörige „Gelehrte […] [dürfen] die eigentlichen g r o s s e n Probleme und Fragezeichen gar nicht in Sicht bekommen: zudem reicht ihr Muth und ebenso ihr Blick nicht bis dahin“ (FW 373, KSA 3, 624f.). Bereits hier geht es um ein Problem der Beschränktheit der „Sicht“ und der 2 FW 374 wird, wie auch die anderen Schlüsselpassagen zum Problemkomplex des ‚Perspektivischen‘, zwar ständig zitiert, aber – abgesehen von der im Folgenden laufend miteinbezogenen Behandlung in Stegmaier 2012, 410–418 – kaum eingehend gelesen. Hinweise auf weitere Sekundärliteratur finden sich bei Stegmaier, eine allgemeine Auswahlbibliographie zum Thema des Perspektivischen in Dellinger 2013b.

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Reichweite des „Blicks“ oder kurz: der Perspektive. Insofern es sich bei den „Gesetzen der Rangordnung“, aus denen dies „folgt“ (FW 373, KSA 3, 624), um „von ihm postuliert[e] Gesetze“ (Stegmaier 2012, 397) handelt, geht Nietzsche jenes Problem in der Tat „normativ an“ (Stegmaier 2012, 401), inszeniert es von Anfang an nicht als eine theoretisch zu entscheidende Angelegenheit, sondern als eine praktische Frage des ‚Dürfens‘ und Sollens. Als erstes Beispiel einer solchen mittelständigen Beschränktheit geistiger Perspektiven wird Herbert Spencer attackiert: Was zum Beispiel den pedantischen Engländer Herbert Spencer auf seine Weise schwärmen macht und einen Hoffnungs-Strich, eine Horizont-Linie der Wünschbarkeit ziehen heisst, jene endliche Versöhnung von ‚Egoismus und Altruismus‘, von der er fabelt, das macht Unsereinem beinahe Ekel: — eine Menschheit mit solchen Spencer’schen Perspektiven als letzten Perspektiven schiene uns der Verachtung, der Vernichtung werth! Aber schon d a s s Etwas als höchste Hoffnung von ihm empfunden werden muss, was Anderen bloss als widerliche Möglichkeit gilt und gelten darf, ist ein Fragezeichen, welches Spencer nicht vorauszusehn vermocht hätte… (FW 373, KSA 3, 625)

Man kann an dieser Stelle zwei Ebenen oder Dimensionen der Kritik differenzieren: Erstens fungiert Spencer als Beispiel perspektivischer Beschränktheit, insofern er seine Hoffnungs-Perspektive „nicht kritisch in Frage zu stellen fähig ist“ (Stegmaier 2012, 403). Man könnte dies als formale Dimension der Kritik bezeichnen – sie betrifft nicht den Inhalt, das Was seiner Hoffnungsperspektive, sondern ausschließlich das hervorgehobene „[ D ] a s s “, ihren formalen Status, nicht als Perspektive reflektiert worden zu sein. Dieses „Fragezeichen“ (FW 373, KSA 3, 625) könnte eines jener eingangs genannten „g r o s s e n Probleme und Fragezeichen“ (FW 373, KSA 3, 624) darstellen, die dem ‚geistigen Mittelstand‘ verborgen bleiben sollen. Zweitens wird jedoch auch eine inhaltliche Gegenposition markiert: Der „Unsereinem“ angesichts von Spencers Hoffnung nahegelegte „Ekel“ scheint zunächst weniger ihren formalen Status als ihren Inhalt, die „Versöhnung von ‚Egoismus und Altruismus‘“ zu betreffen – dasjenige, „[w]as“ Spencer „schwärmen macht“. Die geäußerte „Verachtung“ lässt sich jedoch nicht nur auf den Inhalt der „Spencer’schen Perspektiven“, sondern ebenso auf die Tatsache beziehen, „d a s s “ diese als „letzt[e] Perspektiven“ gelten sollen. Somit erscheint nicht etwa bloß die inhaltliche Opposition als emotional-affektiv und die formale Kritik als nüchtern-distanzierte, ‚objektive‘ Einsicht: Auch die formale Kritik hinsichtlich der mangelnden Reflexion der Perspektivität wird als affektive Abneigung inszeniert. Dies geht mit der im Zusatz ‚…und gelten darf‘ nochmals unterstrichenen normativen Dimension der hier hinsichtlich des Bewusstseins der Perspektivität

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etablierten „Rangordnung“ einher: Die „Gesetze der Rangordnung“ werden dergestalt performativ konstituiert – erlassen vom sich als überlegen inszenierenden Perspektivitätsbewusstsein, das „Gelehrte“, die ihre eigene Perspektivität nicht reflektieren, polemisch dem „geistigen Mittelstande“ zuordnet, dabei aber zugleich auch noch die moralische Perspektivität dieses normativen Aktes sichtbar macht. Wie Stegmaier hervorhebt, wird somit „kei[n] Anspruch auf Objektivität“ erhoben, vielmehr gehe es darum, sich „gewahr zu werden, dass da eine Moral aus der Perspektive einer anderen beurteilt wird, die sich erregt äußert“ (Stegmaier 2012, 405). Das zweite Beispiel, die perspektivische Beschränktheit „materialistische[r] Naturforscher“, soll eine analoge („Ebenso“-) Struktur besitzen: Ebenso steht es mit jenem Glauben, mit dem sich jetzt so viele materialistische Naturforscher zufrieden geben, dem Glauben an eine Welt, welche im menschlichen Denken, in menschlichen Werthbegriffen ihr Äquivalent und Maass haben soll, an eine ‚Welt der Wahrheit‘, der man mit Hülfe unsrer viereckigen kleinen Menschenvernunft letztgültig beizukommen vermöchte — wie? wollen wir uns wirklich dergestalt das Dasein zu einer RechenknechtsUebung und Stubenhockerei für Mathematiker herabwürdigen lassen? (FW 373, KSA 3, 625)

Auch hier verbinden sich formale und inhaltliche Kritik, Skepsis gegenüber dem Glauben an die Letztgültigkeit menschlicher Erkenntnisse als solcher und bestimmter Erkenntnisse als ‚Herabwürdigung‘. Wiederum werden beide Ebenen als emotional-affektiv profiliert: Man soll es vor Allem nicht seines v i e l d e u t i g e n Charakters entkleiden wollen: das fordert der g u t e Geschmack, meine Herren, der Geschmack der Ehrfurcht vor Allem, was über euren Horizont geht! Dass allein eine Welt-Interpretation im Rechte sei, bei der ihr zu Rechte besteht, bei der wissenschaftlich in e u r e m Sinne (— ihr meint eigentlich m e c h a n i s t i s c h ?) geforscht und fortgearbeitet werden kann, eine solche, die Zählen, Rechnen, Wägen, Sehn und Greifen und nichts weiter zulässt, das ist eine Plumpheit und Naivetät, gesetzt, dass es keine Geisteskrankheit, kein Idiotismus ist. (FW 373, KSA 3, 625)

Zur Einsicht in die Multiperspektivität wird hier ganz ausdrücklich „moralisch“ – ‚man soll‘ – und unter Appell an ästhetische Kriterien – es „ist zuletzt eine Sache des ‚Geschmacks‘“ (Stegmaier 2012, 406) – aufgerufen. Die „massive[n] Beleidigungen“ (Stegmaier 2012, 406) lassen sich wiederum sowohl auf die inhaltliche Opposition zur mechanistischen Weltsicht als auch auf die formale Kritik an deren „Glauben“ beziehen, „allein […] im Rechte“ (FW 373, KSA 3, 625) zu sein. Stegmaiers Befund, dass in FW 373 „eine problembewusste gegen eine problemlose Moral“ (Stegmaier 2012, 405) gesetzt wird, gilt somit auch hier, allerdings in einem komplexeren Sinne, als es zunächst den Anschein haben mag: Die problembewusste Moral erscheint nämlich derart problembewusst, dass auch ihr

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Problembewusstsein qua Wissen um die eigene Perspektivität noch perspektiviert, problematisiert und als affektiv, moralisch bzw. ästhetisch fundiert gekennzeichnet wird.

2 FW 374: Der Selbstbezug ‚perspektivischer Formen‘ als ‚neues Unendliches‘ Stegmaier wendet sich mit Bezug auf FW 374 primär gegen ontologische Ausdeutungen des ‚Perspektivismus‘: „Nietzsches Perspektivismus ist […] keine Ontologie, und ihm liegt auch keine Ontologie der Willen zur Macht […] zugrunde.“ (Stegmaier 2012, 412)3 Tatsächlich wird die in Nachlassnotaten bisweilen erprobte Möglichkeit einer Essentialisierung bzw. Ontologisierung des Motivkomplexes von Perspektivität, Auslegung, Interpretation und – den hier freilich nicht genannten – ‚Willen zur Macht‘ zu Beginn des Textes ausdrücklich zurückgewiesen: Wie weit der perspektivische Charakter des Daseins reicht oder gar ob es irgend einen andren Charakter noch hat, ob nicht ein Dasein ohne Auslegung, ohne ‚Sinn‘ eben zum ‚Unsinn‘ wird, ob, andrerseits, nicht alles Dasein essentiell ein a u s l e g e n d e s Dasein ist — das kann, wie billig, auch durch die fleissigste und peinlich-gewissenhafteste Analysis und Selbstprüfung des Intellekts nicht ausgemacht werden: da der menschliche Intellekt bei dieser Analysis nicht umhin kann, sich selbst unter seinen perspektivischen Formen zu sehn und n u r in ihnen zu sehn. (FW 374, KSA 3, 626)

Während „eine essentiell mechanische Welt eine essentiell s i n n l o s e Welt [wäre]“ (FW 373, KSA 3, 626), wird die Option, dass „alles Dasein e s s e n t i e l l ein

3 Dass Nietzsche in FW 374 „seinen ‚Perspektivismus‘“ (Stegmaier 2012, 410) zum Ausdruck bringt, steht auch für Stegmaier fest. Die – freilich nicht nur von ihm – wie selbstverständlich an den Text herangetragene Annahme, dass es hier um ‚Nietzsches Perspektivismus‘ gehe, obwohl der Ausdruck ‚Perspektivismus‘ gar nicht auftaucht, ist jedoch in mehrerlei Hinsicht problematisch. Abgesehen von der grundsätzlichen Frage, ob Nietzsche den Ausdruck ‚Perspektivismus‘ überhaupt im Sinne einer Positionsbezeichnung gebraucht, die eine Rede von ‚seinem‘ Perspektivismus legitimieren würde (vgl. Dellinger 2012b, Dellinger 2015b, 127–146), hat die Vorstellung, dass er eine Position, Theorie oder Lehrmeinung namens ‚Perspektivismus‘ vertrete, viele Interpreten dazu verleitet, die zentralen Belegstellen unter Vernachlässigung ihrer individuellen Textualität als Ausdruck eines einheitlichen, von den jeweiligen Inszenierungen ablösbaren theoretischen Gehalts zu begreifen. Zur Kritik dieser Tendenz und für alternative Lektürevorschläge vgl. Dellinger 2012a, Dellinger 2015a, Dellinger 2015b, 97–280, Dellinger 2016a, Dellinger 2016b.

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auslegendes Dasein ist“ als Antithese („andrerseits“) des Verdachts geschildert, „ob nicht ein Dasein ohne Auslegung, ohne ‚Sinn‘ eben zum ‚Unsinn‘ wird“ (FW 374, KSA 3, 626). Die freilich kaum angedeutete Konzeption eines alles durchwaltenden Kampfes interpretierender ‚Willen zur Macht‘, der zufolge alles Dasein wesentlich auslegend wäre, erscheint demgemäß als ein der mechanistischen Entzauberung der Welt entgegengesetztes Projekt der Sinnstiftung.4 Die beiden Optionen, die gleichermaßen „nicht ausgemacht“ werden können, schließen in dieser Hinsicht direkt an die Interpretations-Perspektive des Mechanismus bzw. die angedeutete Gegenperspektive aus FW 373 an und werden nochmals ausdrücklich als perspektivisch markiert. Das nachfolgende Beispiel der Empfindungsrichtung der Zeit passt nicht recht zum in FW 373 eröffneten Kontext und dessen Aufnahme, insofern es eine mehr oder weniger invariante allgemein-menschliche Perspektive anstatt variabler individueller Perspektiven nahelegt. Bezieht man die Erklärung über die Unhintergehbarkeit der ‚perspektivischen Formen‘ auf das Beispiel der Empfindungsrichtung der Zeit, scheint sie wenig mit dem Problemkreis der perspektivischen ‚Welt-Interpretationen‘ aus FW 373 zu tun zu haben. Textgenetisch lässt sich dies dahingehend erklären, dass zwar das Beispiel, nicht aber die Erklärung hinsichtlich der Selbstbetrachtung in den perspektivischen Formen der Vorstufe in KGW IX, N VII 3, 2 entstammt. Der ebenfalls nicht mehr dieser Vorstufe entstammende Anschluss („Aber ich denke…“) knüpft jedoch mit dem Begriff der Interpretation wieder an eben jenen Problemkreis an, weshalb sich das Motiv der Unhintergehbarkeit der ‚perspektivischen Formen‘ jedenfalls auch auf ihn beziehen lässt: Insofern „der perspektivische Charakter des Daseins“ auf die Rede von einem „v i e l d e u t i g e n Charakter des Daseins“ (FW 373, KSA 3, 625) zurückverweist (vgl. Stegmaier 2012, 412), entspräche er dem Perspektivitätsbewusstsein aus dem vorhergehenden Aphorismus. Die perspektivische Form des Intellekts wäre demnach hier die Denkform des Perspektivischen selbst. Dass er sich selbst nur unter seinen perspektivischen Formen sehen kann, bedeutete folglich, dass der mittels der Denkform des Perspektivischen betrachtende Intellekt auch sich selbst und sein Betrachten noch mittels der Denkform des Perspektivischen betrachten, d.h. die Denkform des Perspektivischen ihrerseits perspektivieren muss.5 Tatsächlich lässt sich die bereits in FW 373 auftretende Duplizität der

4 Zum ‚Willen zur Macht‘ als Grundbegriff eines solchen Projektes einer normativ motivierten ‚Gegenlehre‘ vgl. Dellinger 2013a. 5 Stegmaier spricht in dieser Hinsicht von einer wesentlichen „Selbstbezüglichkeit“ der Kritik, die „sich auch selbst nur in ihrer eigenen Perspektive beobachten kann“, sowie von der „Paradoxie“, dass „auch der Perspektivismus nur eine Perspektive [ist]“ (Stegmaier 2012, 414). Neben Stegmaier hat Philipp Mauch die Selbstbezüglichkeitsstruktur des Perspektivischen in FW 374

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Ebenen inhaltlicher und formaler Kritik in genau diesem Sinne interpretieren: Indem nicht nur die inhaltlichen Gegenpositionen gegen Spencer und die Mechanisten als ästhetisch-moralisch motivierte Perspektiven profiliert werden, sondern auch die formale Gegenposition des Perspektivitätsbewusstseins (vulgo: ‚Perspektivismus‘), kommt es zu einer Anwendung der kritischen Denkform des Perspektivischen auf sich selbst. Mit dieser Reflexion des Perspektivischen in sich selbst entsteht dem Titel von FW 374 gemäß tatsächlich ein „neues ‚Unendliches‘“: Wenn das kritische Bewusstsein der Perspektivität jeweils seinerseits perspektiviert werden kann – sich also auch die hier inszenierte Perspektivierung des ‚Perspektivismus‘ als perspektivisch begreifen ließe, ebenso dieses Begreifen usw. –, ergibt sich eine potentiell unabschließbare Reflexionsstruktur. Die Perspektivierung des gemeinhin als ‚Perspektivismus‘ gefassten Perspektivitätsbewusstseins lässt sich immer weiter iterieren, weil sie nicht de-finieren kann, „wie weit der perspektivische Charakter des Daseins reicht“ (FW 374, KSA 3, 626), der jedoch durch diese Perspektivierung zugleich als solcher illustriert wird – die Perspektivierung führt das Problem des Perspektivischen performativ vor und ist damit zugleich eine Potenzierung des ‚Perspektivismus‘.6 Die These von der unhintergehbaren Selbstbezüglichkeit der perspektivischen Formen pointiert so verstanden jene Reflexivität des Kritikmusters der Perspektivierung, die sich bereits in FW 373 gezeigt hatte, insofern auch die formale Kritik des Perspektivitätsbewusstseins als affektiv, moralisch und ästhetisch motiviert perspektiviert wurde. Eben diese Perspektivierungen treten folgerichtig auch in FW 374 wieder auf: Aber ich denke, wir sind heute zum Mindesten ferne von der lächerlichen Unbescheidenheit, von unsrer Ecke aus zu dekretiren, dass man nur von dieser Ecke aus Perspektiven haben d ü r f e . Die Welt ist uns vielmehr noch einmal ‚unendlich‘ geworden: insofern wir die

hervorgehoben: Es werde „geschickt die Behauptung, dass der Charakter des Daseins perspektivisch sei, gerade dadurch unterstrichen, dass dies ebenfalls perspektiviert wird. Dabei wird das Perspektivische ins Perspektivische übertragen, wodurch es zu dem neuen Unendlichen kommt, mit dem die gesamte Überlegung überschrieben ist.“ (Mauch 2009, 31f.) Mauch liefert zwar keine eingehende Textlektüre, geht nicht auf die Verbindungslinien zu FW 373 ein und weist auch nicht im Detail nach, wie die Denkform des Perspektivischen ihrerseits perspektiviert wird. Seine Deutung des Titels des Aphorismus als Anspielung auf die unendliche Reflexionsstruktur des Perspektivischen sowie deren Anzeigefunktion ist nichtsdestoweniger überzeugend und wird hier aufgegriffen. 6 Gemäß der von Axel Pichler mit Bezug auf GD vorgeschlagenen terminologischen Differenzierungen wäre diese Selbstbezüglichkeitsstruktur als ‚performative Schleife‘ zu qualifizieren (vgl. Pichler 2014, 266–306).

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Möglichkeit nicht abweisen können, dass sie u n e n d l i c h e I n t e r p r e t a t i o n e n i n s i c h s c h l i e s s t . (FW 374, KSA 3, 627)

Tatsächlich ist mit dem „Aber ich denke“ sowie mit der Bindung an ein „wir“ bzw. „uns“ nachdrücklich die Positionalität des Sprechers markiert (vgl. Stegmaier 2012, 415). Zugleich schwingt im akzentuierten Begriff des Dürfens wieder das moralisch-normative Moment des Sollens mit: Bereits die Qualifikation der „Selbstprüfung“ als „peinlich-gewissenhafteste“ (FW 374, KSA 3, 626) birgt über den Begriff des Gewissens eine entsprechende moralistische Konnotation – der Appell an die Kategorie der Bescheidenheit stellt sie nun deutlich als solche heraus. Das gemeinhin als ‚Perspektivismus‘ gefasste Zugeständnis einer potentiell unendlichen Vielfalt an Interpretationsperspektiven wird hier also nicht als objektive Einsicht, sondern als ihrerseits positionale, moralisch-ästhetisch fundierte Perspektive eingeführt: Die Möglichkeit unendlicher Interpretationen wird nicht einfach dekretiert, sondern aus der Perspektive eines Gestus der Bescheidenheit als mögliche Interpretation postuliert und damit zugleich vorgeführt. In eben dieser Reflexionsstruktur des Perspektivischen wird uns die Welt „noch einmal ‚unendlich‘“ (FW 374, KSA 3, 627).

3 FW 375: Zur Genealogie des epikureischen ‚Perspektivismus‘ FW 375 („W a r u m w i r E p i k u r e e r s c h e i n e n “ ) leistet einen weiteren Beitrag zu dieser Perspektivierung des ‚Perspektivismus‘. Die eingangs geschilderte Vorsicht und Zurückhaltung, das gewissenhafte Misstrauen gegenüber starken Positionierungen, knüpft an die Charakterisierung des Perspektivitätsbewusstseins in den vorhergehenden Aphorismen an: Wir sind vorsichtig, wir modernen Menschen, gegen letzte Ueberzeugungen; unser Misstrauen liegt auf der Lauer gegen die Bezauberungen und Gewissens-Ueberlistungen, welche in jedem starken Glauben, jedem unbedingten Ja und Nein liegen (FW 375, KSA 3, 627f.).

Wie in FW 373 Skepsis gegenüber einer „‚Welt der Wahrheit‘, der man mit Hülfe unsrer viereckigen kleinen Menschenvernunft letztgültig beizukommen vermöchte“ (FW 373, KSA 3, 625) artikuliert wurde, fungiert hier die grobe Viereckigkeit „vierschrötige[r] Gegensätze“ (FW 375, KSA 3, 628) als Gegenbild perspektivistischer Komplexität. Auch die Wendung gegen die „Unbescheidenheit“ sowie die vorsichtige Deklaration, dass wir „die Möglichkeit nicht abweisen können“ (FW

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374, KSA 3, 627), lassen sich als Beispiele der in FW 375 beschriebenen Geisteshaltung verstehen. Nicht zuletzt verweist das Bekenntnis zum „Fragezeichen-Charakter der Dinge“ (FW 375, KSA 3, 627) zurück auf die „g r o s s e n Probleme und Fragezeichen“ sowie das gegen Spencer gesetzte „Fragezeichen“ (FW 373, KSA 3, 624f.) und ist so wesentlich ein Bekenntnis zur Multiperspektivität. Demgemäß liegt es nahe, in den ‚Epikureern‘ eine Typologisierung des in den vorhergehenden Aphorismen entfalteten und bereits mehrfach an ein ‚wir‘ gebundenen Perspektivitätsbewusstseins zu sehen. Stegmaier verweist zur Erklärung der im Titel markierten Scheinbarkeit auf kritische Distanzierungen gegenüber Epikur und den Epikureern in FW 370 und anderen Texten (vgl. Stegmaier 2012, 419f.). Man kann jene Scheinbarkeit allerdings auch dahingehend verstehen, dass die epikureische Grundhaltung hier im Sinne einer Maske als Perspektive inszeniert wird: Scheinbar wäre somit weniger die Identifikation des Sprecherkollektivs mit der typologischen Gestalt der Epikureer als die Identifikation Nietzsches mit jenem Sprecherkollektiv.7 Auch in FW 375 werden praktisch-moralische und ästhetische Dimensionen markiert: Wie zuvor den Mechanikern „in’s Ohr und Gewissen“ (FW 373, KSA 3, 626) geredet und die „Selbstprüfung“ als „peinlich-gewissenhafteste“ (FW 374, KSA 3, 626) beschrieben wurde, tritt das Gewissen nun in der Gestalt der Vorsicht vor „Gewissens-Überlistungen“ (FW 375, KSA 3, 627) als moralische Instanz in Erscheinung. Auch die Rede von einem „Erkenntniss-Hang […], welcher den Fragezeichen-Charakter der Dinge nicht leichten Kaufs fahren lassen will“ unterstreichet den Eindruck, dass es nicht um bloß theoretische, logisch entscheidbare Fragen, sondern um eine praktische Haltung und ein Wollen geht. Mit der Frage „[W]ie erklärt sich das?“ wird der Leser nun regelrecht dazu eingeladen, nach den ‚genealogischen‘ Hintergründen des epikureischen ‚Perspektivismus‘ zu fragen, wobei die suggerierten Erklärungsangebote gleichermaßen brisant sind: Der Verweis auf „die frohlockende Neugierde eines ehemaligen Eckenstehers, der durch seine Ecke in Verzweiflung gebracht worden ist und nunmehr im Gegensatz der Ecke schwelgt und schwärmt, im Unbegrenzten, im ‚Freien an sich‘“ verweist zurück auf FW 374. Die Möglichkeit eines Verlassens der „Ecke“ im Sinne eines Transzendierens der ‚perspektivischen Formen‘ wird dort explizit ausgeschlossen. Der „Gegensatz“ und die Ehemaligkeit dürften sich somit nicht auf das in FW 374 ausgeschlossene Transzendieren der Perspektive beziehen, sondern auf das pluralistische Zugeständnis der Multiperspektivität, 7 Auch die Äußerungen über das ‚Perspektivische‘ in MA I Vorrede (vgl. Dellinger 2015a) und GM III 12 (vgl. Dellinger 2015b, 237–280, Dellinger 2016b) sind nicht einfach Meinungsbekundungen im Namen der Metonymie ‚Nietzsche‘, sondern jeweils sorgfältig profilierten Sprecherfiguren in den Mund gelegt, die nicht kurzerhand mit ‚Nietzsche‘ identifiziert werden sollten.

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dass man nicht „nur von dieser Ecke aus Perspektiven haben d ü r f e “ (FW 374, KSA 3, 627). Die Formulierung birgt jedoch durchaus kritische Untertöne: Der Topos des Schwärmens suggeriert nicht nur ein Moment des Utopischen, sondern wurde zuvor noch zur Charakterisierung der Borniertheit Spencers zum Einsatz gebracht – seine beschränkte Perspektive wurde als das charakterisiert, was ihn „auf seine Weise schwärmen macht“ (FW 373, KSA 3, 625). Womöglich handelt es sich also auch hier, beim Schwelgen in der ‚perspektivistischen‘ Möglichkeit unendlicher Interpretationen, nur um das, was den Epikureer ‚auf seine Weise schwärmen macht‘. Jedenfalls vermittelt die genealogische Erklärung ebenso wie die im Kontext von Nietzsches Polemik gegen jegliches ‚An sich‘ auffällige Rede von einem Schwelgen im ‚Freien an sich‘ eine gewisse kritische Distanz. Dies gilt auch für den ersten Erklärungsansatz, die „Behutsamkeit des ‚gebrannten Kindes‘, des enttäuschten Idealisten“ (FW 375, KSA 3, 627): Der geläufigen Redewendung gemäß scheut das gebrannte Kind das Feuer. Geschildert wird eine Scheu gegenüber „letzte[n] Überzeugungen“, gegenüber „jedem starken Glauben, jedem unbedingten Ja und Nein“ – eben darin könnten also das Feuer und der ‚Idealismus‘ liegen, an denen sich das Kind verbrannt hat. Ein eben solcher ‚Idealismus‘ war das zentrale Thema von FW 344,8 wo sich die Ablehnung ‚letzter Überzeugungen‘ ihrerseits als Resultat einer ‚letzten Überzeugung‘ erweist und somit selbst aufhebt. Das gesuchte „Feuer“ könnte somit jenes sein, mit Bezug auf das es in FW 344 geheißen hatte, dass „wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker“ es „noch von dem Brande nehmen, den ein Jahrtausende alter Glaube entzündet hat, jener Christen-Glaube, der auch der Glaube Plato’s war, dass Gott die Wahrheit ist, dass die Wahrheit göttlich ist“, und dass nunmehr „dies gerade immer mehr unglaubwürdig wird“ (FW 344, KSA 3, 577). Mit der in FW 344 geschilderten Selbstaufhebung jenes ‚Idealismus‘ haben ‚wir‘ uns verbrannt. Das epikureische ‚Wir‘ wäre demnach einerseits einen Schritt weiter, stünde aber andererseits in der gleichen Entwicklungslinie: Zwar herrscht nicht mehr das rigorose Regime der „Polizei des Misstrauens“ (FW 344, KSA 3, 575), die jegliche Überzeugungen unter Aufsicht stellt, aber „unser Misstrauen liegt“ nach wie vor „auf der Lauer“ vor „letzten Überzeugungen“ – nur dass das Misstrauen gegenüber „jedem unbedingten Ja und Nein“ (FW 375, KSA 3, 627) nun auch noch das unbedingte Nein jener ‚Polizei‘ miteinschließt. Die moralische Verweigerungshaltung ist zwar nun nicht mehr unbedingt, wohl aber verweigert man sich

8 Die Haltung der ‚Erkennenden‘ aus FW 344 wird in GM kurz vor dem langen Zitat aus FW 344 indirekt als ‚Idealismus‘ gekennzeichnet, wenn von den „letzten Idealisten der Erkenntnis“ (GM III 24, KSA 5, 398) die Rede ist.

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„Gewissens-Überlistungen“ und ist sich seiner „Uebung in Vorbehalten mit Stolz bewusst“ (FW 375, KSA 3, 628). Die in GM III als Kern des ‚asketischen Ideals‘ identifizierte Logik der Selbstaufhebung der Moral bzw. des ‚Willens zur Wahrheit‘ wäre mit dem „Widerwille [n] gegen die grossen Moral-Worte“ demnach nicht eigentlich überwunden, sondern vielmehr über die für ihre erste Selbstproblematisierung maßgebliche unbedingte Verpflichtungstreue hinaus weiter getrieben: Bei der in FW 373–375 inszenierten epikureischen Haltung handelte es sich um eine quasi hyper-asketische Endgestalt jener Selbstaufhebung, insofern sie sich auch noch die unbedingte Askese asketisch verweigert.9 Für die Deutung des epikureischen ‚Perspektivismus‘ als hyper-asketische Hexis sprechen auch die Parallelen zu den Charakterisierungen jenes Figurenkonglomerats, das in GM die Selbstaufhebung des asketischen Ideals trägt. Zu nennen wäre hier etwa der FW 373–375 durchziehende, auch in FW 357 zentrale und über die Zitierung dieses Aphorismus für die Explikation der Selbstaufhebungslogik in GM III 27 herangezogene Schlüsselbegriff des ‚Gewissens‘: Mit ihrer Vorsicht gegen „Gewissens-Ueberlistungen“ (FW 375, KSA 3, 627) erscheinen die Epikureer als letzte Erben des „Abgrund[s] des wissenschaftlichen Gewissens“ (GM III 23, KSA 5, 396) und der „letzten Idealisten der Erkenntniss, in denen allein heute das intellektuelle Gewissen wohnt“ (GM III 24, KSA 5, 398f.). Auch über den Begriff des Misstrauens etabliert sich nicht nur eine Parallele zu FW 344, sondern ebenso zum „Misstrauen“ der „‚Erkennenden‘“ in GM III 24, die „misstrauisch gegen alle Art Gläubige sind“ (GM III 24, KSA 5, 398). Nicht zuletzt erinnert die Verweigerung gegenüber „jedem unbedingten Ja und Nein“ (FW 375, KSA 3, 627) an die asketische „Philosophen-Enthaltsamkeit […] des Intellekts, der sich das Nein zuletzt eben so streng verbietet wie das Ja“ (GM III 24, KSA 5, 399). Stegmaier stellt die hier skizzierte Verbindung zum Problemkreis der asketischen Moral nicht her und registriert daher auch keine Distanzierung von der ‚perspektivistischen‘ Haltung. Seine abschließende Deutung der Aphorismenkette als „Befreiung der Philosophie zu einer realistischeren Orientierung in beweglichen Perspektiven“ (Stegmaier 2012, 419) erscheint daher aus der Perspektive der hier umrissenen Lektüre zu optimistisch und versöhnlich. Ihr zufolge ginge es letztlich weniger um eine „Befreiung zum Perspektivismus“ (Stegmaier 2012, 419)

9 Nietzsches Haltung gegenüber Epikur und den Epikureern ist vielschichtig und kann hier nicht eingehend diskutiert werden. Es genügt darauf hinzuweisen, dass die von einigen Interpreten (vgl. z.B. Bornmann 1984, Kimmich 1993, 237–240) akzentuierten, insbesondere nach Also sprach Zarathustra deutlicher werdenden kritischen Vorbehalte Nietzsches gegenüber Epikur und dem Epikureismus die hier vorgeschlagene Deutung unterstützen. Vgl. dazu auch den Beitrag von Oscar Rocha Santos im Anschluss.

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als um die – nicht zuletzt über die in FW 375 erfolgte Typologisierung erreichte – Perspektivierung jener Denkhaltung sowie die genealogische Distanzierung bzw. Problematisierung der sie leitenden Moral.

4 Fazit: Selbstbezüge der kritischen Denkform des ‚Perspektivischen‘ Nietzsches kritische Denkform des Perspektivischen hat sich zwar der These Stegmaiers entsprechend als wesentlich selbstbezüglich erwiesen, doch die Implikationen jenes Selbstbezugs unterscheiden sich maßgeblich von jenen der im doppelten Genetivsinn der Kritik der reinen Vernunft intendierten Reflexivität und gehen weit über die Zurückweisung ontologischer Ansprüche hinaus, die Stegmaier in den Mittelpunkt rückt: Während Kants Vernunftkritik eine im doppelten Sinne des Wortes grundlegende Kritik zu sein beansprucht, die von einem stabilen, transzendentalphilosophisch fundierten Standpunkt aus eine klare Grenze zwischen legitimen und illegitimen Erkenntnisansprüchen etabliert, induziert der Selbstbezug der kritischen Denkform des Perspektivischen in FW 373–375 eine reflexive Dynamik, die den kritischen Standpunkt selbst in Frage stellt.10 Insofern sich auch der vermeintliche ‚Perspektivismus‘ noch perspektiviert und auch das ‚perspektivistische‘ Zugeständnis unendlicher Interpretationsmöglichkeiten noch an die Perspektive einer typologischen Gestalt sowie die für sie leitende Moral und Ästhetik gebunden werden, kommt es tatsächlich zu einem ‚neuen Unendlichen‘ – einer ihrem kritischen Anspruch entsprechend potentiell ad infinitum iterierbaren Reflexionsstruktur, der schlechterdings keine Grenze mehr gezogen werden kann: Die kritische Denkform des Perspektivischen kann, ja muss um willen ihrer kritischen Plausibilität unendlich in sich selbst reflektiert werden und führt dabei den ‚perspektivischen Charakter des Daseins‘ vor, etabliert jedoch ihrerseits kein neues Fundament, keine stabile Reflexionsebene oder auch nur eine durchgängige, methodisch verbindliche kritische Praxis. Zwar liegt es nahe, den Topos der Perspektivität als eine Art kritischen Reflexionshorizont von Nietzsches philosophischer Praxis zu begreifen: So wie gegen Spencer und

10 Demgemäß wäre auch Volker Gerhardts mit Blick auf FW 374 formulierte These zurückzuweisen, Nietzsche sei „sich leider nicht mit der wünschenswerten Klarheit bewußt, daß er auf diese Weise eine Verfassung menschlicher Erkenntnis zum Ausdruck bringt, die dem sehr nahe kommt, was Kant unter ‚transzendentale Bedingungen‘ zu fassen suchte“ (Gerhardt 1989, 263). Die Reflexivität des Perspektivischen scheint in FW 373–375 eine apriorische Analyse transzendentaler Bedingungen im Sinne Kants schlechterdings unmöglich zu machen.

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die Mechanisten polemische Gegen-Perspektiven inszeniert und diese als solche reflektiert werden, kann man auch andere, scheinbar thetische Strukturen in seinen Schriften als Perspektiven reflektieren – aber man muss nicht. Die Denkform des Perspektivischen taucht im Aphorismengeflecht auf, reflektiert sich in sich selbst und taucht wieder ab.

Literaturverzeichnis Bornmann, Fritz (1984): „Nietzsches Epikur“. In: Nietzsche-Studien. Bd. 13, S. 177–188. Dellinger, Jakob (2012a): „Bewusstsein als Krankheit. Eine Anspielung auf Dostojewskij in ‚Die fröhliche Wissenschaft‘ Nr. 354?“. In: Nietzsche-Studien. Bd. 41, S. 333–343. Dellinger, Jakob (2012b): „Relendo a perspectividade. Algumas notas sobre ‚o perspectivismo de Nietzsche‘“. In: Cadernos Nietzsche. Bd. 31, S. 127–155. Dellinger, Jakob (2013a): „Zwischen Selbstaufhebung und Gegenlehre. Nietzsche, Schopenhauer und die ‚Perversität der Gesinnung‘“. In: Dieter Birnbacher, Matthias Koßler, Andreas Urs Sommer (Hg.): Moralkritik bei Schopenhauer und Nietzsche. Würzburg (Königshausen & Neumann), S. 61–98. Dellinger, Jakob (2013b): „Themenseite Perspektivismus“. In: Nietzsche Online. Berlin, Boston (de Gruyter). http://www.degruyter.com/view/NO/W_ThemenV002 (zuletzt besucht am 15.9.2014) Dellinger, Jakob (2015a): „‚Du solltest das Perspektivische in jeder Werthschätzung begreifen lernen‘. Zum Problem des Perspektivischen in der Vorrede zu ‚Menschliches, Allzumenschliches I‘“. In: Nietzsche-Studien. Bd. 44, S. 340–379. Dellinger, Jakob (2015b): Situationen der Selbstbezüglichkeit. Studien zur Reflexivität kritischer Denk- und Schreibformen bei Friedrich Nietzsche. Diss. Wien. Dellinger, Jakob (2016a, in Vorbereitung): „…auch nur ein Glaube, eine Einbildung, eine Dummheit? FW 354 zwischen ‚Philosophie‘ und ‚Literatur‘“. In: Sebastian Kaufmann, Katharina Grätz (Hg.): Nietzsche zwischen Philosophie und Literatur. Heidelberg (Winter). Dellinger, Jakob (2016b, in Vorbereitung): „Aufklärung über Perspektiven. Ein Lektüreversuch zum zwölften Abschnitt der dritten Abhandlung von Nietzsches ‚Zur Genealogie der Moral‘“. In: Hans Feger (Hg.): Nietzsche und die Aufklärung in Deutschland und China. Berlin, Boston (de Gruyter). Gerhardt, Volker (1989): „Die Perspektive des Perspektivismus“. In: Nietzsche-Studien. Bd. 18, S. 260–281. Kimmich, Dorothee (1993): Epikureische Aufklärungen. Philosophische und poetische Konzepte der Selbstsorge. Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft). Mauch, Philipp (2009): „Nietzsche über das Ganze. Immanenz und Differenz in ‚Jenseits von Gut und Böse‘. Eine konzeptionelle Analyse.“ Diss. München. Pichler, Axel (2014): Philosophie als Text. Zur Darstellungsform der ‚Götzen-Dämmerung‘. Berlin, Boston (de Gruyter). Stegmaier, Werner (2012): Nietzsches Befreiung der Philosophie. Kontextuelle Interpretation des V. Buchs der ‚Fröhlichen Wissenschaft‘. Berlin, Boston (de Gruyter).

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Critique and Transformation in Nietzsche’s Assessment of Epicurus Abstract: Critique and Transformation in Nietzsche’s Assessment of Epicurus. This article deals with some general issues regarding the presence of the Greek philosopher Epicurus at key moments of Nietzsche’s philosophical work. More specifically, the article has the following two aims: 1) to provide a set of assumptions concerning the reasons that might have led Nietzsche to resort to Epicureanism at the beginning of the middle period of his work, when he was interested in elaborating a new philosophical program based on a critique of the “metaphysical need” as a means to cultivate the freedom of spirit [Freiheit des Geistes]; 2) to demonstrate how the formulation of the principle of the feeling of power [Gefühl der Macht] emerges as a main factor for a revaluation of the teachings of Epicurus, as well as for the affirmation of a more engaged role for the philosophers in the transformation of culture.

1 Introduction The basic assumption of this paper is one already claimed by many different scholars (e.g. Milkowski, 1998; Caygill, 2006; Shearin, 2014; Ansell-Pearson, 2013), and will not be called into question here: namely, that Nietzsche maintained an oscillatory assessment of Epicurus and Epicureanism throughout his work. My purpose is rather to make use of this peculiar relationship between Nietzsche and Epicurus to articulate both critique and transformation as main concepts to understand Nietzsche’s philosophical project and its innumerous mishaps. I intend to show that Epicurus was a strategic ally in Nietzsche’s critique of the normative implications of metaphysical beliefs put forth in the middle period of his work (mostly in the two volumes of Human, All Too Human). After that Epicurus was set aside due the passivity of his philosophical stance, which is incompatible with Nietzsche’s new philosophical standpoint developed after the formulation of the principle of the feeling of power (around the period of composing Daybreak) as well as with the role expected for the “true philosophers” as “commanders and legislators”1 (especially

1 “But true philosophers are commanders and legislators: they say “That is how it should be!” they are the ones who first determine the “where to?” and “what for?” of people, which puts at their

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in Beyond Good and Evil). The task of transforming culture requires public engagement in a revaluation of values; the free spirits cannot hide in their monasteries. They must leave these reclusive gardens to become the philosophers of the future.

2 A Garden for Free Spirits The first strategic approach to Epicurus Nietzsche experimented with during the middle period of his work can be called a vital use of Epicureanism as a therapeutic philosophy applied to life itself. With this vital implementation of Epicureanism Nietzsche found a model of philosophical life, which was especially appropriate to his health conditions at that time. This Epicurean interlude began about 1876, after his great disappointment with the Festival of Bayreuth and indirectly with its creator, Richard Wagner. Nietzsche took a one year leave from his position as professor at the University of Basel, and went for a retreat season in Sorrento, in order to take care of his weakened health. In this reclusive mood most of Human All Too Human was written, a period in which Nietzsche experienced a kind of monastic life with Paul Rée, Malwida von Maysenbug and his former young student, Albert Brenner.2 As Nietzsche himself writes in Ecce Homo, his declining health in that moment forced him to a complete inversion of habits, whereby he received the gift of quietness, patience and idleness, all conditions he believed were necessary for his recovery.3 The aphorism 289 from Human All Too Human gives us a clear sense of what this stage on Nietzsche’s philosophical path represents: Value of illness – The man who lies ill in bed sometimes discovers that what he is ill from is usually his office, his business or his society and that through them he has lost all circumspection with regard to himself: he acquires this wisdom from the leisure to which his illness has compelled him. (HH 289, KSA 2, 234)

Briefly said, the goal of this vital usage of Epicureanism is to resist denying life despite all suffering and above all, to reach real freedom by not fearing death.

disposal the preliminary labor of all philosophical laborers, all those who overwhelm the past. True philosophers reach for the future with a creative hand and everything that is and was becomes a means, a tool, a hammer for them. Their “knowing” is creating, their creating is a legislating, their will to truth is – will to power. – Are there philosophers like this today? Have there ever been philosophers like this? Won’t there have to be philosophers like this?” (BGE 211, KSA 5, 145). 2 For a rigorous and engaged reconstruction of this period see D’Iorio, 2012. 3 See EH HH 4, KSA 6, 326.

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This purpose is inscribed in a posthumous fragment from 1876, which is an excerpt from Spinoza’s Ethics that says: “A free man thinks of death least of all things; and his wisdom is a meditation of life, not of death.” (Spinoza, 2002, 355)4 The same affirmative gesture is later expressed as a statement about Human All Too Human; in a posthumous fragment from 1878, Nietzsche writes: “A major feature: a refined heroism (which by the way I also recognize in Epicurus). In my book there is no word against fear of death. I have little of it.” (NL 1878, 28[15], KSA 8, 506)5 And also in a letter to Köselitz, from January of 1879 he writes: “My health is abominable – full of pain as before, my life is much more strict and lonely; I live myself on the whole almost like a complete saint, but almost with the attitude of the genuine Epicurus – very placid and patient, still watching life with joy.” (To Köselitz, 22.01.1879, KGB II/5, Bf. 799)6

3 Two Epicurean Means of Critique Nonetheless, this vital use is not the only one. Alongside this employment of Epicureanism to life itself as a Kunst des Lebens,7 Nietzsche also resorts to some argumentative strategies. This process of convalescence (which is primarily a return to himself and not just a physical recovering) already foreshadowed in

4 “Homo liber de nulla re minus quam de morte cogitat et ejus sapientia non mortis sed vitae meditatio est. Spinoza.” (NL 1876, 19[68], KSA 8, 346) It is impossible not to make reference to this passage of The Gay Science: “It makes me happy to see that people do not at all want to think the thought of death! I would very much like to do something that would make the thought of life even a hundred times more worth being thought to them.” (GS 278, KSA 3, 523) It is worth noting that, in spite of other main points of divergence (as I intend to show later), Epicureans and Stoics seem to be in agreement about the importance of overcoming the fear of death; even though they suggest different paths, both consider overcoming the fear of death a requisite for the achievement of ataraxia. 5 “Eine Haupteigenschaft: ein verfeinerter Heroismus (den ich übrigens auch bei Epikur anerkenne). In meinem Buche giebt es kein Wort gegen Todesfurcht. Ich habe wenig davon.” Translations of Nietzsche’s Nachlass into English are of my own responsibility. Translations of Nietzsche’s published works used here are specified in the bibliography. 6 “Meine Gesundheit ist abscheulich — schmerzenreich, wie früher, mein Leben viel strenger und einsamer; ich selber im Ganzen lebe fast wie ein ganzer Heiliger, aber fast mit den Gesinnungen des ganzen ächten Epikur — sehr seelenruhig und geduldig und dem Leben doch mit Freude zusehend.” 7 “Philosophie als die Kunst, die Wahrheit zu entdecken: so nach Aristoteles. Dagegen die Epicureer, die sich die sensualistische Theorie der Erkenntniß des Aristoteles zu Nutze machten: gegen das Suchen der Wahrheit ganz ironisch und ablehnend; ,Philosophie als eine Kunst des Lebens’.” (NL 1887, 9[57], KSA 12, 363)

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Human All Too Human is recalled by Nietzsche in his autobiography Ecce Homo, now expressly associated with the detachment from all forms of idealism with which he had hitherto flirted, namely Schopenhauer’s metaphysics of the will and Wagner’s musical romanticism (cf. EH HH 1–4, KSA 6, 321–6). What is at stake here is the overcoming of the practical idealism which he had thus far embraced along with an orientation towards the metaphysical impulses of humankind. Nietzsche’s preceding acknowledgment of the anthropological necessity of such edifying use of practical idealism is called into question in Human All Too Human insofar it presupposes for the free spirit’s life a certain experimentation towards overcoming the so-called metaphysical need.8 In this sense, the two volumes of Human All Too Human may be read both as presenting a philosophical program against the view that assumes the existence of a unavoidable “need for metaphysics”9, and as a speculative exercise on the possible or even desirable ways of living in such circumstances. Since a detailed discussion of this program is outside the bounds of this analysis, I focus instead on two connected aspects that are related to the presence of Epicurus at this moment of Nietzsche’s work, and that can shed some light on the matter: (1) the proposition of concurrent hypothesis for the description of a same phenomenon (e.g. our belief in freedom of will or in unconditioned substances and identical things),10 and (2) the following practical indifference in regard to underlying metaphysical issues. In aphorism 7 of The Wanderer and His Shadow (KSA 2, 543–4), Nietzsche revives a twofold argumentative procedure, once proposed by Epicurus in order to quiet the fear of gods. First, one must argue for gods’ indifference in relation to humans in order to achieve the opposite, that is, human indifference in relation to gods: the premise here is the absolutely

8 ‘The moral man is no closer to the intelligible world than the physical man – because there is no intelligible world…’ This claim, which has become hard and pointed under the hammer blow of historical knowledge (lisez: revaluation of all values) might one day, at some future time – 1890! – be the axe that will chop at the root of humanity’s “metaphysical need’” (EH HH 6, KSA 6, 328). 9 This view is defended by Schopenhauer in Chapter XVII of the second volume of The World as Will and Representation: “With this reflection and this wonder [about death and the finiteness of all existence] there arises therefore for man alone, the need for metaphysic; he is accordingly an animal metaphysicum.” (1886, 359) Kant also shares this view as indicated in these passages from the Preface to the first edition of the Critique of Pure Reason: “Our reason has this peculiar fate that, with reference to one class of its knowledge, it is always troubled with questions which cannot be ignored, because they spring from the very nature of reason, and which cannot be answered, because they transcend the powers of human reason (…). It is in vain to assume a kind of artificial indifferentism in respect to enquires the object of which cannot be indifferent to human nature” (1922, xvii, xix). 10 See HH 18, KSA 2, 38–40.

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distinct natures of humans and gods that implies an entire absence of interest and consequently of judgment or direct intervention.11 As Nietzsche says, this approach has the advantage of avoiding unfruitful discussions about the existence of gods, leaving the believer with the burden of proving the possibility of divine intervention in everyday life. We can find an example of this argumentation, to use an expression from Hume’s Dialogues Concerning Natural Religion, in “Epicurus’ old questions”: “Is he willing to prevent evil, but not able? Then is he impotent. Is he able, but not willing? Then is he malevolent. Is he both able and willing? Whence then is evil?” (Hume 2007, 74). This kind of perplexity seems to be precisely what Nietzsche has in mind when he talks about the “wrong paths and thorny thickets” into which whoever strays who tries to prove that the gods are indeed concerned with humans. One result of this first argumentative step is at least a certain agnosticism regarding such godly issues that corresponds to a practical indifference akin to that of the atheist. The metaphysical agnosticism Nietzsche intends to promote at this moment of his work aims towards a practical stance that dismisses any attempt of a final refutation. An application of this argumentation can be found in Human All Too Human: It is true, there could be a metaphysical world; the absolute possibility of it is hardly to be disputed (…). Then that possibility still remains over; but one can do absolutely nothing with it, not to speak of letting happiness, salvation and life depend on the gossamer of such a possibility. – For one could assert nothing at all of the metaphysical world except that it was a being-other, an inaccessible, incomprehensible being-other; it would be a thing with negative qualities. – Even if the existence of such a world were never so well demonstrated, it is certain that knowledge of it would be the most useless of all knowledge: more useless even than knowledge of the chemical composition of water must be to the sailor in danger of shipwreck. (HH 9, KSA 2, 29–30)

The second step of Epicurus’ argument that Nietzsche revives is based on the plurality of hypotheses or plurality of explanations (πλεοναχός τρόπος) for the same phenomenon. This procedure appears clearly in the Letter to Pythocles, in which Epicurus treats primarily meteorology and astronomy, emphasizing their difference as objects of knowledge, that therefore also require a differentiated

11 Nietzsche will later find in this Epicurean view of gods’ nature a religious parallel for metaphysical issues raised after his readings of Afrikan Spir, which are directly mentioned in HH 16, KSA 2, 36. The unconditioned is unconditioning just as the gods have nothing to do with human’s world. “Die würdigste Vorstellung von den Göttern hatten die Epicureer. Wie könnte das Unbedingte irgend etwas mit dem Bedingten zu schaffen haben? Wie könnte es dessen Ursache oder dessen Gesetz oder dessen Gerechtigkeit oder dessen Liebe und Vorsehung sein! „Wenn es Götter giebt, so kümmern sie sich nicht um uns“ — dies ist der einzige wahre Satz aller ReligionsPhilosophie.” (NL 1881, 16[8], KSA 9, 660)

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approach to be understood. In a recent article, Wilson Shearin claims that the Epicurean multiple explanations seem in some respects analogous to Nietzschean perspectivism, and associates this practice with some kind of skeptical reading of Epicurus, which Nietzsche probably knew from Lange’s History of Materialism (cf. Shearin 2014, 75). I agree with this claim and also suggest that Nietzsche explores this second argumentative procedure more incisively in his early genealogical reflections, in order to present a historical-naturalistic explanation for the supposed metaphysical need of humankind as a therapeutic procedure that enables redirecting this impulse toward other goals. It is however important to note that these concurrent explanations must, both in the case of Nietzsche and the Epicureans, abide by some criteria. As Shearin points out in another text about Lucretius, this principle of multiple explanations “is not fully democratic, as it does not permit any explanation at all, but instead it requires an explanation (one that pointedly excludes divine agents), which operates within the laws of Epicurean physics.” (Shearin 2015, 186)12 In Nietzsche’s case, the canon is not the Epicurean physics,13 but the methods and findings of the sciences of his time, especially the new biological perspective emerging from Darwin’s theory of evolution. This historicalnaturalistic approach is founded on two ideas: in the first place, this metaphysical need can be traced back to its origins in archaic errors of reason, gradually constituted along the history of organism’s development; secondly, in cases where doubts are greater than certainties or transcend the possibility of experience, the best attitude is neither circumstantial and temporary adhesion to such unjustified values nor commitment with their refutation, but the cultivation of indifference. Aphorism 16 of the Wanderer and His Shadow (KSA 2, 550–1) deals precisely with this demand of indifference. In this passage, Nietzsche denounces what would be a misuse of skeptical argumentation, according to which, given the inability of science to offer ultimate explanations for the so-called “first and last things”, the individual would be justified in remaining attached to his or her beliefs, as well as to traditional forms of behavior. This position, according to Nietzsche, is imbued with a high degree of dependence on metaphysical certainties, and that indicates, above all, a need for security that Nietzsche will later in The Gay Science argue that is a characteristic of the herd instinct. In contrast to this position, Nietzsche reaffirms the wonderful insight of Epicurus that such certainties are not necessary to live a full and steadfast life. What is really needed is a historical account of ethical and religious feelings as a way to understand

12 See also Diogenes Laertius, 1853, 434–5. 13 Nonetheless, is worth noting that Nietzsche came to envision this adoption (at least metaphorically) as a possibility: “Epikur Kanon zu benutzen.” (NL 1876, 17[45], KSA 8, 304)

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why, for so long, these issues have been so important to humanity. Instead of this cultivation of empty opinions (to employ an Epicurean vocabulary), the closest things should be valorized, redirecting our cognitive impulses to what really matters.14 Such ethics of care for the self has a programmatic relevance for the life of the free spirit: the individual gains autonomy, the same sense of autonomy that was widely understood as one of the greatest goods by the Hellenistic philosophical schools, including the school of Epicureanism. Nietzsche argues that the lack of serious attention to the closest things is a major cause of individuals’ physical and psychological illness, but such afflictions could be avoided if there were a more accurate perception of what is really helpful and harmful to our particular way of life. When Epicurus says in his Letter to Menoeceus that “it is right to estimate all these things by the measurement and view of what is suitable and unsuitable” (Diogenes Laertius 1853, 471), he seems to mean something quite close to what Nietzsche finds lacking in dealing with the closest, everyday things. This ethics of the care for the self requires isolation and solitude as conditions for self-knowledge and refinement of values – and in this sense they are requirements for the Epicurean way of life as well as for that of the free spirits.15

14 “With respect to the middle period Epicurus is important to any appreciation of Nietzsche’s sources and influences because it is primarily from him that he gets the inspiration to detach from the first and last things and to devote attention to the closest things — and, moreover, to learn to know and accept, even embrace, the mortal conditions of human existence.” (Ansell-Pearson 2013, 101) 15 This need of isolation – in order to refine one’s values – appears in different works of Nietzsche, connected to different themes of Nietzschean philosophy as, for example, the pathos of distance or the herd instinct. There are some textual references in Zarathustra: “Flee, my friend, into your solitude! I see you dazed by the noise of the great men and stung by the stings of the little. (…) Where solitude ends, there begins the market place; and where the market place begins, there begins too the noise of the great actors and the buzzing of poisonous flies. (…) Away from the market place and fame all greatness takes place; away from the market place and fame the inventors of new values have lived all along. Flee, my friend, into your solitude: I see you stung by poisonous flies. Flee where raw, strong air blows! Flee into your solitude! You have lived too long near the small and the pitiful.” (Z I Flies, KSA 4, 65–6); “Do you want to go into isolation, my brother? Do you want to seek the way to yourself? Linger a bit longer and listen to me. ‘Whoever seeks easily gets lost himself. All isolation is guilt,’ thus speaks the herd. And long have you belonged to the herd. (…) Lonely one, you go the way to yourself! And past you yourself leads your way and past your seven devils! To your own self you will be heretic and witch and soothsayer and fool and doubter and unholy man and villain. You must want to burn yourself up in your own flame: how could you become new if you did not first become ashes! Lonely one, you go the way of the creator: you will create yourself a god out of your seven devils!” (Z I Creator, KSA 2, 80–2). But maybe the more interesting example for our case here is BGE 26 because we find there precisely the conflict between the two philosophical positions I am trying to contrast and that probably influenced Nietzsche to change his assessment of Epicurus: “Every choice human being strives

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4 The Feeling of Power and the Transformation of Values After having presented these two uses of Epicureanism, especially their role in Nietzsche’s early critique of metaphysics and its normative implications, I will now turn to the possible reasons that may have led Nietzsche to change his evaluation of the teachings “from the Garden”. To do so I would like to draw a comparison between Epicureans and Stoics, in order to show how the principle of the feeling of power is connected with cultural transformation and revaluation of values. I emphasize this comparison because it is an interesting way to think how far the formulation of the principle of the feeling of power could be a cause for Nietzsche to review his position in relation to Epicureanism on behalf of a more engaged model of philosophical life, one that does not shirk from public cultural quarrels. In aphorism 291 of Human All Too Human, entitled “Prudence of free spirits”, Nietzsche describes a model of life very similar to that of the Epicureans, in which the individual must find a minimum but stable way of subsistence that can ensure a life mostly devoted to the pursuit of knowledge. In the course of this description, Nietzsche says that “there is in his way of living and thinking [of the free spirit] a refined heroism which disdains to offer itself to the veneration of the great masses, as his coarser brother does” (KSA 2, 235). As was already pointed out with reference to a posthumous fragment,16 Nietzsche associates Epicurus with this refined form of heroism that displays in my view a link between free spirits and Epicureans. We should however ask, who is this coarser brother that offers

instinctively for a citadel and secrecy where he is rescued from the crowds, the many, the vast majority; where, as the exception, he can forget the human norm. The only exception is when he is driven straight towards this norm by an even stronger instinct, in search of knowledge in the great and exceptional sense. Anybody who, in dealing with people, does not occasionally glisten in all the shades of distress, green and gray with disgust, weariness, pity, gloominess, and loneliness – he is certainly not a person of higher taste. But if he does not freely take on all this effort and pain, if he keeps avoiding it and remains, as I said, placid and proud and hidden in his citadel, well then one thing is certain: he is not made for knowledge, not predestined for it. Because if he were, he would eventually have to say to himself: “To hell with good taste! The norm is more interesting than the exception – than me, the exception!” – and he would wend his way downwards, and, above all, “inwards.” The long and serious study of the average man requires a great deal of disguise, self-overcoming, confidentiality, bad company (all company is bad company except with your equals); still, this is all a necessary part of the life story of every philosopher, perhaps the least pleasant, most foul-smelling part and the one richest in disappointments.” (KSA 5, 43–4) 16 NL 1878, 28[15], KSA 8, 506.

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himself to the veneration of the great masses? Based on what Nietzsche says in a passage from The Gay Science, I think we can assume that this “brother” is a Stoic. In this aphorism, entitled “Stoics and Epicureans”, Nietzsche says that the Stoic “likes to act out his insensitivity before an invited audience, which is precisely what the Epicurean gladly eschews – for he has his garden.” (GS 306, KSA 3, 544) Thus, while the Stoic has to show off his virtues, the Epicurean is content in the seclusion of his Garden: The ascetics attain a tremendous feeling of power; the Stoics as well, because they must always show themselves as victorious, unshaken. Not the Epicureans; they do not find happiness in the feeling of power over themselves, but in the fearlessness with regard to gods and nature; their happiness is negative (as pleasure should be according to E). In contrast with the feelings of power, giving in to pleasant sensations is almost neutral and weak. They [the Epicureans] lacked the mastery over nature and the feeling of power flowing therefrom. Knowledge was not yet uplifting, but taught to integrate oneself and quietly enjoy. (NL 1880, 4 [204], KSA 9, 151)17

Here the change in Nietzsche’s assessment of Epicurus becomes evident. From the perspective of the feeling of power (now understood as an evaluative criterion for the philosophical life), Epicureanism loses its appeal as a practical stance. As a path towards self-knowledge and refinement of taste, Epicureanism undoubtedly remains a highly rated (although temporary) strategic model; nonetheless, its negative account of pleasure, primarily understood as the absence of pain and distress, ultimately favors a hierarchy of values which is not consistent with the criterion of the feeling of power. There is no place for the Epicurean ideals of aponia and ataraxia in Nietzsche’s dynamic perspective of pleasure, actively reached in overcoming obstacles and exerting dominance. The Stoic strives to become insensitive to extreme situations, aiming to be able to endure the worst circumstances of life. This self-control that the Stoics practice by imposing on themselves the most painful experiences and conditions is their main means of attaining the feeling of power, and this sense of power becomes intensified when exposed to an audience. The Stoics do not isolate themselves in the imperturbability of a garden, but rather attempt to engage and

17 “Die Asketen erlangen ein ungeheures Gefühl von Macht; die Stoiker ebenfalls, weil sie sich immer siegreich, unerschüttert zeigen müssen. Die Epikureer nicht; sie finden das Glück nicht im Gefühl der Macht über sich, sondern der Furchtlosigkeit in Hinsicht auf Götter und Natur; ihr Glück ist negativ (wie nach E die Lust sein soll) Gegen die Gefühle der Macht ist das Nachgeben gegen angenehme Empfindungen fast neutral und schwach. Ihnen fehlte die Herrschaft über die Natur und das daraus strömende Gefühl der Macht. Die Erkenntniß war damals noch nicht aufbauend, sondern sie lehrte sich einordnen und still genießen.”

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intervene in the public sphere. Epicureans renounce such intervention in their refined heroic stance because for them their garden is enough. So I conclude quoting an excerpt from a letter to Köselitz from 1883, which marks Nietzsche’s main objection to Epicurus as a philosopher who would never say “I am the one who I am! Above all, do not mistake me for anyone else!”18 I consider precisely Epicurus as negative argument for my claim19: until now, and even in his time, the whole world made him pay for letting himself be misunderstood and for taking opinions about him in a light, godly-light manner. Yet in the last era of his fame, the pigs had made their way into his gardens; and it is one of the great ironies of fame, that we must bestow faith on a Seneca in favor of the Epicurean manliness and elevation of the soul – a man to whom one should always give ears, but ultimately never the ‘good faith’. In Corsica it is said: Seneca è un birbone. (An Köselitz, 03.08.1883, KGB III/1, Bf. 446)20

18 EH ‘Preface’ 1, KSA 8, 257. 19 To understand this ‘claim’, we have to take a look at a previous letter, which answers this first one. In this other letter (To Nietzsche from Köselitz, 24.07.1883, KGB III/2, Bf. 200), Köselitz makes some remarks after reading the first book of ‘Zarathustra’. He disapproves of Zarathustra, because of his willingness to destroy all superfluous people (cf. Z I ‘Preachers’, KSA 4, 55), without noting that in the absence of these people he himself could not be the same person he is – “Ein Tausend von Denen, die Z überflüssig nennt, vernichtet – und Zarath wird nicht mehr Zarathustra sein.” Having in mind what Nietzsche says about ‘superfluous people’ and their connection with the state (cf. Z I ‘Idol’, KSA 4, 61–4), Köselitz draws a parallel between Epicurus and Zarathustra: no matter how insignificant the need is that Epicurus might have in his secluded life – in order to satisfy it, several different ‘superfluous people’ have to strive and carry out their boring lives; without them, Epicurus could not be the philosopher he is. “Damit Epikur auch nur ein so geringfügiges Bedürfniss, wie das nach Käse-Essen, stillen konnte, mussten viele KuhHirten im Gebirge ein lagweiliges Leben führen, mussten Holzhacker und Kesselschmiede, Bergund Fuhrleute, Töpfer und Messerschmiede und Tischler u. s. f. sich abmühen. Epikur aber, ohne den Casëinstoff im Leibe, fühlt sich vielleicht nicht aufgelegt, die Natur ‚in ihrer göttlichen Ruhe und Glückseligkeit zu lassen’ und sich selbst als solche Natur zu fühlen.” So returning to the first letter, before this passage quoted above, Nietzsche answers his friend and clarifies his position: “Mein Glaube ist, daß es höhere und tiefere Menschen giebt, und viele Stufen und Distanzen; und es ist unerläßlich, daß der höhere Mensch nicht nur höher steht, sondern auch den Affect der Distanz fühlt und zeitweilig zu erkennen giebt — unerläßlich mindestens dafür, daß sein Höhersein wirkt, also höher macht. Wenn ich den ersten Zarathustra ganz verstehe: so will er eben an solche sich wenden, welche im Gedränge und mitten im Gesindel lebend entweder ganz und gar die Opfer dieses Distanz-Affektes werden (des Ekels, unter Umständen!) oder ihn ablegen müssen: denen redet er zu, sich auf eine einsame glückselige Insel zu flüchten — oder nach Venedig.” (To Köselitz, 03.08.1883, KGB III/1, Bf. 446) 20 “Gerade Epicur gilt mir als negatives Argument für meine Forderung: bis jetzt hat es ihm alle Welt entgelten lassen, und schon von seiner Zeit an, daß er sich verwechseln ließ und es mit der Meinung über sich leicht, göttlich-leicht nahm. Schon in der letzten Zeit seiner Berühmtheit haben sich die Schweine in seine Gärten gedrängt; und es gehört zu den großen Ironien der fama, daß wir einem Seneca zu Gunsten der Epikurischen Männlichkeit und Seelenhöhe Glauben schenken  



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Bibliography For Nietzsche’s works I used the following translations: Human, All Too Human: a Book for Free Spirits transl. by R. J. Hollingdale (1996), The Gay Science transl. by Josefine Nauckhoff (2001), Thus Spoke Zarathustra transl. by Adrian Del Caro (2006), Beyond Good and Evil: Prelude to a Philosophy of the Future transl. by Judith Norman (2002), The Anti-Christ, Ecce Homo, Twilight of the Idols and other writings transl. by Judith Norman (2005). All published with Cambridge University Press. Ansell-Pearson, Keith (2013): “True to the Earth: Nietzsche’s Epicurean Care of Self and World”. In: Horst Hutter/ Eli Friedland (Eds.): Nietzsche’s Therapeutic Teaching: For Individuals and Culture. London (Bloomsbury Academic), S. 97–116. Caygill, Howard (2006): “Under the Epicurean skies” In: Journal of the Theoretical Humanities. Vol.: 11(3), S. 107–115. Diogenes Laertius (1853): Lives and Opinions of Eminent Philosophers. (transl. C. D. Yonge). London (Henry G. Bohn, York Street, Covent Garden). D’Iorio, Paolo (2012): Le voyage de Nietzsche à Sorrente. Paris (CNRS Editions). Hume, David (2007): Dialogues concerning Natural Religion and Other Writings. Cambridge (Cambridge University Press). Kant, Immanuel (1922): Critique of Pure Reason. (transl. F. Max Müller). London (Macmillan & CO). Miłkowski, Marcin (1998): “Idyllic heroism: Nietzsche’s view of Epicurus” In: Journal of Nietzsche Studies. Vol.: 15, S. 70–79. Schopenhauer, Arthur (1886): The World as Will and Idea. (transl. R. B. Haldane and John Kemp). London (Turners & Co. Ludgate Hill), Vol 2. Shearin, H. Wilson (2014): “Misunderstanding Epicurus? A Nietzschean Identification” In: The Journal of Nietzsche Studies. Vol. 45(1), S. 68–83. Shearin, H. Wilson (2015): The Language of Atoms: Performativity and Politics in Lucretius’ De Rerum Natura. New York (Oxford University Press). Spinoza, Baruch (2002): Complete Works. (transl. Samuel Shirley). Indianapolis (Hackett Publishing Company, Inc.).

müssen — einem Menschen, dem man im Grunde immer sein Ohr, aber niemals ‚Treu und Glauben‘ schenken sollte. In Corsica sagt man: Seneca è un birbone.”

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Nietzsche und der frühromantische Kritikbegriff Abstract: Nietzsche and the Early Romantic Concept of Critique. Nietzsche is usually considered a fierce critic of romanticism. It is often overlooked, however, that his criticism mainly concerns the late European romanticism, while his attitude towards early German romanticism is characterized by appreciative ambivalence. In light of the early romantic concept of criticism, this paper examines the affinities between Nietzsche and two important representatives of early philosophical Romanticism: Friedrich Schlegel and Novalis. Specifically, it exhibits the systematic continuity a) between the concept of romanticising (romantisieren) and Nietzsche’s perspectivism, and b) between the early romantic idea of ‘infinite reflection’ and Nietzsche’s talk of a ‘new infinity’.

1 Nietzsches Verständnis der Frühromantik Das Verhältnis zwischen Nietzsche und der Frühromantik wird in der Sekundärliteratur unter drei Aspekten betrachtet: Periodenverständnis, ästhetische Inszenierung und der Vergleich mit Friedrich Schlegel und Novalis, den Hauptvertretern der philosophischen Frühromantik. Dabei ist der letztere Aspekt in philosophischer Hinsicht am wichtigsten. Nach einer kurzen Exposition der drei Aspekte soll unter dem Nenner der Kritik eine systematische Annäherung zwischen Nietzsche und den Frühromantikern versucht werden. Denn sowohl bei den Frühromantikern als auch bei Nietzsche erscheint die Kritik als „der gemeinschaftliche Träger, auf dem das ganze Gebäude der Erkenntnis und der Sprache ruht“ (Schlegel 1975, 55). Periodenverständnis: „Nietzsche hat“, wie Silvio Vietta treffend bemerkt, „keinen über die Zeit hinausgehenden substanziellen Begriff der Romantik als Epoche“ (Vietta 2009, 20). Genau deswegen ist für die Interpretation wichtig, zwischen Früh- und Spätromantik zu differenzieren. Ist bei Nietzsche die Rede von der Romantik, dann wird überwiegend die spätere Phase der Romantik gemeint, d. h. die französische Spätromantik der dreißiger und vierziger Jahre (Baudelaire, Chateaubriand, Delacroix) und Wagner als das deutsche Pendant (exemplarisch dazu JGB 256, KSA 5, 202ff.). Darauf hat schon sehr früh Karl Joël aufmerksam gemacht. „Nietzsche“, so Karl Joël „bekämpft als Romantik nicht die eigentliche, die Frühromantik um die Jahrhundertwende, sondern die spätere.“

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(Joël 1905, 158f.) Dieser Interpretationslinie folgen Ernst Behler und die meisten Interpreten bis heute. Während die europäische Spätromantik einen festen Referenzpunkt in Nietzsches Schriften darstellt, wird die deutsche Frühromantik sehr spärlich erwähnt. Ist das ein Hinweis, dass Nietzsche die Frühromantik ignoriert oder durch Schweigen verschont? Dass er sie ignoriert, ist schlicht unhaltbar, denn es ist reichlich belegt, dass er sie gut kannte. Von einer Verschonung kann ebenfalls schwer die Rede sein, da seine Urteile über die Frühromantik keineswegs positiv ausfallen, wobei Nietzsche zwischen Friedrich Schlegel und Novalis stark differenziert. Novalis gegenüber ist er weit positiver gestimmt und nennt ihn eine Autorität „in Fragen der Heiligkeit durch Erfahrung und Instinct“ (MA I 142, KSA 2, 138, vgl. Behler 1978, 68). Dass Nietzsches Akzent auf die Spätromantik fällt, soll nicht von der Tatsache ablenken, dass die Frühromantik eindeutig in der Romantik-Kritik mitgemeint ist. Nietzsche verliert die Kontinuität zwischen Früh- und Spätromantik nie aus den Augen, wie dies an vielen Stellen ersichtlich wird (z. B. NL 1888, KSA 13, 16 [36]). Ästhetische Inszenierung: Inszeniert sich Nietzsche als Antiromantiker? Hier dürfte die Antwort positiv ausfallen. Das Wichtigste, was Nietzsche über die Frühromantik äußert, stammt von Goethe. Das gilt sowohl für die Charakterisierung der Romantik als krankhaft, die er aus Goethes populärer Maxime „Klassisch ist das Gesunde, romantisch das Kranke“ (Goethe 1998, 487) übernimmt, als auch für die weniger bekannte Rede vom „Wiederkäuen sittlicher und religiöser Absurditäten“ (NL 1888, KSA 13, 495), der aus einem Brief Goethes an Zelter stammt (vgl. Schmidt 2009, 237) und sich auf Friedrich Schlegel bezieht. Aufgrund ihres inszenierten Charakters sollten die Aussagen gegen die Frühromantik stark relativiert werden. Sie sind aus zweiter Hand und dienen Nietzsche zur Selbststilisierung als Klassiker und Opponent des deutschen Idealismus, mit dem zur Zeit Nietzsches die Frühromantik identifiziert worden war. Vergleich mit Friedrich Schlegel und Novalis: Ist der Vergleich zwischen Nietzsche, Friedrich Schlegel und Novalis tragbar? Dieser Aspekt ist für eine systematische Interpretation am wichtigsten. Eine Wahlverwandtschaft ist schnell festzustellen. Neben einigen historischen Kontinuitätslinien wie im Fall des Dionysischen sind die Parallelen einfach zu viele. Einige davon zeigen sich in einem bewusst exzessiven sprachlichen Duktus, in aphoristischer Schreibweise, Systemfeindlichkeit, Witz und Ironie, philosophischer Aufwertung der Kunstkritik und einem lebensphilosophischen Impetus. Die grundsätzliche Frage lautet allerdings, wie tiefgründig diese Wahlverwandtschaft ist. Wie es zu zeigen gilt, ist Nietzsches Affinität zu der Romantik systematisch dadurch bedingt, dass die Frühromantik und Nietzsche mit einem ähnlichen Kritikkonzept operieren. Am Leitfaden von Nietzsches Perspektivismus und der ‚unendlichen Reflexion‘ der Frühromantik soll im Folgenden das begriffliche

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Umfeld des Kritikkonzepts konturiert werden. Dadurch möchte ich Behlers Ansatz weiterführen, der Nietzsche und die frühromantische Figur der unendlichen Reflexion in den Mittelpunkt dieser Wahlverwandtschaft stellt (Behler 1978, 83; vgl. auch Behler 1973).

2 Unendliche Reflexion und Perspektivismus Die Welt muß romantisirt werden. So findet man den urspr[ünglichen] Sinn wieder. Romantisiren ist nichts als eine qualit[ative] Potenzirung. Das niedre Selbst wird mit einem bessern Selbst in dieser Operation identificirt. So wie wir selbst eine solche qualit[ative] Potenzenreihe sind. Diese Operation ist noch ganz unbekannt. Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnißvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe so romantisire ich es – Umgekehrt ist die Operation für das Höhere, Unbekannte, Mystische, Unendliche – dies wird durch diese Verknüpfung logarythmisirt – Es bekommt eine geläufigen Ausdruck. romantische Philosophie. Lingua romana. Wechselerhöhung und Erniedrigung. (Novalis 1965, 545)

Unter dem Stichwort Romantisieren subsumiert Novalis alles, was die Philosophie der Frühromantik kennzeichnet. Es geht um die Deutung des Romantisierens. Allein die Wortwahl – ein substantiviertes Verb anstatt des Substantivs Romantik – weist auf einen experimentellen und prozessualen Charakter, auf eine ‚Operation‘ hin. Romantisieren wird durch den zweitwichtigsten Begriff der Frühromantik gedeutet: die ‚Potenzirung‘. Schlegel beschreibt die Potenzierung als ein „in sich Zurückgehen“, als das „aus sich Herausgehen“, das „Wurzelziehen der Mathematik“ (zit. nach Benjamin 1920, 30). Der Prozess des Romantisierens bedeutet eine qualitative Potenzierung, die eine ständige Metaebene zur Folge hat, wo Subjekt und Objekt der Reflexion ineinander greifen. So finden sich oft in den frühromantischen Fragment-Sammlungen Ausdrücke wie ‚Philosophie der Philosophie‘, ‚Poesie der Poesie‘ oder Adjektive wie ‚logologisch‘, die als sprachliche Entsprechungen des mathematischen Potenzbegriffs zu verstehen sind. Gemeint wird mit dieser mathematischen Metapher – Potenz bedeutet x hoch zwei, drei usw. – eine Figur der Steigerung von Sinn und Reflexion durch eine Praxis, die Walter Benjamin in Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik als ‚unendliche Reflexion‘ bezeichnet. Was ʽunendliche Reflexionʼ bedeutet, fasst Behler zusammen: [Ε]ine Reflexion, bei der das Denken im Selbstbewußtsein unaufhaltsam über sich selbst reflektiert und in der Unendlichkeit seiner Potenzenreihen zu immer höherer Selbsterfassung zu gelangen strebt. Die in dieser Reflexion erfahrenen Gegensätze und Widersprüche sollten nicht in einer Synthese aufgehoben werden, sondern den Stachel für die Bewegung des Geistes bilden, der sich in einem ‚Schweben‘ zwischen den Antinomien und einem ständigen Wechsel zwischen den Antithesen entfaltet und reicher wird. (Behler 1978, 82)

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Beim Romantisieren geht es um eine Operation, die durch einen ständigen Perspektivenwechsel ermöglicht wird: Das Gemeine wird erhöht, das Hohe trivialisiert; das Bekannte als Unbekanntes betrachtet, das Unendliche endlich gemacht. Die Auflistung dieser Kontrastpaare zeigt das Romantisieren als Umkehrung von Perspektiven, als Schweben zwischen den Antinomien und ständigem Wechsel zwischen den Antithesen (Behler 1978, 82). Das oben zitierte Novalis-Fragment lässt sich besser verstehen durch eine Gegenüberstellung mit dem Prolog zu den Lyrischen Balladen (1800) von William Wordsworth, einem der wichtigsten programmatischen Texte der englischen Romantik. Der folgende Passus, der Novalis‘ Fragment erstaunlich ähnlich ist, zeigt wie die Reflexions- und Umkehrungsfigur, die bei Novalis die Auflistung der Kontrastpaare signalisiert, in der Literatur zu denken wäre: The principal object, then, proposed in these Poems was to choose incidents and situations from common life, and to relate or describe them, throughout, as far as was possible in a selection of language really used by men, and, at the same time, to throw over them a certain colouring of imagination, whereby ordinary things should be presented to the mind in an unusual aspect; and, further, and above all, to make these incidents and situations interesting by tracing in them, truly though not ostentatiously, the primary laws of our nature: chiefly, as far as regards the manner in which we associate ideas in a state of excitement. (Wordsworth 2008, 173)

Gehen wir näher auf diese Passage ein. Das Ordinäre wird aus einem ungewöhnlichen Blickwinkel betrachtet. Von weit größerem Interesse scheint das Anliegen dahinter: Es gilt, den Gesetzen unserer Natur auf die Spur zu kommen. Das Kunstwerk ist Reflexionsmedium und Experimentfeld zur Entdeckung der Grundgesetze unserer Natur. Zu diesem Zweck werden nun feste Überlieferungen auf die Art eines Kaleidoskops geschüttelt. So ändern sich die Konstellationen und neue Sichtweisen werden geprägt. Dieses Verfahren (Trivialisierung des Hohen, Bekanntmachung des Unbekannten, Erhöhung des Gemeinen, Verendlichung des Unendlichen), welches Wordsworth eher mit der Literatur verbindet und Novalis mehr mit der Philosophie, generiert unbegrenzte Möglichkeiten und gestaltet somit die neue Form des Unendlichen. Die Frühromantiker verstehen unter der Unendlichkeit der Reflexion „eine Unendlichkeit des Zusammenhanges“ (Benjamin 1920, 19). Die ‘unendliche Reflexion’ der Frühromantik scheint Nietzsches ‘neues Unendliches’ vorwegzunehmen: U n s e r n e u e s ‚ U n e n d l i c h e s ‘ . — Wie weit der perspektivische Charakter des Daseins reicht oder gar ob es irgend einen andren Charakter noch hat, ob nicht ein Dasein ohne Auslegung, ohne ‚Sinn‘ eben zum ‚Unsinn‘ wird, ob, andrerseits, nicht alles Dasein essentiell ein a u s l e g e n d e s Dasein ist — das kann, wie billig, auch durch die fleissigste und

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peinlich-gewissenhafteste Analysis und Selbstprüfung des Intellekts nicht ausgemacht werden: da der menschliche Intellekt bei dieser Analysis nicht umhin kann, sich selbst unter seinen perspektivischen Formen zu sehn und n u r in ihnen zu sehn.[…] Die Welt ist uns vielmehr noch einmal ‚unendlich‘ geworden: insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, dass sie u n e n d l i c h e I n t e r p r e t a t i o n e n i n s i c h s c h l i e s s t […] Ach, es sind zu viele u n g ö t t l i c h e Möglichkeiten der Interpretation mit in dieses Unbekannte eingerechnet, zu viel Teufelei, Dummheit, Narrheit der Interpretation, — unsre eigne menschliche, allzumenschliche selbst, die wir kennen… (FW 374, KSA 3, 626)

Das ‚neue Unendliche‘, worauf sich Nietzsche und die Frühromantiker beziehen, ist der Perspektivismus. Diese neue Form des Unendlichen ist allein in der immanenten Welt zu suchen, sie ist ‚menschlich, allzumenschlich‘. Ihr Kennzeichen ist ein Überschuss von Interpretationen; es geht um die progressive Entfaltung eines perspektivistischen Potenzials. Perspektive oder Perspektivismus sind keine für die Frühromantik charakteristischen Begriffe, die Metapher der Perspektive kommt aber in einem zentralen Text der literarischen Frühromantik vor bei einem Autor, der mit dem Jenaer Kreis eng verbunden war, Clemens Brentano. Sein Roman Godwi, 1800 und 1801 erschienen, enthält ein ganzes Kapitel, das ausschließlich dem Begriff des Romantischen gewidmet ist. Im achten Kapitel von Godwi wird das Romantische versuchsweise definiert und, was in unserem Kontext viel wichtiger ist, direkt mit dem Perspektivismus in Verbindung gebracht, wenn nicht sogar gleichgesetzt: Alles, was zwischen unserm Auge und einem entfernten zu Sehenden als Mittler steht, uns den entfernten Gegenstand nähert, ihm aber zugleich etwas von dem Seinigen mitgiebt, ist romantisch.[…] das Romantische ist also ein Perspectiv [Hervorhebung M. P.] oder vielmehr die Farbe des Glases und die Bestimmung des Gegenstandes durch die Form des Glases. (Brentano 1978, 314)

3 Der Kritikbegriff und ihr musikalischer Hintergrund Nachdem ‚Romantisieren‘, ‚Perspektivismus‘ und ‚neues Unendliches‘ in einen systematischen Zusammenhang gestellt worden sind, soll nun die Frage nach einem gemeinsamen Kritikbegriff gestellt werden. Auf den ersten Blick scheint dies problematisch. Der Begriff der Kritik ist für die Frühromantik zentral. Dagegen hat Nietzsche keinen ausgeprägten Kritikbegriff. Ist hier ein Vergleich überhaupt möglich? Dieser Einwand ist nur zum Teil berechtigt. Es ist wahr, dass Nietzsche keinen ausgeprägten Kritikbegriff hat. Das hat aber damit zu tun, dass es in seinen

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Schriften kaum etwas gibt, was nicht als Kritik zu verstehen ist. Seine Philosophie ist Kultur-, Kunst-, Moral-, Metaphysikkritik, Kritik der Moderne als Kulturkritik und Kritik aus dem Standpunkt der klassischen oder historischen Lebensphilosophie. Allen diesen Formen der Kritik liegt eine Erkenntnis- und Sprachkritik zugrunde, die in die performative Kritik einer unendlichen Reflexion mündet. Dabei hat den musikalischen Hintergrund des Kritikbegriffs eine kardinale Bedeutung. Sowohl Nietzsche als auch Friedrich Schlegel und Novalis betrachten die Sprache aus dem Geist der Musik. Zuerst suchen sie zu zeigen, dass die Sprache kein wahrheitsabbildendes Zeichensystem ist. Exemplarisch dafür stehen Nietzsches Wahrheit und Lüge im außermusikalischen Sinne und Novalis’ Monolog. Beide Texte gehören zur Tradition des „internen Relationismus, der die Sprache von der außersprachlichen Realität trennt.“ (Schmidt 2009, 253) Dann machen sie aufmerksam auf die Sprache als musikalische Konstruktion, als eine Kombination von Vokalen und Konsonanten, die mit Sinn gefüllt werden, Sinneinheiten bilden und sich in immer breiteren Zusammenhängen innerhalb der Kultur geschichtlich entfalten. So groß die Versuchung sein mag, in Novalis’ Satz „Musizieren mit Gedanken“ nichts mehr als ein musterhaftes Bonmot zu sehen, bergen diese drei Worte eine radikale Sprachkritik, die den Modus der Kritik einer unendlichen Reflexion bestimmt. Die Sprache aus dem Geist der Musik zu betrachten, sie vom Abbildungsmodus zu verabschieden, bedeutet, der Sprache wegen des unbestimmten und unerschöpflichen musikalischen Materials einen ebenso unerschöpflich kreativen Charakter zuzuschreiben.

4 Die Kongenialität der Kritik Friedrich Schlegel, Novalis und Nietzsche waren geniale Kritiker. Sowohl Schlegels und Novalis’ Kritik des Wilhelm Meister als auch Nietzsches Wagnerkritik sind kongenial mit dem Gegenstand ihrer Kritik. Sie setzen sich mit dem Gedanken des Kunstwerks als höchsten Reflexionsmediums – in der romantischen Tradition des kreativen Unbewussten – auseinander und dadurch ergänzen sie es. Die Prämisse hier ist das, was Schlegel das ‘Unbestimmte’ oder das ‘Unbedingte’ des Werks nennt (vgl. Schlegel 1981, 122), eine positive Eigenschaft einer nicht abgeschlossenen Offenheit, die dem – im kanonischen Sinne – klassischen Werke eigen ist. Nietzsche und die Frühromantiker haben die Kunstkritik primär nicht als Wert- oder Geschmacksurteil verstanden, sondern als Ergänzung des reflektierenden Potenzials des Kunstwerks. Goethes Wilhelm Meister, Wagners Tristan und Parsifal werden als die innigsten Reflexionsmedien ihrer Zeit betrachtet,

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deren Aussagekraft mit der eines philosophischen Werkes vergleichbar ist. Während diese strikt philosophische Dimension der Kritik bei Schlegel und Novalis lange bekannt ist und dank Benjamin zu den wichtigsten Leistungen der Frühromantik zählt, wird sie bei Nietzsche oft vergessen, nicht zuletzt weil der polemische Duktus der zur Publikation gedachten Schriften die philosophische Auseinandersetzung mit Wagner leider bis heute überschattet. Diese aber hat ihre Höhepunkte bereits in der dritten Unzeitgemäßen Betrachtung: Richard Wagner in Bayreuth und vor allem im Nachlass der Achtziger Jahre erreicht, wo das Schweben über Antinomien von Nietzsche bejaht wird. In allen Phasen seiner Wagnerkritik hat Nietzsche vielleicht das Kritiker-Ideal verwirklicht, das Friedrich Schlegel in den Fragmenten zur Litteratur und Poesie beschreibt: Der gute Kritiker und Charakteristiker muß treu, gewissenhaft vielseitig beobachten wie der Physiker, scharf messen wie der Mathematiker, sorgfältig rubriciren wie der Botaniker, zergliedern wie d.[er] Anatom, scheiden wie der Chemiker, empfinden wie der Musiker, nachahmen wie ein Schauspieler, praktisch umfassen wie ein Liebender, überschauen wie ein φσ [Philosoph], cyclisch studieren wie ein Bildner, strenge wie ein Richter, religiös wie ein Antiquar, den Moment verstehn wie ein Politiker (Schlegel, 1981, 138).

Diese Sätze, die auch aus Nietzsches Schriften hätte stammen können, demonstrieren erstens, wie hoch die Frühromantik die Aufgabe der Kritik gehalten hat und zeigen, zweitens, ihre Orientierung am Perspektivismus. Das Resultat der Kritik ergibt sich aus dem Abstrahieren von Perspektiven, die der Gegenstand der Kritik aus sich selbst heraus generiert. Zusammenfassend bedeutet Kritik für Nietzsche, Friedrich Schlegel und Novalis somit die unendliche Reflexion unter den Nennern des Perspektivismus und der musikalischen Natur der Sprache. Was diese gemeinsame Kritikkonzeption von anderen differenziert, ist, dass Kritik als eine Operation wahrgenommen wird, die den Gegenstand der Kritik auf Augenhöhe ergänzt, indem sie seine Grenzen ständig erweitert. Exemplarisch für diese Operation steht die Kunstkritik, die aus diesem Grund als Vorbild für die Philosophie gilt. Daher wird diese Kritikkonzeption durch ihren produktiven Charakter ausgezeichnet.

Literaturverzeichnis Behler, Ernst (1973): „Die Kunst der Reflexion. Das frühromantische Denken im Hinblick auf Nietzsche“. In: Vincent J. Günther et al. (Hg.): Untersuchungen zur Literatur als Geschichte. Festschrift für Benno von Wiese. Berlin (Erich Schmidt), S. 219–248. Behler, Ernst (1978): „Nietzsche und die frühromantische Schule“. In Nietzsche-Studien 7, S. 59– 96.

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Manos Perrakis

Benjamin, Walter (1920): Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. Bern (A. Francke). Brentano, Clemens (1978): Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter. Ein verwilderter Roman von Maria. Stuttgart (Kohlhammer). Goethe, J.W. (1998): „Maximen und Reflexionen“. In Erich Trunz (Hg.): Goethe: Werke. München (Beck), Bd. 12. Joël, Karl (1905): Nietzsche und die Romantik. Jena/Leipzig (Diederichs). Novalis (1965): „Poëticismen“. In Paul Kluckhohn und Richard H. Samuel (Hg.): Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs Stuttgart (Kohlhammer), Bd. 2. Schlegel, Friedrich (1975): „Vom Wesen der Kritik“. In Ernst Behler unter Mitwirkung von JeanJaques Anstett und Hans Eichner (Hg.): Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Paderborn (Schöningh). Bd. 3. Schlegel, Friedrich (1981): „Fragmente zur Litteratur und Poesie“. In Ernst Behler (Hg.) unter Mitwirkung von Jean-Jaques Anstett und Hans Eichner (Hg.): Kritische Friedrich-SchlegelAusgabe. Paderborn (Schöningh). Bd. 16. Schmidt, Friedrich (2009): „Nietzsche und die Romantik“. In: Colloquium Helveticum. Schweizer Hefte für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft 39, S. 233–260. Vietta, Silvio (2009): „Transzendentale Texttheorie und Dezentrierung der Subjektivität bei Schlegel und Nietzsche“. In: Klaus Vieweg (Hg.): Friedrich Schlegel und Friedrich Nietzsche. Transzendentalpoesie oder Dichtung mit Begriffen. Paderborn et al. (Ferdinand Schöningh), S. 13–24. Wordsworth, William (2008): „Preface to Lyrical Ballads“. In: Michael Gamer/Dahlia Porter (Hg.): Lyrical Ballads between 1798 and 1800. Samuel Taylor Coleridge and William Wordsworth. Toronto (Broadview), S. 171–187.

Melanie Shepherd

Genealogy and Perspectivism: Nietzsche’s Transformation of Kantian Critique Abstract: Genealogy and Perspectivism: Nietzsche’s Transformation of Kantian Critique. In the Genealogy, Nietzsche describes Kant’s speculative project as ascetic in the way that it turns reason against itself, positing a noumenal realm and then denying reason access to it. In this paper, I will show that Nietzsche’s perspectivism builds upon Kant’s project by understanding reason’s limits as productive of knowledge, but Nietzsche transforms Kant’s project by understanding the intellect as contingent. Finally, I will show that Nietzsche’s transformation of the Kantian project prioritizes a certain conception of value and posits the inseparability of value from knowledge.

1 Introduction In On the Genealogy of Morals, Nietzsche says that Kantian critique follows an ascetic intellectual tradition, discordant in the way it “loves to turn reason against reason” (GM III 12, KSA 5, 364). Kantian critique is a project of reason’s selflimitation, wherein reason finds an intelligible character to things that cannot be brought into the realm of the understanding. While the Genealogy exposes the danger of asceticism of all kinds for life, Nietzsche suggests that the self-limiting activity of reason in the Kantian project prepares the way for a new knowledge and new objectivity characterized by a multiplication of perspectives: There is only a perspective seeing, only a perspective ‘knowing; and the more affects we allow to speak about one thing, the more eyes, different eyes, we can use to observe one thing, the more complete will our ‘concept’ of this thing, our ‘objectivity,’ be. (GM III 12, KSA 5, 365)1

For Nietzsche as for Kant, the discovery of reason’s limits produces knowledge. In this paper, I will examine Nietzsche’s genealogy and perspectivism as transforma-

1 Christopher Janaway makes a compelling case that this passage employs Schopenhauerian means to critique Schopenhauer. While Nietzsche is certainly engaging Schopenhauer, particularly in the final paragraph of GM III 12, Nietzsche’s transition from the point about Kant to the issue of seeking knowledge in that passage suggests that an engagement with Kant is also worth developing. See Janaway (1998).

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tions of Kantian critique.2 I will show that while Nietzsche finds the limits of knowledge to be rooted in the intellect’s contingency, rather than its necessity, he follows Kant in making limits productive of knowledge, in a way that recognizes the priority of value in knowledge.

2 Kant and Nietzsche on Self Knowledge For Kant, it is certainty in experience that necessitates critique. Because we experience a unity and certainty in experience that cannot itself come from experience, reason is directed to delineate its own structure, clarifying the shape that any possible knowledge must take. Reason thus thinks its own limits. While Kant inherits the project of thinking the limits of reason from Hume, Kant’s project takes a different direction, in that the limits exposed are ultimately the very structure of experience itself. In this way, we might say that reason turns toward itself, and the negative project of limitation culminates in an optimistic assessment of reason’s possibilities. Yet Nietzsche finds here a spirit raging against itself because this project of critique results in the production of a thing-in-itself inaccessible to human knowledge. In the Genealogy, Nietzsche presents his perspectival understanding of knowledge as an antidote to Kant’s epistemological asceticism. Kant’s speculative project aims toward a practical project in that he delineates the categories so as to free purely moral ideas from experience. His critique of pure reason is then ultimately rooted in a moral concern. Nietzsche’s major statements concerning human knowledge in the Genealogy occur in the context of a critique of our moral faculties, and, as I will show, they are also rooted in a certain conception of value. While Nietzsche’s critique of morality has disparate targets, he frames the project in the Preface as a response to Kant: “Was that what my a priori demanded of me?” (GM Preface 3, KSA 5, 249). Indeed, genealogy can be understood as a transformation of the kind of critique by which Kant establishes an a priori, and Nietzsche’s use of the term in the Preface shows us that what will be established in genealogy will echo and respond to Kant’s a priori. Nietzsche says in the Preface to the Genealogy that knowledge necessarily precludes self-knowledge:

2 Recently, Maudemarie Clark and David Dudrick have claimed that Nietzsche positions himself as Kant’s “true heir” in his commitment to the idea of the normative character of all thought in Beyond Good and Evil. I agree with Clark and Dudrick and others that Nietzsche finds all thought to be normative, but here I take Nietzsche’s primary inheritance from Kant to be the idea of critique, which he transforms significantly. See Clark & Dudrick (2012) and Louden (2014).

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We are unknown to ourselves, we men of knowledge—and with good reason. We have never sought ourselves—how could it happen that we should ever find ourselves? It has rightly been said: ‘Where your treasure is, there will your heart be also’; our treasure is where the beehives of our knowledge are. We are constantly making for them, being by nature winged creatures and honey-gatherers of the spirit; there is one thing alone we really care about from the heart—‘bringing something home.’ Whatever else there is in life, so-called ‘experiences’—which of us has sufficient earnestness for them? Or sufficient time? Present experience, has, I am afraid, always found us ‘absent-minded’: we cannot give our hearts to it—not even our ears! (GM Preface 1, KSA 5, 247)

The men of knowledge, with whom he seems to identify in this passage, cannot know themselves, but Nietzsche says it is because they have never sought themselves. Yet, far from suggesting that it is now time to seek what they failed to seek before, he instead reaffirms at the end of the passage that men of knowledge are necessarily furthest from themselves for all eternity. Thus, while the Genealogy will reveal to us the origins of our basic moral conventions, inevitably rendering us somewhat more transparent to ourselves, Nietzsche is announcing at the outset that we should not understand such a project as getting us any closer to self-knowledge. If genealogy gets us no closer to self-knowledge, despite offering what seems to be an indispensable contribution to self-understanding generally understood, then we must investigate further what precisely genealogy does and does not make intelligible. The necessary disjunction of knowledge and self-knowledge that Nietzsche notes in the Preface has its methodological roots in Kant, who writes in the first Critique: The proposition, ‘I think’ or ‘I exist thinking’, is an empirical proposition. Such a proposition, however, is conditioned by empirical intuition, and is therefore also conditioned by the object [that is, the self] which is thought [in its aspect] as appearance. It would consequently seem that on our theory the soul, even in thought, is completely transformed into appearance, and that in this way our consciousness itself, as being a mere illusion, must refer in fact to nothing. (Kant 1929, 381)

Kant has turned reason toward itself, but he finds that turning inward is just the same thing as attending to the nature of experience. Reason’s limits are simply the meeting place of reason and experience, and reason is only recognizable in being reflected back to itself through experience. Having secured the knowledge of reason’s limits in the categories, Kant turns to the “I think,” but this turn inward is effectively blocked by the structure of reason itself. While reason’s natural tendency is to posit a self prior to the categories that give us appearance, when we look for that self, we find only a representation of it, intelligible to thought. Thought cannot access consciousness itself, and when it turns inward, it meets

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only its own structured understanding, so that it cannot escape the way in which every object it thinks has already been shaped according to its own laws. When it turns inward, it finds only that part of itself which is already outer. As in Kantian critique, Nietzsche’s genealogy turns reason against itself to think its own limitations, but in so doing, it brings the perspectival nature of knowledge to light through a critique of moral reason that exposes its thoroughly material and political origins. Whereas Kant is met with necessity when turning reason on itself, Nietzsche finds contingency. Necessity blocks Kant’s access to the self that he can nevertheless imagine, but Nietzsche shows that the contingency and multiplicity at the heart of interior life and moral reason make the idea of a pure self nonsensical. In showing that our moral reasoning is a contingent product of history, both the idea of a Subjekt with a necessary structure and the idea of a stable permanent self are also compromised because Nietzsche makes even our drive for knowledge a motivated drive rooted in historical contingency. The shape of our will to truth, even when self-aware, is still bound up with the history of Christian morality, and even where it occurs free of Christian values, it bears some trace of their influence. Thus, analyzing the value and origin of moral values also clarifies something about the nature of knowledge in general. As Maudemarie Clark and David Dudrick have argued, Nietzsche’s project of philosophical psychology is only possible from “a perspective constituted by values” (Clark/Dudrick 2012, 135). The perspectival nature of knowledge is then announced in conjunction with the denial of both the “‘pure, will-less, painless, timeless knowing Subjekt,’” and “‘pure reason’” (GM III 12, KSA 5, 365). Nietzsche follows Kant’s reflexive critical style in the quest for knowledge, but this reflexive turn of reason against itself delivers a knowledge that turns Nietzsche’s men of knowledge back into their beehives and away from themselves. Yet it is not entirely clear why Nietzsche would speak so definitively against the possibility of self-knowledge simply because contingency makes it impure, when the same dynamic of contingency and perspective seems not to deter him from knowledge more generally. Given this disparity, it seems most likely that Nietzsche’s denial that the men of knowledge can know themselves is simply a rearticulation of the Kantian point that we cannot apprehend a pure self. Nietzsche’s emphasis on our inability to tend to “present experience” while nevertheless concentrating on “‘bringing something home’” in that passage suggests that he is commenting on the impossibility of being present to oneself, since selfreflection means precisely that our present is constituted by the past, forever placing us at a distance from ourselves, even as we try to understand ourselves. As soon as we engage in the kind of conceptualization that would allow us to know or communicate an experience, that experience has already passed. Thus, Nietzsche “brings something home” when he gathers the kind of narratives that allow us to

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better understand ourselves, but what we understand through this knowledge is that pure presence is impossible. It seems, then, that this passage in the Preface only restates the Kantian point that we cannot have access to a pure self. Yet this leaves two problems: 1) why does Nietzsche not make the stronger claim about the nonsensical nature of a pure self in the Preface? And 2) why does this proscription on self-knowledge matter for the kind of knowledge that Nietzsche gathers in the Genealogy? Nietzsche does not suggest the stronger claim that the idea of a pure self is an unhelpful fiction until later in the first essay when he claims that there is no doer behind the deed, “no ‘being’ behind doing, effecting, becoming” (GM I 13, KSA 5, 279) and in the passage on perspective in the third essay. That he does not suggest it in the passage on the impossibility of self-knowledge in the Preface indicates that he does not understand that weaker and more Kantian point – that we can never know a pure self – to be at odds with the stronger claim that there is no self. Instead, it seems, genealogy develops the point that we are unknown to ourselves into the point that the self is a fiction in the service of ascetic values. The problem, then, with the weaker claim, only becomes apparent when we consider how it has been employed in the service of ascetic values. Declaring the self to be forever at a distance from knowledge still leaves a remainder that in Kant’s case is appropriated as a pure source for thought experiences that transcend the categories of the understanding; thus, leaving an unknown self allows a remainder from which ideas of “pure reason” can emerge. When genealogy shows the way in which such seemingly neutral ideas as a self are in fact appropriated in the service of morality, Nietzsche shows it is necessary to take the next step beyond calling the self unknowable and shows that the inability to experience a self leaves us no good reason to suppose one at all, other than in that fictional form we find used in morality. This too serves values, but not ascetic ones. While Kant declares the self unknowable, he finds the structure of subjectivity to be both knowable and necessary. Something in the knower makes knowledge reliable. As we have seen, Nietzsche’s turn inward reveals only contingency, and this seems like the most obvious reason to begin the project of genealogy with a reflection on the impossibility of self-knowledge. In this reflection on the impossibility of self-knowledge in the Preface, Nietzsche also questions the notion of “experience” (Erlebnisse), so the problem of self-knowledge turns out to be a problem for knowledge more generally. The contingency at the level of the Subjekt, which leads Nietzsche to reject the idea as meaningful, makes a pure present impossible.

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3 Perspective and Value The impossibility of presence and the pervasiveness of contingency does not, however, dissuade Nietzsche from knowledge. Rather, he says, the intellect can prepare for a new objectivity by controlling its pros and cons to enable a variety of perspectives to emerge in the service of knowledge: But precisely because we seek knowledge, let us not be ungrateful to such resolute reversals of accustomed perspectives and valuations with which the spirit has, with apparent mischievousness and futility, raged against itself for so long: to see differently in this way for once, to want to see differently, is no small discipline and preparation of the intellect for its future ‘objectivity’—the latter understood not as ‘contemplation without interest’ (which is a nonsensical absurdity), but as the ability to control one’s Pro and Con and to dispose of them, so that one knows how to employ a variety of perspectives and affective interpretations in the service of knowledge. (GM III 12, KSA 5, 365f.)

Given the state of the Subjekt that comes to light in Nietzschean critique, this is hardly a simple task. The problem, of course, is that this supposes the selfapprehension of some intellect separate from its so-called “pros and cons,” the impossibility of which has been demonstrated. What does “self-control” mean for an intellect constituted by contingencies? Nietzsche suggests that we need “das Vermögen, sein Für und Wider in der Gewalt zu haben und aus- und einzuhängen” (GM III 12, KSA 5, 364). The first part of this passage suggests an ability to take control of one’s general dispositions, but that taking control seems to consist of the intellect hanging up its pros and cons like clothing, which suggests that the intellect is 1) able to recognize its dispositions as something to shed, and 2) can actually take them off and suspend them. But if the intellect lacks a stable identity, it is nothing more than this reflexive activity of apprehending an affect and suspending it. Furthermore, the suspension of the affects is not itself the way that the intellect assumes the posture of knower, but one engages in such suspension in order to employ a greater range of perspective. Reason would be the distancing reflection in any act of thinking that carries with it an awareness of the perspectival conditions of that thought. We might suppose, then, that a reflective thinking that constantly seeks to underscore and enhance its own perspectival character is what Nietzsche means by the “objectivity” characterized by a multiplicity of perspectives. But aphorism 374 in The Gay Science complicates this optimism concerning the possibilities of controlling one’s dispositions in the service of knowledge, when he writes:

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How far the perspective character of existence extends or indeed whether existence has any other character than this; whether existence without interpretation, without ‘sense,’ does not become ‘nonsense’; whether, on the other hand, all existence is not essentially actively engaged in interpretation—that cannot be decided even by the most industrious and most scrupulously conscientious analysis and self-examination of the intellect; for in the course of this analysis the human intellect cannot avoid seeing itself in its own perspectives, and only in these. We cannot look around our own corner: it is a hopeless curiosity that wants to know what other kinds of intellects and perspectives there might be; for example, whether some beings might be able to experience time backward, or alternately forward and backward (which would involve another direction of life and another concept of cause and effect). (GS 374, KSA 3, 626f.)

Here Nietzsche reminds us that we cannot decide on the question of whether the entire character of existence is perspectival because we cannot, as he says, “look around our own corner” to see anything outside of our very own perspective (GS 374, KSA 3, 626). We cannot therefore speak of existence itself having a perspectival character, but we are instead limited to acknowledging that we are entirely limited to interpretations from our own perspective. Nietzsche says that this insight gives us a renewed sense of the infinite, but he emphasizes the indefiniteness of this infinite in a way that encourages skepticism: “Rather has the world become ‘infinite’ for us all over again, inasmuch as we cannot reject the possibility that it may include infinite interpretations.” (GS 374, KSA 3, 627) We are not confronted with infinite interpretations, but only with the lingering suspicion of the possibility of infinite interpretations that we are unable to access. The best we are able to do, Nietzsche suggests, is to acknowledge that perspectives other than ours are possible. But this acknowledgement and the negative infinity accompanying it does little to create the promise of knowledge. Instead, Nietzsche says, it is at risk, as all unknowns are, of being deified, and Nietzsche warns those who would become enthusiastic about the possibilities of this infinite with this sobering risk. In the Genealogy, though, Nietzsche is more sanguine about a variety of perspectives serving knowledge, suggesting that we can indeed multiply our perspectives, and that the greater the extent to which we do, the greater our objectivity. Thus suspending every affect would only castrate the intellect. Having heard the cautionary note about optimism concerning perspectives, however, we might ask how exactly perspectives can be multiplied and how giving freedom to the affects serves a new objectivity. A clue to Nietzsche’s employment of perspective comes a few aphorisms after the one about the importance of using more affects and more eyes to achieve greater objectivity. In a passage about the ascetic priest, Nietzsche writes, “But if one adopts the only perspective known to the priest, it is not easy to set bounds to one’s admiration of how much he has seen, sought, and found under this perspective” (GM III 17, KSA 5, 377). Here Nietzsche positions himself as one who can adopt the priest’s perspective, forgetting his

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seeming proscription on such perspective-taking in The Gay Science. But one must wonder here whether Nietzsche has done anything like take the priest’s perspective, or whether he has not instead created a perspective for the priest. Clearly, he has done the latter, and while he seems resolute to find a genius that one must admire in the priest, Nietzsche’s portrait is not altogether flattering, for the priest is essentially revealed as the herd’s narcotics dealer. In this portrait, though, we can see what perspective taking means for Nietzsche. It is hardly a matter of listening to what the priest has to say about himself, but it is rather a commitment to understanding how any given phenomenon or person serves life. In fact, this is a deliberate construction that narrows perspective, but Nietzsche gives an explanation for the narrowing through his tracing of the ascetic ideal, showing that the commitment to truth even in modern science is a part of that ideal by which life turns against life. Nietzsche then invents and imagines a multiplicity of perspectives in order to create a knowledge that can serve life in accordance with values that he creates. As the final sections of the Genealogy indicate, Nietzsche’s perspective, which is surely an example of how one might say, “‘My judgment is my judgment’” (BGE 43, KSA 5, 60), is one that insists upon interpretations that find will to power even in our most decadent practices. If this reading is correct, then this means that Nietzsche is not advocating a simple multiplication of perspectives, but rather, an ethic of perspective taking and making that allows every phenomenon to show its own will to life and power. He also invites the perspectives of those who would create new values, which serves the sense of value that he himself is trying to cultivate. This means that the intellect’s future knowledge and objectivity, as Nietzsche puts it, will be judged by its usefulness for life, understood not in in the classic utilitarian sense, but in terms of the extent to which knowledge affirms and supports life. Nietzschean critique defines reason’s limitations as the contingency of the knower and the necessity of perspective. These limits would seem to threaten the possibility of knowledge, but Nietzsche redefines knowledge, so that necessity and permanence no longer define what knowledge means. This redefinition, though, is a response to limits rooted in a perspective committed to a revaluation of values. The knowledge offered in Nietzsche’s aphorisms is always also an examination of its own embeddedness in a certain sense of value. Nietzsche prioritizes knowledge, but also traces the value commitments with which Western knowledge has historically been linked. His redefinition of knowledge is then a novel path emerging from this history – one more explicitly aware of itself as an enactment of a new value rooted in the singular response of Nietzsche’s own physiology to its historical situation. Nietzsche’s insistence on knowledge despite the contingency and limitation of the intellect is a response to the perceived asceticism of skepticism. If it is ascetic to posit a world to which reason is denied

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access, it must also be ascetic to allow the insight concerning the potential infinity of perspectives to demand an infinite postponement of judgment. Perspective limits knowledge, but Nietzsche transforms the sense of limits into a more Kantian definition: a limit that allows and provides structure for knowledge. He makes clear, however, that these limits are also the enactment of value, rather than, as Kant would have it, the limits that allow for the apprehension of pure morality uncontaminated by experience. Nietzsche thus employs the Kantian insight concerning the Subjekt’s contribution to knowledge, even as his critique makes knowledge in the Kantian style impossible, and he insists upon the priority of value, even as a pure morality is shown to be impossible. I hope to have shown that Nietzsche’s genealogical method and the emphasis on perspective arising from it is a transformation of Kantian critique. This reading is, in part, a way of making sense of the way in which multiple references to Kant appear in On the Genealogy of Morals, but it is also a way of offering insight into how and why Nietzsche remains optimistic about the possibility of knowledge even as his emphasis on perspective radically individualizes interpretations. Looking to Kant allows us to rethink the productivity of limits and the priority of questions of value, so that we are able to see how Nietzsche comes to revalue an understanding of the knower that might otherwise lead to extreme skepticism.

Bibliography Nietzsche’s works are quoted according to the following translation: Beyond Good and Evil, trans. Walter Kaufmann. New York (Vintage Books) 1966; On the Genealogy of Morals, trans. Walter Kaufmann. New York (Vintage Books) 1967; The Gay Science, trans. Walter Kaufmann. New York (Vintage Books) 1974. Clark, Maudemarie/Dudrick, David (2012): The Soul of Nietzsche’s Beyond Good and Evil. Cambridge (Cambridge University Press). Janaway, Christopher (1998): “Schopenhauer as Nietzsche’s Educator.“ In: Christopher Janaway, ed., Willing and Nothingness: Schopenhauer as Nietzsche’s Educator. New York (Oxford University Press). Kant, Immanuel (1929): Critique of Pure Reason, trans. Norman Kemp Smith. New York (St. Martin’s Press). Louden, Robert (2014): “Nietzsche as Kant’s True Heir?” In: Journal of Nietzsche Studies. 45(1), 22–30.

Angriffe – Nietzsches Spielarten kritischer Theorie

Martin Saar

Jenseits der Revolte – Nietzsche als Denker und Kritiker sozialer Transformation Abstract: Beyond Revolt: Nietzsche as Thinker and Critic of Social Transformation. Nietzsche’s reflections on transformation and social change can be read as implicit reactions to his time, the “Zeitgeist”, and as such be put in the context of 19th century political and social thought. In comparison to the projects of transformation that were introduced at the time (education, enlightenment, revolt and revolution), Nietzsche’s thought introduced another radical transformation that consists in a different view of who is really the Subjekt of social transformation. An encompassing, profound transformation of social reality according to Nietzsche has to be linked to a self-transformation of the individual self, and to strengthen or deepen it. Such a transformation externalizes the transformative potential of the self and makes it constructive for others. Transformation for Nietzsche has to begin and end with Subjekts that change themselves, with self-transformation.

Auch wenn Nietzsche sicher einer der wichtigsten Denker der Veränderung und des Werdens in der abendländischen Tradition ist, liegt es nicht auf der Hand, ihn als Kritiker und Denker gesellschaftlicher Transformation zu verstehen. Denn die Idee, dass gesellschaftlicher Wandel oder kollektiver Umbruch systematischer Bezugspunkt oder gar das explizite Ziel philosophischer Projekte sein könnten oder dass der Einzelne direkt für die Gesamtgesellschaft sprechen oder handeln sollte, war dem Zeit- und Gesellschaftskritiker Nietzsche fremd und wäre ihm vermutlich sogar als Symptom für die verhängnisvolle Kollektivierung und Moralisierung des zeitgenössischen Denkens erschienen. Denn Transformation, Veränderung, Wandel auf der kollektiven, nicht individuellen Ebene können für ihn keine Selbstzwecke und keine grundsätzlich anzustrebende Aufgabe menschlicher Vollzüge sein; sie können es höchstens werden, wenn sie im „Dienste des Lebens“ (HL 1, KSA 1, 257) stehen, der Affirmation oder neuen Anfängen dienen. Gesellschaft, könnte man sagen, ist bei Nietzsche ein Negativbegriff und in diesem Sinne kann man ihm, wenn überhaupt, nur eine negative oder kritische Sozialphilosophie zuschreiben, d.h. eine, in der gesellschaftliche

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Wirkungen und Transformationen eher Teil des Problem als Teil der Lösung für Menschen der Gegenwart sind.1 Aber nichts hindert uns daran, Nietzsche auch zu diesem Thema nicht ganz wörtlich und vor allem nicht orientiert an seinem – immer nur unterstellten – Selbstverständnis zu lesen. Deshalb sollen hier im Folgenden einige Überlegungen Nietzsches als implizite Reaktionen auf seine Zeit und den Zeitgeist in Bezug auf die Frage gesellschaftlicher Transformation gelesen und damit in den Kontext des politischen und gesellschaftlichen Denkens des 19. Jahrhunderts gestellt werden. Sie werden damit einerseits zu dem brennenden und vielfach artikulierten Interesse dieser Zeit an Fortschritt und Verbesserung in Beziehung gesetzt, andererseits zu der in dieser Zeit ebenso verbreiteten Ernüchterung und dem tiefen Zweifel an der Verbesserbarkeit menschlicher Verhältnisse. Nietzsche teilt etwa mit Tocqueville, Stirner, Kierkegaard oder Marx eine tiefe Skepsis gegenüber den einfachen Bildern sozialer Transformation zum Guten. Wie sie ist er Kritiker gesellschaftlicher Verbesserung verstanden als ein einfaches, leicht ins Werk zu setzendes Projekt. Gleichzeitig teilt er mit allen diesen Denkern eine bewahrende und geradezu radikalisierende Haltung zur Transformation. Wie sie fordert er eine bessere, eine ganz andere, radikale Transformation, die – in den Augen aller dieser Theoretiker – in den bisherigen Fortschrittsund Veränderungsprojekten nicht aufgeht, ja, die von den bisherigen Projekten sogar eher noch weiter verstellt und von ihnen ebenso verunmöglicht wurde wie von den transformationsresistenten Kräften der Tradition und der politischen Reaktion. In diesem Sinn ist Nietzsche, wie die Genannten, ein Denker einer anderen Transformation. Aber hier gabeln sich die Wege und Optionen. Nietzsche schlägt hier, und dies soll im Folgenden illustriert werden, einen ganz eigenen Pfad in Richtung „Neubeginn“ ein, der einen „Bruch“ mit der Tradition, aber auch mit den meisten Traditionskritiken des 19. Jahrhunderts bedeutet (Löwith 1964,8). Die grobe Richtung dieser Abweichung ist leicht zu sehen: Mit Feuerbach und Marx teilt Nietzsche die Ansicht, dass eine wirkliche Befreiung des Menschen eine fundamentale Umwälzung aller sozialen, kulturellen und geistigen Parameter der westlichen Gesellschaft benötigen würde, deren Herbeiführung unabsehbare Folgen hätte, aber er teilt nicht den diagnostischen Optimismus der beiden bezüglich des möglichen Subjekts oder Trägers dieser Transformation. Mit Tocqueville, Stirner und Kierkegaard teilt Nietzsche die Überzeugung, dass die moderne Massen- und Konformitätsgesellschaft vor allem zu Lasten des Einzelnen und

1 Zu Nietzsche als Gesellschaftstheoretiker wider Willen vgl. Brose (1990) und Honneth (1994, 18f., 2007).

Jenseits der Revolte – Nietzsche als Denker und Kritiker sozialer Transformation

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seiner Fähigkeiten und Selbstverantwortung geht, lehnt aber die überindividualistischen und damit deren weltabgewandte Beschreibungen von individueller Größe (und damit verbunden von Innerlichkeit) radikal ab. Nietzsche denkt also – wie in vielen anderen Denkfeldern – zugleich zeittypisch und untypisch. Seine Kritik und sein Denken sozialer Transformation enthalten Elemente bekannter Positionen, ihre genaue Zusammensetzung ist aber selbst wieder besonders. Dieses Profil seiner Stellung zur Veränderung der Welt, der Gesellschaft und des Selbst soll im Folgenden eher skizziert als ausgearbeitet werden und dies wird weniger ideengeschichtlich oder werkimmanent als typisierend oder systematisch geschehen. Unterstellt dabei wird, dass es Standardmodelle und -vorstellungen von Transformationen gibt und in Nietzsches Zeit gab, von denen sich seine Position sinnvoll abgrenzen lässt. Dies sollte auch unabhängig davon gelten, ob er sich selbst in solchen Bezügen situiert hat.2 Es bleibt zu hoffen, dass sich vor einem solchen schematischen Bild – negativ – Nietzsches eigene Alternative deutlicher abzeichnet als in einigen seiner eigenen, expliziten Argumente. Dabei wird unterstellt, dass sie um die Frage organisiert ist, wer (oder was) das Subjekt gesellschaftlicher Transformation ist. Unterstellt wird auch, dass es hier etwas systematisch zu lernen gibt und dass hier ein starkes, anderes Denken der Transformation und eine überzeugende Kritik üblicher Transformationsmodelle vorliegen, dass Nietzsche, mit anderen Worten, auch für uns Anleitungen zur Transformation bereitstellt. Im Folgenden werden entsprechend vier relativ traditionelle Transformationsvorstellungen erläutert (1.), diese dann mit möglichen Einwänden Nietzsches konfrontiert (2.), bevor einige zusammenführende Bemerkungen Nietzsches Alternative etwas deutlicher hervortreten lassen (3.), deren Bedeutung am Ende kurz herausgestellt werden soll (4.).

1 Vier Programme der Transformation Was verändert und wie verändern sich moderne Individuen in modernen Gesellschaften auf tiefgreifende Weise? Mit sehr grobem Strich lassen sich hier vier große Optionen aus dem theoretischen Repertoire und sozialen Imaginären der Zeit zwischen 1750 bis 1850 unterscheiden und auseinanderhalten, auch wenn es sicher noch viele Zwischenformen und Nebenvarianten gibt. Man kann erstens die Veränderung, die im und am Individuum statthat, als den eigentlichen Faktor der Transformation auch der Gesellschaft kennzeichnen,

2 Für ausführlichere und enorm hilfreiche ideengeschichtliche und politische Kontextualisierungen vgl. Ottmann (1987), Pippin (1991) und Emden (2008).

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d.h. die Erfahrungen des Subjekts zum eigentlichen Transmitter der Transformation erklären. Das Individuum erfährt sich und seinen Kontakt zur Welt in diesem Bild auf eine Weise, die es tiefgreifend verändert und die ihm Erfahrung im tiefen Sinn vermittelt, die zu neuem Wissen und neuen Haltungen führt. In diesen Prozessen verändert das Individuum in erster Linie im Kontakt mit Anderem sich, lernt und erfährt es an sich das „Streben, den Kreis seiner Erkenntniss und seiner Wirksamkeit zu erweitern“, und wird zu immer neuen Erfahrungen und Kenntnissen fähig (Humboldt 2002, 235; vgl. Benner 1995, 92–108). Dies ist ein akkumulativer, aufwärts führender Prozess der fortschreitenden Individuierung und Selbsterweiterung – nennen wir dies das Programm Bildung. Man kann zweitens in Verlängerung dieser Linie solche Erfahrungen als individuelle und zugleich gesellschaftliche Befreiungen kennzeichnen, als Emanzipationsbewegungen weg von Unwissen, Heteronomie und Unmündigkeit. Individuelle Erfahrungen und Kenntniserweiterungen verbinden sich zu einem kollektiven Prozess, der nicht mehr nur die einzelnen Individuen, von denen diese Erfahrungen ausgehen, erfasst, sondern auch ganze Kollektive, die sich wechselseitig erziehen, voranbringen und in ihrer Emanzipierung verstärken. Die individuelle Bildungsdynamik nimmt in dieser Vorstellung selbst eine kollektive Qualität an, aber sie bleibt in den Individuen verkörpert und an das Wissen, die Erkenntnis, die Entillusionierung und Horizonterweiterung von Einzelnen gebunden, die sich gegenseitig in einen Lernprozess und eine „wahre Reform der Denkungsart“ verstricken (Kant 1999, 21), von der sie als Gesellschaftsglieder und als Einzelne profitieren – nennen wir dies das ganz klassisch verstandene Programm Aufklärung.3 Gesellschaftliche Transformation lässt sich drittens aber auch über die Selbstveränderung und Selbsterweiterung hinaus denken, nämlich vom Anstoß von außen her, durch das Soziale selbst. In diesem Szenario gibt es zwar durchaus einzelne Wissende, Erkennende, deren Einsicht in das Wohl der gesamten Gesellschaft sie befähigt und motiviert, tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen zu fordern und anzuleiten, auch wo dies noch nicht auf reflektierte Erfahrungen oder die Einsicht der Mehrheit trifft, ja wo genau dieses Entgegenkommen oder dieses Bedürfnis seitens derer, die der Bildung oder Aufklärung eigentlich bedürfen, noch fehlt. Solche Individuen werden sich als Anwälte der eigentlichen, objektiven Bedürfnisse auch der Anderen verstehen, sie werden nicht immer rücksichtsvoll mit den Widerständen gegen ihre Verbesserungen umgehen, aber

3 Für Positionen zu Nietzsches Verhältnis zur Aufklärung vgl. Geuss (2003) und Reschke (2004), für einen Vorschlag zur Situierung innerhalb des Traditionsstrangs der „radikalen Aufklärung“ Saar (2014b).

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sie werden immer im Sinne eines (wenn auch nur ihnen zugänglichen und einsichtigen) allgemeinen Guten agieren. Sie sind keine Despoten oder elitäre Willkürherrscher, sondern Volksvertreter, deren Autorität vom ganzen Volk noch nicht anerkannt ist, obwohl sie „stets das Interesse der Gesamtbewegung vertreten“ (Marx/Engels 1972, 474). Dies voranzubringen und umzusetzen, ist das Ziel von Veränderungshandlungen, die ihrer Zeit voraus sein können, aber die Zukunft schon ins Werk setzen sollen. Ihre Akteure sind eine Vorhut einer besseren Gesellschaft und damit eine selbsterklärte Avantgarde. Die Verbesserung, die sie herbeiführen wollen, kommt manchmal abrupt und nicht immer gewaltfrei, aber sie ist Etappe auf einem Weg hin zu wahrhafter gesellschaftlicher Volksbefreiung – nennen wir dies das Programm Revolution. Ein viertes Modell entindividualisiert dieses Bild noch weiter und lenkt den Blick weg von den schon wissenden einzelnen Individuen hin zu den kollektiven Dynamiken der Erhebung und des Widerstands. Auslöser und Anlass der Transformation sind hier nicht Wissensvorsprünge oder Vorwegnahmen, sondern spontane, ungeplante, eher affektive als rationale Akte der Verweigerung oder der Gegenwehr, die sich aus spezifischen Situationen speisen und dort eine kollektiv ansteckende Qualität entwickeln, die den Einzelnen zum Teil einer Gesamtbewegung machen, die sich in radikaler Veränderung Bahn bricht. Wie im Revolutionsprogramm und anders als in den Bildungs- und Aufklärungsprogrammen liegt hier der Fokus auf dem Handeln, nicht dem Reflektieren: Erst im kollektiven Handeln realisiert sich der Veränderungswille und ergibt sich eine Richtung für das Verändern-wollen. Dieser liegt weder in einem revolutionären Plan, geschweige denn in einer revolutionären Lehre fest. In diesem Szenario ist es die spontane, kollektive Erregbarkeit und Herrschaftsabwehr des Volkes, die dem Willen und Begehren der Veränderung temporär Ziele und Objekte vorgibt, an denen sich Transformation vollzieht, erprobt und erfährt. Transformative Individuen werden hier Teil einer Selbstorganisations- und Selbstartikulationsdynamik, die nicht von Einzelnen gesteuert oder programmiert ist. Die Kraft der Veränderung durch einen „so verteilte[n] Widerstand“ liegt hier in einem nicht mehr nur individuellen Handlungsgeschehen begründet (Clausewitz 1832, Kap. 26; vgl. Caygill 2013, 23–29). In ihm findet und erfindet sich erst das Subjekt der Transformation, oftmals gewalttätig, oftmals eruptiv und immer mit nie ganz vorhergesehenen Folgen – nennen wir dies das Programm Aufstand. Diese vier idealtypisch skizzierten Konzeptionen gesellschaftlicher Transformation lassen sich zwar einzelnen theoretischen Positionen zuschreiben, sind aber relativ allgemein. Die vorgenommenen Schnitte zwischen den einzelnen Modellen sind überdies künstlich. Bildungsprogramme sind immer Teil von Aufklärungsprogrammen, diese überschneiden sich oft mit moderaten Revolutionierungsprogrammen. Nur extreme Aufstandsprogramme kehren dem Moment indi-

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vidueller Rationalität und dem Faktor Wissen ganz den Rücken. Die Revolutionsprogramme schließlich ließen sich in verschiedene Richtungen ausdifferenzieren. Aber die Zielrichtung dieser Typologie sollte deutlich sein: Es macht einen theoretischen und praktischen Unterschied, ob man Veränderung vom Sich-selbstverändern, von einem Bildungsprozess her denkt oder von einem begriffenen Emanzipationsprozess her, von einer kollektiven Verbesserungsprogrammatik oder einem kollektiven, eruptiven Akt der Revolte. Alle diese Programme zielen auf Veränderung, sogar Fortschritt, und es wäre müßig zu fragen und unmöglich zu beantworten, welche Art Fortschrittsvorstellung im Rückblick realhistorisch nachhaltiger oder sozialverträglicher war. Alle diese Programme waren in der frühen Moderne verfügbar und aktiv, sie waren teilweise scharf konturierte Alternativen, die oft genug in einzelnen gesellschaftlich Bewegungen oder sogar politischen Parteien verkörpert waren. Die Modelle unterscheiden sich nicht zuletzt auf den Vektoren Individualität/Kollektivität einerseits, Rationalität/Spontaneität andererseits; in ihnen sind der Urteils- oder Praxischarakter der Veränderungen unterschiedlich gewichtet sind und nicht zuletzt die Rolle, die demjenigen Subjekt, das Veränderung herbeiführen will, zukommt. Nietzsche könnte, so die hier leitende Vermutung, ungefähr solche Optionen vor Augen gehabt haben, als er seine eigenen Überlegungen zu Gesellschaftlichkeit und zur Abwehr lebensfeindlicher sozialer Arrangements angestellt hat. Es erscheint einerseits völlig eindeutig, dass Nietzsche alle diese Modelle abweist, allerdings nicht alle gleichermaßen und nicht alle mit den gleichen Argumenten. Zu vermuten bleibt andererseits, dass nietzscheanisch gedachte Transformation noch etwas anderes, etwas dazu Alternatives sein müsste.

2 Nietzsche contra Transformation Welche Motive lassen Nietzsche an den vier genannten, verfügbaren und vertretenen Programmen der Transformation zweifeln? Wieso vertraut er nicht den Optionen Bildung, Aufklärung, Revolution oder Revolte als möglichen Wegen, eine radikale Veränderung von Welt- und Selbstverhältnissen zu erwirken? Seine Einwände gegen die vier Optionen liegen nicht ganz auf einer Ebene, und sie sind auch nicht besonders explizit, aber einige Grundlinien seiner Ablehnung der genannten Transformationsprogramme lassen sich seinen Schriften relativ eindeutig entnehmen.4

4 Es ist allein dem Fokus auf die politischen Strategien der Transformation geschuldet, dass die Idee der Evolution oder natürlichen Entwicklung der Gesellschaft hier nicht als eigenständiges

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Erstens spricht für Nietzsche gegen die Bildungskonzeption im klassischen Sinn die in ihr enthaltene Überschätzung der denkerischen Eigenkräfte des Einzelnen, die oft genug nur eine Maske für Konformismus oder Philistertum ist. Gegen den bürgerlichen Bildungsbegriff wendet schon der junge Nietzsche im Kontext seiner Auseinandersetzung mit dem historistischen Zeitgeist ein, dass er zu harmlos und zu wenig existenziell angelegt ist und die bloße, rein akkumulative Vermehrung von Wissen und Erfahrungen als Selbstzweck präsentiert, wo doch eine Haltung, ein Urteil und eine Wertschätzung gefordert sind: „Unsere moderne Bildung ist eben deshalb nicht Lebendiges […]: sie ist gar keine wirkliche Bildung, sondern nur eine Art Wissen und die Bildung, es bleibt in ihr bei dem Bildungs-Gedanken, bei dem Bildungs-Gefühl, es wird kein Bildungs-Entschluss daraus.“ (HL 1, KSA 1, 273) Wer Transformation bloß als Bildungsprozess, gar als Einsichtsfortschritt denkt, verkennt zudem die Nichtlinearität, Nichtplanbarkeit und Nichtfriedlichkeit von Erfahrungsprozessen, die auch Überwältigung, Schock und Erschütterung bedeuten können. In diese Richtung zielt auch Nietzsches bewusst antiklassische Interpretation ästhetischer Erfahrung in der Geburt der Tragödie, die den dionysischen „Rausch“ gleichberechtigt gegen den apollinischen „Traum“ setzt (GT 1, KSA 1, 26; vgl. Menke 1993). Eine simple Bildungsvorstellung verharmlost und rationalisiert einen in sich gefährlichen und immer auch irrationalen Prozess, verfälscht und missdeutet ihn zu einem Denkfortschritt – ein Fehler, den Philosophen mit ihrem Hang zur Harmonisierung und „ihrem Glauben an die Ergründlichkeit der Natur der Dinge“ (GT 15, KSA 1, 100) leichter begehen als andere Menschen. Gesellschaftliche Transformation von einem solchen Mechanismus abhängig zu machen bedeutet, ihn abhängig zu machen von einsichtsvollen, über den Dingen stehenden Wesen. Aber dieses Bild verfehlt gerade die innere Komplexität des Verhältnisses des sich bildenden Subjekts zur Welt und die Involviertheit des Denkens in die Lebensvollzüge und Machtbezüge. Das Bildungsbild von der Transformation ist ein Wunschbild, ein halbiertes Bild von viel profaneren und viel eruptiveren Prozessen. Zweitens ist im Vergleich zu dieser Illusion das Aufklärungsprogramm zumindest darin realistischer, dass es die intersubjektive, vom denkenden Subjekt nicht mehr selbst kontrollierte Qualität der Transformation anerkennt. Aber es

Thema behandelt wird, obwohl sie zu Nietzsches Zeit (und bis heute) eines der wirkmächtigsten Paradigmen auch für die richtige Politik ist; auch Nietzsches Liberalismuskritik und sein komplexes Verhältnis zu Kant und zur Frage der Teleologie ließe sich ohne diese Bezüge wohl kaum sinnvoll diskutieren. Zum Verhältnis zu Darwin vgl. etwa Abel (1981/82), Richardson (2004) und Sommer (2009) und zum sozialen und politischen Entwicklungsdenken der Zeit bahnbrechend Emden (2014, 75–142).

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bleibt verzerrend in der Auszeichnung rein kognitiv wirkender Treibkräfte. Die Idee der Aufklärung qualifiziert den Modus des Fortschritts allein als kollektiven Lernprozess oder wechselseitige Bildung und unterschlägt damit alles, was in kollektiven Dynamiken immer auch an Durchsetzungswillen gebunden ist. Für kollektive Entwicklungen gilt, was für alle Dinge in ihrer Dynamik gilt: Sie verdanken sich „Überwältigungsprozessen“ (GM II 12, KSA 5, 314). Auch das Sichdurchsetzen von Ideen ist „A n z e i c h e n davon, dass ein Wille zur Macht über etwas weniger Mächtiges Herr geworden ist“ (ebd.). Transformation allein als die Durchsetzung der besseren Einsichten und die kollektive Befreiung von Illusionen zu verstehen – und nichts anderes heißt „Aufklärung“ im klassischen Sinn – verkennt die vielfachen Widerstände, die sich nicht durch Einsicht allein überwinden lassen. Selbst noch das aufgeklärte Subjekt unterliegt Formierungen und Disziplinierungen, über die es nicht reflexiv verfügt und aus denen es nicht durch bessere Einsicht einfach aussteigen kann. Die Fähigkeit zur Einsicht und Selbstreflexion selbst verdankt sich Nietzsches naturgeschichtlichen Spekulationen zufolge dunkleren Quellen, nämlich dem normierenden und disziplinierenden Druck von außen. Auf diese „Feindschaft, die Grausamkeit, die Lust an der Verfolgung, am Überfall, an der Zerstörung“ (GM II 16, KSA 5, 323) reagiert das zunächst schwache Subjekt kompensatorisch mit „V e r i n n e r l i c h u n g “ und der Herausbildung von Bewusstheit und schlechtem Gewissen (ebd., 322). Damit sind aber noch im Denkvermögen und in den helleren, vermeintlich ganz rationalen Vermögen die dunklen und blutigen Spuren der Unterwerfung anwesend und wirksam (vgl. Deleuze 1991, 139f.). Das optimistische Bild von der sich selbst aufklärenden Gesellschaft überschätzt die Individuen und unterschätzt die innere Dynamik sozialer Prozesse, die nicht nur Überzeugsaustausch und wechselseitige Erziehung kennt, sondern wesentlich agonale und unfriedliche Seiten hat. Wer gesellschaftliche Transformation aus Aufklärung erklärt, verwechselt die Welt mit dem illusorischen, das Unfriedliche gerade leugnenden Weltverhältnis des Philosophen in seiner „entsinnlichten Abseits-Haltung“ (GM III 10, KSA 5, 361) und mit seinem „Willen zu Neutralität und Objektivität“ (GM III 9, KSA 5, 357). Aber auch die Philosophie selbst ist in Wahrheit keine weltenthobene, neutrale Perspektive, sondern eine „Folge des Nothstands von Bedingungen“ ihrer eigenen Entstehung (GM III 10, KSA 5, 360) und damit im Kampf der Deutungen menschlichen Daseins durch und durch parteiisch und keine neutrale Schiedsrichterin, geschweige denn eine Erzieherin aller anderen. Drittens legt zwar die Revolutionskonzeption den falschen Individualismus in der Beschreibung der Triebkräfte der Transformation ab, der die Bildungs- und Aufklärungsprogramme auszeichnet, aber sie leidet an einer ähnlichen allzu kognitiven, allzu rationalistischen Fehldeutung der eigentlichen Motoren der Ver-

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änderung. Das avantgardistische Bild vom Anführer der Revolution, der im Dienste der Menschheit die Unwissenden über ihre wahren Interessen aufklärt und ihnen den Weg zur Befreiung weist, leidet noch an einer Moralisierung des Wissens, der auch die beiden ersten Bilder verfallen sind. Zwar wird nun Transformation realistischer als bisher im kollektiven Verändern und kollektiven Verändert-werden lokalisiert, aber auch dieses Bild bleibt der Vorstellung vom Befolgen eines Plans oder einer expliziten Vision verhaftet. Hier verschwinden die Vielen in der Befolgung einer Lehre oder einer Heilsbotschaft einziger weniger; und Nietzsche sieht hier die Anzeichen für eine spezifische moderne Tendenz zur „Heerdenthier-Moral“ (JBG 202, KSA 5, 124) und Konformität, die vom Revolutionsbild noch verklärt wird. Die „demokratische Bewegung“ (JBG 203, KSA 5, 126) und der Sozialismus sind für ihn zwei verwandte verhängnisvolle Gestalten (vgl. Ottmann 1987, 293–313). Das Volk wird von der „Pfeife der socialistischen Rattenfänger“ betört und auf eine kommende gerechtere Gesellschaft vertröstet, so dass es unablässig „auf Etwas von Aussen her wartet und wartet“ (M 206, KSA 3, 184). Diese Versprechen machen aber potenziell Tätige und potenziell Selbstständige zu „vollkommenen[n] Herdenthiere[n]“ (JBG 203, KSA 5, 127), denen hier ein in Nietzsches Augen völlig illusorisches Ziel, nämlich die Idee der „‚freien Gesellschaft‘“ (ebd.), aufgezwungen wird. Während das Bildungs- und das Aufklärungsbild die Autonomie des Einzelnen unrealistisch übersteigern, unterschlägt sie das Revolutionsbild, zumindest für die Seite der zu revolutionierenden Massen, völlig. Das in ihm unterstellte Wissens- oder ideologische Monopol der Avantgarde drückt sich in nackter, unverhohlener Führung aus, die von ihr angestrebte Transformation ist durch und durch gelenkt und damit kaum ein Leitbild für freie Geister.5 Viertens hat das Aufstandsmodell zwar die scharf kritisierten Momente von Individualismus und Rationalismus hinter sich gelassen, aber die Rolle des Einzelnen wird auf eine derart grundlegende Weise neubeschrieben, dass kaum mehr sichtbar wird, für wen hier eigentlich Fortschritt geschieht. Das Spontane,

5 Heike C. Schotten hat in einem faszinierenden Buch vorgeschlagen, das Werk des “post-Marx revolutionary” Nietzsche im Ganzen „offers a sustained reflection on the nature, importance, and potential of revolutionary political strategy” (Schotten 2009, 174, 67). Dies scheint mir richtig, ebenso dass sein Ziel sei: „nothing less than a total transformation of the ways, modes, and forms of life present within what he calls ‘modernity’, a radical overhaul of life as the West has heretofore known it“ (Schotten 2009, 174, 67). Allerdings läuft dies dann gerade auf die Idee einer “revolution in the forms of life” (Schotten 2009, 174, 68) zu, die dem hier vorgeschlagenen Schema zufolge von den herkömmlichen politischen Revolutionsmodellen radikal abweicht. Dass sich der Revolutionsbegriff allerdings auch neubeschreiben lässt in Richtung „interstitial change“ (E. O. Wright) und des „Wandels in den Zwischenräumen“, schlägt Eva v. Redecker vor (2012, 30, 34).

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Nichtgeregelte des Aufstands, man könnte sagen: seine quasi-dionysische Qualität, ist hier kaum mehr mit der Perspektive des Einzelnen und seinen Fortschritten vermittelt. Es scheint, als würde er nur fortgerissen oder angesteckt von einer affektiven Kraft oder Empörungsdynamik, als fände diese von selbst und spontan ein Ziel und als brächen sich hier Energien Bahn, über die niemand als Einzelner verfügt, die aber auch niemandem ganz dienen. Nietzsches Verachtung der Französischen Revolution als eines eruptiven Umsturzes folgt aus dieser Skepsis: Sie war „eine pathetische und blutige Quacksalberei, welche durch plötzliche Krisen dem gläubigen Europa die Hoffnung auf plötzliche Genesung beizubringen wusste“ (M 534, KSA 3, 306). Diese Entfesselung zerstört aber ebenso viel wie sie verändert oder verbessern will. Soziale Veränderung, die sich „Hals über Kopf und unter Gewaltsamkeiten“ vollzieht (ebd., 305), wird nämlich diejenigen unter sich begraben, die sich nicht schnell genug an die vermeintlich neuen Werte anpassen. Völlig eruptive Transformation führt also aus den Problemen der Gesellschaftlichkeit nicht heraus, sondern mitten in sie hinein. Wo die Bildungs-, Aufklärungs- und Revolutionsbilder zu viel Kontrolle und Steuerung suggerieren, zeichnet das Aufstandsbild eine Szene der völlig unkontrollierten Massenbewegung. Diese mag faktisch der Motor zahlreicher historischer Umwälzungsprozesse gewesen sei, sie als Transformationen zu beschreiben erscheint jedoch ironisch, da hier niemand Bestimmtes mehr Veränderung will und als Befreiung erfährt. All diese recht verstreuten Argumente können als mögliche Einwände Nietzsches gegen übliche Bilder und Metaphern von Fortschritt und Transformation verstanden werden. Sie entstehen aus einer Spannung zwischen jeweils zwei Polen: Gegen die ersten beiden Programme kann Nietzsche einwenden, dass sie das Individuum überschätzen, gegen die beiden anderen, dass sie es unterschlagen. Entgegen den ersten drei bestreitet er die Steuerbarkeit und Planbarkeit der Transformation, angesichts des vierten beklagt er die völlig Preisgabe der Richtung einer Veränderung. Die vier traditionellen Bilder von gesellschaftlicher Verbesserung haben also aus Nietzsches Perspektive ein Problem mit dem Einzelnen, und sie haben ein Problem mit dem Ziel der Transformation. Sie sind, mit anderen Worten, keine guten Erläuterungen und keine guten Leitbilder der Veränderung: Das erste Programm der Transformation (die Bildung) ist naiv, das zweite (die Aufklärung) unrealistisch, das dritte (die Revolution) autoritär und das vierte (der Aufstand) richtungslos. Das klassische Tableau der philosophisch-politischen Vorschläge ist also erschöpft. Man könnte nun Nietzsche als einen Denker verstehen, der aus dem Programm der Transformation selbst aussteigt und nach anderen Leitbildern und Leitbegriffen sucht. Man kann ihn aber auch, wie hier vorgeschlagen, als jemanden verstehen, der die Suchbewegung nicht aufgegeben hat, sondern eine neue, andere Transformation anstrebt.

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3 Wirkliche (Selbst-)Veränderung Worin besteht nun Nietzsches eigenes, affirmatives Denken gesellschaftlicher Transformation jenseits dieser Ablehnung gängiger Vorschläge? Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen liegt ein einfacher, vielleicht vereinfachender Vorschlag nahe: Nietzsches Hauptargumente gegen die vier herkömmlichen Transformationsprogramme laufen auf den Vorwurf hinaus, dass in ihnen das Subjekt der Veränderung auf eine unklare und verwirrende Weise vorausgesetzt und bestimmt wird, nämlich überschätzt und rationalistisch verkannt in den einen, unterschätzt und kollektivistisch unterschlagen in den anderen Fällen. Diese Fehler sind somit subjekttheoretischer Natur, es sind falsche Bestimmungen und Beschreibungen des Subjekts, das entweder zum souveränen Urheber oder zum hilflosen Spielball der Transformation stilisiert wird. Beides sind Unterstellungen oder Setzungen eines bestimmten Subjektes, das dann entweder zur gesellschaftlichen Transformation fähig oder ihr unterworfen deklariert wird. Beides ist darin falsch, dass hier überhaupt ein bestimmtes Subjekt als so-seiend und dem Prozess der gesellschaftlichen Transformation vorgängig oder vorausliegend postuliert wird. Aber, und dies scheint mir Nietzsches Pointe zu sein, auch das Subjekt der Transformation wird gemacht, konstruiert und konstituiert, nicht vorgefunden. Subjekt-sein, auch Subjekt-der-Veränderungen-sein, ist gerade keine aufgefundene, deskriptiv zu beschreibende Tatsache über Menschen, sondern, etwas pathetisch ausgedrückt, eine Form des Werdens, eine Potentialität, die sich erst zu bilden hat, in Kräftefeldern und gegen Widerstände, nicht unabhängig, aber sich aus Abhängigkeiten herauswindend, nicht isoliert von den Anderen, aber auch nicht mit ihnen verschmolzen. „Subjekt“ oder „Selbst“ oder „Individuum“ ist gerade nicht Name für eine Gegebenheit, die so oder so ist, sondern Name für einen Ort (bzw. eine Instanz), an dem (bzw. an die) sich die Herausforderung stellt, so oder anders werden zu können.6 Erst vor diesem Hintergrund der Idee des Selbst oder des Subjekts als einer in sich transformativen Gestalt ist es sinnvoll, nach der gesellschaftlichen Transformation, die durch es entsteht oder die auf es wirkt, zu fragen. Eine umfassende, tiefgreifende Transformation der sozialen Wirklichkeit wird dann eine sein, die sich mit der Selbsttransformation des Selbst verkettet und diese verstärkt oder vertieft, die also Veränderungspotentiale des Selbst nach außen trägt und auch für andere wirksam werden lässt. Ohne diese Verankerung im Selbst bleiben die

6 Zu näheren Ausführungen dieser subjekttheoretischen Lektüre vgl. Warren (1988), Brown (2000) und Saar (2007), für eine philosophiegeschichtliche Situierung Nietzsches im Prozess der Revision des neuzeitlichen Subjektbegriffs Menke (2003).

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Veränderungen dem Selbst äußerlich und letztlich für es bedrohlich. Wirkliche und effektive Transformation spielt sich dagegen zugleich innen und außen ab, sie ist zugleich Transformation und Selbsttransformation. Woraus setzt sich nun Nietzsches Vorstellung von Transformation zusammen oder anders gefragt: wieso, wie und wozu verändern? Erstens ist der Ausgangspunkt von Nietzsches Programm diagnostisch: Transformation „tuth […] noth“ (JGB Vorrede 8, KSA 5, 256), weil die modernen Werte, Institutionen und Praktiken wesentlich unfrei, schwach und unglücklich machen, und dies tun sie, weil sie moderne Subjekte auf eine bestimmte Weise geformt, zugerichtet und produziert haben. Seine umfassende Kultur- und Zivilisationskritik, die sich ja auf Moral, Religion, Kunst, Wissenschaft und gesellschaftliche Einrichtungen erstreckt, hat in diesem Motiv ihr Zentrum. Sie richtet sich gegen den Modus, in dem in dieser Zeit in diesen Praktiken und in diesen Institutionen Selbst-sein möglich ist und dagegen, welche seiner Formen exklusiv verfügbar gemacht und welche verhindert, in ihrer Ausbildung verunmöglicht werden. Dieses Motiv verklammert Nietzsches frühe kulturkritische Polemik gegen die bürgerliche philisterhafte Kultur, die verhindert, dass wahrhaft freie Individuen, jene „grossen erlösenden Menschen“ (SE 6, KSA 1, 384), entstehen können, mit seiner späten Moralkritik, welche unter dem provozierenden Titel „Sklavenmoral“ den Heteronomiecharakter der postchristlichen, angeblich Autonomie gewährenden Moralen anprangert, in denen sich aber nur die Wertungsweise der „Missrathenen, Verstimmten, Schlechtweggekommnen, Verunglückten, An-sich-Leidenden jeder Art“ ausdrückt (GM III 13, KSA 5, 366). Nietzsche ist also ein Denker der nötigen Kritik der Verhältnisse und damit ein Denker einer „totalen“ Transformation, die diesen Zustand der gebundenen, gefesselten und zugerichteten Subjektivität oder Individualität offensiv angreift (vgl. Yack 1992). Der Impuls seines Transformationsprogramms liegt also in der Kritik. Zweitens kann der Ansatzpunkt für ein solches Programm nur der Angriff am oder auf das Subjekt sein. Er wird in erster Linie das Erzeugen des Gefühls und Bewusstseins bedeuten, nicht das Subjekt zu sein, das man sein könnte, ein Erinnern an die selbsttransformative Potentialität, die das neuzeitliche, christianisierte, gezähmte und moralisierte Subjekt verloren, ja ausgetrieben bekommen hat zugunsten einer starren Form, die wirkliche Selbstveränderung und tiefgreifende Selbsttransformation nicht mehr zulässt. Zur Erzeugung eines solches affektiven Schocks und zugleich einer solchen Erkenntnis der bisher verstellten Möglichkeiten seiner selbst sind mächtige philosophische und stilistische Mittel nötig. Das gesamte schriftstellerische Arsenal von Nietzsches zeitkritischen Feldzügen ist hier einschlägig: die verstörenden Zeitdiagnosen, die direkten Appelle an den Leser, das ironisch-prophetische Ausrufen von „neuen Tafeln“ und Gesetzen (Z III Tafeln, KSA 4, 246) und das Beklagen der Unzeitgemäßheit der eigenen

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Perspektiven, die Gewissheiten zersetzende Sprach- und Moralkritik, die desillusionierenden Genealogien, die Maskenspiele, die Verfremdungen und Spiegeleffekte, Affektreizungen und Provokationen. Dies alles sind Mittel philosophischer Drastik, die eine Erfahrung der existenziell notwendigen Transformation allererst erzeugen und an das Selbst oder Subjekt gerichtet oder adressiert sind. In diesem grellen Licht zeigt sich, dass das Objekt dieses Transformationsprogramms, nämlich das Selbst, wie es ist, selbst in sich kritisch und kritikwürdig ist und dass effektive Kritik nur als Selbstkritik, Kritik am und des Selbst, wie es ist, beginnen kann.7 Drittens ergibt sich nun aus dieser doppelten Einsicht bezüglich des Selbst als des Orts sowie des Objekts der Kritik eine genauere Bestimmung der Form von Transformation, die hier angestrebt ist. Denn nach dem Aufdecken der selbstverhindernden Strukturen und der Adressierung des Selbst als eines, das sich verändern kann, ist nun aktive kritische Arbeit des Selbst an sich selbst zumindest denkbar. In diesen Prozessen kann zugleich Altes abgestreift als auch Neues ermöglicht werden. Aber eine solche Transformation wird mehr als nur das Gewinnen neuer Erkenntnisse oder das Überwinden alter Denkfehler sein. Denn das betreffende Selbst ist mehr als nur ein Selbstbewusstsein oder eine kognitive, reflexive Instanz, es besitzt ein (korrigierbares) Selbstverständnis, aber auch ein (praktisches) Selbstverhältnis, das sich in körperlichen, habituellen, affektiven und psychischen Dispositionen ausprägt – in diesem Sinne nennt Nietzsche den Leib und nicht den Geist „das schaffende Selbst“ (Z I Verächtern, KSA 4, 40). Eine Form des Selbst zu kritisieren und zu verändern wird nicht nur Gedanken und Ideen, sondern auch Handlungen, Haltungen, Affekte und Dispositionen transformieren müssen (vgl. Strong 2000, 293). Die in diesem Transformationsprogramm geforderte Veränderung wird also zugleich epistemische wie existenzielle Arbeit an sich selbst sein müssen, ihre Form ist die einer umfassenden transformatorischen Praxis. Viertens kann das Ziel dieser Abstreifungen und Herausarbeitungen nur ein Frei-werden, eine Emanzipation sein, nämlich eine Befreiung zur eigenen Form, zur Potentialität des Selbst, das eben keine vorgefertigte Form hat, so sehr ihm Moral, Kultur und Religion dies auch aufzuzwingen versuchen. Die Befreiung von diesen Formen und zur eigenen subjektiven Form ist der immer fiktive, weil nicht im Voraus fixierte Zielpunkt von Nietzsches Transformation. Sie kann kein vorher fixiertes Ziel haben, weil es das Selbst selbst ist, das sich dieses Ziel setzen und es als seines entdecken muss. Es kann kein von anderen, noch nicht einmal vom

7 Zum Verhältnis von Rhetorik und Transformation – am Beispiel der Genealogie der Moral – vgl. z.B. Owen (2007, 45–59) und Saar (2007, 130–141).

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Verkünder Nietzsche, verbindlich gemachtes Ziel sein, denn dann wäre es genau kein eigenes: „Niemand kann dir die Brücke bauen, auf der gerade Du über den Fluss des Lebens schreiten musst, niemand ausser dir allein.“ (SE 1, KSA 1, 340; vgl. Conant 2014, 104–111; Saar 2015). Dass das Selbst der alleinige Ort ist, an dem sich dieses existenzielle Drama der Veränderung entscheidet, bedeutet nicht, dass diese Entscheidungen heroische Akte einsamer Individuen sein müssen, auch wenn Nietzsches individualistische Rhetorik, vor allem in den Frühschriften solche Schlüsse nahe legen mag. Dass das veränderte Selbst, das von sich selbst veränderte Subjekt, Ziel dieses Transformationsprogramm ist, heißt nur, dass es nichts (oder niemand) Anderes sein kann. „Die Gesellschaft“ – von Nietzsche wohl als gefährliche Abstraktion beargwöhnt – lässt sich nicht einfach schlechthin verändern, denn sie besteht aus den Körpern, Geistern, Bewegungen und Kommunikationen ihrer Bestandteile, und dies sind in erster Linie Individuen in dauernder Interaktion miteinander und in kontinuierlicher Interaktion mit ihren nichtmenschlichen physischen und geistigen Umwelten. Es sind bestimmte Subjekte in bestimmten Formen, aus denen Gesellschaft gemacht ist und die beständig Gesellschaft herstellen. Deren Transformation ist gesellschaftliche Transformation, auf sie zielt diese Veränderung, und sie kann nur Veränderung der Subjekte an sich selbst, Selbst-Veränderung, sein.

4 Selbst und gemeinsam Anders-werden Vor dem Hintergrund dieser knappen Rekonstruktion von Nietzsches Veränderungsdenken lässt sich nun etwas deutlicher sehen, wie nah und fern zugleich er den anderen Transformationsprogrammen seiner Epoche steht. Seine Transformationen sind zwar auch Bildungsprozesse, aber eben keine im Sinne eines wohldefinierten Humanum oder eines vollendeten Selbst als Ziel; denn genau dieses steht hier in den Akten radikaler Selbstumbildung in Frage. Diese Befreiungen enthalten und umfassen auch Momente von Aufklärung (im weitesten Sinne), nämlich eine schonungslose Selbstbefragung und Hinterfragung aller vorgefundenen Formen und Ordnungen, aber auch hier ist kein Telos des absoluten Wissens angestrebt. Diese radikale Aufklärung und Selbstbefragung macht vielmehr auch vor den Idealen der Befreiung selbst nicht halt. Diese Transformation wird außerdem in dem Maße, in dem anerkannt wird, dass jedes neue, andere Selbst ein Selbst im Kontext, ein Subjekt in einem gesellschaftlichen Feld sein wird, eine revolutionäre, d.h. welt- und gesellschaftsumstürzende Seite haben müssen. Aber die Notwendigkeit dieses Umsturzes bleibt bezogen auf die Notwendigkeit, eine andere Welt und Gesellschaft für ein

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anderes, mögliches Selbst zu erzeugen. Die neue Ordnung ist kein Selbstzweck, sondern Lebensraum für andere Weisen, Subjekt sein zu kommen. Diese Transformationen können also keine Projekte von Einzelnen sein, sie können nur gelingen, wenn ihr welt- und gesellschaftsumstürzender Charakter plurale Subjekte affizieren und in Verbindung bringen kann. In diesem Sinne kommt in diesen Prozessen wie in allen Aufständen notwendigerweise ein Moment des Nichtindividuellen, des Inter- oder Transindividuellen ins Spiel, aber bei Nietzsche verselbstständigt er sich nicht, sondern bleibt rückgebunden an das Begehren und das Streben der Einzelnen, anders und Andere zu werden, mit Anderen zusammen. Alle diese Beschreibungen von Nietzsches Transformationsprogramm im Verhältnis zu den theoretischen Alternativen kommen in dem einen Punkt zusammen, dass sie endogene Prozesse beschreiben, d.h. ein Veränderungsgeschehen, das aus dem Selbst, das verändert wird, selbst kommt. In diesem Sinne beschreiben sie immanente Kritik, die jedes externe, vorgefertigte, vorgefundene Ziel verwirft zugunsten eines Experimentierens mit der eigenen, auf sich und die Anderen bezogenen Form, die eben noch nicht feststeht (vgl. Conant 2014, 146). Nietzsches Kritik aller anderen Transformationsvorstellungen hat also eine antiautoritäre Pointe, denn jede/r kann nur selbst die Veränderung sein, die sie oder er an sich selbst, am Ort des Selbst geschehen lässt.8 Nietzsches Modell richtet sich so gleichzeitig gegen den Essentialismus humanistischer Visionen, die das Ziel schon vorgegeben glauben, und gegen die Subjekt- oder Selbstvergessenheit der politischen Projekte, die eine vermeintlich objektive, vernünftige Programmatik oder Agenda umsetzen wollen. Dagegen stellt er eine Orientierung an der Transformation von innen, an der Veränderung durch die sich selbst transformierenden Subjekte, durchs jeweilige Selbst hindurch. Diese Perspektive ist nicht notwendig individualistisch, weil ja das bzw. jedes Individuum selbst erst im Austausch und in der Interaktion mit Anderen entsteht und sich bilden kann. Das Individuum ist also kein Grund, auf den sich alles zurückbeziehen ließe. Nietzsche denkt Individualität durch und durch relational, insistiert aber auf der Notwendigkeit für das Selbst, sich auf sich selbst zurückzuwenden oder sich in der Transformation sich selbst neu anzueignen.9 Diese These einer transformativen oder performativen Struktur praktischer Subjektivität dürfte auch der Kern der einflussreichen „perfektionistischen“ Lesart Nietzsches sein, wie sie vor allem James Conant im Anschluss an Motive von 8 Für einen knappen Überblick über die Debatte um immanente Kritik als Verfahren vgl. Jaeggi/ Wesche (2009). 9 Zum Spannungsfeld von „Ohnmacht des Subjekts“ und „Macht der Persönlichkeit“ vgl. jetzt ausführlich Benne/Müller (2015).

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Stanley Cavell vorgeschlagen hat.10 Einer ihrer Ansatzpunkt ist Nietzsches von Emerson entlehnte Rede von der Konfrontation mit dem „höheren Selbst“ in Schopenhauer als Erzieher; in solchen Konfrontationen trifft das Selbst auf etwas, was „zur Selbstumgestaltung zu erziehen oder herausfordern“ in der Lage ist (Conant 2014, 142). Auch hier mag die Erläuterung dieses Motivs in vielen Fällen individualistischer klingen als nötig: Denn zum einen ist laut Nietzsches Vorschlag diese Konfrontation mit dem eigenen höheren Selbst immer durch die Begegnung mit einem Anderen, einem großen Menschen oder einem großen Werk oder Text vermittelt. Das Selbst findet sein Telos genau nicht monologisch oder introspektiv in sich, sondern in der Erfahrung einer Herausforderung oder Negation seiner selbst durch einen Anspruch, der von außen nach innen führt. Zum anderen wird diese Selbstkritik zwangsläufig zur Welt- und Sozialkritik führen, sobald eingesehen wird, dass unter den vorliegenden Bedingungen das Selbst nur so werden konnte, wie es wurde und jetzt ist. Damit liegt, und dies kommt bei Cavell und Conant nicht immer ganz deutlich zum Vorschein, auch in der scheinbar individuellen Praxis der Selbstkritik und -transformation eine Teilrehabilitierung der Idee der nötigen Revolution oder des kommenden Aufstands, aber einer anderen Revolte oder radikalen Transformation, nämlich einer, die durch das Selbst hindurch gehen muss. Denn jede radikale Transformation der Kultur oder der Gesellschaft bedarf der Mikro- und Autorevolutionierung des Selbst. Wenn Nietzsche, dessen Hass auf die Französische Revolution und auf Rousseau gut belegt ist, in Der Wanderer und sein Schatten über die „Gefährlichkeit der Aufklärung“ schreibt und erklärt, dass „die Aufklärung, […] lange Zeit zufrieden damit [war], nur die Einzelnen umzubilden, so dass sie nur sehr langsam, auch die Sitten und Einrichtungen der Völker umgebildet hätte“ (WS 221, KSA 2, 654), beklagt er das kraftlose, bürgerliche, nämlich bloß individuumsbezogene Aufklärungsprogramm. Schlimmer ist für ihn aber die nächste Phase, der angewandte terroristische Rousseauismus der französischen Revolution: „Jetzt aber an ein gewaltsames und plötzliches Wesen gebunden, wurde die Aufklärung selber gewaltsam und plötzlich. […] Wer dies begreift, wird auch wissen, aus welcher Verunreinigung man sie [d.h. die Aufklärung] herauszuziehen, von welcher Verunreinigung man sie zu läutern hat: um dann, an sich selber, das Werk der Aufklärung fortzusetzen und die Revolution nachträglich in der Geburt zu ersticken, ungeschehen zu machen.“ (Ebd.) Es ist zu verführerisch, in diese anti- oder konterrevolutionäre Formel von der Fortsetzung der Aufklärung an sich selber und der Ablehnung der gewaltsamen

10 Für Ausführungen zum Perfektionismus bei Nietzsche vgl. Conant (2000, 2014), Cavell (2003), Lemm (2007) und Saar (2007, S. 33–35, 55–58, 2014a).

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Revolution nicht genau die Reflexion hineinzulesen, die hier als Nietzsches anderes Bild der Transformation skizziert wurde: Das Programm einer radikalen, radikalisierten, rückhaltlosen Kritik des Selbst, um des Selbst willen, um eines anderes Selbst willen, die eine externe Revolution nicht braucht, diese „ungeschehen“, unnötig macht, weil sie „an sich selber“ revolutionär ist. Radikale Selbsttransformation statt Revolution, eine Politik des Selbst oder der Transfiguration statt Revolte – vielleicht bezeichnet nichts besser Nietzsches Standpunkt im Feld der vielen Optionen im transformationstrunkenen und gleichzeitig wieder so ganz transformationsaversen späten 19. Jahrhundert. Und vielleicht ist dieses Modell jenseits von heroischem Individualismus und a-liberalem Kollektivismus auch nach mehr als einem weiteren langen Jahrhundert der politischen Hoffnungen und Enttäuschungen noch nicht abgegolten. Das hieße, dass auch wir Transformation dringend brauchen, aber eine andere Transformation als die von den herkömmlichen moderaten oder radikalen Programmen versprochene. Es könnte, anders gesagt, sein, dass wir an fast demselben Punkt stehen wie Nietzsche.11

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11 Ich danke den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Naumburger Tagung für anregende Diskussionen und Jella Bunke für wertvolle redaktionelle Unterstützung.

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Towards Nietzsche’s ‘Critical’ Theory – Science, Art, Life and Creative Economics Abstract: Towards Nietzsche’s ‘Critical’ Theory – Science, Art, Life and Creative Economics. Where, in the schema of Nietzsche and the political, is the conjunction of Nietzsche and critical theory to be found? The short answer is seemingly nowhere: there are ‘left Nietzscheans’ but they are not involved in critical theory and there are ‘right Nietzscheans’ but they are similarly not involved in critical theory. Habermas underlines the importance of knowledge/interests for understanding Nietzsche and the political along with, among others, Alfred Schmidt and Reinhardt Maurer. Yet Habermas seeks to preserve rationality against interpretive threats entailing that Habermas excludes both Adorno and Horkheimer, both uniquely sympathetic to Nietzsche’s critique of reason and politics. In consequence, Nietzsche has in the current Frankfurt school seemingly no presence at all. Seeking a remedy, this essay examines claims of political and epistemological correctness in the context of the return of the association of Nietzsche with the radical political movements as well as Nietzsche’s critique of the claims of equality and socialism together with his critique of Rousseau and revolution.

1 Nietzsche’s Critical Theory from Adorno to Habermas and Foucault It is useful to begin by asking whose critical theory is to be associated with Nietzsche who is himself not a member, per impossibile, of the Frankfurt School. For, by contrast with Habermas, there is sympathy with Nietzsche who influences Max Horkheimer’s and Theodor W. Adorno’s Dialectics of Enlightenment in addition to their different cultural critiques.1 Nietzsche is also relevant for Günter Anders2 as well as more patently, Alfred Schmidt and Reinhard Maurer but also in

1 See Horkheimer and Adorno 2002 as well as Horkheimer 2002 and see further Babich 2016 and 2013a. 2 I discuss Anders and Nietzsche in Babich 2013b. Cf. Anders 1987 [1956].

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others who think critically but whose work is not always associated with Critical Theory such as Martin Heidegger and Luce Irigaray who has written critically, on both Nietzsche and Heidegger. However there is no way to thinking Nietzsche’s critical theory or indeed his critique of critique without reflecting on the politics of academic philosophy which is to say on the politico-intellectual stakes of reading Nietzsche in general and not only with respect to Nietzsche’s critical theory ‘dialectically’ à la Adorno vs. ‘communicatively’ à la Habermas. Thus it will also matter, although I do not have space to address this here, to note the current state of Nietzsche studies in German universities, significantly diminished as a direct consequence of what academics working on Nietzsche in particular but also others absorbed with the critical philosophies of Kant and Hegel (and Heidegger) managed to do (and not to do) in setting up the current culture of the university and that means university appointments today. In this very practical and political academic fashion, Habermas undertook to distance what had been Critical Theory from its founders, Horkheimer and Adorno. ‘Critical theory’ in Frankfurt today and everywhere bears Habermas’ stamp or it doesn’t exist. Habermas is the same as Axel Honneth and Christoph Menke and so on. Same old, uncritical critical theory. Thus if we begin any reflection on Nietzsche’s critical theory we wind up talking about Habermas and proceed to talk about Foucault and so on. At the end of this essay I hope to suggest that we might add other names and other critical thinkers by the crucial expedient of beginning to read and to discuss their work. Why ever did Habermas write on Nietzsche? Did he simply stumble across Nietzsche, as many do, bowled over in a temporary Nietzschean conversion? A kind of Augustinian moment, tolle lege, the way Nietzsche tells us he came to his Schopenhauer? Maybe this is part of it but there is also a more trivially, academically political cause. For, thanks to Hans Blumenberg and Dieter Henrich and Jacob Taubes, the young Habermas was commissioned to edit a book collection on Nietzsche. Taubes told me that Habermas did not initiate this project (a plausible claim just given that Habermas published his own Erkenntnis und Interesse in the same year) but had to be pressed into compiling a collection on Nietzsche’s contributions to the theory of knowledge, epistemology, Nietzsches erkenntistheoretische Schriften). Habermas limited his intervention to an afterword (Habermas 1968), in which he ‘appropriated’ – and swathes of Habermas scholars have failed to notice this – pretty much whole cloth, an extant argument (Lukács 1953). Suhrkamp wound up with another book in their library of identical little books (two, if we count, Erkenntnis und Interesse (Habermas 1973 [1968]). Apart from his efforts on Nietzsche and considerably aided by Adorno’s convenient demise at the end of the summer in 1969, Habermas’ career would

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skyrocket and he set Nietzsche aside. Of course not for good and I have organized three book collections in the effort to trace the trajectory of Habermas’ engagement with Nietzsche (Babich/Cohen 1999 and 1999a and Babich 2004). Thus in the scholarly debate on the topic, it is argued that Habermas’ later views on Nietzsche undergo “changes” especially in Knowledge and Human Interests (Habermas 1973) and Philosophical Discourse of Modernity (Habermas 1985). If Habermas didn’t actually bother to engage Nietzsche as much as to argue bits of Nietzsche into his own theoretical framework (when it comes to reading Nietzsche, this tactic is not unique to Habermas), those today who are most effective in discussing the connection between Habermas and Nietzsche often turn to Foucault.3 Following this more narrow convention, Thomas Biebricher’s reasonably (and transparently) titled “Habermas, Foucault and Nietzsche: A Double Misunderstanding” (Biebricher 2005) follows Ludwig Nagl’s (1989) important analysis setting Nietzsche into a variety of ‘other’ Habermas debates, i.e., debates with Heidegger as also with Gadamer, where these names can serve as catchwords for Jacques Derrida and Jean-François Lyotard. Other approaches to Nietzsche and critical theory might involve Hans Blumenberg or even Leo Strauss.4 Yet all of these approaches leave one adrift both with respect to Nietzsche’s own notion of critique. For if Nietzsche died too soon to have been any part of the Frankfurt School he nevertheless had his own critical theory: ethico-political, ‘genealogical’ as well as epistemological, where critique for Nietzsche is to be logically and scientifically articulated, even with respect to the conventions of logic, mathematics, and science and not only religion and morality and culture. All of this in addition to the notion of critique worked out by the original founders of the Frankfurt School (Horkheimer/Adorno 1986 [1940–1950] and Horkheimer 2002 [1968]). So where, apart from Habermas and Foucault, can we find Nietzsche and critical theory in the Frankfurt School tradition today? The short answer – nowhere – is disappointing and we quickly cast about for candidates. Yet although it is customary in the literature to speak of ‘left Nietzscheans,’ to reprise Alasdair MacIntyre’s formula in his After Virtue,5 the thinkers in question, most notably Tracy B. Strong, are not involved in (and do not identify with) “Critical Theory.” And there are, more notoriously, ‘right Nietzscheans,’ as Stephen Aschheim ob-

3 See, for an exemplary instance, Owen 2003 and Conway 1994 and see Saar 2007 among others. On this, too, see the range of contributions to Babich 2004. 4 This is just the tip of list of possibles. Other untapped approaches include connections to be explored with Jean Baudrillard, Paul Virilio, Reiner Schürmann, and so on. 5 MacIntyre 1981.

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serves in the lineage of Ernst Jünger (Aschheim 1992, 151) but these too are certainly not involved in the tradition of Critical Theory. Thus in addition to noted Nietzsche scholars with supposed sympathies for Critical Theory, like Schmidt and Maurer and one can add others like David Owen and Martin Saar as well as Bernhard Taureck along with Steffen Dietzsch, Rüdiger Schmidt-Grepaly, along with the aforementioned Biebricher and Nagl, etc. In all this it matters to underline what usually goes unmentioned: the current Frankfurt School, ever since Habermas assumed the reins and ever since he carefully sanitized it of Adorno/Horkheimer style critical theory, has shown little patience for Nietzsche, perhaps in consequence abandoning him to the right wing movements who increasingly seem eager to invoke his name.6 Things aren’t made any simpler when it is also emphasized as I did above and for the sake of rigor – grist in turn for Habermas’ charge of irrationalism – that Nietzsche’s most critical challenges are logico-epistemological (Babich 1994, 2010, 2015a). Thus Nietzsche’s notion of critique is more in line with Adorno’s approach to critical theory than Habermas’s communicative and pro-rationalist approach. Nietzsche says there is no truth and he makes this claim with respect to science and it thus bears on his philosophy of science, conventional philosophers of science are loathe to consider as a claim that contributes to their own discipline, including both natural, sciences and the more traditionally subjective, or scholarly ‘scientific’ disciplines Nietzsche is usually associated with and which he knew best: classical philology and not less aesthetics (but which he himself also extended, partially in direct correspondence with the leading scientists of his day, physics and physiology, chemistry, and economics and so on). Not only does Nietzsche ask us, critically, how we know what we suppose ourselves to know with regard to the physical world and not only does he offer profound critiques of commonsense conviction with respect to what we take ourselves to perceive and to experience of the physical world, including objects of mathematical, logical, and natural science, especially causality but he extends his critical question to our very supposed ‘knowledge’ of the world to come, speaking metaphysically and theologically. For Nietzsche, what merits critical reflection is our eagerness to count on the rewards expected after death, so many ‘savings returns’ as we may call them on personal, spiritual virtue. Thus Nietzsche’s critique of the salvific promise of religion dovetails with his critique of the presumed salvation of everyday life through science and the promise of redemption through anticipated technological enhancements (Babich 2014c).

6 See on this my own contribution, Babich 2016a along with that of the two editors themselves as well as Rainer Adolphi and Tracy B. Strong in Polyakova and Sineokaya 2016.

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As Horkheimer and Adorno write at the outset of their 1944 reflections on The Dialectic of Enlightenment: “Kings control technology no more directly than do merchants: it is as democratic as the economic system with which it evolved.” (Adorno/Horkheimer 1986, 2). And yet to this date both sovereign governments and manufacturers, like Apple and IBM, Monsanto and Shell, currently, and vainly, seismic blasting the arctic in order to map the ocean bottom and in the process destroying or damaging all marine life in the waters there, very much intend to control those same technologies. And if Günther Anders, a member of the original Frankfurt School, had argued throughout his own critical theoretical life that we overstate the achievements of technology massively, Anders also underlines our absolute abandon to the promise of redemption by means of our technologies, what Anders called our “gadgets” (Anders 1987). In Rolf Wiggershaus’s (2001) “The Frankfurt School’s ‘Nietzschean Moment,’” we are offered a brief report of the 1942 July 14 or “Bastille Day” discussion of Ludwig Marcuse’s account of the relationship between need and culture in Nietzsche, a discussion including not only Horkheimer and Adorno but also Anders where Anders undercuts the focus on the ideal of the “superman,” be it the perfect soldier or the entertainment idol, fascist or otherwise, noting per contra that the “central concept here is amor fati. Nietzsche did not offer a positive transformation of the world, but instead an acceptance of the world as it is.” (Anders in Adorno, et al., 2001, 132) Anders’s point works against both “left” and “right” Nietzschean appropriations of Nietzsche’s thought and critical theory. Thus (Ludwig) Marcuse summarizes: “Nietzsche played the gay scientist: ‘culture means learning how to calculate, learning to think causally.’” (Marcuse in Adorno et al, 2001, pp. 130–131) And, as the new and improved body advantages promised in the coming transhuman condition might suggest, the working history of “effects” entails that our concern with “learning to calculate” may itself be calculating.7 How are we to read the Nietzsche who begins by challenging our basic assumptions about the binary “good” and “evil”? Habermas leaves out genealogical distinctions of this kind and this may be why he is vulnerable to readings from the side of the Foucauldians. By contrast, Adorno emphasizes the need to think critically such that one is not merely repeating what one can read in this or that text but what is phenomenologically manifest (this was a period in which Adorno drew on the terminology and the practice of the Husserlian phenomenological approach), including socio-historical genesis and hermeneutic content examining the material conditions of society, need, and desire, translated as “lon-

7 A useful discussion of Nietzsche and Horkheimer may be found in Swindal 1999. See also on both Horkheimer and Adorno with specific respect to bio-power: Lemm 2010.

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ging.” Adorno thus underscores a different kind of material criticism when he writes “When all human beings have enough to eat, they will not be a mass of petty bourgeois philistines; the idea of being a petty bourgeois philistine would itself die out.” (Adorno et al. 2001, 133) For his part, Horkheimer sees Nietzsche as “a critic of the entire [bourgeois] culture of satiety [Genügsamkeitskultur].” (Adorno et al., 2001, 134, repeated in Wiggershaus 2001, 144) In this way, Wiggershaus can argue that Adorno and Horkheimer found in Nietzsche “as in no other philosopher, their own desires confirmed and accentuated.” (2001, 145)

2 Nietzsche, Right Radical and Left Radical – and the Black Notebooks If Heidegger’s name is (once more) virulently associated with fascist ideals, via a species of anti-Semitism described in Heideggerese as “seinsgeschichtlicher Antisemitismus” (Trawny 2014, 31–56), Nietzsche too is again connected with this ideals and not only because Heidegger read as much Nietzsche as he did but for very historical reasons. And in the current day, Nietzsche is politically influential, particularly for rightist, reactionary political movements, including student university organizations (see for discussion and further references Babich 2016a). Hence although Habermas famously declared that Nietzsche “was no longer infectious [Nietzsche hat nichts Ansteckendes mehr]” (Habermas 1968, 237),8 this same formulaic language of “infection,” as most commentators understood Habermas then and now, appears to have inspired the term “contamination” as Peter Trawny highlights this in the context of the current Black Notebooks Heidegger scandal.9 When it comes to Nazism Nietzsche has never ceased to be associated with, at least in an Anglophone context, the same set of ‘dangerous’ philosophical influences Habermas identifies (1968, 237) and these connections recur in Aschheim’s 1994, The Nietzsche Legacy in Germany 1890–1990. Aschheim counts Spengler, Schmitt, Benn, Jünger, Gehlen, and of course Heidegger,10 and he seemingly presciently argues that Habermas would not be the only one to in

8 On this cf. again the range of contributions in Babich 2004. 9 “The being-historical construction can lead to a contamination of Heidegger’s thinking.” Trawny 2014, 93. I discuss this, including Heidegger’s reading of Nietzsche in Babich 2016b. 10 Tugendhat 2000. I am grateful to Sigridur Thorgeirsdottir for reminding me of the importance of this reference.

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falling prey to premature optimism (Habermas 1984, 104), mistakenly announcing the death of the “cult of Nietzsche” (Aschheim 1994, 44). The phrasing: the ‘cult of Nietzsche,’ is a direct translation of Ferdinand Tönnies’ 1897 Der Nietzsche Kultus.11 Keeping the assonance with the Wagner “cult” in mind, what is key for Aschheim is that, two decades later, Habermas will reprise his ‘68 reference to Nietzsche, infamously installing Nietzsche as ticketmaster to the alarmingly dizzying turntable or “Drehscheibe” of postmodernism (Habermas 1985, 104). In this way, Nietzsche can be charged as being the philosophical ‘grandfather’ of the tendencies of Jacques Derrida and Gilles Deleuze in addition to Georges Bataille and Michel Foucault as well Luce Irigaray and so on and on.12 Carrying the force of the politically “correct” into academia under the rubric of what the late Dominique Janicaud, Heidegger scholar and philosopher of technology, once named “epistemological correctness,” the lesson to us is clear. We do best to be chary of the books allowed on our bookshelves, vigilant regarding courses offered at university. Be careful, the message seems to be: read the wrong author, and you may grow up to be a Nazi – figuratively speaking, that is to say: an anti-semite or a “fascist.” All that seems right as rain for Nietzsche scholars now are anxious to distance themselves from Heidegger. But what of Nietzsche? Reading what Malcolm Bull highlights as the noncritique of Nietzsche in his Anti-Nietzsche (Bull 2014),13 has the Nietzsche “cult” indeed been laid to rest? (Maurer 2015) Ought even critical theorists, as Reinhart Maurer, among others, has reminded us, not be critical of Nietzsche too (1984, 2012)? Habermas took up the fight against Nietzsche’s ongoing “virulent influence” foregrounding the dangers of putative ‘irrationalism’ as Habermas retained this critique from Lukács’ original indictment, stopping on the way to counter many of the aforenamed “postmodernists” including Sloterdijk and others – whereby just as one thinks one has done with Nietzsche, this vanquishing is itself revealed as illusion. Thus many scholars announce that they plan to move away from

11 Cf., however, Solms-Laubach 2006. 12 See further, drawing upon Henning Ottmann to Wolfgang Müller-Lauter and concentrating on Georg Lukács, Krause 2006. Most of the debate here centers on the former DDR where Nietzsche was indeed not merely persona non grata, but invisible, no one, as Nicholas Martin quotes George Orwell to say: “[he] was not only dead, he was abolished, an unperson”, set as epigraph to his chapter, “Nietzsche in the GDR: History of a Taboo,” Martin 2003. See for a discussion across both borders, Große 2010 and note that Maffeis 2007 means to be comprehensive. 13 Cf. Maurer 1981/82 and 1984.

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Nietzsche, only to find themselves returning again. But this is not merely a matter of enthusiasm and error. Somehow more is involved, the same more that makes Habermas characterize Nietzsche as the turn table – can we say, the “lazy susan”? – of modernity. As Karl Knortz already wrote in 1913: Nietzsche und kein Ende. Habermas’ pronouncement of Nietzsche’s supposedly non-contagious status also bristles with “rational” plausibility. For we appear to have moved on. And today we have other problems given Heidegger’s Black Notebooks: especially in connection with anti-Semitism. Heidegger is relevant here because critics of Heidegger insist on making Nietzsche a part of everything having to do with Fascism, especially as one assumes that “fascism” was the night in which all metaphorical cows were, to vary Hegel, neither black nor grey but essentially and fundamentally irrational. This is key to Habermas’ communicative rationality, it is the dedication to rational idealizations of scientific progress that absorbs Marxist materialism to this day (Thomas 2008) and it recurs in Richard Wolin’s The Seduction of Unreason as Wolin traces the “Intellectual Romance” from Nietzsche to Postmodernism (Wolin 2006). If Lukács already began to make this argument beginning in 1933 (Lukács 1982) and more precisely in 1953 (Lukács 1953, but see per contra Kiss 1998) some scholars have argued (Lang 2009, Tugendhat 2000), anticipating some of the argumentation of the Black Notebooks Heidegger scandal, that Nietzsche ought not to be let off the fascist hook. Indeed, Heidegger began his own lectures on Nietzsche by emphasizing that we need first to begin to “read” Nietzsche. But for such a reading, robustly hermeneutico-phenomenological, what is prerequisite are all the elements scholars like Lukács, for his own ideological convictions, and like Habermas have labelled ‘irrational,’ including an altered notion of intellectual history, including the role of the philosophical reflections needed to understand scholarship itself, history itself, and even science as such. Nietzsche was a historian, as he maintained that all classical philologists ought to be historians. But that did not for him imply a conventionalist or textbook or handbook approach to history. Much rather he thought theoretically (‘scientifically’ as he would say) about the discipline of history qua science. And in this spirit, Nietzsche wrote his inaugural lecture at Basel on the so-called Homer question for the sake of a critical theoretical account of nothing other than the historical science of philology qua history. Nietzsche went on to write a book he understood (arguably he alone among his contemporaries and even to this day) as a similarly critical, similarly scientific account (both historically and in terms of genre, rhythmically, quantitatively, musically theoretical account) of The Birth of Tragedy out of the Spirit of Music. It is just in this intellectual context that he could go on as he did to offer a critically scientific warning regarding the

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‘utility’ (and, thereby too, concerning the risks or dangers) of history: the second of his deliberately named “untimely” meditations.14 Ah, we Nietzsche scholars protest: the historical Homer, along with the notion of the various quantitational rhythmics of musical tragedy, a ‘new soul’ that ought to have sung, this last notion recounting the theories of the different kinds and uses of history in this historical context, when it comes to the upshot of Nazism and fascism – isn’t the lot of that just scholarly “white washing,” as Wolin and his more soberly thoughtful fellow travelers would say? Have we not what commentators have named a “smoking gun”?15 In Nietzsche’s case that would be, now there is a parallel to Heidegger, the things Nietzsche says about the Jews (if we are up for the complexity of those declarations) or else we can take our ‘smoking gun’ to be nothing less than a photo opportunity: the iconic image of Hitler gazing across an open window at a sculptured bust of Nietzsche in the Nietzsche Archive in Weimar. For in addition to our left and our right Nietzscheans we happen to have Nazi Nietzscheans (this is the “influence” factor) like Baeumler and like Krieck even if we are not inclined to count Heidegger. Indeed, we even have Heinrich Härtle’s 1937 Nietzsche und der Nationalsozialismus.16 The enduring force of the connection between Nietzsche and National Socialism is well documented by Martha Zapata Galindo in her book, Triumph des Willens zur Macht. Zur Nietzsche-Rezeption im NS-Staat.17

3 Critique of Culture: On Equality towards Changing the World Both the critics of the notion of Nietzsche as sympathetic to democratic or egalitarian politics18 and those who advocate such friendly readings19 have taken

14 This reference haunts the title of Jacob Golomb and Robert S. Wistrich’s book collection: Nietzsche, Godfather of Fascism? (Golomb and Wistrich 2009). Cf. Strong 2009. 15 See the contributions, particularly those by Fred Dallmayr and Karsten Harries and Tracy Strong in Farin and Malpas 2016. 16 See Härtle 1937. See too in this context Lang 2009 and Tugendhat 2000 as well as Mittmann 2006. 17 See Galindo 1995 and see more broadly and far beyond Nietzsche, Heinz and Gretic 2006. 18 See, here to name only Anglophone titles (in German, French, Italian, and other linguistic spaces there are many, many more to be included): Detwiler 1990, Golomb/Wistrich 2002, Wolin 2006, etc. 19 See, for instance, Warren 1985, Connolly 2002, Hatab 1995 and, specifically Owen 1995 as well as the chapter on Nietzsche in Strong 2012, 57–90 as well as Knoll and Stocker 2014.

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Nietzsche’s critique of socialism as point of departure. Thus both pro and con viewpoints focus on his views on socialism attending to what seems to be Nietzsche’s egregious attention to the inequalities between human beings. The focus is thus on Nietzsche’s attention to difference and rank which is also to say what I call Nietzsche’s perspectivalism by contrast with analytic Nietzsche scholars’ emphasis on what they call perspectivism. ‘Perspectival’ in this fashion for Nietzsche, is extreme when it comes to social matters (and this continues to put off many of Nietzsche’s readers): there is no equality. Nietzsche’s argument is that injustice is not the sheer fact of inequality. What is unjust, he maintains, is the leveling demand that insists everyone be regarded as equal, and treated as equal: equality for all, as Nietzsche critiques the equal rights sloganeering of his day in his Twilight of the Idols. Instead Nietzsche calls for “true justice,” i.e., “Equality to the equal; inequality to the unequal” and goes on to add what he identifies as the corollary to this “true justice” “‘never make the unequal equal’” (TI Expeditions of an Untimely Man 48, KSA 6, 150). What I am here highlighting as Nietzsche’s critical theory, including his epistemology or science theoretical critique along with aesthetic and ethicopolitical elements, invites the reader to examine the morality of morality (the genealogy of morality) as well as in this last case the underpinnings of the common call for levelling (equalizing) justice. Nietzsche asks us to look at our convictions, i.e., our perspective on our orienting perspective judgment: supposing, as in fact we today do suppose, that “The doctrine of equality!” is a worthwhile project. In this way, we also suppose that what is needed is to change the world in the image of this same doctrine: towards equality. The ideological danger as Nietzsche points out is akin to the same inversion of thinking and the same disguised (masked) self-assertion advanced by that (invert) moraline ideality. Here Nietzsche’s perspectival remedy invites the critical thinker to ask cui bono, to look to the absolute value of the value in question, to ask who benefits from asking about advantage, to reflect on the will to power that operates in the revaluation of the original good (or abundant) and the originally weak (or inadequate) transforming the former into the ‘evil’ and repositioning the latter as the meek and the ‘good’? In other words, to illustrate master and slave moral stylization with the example of David, the shepherd boy (the slave who revalues that slavish condition), and the philistine Goliath (the master who does not revalue anything), we today, no matter our faith or our lack of it, idealize David’s cheating. We admire his tactics! We cheer the image of David’s success and we decry the Goliath downed by a stone from the shepherd’s slingshot. We do not judge him and David seems a perfect embodiment of Feyerabend’s adage: anything goes. Thus the beauty David saw “bathing on the roof” (an ecstatic vision made famous by

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Leonard Cohen’s Hallelujah: Babich 2013) was a certain Bathsheba who happened to be already married to the Hittite, Uriah, a man that David, as King, had the power to dispense to the front, in which war that man would conveniently die. All’s fair in love and war, and by the time Leonard Cohen concludes his cold and broken Hallelujah musing, Kind David is no more to blame than Samson (or Cohen himself): Her beauty and the moonlight overthrew ya, so very undone such that up and down the scale, the major fall and the minor lift, Hallelujah here and Hallelujah there, some unspecified “she” tied you to a kitchen chair, she broke your throne and cut your hair. Love, as Cohen sings, is not a victory march, and we know who to blame. In this case, as I emphasize, the critique of ideology at issue in the question of fairness or justice is the critique of male self-pleasing. Nietzsche who wrote on slave advantage, and who invoked women and Jews to do so, observed that women are complicit with slave advantage and perpetuate it (Babich 2006). This is one of the points Irigaray develops in concord with Simone de Beauvoir and in Irigaray’s critical theoretical dialogue with Nietzsche (Irigaray 1991). In my own work (Babich 2013 and 2015b, as well as 2006), I address this as the critique of desire, i.e., a critique of Lacan and Kojéve as well as Freud and Hegel whereby, arguing in agreement with Irigaray and with Bataille, the cadence returns to Nietzsche himself writing on desire and on will, especially with respect to women’s desire and women’s will.20 This is the “problem” of equality (and there is a different paper to be offered with respect to the self-critique that Nietzsche offers with respect to his views of women and which he discusses in terms of his own “stupidity right down deep” and matches elsewhere in an important insight to the injustice in general practiced between the sexes such that women herself idealizes man beyond any measure, beyond fulfillment, possibly beyond correction).21 Irigaray takes care to highlight difference and the relation between the sexes by distinguishing between political equality and private relations.22 But here I am not attending to the private and (the different distinctions with) the public as a Hannah Arendt can make these distinctions. I am only (and I emphasize only) speaking of society: men and women alike, class and class, rich and poor, healthy and sick, weak and strong, Christian and Jew, European and non-European, and let us never forget the Western and the non-Western if only because this not-as-yet modern reflection

20 See for a broader discussion, Babich 2010 and see too 2013 for references to further literature. 21 I regularly thematize this point, but see again, for example, Babich 2006 as well as 2013, 62– 75. 22 I am indebted to Sigridur Thorgeirsdottir for reminding me of this distinction and for my own part I encourage the reader to return to Iririgay 2000.

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would be the most important thing to take away from Bruno Latour’s quasihermeneutic Biography of an Investigation.23 In this social respect (which does not come near the complexities of personal relation), with respect to the “Doctrine of Equality,” Nietzsche writes, we ought by rights to be on our guard. Equality is masked in the best rainbow light, a coat of multifarious colors: “… But there is no more venomous poison in existence: for it appears to be preached by justice itself, when it is actually the end of justice …” (TI Expeditions of an Untimely Man 48, KSA 6, 150). Hence Nietzsche is not arguing against social equality because he is against the idea but because the claim is impossible, corresponding to a shortsightedness that happens to be ideologically self-serving.

4 The Economy of Abundance: Nietzsche’s Critical Theory of Science and Ideology Starting with The Birth of Tragedy, Nietzsche looks at what we may call (after the English title of Winifried Sebald’s Luftkrieg und Literatur), the “natural history” of power and life, that is to say in individuals as in culture and in history.24 Without a Christian promise, lacking the ideal of redemption, ascent in life is followed by decline, abundance is succeeded by deficiency or decay, sometimes including convalescence and recovery but always ending (Nietzsche never departed from Schopenhauer on this perspective) in the same way. To set these equal is to miss the point of life and to say so does not make Nietzsche a champion of the vulgar capitalist of eternal, perpetual accumulation without expression. The reason is Nietzsche’s focus on action that is expression. Thus the Nietzsche who says that only excess is “proof” of strength or power, underlines that the only way to prove abundance is to express it, not to save or conserve it. Nietzsche’s critique of science qua enlightened theology, psychology, biology (that would be Darwin and Malthus), economy (that would be Carlyle and Malthus),25 instructs us never to forget Malthus and never to confuse Malthus’s vision with anything in nature or in ourselves. But we do not hear Nietzsche on this, not even the Nietzschean Darwinians do this. But we do continue to view the world

23 See, once again, Latour 2013. 24 Sebald 2003. 25 Important discussions of Nietzsche and economy may be found in the contributions to Backhaus/Drechsler 2006.

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through Malthus’ eyes and we have fashioned the world after a Malthusian image.26 If Nietzsche never ceases to raise the critical question of science, putting critique itself into question, putting science itself in question, his project of critical inquiry presupposes that we come to know (as we do not know) ourselves: “One has to know who one is…” (TI Expeditions of an Untimely Man 7, KSA 6, 116). Thus this is a critical theory of a psychological and social kind. As Nietzsche reflects on the conditions of (and thus the possibility of) the artist, everything that has to do with the possibility of “progress” or aesthetic apotheosis, has to do with raising the question of science as a question. The key for Nietzsche has to do with one’s constitution (TI Expeditions of an Untimely Man 33, KSA 6, 131f.) – thus he asks: who are you? Are your own pronunciations on life offered from the position of declining, decadent fading life, in which case your judgment cannot square with the expressions of those who speak from abundance. The leveling drive for Nietzsche is always revealed as both self-protective and self-aggrandizing: ‘If I am canaille, you ought to be so too,” as he expresses this point here in Twilight and elsewhere. Here there is the expression of what is otherwise Nietzsche’s great caution against the morality of pity which, like “Complaining, is never of any use.” (Ibid.) The Nietzschean problem with pity is that it does nothing for the pitied – and everything for the pitier – in both cases from the perspective of superior feeling. Hence for Nietzsche the problem remains: “Whether one attributes one’s feeling vile to others or to oneself — the Socialist does the former, the Christian for example, the latter — makes no essential difference.” (TI Expeditions of an Untimely Man 34, KSA 6, 133) What he then speaks of as “disgregation of the instincts” corresponds not only to a negative judgment but also our educational institutions and our moral institutions: we lie to our students and we lie to ourselves about life such that we do not live it. This is “the moral lie in the mouth of the decadent’ which ‘says: ‘Nothing is worth anything — life is not worth anything.” (TI Expeditions of an Untimely Man 35, KSA 6, 134) After recommending the ancient virtues of voluntary death rather than a slavish death, Nietzsche diagnoses our own era (and I think his assessment has not changed in the transition from the 19th to the 21st century): We moderns with our anxious care for ourselves and love of our neighbor, with our virtues of work, of unpretentiousness, of fair play, of scientificality — acquisitive, economical, machine minded — appear as a weak age. (TI Expeditions of an Untimely Man 37, KSA 6, 138)

26 See Kurz, 1994, 1995, 2003, 2009 and Klein 2008.

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For Nietzsche, this calculation is characteristic of Judeao-Christian, scientific, enlightenment values. For Nietzsche who interposes his own ellipses here, …Our virtues are conditioned, are demanded by our weakness… ‘Equality,’ a certain actual rendering similar of which the theory of rights is only the expression, belong essentially to decline: the chasm between human being and human being, class and class, the multiplicity of types, the will to be oneself, to stand out — that which I call the pathos of distance — characterizes every strong age. (TI Expeditions of an Untimely Man 37, KSA 6, 138)

To become who you are, as Nietzsche urges this, assumes just to begin with (and this is its Pindarian pathos as it is a matter of judgment power which for the poet goes by the name of Rhadamanthus) that you know who you are: and just this we fail to know. We are as a consequence neither, Nietzsche says, as “happy” nor as “creative” as we should be. The “genius of the heart” (BGE 295, KSA 5, 237), as Nietzsche begins the penultimate aphorism of Beyond Good and Evil, offers a fanfare for the common man, astonishingly kind, as I elsewhere have written about his beautiful encomium to difficulty and education as much as to forbearance and culture or cultivation. In this respect we also have no idea how much we are capable of but the key in becoming who we are, that is: the task of acquiring a culture for Nietzsche is always exactly not its conservative preservation but its expression, the tumultuous possibility of a harmony in what can be attained in joy, in what does not keep itself in check but must, like the artist, give itself out. As Nietzsche writes, “The genius — in his works, in his deeds — is necessarily a prodigal, his greatness lies in the fact that he expends himself …” (TI Expeditions of an Untimely Man 44, KSA 6, 146). But Nietzsche’s critical asseverations with respect to Malthus, as the conviction of scarcity continues to drive our social and political order, tend not to be helpful to us inasmuch as this emphasis on expenditure without reserve unnerves us: for we want nothing but (just and only) to keep what we have and we want this even if it cannot be kept (which is one of the reasons we love the promissory, transhumanist, ideal of eternal life). And this takes us back to the point contra socialism and the same point takes us to Nietzsche’s Rousseau, as Nietzsche saw both socialism and Rousseau as allied. But if we read this, counterposed against Habermas’ diagnosis of the nostalgia for the ideals of the Hegelian promise of absolute knowing and its salvation or redemption, as expressed in Marx and as attempted with Lenin in a revolution that should have changed (but did not change) the world we cannot forget that there is no salvation, no redemption, and above all that there has been no real revolution worthy of the name. Revolutions in general, this is their salient characteristic in time and history, regularly fail to succeed in changing the world – even, perhaps especially, successful revolutions (look at America and if that is

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not enough for you, look at China). To expect that revolutions succeed ignores Nietzsche’s genealogical critique and his reflection on ressentiment, most especially, his reflections on the danger posed by the sick or decadent against the healthy or against those whose life is in ascendancy. That said, there is no need to turn to a conservative-style Hobbesian ‘might makes right’ or Callicles-style reading of Nietzsche (both readings miss the point regarding sickness and decadence). Just as Nietzsche is concerned about the working origins of the idea of the logical per se (Babich 2014a), Nietzsche is concerned with the working dynamics of revolution. The “bloody farce,” as Nietzsche writes, “enacted by this revolution” – here Nietzsche is speaking of the French Revolution and of Rousseau, that is to say, “the world-historical expression” of what he calls “this duplicity of idealist and canaille” – is not a moral farce. Thus “its ‘immorality,’ does not concern” him as much as the lie of the revolutionary program itself. What Nietzsche hated about the enlightenment ideal of revolution was its very “Rousseauesque morality — the so-called ‘truths’ of the revolution” – and we Americans have a constitution founded on these supposed self-evident truths – “through which it is still an active force and through which it persuades everything shallow and mediocre over to its side.” (TI Expeditions of an Untimely Man 48, KSA 6, 150) Goethe, Nietzsche holds, attended to the blood surrounding the words and his judgment on the revolution was “disgust.” Nietzsche’s question was (and it is for me also a question) why not Goethe? Why 19th century nihilism (or 21st century learned helplessness) and not much rather Goethe’s universality in understanding and affirmation, amenable to experience of whatever kind, reckless realism, reverence for everything factual. How does it happen that the total result is not Goethe but a chaos, a nihilistic sigh, a not knowing which way to turn…. (TI Expeditions of an Untimely Man 50, KSA 6, 152)

5 Nietzsche Contra the Impotence of both Pity and Fear: Towards an Active or Creactive Revolution Recall here Nietzsche’s discussion of the slavely moral contra noble morality – quoting Goethe, praising Goethe – Nietzsche writes: “‘One can only respect him who does not look out for himself.’” (BGE 266, KSA 5, 220) Here Nietzsche’s criticism of pity subtends his denunciation of socialism including the religion of socialism, i.e., the religion of love. And, and this is part of Nietzsche’s so-called “masculine” or “artist’s aesthetics,” Nietzsche’s problem with ‘religions’ of pity and of love is their impotence. They offer no help and need offer no help; they

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change nothing and, what is worse, such pity ethics dispose the pitied to seek pity as the basis for a compensatory claim: this is the will to power of the weak. If, by contrast, a powerful person who can make a difference and who can effect change is moved to pity, for Nietzsche, when “such a man has pity, well! That pity has value” (BGE 293, KSA 5, 236). The contrast with bootless sentiment or (impotent feelings of) pity, as Nietzsche is fond of decrying woman’s tenderness of heart in particular – today we may think of Facebook posts regarding animal experimentation or the food industry, the incessant decline of the bees, or of hunters who butcher lions or of merchants callously butchering dogs (and cats) along with horses and fish and dolphins and whales, the problem when we lament and “click” to show our righteous sympathetic feeling is that this evidences, like Nietzsche’s 19th Century womanly pity, only a tenderness that feels but can do nothing for those for whom they feel. Nietzsche’s critique of pity denounces pity from the point of view of “those who suffer! Or worse those who preach pity.” (BGE 293, KSA 5, 236, cf. GM II 1) Indeed, in his reflection on the soul of love itself in Jesus’ life, which he describes as “one of the most painful cases of the martyrdom of knowledge about love” (BGE 269, KSA 5, 225), Nietzsche highlights the same lack of consequent power or follow-through invoking once again the iconic example of: “woman – who is clairvoyante in the world of suffering and unfortunately also eager to help and save far beyond her power to do so.” (Ibid.) The point we scholars continually miss with our concerns with a moraline either/or (should one be in favor, should one not be in favor of pity) concerns the powerlessness of the kind of “”feminine” pity Nietzsche singles out: “This pity habitually deceives itself about its strength” (ibid.). If perspective makes all the difference, as Nietzsche writes of those capable of golden laughter, and indeed mockery (BGE 294), one can risk missing Nietzsche’s encomium to the “genius of the heart” (BGE 295, KSA 5, 237) which speaks and can speak to everyone. This is the Lucianic point of Zarathustra’s parable of the Übermensch, the overhuman suspended above everyday human affairs in the marketplace, dancing above the human, all-too-human frailty of mortality, Subjekt to downfall and to death, to vanity and to selfishness and banality. What redeems this all-too-vulnerable, all-too-human truth, so Nietzsche writes, is nothing but art itself, that “tempter god and born pied piper of consciences whose voice knows how to descend into the underworld of every soul” (ibid.). The mastery of art, this ’tempter god’, has its claim in that knows “how to seem.” (Ibid.) This affirmative artist of abundant and real power or efficacy, we recognize from the Birth of Tragedy, is Dionysus, “that great ambiguous and tempter god.” To this god Nietzsche tells us, he himself delivered “in all secrecy and reverence my first born” (that same book we have just mentioned) and this is also music, the

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most immediately effective and seductive art: “the genius of the heart who makes everything loud and self-satisfied fall silent and teaches it to listen.” (Ibid.)

6 Getting to Hallelujah or Priming Ourselves to Death As I argue in The Hallelujah Effect, today and at a far deeper level than we consciously suppose, our faith is only in what is advertised. This is the power of market priming (to use the word employed in the business and media sectors)27 and it is embraced today in all fields from the arts to politics to the academy (as “branding”). US consumers believe as deeply in the allure on offer in any commercial message as do the numerous dispossessed (or more accurately said neveronce-possessed) Brazilian might believe in, to quote Fabio Akcelrud Durão’s account of the seductions of market illusion, i.e., “the promises made by that which they do not have” (Durão 2004, 19).28 At the heart of the slave valuation of impotence (as potency) is the confidence game that transforms weakness without changing a thing in the original power relation that is in the end so thoroughly upended that the slave revolt in value succeeds as the slave revolt always succeeds. Nor are there any instances of noble morality today. Instructive is that a promise made by that which one does not have cannot but succeed as it is immune to any possible refutation: one does not have it, ah, but if one did… Thereby it is immune to any counterfactual, secure against any critique. This continues to drive the acquisition of almost every product. Consider the constantly increasing purchases, all to the destruction of the developing world on every level, of every new smart phone – even where, perhaps precisely where buyer’s remorse comes hard on the heels of every such purchase. The difference in the more literal faith of the iconic Brazilian as Durão describes him (always a him, it’s Brazil, after all) is the romantic possibility of subversion, found in the tension engendered at once by that promise and by its inevitable disappointment. “The expensive car really brings beautiful women; the cigarette really takes one to the old West” (Durão 2004, 19). Thus the entrepreneurial vision of “humanity 2.0,” with its coming replaceable upgradable parts, or at least kidneys (part-pig, part human),29 nota bene, for those who can pay for the right to such replacement 27 I discuss this in connection with Adorno in the first several chapters of Babich 2013a. See too, David Sherman’s discussion of Adorno and phenomenology in Sherman 2007, 13ff. 28 See Winlow and Hall 2012. 29 See for further references Babich 2015c.

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parts, meaning those who can afford a lifetime subscription to the pharmaceutical complement of anti-rejection therapy, is already available (meaning in trials) right now for everyone, just like a cell-phone plan that automatically “gives” you a new iPhone every year. Control your pounding heart: you too can have (or even better you can be) an upgrade, you can hack your life. But, as Luce Irigaray has reminded us (Irigaray 2000 and 2016) almost as if in response to Durão’s Subjekt confident that the “expensive car really brings beautiful women; the cigarette really takes one to the old West,” the Subjekt taking this on faith is always male (see chapters three to five in Babich 2013). And the consumer Subjekt living or visiting in Beverley Hills or Santa Monica (LA), or partying in the Hamptons, or summering on Martha’s Vineyard, vacationing on the Côte d’Azur, think of Cannes or Monte Carlo, knows – quite empirically – that the expensive car does indeed, just as really or literally, as truly as you please, ‘bring’ (the efficacy is that of the cargo cult), the beautiful women – women who either share the same subjectivity as the male Subjekt or who are not counted as “Subjekts” at all just because women are themselves a market item, for sale: like cars or cigarettes (see very politically on this danger: Irigaray 2000, 45). It is high time to begin “to interpret the world.”30 If I have constantly argued that we need Nietzsche for that, I also think we need other names, Aronowitz (2012), Durão, Kurz (1994, 1995, 2003, 2009, and 2011) and, especially Irigaray (1991, 2000). We need a range of new names, not a matter of the market hype of novelty, the young, the new, but just to begin with Nietzsche and to begin with those we haven’t read as yet, not only for theorizing but in practice as well.31

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30 Ibid., 140. 31 The author is honored to be able to express her gratitude to Sigridur Thorgeirsdottir for editorial insights and valuable recommendations.

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Nietzsche and Habermas on Wille zur Macht: From a Metaphysical to a Post-Metaphysical Interpretation of Life Abstract: In this article, Shea aims to overturn Jürgen Habermas’s characterization of Nietzsche in The Philosophical Discourse of Modernity as a postmodern irrationalist. On Habermas’s account, Nietzsche employs Wille zur Macht both as a principle by which to invalidate the claims of metaphysics and as a primordial “other” to reason that unmasks reason as an expression of domination. If Habermas’s reading is correct, Nietzsche’s work is ultimately incoherent since it either lapses back into metaphysics or puts forward a self-refuting anti-metaphysics. Contrary to Habermas, Shea argues that Nietzsche’s theoretical inquiries result from a considered methodological decision on the part of Nietzsche to suspend metaphysical interpretations. For this reason, Wille zur Macht can be read as the fabrication of a post-metaphysical principle for interpreting life rather than as a purported insight into the ultimate nature of reality and thus as a genuine alternative to the trappings of both metaphysical and anti-metaphysical philosophies.

1 Introduction In The Philosophical Discourse of Modernity, Jürgen Habermas claims that Nietzsche’s work falls prey to “the aporias of a self-referential critique of reason that is bound to undermine its own foundations” (Habermas 1993, 104). The reason for this, he argues, is that Nietzsche undertakes an “unmasking” critique of reason that either, on the one hand, assumes the validity of its own position and thereby remains ensnared in the dialectic of enlightenment or, on the other hand, undermines entirely all standards of rational legitimacy and thereby calls into question the very foundation of his own critique. On either account, according to Habermas, Nietzsche’s position lapses into a performative contradiction and is thus untenable. Overturning Habermas’s misreading of Nietzsche as a postmodern irrationalist is significant since it continues to play a decisive role in shaping successive debates regarding the critical potential of Nietzsche’s work, most especially regarding the place of Nietzsche’s post-metaphysical philosophy in critical social theory. While commentators such as Fred Dallmayr defend Nietz-

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sche by highlighting Habermas’s disingenuous reduction of Nietzsche’s oeuvre to ideas advanced in The Birth of Tragedy (Dallmayr 2004), and Karin Bauer by situating Habermas’s anxiety regarding Nietzsche’s purported irrationalism within the context of Nietzsche’s influence on Horkheimer and Adorno (Bauer 2004), neither author directly challenges Habermas’s accusations of Nietzsche’s work as contradictory or incoherent. Here, I argue that in claiming that Nietzsche employs Wille zur Macht both as a principle by which to invalidate the claims of metaphysics and as the primordial “other” to reason that “unmasks” reason as an expression of domination, Habermas misreads Nietzsche’s work as engaged in ideology critique – as unmasking illusions via an appeal to a primordial truth. By imputing such a project to Nietzsche, Habermas fails to account adequately for Nietzsche’s “critique of truth,” and thus not only attributes to Nietzsche a commitment to founding origins that Nietzsche himself repudiates, but in doing so also thereby renders Nietzsche’s work unintelligible. As I will alternatively demonstrate, the coherence of Nietzsche’s philosophical inquiries emerges only when we cease to read them as contradictory attempts to formulate an anti-metaphysics and regard them instead as proceeding from a “methodological decision” to suspend the metaphysical interpretation of life. Thus, contrary to Habermas, I will argue that Nietzsche’s formulation of Wille zur Macht operates, not as a refutation of truth and reason, but rather as a reflexive, tentative, experimental, and dialogical methodological principle for interpreting and evaluating life. In the end, by closely examining Habermas’ criticisms of what he considers to be Nietzsche’s critique of reason, I not only defend Nietzsche’s work from the accusations of incoherence and contradiction, but I also establish the central role Nietzsche’s methodological suspension of the metaphysical interpretation of life plays in conceptualizing Nietzsche as a post-metaphysical philosopher.

2 Habermas’s Critique of Nietzsche Habermas charges Nietzsche with appealing to an aesthetic experience that “enthrones taste, ‘the Yes and the No of the palate,’ as the organ of a knowledge beyond true and false, beyond good and evil” (Habermas 1993, 96). Moreover, in doing so, Habermas claims that Nietzsche has confusedly pursued “a critique of ideology that attacks its own foundations” (Habermas 1993, 96). In two short paragraphs in The Philosophical Discourse of Modernity, Habermas dismisses the entire Nietzschean enterprise arguing that by employing Wille zur Macht as a founding origin in order to undermine the legitimacy of reason, which thereby undermines the legitimacy and truth of any position, Nietzsche thus undermines

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the very legitimacy and force of his own position. On this reading, Habermas claims that Nietzsche is thus caught in a double bind: either Nietzsche engages in an aesthetic science, genealogy, that “unmasks” and “demonstrates” that Wille zur Macht is always at work in reason – which would undermine reason’s claims to objectivity, truth, and validity, and would thus in turn destroy genealogy’s own claims to scientificity and truth – or, Nietzsche appeals to the Dionysian experience of an obliterated and de-centered subjectivity as a foundational aesthetic experience that reveals itself as the suppressed “other” to reason – which would undermine the authority of all rational standards, and would thus in turn undermine the standards upon which Nietzsche could establish the authority of his own aesthetic preferences.

3 Nietzsche’s Mistrust of Metaphysics In presenting my defense of Nietzsche, I will follow Alexander Nehamas in defining dogmatic metaphysics as that view that “aims to be accepted necessarily and unconditionally – not as the product of a particular person or idiosyncrasy but as the result of a discovery about the unalterable features of the world” (Nehamas 1987, 33). For this reason, dogmatic metaphysics does not merely aim to be a view amongst others but more significantly aims to be “an accurate description of the real world which forces its own acceptance and makes an unconditional claim on everyone’s assent” (Nehamas 1987, 32). In this way, every metaphysical account of existence aims to present itself as an incontrovertibly true account of the way things “really” are. The danger inherent in any critique of metaphysics, then, is the possibility of lapsing into dogmatic or Academic skepticism. As Ken Gemes notes, “To deny the existence of truth is prima facie paradoxical. Such denials invite the question ‘Is it true that there is no truth?’ To answer ‘Yes’ is to claim there is at least one truth, namely that there is no truth. To answer ‘No’ is to deny that there is no truth and hence commit oneself to the claim that there is some truth” (Gemes 1992, 48). In either case, the position of Academic skepticism is self-refuting since it ultimately re-establishes the very assertions of truth that it aims to repudiate. Thus, in undertaking a critique of metaphysics, Nietzsche is faced with the Herculean challenge of tracing an alternative path that refrains from advocating either a form of dogmatic metaphysics or a form of equally dogmatic skepticism. In Section I, paragraph 21 of Human, All Too Human, entitled “The Probable Victory of Skepticism,” Nietzsche sketches an orienting framework for this alternative path:

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Let us for once accept the validity of the skeptical point of departure: if there were no other, metaphysical world and all explanations of the only world known to us drawn from metaphysics were useless to us, in what light would we then regard men and things? This question can be thought through, and it is valuable to do so, even if we do for once ignore the question whether the existence of anything metaphysical has been scientifically demonstrated by Kant and Schopenhauer. For the historical probability is that one day mankind will very possibly become in general and on the whole skeptical in this matter; thus the question becomes: what shape will human society then assume under the influence of such an attitude of mind? Perhaps the scientific demonstration of the existence of any kind of metaphysical world is already so difficult that mankind will never again be free of mistrust of it. And if one has a mistrust of metaphysics the results are by and large the same as if it has been directly refuted and one no longer had the right to believe in it. The historical question in regard to an unmetaphysical attitude of mind on the part of mankind remains the same in both cases (HH 21, KSA 2, 42f).

In this paragraph, Nietzsche makes three points that are directly pertinent to conceptualizing his work as an alternative to metaphysics – that is, as “postmetaphysical.” First, Nietzsche is clear that he does not conflate a mistrust of metaphysics with the refutation of metaphysics. Thus, Nietzsche is explicit that he does not consider metaphysics refuted; he is not a dogmatic anti-metaphysician. Second, given this mistrust of metaphysics, however, Nietzsche tells us that he will proceed as if it has been refuted. In this way, Nietzsche makes a “methodological decision” to proceed philosophically on the alternative, conditional, and experimental basis that we are without a founding origin by means of which we could secure primordial truths concerning the way things “really” are; he is not a dogmatic metaphysician. Lastly, Nietzsche provides an interpretative key in this paragraph for making sense of his later affirmative claims regarding life and existence: Nietzsche tells us in no uncertain terms that the commitment orienting his later critical inquiries is to theorize about this world and this life as though the metaphysical interpretation had been refuted – in other words, Nietzsche reveals to us that the aim of his work is to provide an interpretation of existence in which the metaphysical interpretation has been methodologically bracketed; he is postmetaphysical. Though Nietzsche himself never describes his work explicitly in terms of a “methodological decision,” this decision on Nietzsche’s part to suspend methodologically the metaphysical interpretation of life is decisive for establishing the tenability of post-metaphysical philosophy in general as a coherent theoretical alternative to metaphysical and anti-metaphysical philosophies.

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4 Metaphysics and the Value of Truth Significantly, Nietzsche’s methodological suspension of the metaphysical interpretation also includes a suspension of the conception of truth that metaphysics presupposes. According to Nietzsche, fundamental to metaphysics is the supposition that the value of a judgment stands or falls according to its truth or falsity. In this way, a judgment is valuable if and only if it is true. Since Nietzsche suspends methodologically the metaphysical interpretation, however, he stands on substantially different footing than the philosophers of whom he is mistrustful. More specifically, truth is not a criterion of which he can avail himself in measuring the worth of a judgment since his methodological decision to suspend the metaphysical interpretation prohibits him from appealing to the very criterion that he has bracketed. Thus, Nietzsche cannot appeal to truth as a criterion for measuring the worth of judgments without violating his own methodological commitments. Nietzsche himself is well aware of this constraint: “The falseness of a judgment is to us not necessarily an objection to a judgment: it is here that our new language sounds strangest” (BGE 4, KSA 5, 18). Nietzsche is explicit that he puts aside the metaphysical ideals of truth and reality. For this reason, the postmetaphysical tools that Nietzsche fabricates for interpreting life do not purport to be primordial truths.

5 Life as a Post-Metaphysical Evaluative Criterion In accordance with the above-mentioned methodological constraints, Nietzsche advances life as an alternative evaluative criterion to truth for measuring the value of his post-metaphysical judgments: [Our] fundamental tendency is to assert that the falsest of judgments (to which the synthetic a priori belong) are the most indispensable to us, that without granting as true the fictions of logic, without measuring reality against the purely invented world of the unconditional and self-identical, without a continual falsification of the world by means of numbers, man could not live – that to renounce false judgments would be to renounce life, would be to deny life (BGE 4, KSA 5, 18).

In his commitment to employing “untruths” in the name of life – of which the affirmation of life as a value is itself an “untruth” in the service of life – Nietzsche decisively places himself outside the confines of the metaphysical interpretation. Significantly, Nietzsche draws the full consequences of this decision: “To recognize untruth as a condition of life: that, to be sure, means to resist customary valuesentiments in a dangerous fashion; and a philosophy which ventures to do so

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places itself, by that act alone, beyond good and evil” (BGE 4, KSA 5, 18). Here, Nietzsche makes it known that as soon as one suspends methodologically the metaphysical interpretation, one thereby brackets the metaphysico-philosophical moral imperative to employ truth as a standard by which to measure the value of one’s judgments and, in doing so, one renounces the entire metaphysico-philosophical moral apparatus that demands that one’s values, concepts, and judgments accord with an essential insight into the way things “really” are. In this way, one frees oneself from the metaphysico-philosophical moral prohibition against the false, the untrue, and the uncertain in the fabrication of one’s values, concepts, and judgments about life.

6 Wille zur Macht It is within the context of these methodological constraints that Nietzsche fabricates Wille zur Macht as a post-metaphysical principle for interpreting and evaluating life. On Nietzsche’s account, “[Life] itself is essentially appropriation, injury, overpowering of the strange and weaker, suppression, severity, imposition of one’s own forms, incorporation and, at the least and mildest, exploitation […]. ‘Exploitation’ […] pertains to the essence of the living thing as a fundamental organic function; it is a consequence of the intrinsic will to power which is precisely the will to life” (BGE 259, KSA 5, 207f). Simply put, “A living thing desires above all to vent its strength – life as such is will to power” (BGE 13, KSA 5, 27). Despite the strong language on Nietzsche’s part, he informs us that Wille zur Macht does not stand as a new dogmatic metaphysics: Someone could come along who, with an opposite intention and art of interpretation, knew how to read out of the same nature and with regard to the same phenomena the tyrannically ruthless and inexorable enforcement of power-demands – an interpreter who could bring before your eyes the universality and unconditionality of all ‘will to power’ in such a way that almost any word and even the word ‘tyranny’ would finally seem unsuitable or as a weakening and moderating metaphor – as too human – and who nonetheless ended by asserting of this world the same as you assert of it, namely that it has a ‘necessary’ and ‘calculable’ course, but not because laws prevail in it but because laws are absolutely lacking, and every power draws its ultimate consequences every moment. Granted this too is only interpretation – and you will be eager enough to raise this objection? – well, so much the better. – (BGE 22, KSA 5, 37).

Nietzsche himself precisely reminds us that Wille zur Macht is merely one interpretation of life amongst others and is not to be regarded as a primordial truth concerning the essential nature of reality. As Maudemarie Clark notes on this very point, “Nietzsche’s doctrine of will to power is not a doctrine at all. Although

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Nietzsche says that life is will to power, he also gives us clues that he does not regard this as a truth or a matter of knowledge, but as a construction of the world from the viewpoint of his values” (Clark 1991, 227). Thus, Nietzsche’s characterization of life as Wille zur Macht remains coherently within the methodological constraints he established for himself – the suspension of the metaphysical interpretation gives way to the fabrication of a reflexive, tentative, experimental, and dialogical post-metaphysical principle for interpreting and evaluating life.

7 In Defense of Nietzsche Returning to Habermas’s critique of Nietzsche, there are several points with which to take issue. First, implicit in Habermas’s criticisms appears to be his own commitment to the dialectic of enlightenment – that is, Habermas seems committed in advance to a conception of philosophy that operates along the lines of a mutually exclusive division between legitimacy and illegitimacy, and whose sole aim is to “unmask” illegitimate forms of thought via an appeal to a more legitimate form of thought – namely, one founded in a truth disclosed through reason. Consequently, Habermas reads Nietzsche as similarly engaged in the task of advancing a legitimate form of thought that is supposed to disclose the illegitimacy of other forms of thought via an appeal to a founding origin. And, in this case, Habermas reads Nietzsche as claiming that the Dionysian experience of selfoblivion discloses Wille zur Macht at the very core of reason and thereby as corrupting and rendering illegitimate all forms of rational thought. This is why Habermas says of Nietzsche: On the one hand, Nietzsche sees the possibility of an artistic contemplation of the world carried out with scholarly tools but in an antimetaphysical, antiromantic, pessimistic, and skeptical attitude. Because it serves the philosophy of the will to power, a historical science of this kind is supposed to be able to escape the illusion of belief in truth. Then, of course, the validity of that philosophy would have to be presupposed. That is why Nietzsche must, on the other hand, assert the possibility of a metaphysics that digs up the roots of metaphysical thought without, however, itself giving up philosophy. He proclaims Dionysus a philosopher and himself the last disciple and initiate of this god who does philosophy (Habermas 1993, 96–97).

The very attribution of the term ‘validity’ to what he calls “the philosophy of the will to power” indicates that Habermas situates Nietzsche’s work squarely within the dialectic of enlightenment. For this reason, Habermas overlooks Nietzsche’s methodological decision to suspend the metaphysical interpretation since he would not otherwise attribute to Nietzsche’s work a claim to validity that Nietzsche

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himself explicitly brackets. Thus, in situating Nietzsche’s work within the “unmasking” mechanisms of the dialectic of enlightenment, Habermas disregards the methodological procedure by which Nietzsche takes leave of the dialectic, metaphysics, and dogmatism. Moreover, so long as Habermas reads Nietzsche as engaged in the tasks of “refuting” or “invalidating,” Nietzsche must of necessity remain trapped in the dialectic – worse, Nietzsche’s work must appear contradictory and incoherent. However, as I have argued, attributing the project of an “unmasking” and “vitiating” critique of reason to Nietzsche conflicts with what Nietzsche actually says regarding his “mistrust” of metaphysics and his methodological suspension of the metaphysical interpretation. Secondly, given Nietzsche’s methodological suspension of the metaphysical interpretation, it would be quite out of step with this methodological commitment, as Habermas would have it, for Nietzsche to assert that the Dionysian experience of a de-centered subjectivity reveals “the world […] as a network of distortions and interpretations for which no intention and no text provides a basis” (Habermas 1993, 95) since even a primordial aesthetic experience revealed via a mystical intuition would nonetheless carry with it the weight of a metaphysical interpretation of life. In other words, even an aesthetico-mystical experience of a founding origin – even if it secured the truth of an irrational “other” to reason – would remain mired in the forms of metaphysical dogmatism that Nietzsche himself unambiguously strives to evade. Thus, since Nietzsche is of his own admission not a dogmatist, since he suspends methodologically the metaphysical interpretation, it cannot be the case that he appeals to an aesthetico-mystical experience of a de-centered subjectivity so as to disclose existence as Wille zur Macht – to do so would be to run in direct contrast to very commitments of his post-metaphysical project. Therefore, despite Habermas’s claims to the contrary, Wille zur Macht cannot be considered a mere “metaphysical conception of the Dionysian principle” (Habermas 1993, 95). Rather, as I have demonstrated, Wille zur Macht arises from Nietzsche’s methodological suspension of the metaphysicophilosophical moral imperative to accord with the truth and is thus, as an alternative to dogmatic metaphysics, the fabrication of a “post-metaphysical principle” for interpreting life. Nietzsche is not unaware of the theoretical precariousness of his method. As he says precisely in regard to his own philosophical endeavors, “One seeks a picture of the world in that philosophy in which we feel freest; i.e., in which our most powerful drive feels free to function. This will also be the case with me” (N 1883, 8[24], KSA 10, 342 [WP 418])! In other words, Nietzsche is “honest” with us that the project of advancing life via Wille zur Macht is, in the end, ultimately Nietzsche’s own personal way of overcoming the problem of nihilism and of giving meaning to his life. Wille zur Macht is the post-metaphysical interpretation

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of life that most enhances Nietzsche’s sense of power, and therefore makes him feel freest. Thus, Nietzsche tells us in Thus Spoke Zarathustra: I came to my truth by diverse paths and in diverse ways: it was not upon a single ladder that I climbed to the height where my eyes survey my distances. And I have asked the way only unwittingly – that has always offended my taste! I have rather questioned and attempted the ways themselves. All my progress has been an attempting and a questioning – and truly, one has to learn how to answer such questioning! That however – is to my taste: not good taste, not bad taste, but my taste, which I no longer conceal and of which I am no longer ashamed. ‘This – is now my way: where is yours?’ Thus I answered those who ask me ‘the way’. For the way – does not exist (Z III, ‘Of the Spirit of Gravity’ 2, KSA 4, 245)!

And also in Beyond Good and Evil: Are they friends of ‘truth’, these coming philosophers? In all probability: for all philosophers have hitherto loved their truths. But certainly they will not be dogmatists. It must offend their pride, and also their taste, if their truth is supposed to be a truth for everyman, which has hitherto been the secret desire and hidden sense of all dogmatic endeavors. ‘My judgment is my judgment: another cannot easily acquire a right to it’ – such a philosopher of the future may perhaps say (BGE 43, KSA 5, 60).

Nietzsche is clear that his philosophical deployments of Wille zur Macht are not supposed to stand as dogmatic doctrines. In this way, there is nothing coercive about Nietzsche’s post-metaphysical philosophy of Wille zur Macht. We are under no compulsion to accept it as true since it is fabricated out of a methodological suspension of – and as an alternative to – the metaphysico-philosophical moral imperative to accord with the truth. Thus, Nietzsche himself is clear that we need not read Wille zur Macht or his later genealogies as dogmatic metaphysical descriptions of reality to which we must assent.

8 Conclusion In the end, Habermas’s insistence that Nietzsche’s work is incoherent and selfrefuting, that Nietzsche is engaged in a critique of reason that undermines its own foundations since it undermines the foundations for all critique, is wholly untenable. As I have shown, Nietzsche’s mistrust of metaphysics is meant neither as a refutation of the existence of founding origins nor of the metaphysical systems they presuppose. Likewise, Wille zur Macht is not meant to stand as a new metaphysical principle born from an aesthetico-mystical insight into the ultimate nature of reality nor as a principle by which to “unmask” the tyranny of reason. Instead, Wille zur Macht is a post-metaphysical principle fabricated for the purpo-

Nietzsche and Habermas on Wille zur Macht

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se of interpreting and evaluating life. Thus, Nietzsche’s various interpretations of metaphysics throughout his oeuvre are not meant to be “critiques of reason” in the sense in which Habermas alleges. While for Habermas it is precisely reason that operates as a mechanism by which to unmask false absolutes as illusions, as a founding origin upon which to erect the legitimacy of a position that can identify all illegitimacies, Nietzsche disavows just such origins and just such a project. Consequently, Nietzsche cannot be engaged in a self-refuting “critique of reason” since he is not engaged in the project of constructing an anti-metaphysics. Thus, as I have demonstrated, when we read Nietzsche as a “post-metaphysical philosopher,” we can provide an alternative to Habermas’s account of Nietzsche, one that is both viable and coherent. This is not, however, to repudiate entirely Habermas’s reading of Nietzsche. Habermas is correct that Nietzsche does indeed aim to take leave of the dialectic of enlightenment and that he does indeed aim to jettison the metaphysical standards of truth and falsity. However, unlike on Habermas’s account, it is not the case that Nietzsche does so by appealing to an aesthetico-mystical experience of a founding origin, which would only draw Nietzsche back into metaphysics and thus only perpetuate the dialectic. Rather, Nietzsche draws the full consequences of his departure: he accepts “untruth” and perspective as the basic condition of life and hazards into the unknown, the uncertain, and the experimental. Thus, Nietzsche truly does exit the dialectic and take root in the neo-mythical. Nietzsche’s new myths tell the tale of Wille zur Macht, the eternal return of the same, free spirits, Übermenschen, philosophers of the future, and the genealogy of morals. However, Nietzsche’s myths, precisely because they take leave of the dialectic, neither command nor elicit our allegiance. We are not coerced into accepting the “truth” of Nietzsche’s myths. And, it is here that Habermas misses the very originality of Nietzsche’s project. Habermas is correct, after modernity post-metaphysical philosophy cannot return to myth since pre-modern myth was still metaphysics. Myth can no longer serve us in its old guises. But, as Nietzsche suggests, “perhaps” metaphysical truth too is just one more myth: “It is no more than a moral prejudice that truth is worth more than appearance; it is even the worst-proven assumption that exists” (BGE 34, KSA 5, 53). Thus, what Habermas misses is that as a postmetaphysical philosopher, Nietzsche goes forward – Nietzsche does not search for founding origins, instead he fabricates. And, it is here, resulting from a methodological decision to suspend the metaphysical interpretation of life and thereby the assumed value of primordial truths, that Nietzsche has something to offer those of us who consider ourselves post-metaphysical and post-foundational: the methodological courage to fabricate and experiment with new forms of thought and life.

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George W. Shea IV

Bibliography For Nietzsche’s works I used the following translations: Beyond Good and Evil and Thus Spoke Zarathustra: A Book for Everyone and No One, translated by R. J. Hollingdale. New York: Penguin (2003). Human, All Too Human: A Book for Free Spirits, translated by R. J. Hollingdale. Cambridge: Cambridge University Press (2003). Translations of his late notes are taken from The Will to Power, translated by Walter Kaufmann and R. J. Hollingdale. New York: Random House (1968). Bauer, Karen (2004): “Nietzsche, Enlightenment, and the Incomplete Project of Modernity”. In: Babich, Babette (Ed.): Habermas, Nietzsche, and Critical Theory. New York (Humanity Books), pp. 105–122. Clark, Maudemarie (1991): Nietzsche on Truth and Philosophy. Cambridge (Cambridge University Press). Dallmayr, Fred (2004): “Habermas’s Discourse of Modernity: Nietzsche as Turntable”. In: Babich, Babette (Ed.): Habermas, Nietzsche, and Critical Theory. New York (Humanity Books), pp. 81–104. Gemes, Ken (1992): “Nietzsche’s Critique of Truth”. In: Philosophy and Phenomenological Research Vol. LII, No. 1, pp. 47–65. Habermas, Jürgen (1993): The Philosophical Discourse of Modernity. Translated by Frederick G. Lawrence. Cambridge (MIT Press). Nehamas, Alexander (1987): Nietzsche: Life as Literature. Massachusetts (Harvard University Press).

Jaanus Sooväli

Thinking the Future: Criticism and Transformation in Nietzsche and Derrida Abstract: In my paper, I examine the problem of the relation between criticism and transformation in Nietzsche and Derrida, and offer an interpretation according to which genealogical undermining of the tradition might amount to the most radical transformation (of culture, philosophy etc.) there can be. Since this idea of the ‘radical transformation’ involves a new conceptualization of the future, I concentrate on the question of how Nietzsche and Derrida attempt to think the future anew. More particularly, I analyze Nietzsche’s notion of ‘the greatest event’ and relate it to Derrida’s interpretation of Nietzsche’s extensive use of the word ‘perhaps’ in Beyond Good and Evil. For Derrida, Nietzsche’s ‘perhaps’ can be construed precisely as the “category” by way of which one can approach the future. Future here is not understood as a simple modification of the present, but rather as something which radically breaks with the horizon of the present and is not at all comprehensible in terms of it. As I show in the paper, Nietzsche does indeed thematise “the greatest event” similarly as something that is unintelligible in terms of the present. This “greatest event”, however, seems to be opened up by the genealogical criticism of the tradition.

What does it mean to be a thinker of transformation? Does it mean to just think about and register transformations or does it also mean to transform, to bring forth a transformation itself? More importantly, does transformation involve a radical change in the nature of the phenomenon (say, philosophy, culture etc.) or only very slight, formal modifications of the same-old? Nietzsche indeed seems to have in mind and often speaks of some more radical transformation of culture which might even take the form of a catastrophe and trembling of the earth. Hence, the transformation Nietzsche often reflects on and sometimes seems to aim at is a rather radical and thoroughgoing event. As event, I would translate Nietzsche’s word Ereignis. In general, event (in French événement) became quite an important notion in the French philosophy of the second half of the 20th century, especially in Blanchot’s, Deleuze’s and Derrida’s thinking. But even before that, it played a central role in Heidegger’s philosophy who gave a rather idiosyncratic interpretation of this notion. However, in

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Jaanus Sooväli

this regard, neither of these authors refers to Nietzsche, who also seems to have an interesting notion of (great) event to which I will come back in a moment. Now, how can one bring about such a radical transformation? Nietzsche, similarly to Derrida’s deconstruction, for example, has sometimes been criticized on grounds that he destroys everything, say, the traditional notions of truth, consciousness and the Subjekt, and does not provide anything positive in their place. Their thinking is thus often regarded as a sterile, pointless and irresponsible destruction or laying waste. Whether Nietzsche has some kind of “positive program” is debatable, but the “critical theory” of the Frankfurt School, particularly Adorno, has explicitly pointed out the problems regarding the possibility and usefulness of such programs (cf. Adorno 1966, 203–206). The main problem is that philosophical thinking seems to be determined, at least to some extent, by the very same ideologies and material conditions that it wants to change, transform, and destroy. Hence, all the positive programs would eventually just end up “reproducing” and replicating those ideologies and conditions which one wanted to transform in the first place. Apart from ideologies, though, the main problem with all the positive programs, with all “positivity”, seems to stem from language, the language of philosophy, the conceptual system of Western metaphysics. Philosophers who do not explicitly pose the question of the origin of our philosophical problems tend to think that they have some kind of neutral and untainted language at their disposal with which they can impartially, more or less purely and objectively investigate and describe various phenomena and philosophical issues. But they seem to forget that the concepts they use in their investigations necessarily carry meanings and implications that they can neither control nor avoid. They did not invent the language of philosophy, they simply inherited it, were born into it. Moreover, one could argue that the inherited language of philosophy not only brings with it certain uncontrollable meanings and implications but also, at least to a certain degree, predetermines the problems and questions one is grappling with in the first place. That would explain why philosophy tends to repeat itself constantly. Many of the problems Plato and Aristotle struggled with are still as relevant today as they were more than 2000 years ago. Some of the problems and approaches we thought we had left behind are reborn and resurge again – one could mention, for example, the new interest in metaphysics. Regarding the dependence of the philosophical vocabulary on its history, one can quote Gustav Teichmüller, Nietzsche’s colleague at the University of Basel, who is known for having influenced Nietzsche’s perspectivism, but who also initiated something like a history of concepts, Geschichte der

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Begriffe.1 Teichmüller emphasizes clearly the dependence of philosophies and even sciences on the inherited concepts: Just as everybody acquires by itself the language of the people among whom he lives, and uses it to express his thoughts, just as he unnoticeably accepts the customs of his nation and submits himself to their rule, so too everybody who becomes a member of a field of the scientific knowledge has to make, consciously or unconsciously, use of the expressions, formulas and ideas which have been discovered and formed by the respective science. (Teichmüller 1882, III, my translation)2

Just as the native language and the society in which one grows up have certain forms and rules one unconsciously submits oneself to, the same seems to be the case with philosophical concepts and their internal logic. Since philosophers employ philosophical concepts innocently, that is, having no idea of the history and original meanings of those concepts, they have been merely repeating, in a slightly different way and form, what was already implicitly present in antiquity. For Teichmüller, this ignorance of one’s inheritance is precisely the reason why there has been almost no real development in philosophy. In BGE 20, Nietzsche makes the point that the inherited philosophical concepts steer and determine our thinking even clearer. He claims that the

1 Teichmüller’s thinking as a whole is indeed very different from that of Nietzsche, but in this regard there seem to be some similarities. At least to a certain degree (but only to a certain degree), Teichmüller seemed to possess “the historical sense” the lack of which Nietzsche called the “family failing of philosophers” (HH I 2, KSA 2, 24). 2 In the original language: „Wie Jedermann von selbst die Sprache des Volkes, in dem er lebt, erlernt und zum Ausdruck seiner Gedanken gebraucht, wie er die Sitten seiner Nation unmerklich annimmt und ihren Gesetzen sich fügt, so muss auch Jeder, der in einem Gebiete der wissenschaftlichen Erkenntniss heimisch wird, unbewusst oder bewusst sich der Ausdrücke, Formeln und Vorstellungsweisen bedienen, welche durch die zugehörige Wissenschaft gefunden und ausgeprägt sind.“ – Cf. „Just as they use their mother-tongue without being conscious of the fact that doing so they submit themselves to the forms and rules of the genius of the language, so too they instinctively employ the philosophical concepts that are currently prevailing in every period of history and have become the currency of the scientific field to which they have accesses, and believe to be free and independent from the dependence on philosophy. This feeling of freedom belongs to the ignorance and is, so to speak, a sort of compensation for the darkness in which they live.” (Teichmüller 1882, IV, my translation) [„Wie sie ihre Muttersprache gebrauchen, ohne sich bewusst zu werden, dass sie sich dabei zugleich den Formen und Regeln des Sprachgenius unterwerfen, so verwenden sie auch instinktiv die in jeder Periode der Geschichte grade herrschenden philosophischen Begriffe, soweit diese in dem ihnen zugänglichen Erkenntnisgebiete zur Geltung gelangt sind, und glauben dabei frei und unabhängig zu sein von der Lehnsherrschaft der Philosophie. Dies Gefühl der Freiheit gehört der Unwissenheit und ist gleichsam eine Art von Entschädigung für die Dunkelheit, in der sie leben.“]

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“individual philosophical concepts are not arbitrary and do not grow up on their own, but rather grow in reference and relation to each other”, and this is said to be revealed by the certainty with which “the most diverse philosophers will always fill out a definite basic scheme of p o s s i b l e philosophies” (BGE 20, KSA 5, 34).3 Something inside these philosophies “drives them on, something leads them into a particular order, one after the other, and this something is precisely the innate systematicity and relationship of concepts.” (BGE 20, KSA 5, 34) Philosophy, Nietzsche continues, has most of the time not been a discovery of something new, but more often a sort of recognition and remembrance, „a returning and homecoming into a distant, primordial, total economy of the soul, from which each concept once grew […].” (BGE 20, KSA 5, 34) Derrida, too, emphasizes the fact that the usage of the inherited metaphysical concepts necessarily brings along with it the whole of metaphysics, however much one wants to avoid and do away with it. In his famous and controversial “Structure, Sign and Play in the Discourses of Human Sciences”, he remarks: Nietzsche, Freud, and Heidegger, for example, worked within the inherited concepts of metaphysics. Since these concepts are not elements or atoms, and since they are taken from syntax and a system, every particular borrowing brings along with it the whole of metaphysics. (Derrida 2002, 355–356)

These borrowings, according to Derrida, account for the fact that so many authors who thought they had overcome metaphysics are still often regarded and designated as “metaphysical” thinkers. A little further on, following the same line of thought, Derrida writes about ethnology: Now, ethnology — like any science — comes about within the element of discourse. And it is primarily a European science employing traditional concepts, however much it may struggle against them. Consequently, whether he wants to or not—and this does not depend on a decision on his part—the ethnologist accepts into his discourse the premises of ethnocentrism at the very moment when he denounces them. This necessity is irreducible; it is not a historical contingency. (Derrida 2002, 356)

Thus, according to Derrida, as soon as an ethnologist employs traditional concepts, he “accepts into his discourse the premises of ethnocentrism at the very moment when he denounces them”. And this necessity is said to be “irreducible”. What does this really imply? Does it mean that something radically new is not possible since we are necessarily forced to use the traditional language (of philosophy)? In this sense, the transformation – and the future it involves –

3 All published works of Nietzsche are quoted from the editions of Cambridge University Press.

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would essentially amount to the continuation of the present. There would indeed be some changes and minor developments, perhaps some rearrangement of the elements, but nothing “essentially” new would happen. Similarly for structuralism, for instance, future is understood only as a continuation, in a slightly modified form, of the present, being brought about by the relatively stable laws and structures of the system. Can there also be a different understanding of the future? A future which would not be future present? Supposing that a more radical change and transformation would be possible, what could a thinker do to prepare and pave the way for it? As we saw, all the positive programs and “starting from the scratch” seem to end up reproducing the old problems and answers. In such circumstances, it seems that all a thinker can do is to criticize, undermine and deconstruct the philosophical language, all the positive programs, universal structures and accepted truths, depriving them of their self-evidence. Following this line of thought, transformation would only be possible precisely by way of deconstruction and criticism of the sedimented present which, then, might open up the undetermined space of the future – a future which would no longer be a simple reproduction and continuation of the present. That Nietzsche seems to have indeed something of the sort in mind can be seen from the quotation from Ecce homo where he writes about the eventfulness of the future: The uncovering of Christian morality is an event (Ereigniss) without equal, a real catastrophe. Anyone who knows about this is a force majeure, a destiny, – he splits the history of humanity into two parts. Some live before him, some live after him … (EH, ‘Why I am a Destiny’ 8, KSA 6, 373)

Hence, Nietzsche speaks of an “event without equal” (Ereigniss das nicht seines Gleichen hat) that radically breaks with the present and “splits the history of humanity into two parts”. Such an event does not only take place through “the uncovering of Christian morality”, but, as he claims in the quotation, it is, in a certain sense, already this uncovering itself – and by this uncovering he most likely means the psychological-genealogical criticism of Christian morality, or the “science” that asks after the origin and history of the moral sensations, as he calls it in Human, All Too Human. What can such a psychological and genealogical criticism achieve? What can it do? According to Nietzsche, the older philosophy has always avoided the investigations of the origins, derivations and history of the moral sensations: With what consequences is now very clearly apparent, since it has been demonstrated in many instances how the errors of the greatest philosophers usually have their point of departure in a false explanation of certain human actions and sensations; how on the basis of

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an erroneous analysis, for example that of the so-called unegoistic actions, a false ethics is erected, religion and mythological monsters are then in turn called upon to buttress it, and the shadow of these dismal spirits in the end falls across even physics and the entire perception of the world. If, however, it is certain that superficiality in psychological observation has laid the most dangerous traps for human judgement and reasoning and continues to lay them, so now what is required is that perseverance in labour that does not weary of heaping stone upon stone, brick upon brick, what is required is the abstemious courage not to be ashamed of such modest labour and to defy every attempt to disparage it. (HH I 37, KSA 2, 60)

Investigation into the origin of moral sensations is indeed, as Nietzsche claims, a “modest labour”, but highly necessary since it can provide us with insight into the errors of the greatest philosophers, disclose how some all-encompassing philosophical and scientific theories (and even “the entire perception of the world”) are based on an erroneous analysis and superficial psychological observations and, by means of such dissection, disclosure and enlightenment, work towards the collapse of such theories.4 However, showing that a theory, for instance, is grown out from an error does not yet necessarily imply that this theory is false (or harmful, worthless). Only metaphysicians and those who believe in clear oppositions are not able to think or conceive that a truth, a true insight or a theory, can also grow out from an error (cf. BGE 2). Showing, for example, that the idea of the freedom of the will grew out from such and such (psychological) errors and has such and such origins – and Nietzsche indeed discloses several and very different origins of this idea or theory – does not automatically and by necessity prove that we do not have freedom of the will. Genealogy, as mentioned, is much more “modest” in its approach. It has effect indirectly and surreptitiously, but all the more strongly. By exposing the “low”, human-all-too human, “naturalistic” origins of a lofty and vaunted phenomenon or theory does not, as said, refute that theory, but it makes us clearly and “physiologically” suspicious and cautious of it (cf. Owen 2007, 131). More generally, insofar as genealogy focuses on the multiplicity of origins, accidental genesis, historicity, changes and developments (cf. Foucault 2001), genealogical investigations into origins of various phenomena reveal the contingency of everything we tend to regard as necessary. And it is precisely contingency which opens up the possibility for the creation of something new, for a radical transformation to take place.

4 But such a collapse is not, of course, the aim in itself, cf. „Immoralists. – Because they dissect morality, moralists must now be content to be upbraided as immoralists. But he who wants to dissect has to kill; yet only for the sake of better knowledge, better judgement, better living; not so that all the world shall start dissecting. […] The older moralists dissected too little and preached too much: which is why the moralists of today experience this confusion and its unpleasant consequences.“ (WS 19, KSA 2, 553)

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Consequently, we see that it is indeed criticism and not some kind of positive program that can bring about or work towards a radical transformation and open up the undetermined space of the future – or, in other words, to allow the event to happen. Nietzsche, of course, does not tell us what this event consist in or what the future will be, he obviously cannot know it, he only emphasizes that something radically new is approaching “which splits the human history in two parts”. Similarly, Derrida has pointed out that the future, in French à-venir, literally ‘to come’, cannot be a simple modification of the present. Derrida’s ‘to come’ does not refer to a future in the traditional sense which seems to imply the presence in the future – something, a certain predictable occurrence, will be – someday, tomorrow for example – present, will present itself. “To come” is a completely different relation to what is coming, to the “future”. According to Derrida, perhaps the best way to be able to think the future is precisely in terms of the ‘perhaps’: “And there is no more just category for the future than that of the perhaps.” (Derrida 2005, 29) And it is no surprise that it is exactly Nietzsche whom he recognizes in his Politics of Friendship as the thinker of the ‘perhaps’. For Derrida, the ‘perhaps’ signifies the opening of the absolute uncertainty, incalculability and unpredictability in the face of what is coming, the future. But precisely this incalculability is the only condition of possibility of the future, of something new taking place.5 Derrida claims tirelessly that if the future would just follow in a more or less predictable way from the past occurrences, nothing new would have really happened. He elaborates on it in the following way in his Politics of Friendship: For a possible that would only be possible (non-impossible), a possible surely and certainly possible, accessible in advance, would be a poor possible, a futureless possible, a possible already set aside, so to speak, life-assured. This would be a program or causality, a development, a process without an event. […] What would a future be if the decision were able to be programmed, and if the risk, the uncertainty, the unstable certainty, the inassurance of the ‘perhaps’, were not suspended on it at the opening of what comes, flush with the event, within it and with an open heart? (Derrida 2005, 29)

Derrida also notes that philosophers of the West have always been suspicious of and could not tolerate the perhaps, which (in Hegel, for example, but one could basically name any other classic of philosophy here) has so often been described as a category of relativism and contingency as opposed to necessity and certainty. But for Derrida, as mentioned, it is Nietzsche who has introduced this dangerous

5 At this point, it has to be emphasized that regarding the future or decision, Derrida quite often adds a little condition s’il y en a, if there is such a thing, implying that we can never be fully certain if there is such a thing as the future in this radical sense at all. Perhaps there is.

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modality of the perhaps into philosophy and hence made it possible to think the future as an event, as the ‘to come’. It is indeed conspicuous how many times Nietzsche uses the word ‘perhaps’ (vielleicht) in Beyond Good and Evil, which, by the way, carries the subtitle Prelude to a Philosophy of the Future (Vorspiel einer Philosophie der Zukunft). Let me just quote (as does Derrida) a couple of famous passages from Beyond Good and Evil to exemplify the extensive use of the word ‘perhaps’ in contexts that have to do with the coming of the new philosophers. Already in the beginning of the book, having written about the fundamental belief of every metaphysician in the opposition of values, and having supposed that perhaps the so-called honorable things are essentially the same as their evil opposites, that perhaps there are only differences in degrees and no clear oppositions at all, Nietzsche continues in BGE 2: Perhaps! – But who is willing to take charge of such a dangerous Perhaps! For this we must await the arrival of a new breed of philosophers, ones whose taste and inclination are somehow the reverse of those we have seen so far – philosophers of the dangerous Perhaps in every sense. – And in all seriousness: I see these new philosophers approaching. (BGE 2, KSA 5, 17)

A little later, in BGE 42 (so, already in the second chapter of the book), Nietzsche asserts again: “a new breed of philosophers is approaching”; and in aphorism 44, after he had claimed that he and other free, very free spirits whom he looks for but who might not yet exist, are, if needed, scarecrows and jealous friends of solitude, he poses a question at the very end of the aphorism: „and perhaps you are something of this yourselves, you who are approaching? You new philosophers?“ (BGE 44, KSA 5, 63) According to Derrida, Nietzsche is using here a certain strategy of teleiopoiós. Teleiopoiós is a “concept” that Derrida formed in order to characterize a certain type of sentences by Nietzsche. In Greek, teleiopoiós (télos + poiēsis) can mean that which “renders absolute, perfect, completed […], that which brings to an end” (Derrida 2005, 32); all these meanings are implied by Derrida, but he plays with another meaning of tele which, as a prefix, means ‘far away’ in Greek. Consequently, teleiopoiós concerns the influencing of the far-away through poiesis, thorough creation and transformation. In other words, teleiopoiós is a way of communicating with the future generations, in some sense like a phone call. Teleiopoetic sentences try to influence and anticipate the future in a certain way, they are comprised of both the elements of the performative and as well as of the descriptive. Hence, by simulating and staging the coming of the new philosophers, Nietzsche invites them, he summons them to come in the future and be the friends of solitude.

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What the ‘perhaps’ does in Nietzsche’s sentences according to Derrida is that it seems to undecide the meaning at every decisive moment; it renders absolutely uncertain, for example, the coming of the new philosophers. Those philosophers, whom Nietzsche simulates as coming, might not come at all, or they might come, but be totally different from what Nietzsche would have expected them to be, they might come as enemies, maybe as enemies of the perhaps (as we saw, at the end of BGE 44, for instance, ‘perhaps’ intervenes). But exactly this uncertainty, this unpredictability and unforeseeability is, according to Derrida, the only condition for what is to come, for the future, for a change and event to occur, for something new to take place, for there to be a future at all (and not simply future present), and also for a decision. Nietzsche, of course, does not put it in these terms. However, what he calls the greatest event (das grösste Ereigniss) or the event without equal (Ereigniss das nicht seines Gleichen hat) – notions to which, as mentioned in the beginning, Derrida interestingly does not refer, although they would have suited well with his interpretation of Nietzsche’s ‘perhaps’ and his own understanding of the event – certainly comprises, along with the radical transformation, the aspects of unforeseeability and unpredictability. It is not only the uncovering of Christian morality that Nietzsche calls the event without equal (as was the case in Ecce homo); according to him, “the greatest recent event” is, as one might expect, the death of God, “that the belief in Christian God has become unbelievable” (GS 343, KSA 3, 573). If something is said to be the greatest, it, too, is “without equal”. And these two mightiest events are, of course, clearly and directly related to each other. It is quite remarkable how Nietzsche describes the death of God in the Gay Science. This greatest of events “is already starting to cast its first shadow over Europe”, but for the most of the people “the event is itself far too great, distant, and out of the way even for its tidings to be thought of as having arrived yet”. (GS 343, KSA 3, 573) And, as Nietzsche insists, even less can one know what this event really means. Everything that was built on it must collapse now (our entire European morality, for instance); hence, it will entail demolition and destruction on a large scale. This, however, is basically all that one can really know and say about it: who would guess enough of it today to play the teacher and herald of this monstrous logic of horror, the prophet of deep darkness and an eclipse of the sun the like of which has probably never before existed on the earth? (GS 343, KSA 3, 573)6

6 Cf. GS 125: „’God is dead! God remains dead! And we have killed him! How can we console ourselves, the murderers of all murderers! The holiest and the mightiest thing that the world has ever possessed has bled to death under our knives: who will wipe this blood from us? With what water could we clean ourselves? What festivals of atonement, what holy fame will we have to

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This event is unforeseeable to such an extent that Even we born guessers of riddles who are so to speak on a lookout at the top of the mountain, posted between today and tomorrow and stretched in the contradiction between today and tomorrow, we firstlings and premature births of the next century, to whom the shadows that must soon envelop Europe really should have become apparent by now – why is it that even we look forward to this darkening without any genuine involvement […]? Are we perhaps still not too influenced by the most immediate consequences of this event […] (GS 343, KSA 3, 574).

Thus, for Nietzsche, the event and the future it involves is indeed unpredictable and unforeseeable, it is marked and pierced by the uncertainty of the perhaps. This event entails, on the one hand, a radical transformation, and on the other hand, the absolute uncertainty regarding the precise nature and direction of this transformation. It remains unpredictable because it is not comprehensible in terms of the present; it breaks with the horizon of the present. According to Derrida, as we saw, it is only on the basis of such unpredictability, openness, and perhaps that there can be future at all. This undetermined space, however, as Nietzsche seemed to be saying in Ecce homo, is, at least partially, opened up by the psychological and genealogical criticism of the tradition.7

Bibliography Adorno, Theodor W. (1966): Negative Dialektik. Frankfurt am Main (Suhrkamp). Derrida, Jacques (2005): Politics of Friendship. (trans. by George Collins) London/New York (Verso). Derrida, Jacques (2002): “Structure, Sign and Play in the Discourses of the Human Sciences”. In: Writing and Difference. (trans. by Alan Bass) London/New York (Routledge), S. 351–370. Foucault, Michel (2001): “Nietzsche, Genealogy, History”. In: John Richardson and Brian Leiter (Eds.): Nietzsche. New York (Oxford University Press), S. 341–359. Owen, David (2007): Nietzsche’s Genealogy of Morality. Stocksfield (Acumen). Teichmüller, Gustav (1882): Die wirkliche und die scheinbare Welt. Neue Grundlegung der Metaphysik. Breslau (Verlag von Wilhelm Koebner).

invent for ourselves? Is the magnitude of this deed not too great for us? Do we not ourselves have to become god merely to appear worthy of it? There was never a greater deed – and whoever is born after us will on account of this deed belong to a higher history than all history up to now!’” (KSA 3, 573, 480f.) 7 I would like to thank Marta Faustino for her suggestions and comments on an earlier draft of this paper.

Christoph Türcke

Nietzsches amor fati Eine Subversion Abstract: „Nietzsche’s amor fati. A Subversion“. Amor fati sounds like a formula of utmost surrender. It is however the opposite: It is a desperate attempt to disempower and overcome overpowering conditions through love. Nietzsche’s amor fati shows a startling proximity to Walter Benjamin’s remembrance (Eingedenken).

In der Mitte der 20. Jahrhunderts gab es in Musikerkreisen den hartnäckigen Verdacht: Wer es nötig hat, Schönberg zu spielen, bei dem hat es zu Beethoven und Schubert offenbar nicht gereicht. Einen ähnlichen Verdacht hegte die akademische Philosophie gegenüber der Beschäftigung mit Nietzsche: Wer sich diesem Trümmerhaufen von Aphorismen widmet, worin man zu fast jeder Behauptung auch die Gegenbehauptung finden kann, der ist der gedanklichen Höhe und Stringenz eines Aristoteles, Kant oder Hegel offenbar nicht gewachsen. So wagt heute kaum mehr jemand öffentlich zu sprechen. Nietzsche hat sich akademisch durchgesetzt. Zwar ist es noch nicht so weit, dass Lehrstühle für seinen Zarathustra eingerichtet sind, wie er in seiner bereits vom Größenwahn gezeichneten Schrift Ecce Homo halluzinierte. Aber die Nietzsche-Gesellschaften und der internationale akademische Nietzsche-Diskurs blühen. Das hat freilich seinen Preis. Auch Nietzsche bekommt allmählich, was Max Frisch „die durchschlagende Wirkungslosigkeit eines Klassikers“ genannt hat (Frisch 1967, 73). Was wird im subventionierten Schonraum der Universitäten, Stiftungen, Kulturinstitute nicht alles diskutiert, ohne für den Alltag irgend von Belang zu sein. Warum soll es dem Nietzsche-Diskurs anders ergehen als dem Hegel- oder Kant-Diskurs? Die Systemtheorie beschreibt ja wunderschön, wie das geht. Nietzsche und … (Hier kann man nun nach Belieben einsetzen: Sokrates, Kant, Schopenhauer, Wagner, die Kunst, Europa, das fernöstliche Denken etc. etc.) Um solche Themen bilden sich sogenannte Zitierkartelle, bestehend aus Interpreten, die im Wetteifer um die richtige Textauffassung einander kritisieren oder bestätigen. Kartelle spielen sich ein zu Diskursen. Wo ein Diskurs ist, ist meistens auch ein Verlag, oft auch Geld für Tagungen, Zusammenkünfte, auf denen der Diskurs sich weiter verselbständigt, bis er schließlich derart im eigenen Saft schmort, dass er seine nächsten nichtakademischen Verwandten nicht mehr kennt: Diskurse, die sich spontan um wirkliche Brennpunkte des gegenwärtigen

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sozialen Lebens bilden, Diskurse, in denen verhandelt wird, was eigentlich seine Sache wäre. Vor 15 Jahren gab es eine heftige Debatte über einen Film, der die bewährten politisch-moralischen Muster der Vergangenheitsbewältigung zum Tanzen brachte. Diese Debatte war ein Nietzsche-Diskurs – viel aktueller als der akademische. Nur wussten diejenigen, die da mitredeten, wenig von Nietzsche. Und NietzscheKenner redeten nicht mit. Der Name Nietzsche kommt nämlich im ganzen Film nicht vor. Sein Referenzphilosoph ist ein anderer. Dessen Name fällt, als der Hauptdarsteller und sein Freund in eine Situation geraten sind, wo sie sich ein Bett teilen müssen. Sie legen sich zur Nachtruhe. Eben hat der Freund noch eine Frage gestellt. Sekunden später schläft er tief, ohne die Antwort abzuwarten. Später behauptet er, Schopenhauer habe ihn dazu befähigt. „Er sagt, mit dem Willen kannst du alles schaffen: ‚Ich bin, was ich sein will…‘, und jetzt will ich einer sein, der schläft. Innerlich habe ich mir gesagt: ‚Ich schlafe, ich schlafe, ich schlafe!‘ Und schon war ich eingeschlafen!“ (Benigni/Cerami 1998, 35) Das ist selbstverständlich ein karikierter Schopenhauer. Der echte hätte sich verbeten, dass man den Willen, wie er ihn verstand, nämlich als Motor des ganzen Weltprozesses, derart auf ein Medium der Selbsthypnose verkürzt. Aber es gab einen Schopenhauerianer, dem diese Verkürzung als gelungene Zuspitzung erschienen wäre: Nietzsche. Selbsthypnose? Ja, das ist gerade der Witz am Willen. Man kann das Verhältnis von Schopenhauer und Nietzsche durchaus auf diesen Punkt bringen: die Umwertung des Willens. Was der eine als Karikatur erachtet hätte, ist für den andern die höhere Pointe. Als junger Mann stand Nietzsche ja ganz im Bann von Schopenhauers Willenskonzeption. Aber je erfahrener er wurde, desto hohler erschien sie ihm. Ein Weltwille, der in allem strebt und webt, was sich bewegt: ist der nicht ein leeres, abstraktes metaphysisches Prinzip? Ein Absehen davon, dass „etwas wollen“ stets so viel heißt wie „etwas durchsetzen wollen“ und damit: „sich durchsetzen wollen“: über Widerstände Herr werden wollen, und seien sie noch so klein und banal wie morgens die Müdigkeit, wenn der Wecker klingelt. Wille zur Macht: der treibt nicht erst sogenannte Machtmenschen wie Cäsar und Napoleon; er regt sich in jedem Arbeitnehmer, der morgens aufsteht, in jedem Kaffeetrinker, der die Tasse zum Munde führt, nur auf so banale Weise, dass er es selbst nicht merkt und es der Rede ja auch nicht wert ist. Aber gerade am Kleinsten, am Unscheinbarsten, am Zartesten muss man studieren, was Wille zur Macht ist, wenn man seine groben welthistorischen Fälle begreifen will. Und dann stellt sich heraus: Wille ist nie etwas anderes als Wille zur Macht: der Versuch, etwas durchzusetzen – sich durchzusetzen. Ganz falsch, ihn sich als ein bewegendes Prinzip vorzustellen, das hinter der Erscheinungswelt steht wie ein Motor hinter der Bühnenkulisse, oder als eine Art seelisches Organ, das zum

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Wollen befähigt wie das Auge zum Sehen. Der Wille ist keine Instanz, die etwas tut, sondern ein Tun, das sich selbst komponiert, ohne zu wissen, woraus; das sich selbst eine Richtung und einen Zusammenhalt gibt, ohne zu wissen, wie. Sein Drängen ist „eine tausendfache Complexität“, die wir „als Einheit empfinden“, weil uns für sie „alle feineren Organe abgehen“ (NL 1888, KSA 13, 329). Aber diese Einheit ist eine Selbsttäuschung; wir suggerieren sie uns. Was Menschen ihr Selbst nennen, ist bloß ein Kräfteparallelogramm diffuser und divergierender Trieb- und Affektregungen, das ihnen nachträglich erscheint, als wäre es ein eigenes Seelenvermögen: ihr Wille. Den setzen sie dann als eine dritte Seelenkraft neben die Triebe und den Intellekt und reden sich ein, wenn Wille und Intellekt gemeinsam auf dem Kutschbock der Seele säßen und die Triebe am Zügel führten, dann würde das Denken vernünftig und das Handeln moralisch. Alles Fiktion, sagt Nietzsche. Es gibt diesen Kutschbock gar nicht. Von drei Grundkräften der Seele kann keine Rede sein. Was wir „Wollen“ und „Erkennen“ nennen, ist „nur ein g e w i s s e s V e r h a l t e n d e r T r i e b e z u e i n a n d e r “ (FW 333, KSA 3, 559), die sogenannte Seele lediglich ein Kampfplatz von Triebregungen, was in der Philosophie „Selbstbestimmung“ heißt, nur ein Idealfall von Selbsthypnose. Anders gesagt: Unser sogenannter Wille ist nur das konstanteste Produkt unserer Autosuggestion. Unsere alltäglichen Willensakte wären also Suggestivakte, unser Weltverhältnis ein hypnotisches Verhältnis? Allerdings, sagt Nietzsche. Ohne einen Schuss Hypnose können wir nichts erfassen, nichts verdauen, nichts verändern. Und wie sollten wir uns eine Vorstellung, einen Begriff von lebendigen Dingen machen, ohne sie zu fixieren und in jenen gespenstischen Zustand zu versetzen, den wir dann Abstraktion nennen? Nur merken wir im Alltag gewöhnlich nicht, dass wir das tun. Erst am Extremfall stößt es uns auf. Und der Film, um den es hier gehen soll, tut nichts als einen hypnotischen Extremfall durchzuspielen. Ich weiß nicht, warum er Schopenhauer als Referenzphilosophen nennt. Denn schon der Titel ist in genauem Nietzsche’schen Sinn suggestiv-hypnotisch: Das Leben ist schön. Das als Überschrift für die Geschichte einer jüdischen Kleinfamilie, die aus Italien in ein deutsches KZ verschleppt wird: könnte die Provokation größer sein? Und doch macht er nur ernst mit dem, was Nietzsche unter amor fati versteht: „dass man Nichts anders haben will, vorwärts nicht, rückwärts nicht, in alle Ewigkeit nicht. Das Nothwendige nicht bloss ertragen, noch weniger verhehlen […], sondern es lieben….“ (EH klug 10, KSA 6, 297). Das drehte schon vor einem Jahrhundert einigen den Magen um. Bloß das nicht, hielt etwa die sozialistische Kritik Nietzsche entgegen. Schlimm genug, wenn wir gegen die Verhältnisse, so wie sie nun einmal sind, so wenig unternehmen können, dass sie uns als Schicksal drücken. Aber dies Schicksal auch noch lieben? Das ist pervers.

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Krasser kann man kaum missverstehen, was mit amor fati gemeint ist: gerade nicht braves Hinnehmen von allem, was geschieht, sondern die Verwandlung der Hinnahme in eine eigene Veranstaltung. Der Kunstgriff des amor fati ist ein emotional-mentaler Judogriff, der die Kraft des Gegners aufnimmt, ihren Schwung verstärkt und sie dabei umwendet zu einer Kraft über den Gegner. Wo amor fati ist, da ist Umwendungskunst. Sie ist für Nietzsche identisch mit Kunst überhaupt, denn Kunst ist, so sagt er, „die Realität n o c h e i n m a l , nur in einer Auswahl, Verstärkung, Correctur… Der tragische Künstler ist kein Pessimist – er sagt gerade Ja zu allem Fragwürdigen und Furchtbaren selbst“ (GD Vernunft 6, KSA 6, 79). Der wahre Künstler ist Lebenskünstler – gerade durch sein entwaffnendes JaSagen und Ja-Tun. Im Film Das Leben ist schön entdecken Buchhändler Guido und sein Sohn Giosuè, kurz vor ihrer Verschleppung ins KZ, beim Gang durch die Stadt in einem Konditoreifenster das Schild „Für Juden und Hunde Eintritt verboten.“ Daraufhin entspinnt sich folgendes Gespräch. „Warum dürfen Juden und Hunde da nicht rein, Papa? – Na, sie wollen eben keine Juden und Hunde. Jeder wie er mag. Dahinten gibt es ein Geschäft, einen Eisenwarenladen… Da lassen sie keine Spanier und keine Pferde rein. Und Dingsbums … der Apotheker, gestern war ich mit einem Freund bei ihm … mit einem Chinesen, der hat ein Känguruh: ‚Nein, Chinesen und Känguruhs dürfen hier nicht rein!‘ Er mag sie nicht. – Aber wir lassen alle rein! – Nein, ab morgen schreiben wir es auch dran. Wen magst du nicht? – Spinnen! Und du? – Ich? Die Westgoten! Und morgen schreiben wir: Für Spinnen und Westgoten Eintritt verboten. … Mir reicht’s jetzt! Ich hab die Nase voll von diesen Westgoten!“ (Benigni/Cerami 1995, 107f.) Ja sagen zu einem menschunwürdigen Verbot, es durch eine „Auswahl, Verstärkung, Correctur“ so übersteigern, dass es schließlich als ein begossener Pudel dasteht: das ist vernichtender als jeder Empörungsausbruch. Und wie hier im Detail, so verfährt der Film insgesamt. Das Vernichtungslager wird durch JaSagen ad absurdum geführt. Am Geburtstag des kleinen Giosuè werden sie verschleppt, und der Vater Guido suggeriert dem Geburtstagskind, er habe extra einen Geländeausflug mit einem großen Spiel organisiert, bei dem es darauf ankomme, 1000 Punkte zu erreichen. Die ganze Zeit im Lager hält er seinen Sohn in dem Glauben, hier werde nur das ominöse Spiel fortgesetzt und sie seien kurz vor dem Hauptgewinn – einem Panzer. Nur dank dieser Suggestion, für die sich der Vater schließlich aufopfert, überlebt der Sohn. Kaum dass er in dem von den Nazis geräumten Lager aus seinem Versteck hervorgekrochen ist, biegt der erste Panzer der Alliierten ein. Der Hauptgewinn kommt wirklich auf ihn zugefahren, und der Panzerführer hebt das beglückte Kind zu sich herauf. Freilich, einen solchen Schluss gibt es nur im Film. Im wirklichen KZ hätte die Suggestion keinen halben Tag gehalten. Aber das unterstellt der Film auch nicht.

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Er beansprucht keine realistische Darstellung eines Vernichtungslagers. Er nimmt das KZ vielmehr als das, was es im öffentlichen Bewusstsein und Diskurs geworden ist: als einen zum Kürzel geronnenen, festen, jederzeit abrufbaren Inbegriff modernen Grauens. Diesen Inbegriff macht er zur Bewährungsprobe des amor fati. Den KZ-Alltag als aufregendes 1000-Punkte-Spiel ansehen heißt ihn mit Liebesaugen ansehen, heißt ihn in bestimmter Hinsicht durchdringender ansehen als jeder analytische Blick für die Fakten – ganz im Sinne von Paul Klees Ausspruch: „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.“ (Klee 1987, 60) Der Liebesblick auf den KZ-Alltag ist ein Kunstblick und insofern unwirklich. Wer Insasse war, kann so artistisch, so artifiziell nicht blicken. Und es gab ehemalige KZ-Häftlinge, die sich durch diesen Blick, diesen Film verletzt fühlten. Sie hielten ihn für leichtfertig. Aber sie bedachten nicht, dass historische Ereignisse, so tief und traumatisch sie sich den von ihnen unmittelbar Betroffenen auch eingegraben haben, damit dennoch nicht ein für allemal feststehen. Sie entwickeln ihre eigene Geschichte. Für die folgende Generation sind sie nicht mehr genau dasselbe wie für die Betroffenen selbst, nicht zu reden von der Enkelund Urenkelgeneration. Das Geschehene droht nicht nur zu verblassen. Es droht auch zu versteinern. Und diejenigen, die das Privileg der Distanz zu den ungeheuerlichen Ereignissen haben, die die Gnade der späten Geburt genießen, haben auch eine besondere Verantwortung dafür, dass der Inbegriff modernen Grauens nicht zum Monument, zum Klischee, zur Moralkeule oder zur Floskel erstarrt. Der Film Das Leben ist schön hat etwas gewagt, wozu es nicht nur Mut braucht, sondern Übermut; er hat versucht, dem KZ-Klischee durch seinen Liebesblick neues Leben mitzuteilen. „Kein Ding geräth, an dem nicht der Übermuth seinen Theil hat“, heißt es bei Nietzsche (GD Vorwort, KSA 6, 57). Das gilt auch für jede Vergangenheitsbewältigung. Sie braucht ebenso Historiker wie Künstler, ebenso rückhaltlose Dokumentation dessen, was war, wie ungegängelte Phantasie für den weiteren Umgang mit dem Gewesenen. In Das Leben ist schön wird der Übermut zum Anwalt all der humanen Regungen, die das KZ auch noch über seine Dauer hinaus abzutöten droht. Woran sollen sich die noch freuen, die überlebt haben? Nicht wenige hielten das Leben danach nicht mehr aus und legten Hand an sich. Primo Levi und Jean Amery sind nur die bekanntesten. Und selbst die nachfolgenden Generationen: Wenn sie vom dem Gedenken an das, was ihren Vorfahren widerfuhr, völlig absorbiert bleiben – was bleibt ihnen noch an Freude? Brecht hatte ja mit seinem Gedicht An die Nachgeborenen nicht ganz unrecht: „Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist, weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!“ Im Licht des KZ, wo das arglose Gespräch über Bäume, die Freude über erste Krokusse oder letzte Sonnenstrahlen, das Schwelgen in Musik oder ein ausgelas-

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sener Tanz allesamt fast wie Verbrechen anmuten – gerade da tritt die ungeheure Umwertungsaufgabe des amor fati voll hervor. Es geht um nichts Geringeres als diese Quasi-Verbrechen umzuwenden in Impulse der Verbrechensbekämpfung, damit die Untaten nicht auch noch postum siegen und für immer alle Lebensfreude ausradieren. Die Untaten wenigstens nachträglich überwältigen, wenn es schon an Ort und Stelle unmöglich war; ihnen wenigstens das Nachleben streitig machen: das ist das Programm des amor fati. Läuft das nicht aber auf hemmungslosen Geschichtsrevisionismus hinaus? Was geschehen ist, ist geschehen. Es lässt sich nicht rückgängig machen. Nicht einmal Gott kann das, sagten die mittelalterlichen Theologen. Hier hat auch seine Macht eine Grenze. Ganz in diesem Sinne hat Max Horkheimer am 16. Juni 1937 einen Brief an Walter Benjamin zur Frage der Unabgeschlossenheit der Geschichte geschrieben. Die Feststellung der Unabgeschlossenheit ist idealistisch, wenn die Abgeschlossenheit nicht in ihr aufgenommen ist. Das vergangene Unrecht ist geschehen und abgeschlossen. Die Erschlagenen sind wirklich erschlagen […] Nimmt man die Unabgeschlossenheit ganz ernst, so muß man an das jüngste Gericht glauben […] Vielleicht besteht in Beziehung auf die Unabgeschlossenheit ein Unterschied zwischen dem Positiven und Negativen, so daß nur das Unrecht, der Schrecken, die Schmerzen der Vergangenheit irreparabel sind. Die geübte Gerechtigkeit, die Freuden, die Werke verhalten sich anders zur Zeit, denn ihr positiver Charakter wird durch die Vergänglichkeit weitgehend negiert. Dies gilt zunächst im individuellen Dasein, in welchem nicht das Glück, sondern das Unglück durch den Tod besiegelt wird. (Horkheimer 1937, 588f.)

Das ist eine der härtesten Stellen bei Horkheimer. Dennoch streitet er die Unabgeschlossenheit der Geschichte nicht pauschal ab, wie er übrigens auch den Gedanken des jüngsten Gerichts nie ganz fallen gelassen hat. Die Zukunft ist auch für ihn offen. Nur das Geschehene erklärt er für nicht mehr revidierbar. Gerade damit aber wollte sich Benjamin nicht abfinden. Er hält Horkheimer entgegen, „daß die Geschichte nicht allein eine Wissenschaft sondern nicht minder eine Form des Eingedenkens ist. Was die Wissenschaft ‚festgestellt‘ hat, kann das Eingedenken modifizieren. Das Eingedenken kann das Unabgeschlossene (das Glück) zu einem Abgeschlossenen und das Abgeschlossene (das Leid) zu einem Unabgeschlossenen machen. Das ist Theologie; aber im Eingedenken machen wir eine Erfahrung, die uns verbietet, die Geschichte grundsätzlich atheologisch zu begreifen, so wenig wir sie in unmittelbar theologischen Begriffen zu schreiben versuchen dürfen“ (Benjamin 1937, 589). Im Passagen-Werk ist das bloß eine behauptende Notiz, die wenig erklärt. Ihre Ausarbeitung findet sich in Benjamins Geschichtsphilosophischen Thesen. Ihre Zentralfrage lautet: Wie kann aus der Geschichte etwas anderes werden als

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sie war? Antwort: durch Eingedenken. Das ist ein Benjamin’sches Kunstwort, in dem Eingreifen, Innehalten und Gedenken semantisch ineinanderfließen. Sein Ort ist die historische Zäsur. Wo immer verheißungsvoll etwas Neues ins Leben eintritt, wird erst durch Eingedenken seine ganze Tragweite offenbar. So werden Neugeborene nicht nur von ihren nächsten Angehörigen erwartet, sondern von allen vorangegangenen Generationen. All das Beglückende und Gute, das den Verstorbenen verwehrt blieb, richtet sich als Erwartung an die, die jetzt zur Welt kommen. Wenn die Neuen, die Lebenden sich dieser Erwartung öffnen, werden sie von ihr beflügelt. Es wird ihnen „eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welche die Vergangenheit Anspruch hat“ (Benjamin 1974, 694). Die Toten werden durch Eingedenken noch einmal lebendig. Ihre unerfüllten Erwartungen werden den Lebenden zum Rückenwind der Geschichte. Nur Menschen, die durch Eingedenken aus der Geschichte eine wendende Kraft ziehen, sind nach Benjamin stark genug, das Grauen der Gegenwart zu wenden. Den Toten nachträglich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ist nicht ein Akt bürgerlicher Pietät, sondern ein unentbehrliches Stärkungsmittel für den gegenwärtigen Kampf. Wie Nietzsches amor fati wirft auch Benjamins Eingedenken einen Liebesblick auf vergangenes Grauen und will ihm das letzte Wort nicht lassen. „Das ist Theologie“, gesteht Benjamin, und man darf hinzufügen: eine sehr häretische Theologie. Sie mutet Menschen zu, was Gott zugedacht war. Wenn er die Vergangenheit nicht wendet, ja wenn es womöglich gar kein jüngstes Gericht gibt, dann müssen eben Menschen an seiner Stelle tätig werden. Einzelne sind dazu zu schwach. Nur gemeinsam sind sie stark, und das heißt für Benjamin: im Klassenkampf. Der freilich blieb Nietzsche zutiefst fremd. Als geschworener Individualist erwartete er von Klassen, Schichten, Gruppen immer nur die Schwächung, nie die Stärkung der das Fatum wendenden Kräfte. Und Benjamin? Der schwor zwar dem bürgerlichen Individualismus ab, aber er war unfähig, ihn loszuwerden. Beim Klassenkampf war er nie mehr als ein Zaungast – und für dessen praktische Erfordernisse ganz untauglich; ein versprengtes gelehrtes Individuum wie Nietzsche und kaum weniger einsam als dieser. Zweifellos ist amor fati ebenso eine theologische Kategorie wie das Eingedenken. Das Fatum, das Verhängnis derart lieben, dass das liebende Ja zu ihm zur Errettung von ihm wird: wie sollen Menschen dazu imstande sein – egal ob als Individuen oder als Gruppe? Das verrät auch Nietzsche nicht. Er lässt seinen Zarathustra lediglich raunen: „Die Vergangnen zu erlösen und alles ‚Es war‘ umzuschaffen in ein ‚So wollte ich es!‘ – das hiesse mir erst Erlösung!“ (Z II Erlösung, KSA 4, 179). Aber er gibt zu verstehen, dass er die vorfindliche Menschheit zu einer solchen Erlösung für unfähig hält. Es fehlt ihr die höhere Willenskraft, die Kraft zum liebenden „So wollte ich es“. Wo aber soll die herkommen, wenn kein Gott sie verleiht? Die Idee einer solchen Liebesmacht verlangt mehr als

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nur einen Übermenschen. Sie verlangt einen Allmächtigen, einen Gott, wie ihn das Johannesevangelium vorstellt. „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben“ (Joh. 3, 16). Eine solche Liebe Gottes zur Welt, die das Sündenverhängnis, in das sie sich selbst verstrickt hat, durch seinen Sohn rettend auflöst – sie erst wäre das Erfolgsmodell des amor fati. Doch wie sagt Nietzsche: „Der E r f o l g war immer der größte Lügner“ (NW Psycholog 1, KSA 6, 434). Der wirkliche amor fati wohnt bei den Erfolglosen, den Unterdrückten, Leidenden, Gottverlassenen – bei denen, die ihn am nötigsten haben. Und Nietzsche hatte ihn sehr nötig. Bei ihm schwebt amor fati nicht in excelsis, in höheren Höhen. Er kommt de profundis: aus tiefer Not. Er bewegt sich – wie das Eingedenken – immer auf dem schmalen Grat zwischen Größenwahn und platter Identifikation mit dem Angreifer. Nur in besonderen Momenten – an historischen Zäsuren oder Wendepunkten – ist amor fati weder das eine noch das andere: immer dann, wenn die Not am größten ist oder, in einer andern Terminologie gesagt, wenn eine revolutionäre Situation herrscht. Zum Besseren führen Revolutionen nur, wo sie wirklich aus Notwehr hervorgehen. Notwehr ist übrigens auch die Situation, aus der die Judogriffe hervorgegangen sind. Wer in Notwehr über sich hinauswächst, lebt tatsächlich über seine Verhältnisse. Aber ob Größenwahn in seinem Tun steckt, und wenn ja, wie viel, ist ihm egal. Es geht ihm lediglich darum, das Notwendige zu tun, die Not zu wenden. Er schielt dabei nicht nach Höherem: weder nach einem höheren Status noch nach Idealen, die sein Tun überwölben. Er tut einfach nur, was er nicht lassen kann. Wie Benjamin trotz seiner Option für den proletarischen Klassenkampf vom bürgerlichen Individualismus nicht loskam, so blieb Nietzsche trotz vehementer Ablehnung sozialer Revolutionen ein Seismograph dafür, was eine revolutionäre Situation ausmacht. Benjamin und Nietzsche stehen als empirische Personen ganz ähnlich zueinander wie ihre Begriffe Eingedenken und amor fati. Man ist versucht, von coincidentia oppositorum (Ineinanderfall der Gegensätze) zu sprechen. Vor einigen Monaten haben Kämpfer der islamistischen Isis einige ihrer christlichen Gefangenen vor laufender Kamera gekreuzigt und Bilder davon um die Welt gehen lassen. Die Ungeheuerlichkeit dieser Handlung bestand nicht nur in ihrer demonstrativen Grausamkeit, sondern auch in ihrem symbolischen Gehalt. Sie verband nicht nur die Ermordung von vermeintlichen oder wirklichen Gegnern mit deren globalisierter Verhöhnung. Sie hatte auch eine historische Dimension. In seinen Gläubigen sollte Jesus von Nazareth selbst noch einmal gekreuzigt werden. Alle Welt sollte wissen: Es geschah ihm recht, als er gekreuzigt wurde. Das Christentum soll als Wahrzeichen der korrupten westlichen Weltmacht mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden. Dazu aber gehört auch das

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Ausreißen seiner historischen Wurzel. Was den Römern bei der Kreuzigung Jesu misslang, will die Isis zwei Jahrtausende später nachholen. Das ist ein Versuch nachträglicher Umwendung der Geschichte, durchaus Eingedenken, allerdings in äußerster Perversion – übrigens mit instinktsicherem Griff nach der Wurzel des Christentums. Denn es stimmt ja: Das Christentum ist seinerseits aus einer epochalen Umwendung hervorgegangen. Jesus war von all seinen Jüngern verlassen worden. Aber nach einer gewissen Inkubationszeit erschien ihnen der Gekreuzigte als Retter. Sie begannen ihn nachträglich mit göttlichen Hoheitsprädikaten zu überschütten. Dennoch entsprang diese Überhöhung einem humanen Anfangsimpuls: der furchtbaren Kreuzigung nicht das letzte Wort zu lassen. Das war Eingedenken, amor fati – durchaus mit der Neigung zum Größenwahn, die im amor fati nun einmal steckt. Die jüngste Christenkreuzigung hingegen ist diabolische Umwendung der Umwendung. Sie versucht eines der wenigen zarten Pflänzchen des Eingedenkens, die in der Geschichte immerhin Wurzeln geschlagen haben, wenn auch von viel Unkraut überwuchert, nachträglich zu ersticken. Die Christenkreuzigung ist gerade mit der Macht im Bunde, die sie zu bekämpfen glaubt. Sie praktiziert mit voller Konsequenz, was Dostojewskis Großinquisitor vorgedacht hat, als er den nach Spanien zurückgekehrten Jesus wissen ließ: Dir ist recht geschehen, als du gekreuzigt wurdest. Die Isis-Kämpfer sind postume Schergen des Großinquisitors. Sie setzen auf antichristliche Weise das Werk der triumphierenden Kirche an dem Punkt fort, wo sie begann, Scheiterhaufen für Ketzer zu entzünden. Diabolisch wird amor fati dort, wo er sich mit Triumph verbindet, wo amor in siegesversessene fanatische Selbstliebe umschlägt, die alles, was ihrem Siegeszug den Weg verhängt, für das Verhängnis hält, das sie wenden muss. Doch solch diabolischer amor fati ist die äußerste Perversion dessen, was Nietzsche vorschwebte. Sein amor fati wohnt bei den Gottverlassenen, Ohnmächtigen, Leidenden. Er ist ihre ultima ratio – das Letzte, was ihnen noch übrig bleibt, um einer gemeinen Übermacht weder zu erliegen noch so gemein zu werden wie sie. Freilich, Untaten wie die Christenkreuzigung machen erst einmal fassungs- und sprachlos. Aber sie verlangen auch, dass man sich ihnen stellt: ihnen nicht nur mit Taten entgegentritt, sondern auch mit Worten, die wie tiefe Nadelstiche treffen. Solche Worte liegen nicht sogleich bereit. Auch hier bedarf es einer Inkubationszeit – und mehr als nur Mut. Selbst hier gilt: „Kein Ding geräth, an dem nicht der Übermuth seinen Theil hat“ (GD Vorwort, KSA 6, 57). Zu diesem Übermut freilich, der das gerade Gegenteil von Leichtfertigkeit ist, der vielmehr aus Trauer und Fassungslosigkeit entspringt, müssen wir erst noch reif werden.

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Literaturverzeichnis Benigni Roberto und Vincenzo Cerami (1998): Das Leben ist schön, Frankfurt am Main (Suhrkamp). Benjamin, Walter (1937): „Brief an Max Horkheimer“. In: Walter Benjamin Gesammelte Schriften. Band V.1, Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser (Hg.), Frankfurt am Main (Suhrkamp), 1982, S. 589. Benjamin, Walter (1974): „Über den Begriff der Geschichte“. In: Walter Benjamin Gesammelte Schriften. Band I.2, Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser (Hg.), Frankfurt am Main (Suhrkamp), S. 691–704. Frisch, Max (1967): „Der Autor und das Theater“. In: Max Frisch: Öffentlichkeit als Partner, Frankfurt am Main (Suhrkamp), S. 68–89. Horkheimer, Max (1937): „Brief an Walter Benjamin“. In: Walter Benjamin Gesammelte Schriften. Band V.1, Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser (Hg.), Frankfurt am Main (Suhrkamp), 1982, S. 588–89. Klee, Paul (1987): Kunst-Lehre, Leipzig (Reclam).

Aufhebungen – Kritische Transformationen mit Nietzsche

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Nietzsches Sozio-Physiologie des Selbst und das Problem der Souveränität Abstract: Nietzsche’s Socio-Physiology of the Self and the Problem of Sovereignty. This paper addresses the critical and transformative power of Nietzsche’s socio-physiology of the self. In the Nachlass of 1880–1882 Nietzsche develops a socio-physiological (pre-)history of the individual, which is reconstructed in this paper as a counter-argument to the modern conception of autonomy as the freedom to choose one’s concept of the good on the part of an asocial, substantial Subjekt. On the one hand, Nietzsche’s physiological reflections on the (pre-) historical and social sources of the self imply a devastating critique of the asocial, antecedently individuated person; on the other hand, they point towards an alternative concept of the sovereign person, one whose capacities for autonomous thought and agency depend on specific relations of measured antagonism both between and within us as “dividua”. These arguments are developed along three main lines of thought: I. On the (pre-)history and social constitution of our capacities as sovereign individuals; II. On the social sources of moral phenomena (as internalisations of social norms); and III. The physiological destruction of the substantial moral Subjekt and the physiological reconstruction of the Subjekt as dividuum.

Das Thema dieses Aufsatzes ist die kritische und transformative Kraft von Nietzsches Sozio-physiologie des Selbst.1 Im Nachlass von 1880–1882 läutet Nietzsche seine Wende zur Physiologie ein und entwickelt eine sozio-physiologische Vorgeschichte des Individuums, welches zunächst als Organ des sozialen Organismus in Erscheinung tritt und sodann einen schwierigen und schmerzvollen Übergang hin zu dem unabhängigen und sich selbst regulierenden Organismus vollzieht (11[182], KSA 9), den wir als Individuum kennen. Nietzsches physiologische Reflektionen zu den historischen und sozialen Quellen des Selbst lassen sich rekonstruieren als ein Gegenargument zur modernen Konzeption der Autonomie als der Wahlfreiheit eines asozialen, substanziellen Subjekts. Die heute einflussreichste Formulierung dieser Konzeption wurde von John Rawls in seiner Theory of Justice vorgelegt, die ich hier der Einfachheit halber als Bezugspunkt meiner

1 Dieser Aufsatz basiert auf Siemens 2015. Übersetzung von Jean Moritz Mueller.

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Überlegungen wähle. In der sogenannten „Ausgangslage“ (original position)2 wird Freiheit dem Individuum zugeschrieben, welches hier verstanden wird als (a) vorgängig individuierte Person: eine Person ist die Person, die sie ist, unabhängig von den Zwecken und Werten, die sie frei wählt; die Zwecke, die ich wähle, sind für meine Identität oder dafür, wer ich bin, nicht konstitutiv. (b) asoziale Person: die Zwecke einer Person werden vor oder unabhängig von der Gesellschaft geformt. Die Gesellschaft prägt nicht die Identität, Werte oder Zwecke einer Person; sie ist vielmehr das Ergebnis eines Vertrages zwischen Individuen, deren Zwecke im Voraus feststehen. Ob diese Konzeption des Individuums Rawls Position adäquat reflektiert, soll mich hier nicht beschäftigen. Mir geht es eher darum, dass sie eine Geschichte im modernen moralischen und politischen Denken hat, insbesondere in den Arten von demokratischem Liberalismus, Vertragstheorie und Moralität, mit denen Nietzsche vertraut war, wie wir unten sehen werden. Darüber hinaus bestimmt sie auch weiterhin unser alltägliches, vorphilosophisches Selbstverständnis als moralische und politische Akteure. Und – was am wichtigsten ist, – sie wird Nietzsche häufig selbst zugeschrieben von Autoren, die in ihm den Verfechter des autarken oder aristokratischen Individualismus sehen. Dies sind die Hauptziele der Argumentation Nietzsches gegen die liberale Konzeption des Individuums, welche ich hier präsentieren möchte. Nietzsches Gegenargument ist sowohl kritischer als auch konstruktiver Natur. Nietzsche legt sowohl eine verheerende Kritik der asozialen, vorgängig individuierten Person als auch eine alternative positive Konzeption der souveränen Person vor. Auf der einen Seite stehen Argumente, die zeigen, dass das Individuum oder die Person von ihren Zwecken oder Werten untrennbar ist, welche selbst sozial konstituiert sind, und dass unsere Fähigkeiten als Individuen das Ergebnis einer langen Sozialgeschichte sowie -vorgeschichte sind. Auf der anderen Seite steht die konstruktive Gegenbehauptung, dass unsere Fähigkeiten zu autonomem Denken und Handeln von der Pflege und Kultivierung von bestimmten Beziehungen eines gemäßigten Antagonismus abhängen, die sowohl zwischen uns als auch innerhalb von uns als Individuen oder besser, als „Dividuen” bestehen sollten. Im Folgenden werden diese Argumente anhand dreier zentraler Gedankengänge Nietzsches entwickelt. Diese betreffen: I. Die (Vor)geschichte und soziale Konstitution unserer Fähigkeiten als Individuen;

2 Rawls (1971), insbes. §§ 4 und 24.

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II. Die sozialen Quellen moralischer Phänomene (als Verinnerlichungen gemeinschaftlicher Normen); sowie III. Die physiologische Destruktion des substanziellen moralischen Subjekts und die damit verbundene physiologische Rekonstruktion des Subjekts als Dividuum.

1 Nietzsches Physiologie und das Projekt der Vernatürlichung der Moral Der Nachlass von 1880–1882 (KSA 9, insbesondere das Notizbuch 11 (= M III I aus dem Frühjahr 1881)), auf den ich mich konzentriere, lässt deutlich den typischen Nietzsche’schen „Kategorienfehler“ erkennen, moralische und politische Fragen in physiologischen Begriffen zu erörtern. Um das kritische und transformative Potenzial dieser physiologischen Wende richtig einzuschätzen, ist es wichtig, sie im Kontext seines Programms der Vernatürlichung der Moral zu verstehen. Ein zentraler Impuls in Nietzsches Denken, dem frühen wie dem späten, besteht darin, die Autonomie der normativen Sphäre abzulehnen und das Selbstverständnis der Moral als transzendent und souverän zu untergraben, indem diese auf die Ebene der Immanenz zurückübersetzt wird, d.h. die Moral als radikal immanentes Merkmal der Natur neu zu denken. Angeregt durch seine früheren Heraklit-Interpretationen gewinnt dieser Impuls zunehmend schärfere Konturen im Zuge seiner Kritik des Christentums als „Widernatur“ zugunsten dessen, was er die „Vernatürlichung der Moral“3 oder „moral Nat“ nennt: Ich darf die Tendenz dieser Betrachtungen als moral Nat bezeichnen: meine Aufgabe ist, die scheinbar emancipirten und naturlos gewordenen Moralwerthe in ihre Natur zurückzuübersetzen — d.h. in ihre natürliche ‚Immoralität‘ (NL 9[86], KSA 12, 380)

Nietzsches Aufgabe beinhaltet zum einen das kritische (theoretische) Projekt, moralische Termini in die natürliche Sphäre des Leibes, der Triebe sowie unserer individuellen und kollektiven Lebensbedingungen zurückzuübersetzen. Sie beinhaltet aber auch das praktisch-normative Projekt, moralische Werte in Begriffen zu rekonstruieren, die das Leben oder die Natur in ihren höchsten Erscheinungsformen erkennen und anerkennen, bejahen und qualitativ steigern. Dieses Projekt 3 Siehe NL 9[8], KSA 12, 342: „An Stelle der moralischen Werthe lauter naturalistische Werthe. Vernatürlichung der Moral […]“. Siehe auch Nietzsches Verweis auf den „Naturalismus der Moral“ in NL 15[5], KSA 13, 403: „Kritik der Philosophie.[…] Die Philosophen als Moralisten: sie untergraben den Naturalismus der Moral“.

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kulminiert in einem naturalistischen Gegenideal der Souveränität, das eine radikal individuelle Selbst-Gesetzgebung (im Gegensatz zur Selbstunterwerfung unter das universelle Gesetz) sowie die Maximierung inneren Kampfes (im Gegensatz zu innerem Frieden) seitens eines radikal sozialisierten und pluralen Subjekts oder Dividuums (im Gegensatz zum substanziellen, autonomen Subjekt: homo noumenon) vorsieht. Um moralische Werte zu vernatürlichen, ist es nötig, unser Verständnis des Menschen zu vernatürlichen. Hierbei handelt es sich um diejenige Aufgabe, die in JGB 230 als „Zurückübersetzung des Menschen in die Natur“ zwecks Freilegung des „schrecklichen Grundtext[es] homo natura“ beschrieben wird. Diese Aufgabe wird jedoch durch das Problem erschwert, dass unser Begriff der Natur, insbesondere der menschlichen Natur, selbst ein durch und durch moralisierter ist. Aus Nietzsches Sicht ist die „Idealisierung“ oder „Entnatürlichung“ der Moral einhergegangen mit der Moralisierung der Natur.4 Die Moral und den Menschen in die Natur zurückzuübersetzen kann sicher nicht heißen, diese in eine moralisierte Natur zu übersetzen. Daher spricht Nietzsche von der „natürlichen ‚Immoralität‘“ unserer Werte (NL 9[86], KSA 12) sowie vom „schrecklichen Grundtext homo natura“ (JGB 230): die fragliche Natur ist eine entmoralisierte Natur, die ihre Unschuld und Grausamkeit zurückgewonnen hat.5 Im Rahmen des Projektes der Vernatürlichung der Moral müssen daher zwei Aufgaben koordiniert werden: die Übersetzung moralischer Werte und des Menschen zurück in die Natur und die Übersetzung der Moral aus der Natur (des Menschen): die Vernatürlichung der Moral ist von der Entmoralisierung der Natur6 untrennbar. In den nun folgenden Texten werden uns Beispiele beider Schritte begegnen.

4 In der oben zitieren Notiz 9[86], KSA 12, 380 spricht er vom „[…] souverain gemachten Sittengesetz, losgelöst von seiner Natur (– bis zum Gegensatz zur Natur –)“ und von den „Schritte [n] der ‚Entnatürlichung der Moral‘ (sog. ‚Idealisirung‘)“. Nietzsche beabsichtigt hier, diesen Prozess der Entnatürlichung Schritt für Schritt zu rekonstruieren. 5 Vgl. NL 11[238], KSA 9, 532: „Die M und die Philosophen haben früher in die Natur hinein den Menschen gedichtet – entmenschlichen wir die Natur! Später werden sie mehr in sich selber hineindichten, an Stelle von Philosophieen und Kunstwerken wird es Ideal-menschen geben, welche alle 5 Jahre aus sich ein neues Ideal formen.“ 6 Im Zusammenhang mit „Entmoralisierung“ siehe NL 16[16], KSA 13, 487: „unser Bedürfniß ist jetzt die Welt zu entmoralisiren: sonst könnte man nicht mehr leben […]“. Siehe auch NL 16[16], KSA 13, 487: „Wir Wenigen oder Vielen, die wir wieder in einer entmoralisirten Welt zu leben wagen, wir Heiden dem Glauben nach […]“; sowie als Teil der Gliederung eines geplanten Buches NL 10[57], KSA 12, 485: „Geschichte der Vermoralisirung und Entmoralisirung.“ (vgl. NL 12[1], KSA13.203). Mit „Entmoralisirung“ eng verwandt ist der Terminus „Entmenschung“ (und ‚“entmenschlichen“), da die Moralisierung der Natur als Prozess der Anthropomorphisierung verstanden wird (z. B. FW 109). Siehe NL 11[238], KSA 9, 532 oben, sowie auch NL 11[211], KSA 9, 525:

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2 Zur (Vor)geschichte und sozialen Konstitution unserer Fähigkeiten als souveräne Individuen In der Notiz 11[182] aus dem Nachlass von 1881 (KSA 9, 509ff.) legt Nietzsche eine naturalistische Darstellung der Geschichte und sozialen Konstitution unserer Fähigkeiten als Individuen vor. Der Text beginnt mit einem organismischen Modell der Souveränität, welches unsere Fähigkeiten als Qualitäten oder Funktionen des Organismus begreift, wobei der Organismus (nach Roux: siehe MüllerLauter 1978) vor allem durch die Prozesse der internen Organisation und Selbstregulation gekennzeichnet ist: Ein starker freier M empfindet gegen alles Andere die Eigenschaften des Organismus 1) Selbstregulirung: in der Form von Furcht vor allen fremden Eingriffen, im Haß gegen den Feind, im Maaßhalten usw. 2) überreichlicher Ersatz: in der Form von Habsucht Aneignungslust Machtgelüst 3) Assimilation an sich: in der Form von Loben Tadeln Abhängigmachen Anderer von sich, dazu Verstellung List, Lernen, Gewöhnung, Befehlen Einverleiben von Urtheilen und Erfahrungen 4) Sekretion und Excretion: in der Form von Ekel Verachtung der Eigenschaften an sich, die ihm nicht mehr nützen; das Überschüssige mittheilen Wohlwollen 5) metabolische Kraft: zeitweilig verehren bewundern sich abhängig machen einordnen, auf Ausübung der anderen organischen Eigenschaften fast verzichten, sich zum ‚Organe‘ umbilden, dienen-können 6) Regeneration: in der Form von Geschlechtstrieb, Lehrtrieb usw.[…] (NL 11[182], KSA 9, 509f.)

Diese Fähigkeiten können jedoch nicht als dem Menschen intrinsisch vorausgesetzt werden, wie im Falle der liberalen Vertragstheorie. Sie sind vielmehr die sehr späten Früchte einer langen Sozialgeschichte, die Nietzsche im Verlauf des Textes nacherzählt. Er tut dies aus einer sozio-physiologischen Perspektive, in der die Quellen des souveränen Individuums nicht im Bereich unserer Vernunft liegen (welche von liberalen Vertragstheorien betont wird), sondern im Bereich unserer

„Meine Aufgabe: die Entmenschung der Natur und dann die Vernatürlichung des Menschen, nachdem er den reinen Begriff ‚Natur‘ gewonnen hat.“

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Affekte und Triebe. Nietzsches These lautet, dass unsere Triebe nicht „natürlich“, sondern erlernt und von der Gesellschaft oder vom Staat assimiliert worden sind. Im ersten von Nietzsche geschilderten Stadium sind wir lediglich Organe eines größeren, selbstregulierenden sozialen Organismus, dem wir angehören („die Gesellschaft”/„der Staat”). Im zweiten Stadium formieren sich souveräne Individuen, wenn die Organe aufhören, als Organe zu existieren und stattdessen zu unabhängigen Organismen werden (an Stelle der Gesellschaft oder des Staates). Dieser Übergang, so argumentiert Nietzsche, wird ermöglicht durch einen Prozess des Lernens, der Assimilation und der „Einverleibung“. Im ersten Stadium, in dem Menschen Organe sind, werden ihre Handlungen und Impulse bestimmt von den Bedürfnissen des sozialen Organismus, zu dem sie gehören: sie empfinden die „Affekte der Gesellschaft gegen andere Gesellschaften und Einzelne […] und nicht als Individuen” (11[182], KSA 9, 510); es gibt ausschließlich öffentliche Feinde. Als Organ assimiliert der Mensch allerdings auch die Interessen, Bedürfnisse, die „Erfahrungen und Urteile” des Organismus, sodass er später, „wenn das Band der Gesellschaft zerfällt“, in der Lage ist, sich als autonomes Individuum oder autonomer Organismus neu zu ordnen. Nietzsche spricht von der „Neuordnung und Assimilation Excretion der Triebe” (11[182], KSA 9, 511), die nötig ist, um den Menschen von einem Organ in einen Organismus umzuformen. In einer zentralen Passage dieser Notiz erhebt Nietzsche in dreierlei Hinsicht Einspruch gegen Voraussetzungen der liberalen Vertragstheorie. [1.] Die Gesellschaft erzieht erst das Einzelwesen, formt es zum Halb- oder Ganz-Individuum vor, sie bildet sich nicht aus Einzelwesen, nicht aus Verträgen solcher! Sondern höchstens als Kernpunkt ist ein Individuum nöthig (ein Häuptling) und dieser auch nur im Verhältniß zu der tieferen oder höheren Stufe der Anderen ‚frei‘. Also: [2.] der Staat unterdrückt ursprünglich nicht etwa die Individuen: diese existiren noch gar nicht! [3.] Er macht den Menschen überhaupt die Existenz möglich, als Heerdenthieren. Unsere Triebe Affekte werden uns da erst gelehrt: sie sind nichts Ursprüngliches! Es giebt keinen ‚Naturzustand‘ für sie! Als Theile eines Ganzen nehmen wir an dessen Existenzbedingungen und Funktionen Antheil und einverleiben uns die dabei gemachten Erfahrungen und Urtheile. (NL 11 [182], KSA 9, 511)

Nietzsches Kritikpunkte an der liberalen Vertragstheorie sind also folgende: 1. Die Gesellschaft wird nicht aus schon existierenden Individuen vermittels eines Vertrags gebildet; vielmehr ist es die Gesellschaft, die Individuen erzieht und formt, sodass diese das Produkt der Gesellschaft sind. 2. Da Individuen das Produkt der Gesellschaft oder des Staates sind, kann der Staat nicht als Bedrohung schon existierender Individuen verstanden werden. Insbesondere wird der liberale Begriff der individuellen Freiheit als ursprünglicher Kraft oder „natürlichem Recht“ von Individuen, die vor dem künstlichen Konstrukt des Staates Schutz benötigen, verworfen.

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3.

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Nietzsches Sozio-Physiologie verbietet die Abstraktion unserer Fähigkeit zu rationalem Denken von unserer Existenz als affektive, verkörperte Wesen. Nicht nur unsere „Erfahrungen und Urteile” werden vom Staat übernommen bzw. „einverleibt“ und erlernt; dies gilt auch für unsere Affekte und Triebe selbst. Sie werden zusammen im Voraus durch die Interessen und Funktionen des sozialen Organismus vorgeformt, dem wir ursprünglich angehören. Das schließt nicht nur diejenigen liberalen Vertragstheorien aus, die unsere Fähigkeit zum rationalen Denken oder zur autonomen Reflexion (z. B. Rawls) voraussetzen, sondern auch solche, die ursprüngliche Affekte und Triebe seitens des Individuums voraussetzen, wie etwa Hobbes’ Furcht vor dem Tod und der Wunsch nach Selbsterhaltung.7

All das impliziert offensichtlich eine Kritik der liberalen Auffassung von Freiheit als dem Recht zur Wahl eines eigenen Begriffs des Guten, wobei dieses Recht einer asozialen, vorgängig individuierten Person zukommt. Aber es wirft auch die Frage auf: Welche Konzeption individueller Freiheit oder Souveränität lässt Nietzsches Sozio-Physiologie offen? Dass Nietzsche eine naturalistische Alternative zum liberalen Begriff der Freiheit entwickeln möchte, geht klar aus dem organismischen Modell der Souveränität hervor, mit dem der Text beginnt. Das Problem besteht darin zu verstehen, wie sich aus diesem eine gangbare Konzeption individuellen sozialen Handelns gewinnen lässt. Im Folgenden werde ich mich diesem Problem nähern, indem ich zwei Hinweise aus diesem und anderen Texten zur Sozio-Physiologie des Selbst als Leitfaden benutze. Diesen Hinweisen zufolge erfordert souveränes individuelles Handeln 1. ein radikal individuelles Ethos der Selbstgesetzgebung sowie 2. das größtmögliche Maß an Antagonismus oder Kampf zwischen den für das Individuum konstitutiven Trieben oder Kräften. Zuerst möchte ich mich auf den ersten Punkt konzentrieren, der in Nietzsches Darstellung der Entstehung des Individuums aus dem sozialen Organismus fast als Nebengedanke in Erscheinung tritt. Im zweiten von Nietzsche geschilderten Stadium – „wenn das Band der Gesellschaft zerfällt“– behaupten sich die ersten „Versuchs-Individuen“ als souverän. Dieser Prozess beinhaltet die Umformung eines Organs in einen autonomen Organismus, eine schmerzvolle „Neuordnung und Assimilation Excretion der Triebe“:

7 Siehe den abschließenden Satz des Leviathan, Kap. XIII. In Nietzsches Text wird Hobbes’ Krieg aller gegen alle als die Phase umgedeutet, in der Individuen die mit dem Zusammenbruch des sozialen Organismus einhergehenden Dysfunktionen erleiden und ihre eigene Existenz als einzelne Organismen (nicht lediglich Organe) gewährleisten müssen, indem sie ihre Triebe und Funktionen neu ordnen.

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Die Zeiten, wo sie entstehen, sind die der Entsittlichung, der sogenannten Corruption d.h. alle Triebe wollen sich jetzt persönlich versuchen und nicht bis dahin jenem persönlichen Nutzen angepaßt zerstören sie das Individuum durch Übermaaß. Oder sie zerfleischen es, in ihrem Kampfe mit einander […] (NL 11[182], KSA 9, 511f.)

Der zerstörerische Konflikt der Triebe, der sich im Zuge ihrer Emanzipation von der Bindung an den sozialen Organismus entfesselt, veranlasst die ersten Ethiker dazu, das Individuum zu retten, indem sie ihm einen reaktionären Weg der Gebundenheit empfehlen: Die Ethiker treten dann auf und suchen dem Menschen zu zeigen, wie er doch leben könne, ohne so an sich zu leiden — meistens, indem sie ihm die alte bedingte Lebensweise unter dem Joche der Gesellschaft anempfehlen, nur so daß an Stelle der Gesellschaft ein Begriff tritt — es sind Reaktionäre. Aber sie erhalten Viele, wenn gleich durch Zurückführung in die Gebundenheit. Ihre Behauptung ist, es gebe ein ewiges Sittengesetz; sie wollen das individuelle Gesetz nicht anerkennen und nennen das Streben dahin unsittlich und zerstörerisch. (NL 11[182], KSA 9, 512; vgl. NL 11[189], KSA 9, 515f.)

Dadurch wird das Individuum gerettet und von seinem Leid erlöst, seine Souveränität bleibt dabei allerdings nicht erhalten. Das Ethos der Selbstunterwerfung unter den Begriff des Sittengesetzes ermöglicht es dem „Versuchs-Individuum“, seine Triebe zu mäßigen und zu befrieden. Dies erreicht es aber nur um den Preis der Gebundenheit und des Konformismus. Wenn die Selbstunterwerfung unter das Sittengesetz, verstanden als universal und ewig, der Weg der Gebundenheit ist, dann ist der Weg zur Souveränität eine Form der Selbst-Gesetzgebung, die radikal individuell ist. Nietzsche spricht in diesem Zusammenhang von dem „individuelle[n] Gesetz”.8 Dieser Gedanke, der en passant in der obigen Notiz erscheint, ist für eine andere Notiz aus demselben Notizbuch zentral, in welcher Nietzsche (in polemischer Konfrontation mit Spencer) die Frage der Beziehung des Individuums zur Gattung aufgreift: Sind die Zwecke des Individuums nothwendig die Zwecke der Gattung? Nein. Die individuelle Moral: in Folge eines zufälligen Wurfs im Würfelspiel ist ein Wesen da, welches seine Existenzbedingungen sucht – nehmen wir dies ernst und seien wir nicht Narren, zu opfern für das Unbekannte! (NL 11[46], KSA 9, 459)

Nietzsche warnt uns hier vor der Selbstunterwerfung oder Selbstaufopferung für das Unbekannte – wie das „ewige Sittengesetz“ – zugunsten einer radikal individuellen Moral. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die naturalistische Begrün-

8 Zur radikal individuellen Selbstgesetzgebung siehe Gerhardt (1992, 28–49). Siehe auch Siemens (2008) und (2009).

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dung dieser Position: die Forderung nach einer radikal individuellen Moral liegt begründet in (1) Nietzsches naturalistischem Begriff des Wertes als Mittel, mit dem eine bestimmte Lebensform ihre Existenzbedingungen erfüllt9 sowie (2) in der Voraussetzung einer ursprünglichen Pluralität von Lebensformen, von denen jede einzigartig ist und ihre eigenen Existenzbedingungen erfüllen muss. Wir sind alle, wie Nietzsche in SE schreibt, „ein Unicum”, ein „seltsamer Zufall”, ein „wunderlich buntes Mancherlei” „zusammengeschüttelt“ zum „Einerlei”, dessen Aufgabe darin besteht „nach eignem Maass und Gesetz zu leben” (SE 1, KSA 1.338f.). Wenn man sie mit diesen früheren Äußerungen vergleicht, ersetzt die Notiz aus dem Nachlass von 1881 die romantische Metaphysik der Unzeitgemäßen Betrachtungen mit einem (post)darwinistischen Naturalismus, der sich auf die Frage nach den Existenz- oder Lebensbedingungen eines jeden Lebewesens konzentriert. In diesem Sinne zeigt sie, inwiefern es der „Kategorienfehler“, Moral in physiologischen Begriffen zu erörtern, Nietzsche ermöglicht, sich dem Individuum in seiner Besonderheit zuzuwenden: Besonderheit als Grund der Forderung nach einer radikal individuellen Moral liegt selbst in den Existenzbedingungen begründet, die jeder einzigartigen Lebensform eigen sind. Gleichzeitig wirft diese obengenannte Notiz Licht auf Nietzsches organismischen Begriff der Souveränität am Anfang von NL 11[182], als Modell für individuelles soziales Handeln: Nietzsches Souveränität ist in dem Sinne nichtsouverän, dass sie von der Kultivierung bestimmter Beziehungen mit anderen abhängt; sie ist zutiefst sozial verankert und durch und durch relational. Gleichwohl ist sie souverän in dem Sinne, dass diese Beziehungen von innen heraus von der spezifischen Lebensform („Organismus”), die nach den für sie einzigartigen optimalen Existenzbedingungen sucht, sowie durch die dafür notwendige Form von Selbstregulierung bestimmt werden. Nietzsches Wende zur Physiologie oder die physiologische Wende in Nietzsches Konzeption der Souveränität macht es ihm also möglich, souveräne Selbstbestimmung in relationalen und radikal individuellen Begriffen neu zu denken: Souveränität erfordert, dass ein Individuum sein Handeln gegenüber anderen angesichts solcher Bedingungen bestimmt, die es ihm am besten ermöglichen, seine Bedürfnisse zu befriedigen und als einzigartige Lebensform zu gedeihen. Allerdings bleibt unklar, ob Souveränität in diesem Sinne tatsächlich erreichbar oder lediglich ein naturalistisches moralisches Ideal ist. In der fraglichen Notiz wird es dem „starken freien Menschen“ zugeschrieben, den Nietzsche am Ende

9 Siehe NL 11[118], KSA 13, 56; NL 14[158], KSA 13, 342f. In JGB 3 bezieht Nietzsche den Begriff der Wertschätzung auf die „physiologische[n] Forderungen zur Erhaltung einer bestimmten Art von Leben“.

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seiner sozio-physiologischen Geschichte als den „freigewordenen Menschen“ postuliert. Gleichwohl sind „wir“, wie Nietzsche in den letzten Zeilen schreibt, „Missgestalten“ und bestenfalls „frei werdenden Individuen“, d.h. (noch) nicht freigeworden (NL 11[182], KSA 9, 512). Wenn Selbstunterwerfung unter das universelle und ewige Sittengesetz, in dem von den Ethikern empfohlenen Sinne, der Weg der Gebundenheit ist, wie kann radikal individuelle Freiheit, wenn überhaupt, verwirklicht werden? Wie kann das Individuum aus dem zerstörerischen Konflikt der Triebe auf eine Weise gerettet werden, die Souveränität fördert? Wir werden auf diese Fragen später zurückkommen.

3 Zu den sozialen Quellen moralischer Empfindungen Im Kontext seines Programms der Vernatürlichung der Moral übersetzt Nietzsches Sozio-Physiologie den Menschen auf eine Weise zurück in die Natur, welche die liberale Idee der Freiheit als dem Wahlrecht einer asozialen, vorgängig individuierten Person untergräbt. Wie ich jedoch angedeutet habe, ist die Natur und insbesondere die Natur des Menschen im Zuge der langen Geschichte der Moral durch und durch moralisiert worden und muss entmoralisiert werden, wenn das Programm der Vernatürlichung der Moral ein Sinnvolles sein soll. In diesem Teil des Aufsatzes wende ich mich Nietzsches Versuch zu, die Natur des Menschen zu entmoralisieren und ihre Unschuld zurückzugewinnen, indem er dafür argumentiert, dass unsere moralischen Empfindungen nicht natürlich sind, sondern die Folge der Verinnerlichung sozialer Normen. Zentral ist in diesem Zusammenhang der Prozess der Einverleibung, durch den wir uns, als Organe des sozialen Organismus, die Bedürfnisse und Interessen des sozialen Körpers, dem wir angehören, zu eigen machen. Indem sie die sozialen Quellen unserer moralischen Zwecke und Werte hervorheben, tragen diese Texte weiter dazu bei, die liberale These zu untergraben, eine Person als solche sei trennbar von den Zwecken und Werten, die sie frei und unabhängig von der Gesellschaft wählt. In einem dieser Texte erhebt Nietzsche Einspruch gegen das Gewissen als innere Norm, auf die wir uns als Goldstandard berufen können, um unsere Handlungen und Meinungen zu bewerten. Er tut dies, indem er zunächst das Gewissen auf eine Summe moralischer Empfindungen reduziert und diese dann wiederum auf bloße Empfindungen der Zu- und Abneigung reduziert, welche wir mittels Nachahmung von denen übernommen haben, die über moralische Autorität über uns verfügen:

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Die Menschen hätten in sich schon die Norm, nach der sie zu handeln hätten — die ungeheure Albernheit ist bis auf heutigen Tag noch geglaubt! Das Gewissen! Es ist eine Summe von Empfindungen der Zu- und Abneigung in Bezug auf Handlungen und Meinungen, nachgeahmte Empfindungen, die wir bei Eltern und Lehrern antrafen! (NL 5[13], KSA 9, 83)

Die naturalistische Rückführung der inneren Stimme des Gewissens auf eine Summe nachgeahmter Empfindungen der Zu- und Abneigung beraubt dieses offensichtlich seiner unhinterfragten normativen Autorität. Zugleich führt der tatsächliche Mechanismus der Nachahmung oder Verinnerlichung, wie er von Nietzsche beschrieben wird, auch dazu, dass die Natur des Menschen von jedweden moralischen Empfindungen oder Qualitäten befreit wird. Dies zeigt sich in einer Notiz, in welcher Nietzsche unser Urteil bezüglich einer „bösen Handlung“ in sozio-physiologischen Begriffen beschreibt: An sich sind die Triebe weder gut noch böse für die Empfindung. […] Wenn ein Trieb immer mit dem Gefühl des Verbotenen und der Angst befriedigt wird, so entsteht eine Aversion vor ihm: wir halten ihn nun für böse. Wir haben eine Nebenempfindung untrennbar an ihn geknüpft, es ist eine Einheit entstanden. ‚Eine böse Handlung.‘ (NL 6[204], KSA 9, 251)

Hier geht es um unsere negativen moralischen Urteile bezüglich unserer eigenen Impulse und Triebe. Der Idee einer „bösen Handlung“ wird auf die Verknüpfung eines bestimmten Triebes bzw. seiner Befriedigung mit einer diese begleitenden Empfindung der Abneigung zurückgeführt. Wie jedoch wird ein Gefühl der Abneigung mit der Befriedigung eines Triebes verknüpft? Die Überlegung, dass dies infolge moralischer Empfindungen gegenüber unseren Trieben geschehen könnte, wird hier zugunsten eines Sozialisierungsprozesses verworfen: wir empfinden Abneigung gegenüber der Befriedigung von Trieben, wenn ein soziales Verbot als „Gefühl des Verbotenen und der Angst“, das seine Befriedigung begleitet, verinnerlicht wird. Wie Nietzsche in einer anderen Notiz schreibt: „Einen Trieb haben und vor seiner Befriedigung Abscheu empfinden ist das ‚sittliche‘ Phänomen“ (NL 6[365], KSA 9, 290). Die beste Darstellung der Moralisierung unserer Triebe durch den Prozess der Verinnerlichung findet sich in einer Notiz, in welcher der soziale und relationale Charakter unserer Triebe klar expliziert wird: Welche Triebe hätten wir, die uns nicht von Anfang an in eine Stellung zu anderen Wesen brächten, Ernährung z.B., Geschlechtstrieb? Das, was Andere uns lehren, von uns wollen, uns fürchten und verfolgen heißen, ist das ursprüngliche Material unseres Geistes: fremde Urtheile über die Dinge. Jene geben uns unser Bild von uns selbst, nach dem wir uns messen, wohl und übel mit uns zufrieden sind! Unser eigenes Urtheil ist nur eine Fortzeugung der combinirten fremden! Unsere eigenen Triebe erscheinen uns unter der Interpretation der Anderen: während sie im Grunde alle angenehm sind, sind sie doch durch die angelernten Urtheile über ihren Werth so gemischt mit unangenehmen Beigefühlen, ja manche werden

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als schlechte Triebe jetzt empfunden: ‚es zieht hin, wohin es nicht sollte‘ — während schlechter Trieb eigentlich eine contradictio in adjecto ist. —[…] (NL 6[70], KSA 9, 212f.)

An sich sind unsere Triebe moralisch weder gut noch schlecht. An sich werden sie nicht einmal als gut oder schlecht von uns empfunden. Wenn wir einen Trieb als schlecht bezeichnen, liegt das vielmehr einfach daran, dass das angenehme Gefühl seiner Befriedigung mit Unbehagen oder Abneigung vermischt ist. Und wir empfinden Unbehagen gegenüber der Befriedigung von Trieben, weil wir die Interpretationen, Urteile oder Verbote anderer in unserem sozialen Milieu verinnerlicht haben. Die Konsequenz aus dieser Darstellung der Moralisierung unsere Triebe ist deren Entmoralisierung: der Begriff eines schlechten Triebes ist in sich widersprüchlich, da Triebbefriedigung weder etwas Gutes noch etwas Schlechtes ist; für sich genommen ist sie lediglich angenehm. Diese Darstellung zeigt jedoch auch, wie tief der Prozess der Sozialisierung für Nietzsche reicht. Die moralischen Urteile anderer sind nicht lediglich die Quelle unserer eigenen moralischen Urteile; sie sind das „ursprüngliche Material“ oder Inhalt unseres Geistes, dem wir selbst unser Bild oder Verständnis unserer selbst verdanken. Die Kluft, die diese Darstellung von dem asozialen, eigennützigen Individuum trennt, welches liberale Vertragstheorien voraussetzen, tritt in derselben Notiz klar zum Vorschein, wenn Nietzsche schreibt: Alle socialen Beziehungen auf den Egoismus zurückzuführen? Gut: für mich ist aber auch wahr daß alle egoistischen inneren Erlebnisse auf unsere eingeübten angelernten Stellungen zu Anderen zurückzuführen sind. (NL 6[70], KSA 9, 212)

Der verinnerlichte, soziale Charakter des Selbst und unserer Selbst-Beziehung ist zentral für Nietzsches kritische Destruktion des substanziellen moralischen Subjekts und seinen Versuch der Rekonstrution des Subjekts als Dividuum. Diesen wende ich mich nun im Folgenden zu.

4 Gegen das Subjekt als einheitliche Substanz Die Kritik der Substanzontologie zugunsten einer dynamischen, pluralistischen Interpretation der Realität ist eines der großen Themen, die Nietzsches Gesamtwerk durchziehen.10 Ein wichtiger Teil dieser Kritik richtet sich gegen den Begriff 10 Für eine eingehende Untersuchung von Nietzsches Kritik der Substanzontologie siehe Aydin (2003). Nietzsches früheste schriftlich dokumentierte Kritik Schopenhauers von 1868 konzentriert sich auf den Begriff der Einheit und wendet ein, dass Einheit von Schopenhauer aus dem phänomenalen in den noumenalen Bereich projiziert wird (Zu Schopenhauer, datiert Oktober

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des Subjekts, welches oft als Quelle unseres projizierten Glaubens an beständige Dinge und Substanzen in unserer Umwelt verstanden wird. Die Wende zur Physiologie spielt in diesem Zusammenhang insofern eine Schlüsselrolle, als sie sich in Form einer physiologischen Destruktion des substanziellen moralischen Subjekts sowie einer mit dieser verknüpften physiologischen Rekonstruktion des Subjekts als Dividuum vollzieht. Das Subjekt wird hierbei in Nietzsches Begriff des „Lebenssystems“ oder Organismus pluralisiert und dynamisiert, und unser Glauben an ein substanzielles moralisches Subjekt, ja selbst unser phänomenales Erleben unserer selbst als Einheit – was Nietzsche „Subjekt-Empfindung“ nennt –, wird auf ein „Mittel der Erhaltung“, eine „Lebensbedingung des organischen Daseins“ reduziert (NL 11[270], KSA 9, 545). Nietzsche versucht jedoch auch, ein präskriptives Gegenideal zum liberalen Ideal subjektiver Autonomie zu formulieren, eine physiologische, dynamische und pluralistische Konzeption der Souveränität. Wie ich argumentieren werde, suggerieren Nietzsches Texte ein agonales Ideal einer inneren Pluralität von Trieben in gemäßigtem, produktivem Konflikt miteinander, welche aufrechterhalten wird von und verschränkt ist mit einer äußeren Pluralität souveräner Wesen oder Organismen, die sich in gemäßigtem, produktivem Konflikt miteinander befinden. Nietzsches Kritik der Substanzontologie stellt ihn vor die Aufgabe, in naturalistischer Weise zu erklären, wie es dazu kommt, dass wir Substanzen – die Existenz beständiger Dinge, das Subjekt inbegriffen – für fundamentale und evidente Wahrheiten halten. Typischerweise argumentiert Nietzsche, dass diese als Mittel zur Erhaltung organischen Lebens selektiven oder lebenserhaltenden Wert besitzen, deshalb jedoch nicht wahr sein müssen. Immer wieder insistiert er, dass der selektive Wert eines Glaubens von seinem Wahrheitswert logisch unabhängig ist. Es gilt also: In der Art, wie die Erstlinge organischer Bildungen Reize empfanden und das Außer-sich beurtheilten, muß das lebenserhaltende Princip gesucht werden: derjenige Glaube siegte, erhielt sich, bei dem das Fortleben möglich wurde; nicht der am meisten wahre, sondern am meisten nützlichen Glaube. ‚Subjekt‘ ist die Lebensbedingung des organischen Daseins, deshalb nicht ‚wahr‘, sondern Subjekt-Empfindung kann wesentlich falsch sein, aber als einziges Mittel der Erhaltung. Der Irrthum Vater des Lebendigen! (NL 11[270], KSA 9, 545; vgl. NL 11[268], KSA 9, 543f.)

1867–April 1868, in: BAW III 352–370 (452f. für Nachbericht)). Siehe auch Katrin Meyer zu Nietzsches fortwährendem erkenntnistheoretischen Angriff auf die Begriffe des Seins, der Substanz usw., welcher in seiner Auseinandersetzung als Jugendlicher mit den Vorsokratikern seinen Ursprung hat (Meyer 1998, 8–38).

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Die „Subjekt-Empfindung“ ist keine ursprüngliche Wahrheit des menschlichen Daseins, sondern ein abgeleiteter Irrtum, der als Antwort auf die Lebensbedingungen allen organischen Lebens entstanden ist. Diese uralte protoplasmische Lüge, so argumentiert Nietzsche, lebt fort in unserer politischen Überzeugung vom Staat als beständigem Ganzen, wobei ihr Fortleben in dieser Form den gleichen physiologischen Grund hat, aus dem alle organischen Lebensformen „dauernde Dinge“ in ihrer Umwelt wahrnehmen: um Prozesse der Assimilation und Selbst-Einordnung zu erleichtern. In den entwickeltsten Zuständen begehen wir immer noch den ältesten Irrthum: z.B. stellen wir uns den Staat als Ganzes Dauerndes Wirkliches als Ding vor und demgemäß ordnen wir uns ihm ein, als Funktion. Ohne die Vorstellung des Protoplasma von einem ‚dauernden Dinge‘ außer ihm gäbe es keine Einordnung, keine Assimilation (NL 11[270], KSA 9, 545)

In anderen Kontexten warnt uns Nietzsche davor, das vermeintliche „Individuum“ zu verwechseln mit dem wahren „Lebenssystem“, das wir sind: Ich unterscheide aber: die eingebildeten Individuen und die wahren ‚Lebens-systeme‘, deren jeder von uns eins ist — man wirft beides in eins, während ‚das Individuum‘ nur eine Summe von bewußten Empfindungen und Urtheilen und Irrthümern ist, ein Glaube, ein Stückchen vom wahren Lebenssystem oder viele Stückchen zusammengedacht und zusammengefabelt, eine ‚Einheit‘, die nicht Stand hält […] Schrittweise lernen, das vermeintliche Individuum abzuwerfen! Die Irrthümer des ego entdecken! Den Egoismus als Irrthum einsehen! Als Gegensatz ja nicht Altruismus zu verstehen! Das wäre die Liebe zu den anderen vermeintlichen Individuen! Nein! Über ‚mich‘ und ‚dich‘ hinaus! Kosmisch empfinden! (NL 11[7], KSA 9, 443)

Was auch immer genau „[k]osmisch empfinden“ heißen mag, es beinhaltet eine Weise des Bezugs auf sich selbst und andere jenseits der irrtümlichen Einheiten des „ich“ und „du“, und es ist Teil eines präskriptiven Programms, das in dieser Notiz angekündigt wird, um den Irrtum des „vemeintliche[n] Individuum[s]“ abzuwerfen. Vor dem Hintergrund von Nietzsches Kritik der Substanzontologie bedeutet dies, dass unsere Selbst-Beziehung neu beschrieben werden muss, ohne dass dabei eine grundlegende Einheit oder Identität vorausgesetzt wird und stattdessen von einer ursprünglichen Pluralität ausgegangen wird. So wird in der obigen Notiz das substanzielle moralische Subjekt als irrtümliche Einheit beschrieben, die in Wirklichkeit aus einer Pluralität von „Empfindungen“, „Urtheilen“, „Irrthümern“ oder „Stückchen“ des wahren Lebenssystems „zusammengefabelt“ wird. Auf dieser Grundlage besteht Nietzsches präskriptive Aufgabe darin, eine gangbare Form der Selbst-Beziehung zu beschreiben, welche die Pluralität, die wir sind, nicht verfälscht, sondern ihr Rechnung trägt. Wie wir aufgrund der zuvor betrachteten Texte erwarten würden, wird dieser „inneren“

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Pluralität durch die Verinnerlichung sozialer Sitten ihre Form gegeben. Da, wie Nietzsche schreibt, „wir […] die „Gesellschaft“ in uns verlegt [haben]“, beziehen wir uns auf uns selbst in einem durch und durch sozialisierten Sinn: Wir wenden alle guten und schlechten gewöhnten Triebe gegen uns: das Denken über uns, das Empfinden für und gegen uns, der Kampf in uns — nie behandeln wir uns als Individuum, sondern als Zwei- und Mehrheit; alle socialen Übungen (Freundschaft Rache Neid) üben wir redlich an uns. Der naive Egoismus des Thieres ist durch unsere sociale Einübung ganz alterirt: wir können gar nicht mehr eine Einzigkeit des ego fühlen, wir sind immer unter einer Mehrheit. Wir haben uns zerspalten und spalten uns immer neu. Die socialen Triebe (wie Feindschaft Neid Haß) (die eine Mehrheit voraussetzen) haben uns umgewandelt: wir haben ‚die Gesellschaft‘ in uns verlegt, verkleinert und sich auf sich zurückziehen ist keine Flucht aus der Gesellschaft, sondern oft ein peinliches Fortträumen und Ausdeuten unserer Vorgänge nach dem Schema der früheren Erlebnisse. (NL 6[80], KSA 9, 215f.)11

Selbst im Rückzug in die Einsamkeit – welcher oft als symptomatisch für Nietzsches autarken Individualismus verstanden wird – üben wir soziale Beziehungen zu uns selbst und bringen alle unsere sozialen Gewohnheiten und Triebe mit. Diese Notiz macht die Kluft deutlich, welche Nietzsches Person vom asozialen Individuum trennt, das von der Moral und von liberalen Vertragstheorien vorausgesetzt wird: nicht nur gehen die moralischen Urteile des sozialen Organismus in unsere moralischen Empfindungen ein; sogar unsere Selbst-Beziehung ist durch soziale Triebe und Praktiken („Übungen“ wie „Freundschaft Rache Neid“) konstituiert. Was an dieser Darstellung auffällt, ist jedoch nicht allein diese sozialisierte Neubeschreibung unserer Selbst-Beziehung, sondern die Betonung von Kampf und Selbstspaltung („für und gegen uns“). Für Nietzsche ist dies nicht nur eine deskriptive Behauptung: es ist präskriptiv, wie folgende Notiz verdeutlicht: Wer tiefer Empfindungen fähig ist, muß auch den heftigen Kampf derselben gegen ihre Gegensätze leiden. Man kann, um ganz ruhig und leidlos in sich zu sein, sich eben nur die tiefen Empfindungen abgewöhnen, so daß sie in ihrer Schwäche eben auch nur schwache Gegenkräfte erregen: die, in ihrer sublimirten Dünne, dann wohl überhört werden und dem Menschen den Eindruck geben, er sei ganz mit sich im Einklange. — Ebenso im socialen Leben: soll alles altruistisch zugehn, so müssen die Gegensätze der Individuen auf ein sublimes Minimum reduzirt werden: so daß alle feindseligen Tendenzen und Spannungen, durch welche das Individuum sich als Individuum erhält, kaum mehr wahrgenommen werden können, das heißt: die Individuen müssen auf den blassesten Ton des Individuellen reduzirt werden! Also die Gleichheit weitaus vorherrschend! Das ist die Euthanasie, völlig unproduktiv! (NL 6[58], KSA 9, 207f.)

11 Siehe auch NL 6[70], KSA 9, 212: „Wir behandeln uns als eine Mehrheit und tragen in diese „socialen Beziehungen“ alle die socialen Gewohnheiten, die wir gegen Menschen Thiere Gegenden Dinge haben.“

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Gehen wir (entgegen der Substanzontologie) von einer ursprünglichen Pluralität von Empfindungen aus, die miteinander im Kampf stehen, so kann es so etwas wie echten Frieden, echten Einklang oder echte Übereinstimmung mit sich selbst nicht geben. Man kann jedoch den Antagonismus zwischen den eigenen Empfindungen überhören und dies irrtümlicherweise für Frieden oder Einklang halten, indem man auf Strategien zurückgreift, welche die eigenen Empfindungen abschwächen und so die heftige Dissonanz zwischen ihnen und ihren Gegensätzen reduzieren. Dies ist offensichtlich ein Verweis auf das sokratische Ideal der Übereinstimmung mit sich selbst12 und die eudaimonistische Tendenz, die Sokrates in die Philosophie eingeführt hat.13 Es ist wichtig zu verstehen, dass diese Strategie für inneren Frieden oder inneren Einklang mit der Selbst-Unterwerfung unter den „souveräne[n] Begriff“14 (das Sittengesetz) einhergeht, die nach Nietzsches Sozio-Physiologie (NL 11[182), KSA 9, 509–512) von den ersten Ethikern empfohlen wird. Beide Strategien haben, wie Sokrates sah, den Vorteil, das Individuum von seinem Leiden zu erlösen, indem sie das „Übermaß“ individueller Triebe mäßigen, um damit die Spannung oder den Kampf zwischen ihnen zu reduzieren (NL 11[182]). Allerdings sind sie mit einem hohen Preis verbunden. Die obige Notiz bemängelt den Verlust menschlicher Vielfalt und menschlichen

12 Gorgias 482c: “Es wäre besser für mich, […] dass noch so viele Menschen mit mir uneins wären, als daß ich, der ich Einer bin, nicht im Einklang mit mir selbst sein und mir widersprechen sollte.” Im Aufsatz „Philosophy und Politcs“ lautet Hannah Arendts Version: „it is much better to be in disagreement with the whole world than being one, to be in disagreement with myself” (Arendt 1990, 87). In diesem Aufsatz verteidigt sie diese Position gegen die Gespaltenheit des agonalen Geistes in Griechenland und bestreitet, dass sokratische Einheit oder Harmonie mit sich selbst Pluralismus ausschließt. Wie wir sehen werden, ist Nietzsches Position die, dass Uneinigkeit oder ein gewisses Maß an Konflikt für genuinen Pluralismus notwendig ist. 13 Siehe NL 19[20], KSA 7, 422: „Nach Sokrates ist das allgemeine Wohl nicht mehr zu retten, darum die individualisirende Ethik, die die Einzelnen retten will“. Doch schon 1869 schreibt Nietzsche: „Euripides hat von Socrates die Vereinzelung des Individuums gelernt“ (NL 1[106], KSA 7, 41). Siehe auch NL 23[35], KSA 7, 555: „Sokrates bricht mit der bisherigen Wissenschaft und Kultur, er will zurück zur alten Bürgertugend und zum Staate“. Siehe auch die Notizen zu „Wissenschaft und Weisheit und im Kampfe“ aus KSA 8 (1875): NL 6[13], KSA 8, 102 „Von Sokrates an: das Individuum nahm sich zu wichtig mit einem Male“; NL 6[15], KSA 8, 103: „Bei ihnen [den vorsokratischen Philosophen – HS] hat man nicht ‚die garstige Pretension auf Glück’, wie von Socrates ab. Es dreht sich doch nicht alles um den Zustand ihrer Seele: denn über den denkt man nicht ohne Gefahr nach“; und ebenso NL 6[15], KSA 8, 103: „sie [die ältere Philosophie – HS] ist nicht so individuell-eudämonologisch“. In NL 6[26] beschuldigt er Sokrates, das Individuum aus seinem historischen Kontext herauszureißen, und in NL 6[21] charakterisiert er Sokrates’ Position mit den Worten: „da bleibt mir nichts als ich mir selbst; Angst um sich selbst wird die Seele der Philosophie.“ 14 Siehe NL 16[17], KSA 7, 399: „Socrates. Liebe und Bildung. Der souveräne Begriff“.

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Reichtums zugunsten von Angleichung oder Gleichmachung sowie den Verlust produktiver Kraft: dies kommt einem lebendigen Tod oder der „Euthanasie“ gleich. Im Kontext seiner Sozio-Physiologie (NL 11[182], KSA 9, 509–512) verwirft Nietzsche, wie wir gesehen haben, den Weg der Ethiker als den Weg des Konformismus und der Unfreiheit. Wir können jetzt die zuvor aufgeworfenen Fragen aufgreifen: Wie kann radikal individuelle Freiheit, wenn überhaupt, verwirklich werden, wenn innerer Friede und Mäßigung durch Selbstunterwerfung unter das universelle und ewige Sittengesetz der Weg der Gebundenheit ist? Wie kann das Individuum aus dem zerstörerischen Konflikt der Triebe auf eine Art und Weise gerettet werden, die Souveränität fördert? Um dies zu beantworten müssen wir zur sozio-physiologischen Vorgeschichte des Individuums zurückkehren.

5 Die Maximierung von Konflikt und Mäßigung: Nietzsches Gegenbegriff der Souveränität In dem letzten Text, den wir behandelt haben, favorisiert Nietzsche deutlich den vehementen Antagonismus unserer Triebe, nicht dessen Verminderung in einen lauwarmen „Frieden“, als den Weg zu einer Vielfalt lebendiger, produktiver Individuen. In seiner Sozio-Physiologie bejaht er ebenfalls den Antagonismus und formuliert ein präskriptives Ideal der Souveränität, das auf Konflikt ausgerichtet ist: die Maximierung von Antagonismus und Kampf zwischen den für das Individuum konstitutiven Trieben und Kräften. Nietzsche unterscheidet scharf zwischen dem Weg der Gebundenheit, der von den ersten Ethikern eingeführt wird, als der Geschichte der „Heerden-Thiere“, die in der Moderne zur Vorherrschaft gekommen sind, und der Geschichte einzeln lebender Wesen, als dem Weg zur Souveränität: Die Entwicklung der Heerden-Thiere und gesellschaftlichen Pflanzen ist eine ganz andere als die der einzeln lebenden. (NL 11[130], KSA 9, 488)

In Bezug auf ersteren betont Nietzsche die heute weit verbreite Selbstunterwerfung (unter den Staat, die Familie, die Kirche usw.) und ihre lange Vorgeschichte in unserer Existenz als vor-individuellen Organen eines sozialen Organismus. In Bezug auf letzteren betont er die zunehmende Komplexität des Individuums durch die Einverleibung sozialer Strukturen, aber auch die Schwierigkeiten, die sich im Zuge des Übergangs vom Organ zum selbstregulierenden Organismus stellen:

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Einzeln lebende Menschen, wenn sie nicht zu Grunde gehen, entwickeln sich zu Gesellschaften, eine Menge von Arbeitsgebieten wird entwickelt, und viel Kampf der Triebe um Nahrung Raum Zeit ebenfalls. (NL 11[130], KSA 9, 488)

Kampf ist jedoch nicht nur ein Merkmal der Entwicklung einzeln lebender Individuen; er ist auch zentral für das Ideal der Souveränität, mit dem diese Notiz endet: Der freieste Mensch hat das größte Machtgefühl über sich, das größte Wissen über sich, die größte Ordnung im nothwendigen Kampfe seiner Kräfte, die verhältnißmäßig größte Unabhängigkeit seiner einzelnen Kräfte, den verhältnißmäßig größten Kampf in sich: er ist das zwieträchtigste Wesen und das wechselreichste und das langlebendste und das überreich begehrende, sich nährende, das am meisten von sich ausscheidende und sich erneuernde. (NL 11[130], KSA 9, 488)

In dieser Darstellung können wir einige der selbstregulierenden Funktionen erkennen, die Nietzsches organismisches Modell der Souveränität (NL 11[182], KSA 9) kennzeichnen: – „das überreich begehrend“ bezieht sich auf: „2) überreichlicher Ersatz: in der Form von Habsucht Aneignungslust Machtgelüst“; – „das überreich […] sich nährende“ bezieht sich auf: „3) Assimilation an sich: in der Form von Loben Tadeln Abhängigmachen Anderer von sich, dazu Verstellung List, Lernen, Gewöhnung, Befehlen Einverleiben von Urtheilen und Erfahrungen“; – „das am meisten von sich ausscheidende“ bezieht sich auf: „4) Sekretion und Excretion: in der Form von Ekel Verachtung der Eigenschaften an sich, die ihm nicht mehr nützen; das Überschüssige mittheilen Wohlwollen“; und – „das am meisten [.] sich erneuernde“ bezieht sich auf: „6) Regeneration: in der Form von Geschlechtstrieb, Lehrtrieb usw.“ Alle diese Funktionen fallen unter Selbstregulation oder die Erreichung der „größten Ordnung“ sowie des resultierenden „Machtgefühls“ über sich. Innere Ordnung vermittels effektiver Selbstregulation und der dazu nötigen physiologischen Selbsterkenntnis ist also der Schlüssel zu Nietzsches Begriff der Souveränität. Wie diese Notiz allerdings deutlich macht, ist das Erreichen innerer Ordnung untrennbar davon, was der Ordnung widersteht, nämlich der Antagonismus oder Kampf zwischen den eigenen Kräften. Und genauso wie der vehemente Antagonismus unserer Empfindungen maximiert werden muss, damit eine Vielfalt lebendiger Individuen entsteht (NL 6[58], KSA 9 oben), so entsteht hier die größte Souveränität aus der Maximierung des Antagonismus der Kräfte und des Machtgefühls über sich, das aus der Fähigkeit resultiert, diese zu ordnen. Wir können

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daher sagen, dass Souveränität erfordert, dass wir die Spannung zwischen maximalem Antagonismus und maximaler Ordnung innerhalb der für jeden von uns konstitutiven Pluralität von Kräften oder Trieben aufrechterhalten. Mit diesem Ideal bietet Nietzsche offensichtlich ein Gegenideal zum liberalen Ideal subjektiver Autonomie. Die dynamische, pluralisierte soziale Ontologie, in der Nietzsches Begriff der Souveränität begründet liegt, untergräbt die SubstanzMetaphysik, auf welcher der Begriff der asozialen, vorgängig individuierten Person beruht. Wie zuvor in Abschnitt 2 argumentiert wurde, vernatürlicht die physiologische Wende in Nietzsches Diskurs den Begriff der Souveränität nicht nur, sondern singularisiert ihn auch, indem sie die Selbstbestimmung auf die Prozesse der Selbstregulation bezieht, die es einer bestimmten Lebensform am besten ermöglichen, die Existenzbedingungen zu erfüllen, die ihr als Einzelwesen einzigartig sind. Und, wie wir in Notiz 11[182] (KSA 9) sahen, wird Souveränität in diesem Sinne, als radikal individuelle Selbstgesetzgebung, dem sokratischen Ideal der Selbstunterordnung unter den Begriff des universellen und ewigen Sittengesetzes, dem damit verbundenen Konformismus und dem Verlust menschlicher Vielfalt entgegengesetzt. Schließlich wird das Ideal der Maximierung des inneren Antagonismus offensichtlich dem sokratischen Ideal des Friedens oder der Übereinstimmung mit sich selbst und der Abschwächung von Affekten, auf welcher dieses beruht, entgegengesetzt. Nietzsches Opposition sowohl zu liberalen als auch sokratischen Idealen basiert zum großen Teil auf der These, dass es keinen genuinen Pluralismus oder keine genuine Freiheit geben kann ohne ein gewisses Maß an Konflikt. Diese Behauptung wirft jedoch unmittelbar das Problem auf: Was ist das richtige Maß für die Maximierung des Antagonismus unserer Triebe, ohne dass das Individuum dabei unter dem Druck übermäßiger konfligierender Triebe völlig zerfällt? Ja, wie kann überhaupt ein Maß oder Grenzen für unsere Triebe bestimmt werden, wenn ihr Konflikt maximiert werden soll? Und wie ist dieses Maß erreichbar? Wenn das Problem ist, die Disgregation oder Explosion von Individuen unter dem auswärts gerichteten Druck eines maximalen Konflikts der Triebe zu verhindern, müsste die Lösung eigentlich darin bestehen, äußeren Druck nach innen auszuüben, der das Individuum weder überwältigt und assimiliert noch von diesem überwältigt wird, sondern dem nach außen gerichteten expansionistischen Druck, der von den Kräften des Individuum ausgeübt wird, mehr oder weniger gleicht. Anders gesagt wird das richtige Maß für die Maximierung des inneren Antagonismus, das mit der Einheit des Individuums verträglich ist, durch soziale, intersubjektive oder politische Beziehungen ungefährer Gleichheit festgelegt. Dieser Gedanke wird in der zuvor diskutierten Notiz 6[58] (KSA 9, 207f.) angesprochen, wenn Nietzsche das sozio-politische Korrelat der sokratischen Strategie der Minimierung der Dissonanz unserer Empfindungen beschreibt:

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Ebenso im socialen Leben: soll alles altruistisch zugehn, so müssen die Gegensätze der Individuen auf ein sublimes Minimum reduzirt werden: so daß alle feindseligen Tendenzen und Spannungen, durch welche das Individuum sich als Individuum erhält, kaum mehr wahrgenommen werden können, das heißt: die Individuen müssen auf den blassesten Ton des Individuellen reduzirt werden! Also die Gleichheit weitaus vorherrschend! Das ist die Euthanasie, völlig unproduktiv! (6[58], KSA 9, 208)

Obzwar diese Zeilen die Geschichte des Herdentieres beschreiben, das in der Moderne zur Vorherrschaft gekommen ist, deutet Nietzsche auch eine Alternative an: wenn er von den „feindseligen Tendenzen und Spannungen, durch welche das Individuum sich als Individuum erhält“ schreibt, verknüpft er starken inneren Antagonismus mit äußerem, interpersonalem Antagonismus als dessen Bedingung. Es sind Beziehungen der Spannung und des Antagonismus mit anderen, durch welche der Antagonismus der inneren Triebe am besten in Grenzen gehalten wird, so dass das Dividuum in der Lage ist, Einheit zu erlangen oder sich als Individuum zu erhalten mit dem Maximum an innerer Spannung, welches für Souveränität erforderlich ist. Der Grad oder das Maß maximalen inneren Antagonismus, welcher bzw. welches mit der Existenz von Individuen verträglich ist, wird bestimmt durch Beziehungen der Spannung zwischen Individuen, die mehr oder weniger gleich mächtig sind, so dass niemand von den anderen überwältigt oder assimiliert wird. Und da die mit der Ganzheit des Individuums verträgliche Maximierung inneren Antagonismus die Bedingung für eine Vielfalt souveräner und produktiver Typen von Mensch ist, können wir sagen, dass Nietzsches SozioPhysiologie auf eine Politik der Gleichheit hindeutet, nicht in dem Sinne universeller gleicher Rechte, die uns vor Konflikt und Eingriffen schützen, sondern eine Politik der gemäßigten Feindschaft zwischen mehr oder weniger gleichen Mächten, die es Individuen ermöglicht, produktive Dividua zu sein und gleichzeitig ihre Einheit als Individuen zu erhalten sowie Souveränität in ihren Beziehungen zu anderen auszuüben. Aspekte dieses politischen Ideals lassen sich in den Arten von Beziehungen erkennen, die Nietzsche in seinem organismischen Modell der Souveränität beschreibt (siehe oben, S. 171): Unter der Rubrik 1) – Selbstregulation – erscheint Antagonismus in der Form der „Furcht vor allen fremden Eingriffen“ und des „Ha[sses] gegen den Feind“. Selbstregulation beinhaltet jedoch auch das entscheidende Moment des „Maaßhalten[s]“. Unter den Rubriken 2) und 3) – überreichlicher Ersatz and Assimilation an sich – nimmt Antagonismus die Form der „Habsucht“, der „Aneignungslust“, des „Machtgelüst[es]“, des „Abhängigmachen[s] Anderer von sich“ sowie des „Befehlen[s]“ an. Allerdings wird das dann ausgeglichen durch „Wohlwollen“ unter Rubrik 4) – Sekretion – sowie durch Gehorchen unter Rubrik „5) – metabolische Kraft: zeitweilig verehren bewundern sich abhängig machen einordnen […]

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dienen-können“. Beziehungen zwischen mehr oder weniger gleichen Mächten werden hier reguliert durch gegenseitige Abhängigkeiten, gegenseitiges Befehlen-und-Gehorchen, gegenseitiges Wohlwollen-und-Hassen, gegenseitiges Nehmen-und-Geben. Zum Abschluss möchte ich die wichtigsten Punkte meines Arguments zusammenfassen: Nietzsches sozio-physiologische Texte von 1881 entwickeln nicht nur eine eindringliche Kritik am liberalen Begriff der individuellen Person und dessen metaphysischen Voraussetzungen; sie formulieren auch eine alternative Konzeption der Person und weisen auf einen Gegenbegriff souveränen Handelns hin, der auf Singularität (/ Vielfalt) und der Erhaltung eines maximalen, gleichwohl gemäßigten, inneren Antagonismus mittels eines gemäßigten äußeren Antagonismus mit anderen beruht. Gegen die sokratische (und liberale?) Behauptung, dass der Konflikt, der jeder von uns ist, nur gemäßigt werden kann, indem wir unseren inneren Antagonismus eliminieren (oder zumindest reduzieren), schlägt Nietzsche vor, dass unsere inneren Antagonismen in Grenzen gehalten werden können durch gewisse äußere Beziehungen des gemäßigten Antagonismus mit ungefähr Gleichmächtigen. Anstelle des sokratischen Ideals inneren Friedens oder inneren Einklangs und seiner Ausrichtung auf Beseitigung von Konflikt, deuten Nietzsches Texte auf die Möglichkeit hin, ungemäßigten destruktiven Konflikt – die gegenseitige Zerstörung wettstreitender Triebe, und mit ihnen des Individuums, dem sie innewohnen – in produktiven gemäßigten Konflikt zu transformieren. Welche institutionellen Bedingungen erforderlich sind, um den gemäßigten produktiven Konflikt zwischen souveränen Wesen aufrechtzuerhalten, von welchem diese Möglichkeit abhängt, bleibt offen.

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Herman Siemens

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Sigridur Thorgeirsdottir

Nietzsches Philosophie der Schuld/en als transformierende Kritik der Schuldenökonomie der Gegenwart Abstract: Nietzsche’s Philosophy of Debt/s as Transformative Critique of the Contemporary Debt-Economy. In recent philosophical and socialscientific research on issues of debt (Maurizio Lazzarato, David Graeber) there are references to Nietzsche’s philosophy of the creditor/debtor relationship from the II. Treatise of the Genealogy of Morals. Nietzsche’s philosophy of this relationship offers a philosophical anthropology of debt that is useful for an understanding of the contemporary crisis of the financial economy as a debt-economy. His idea of God as ultimate creditor is still useful to shed light on the debt-economy as a kind of secular religion. In this paper, I discuss how Nietzsche’s theory of the debtor-creditor relation can be interpreted as a descriptive and a normative model for understanding some of the non-sustainable aspects of the contemporary debt-economy. His model is superior to a contractarian model that offers the predominant regulative principle for debtor-creditor-relations. Nietzsche’s idea of the embodied and relational Subjekt is more realistic than the contractarian, i.e. onesidedly individualistic, disembodied and deterrialized Subjekt. His ethics of generosity as a model for a sustainable debt-economy is interpreted in light of Luce Irigaray’s advancing of Nietzsche’s notion of the embodied, terrialized and relational Subjekt. From this perspective Sloterdijk’s interpretation of a Nietzschean ethics of generosity is criticized.

Ich komme aus einem Land (Island), das durch den Bankenkollaps und die darauffolgende sprunghafte Steigerung von privaten Schulden und Staatsschulden ausgelöste Finanzkrise besonders deutlich zu spüren bekommen hat. Die Debatte zum Thema Schulden hat sich in den letzten Jahren rasch ausgebreitet und 2015 in Europa einen vorläufigen Höhepunkt im Streit um Griechenlands Schuldenlast erreicht. Dabei ist immer deutlicher geworden, dass die Finanzökonomie im Kern eine Schuldenökonomie ist. Schulden sind der Motor der wirtschaftlichen Entwicklung und zugleich ein Risikofaktor, mit dem sich Individuen, Unternehmen und Staaten zunehmend schwer tun. Der Finanzkapitalismus steckt in einer Krise, und daher ist es notwendig, ihn von allen Seiten zu analysieren und nach neuen Lösungen zu suchen. Zur Debatte steht dabei vor allem die Frage

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Sigridur Thorgeirsdottir

der Nachhaltigkeit von Schulden. Welche Schuldenlast kann ein Staat tragen, ohne die gesellschaftliche Infrastruktur und das Wohlergehen der Bevölkerung zu gefährden? Wie viel Schulden können aufgetürmt werden, ohne dass damit nationale oder regionale Finanzkrisen in immer kürzeren Zeitintervallen ausgelöst werden? Im Zusammenhang mit einer neuen Welle wissenschaftlicher Literatur über Schulden und Schuldenökonomie taucht der Name Nietzsches wiederholt auf. Seine II. Abhandlung Zur Genealogie der Moral – „‚Schuld‘, ‚Schlechtes Gewissen‘ und Verwandtes“ – rückt erneut in den Blickpunkt, und Nietzsches Philosophie der Schulden tritt als wichtige Grundlage einer geistes- und sozialwissenschaftlichen Analyse des Finanzkapitalismus als Schuldenökonomie hervor. Der Anthropologe David Graeber weist in seiner weit rezipierten Studie über Schulden in den letzten 5000 Jahren der menschlichen Gattungsgeschichte (Graeber 2011) ebenso wie Maurizio Lazzarato mit seinem Buch zum verschuldeten Menschen als dem Menschentyp der Finanzökonomie des Spätkapitalismus (Lazzarato 2011) auf Nietzsches Philosophie des Gläubiger-Schuldner-Verhältnisses hin. In den Ausführungen dieser Autoren erscheint Nietzsches Analyse des Verhältnisses von Gläubiger und Schuldner als ein theoretisches Instrument, um die Tiefenschicht der Schuldenökonomie in asymmetrischen menschlichen Machtverhältnissen zu beleuchten. Die Philosophie Nietzsches wird damit als hochaktueller Beitrag zum kritischen und transformativen Verständnis der gegenwärtigen Form des Finanzkapitalismus verstanden. Sein Beitrag bietet eine tiefgründigere und psychologisch subtilere Analyse dieser Spielart des Kapitalismus, als es eine vertragstheoretische Analyse im Sinne einer politischen Ökonomie oder eine marxistische Analyse vermögen. In dem Gläubiger-Schuldner-Modell verortet Nietzsche nämlich das grundlegende soziale Machtverhältnis als Imbalance und Ungleichheit der Partner. Die Ausgangsposition ist nie fair im Sinne von Gleichheit. Unter den Bedingungen der gegenwärtigen Form der Schuldenökonomie verschärft sich dieser Zustand. Das finanzielle Ungleichgewicht wird immer größer und führt vermehrt zu sozialen und politischen Umwälzungen globalen Ausmaßes. Die Makroebene bestimmt wiederum die Mikrobene, und daher behauptet Lazzarato, dass das finanzielle Gläubiger-Schuldner-Modell in neoliberalen Ökonomien sämtliche sozialen Beziehungen forme (Lazzarato 2011, 35). Die Bezugnahme auf Nietzsche in den heutigen Schuldentheorien basiert auf der Grundlage seiner Analyse, dass die ökonomischen Verhältnisse in einem fundamentalen Sinne Tauschverhältnisse sind, wobei der Tausch nicht ausschließlich in einem materiellen oder finanziellen Sinne verstanden wird. Tauschverhältnisse liegen gleichermaßen der Moral, der Gesellschaft und der Religion zugrunde. Gott ist in Nietzsches Modell der ultimative Gläubiger. Folglich ist sein Modell wichtig, wenn man Licht auf säkular-religiöse Dimensionen

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der Schuldenökonomie werfen möchte. Der Begriff der Ökonomie wird hier daher weit gefasst, er deckt sowohl die ökonomische Produktion als auch die Produktion der Subjektivität ab (Lazzarato 2011, 11). Das finanzielle oder materielle Gläubiger-Schuldner-Verhältnis ist ein Vertragsverhältnis, das Abkommen stiftet und Beziehungen reguliert. Das GläubigerSchuldner-Verhältnis ist in der Fähigkeit gegründet, Versprechen eingehen und halten zu können. Die Entwicklung dieser Fähigkeit bedeutet einen quantitativen Sprung für die Entwicklung der Gesellschaft, denn der Tausch ist nicht an das Hier und Jetzt gebunden, sondern wird in die Zukunft verlegt. Es wird in der Gegenwart ein Kredit vergeben, mit dem Versprechen, ihn in der Zukunft zurückzubezahlen. Bestimmte Versionen herkömmlicher vertragstheoretischer Modelle sind grundlegend für die Regulierung des Schuldner-Gläubiger-Verhältnisses in der Schuldenökonomie der Gegenwart (Backhaus 2006, 88). Nietzsches Idee der Vertragspartner in einem solchen Verhältnis ist realistischer und differenzierter als das Gläubiger-Schuldner-Modell in Vertragstheorien der herkömmlichen westlichen politischen Philosophie. Vertragstheorien werden hier mit Bezug auf dieses Verhältnis thematisiert und nicht als hypothetische Modelle der Entstehung der Gesellschaft.1 Im Kontext der hier vorgelegten Nietzsche’schen Analyse der Schuldenökonomie der Gegenwart folgt aus seiner Perspektive auf die Vertragstheorien eine grundsätzliche Kritik ihrer Bilder des Menschen als Bürger, welches bis heute für das gängige Verständnis vom Vertrag zwischen Schuldner und Gläubiger bestimmend ist. Vertragstheoretische Modelle speisen sich im Wesentlichen aus zwei Quellen, zum Einen aus der Idee des Eigeninteresses, wie sie etwa in der Philosophie von Thomas Hobbes entwickelt wurde, und zum Anderen aus der Idee des Eigentums an der eigenen Person, wie sie beispielhaft in der Philosophie von John Locke zum Ausdruck kommt. Diese Spielart der Vertragstheorie kann als „Kontraktarianismus“ der liberalen politischen Philosophie bezeichnet werden, um sie von dem „Kontraktualismus“ der (kantischen) Moralphilosophie der Gerechtigkeit, z. B. bei Rawls, zu unterscheiden (Darwell 2002). Diese beiden Ideen stellen das Menschenbild der Vertragspartner im Gläubiger-Schuldner-Modell als freie und autonome Individuen dar, die Verträge abschließen, welche für den Schuldner durch das Eigentum an der eigenen Person verbürgt sind (Pateman 2007). Darüber hinaus ist die Idee der Äquivalenz

1 Vertragstheoretische Modelle der Gesellschaftsgründung bieten Nietzsche zufolge ein unrealistisches Bild einer freiwilligen Zustimmung und Einigung in Bezug auf einen Gesellschaftsvertrag. Die ersten Staaten waren seiner Ansicht nach vielmehr eine grausame Tyrannei, woraus folgt, dass für Nietzsche die gesellschaftlichen Vertragstheorien von Locke, Hobbes und Rousseau als juristische Fiktionen erscheinen.

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aufs Engste mit derjenigen der Autonomie verbunden, weil die Partner im Vertrag in ihrem Willen, einen Vertrag abzuschließen, gleich sein sollen. Ich werde im Folgenden argumentieren, dass Nietzsches Modell sowohl eine genauere Sicht auf die Probleme der Schuldenökonomie als auch Lösungsansätze bietet. Die Lösung besteht in einer Ethik der Generosität, die aus Nietzsches Modell abgeleitet werden kann (Schrift 1997). Das Schuldenproblem ist akut und gravierend. Die Mehrzahl der Menschen in den westlichen Industriegesellschaften sind „verschuldete Menschen“, insofern private und öffentliche Schulden die Ökonomie in den letzten Jahrzehnten zunehmend bestimmt haben. Schulden von Individuen, Haushalten, Unternehmen und Staaten türmen sich auf. Staaten werden quasi insolvent. Das vertragstheoretische Modell Locke’scher und Hobbes’scher Provenienz hat keine begrifflichen Instrumente, um die gegenwärtige Form der Schuldenökonomie kritisch zu prüfen, und rechtfertigt damit indirekt eine Schuldenökonomie, die als Zinswirtschaft in einem monetarischen System verankert ist, das weder gerecht noch nachhaltig ist. Nietzsches Gläubiger-Schuldner-Modell wird im Vergleich zum vertragstheoretischen Modell als deskriptiv genauer und normativ reicher interpretiert, was die Analyse der Schuldenökonomie der Gegenwart betrifft. Bei der Interpretation der normativen und lösungsorientierten Aspekte von Nietzsches Modell wird von Luce Irigarays Interpretation der Philosophie Nietzsches ausgegangen, genau genommen von ihrer Betonung der produktiven Differenz im Verhältnis von Geben und Nehmen in Geschlechterbeziehungen. Das Geben und Nehmen in diesem Zusammenhang ist in seiner Idee der Differenz der Partner und nicht in einer kontrakttheoretischen Idee der Gleichheit der Partner begründet. Nietzsche bleibt in vielerlei Hinsicht dem traditionellen, hierarchisch bestimmten Ungleichgewicht in der Beziehung der Geschlechter verhaftet. Irigarays Anliegen ist es daher, die produktive Differenz aus der überlieferten Geschlechterdogmatik herauszulösen, um die produktiven Kräfte der Differenz zu entfesseln. Voraussetzung für die Differenz und auch für die Asymmetrie ist Nietzsches Konzeption vom Menschen als eines leiblichen und somit auch relationalen Subjekts, denn leibliche Individuen werden in persönliche Beziehungen, sozio-kulturelle und materielle Kontexte hineingeboren. Nimmt man diese Voraussetzungen ernst und rekonstruiert dementsprechend Nietzsches Bild vom Geben und Nehmen in den Geschlechterbeziehungen, ergibt sich ein dynamischeres Bild des GläubigerSchuldner-Verhältnisses, das sowohl interpersonelle und intergenerationelle Verhältnisse als auch Verhältnisse zu Natur und zur Erde miteinschließt. Im Zuge meiner Lektüre des abschließenden Teils der II. Abhandlung in Zur Genealogie der Moral, wo Nietzsche über die Möglichkeit eines neuen guten Gewissens spricht, werde ich eine Ethik der Generosität herausarbeiten, das für ein alternatives Verständnis Gläubiger und Schuldner steht. Es wirft auch ein anderes Licht

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auf die Finanzschulden unserer Gegenwart. Eine Ethik, die auf einer Philosophie der menschlichen Leiblichkeit beruht, hat ein anderes Verständnis von Vertrag zur Folge; es kann einen produktiven Umgang mit Schulden von Staaten und Individuen bedeuten. Nietzsches Betonung des Menschen als eines leiblichen Wesens gehört zu den großen Neu- bzw. Wiederentdeckungen der Philosophie, die im 20. Jahrhundert in der Phänomenologie des Leibes und in der feministischen Philosophie aufgenommen und fortgeführt wurden (Thorgeirsdottir 2011). Nietzsches Philosophie des Menschen als eines leiblichen Wesens unterminiert, wie hier argumentiert wird, die einseitig individualistische Idee des Menschen in den Vertragstheorien, die auf die Idee der Vertragspartner bei Hobbes und Locke zurückzuführen sind.

1 Kritik des Kapitalismus in Nietzsches Philosophie Es mag befremdlich klingen, wenn Nietzsches Philosophie in der Genealogie der Moral als Kritik der Schuldenökonomie des Spätkapitalismus ausgelegt wird, da Nietzsche des Öfteren als Fürsprecher eines Kapitalismus der Ausbeutung verstanden wird. In der Tat gibt es vor allem in seiner Spätphilosophie Äußerungen, die mit einer „Apologie“ eines solchen Kapitalismus „(vordergründig) verwechselbar“ sind, z. B. wenn Nietzsche die Ausbeutung im Namen der Schöpfer der Werte und der Kultur gegen die „Nivellierung und Vermittelmäßigung des Menschen“ bejaht (Ottmann 2000/2011, 263).2 Nietzsche war der Ansicht, dass Ausbeutung unvermeidlich und sogar notwendig ist. Insofern das Ziel des Kapitalismus darin besteht, Profite zu erwirtschaften, scheint dies in Einklang mit Nietzsches Idee der Machtsteigerung zu sein. Die herrschende Kaste seiner Zeit erschien Nietzsche als unwürdig und ihrem Status nicht gewachsen. Die zentrale Frage ist deshalb die Frage nach dem Sinn von Machtsteigerung. In der modernen Schuldenökonomie ist der Sinn unserer hektischen Dynamik zur Bedienung unendlicher Schulden zu einem Selbstzweck geworden, die die Frage nach dem Sinn unserer Anstrengungen unmöglich macht. Die Schuldenökonomie hat sich im Sinne des asketischen Ideals verselbstständigt. Das unkritische ökonomische Denken, der Glaube an die Wahrheit und Richtigkeit dieses

2 „Moralisch geredet, stellt jene Gesammt-Maschinerie, die Solidarität aller Räder, ein maximum in der Ausbeutung des Menschen dar: aber sie setzt solche voraus, derentwegen diese Ausbeutung Sinn hat.“ (NL 1887, 10[17], KSA 12, 463)

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Systems der Schuldenökonomie, ist wie eine säkulare Religion, die Norgaard „Kirche des Ökonomismus“ nennt (Norgaard 2015). Es sind vor allem die kritischen Bemerkungen zur Entwicklung des Sozialismus, die Denker wie Lukács und Mehring Nietzsche als Apologeten des Kapitalismus interpretiert haben (Lukács 1960, 312; Mehring 1961). Um die Frage nach dem Sinn der gegenwärtigen Form des Finanzkapitalismus zu stellen, ist es hilfreich, bestimmte Parallelen zwischen Nietzsches Einstellung zum Sozialismus und derjenigen zum Kapitalismus genauer zu untersuchen. Nietzsche war ein Kritiker des Sozialismus, er sah darin eine nivellierende Massenbewegung, „Maschinenkultur, Erwerbsarbeit und Geschäftemachen“ (Schallmayer 2009, 78). Sein Bild vom Kapitalismus ist vielfältiger. Seine Kritik am Kapitalismus ist unter anderem, wie Heit bemerkt, vor dem Hintergrund einer „geistesaristokratischen Gesinnung“ formuliert worden (Heit 2009, 179). Er kritisierte die Krämermentalität, die kapitalistische Entfremdung und Gier, glaubte aber nicht, dass Sozialisten im Vergleich zu den Kapitalisten weniger von Gier und Habsucht getrieben sind. Daher argumentiert Ottmann, dass Nietzsche im Allgemeinen die Ökonomisierung in Folge des Kapitalismus kritisiert, und die Hierarchie von Ökonomie und Kultur umstürzen wollte (Ottmann 1987, 27–30). Die Tatsache, dass Nietzsche sehr früh die Ökonomisierung der Politik erkannte, macht seine Philosophie für das Verständnis der Vorgeschichte und Entwicklung zur Ökonomisierung der Politik der Gegenwart so bedeutsam. In Menschliches, Allzumenschliches bekennt sich Nietzsche dazu, weder, wie es in der Terminologie des 20. Jahrhunderts heißen würde, Kapitalist noch Kommunist zu sein, wenn er schreibt: „Nicht gewaltsame neue Vertheilungen, sondern allmähliche Umschaffungen des Sinnes thun noth, die Gerechtigkeit muss in Allen grösser werden.“ (MA I 452, KSA 2, 294) Diese Einstellung klingt auch in einer Stelle aus dem Zarathustra durch, wo Nietzsche den Willen zum Geld kritisiert, weil dieser dem Willen zur Macht entgegenstehe: „Reichthümer erwerben sie und werden ärmer damit. Macht wollen sie und zuerst das Brecheisen der Macht, viel Geld – diese Unvermögenden!“ (Z I Vom neuen Götzen, KSA 4, 63). Diese Behauptungen zeigen, argumentiert Ottmann, dass Nietzsche gar für „eine Kultur ohne Kapitalismus spricht“ (Ottmann 1987, 27–30). Der Kapitalismus, den Nietzsche zu seiner Zeit erfahren hat, ist in vielerlei Hinsicht nicht zu vergleichen mit der Form des Kapitalismus, den wir heute in der westlichen Welt kennen. Der Kapitalismus hat sich im letzten halben Jahrhundert immer mehr vom klassischen Produktionskapitalismus zu einem immer mächtiger werdenden Finanzkapitalismus entwickelt. Aber selbst wenn Nietzsches Kritik des Kapitalismus nicht ökonomisch im engeren Sinn der gegenwärtigen Form der Finanzökonomie ist, sollte sie dennoch nicht auf eine nur „aesthetisch-kritische“ Kritik des Kapitalismus reduziert werden (Schallmayer 2009, 78). Man verliert dabei nämlich aus dem Auge, dass Nietzsche sehr wohl von der Ökonomie aus-

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geht, wie besonders deutlich wird in der Abhandlung über Schuld in Zur Genealogie der Moral. Neuere Interpreten wie etwa Enkelmann und Scharff haben diese materiell-ökonomischen Aspekte der Philosophie Nietzsches als eine Philosophie der Ökonomie rekonstruiert (Enkelmann 2012; Scharff 2012). In den letzten Jahrzehnten hat sich immer deutlicher herausgestellt, dass Staatsschulden die politischen und ökonomischen Mächte in immer größerem Maße bestimmen. Durch die staatliche Verschuldung entwickelt sich ein Machtverhältnis, das Politik und Ökonomie stärker aneinanderbindet. Politik und Finanzökonomie sind vereint worden, zum Schaden der demokratischen Politik. Die Imbalance zwischen Gläubiger und Schuldner im Schuldenverhältnis entscheidet zugleich, wer die Macht hat. Kriege müssen nicht mehr nur mit Waffen geführt werden, um in die inneren Angelegenheiten eines Staates eingreifen zu können. Von innen können Staaten von korrumpierenden Finanzmächten und von außen von globalen Konzernen und Finanzinstitutionen in wesentlichen Aspekten beherrscht werden.

2 Nietzsches Philosophie der Schulden und die Schuldenökonomie In der Abhandlung über Schuld in Zur Genealogie der Moral wird eine materielle Ökonomie als Grundlage der Moral in der Form des Gewissens dargelegt. Subjekte entstehen in Gläubiger-Schuldner-Beziehungen, indem sie durch Versprechen und Erinnerung an die Schuld konditioniert bzw. subjektiviert werden. Auf dieser Stufe ist das ökonomische Grundverhältnis ein „Verhältnis von Individuen und kleinen Gruppen“, aber Nietzsche legt eine Art Stufentheorie der ökonomischen Entwicklung dar (Stegmaier 1994, 139). Vor der Zeit der Geldwirtschaft, (was einen großen Schnitt und einen gewaltigen zivilisatorischen Sprung bedeutete) ging es um Tauschverhältnisse, die ihren Ursprung im vergleichenden und wertenden Denken haben. Dies ist für Nietzsche das ursprünglichste Personenverhältnis, das Verhältnis zwischen Käufer und Verkäufer, Gläubiger und Schuldner: … hier trat zuerst Person gegen Person, hier mass sich zuerst Person an Person. Man hat keinen noch so niedren Grad von Civilisation aufgefunden, in dem nicht schon Etwas von diesem Verhältnisse bemerkbar würde. Preise machen, Werthe abmessen, Äquivalente ausdenken, tauschen – das hat in einem solchen Maasse das allererste Denken des Menschen präoccupirt, dass es in einem gewissen Sinne das Denken ist. (GM II 8, KSA 5, 306)

Nietzsche fragt des Weiteren, ob das Wort Mensch („manas“) „abschätzendes Thier“ bedeutet, obwohl er keine eindeutigen Belege dafür liefern kann. Das

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Gläubiger-Schuldner-Verhältnis ist als ältestes Personenverhältnis zugleich das erste „Gleichstellungs- und Gleichheitsverhältnis“, wie Stegmaier bemerkt (Stegmaier 1994, 142). Dabei ist wichtig anzumerken, dass diese Gleichstellung eine Gleichsetzung von Nicht-Gleichen ist, weil es immer eine Asymmetrie in der Beziehung gibt, die die Partner zu einem Schuldner und Gläubiger macht. Die Schuld ist in einer Beziehung immer vorhanden und stiftet die Bindung zwischen Personen, die daher nie auf vollkommener Gleichheit beruhen kann. Dies ist keine Logik der Äquivalenz der Tauschverhältnisse, sondern eine Logik der Ungleichgewichte und Differenz. Im Vergleich mit Marxens politischer Ökonomie wird hier ein „nicht-ökonomisches Konzept der Ökonomie“ vorgelegt, das auf subjektiven und subjektivierenden Wertsetzungen beruht (Lazzarato 2012, 42 f.). Dass die Ungleichheit am Anfang steht, markiert die entscheidende Stelle der Differenz zwischen Nietzsche und Theoretikern des Gesellschaftsvertrags.3 Theorien des Gesellschaftsvertrages besagen, dass die Gesellschaft vertraglich von Individuen begründet wird, die sich dann freiwillig einem Gesellschaftsvertrag unterordnen. Gegen solche Theorien stellt Nietzsche seine Lehre vom Willen zur Macht, nach der die Grausamkeit, ein Prozess des Überwältigens am Anfang steht. Aus dieser Perspektive erscheint ihm das vertragstheoretische Modell der Staatsgründung als „Schwärmerei“ und als basierend auf einem Wunschbild von freien, gleichen Individuen (GM II 17, KSA 5, 324). Seinem willenstheoretischen Ansatz zufolge entsteht die Gesellschaftsordnung vielmehr im Zuge eines Überwältigungsprozesses, der Menschen in Herrschende und Beherrschte aufteilt. Die moderne Marktwirtschaft ist dementsprechend eine zivilisierte Form der Grausamkeit, die zu Beginn unverschleiert in Erscheinung tritt. Nietzsches Modell ist ein deskriptives Instrument, das nützlich ist, um zu zeigen, dass die jetzige Form der Schuldenökonomie keine Marktökonomie des freien Tauschhandels ist. Das vorherrschende System eines freien Tauschhandels der Schuldenökonomie basiert auf dem Credo, dass alle frei sind, aber es lässt die Tatsache unterbelichtet, das alle dem gegenwärtigen System der Schuldenökonomie unterworfen oder diesem gegenüber mehr oder weniger ohnmächtig sind. Die Entwicklung zum Staat, in dem das schlechte Gewissen verinnerlicht worden ist und sich Bürger selbst regulieren und zensieren, geht einher mit der Entwicklung der Religion, die Nietzsche genealogisch und auch intergenerationell denkt. Man schuldet sein Leben den Vorfahren und hat diese Schuld abzugelten. Der Ahnherr wird zuletzt in einen Gott transfiguriert. Die Schuld nimmt des  

3 Siehe den Aufsatz von Babette Babich in diesem Band zu Nietzsches Kritik der Gleichheit als Grundlage der Gerechtigkeit. Um gerecht zu handeln, müsse von der Differenz anstatt vom Prinzip der Gleichheit ausgegangen werden.

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Weiteren die Form der Erbsünde, einer untilgbaren Schuld an. Durch den Opfertod des Gottessohnes nimmt Gott diese Schuld auf sich. Dadurch wird die Schuld unendlich und untilgbar. Die Entwicklung einer solchen unendlichen Schuld spiegelt sich im Finanzkapitalismus, d. h. in dessen Zinswirtschaft wider. Exponentielles Wachstum von Schulden in der Form von Zinsen führt dazu, dass Schulden immer größer werden, sodass selbst ein wachsendes Einkommen keineswegs mit dem sich auftürmenden Schuldenberg Schritt halten kann. So arbeitet das Geld, um mehr Geld zu machen, und das führt dazu, dass die Ökonomie unter den Bedingungen der Schuldenökonomie und unter kulturellen, korruptionsfördernden Bedingungen immer mehr aus dem Gleichgewicht kommt. Schulden, die ein Staat nicht in der Lage ist zu bezahlen, werden zu unendlichen und untilgbaren Schulden. Hier scheint Nietzsches Analyse wie die Faust auf das Auge der Krise des gegenwärtigen Finanzkapitalismus zu passen. Wir stecken mitten in einer Krise, die vor allem durch ein unausgeglichenes System der Schuldenökonomie hervorgerufen wird. Nietzsches Analyse in der Genealogie der Moral hat, wie bereits erwähnt, nicht nur deskriptive, sondern auch normative Implikationen. Das hat u. a. damit zu tun, dass Nietzsche auf die leibliche und wertsetzende Dimension des Menschen in der Schuldenökonomie verweist. Das System dieser Ökonomie ist eine kulturelle Organisation von lebenden Menschen, die hinter ihren Möglichkeiten und Bedürfnissen zurückbleiben. Die normativen Implikationen können mit Hilfe von Luce Irigarays Interpretation der Philosophie Nietzsches sehr viel deutlicher herausgestellt werden. Irigaray hat Nietzsche ein Buch gewidmet, das Amante Marine heißt, was mit Meeresgeliebte übersetzt werden kann. Im Korpus der Schriften von Luce Irigaray hat dieses Buch eine ähnliche Stellung wie Also sprach Zarathustra in Nietzsches Werk. Es ist ein poetisches Werk, aber darüber hinaus wird darin ein amouröser Dialog zwischen der Person des Philosophen und der Philosophie Nietzsches vorgeführt. Die Dialogpartnerin ist eine Geliebte aus dem Meer, sie repräsentiert das Werden und die Erde, und so wird ein Dialog mit dem stillen Untergrund in Nietzsches Philosophie, dem Materiellen, vorgeführt (Mortensen 1989). In seiner Absage an das Jenseits betont Nietzsche immer wieder, dass man durch das Leibliche zurück zur Erde finden müsse. Als leibliche Wesen sind wir Teil der Erde, wir gehören ihr als leibliche Wesen an. Nichtsdestoweniger meint Irigaray, dass Nietzsche diese radikale Einsicht nicht genügend ausgeschöpft hat. Daher muss er daran erinnert werden, was Irigaray Anlass gibt Nietzsches Betonung des Irdischen mit ihrer Interpretation des Gekreuzigten deutlicher herauszustellen (Irigaray 1991, 164–190). Sie interpretiert das Symbol von Christus jenseits traditioneller Moral, als Vertrag zwischen dem „Wort und der Natur, zwischen logos und kosmos.“ (Irigaray 1991, 190) Es findet eine Eheschließung statt, die nie vollgezogen worden ist und die durch den Geist  

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der Maria (Maria, Meer) erneuert wird. Der Geist ist hier nicht Zeugnis der Liebe zwischen Vater und Sohn, sondern der Geist ist, was „Fleisch geworden ist oder Fleisch werden kann.“ (Irigaray 1991, 190) In einem anderen Werk, Passions élémentaires (Elementare Lüste), ist Irigaray wie Nietzsche darum bemüht, das dualistische Weltbild, ein Erbe der platonisch-christlichen Metaphysik, zu de- und rekonstruieren (Irigaray 1992). Sie beginnt ihr Buch mit den Worten, dass der Mensch zwischen zwei Transzendenzen gespalten sei: seinem Gott und seiner Mutter. Der Vater/der Mann ist geschaffen nach dem Bild Gottes, aber die Mutter/die Frau ist nicht als Transendenz im selben Sinne anerkannt worden. Außer der Rolle Marias als Mutter Gottes, haftet der Frau nichts vergleichbar Göttliches an. Das ist der Selbstachtung von Frauen, der Liebe zwischen Müttern und Töchtern und der Liebe zwischen den Geschlechtern nicht förderlich gewesen. Irigaray kommt zum Schluss, dass: „Liebe zwischen den Geschlechtern, in der Naturen und Götter vereint und fruchtbar sind, wesentlich ist für die Entdeckung individuellen und kollektiven Glücks, das zugleich empirisch und transzendental ist.“ (Irigaray 1992, 5)4 Was hat nun dieser abgehoben klingende Appell, durch die Vereinigung und Liebe der Geschlechter zur Mutter Erde zurückzukehren, mit einer kritisch-transformativen Sicht auf die Schuldenkrise zu tun? Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir zurück zur Logik des Ungleichgewichts der Gläubiger-SchuldnerBeziehung. In der heutigen Finanzökonomie wachsen die Schulden von Individuen, Haushalten und Staaten durch exponentielles Wachstum in die Höhe. Das Gleichgewicht zwischen der materiellen Grundlage – durch Produktion und Konsumption – und den Schulden ist schon längst aus den Fugen geraten. Die materielle Grundlage der Einkünfte steht im Widerspruch zu einer Logik des Wachstums der Schulden, die exponentiell anwachsen und unendlich werden. Die Finanzschulden sind uns vielerorts über die Köpfe gewachsen und zu unendlichen sowie untilgbaren Schulden geworden. Wir leben in einem Zustand der Verschuldung. Jedes Kind in Europa wird mit einer Schuldenlast geboren.5 Daher kann man die Schuldenlast mit der alten Erbsünde vergleichen. Wir werden mit Schulden geboren und bringen von Anfang an, mit Nietzsche gesprochen, ein schlechtes Gewissen mit. Verschuldet zu sein führt psychologisch zu einem schlechten Gewissen, weil sich der Schuldige schämt und weil er nicht selten

4 Passions élémentaires gibt es noch nicht in deutscher Übersetzung. Diese Übertragung ist auf der Grundlage der Englischen Übersetzung des Buches: „A love between the sexes, in which natures and gods are united and fertile, is essential to the discovery of an individual and collective happiness, one which is both empirical and transcendental.“ 5 Siehe http://www.staatsschuldenuhr.de/.

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versucht, seine Misere zu verheimlichen. Die Moralisierung des Verschuldeten wird in Urteilen über insolvente Staaten deutlich. So wurden etwa im letzten Jahr in öffentlichen Debatten die Griechen häufig mit den fleißigen und sparsamen Deutschen verglichen und als faule Verschwender beschrieben. Wenn man Schuldner und Gläubiger vorwiegend so beschreibt, dann verstellt man den Blick auf die Kräfte, die diese Vertragspartner bestimmen. Banken waren allzu bereit, Staaten Darlehen zu gewähren, ohne sicherzustellen, dass diese in der Lage sind, derart viel Schulden auf sich zu nehmen. Die Gier der Geldgeber hat ferner die Korruption gefördert, insofern die aus Gier handelnden Verschuldeten sorglos und ohne Rücksicht auf das Allgemeinwohl mit dem Darlehen umgingen. In der Debatte um die richtige Antwort auf die daraus entstandene Finanzkrise waren auch moralisierende Töne zu vernehmen. Im Englischen war meist die Rede von einer „Vergebung“ der Schulden („forgive debt“) Griechenlands, wobei die Verpflichtung zur Sühne und Buße im Begriff des Schuldenerlasses als „forgiving debt“ mitklingt. Der größere Zusammenhang eines mangelhaften Systems, in dem dies alles sich ereignet, wird dabei aus dem Auge verloren, nämlich dass eine Adressierung von „Guten“ und „Bösen“ eine Vereinfachung der Sachlage ist. In der Abhandlung über Schuld und schlechtes Gewissen in der Genealogie der Moral geht es Nietzsche um eine Befreiung aus diesem Zustand des schlechten Gewissens, das einer Moral der Ressentiments entspringt. Sein Lösungsmodell, das auf die Probleme der christlichen Moralisierung abzielt, kann auch für eine deskriptiv-normative philosophische Analyse der Schuldenproblematik fruchtbar gemacht werden.

3 Das neue gute Gewissen und die Ethik der Generosität Nietzsches Auffassung von Gerechtigkeit in der Genealogie zur Moral ist in diesem Kontext wesentlich. Bekanntlich widerspricht er der These Eugen Dührings, dem zufolge die Gerechtigkeit ihren Ursprung in der Rache, d. h. im Ressentiment hat (Brusotti 2010, 70). Gerechtigkeit ist Nietzsche zufolge nicht das Ergebnis einer Reaktion, also etwas, das aus dem Bedürfnis nach Rache entstanden ist, sondern eine aktive, positive Haltung. Der Ursprung der Gerechtigkeit liegt im SchuldnerGläubiger-Verhältnis. Gerechtigkeit hat im Affektiven ihren Ursprung, wie „Herrschsucht, Habsucht und dergleichen“ (GM II 11, KSA 5, 310). Das sind dominierende Affekte, aber sie resultieren, so paradox das klingen mag, finanziell gesehen, nicht als aus Geiz und Gier. Nietzsche verknüpft die Gerechtigkeit als ein aktives Vermögen mit Generosität. Hier sind wir an dem Punkt angelangt,

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an dem man in Nietzsches Philosophie Anzeichen einer Ethik der Generosität verorten kann, die unter anderem Bataille in seinem Nietzsche-Buch thematisierte (Bataille 2015). Im Kapitel „Von der schenkenden Tugend“ des Zarathustra spricht Nietzsche von dieser Tugend als einer höchsten Tugend. Zarathustra ist der Schenkende, aber er ist sich auch schmerzhaft bewusst, dass genuines Schenken schwierig ist und nicht auf Gegenseitigkeit ausgelegt ist. Hier kann eine Verbindung zwischen dem Schenken und dem Gläubiger-Schuldner-Modell festgestellt werden. Die Ökonomie der Generosität gründet wie das Verhältnis zwischen dem Gläubiger und dem Schuldner auf einer Asymmetrie. Peter Sloterdijk (2008) hat Batailles Interpretation von Nietzsches Idee der schenkenden Tugend als eine Ökonomie des Stolzes aufgenommen und weitergedacht. Auf die Geldwirtschaft übertragen bedeutet eine stolze Generosität, dass Investoren nicht nur auf Profite aus sind, sondern ihr Geld auch aus Stolz weitergeben, weil dies ihnen Glück gibt (Sloterdijk 2008, 54–59). Sloterdijk hat hier etwas anderes vor Augen als das bloße philanthropische Spenden vermögender Leute für Kultur, Künste und humanitäre Zwecke. Solche Gaben stellten lediglich das Sonntagsgesicht der Gier dar (Sloterdijk 2008, 59). Es geht ihnen Sloterdijk zufolge um die Rettung ihrer eigenen Seele, denn sie verachten sich selbst für ihre Gier und ihren „unverdienten Gewinn“ (Sloterdijk 2008, 302). Im Zuge einer wirklichen „Thymotisierung des Kapitalismus“ erhofft sich Sloterdijk, dass der Kapitalismus gespaltet und sein Gegensatz aus ihm selbst geschaffen wird (Sloterdijk 2008, 59). Wie dieser Gegensatz auszusehen hat, bleibt dabei unklar. Klar ist nur, dass Sloterdijk gegen die Aufrechterhaltung des Wohlfahrtsstaates im jetzigen Sinne und gegen Steuererhöhungen ist – er sieht auch keine Steuer für Reiche vor, wie es Piketty in seinem Buch über den Kapitalismus der Gegenwart empfiehlt (Piketty 2014). Sloterdijks Überlegungen stehen gewiss im Einklang mit Nietzsches Ideen zu großen Persönlichkeiten, die frei von Gier und Ressentiment sind. Der einseitige Individualismus in Sloterdijks Modell ist aber genauso problematisch wie der einseitige Individualismus des Vertragsmodells. Ein vertragstheoretisches Modell soll auf objektiven, quantitativen Objekten eines äquivalenten Austausches beruhen. Das Vertragsmodell ist damit letzten Endes ein Geschäftsmodell, bei dem der Warentausch zwischen gleichen und freien Partnern Vorbild ist. Beide Modelle, das vertragstheoretische ebenso wie Sloterdijks einseitig individualistisches Modell, können Nietzsches Bild des leiblichen und daher relationalen und kontextualen Menschen nicht gerecht werden (Thorgeirsdottir 2016). Ein Beispiel für die nicht wegzudenkende Relationalität des Individuums ist das Eltern-Kind-Verhältnis. In die Terminologie einer gesellschaftlichen Ethik der Gegenwart übertragen, ist hier eine Relationalität grundlegend, die Gerechtigkeit und Fürsorge auf der gesellschaftlichen Ebene miteinander verbindet (Thorgeirsdottir 2015). Eine fürsorgliche Einstellung darf nicht mit Selbstaufopferung ver-

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wechselt werden, denn man muss sich um die Bedürfnisse aller Beteiligten kümmern. Eine fürsorgliche Ethik der Generosität ist der vertragstheoretisch fundierten Regulation der Schuldenökonomie, die auf Eigeninteresse und Eigentum an der eigenen Person baut, normativ überlegen. Ein solches Modell ist daher nicht so paternalistisch wie das Modell, das Sloterdijk vor Augen hat. Generosität hat nichts mit Gönnerschaft, sondern mit Fürsorge im weitesten Sinne als Grundlage einer gerechten Gesellschaftsordnung zu tun (Held 2007). Gesellschaftliche Fürsorgemodelle haben Differenz und Asymmetrien als Ausgangspunkt. Das heiβt auch, dass die traditionellen ökonomischen Gegenübersetzungen von Mangel und Fülle vermieden werden, weil Experimente im Sinne einer generösen Ökonomie nicht auf einem solchen Gegensatz aufbauen, wie das der Fall in der Schuldenökonomie ist. Die dualistische, oppositionelle Logik der GläubigerSchuldner-Beziehung der liberalen Vertragstheorien wird durch Nietzsches Ethik der Generosität zum Problem erhoben. Das vertragstheoretische Modell kann nicht dem Ungleichgewicht im System der Schuldenökonomie Rechnung tragen. Auf der Grundlage der Ethik der Generosität wird die aus der Schuldenökonomie abgeleitete Logik der Gegensätze von Selbst und Anderem, von Gier und Generosität, von Mangel und Überfülle problematisiert. Das Vertragsmodell erlaubt keinen Blick auf den größeren Kontext der Schuldenökonomie in der gegenwärtigen Form des Finanzkapitalismus. Schuldner und Gläubiger befinden sich in einem System unter den Bedingungen der imbalancierten Schuldenökonomie, wo sie aufeinander angewiesen sind, insofern die Imbalance des Systems auch dem Gläubiger längerfristig schaden kann. Das System der Schuldenökonomie macht verletzbar und setzt alle einem Risiko aus. So wird etwa gegenwärtig in den USA in politischen Debatten über die jüngeren Generationen viel über die Schulden der Studenten gesprochen. Übermäβige Schulden aufgrund erhöhter Studiengebühren belasten dermaßen, dass es jungen Leuten mit Hochschulabschluss erheblich erschwert wird, an der Gesellschaft teilzunehmen. Schulden und Arbeitslosigkeit bei der jungen Generation gefährden die gesellschaftliche Stabilität, soziale Kohärenz und soziale Reproduktion. Nietzsches Modell von Gläubiger und Schuldner ist nicht nur aus der Perspektive der leiblich fundierten Relationalität von Menschen fruchtbar, sondern es stellt auch einen Bezug zur Erde her, das heißt zu den reellen materiellen Bedingungen leiblicher Subjekte. Wie oben dargelegt, haben wir es heute mit einem Finanzsystem zu tun, in dem das Verhältnis zwischen der materiellen Grundlage der Einkünfte und der Logik der finanziellen Profite der Gläubiger aus dem Gleichgewicht geraten ist. Geld als Profit ist ent-materialisiert, enterdet, deterritorialisiert. Unter den Bedingungen der Schuldenökonomie belasten wir zukünftige Generationen mit finanziellen Schulden. Darüber hinaus verschulden wir uns gegenüber diesen Generationen, indem wir von künftigen materiellen

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Ressourcen leben. Durch die analytischen Instrumente eines vertragstheoretischen Modells können solche Schulden nicht in einem gesamtheitlichen Zusammenhang erkannt werden. Die Partner, die aus der Zukunft kommen, sind nicht frei und gleich. Nach dem Schuldner-Gläubiger-Modell Nietzsches, das im leiblichen und daher relationalen Subjekt begründet ist, stehen wir mit nachfolgenden Generationen in einem Verhältnis. Die Asymmetrie der Interrelationalität dieses Modells wird besonders deutlich, wenn es um Fragen wie die nach der Intergenerationalität geht. Wir tragen Verantwortung den Zukünftigen gegenüber. Auf der Grundlage dieser Ideen über die asymmetrischen Beziehungen von leiblichen Subjekten, die von der Erde und, die in Beziehung zu anderen Subjekten stehen, haben Philosophinnen wie Irigaray argumentiert, dass wir eine andere Sozialordnung imaginieren und entwerfen können. „Statt einer ökonomischen und sozialen Ordnung, die dem Warenaustausch unter Bedingungen des Mangels verpflichtet sind, wird eine neue Sozialordnung möglich, eine Ordnung, die von einem anderen Verhältnis zur Natur, Materie, Leib, Sprache und Lust gekennzeichnet ist“ (Schrift 1997, 13).6 In diesem Geist einer Ethik der Generosität werden gegenwärtig viele Experimente entwickelt und gemacht. Eine derartige Ethik der Generosität hat im Zusammenhang mit dem imbalancierten System der Schuldenökonomie nicht im engeren Sinne mit Fragen der Austeritäts- und Antiausteritätspolitik zu tun, denn diese Debatte dreht sich um Umverteilungskämpfe innerhalb des bestehenden imbalancierten Systems der Schuldenökonomie. Die Experimente im Geiste der Ethik der Generosität gehören in einen anderen Zusammenhang, da sie direkt darauf zielen, Schulden zu vermeiden oder die jetzige Form der Geldwirtschaft regelrecht zu umgehen. Darunter finden sich Experimente im Namen der „Geschenkökonomie“ (Vaughan 2007, Joy 2013), im Sinne der „geteilten“ oder „kollaborativen“ Ökonomie“ (Rifkin 2014) und Versuche mit alternativen Währungen, die den Sinn haben, den Zwängen des imbalancierten monetarischen Systems der Schuldenökonomie zu entkommen. Es könnten viele andere Beispiele für solche postmonetarischen Praxen genannt werden, es ist ihnen jedoch allen gemeinsam, auf dem Gebiet der finanziellen Ökonomie „allmähliche Umschaffungen des Sinnes“ herbeizuführen (MA I 52, KSA 2, 294). Experimente zu diesem Zweck zielen daher darauf, das Modell der Schuldenökonomie in eine solidarische und nachhaltige Finanzökonomie umzuwandeln.

6 „Instead of an economic and social order committed to rules of commodity exchange under conditions of scarcity, a new social order would be possible, an order characterized by a different relation to nature, matter, the body, language and desire.“

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In der Abhandlung über Schuld und schlechtes Gewissen in der Genealogie der Moral kommt Nietzsche am Ende auf Gott zu sprechen, der durch den Opfertod des Sohnes alle Schuld auf sich nimmt. Diesem Gott sind wir damit auf ewig verpflichtet, so wie Nietzsche diese Idee der Schuld aus dem Neuen Testament auslegt. Lazzarato, der die Schuldenökonomie vor dem Hintergrund von Nietzsches Philosophie der Schuld/en analysiert, kommt auch zum Schluss, dass die Logik der gegenwärtigen Form der Schuldenökonomie den großen Gläubiger im Zentrum hat. Dieser Gott der Finanzökonomie ist für Lazzarato eine nihilistische Konstruktion. Er ist ein toter Gott, den wir den Glauben kündigen müssen, weil die gegenwärtige Form der Finanzökonomie von den materiellen Bedingungen des Lebens abgehoben ist und nicht nachhaltig ist. Am wichtigsten ist daher, die Regulationen der Schulden-Ökonomie zu ändern. Wenn Nietzsche die Beziehung zu Gott als ultimativen Gläubiger weitergedacht hätte, wäre er vielleicht auf die Idee eines Gottes anderer Art gekommen. Wenn wir Gott in Verbindung mit einer von Nietzsche inspirierten Ethik der Generosität bringen und mit den Gaben des Lebens und der Erde verknüpfen, ergibt sich ein anderes Bild. Es wäre eine Gottheit, der wir für alles, was gut ist, danken könnten. Es wäre eine Gottheit der schenkenden Tugend. Auf die Schuldenökonomie übertragen, würde dies eine Absage an einen Gläubiger-Gott darstellen und damit eine Absage an das monetarisch und ökologisch unnachhaltige System der Finanzökonomie. Eine Schuldenökonomie, die wie eine säkulare Religion funktioniert, braucht als Gegenkraft eine andere Konzeption von Gott, insofern die Ökonomie implizit von Idealen, die im obersten Ideal verankert sind, geleitet wird. Eine solche Gottheit wäre die Mutter Erde, die Göttin, die uns ernährt, und dementsprechend geachtet werden muss.7

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7 Ich danke Silvia Stoller für wertvolle Hinweise zur sprachlichen Verbesserung des Textes.

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Thomas Schmaus

Nietzsches letzter Mensch als transhumanistische Dystopie Abstract: Nietzsche’s Last Man – A Transhumanist Dystopia. Transhumanism aims at the (bio-)technological optimization of man – to his transformation onto a higher step (of evolution). The utopical goal of this process is variously connected to Nietzsche’s “Übermensch” (Overman). This Essay discusses, how far the antipode of the “Übermensch”, the so called “Letzte Mensch” (Last Man), represents a transhumanist dystopia. The caricature of the Last Man as a critical interpretament draws attention to a fatal transformation, which is already partially realized, because it is seen as promising. To analyze this misunderstanding this essay refers to the philosophy of Heinrich Rombach and its helpful distinction between systematic and structural ontology. Superficially they look alike, but deeply they involve plainly different conceptions of man, which can be found typologically in Nietzsche’s Last Man and Overman.

Sich auf Nietzsche als Vordenker einer provokanten Idee zu berufen, für die man hohe gesellschaftliche Relevanz beansprucht, ist bis heute ein charakteristisches Motiv in der Rezeptionsgeschichte seines Werkes. Eben eine solche Berufung ist der Anlass für die folgenden Überlegungen. Sie beziehen sich auf die These, Nietzsches Konzeption des Übermenschen stehe mit dem Anliegen des Transhumanismus in derart engem Zusammenhang, dass Nietzsche sich heute selbst dieser Bewegung verschreiben würde, die mithilfe modernster Technologien den Menschen auf eine höhere Stufe zu transformieren versucht (vgl. Sorgner 2009). Das Ziel dieser Umgestaltung, eine posthumane Existenz, deren Eigenschaften wir aufgrund unserer begrenzten kognitiven Fähigkeiten nur erahnen können, erscheint dabei als Utopie – wird also positiv verstanden und für erstrebenswert erachtet.1 Beschäftigt man sich allerdings näher mit dem transhumanistischen Projekt – seinen Motiven, seinen Mitteln und den gegenwärtig bereits vollzogenen Schritten –, dann kann man mit guten Gründen das zu erwartende Ergebnis dieses Umwandlungsprozesses als Dystopie interpretieren, als negative Utopie

1 Der Transhumanismus ist nicht die einzige philosophische Strömung, die posthumane Ziele fokussiert. Zu den verschiedenen posthumanistischen Konzeptionen vgl. Herbrechter 2009.

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also. Die Figur des letzten Menschen aus der Vorrede zu Nietzsches Also sprach Zarathustra (vgl. KSA 4, 18–21), so die These meines Beitrags, beschreibt pointiert und kritisch diese Dystopie. Der Gegentypus zum Übermenschen eignet sich daher – wie auch sein von transhumanistischen Fehlinterpretationen bereinigtes Pendant (vgl. Skowron 2013) – als kritisches Interpretament einer Strömung, die zwar im Wissenschaftsbetrieb eine Außenseiterrolle einnimmt, deren Suggestivkraft auf die Gesellschaft aber nicht zu unterschätzen ist. Die Karikatur des letzten Menschen macht auf eine verhängnisvolle Transformation aufmerksam, die gegenwärtig partiell bereits realisiert wird. Verhängnisvoll ist diese Entwicklung vor allem deshalb, weil sie von vielen nicht als verhängnis-, sondern als verheißungsvoll wahrgenommen wird – ein Missverständnis, das bereits in der Vorrede des „Zarathustra“ zum Vorschein kommt. Um meine These zu explizieren, werde ich zunächst kurz skizzieren, welche Ziele die transhumanistische Bewegung anstrebt und auf der Basis welcher theoretischen wie praktischen Grundlagen sie ihre Utopie erreichen will. In einem zweiten Schritt interpretiere ich den letzten Menschen aus Also sprach Zarathustra als mögliches Ergebnis transhumanistischer Bemühungen, das im Licht von Nietzsches kritischer Deskription als dystopisch erscheint. Das dritte Kapitel widmet sich schließlich der philosophischen Anthropologie Heinrich Rombachs, die meines Erachtens ein hilfreiches Erklärungsmodell für den Umstand bereithält, dass die transhumanistische Utopie in eine Dystopie führt bzw. führen könnte.

1 Ziele und Mittel des Transhumanismus Der Transhumanismus ist eine philosophische Strömung mit ideologischen Tendenzen – eine Weltanschauung, die sich nicht darauf beschränkt, die Welt nur anzuschauen, sondern bewusst und konsequent an ihrer Veränderung arbeitet, um über (lat. „trans“) das Menschliche (lat. „humanum“) hinaus zu gelangen. Man kann den Transhumanismus daher auch als politische Bewegung verstehen, die in Ansätzen dementsprechend organisiert ist, zum Beispiel in der Gruppierung „Humanity+“, die 1998 als „World Transhumanist Association“ gegründet wurde.2

2 Wenngleich in den verschiedenen transhumanistischen Interessensgruppen nahezu alle politischen Richtungen vertreten sind, sieht sich der Großteil originär liberalen Grundsätzen verpflichtet. Während explizit libertäre Varianten das individuelle Selbstbestimmungsrecht jeglicher staatlicher Einflussnahme entzogen wissen wollen, ist die einflussreichste Organisation „Human-

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In der gegenwärtigen Form existiert der Transhumanismus seit etwa dreißig Jahren, sein Grundanliegen wurde allerdings bereits einige Jahrzehnte früher durch den – im Übrigen auch begriffsbildenden – Biologen Julian Huxley formuliert.3 War der Mensch bis in die Moderne hinein der evolutionären Entwicklung passiv ausgeliefert, so gibt ihm nun die Genetik das theoretische und praktische Rüstzeug in die Hand, seine biologische Weiterentwicklung aktiv selbst zu gestalten – ein Umstand, den Huxley nicht nur indikativisch, sondern auch imperativisch versteht: Der Mensch kann und soll seine Evolution selbst vorantreiben (vgl. Heil 2010, 129–131). Während Huxley seine Überlegungen auf die Biologie und deren Möglichkeiten fokussierte, richten Transhumanisten späterer Generationen wie Fereidoun M. Esfandiary und der gegenwärtig bekannteste Vertreter Nick Bostrom ihr Augenmerk über bloß biotechnologische Verfahren hinaus auf den ganzen Bereich der „Converging Technologies“, zu denen auch Nano- und Informations- sowie Neurotechnologien gehören (vgl. Bostrom 2005, 3). Die hohe Technikaffinität der Transhumanisten, die sich nicht bloß auf bereits vorhandene, sondern auch auf prognostizierte Verfahren bezieht, die nicht selten (noch) der Science-Fiction zuzuordnen sind, führte dazu, dass der Transhumanismus trotz seiner verhältnismäßig geringen Anhängerschaft ein Spektrum an vielfältigen und zuweilen auch ziemlich abstrusen Positionen entwickelte. Man könnte also durchaus wie Jürgen Habermas (2001, 43) die Ansicht gewinnen, es handle sich dabei um „eine Hand voll ausgeflipperter Intellektueller“. Um dem Grundanliegen des Transhumanismus gerecht zu werden und diesen nicht von vornherein zu diskreditieren oder lächerlich zu machen, empfiehlt es sich daher, besonnene Vertreter in den Blick zu nehmen. Ich beschränke mich im Wesentlichen auf die Ausführungen von Nick Bostrom und versuche mit deren Hilfe den kleinsten gemeinsamen Nenner transhumanistischer Strömungen darzustellen. Ausgangspunkt ist eine Anthropologie, die den Menschen nicht als ein Wesen mit bleibenden notwendigen, also essentiellen Eigenschaften versteht, sondern als veränderliches Konstrukt, das nicht bloß von außen modifiziert wird (z. B. durch gewandelte Umweltbedingungen), sondern sich selbst dynamisch verändert: „human nature as a work-in-progress“ (Bostrom 2005, 4). Diese Dynamik ist eine qualifizierte Dynamik, geht es doch nicht einfach nur um den fließenden Wandel dessen, was Menschsein heißt, sondern um Verbesserung und

ity+“ eher sozialliberal orientiert und befürwortet in gewissem Umfang staatliche Regelungen. Vgl. Heil 2010, 136 f. und 144 f. 3 Wenn man so will, entwarf Aldous Huxley mit seinem Roman Brave New World bereits 1932 eine exemplarische Dystopie zu den utopischen Ideen seines Bruders.  



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Fortschritt, um Optimierung: zunächst in der Kompensation von Schwächen, darüber hinaus aber in der Erweiterung des Menschenmöglichen durch Leistungssteigerungen aller Art („Enhancement“). Bostrom (2005, 4) verortet sich – wie viele Transhumanisten – mit diesen Überlegungen bewusst in der Tradition eines säkularen Humanismus und möchte an dessen Bildungsidee anknüpfen, um sie freilich zu radikalisieren. Erhellender für das transhumanistische Menschenbild erscheint mir allerdings die Anthropologie Arnold Gehlens zu sein, die den Menschen als „Mängelwesen und Prometheus“ (1961, 46) versteht. Mängelwesen ist der Mensch, weil er – anders als die übrigen Tiere – über keine Spezialbegabung und nur über reduzierte Instinkte verfügt, weshalb er darauf angewiesen ist, seine natürlichen Defizite durch kulturelle Leistungen zu überwinden. Auf der anderen Seite ist diese Unangepasstheit mit einer Weltoffenheit verbunden, die es dem Menschen ermöglicht, seine Umgebung so umzuformen, dass sie seinen Bedürfnissen und Interessen entspricht. Von Natur aus ein Kulturwesen stellt der Mensch mithilfe von Technik eine zweite Natur her, die nicht nur dazu führt, dass er seine Mängel kompensieren, sondern seine Fähigkeiten überbieten kann.4 Er ist damit sein eigener Prometheus – jene griechische Sagengestalt, deren Zukunftsoffenheit, Erfindungskraft und Tatendrang dem Menschen zu göttlichen Fähigkeiten verhalf, deren Hybris aber auch Folgen nach sich zog, denen gegenüber sich die Dystopie des letzten Menschen fast schon harmlos ausnimmt. Das Menschenbild, welches diesen kurz skizzierten Überlegungen Gehlens zugrunde liegt, ist das des Homo faber. Während der Homo sapiens sich sein Dasein über das Denken erschließt, versteht sich jener über seine technischen Fähigkeiten: „Ich mache, also bin ich.“5 Innerhalb dieses Verständnisses erscheint es nur folgerichtig, technische Eingriffe auch an der eigenen Natur vorzunehmen, wenn das nötige Knowhow dafür zur Verfügung steht.6 Vor diesem Hintergrund lässt sich der Transhumanismus als ein Konzept begreifen, das in konsequenter und radikaler Weise das Menschenbild des Homo faber zum Homo faber fabricatus erweitert, um zugleich Subjekt und Objekt der Technik zu sein. Seine Intentionen sind vor allem emanzipatorischer Art. Es gilt den Menschen dabei zu unterstützen, die Grenzen, innerhalb derer er leben muss, Schritt für Schritt auszudehnen, ja zu eliminieren. Ziel dieser vor‑läufigen Anthro-

4 Technik fungiert nach Gehlen (1961, 93–95) als Organersatz, -entlastung und -überbietung. 5 Freilich handelt der Homo faber nicht nur, er denkt auch technisch, also zweckrational – im Sinne einer instrumentellen Vernunft. 6 Es gibt nach Gehlen (1961, 48) „gar keine natürlichen Grenzbedingungen menschlicher Lebensfähigkeit, sondern nur technische Grenzbedingungen: nicht in der Natur, sondern in den Graden der Bereicherung und Verbesserung […] liegen die Grenzen menschlicher Ausbreitung.“

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pozentrik ist also eine Autonomisierung nicht bloß des individuellen Menschen, sondern der Gattung „Mensch“ – eine Emanzipation von den natürlichen Bedingungen, eine Befreiung von den Einschränkungen, denen wir unterliegen. Nicht nur Krankheiten, Schmerzen und Leiden, die seit jeher Gegenstand therapeutischer Bemühungen sind, sondern alle körperlichen und geistigen Unzulänglichkeiten sind im transhumanistischen Verständnis Fesseln, die es künftig zu lösen gilt. Hauptziele sind für Bostrom (2005, 4–7): die Verlängerung der Lebenszeit (bis hin zur Unsterblichkeit), um die individuelle und gesellschaftliche Weiterentwicklung zu potenzieren; die Erweiterung des intellektuellen Vermögens, um die Lösung wissenschaftlicher und philosophischer Probleme voranzutreiben; die Optimierung des Körpers aus medizinischen und ästhetischen Gründen; die Erweiterung und Verstärkung unserer Wahrnehmung, z. B. durch Sinne, die uns bisher nicht zur Verfügung standen; sowie die Steuerung unserer Stimmungen und unseres Willens, etwa mithilfe von Medikamenten. Das utopische Ziel des Transhumanismus ist die umfassende Kontrolle des Menschen über seine Lebensbedingungen und -ziele, ist die Eliminierung der negativen Facetten des Lebens, die Meliorisierung der positiven und schließlich die Überwindung der Limitation schlechthin, nämlich des Todes – auf dass wir leben in einer Welt ohne Schmerz und Leid, ohne Tod, in Freiheit und Sicherheit, zufrieden und glücklich. Sollte dieser Zustand erreicht werden, dann haben wir es mit einer Lebensform zu tun, die von der Conditio humana so weit entfernt ist, dass es berechtigt erscheint, von einem posthumanen Wesen zu sprechen.7 Der Weg dorthin, vom Humanen zum Posthumanen, ist das transhumane Zeitalter. Wie bereits angeführt, ist dieses Epoche dadurch gekennzeichnet, dass der Mensch seine Evolution selbst in die Hand nimmt und sie zudem radikal beschleunigt, weil ihm in Form modernster Technologien immer bessere Mittel zur Verfügung stehen, diese akzelerierte Entwicklung schrittweise durchzuführen.8 Mit Blick auf den gegenwärtigen Stand der Biotechnologien, insbesondere der Gentechnik (Eingriffe in die Keimbahn), und der digitalen Technologien, mit deren Hilfe schon heute Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine (Compu-

7 Innerhalb der transhumanistischen Strömung herrscht Uneinigkeit darüber, ob dieses Wesen noch als Mensch zu verstehen sei oder nicht. Bei einer Aufhebung der Sterblichkeit sollte man konsequenterweise aber nicht nur von einer neuen Spezies, sondern einer neuen Stufe der Evolution sprechen. 8 Viele Transhumanisten erwarten, dass das Zusammenwirken der „Converging Technologies“ zu einem bestimmten Zeitpunkt einen rapiden Entwicklungssprung ergeben wird, die sogenannte „technologische Singularität“, deren Folgen aus heutiger Sicht nicht absehbar seien. Vgl. Heil 2010, 135.

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tern) generiert werden können, wird deutlich, dass der Prozess der Transhumanisation bereits begonnen hat.9 Das gilt nicht nur für medizinische und industrielle Tätigkeitsfelder, sondern auch für die Einstellung der Menschen zu diesen Verfahren. Denn so befremdlich und abgehoben das explizite Programm des Transhumanismus auch wirken mag, so trifft es doch Bedürfnisse und Wünsche, die viele Menschen wenigstens implizit verspüren und antreiben. Überall dort, wo – möglichst auf Knopfdruck – mithilfe von Technologien und Medikamenten effiziente Optimierung und menschliche Leistungssteigerung verlangt, versprochen oder erwartet wird, um ein besseres (Arbeits-)Leben führen zu können, steht – wenn man so will – ein , apokrypher Vulgärtranshumanismus‘ im Hintergrund.10 Als Stefan Lorenz Sorgner 2009 mit seiner These an die Öffentlichkeit trat, Nietzsche sei mit der Konzeption des Übermenschen als ein Vordenker des Transhumanismus zu verstehen, hatte er freilich nicht diese versteckte, unreflektierte Variante, sondern die offen vorgetragene und durchdachte Utopie im Blick.11 Ich werde mich nicht direkt mit Sorgners Überlegungen auseinandersetzen, aber natürlich beziehe ich mit meiner These gewissermaßen ex negativo Stellung dazu. Wenn der letzte Mensch, also das Gegenmodell zum Übermenschen, als Dystopie des Transhumanismus zu interpretieren ist, dann wird damit die These, der Übermensch sei als dessen Utopie zu begreifen, in Frage gestellt. Nichtsdestotrotz könnte man versuchen, beide Positionen miteinander zu vereinbaren, indem man die Welten des letzten und des Übermenschen als zwei mögliche Zukunfts-Szenarien des Transhumanismus interpretiert – nämlich als misslungene und als gelungene Variante. Ich halte allerdings die Argumentation, die den transhumanistischen Anspruch auf Nietzsches Konzept des Übermenschen zurückweist, für stichhaltig (vgl. Skowron 2013). Dort, wo es geboten ist, werde ich auf einige Punkte dieser Diskussion zurückkommen.

9 Wenn man sich vor allem auf die technologischen Implikationen konzentriert, könnte man auch von einer „Cyborgisierung“ sprechen, bei der unser „low-tech“ zunehmend zu einem „hightech body“ wird. Mit dem Akronym „Cyborg“ bezeichnet man einen „cybernetic organism“, ein Mischwesen aus Mensch und Technik. Vgl. dazu Haraway 1985, deren Ausführungen allerdings nicht für den Transhumanismus in Anschlag gebracht werden können. Siehe auch Anm. 19. 10 Im folgenden Kapitel werde ich einige aktuelle Beispiele für diese Haltung anführen. 11 An Sorgners bedenkenswerten Ausführungen hat sich eine fruchtbare Kontroverse entzündet. Beachte dazu die beiden Ausgaben des Journal of Evolution& Technology 21 (1) (2010) – insbesondere Hauskeller 2010 – und der elektronischen Zeitschrift des Nietzsche Circle The Agonist 4 (2) (2011) – darin v. a. Babich 2011 – sowie die Antwort auf verschiedene Einwände sowohl von Nietzsche-Forschern als auch von Transhumanisten durch Sorgner 2010. Die gründlichste Auseinandersetzung mit den einzelnen Argumentationsschritten Sorgners findet sich bei Skowron 2013.

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2 Die Figur des letzten Menschen als kritisches Interpretament des Transhumanismus Der letzte Mensch wie der Übermensch sind Figuren, die primär in Nietzsches Werk Also sprach Zarathustra (1883–85) zu verorten sind. Beide werden den Lesern bereits in der Vorrede vorgestellt und explizit in einen Gegensatz zueinander gebracht. Zudem sind beide vor allem – aber nicht nur – Zukunftsvisionen und verstehen sich vor dem Hintergrund einer Anthropologie, die kein zeitloses Wesen des Menschen postuliert, sondern von dessen Veränderlichkeit ausgeht: „Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll.“ (Z Vorrede 3, KSA 4, 14) Der Übermensch ist als „Sinn der Erde“ das Ziel dieser Überwindung, die präziser eine Selbstüberwindung darstellt. Als die Zuhörer jedoch mit Unverständnis auf Zarathustras Proklamation des Übermenschen reagieren, lässt Nietzsche seinen Propheten vom letzten Menschen künden – einer Gestalt, die für eine düstere Zukunft steht, deren Eintritt angesichts der Erwartungshaltung der Adressaten wahrscheinlicher erscheint als ihre Alternative.12 Denn die Zuhörer sehen in dem geschilderten Zustand gar keine Bedrohung, sondern eine Verheißung, deren partielle Verwirklichung sie bereits betreiben. Da sich auch viele der potentiellen Erstleser des „Zarathustra“ mit dieser Einstellung identifizieren konnten, lässt sich Nietzsches Karikatur des letzten Menschen auch als Kritik an gesellschaftlichen Phänomenen des späten 19. Jahrhunderts interpretieren (vgl. Pieper 2010, 69).13 Eine solche Lesart kann auch im Blick auf gegenwärtige Rezipienten aufschlussreich sein (vgl. Pieper 2001 und Brock 2015, 401–414). Im Folgenden soll daher der Zustand des letzten Menschen, wie er im fünften Kapitel der Vorrede des „Zarathustra“ skizziert wird, als transhumanistische Dystopie interpretiert werden – und zwar als eine, an deren Realisierung heute bereits gearbeitet wird, weil sie als hoffnungsvolle Utopie missverstanden wird.14 Diese Divergenz kommt pointiert in der unmittelbaren Reaktion der Zuhörer Zarathustras zum Ausdruck, die jubelnd von ihm fordern: „[…] mache uns zu diesen letzten Menschen! So schenken wir dir den Übermenschen!“ (Z Vorrede 5, KSA 4, 20) Diese Worte

12 Der Übermensch ist zwar „an der Zeit“, doch „es kommt die Zeit“ (Z Vorrede 5, KSA 4, 19) des letzten Men-schen – so Zarathustra in einem dreimaligen Wehruf, der seiner Beschreibung dieser Figur vorausgeht. 13 Für diesen Beitrag kann die Frage offen bleiben, ob und inwiefern man die literarische Figur des Zarathustra als Alter Ego Friedrich Nietzsches zu verstehen hat. 14 Auch Skowron 2013, 271 f. sieht – allerdings unter anderen Prämissen – Ähnlichkeiten zwischen dem letzten Menschen und transhumanistischen Zielen.  

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offenbaren eine Haltung, die das eigentliche Anliegen, die Transformation zum Übermenschen, verfehlt. Analoge Verfehlungen kann man vor dem Hintergrund von Nietzsches Text in (vulgär‑)transhumanistischen Einstellungen wiederfinden – entweder schon bei der Formulierung der Ziele oder auf den Wegen, um diese zu erreichen, vor allem durch die Wahl der (technologischen) Mittel. Und wie die letzten Menschen scheinen viele Transhumanisten vor dieser Verfehlung weitgehend die Augen zu verschließen – weitgehend, d. h. soweit es eben geht, also blinzelnd, um in Nietzsches Bild zu bleiben, das sich wie ein Refrain durch die kleine Textpassage zieht: „,Wir haben das Glück erfunden‘ – sagen die letzten Menschen und blinzeln“ (Z Vorrede 5, KSA 4, 20). Analogien zwischen dem letzten Menschen und transhumanistischen Vorstellungen lassen sich bis in einzelne Merkmale hinein ziehen, von denen nach einer grundlegenden Charakterisierung einige zugespitzte Beispiele angeführt seien, die bewusst auf Transformationen Bezug nehmen, die bereits begonnen haben. Der letzte Mensch wird charakterisiert als derjenige, „der Alles klein macht“ (Z Vorrede 5, KSA 4, 19). Die zunehmende Globalisierung, Vernetzung und Digitalisierung führt dazu, dass nicht nur die Entfernungen, sondern Erde und Mensch selbst „klein“ werden, d. h. auf ihre messbaren und berechenbaren Aspekte reduziert werden. Damit verengt sich das Blickfeld auf das, was quantifiziert und – jetzt schon oder demnächst – manipuliert werden kann. Weil die Eingriffsmöglichkeiten immer tiefer reichen, wird diese Verkleinerung keineswegs als solche erkannt, sondern im Gegenteil als Vergrößerung an Wissen und Kompetenz wahrgenommen. Besonders offensichtlich wird das dort, wo auch das Selbstbild auf diese Weise reduziert wird. „Sich malen nach Zahlen“ – so könnte man etwas polemisch das Motto von „Quantified Self“ bezeichnen, einer noch jungen Bewegung mit viel Zulauf, für welche die Selbstvermessung Grundlage einer Selbstüberwindung ist, die als nachprüfbare Leistungssteigerung begriffen wird. Eine Fülle an Daten trägt dazu bei, sich zu messen – auch gegenseitig, was etwa im sportlichen Wettbewerb eine zusätzliche Motivation darstellt, möglichst hart an sich, d. h. am eigenen Körper, zu arbeiten und das Optimum dabei zu erreichen. Der Abruf körperlicher Werte dient zudem der Kontrolle auf mögliche Erkrankungen, verhilft zu deren frühzeitiger Entdeckung, befördert aber auch die Vorbeugung vor möglichen oder wahrscheinlichen Beeinträchtigungen. Man kann darauf zählen. Die gesundheitliche Sicherheit, die damit – in einem bestimmten, sich stetig erweiternden Rahmen – gewährleistet wird, stellt für die letzten Menschen ein hohes, fast göttliches Gut dar: „Krankwerden und Misstrauen-haben gilt ihnen sündhaft“, „man ehrt die Gesundheit“ (Z Vorrede 5, KSA 4, 20). All dies geschieht scheinbar spielerisch. Zahlreiche Konzepte, wie das der „Gamification“, versuchen heute der Arbeit einen Unterhaltungswert zu verleihen, der die Mühsal vertreibt, die früher damit verbunden war. Man folgt damit

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freilich weiterhin dem Leistungsprinzip – wenn auch nicht offenen Auges –, ja selbst in der Freizeit kann man nicht davon lassen, gilt es doch, jede Stunde bestmöglich zu nutzen. Achtsamkeit verkommt zum Sicherheitsdenken, Gleichheit zum Konformismus und das Glück, um das es dabei letztlich immer geht, wird als Wellness neu erfunden. Dass Menschen geneigt sind, sich damit zufrieden zu geben, liegt am Verlust der Sehnsucht, die Erfüllung – und damit deren Ausbleiben – erst verständlich macht. Auch Protest oder gar Rebellion sind für den letzten Menschen ungangbare, weil unangenehme Wege, politikverdrossen wie er ist: „Wer will noch regieren? Wer noch gehorchen? Beides ist zu beschwerlich“ (Z Vorrede 5, KSA 4, 20). Und so gerät die freie, offene Gesellschaft unter ihrer Oberfläche zu einem geschlossenen System, das sich – freilich nur zum Besten des Menschen – regeln und überwachen lässt. Es bleibt die fade Freiheit der Wahl zwischen den Medikamenten und Drogen. „Ein wenig Gift ab und zu“ (Z Vorrede 5, KSA 4, 20) verhilft dazu, Schmerzen auszulöschen, die Stimmung aufzuhellen und diverse Lüstchen zu generieren, um somit wenigstens das kleine Glück der stetigen Befriedigung stetig steigender Bedürfnisse zu erhalten. Ein bisschen Spaß muss schließlich sein. Mehr aber auch nicht, denn alles Exaltierte und Extreme, jede wirkliche Höhe hat ihre Tiefe und ist nicht ohne sie zu haben.15 Man kommt auf sein Vergnügen, genießt in Maßen, ernährt sich gesund, um sich den Magen nicht zu verderben, und pflegt (körperliche) Nähe, um es warm zu haben. Auf welche Gipfel und in welche Abgründe echte Liebe führen kann, verschließt sich dem letzten Menschen ebenso wie die Erfahrung einer harten, aber fruchtbaren Auseinandersetzung. Selbst die chaotische schöpferische Kraft, die einen „tanzenden Stern gebären“ (Z Vorrede 5, KSA 4, 19) könnte, erschöpft sich bei ihm und gerinnt zur Machbarkeitsstudie, mit der – idealiter – ordentlich geplant werden kann. Der letzte Mensch braucht diese Sicherheit, braucht Mittelmaß und Ausgeglichenheit, um optimal funktionieren zu können. Wie lassen sich diese kümmerlichen Bedürfnisse mit der Enhancement-Euphorie des freien Individuums in Verbindung bringen, die der Transhumanismus propagiert? Nun, der letzte Mensch könnte den Zustand repräsentieren, der erreicht wird, wenn der Mensch sein Erweiterungspotential erschöpft hat oder kein Interesse mehr daran besitzt, sich noch weiter zu steigern. Abgesehen davon,

15 „[W]enn ihr euer eigenes Leiden nicht eine Stunde auf euch liegen lassen wollt und immerfort allem möglichen Unglücke von ferne her schon vorbeugt, wenn ihr Leid und Unlust überhaupt als böse, hassenswerth, vernichtungswürdig, als Makel am Dasein empfindet: […] Ach, wie wenig wisst ihr vom Glücke des Menschen, ihr Behaglichen und Gutmüthigen! – denn das Glück und das Unglück sind zwei Geschwister und Zwillinge, die mit einander gross wachsen oder, wie bei euch, mit einander – klein bleiben!“ (FW 388, KSA 3, 566 f.)  

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dass es anthropologisch fraglich erscheint, ob ein solcher Endzustand je der Fall sein wird oder kann, lassen bereits die Anfangsstadien des transhumanistischen Prozesses erkennen, wie sich in einer eigentümlichen Dialektik der letzte Mensch entwickelt. Mit der individuellen Freiheit, immer mehr aus sich – und mit sich – machen zu können, wächst die Erwartungshaltung und damit der Druck, die neu gewonnenen Möglichkeiten auch zu nutzen. Auf diese Weise kommt es zu dem „seltsamen Phänomen des ,Kollektivindividualisten‘“ (vgl. Brock 2015, 412), der wie alle anderen dem Ideal des schönen neuen Menschen entsprechen möchte und alles dafür tut, um ihm gerecht zu werden. „Jeder will das Gleiche, Jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig in’s Irrenhaus“ (Z Vorrede 5, KSA 4, 20). Diese Menschen haben die Anforderungen, denen sie entsprechen sollen, derart internalisiert, dass sie ihnen als ihre ureigenen Wünsche erscheinen. Wenn sie daher nicht dazu in der Lage ist, den Optimierungsdruck auszugleichen und das sich ständig verschiebende Maß zu halten, suchen sie das Problem nicht in den Anforderungen, sondern bei sich selbst. Sie brennen aus, werden depressiv und ähneln doch in ihrer Erschöpftheit den müden Zufriedenen, die (Gleich-)Schritt halten mit der fortlaufenden Selbstverwirklichungs-Tretmühle (vgl. Brock 2015, 412 f.). Neben dieser Dialektik des freien Individuums beinhaltet das transhumanistische Programm durch seine Fixierung auf die instrumentelle Vernunft eine weitere Umschlagsbewegung, die ich bereits oben angedeutet habe. Die Erweiterung des Menschen soll durch Anwendung von Technologien vonstattengehen, deren Erfolg auf einem reduktionistischen Menschenbild beruht. Weil der Mensch auf diese Weise berechenbar und beherrschbar wird, geht seine Selbstermächtigung mit einer Selbstverkleinerung einher. Seine „Hybris“ (GM III 9, KSA 5, 357) führt ihn zunehmend aus der Herrschaftsposition in die „Sklaverei d. h. Verwerkzeugung“ (NL 1885-86, 2(204), KSA 12, 167) durch die Technik und die damit verbundene instrumentelle Vernunft: „Maschinen, die sich selbst Zweck sind – ist das die umana commedia?“ (MA I 585, KSA 2, 337). In Nietzsches Persiflage des letzten Menschen ist allerdings von technologischen Mitteln nicht die Rede. Auch bei der Vorstellung des Übermenschen ist das nicht der Fall. Weil man aus dieser Leerstelle nicht auf deren Ablehnung schließen kann, geht Sorgner (2009, 38) davon aus, dass Nietzsche die Wahl der Mittel offen lässt und aufgrund seiner grundsätzlichen Aufgeschlossenheit gegenüber den Naturwissenschaften heute vorzugweise auf diese Technologien zurückgreifen würde. Unter den wenigen – und ambivalenten – Stellen, in denen sich Nietzsche zur modernen Technik äußert (vgl. Oldemeyer 2007, 19–41), findet sich allerdings mehrmals die Maschine als Metapher für die Instrumentalisierung und Eindimensionalisierung (vgl. WS 218, KSA 2, 653), für die Demütigung (vgl. WS 288, KSA 2, 682 f.), ja für das Verheizen des Menschen (vgl. MA I 585, KSA 2, 336 f.). Wenngleich Nietzsche  





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Möglichkeiten sieht, auch anders mit Technik umzugehen, so diagnostiziert er doch eine ihr inhärierende Tendenz zur „Verkleinerung und Anpassung der Menschen an eine spezialisirtere Nützlichkeit“ (NL 1887, 10(17), KSA 12, 463). Der letzte Mensch räumt in seiner (Selbst-)Verkleinerungstendenz zweifellos dem Nutzen einen hohen Stellenwert ein. Die Haltung des Utilitarismus, die Nietzsche damit karikiert (vgl. Pieper 2010, 71) teilt auch die überwiegende Mehrheit der Transhumanisten (vgl. Heil 2010, 137). John Stuart Mill, der utilitaristische Referenzphilosoph, wird von Nietzsche ebenso als „Flachkopf“ bezeichnet wie Wilhelm von Humboldt (vgl. KSA 13, 70 und 506), der stellvertretend für den Humanismus steht, gegen den sich dezidiert das – insofern post‑humanistische – Konzept des Übermenschen wendet. Wie bereits erwähnt, trifft dieses Verdikt ebenfalls transhumanistische Positionen – wenigstens diejenigen, die sich in humanistischer Tradition stehen sehen. Noch stärker in der abendländisch-metaphysischen Tradition sind transhumanistische Überlegungen verankert, welche die Unabhängigkeit des Geistes vom Körper postulieren, indem sie ein Upload des Mentalen auf einen Computer anstreben, um die erwünschte Unsterblichkeit zu erreichen (vgl. Bostrom 2005, 7). Damit bleiben sie aber in einem Körper-GeistDualismus gefangen, den der Übermensch gerade überwinden soll (vgl. Pieper 2010, 59). Geht man davon aus, dass die Bewusstseinstheorie des Transhumanismus inadäquat ist, dann erscheint der letzte Mensch, der den Tod mit seinen Mitteln eben nicht außer Kraft setzen, aber doch in gewissem Maße – durch „viel Gift zuletzt“ (Z Vorrede 5, KSA 4, 20) – kontrollieren kann, als plausible transhumane Zukunftsgestalt.16 Posthuman wird dieses Wesen allerdings nicht sein, weil es den überkommenen Menschen nicht transzendiert, sondern lediglich erweitert – also menschlich, allzumenschlich bleibt.17

3 Der Transhumanismus im Licht von Heinrich Rombachs Nietzsche-Interpretation Für die Deutung von Nietzsches letzten Menschen als transhumanistische Dystopie, die aus einer missverstandenen Utopie des Posthumanen resultiert, ist es

16 Den Tod zu verdrängen oder gar auszuschalten ist nicht im Sinne Nietzsches: „Der Tod darf im Ganzen des Lebens nicht fehlen. Der Tod ist nicht der Feind des Lebens überhaupt, sondern das Mittel, durch welches die Bedeutung des Lebens offenbar gemacht wird.“ (NL 1875, 9(1), KSA 8, 166) Vgl. auch Hauskeller 2010, 7. 17 Vgl. dazu Babich 2011, 24: „[…] transhumanism is not at all about self-overcoming but is very much about self-preservation, self-assertion, self-advancement.“

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hilfreich, einen Denkansatz ins Gespräch zu bringen, der eine eingehendere Beschäftigung verdient hätte. Es handelt sich dabei um das Werk Heinrich Rombachs, dessen eigenständige und bisweilen eigenwillige Philosophie an Edmund Husserl und Martin Heidegger anknüpft. In ihm finden sich zahlreiche Bezüge zu verschiedenen Philosophemen Friedrich Nietzsches (vgl. Schmaus 2013, 130 Anm. 116). Wenngleich Rombachs explizit hermetische Rezeption Nietzsche hermeneutisch nicht (immer) gerecht wird, kann sie mindestens heuristisch wertvolle Dienste für die These meines Beitrags leisten. Dafür ist es notwendig, die ontologischen und anthropologischen Grundzüge von Rombachs Philosophie zu skizzieren. Demnach lässt sich die abendländische Denkgeschichte in drei große Schritte einteilen. Der erste, den man mit dem Stichwort „Substanz“ bezeichnen kann, prägt die Antike und das Mittelalter (vgl. Rombach 2012, 19–37). Dieser wird Rombach zufolge beim Übergang in die Neuzeit durch einen anderen Ansatz abgelöst, den er mit einem philosophischen Modewort des zwanzigsten Jahrhunderts als „Struktur“ bezeichnet. Anders als die Substanz- kennt die Strukturontologie nichts Wesentliches mehr, das beständig ist und bleibt, sondern versteht alles relational (vgl. Rombach 1988, 25–44). Die Bezugspunkte, also die Relata, sind so gesehen nichts anderes als Schnittpunkte von Relationen. In einem Netz von Beziehungen entstehen die Knoten nur, indem sie geknüpft werden. Sie sind den Relationen nicht vorgegeben, sondern ergeben sich erst daraus. Wer wissen will, was etwas ist, muss also untersuchen, wie es sich worauf bezieht. Diese Relationalität ist natürlich nicht nur synchron zu verstehen, sondern auch diachron. Sie ist laufend im Wandel begriffen, so dass streng genommen nichts ist, sondern alles wird.18 Betrachtet man das Menschenbild, das mit diesem Denken verbunden ist, dann zeigt sich eine gewisse Nähe zu Nietzsches Anthropologie, für die der Mensch als „das n o c h n i c h t f e s t g e s t e l l t e T h i e r “ (NL 1884, 25(428), KSA 11, 125) gilt. Er ist nichts, was substantiell anders wäre als die animalischen Lebewesen, sondern unterscheidet sich nur graduell von ihnen. Rombachs Strukturanthropologie geht in ihrer monistischen Ausrichtung noch einige Schritte weiter, indem sie von „ontologischer Partnerschaft“ (Rombach 2012, 128) des Menschen nicht nur zu den Tieren, sondern auch zu den Pflanzen, ja sogar zum (scheinbar) Unbelebten ausgeht. Alles steht zueinander in Beziehung. Will man etwas begreifen, indem man es ein- und abgrenzt, also definiert, dann geht dies nicht ohne 18 „Struktur meint all das, was in der Weise wird, daß es erst durch sein Werden zu dem wird, was da wird“ (Rombach 1988, 176). Angesichts dieses fluiden Wirklichkeitsverständnisses erscheint es nicht nur fraglich, an dem Begriff der „Struktur“, sondern auch an dem der „Ontologie“ festzuhalten. Vgl. Schmaus 2013, 160–169.

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Verlust von Wirklichkeitsnähe. Mehr noch, wegen der Dynamik des strukturalen Beziehungsgeflechts, lässt sich – allen Versuchen zum Trotz – im Grunde nichts feststellen. Dass es der Mensch dennoch – in Theorie und Praxis – darauf anlegt, Feststellungen zu treffen, ist für Rombach ein Relikt der Substanzontologie. Es äußert sich in der Sorge, im dynamischen Mit- und Ineinander der Wirklichkeit jeglichen Halt und am Ende gar sich selbst zu verlieren. In der Tat: Struktural steht alles auf dem Spiel. Das heißt aber auch, dass alles mit im Spiel ist. Den Menschen, denen es gelingt, sich ganz auf dieses Spiel der Wirklichkeit einzulassen, spielen sich daher Möglichkeiten zu, die nicht nur die ihren sind, sondern ein „konkreatives“ Geschehen in Gang setzen können, das weit über das Menschenmögliche hinausführt (vgl. Rombach 2012, 431 f.). Strukturen ist ein schöpferisches Potential inhärent, das sie über sich hinaustreibt. Weil die einzelnen Strukturmomente miteinander in Wechselbeziehung stehen, wirkt sich jede Veränderung auf das Ganze aus und kann durch Rückkoppelungen ein Ausmaß erreichen, das einen Sprung auf ein höheres Niveau provoziert (vgl. Rombach 1988, 89–102). Dem Menschen, dem es gelingt, solche Steigerungsbewegungen (mit) zu vollziehen und sich dabei selbst zu transzendieren, dem gehört nach Rombach die Zukunft. Das gilt im Kleinen für das selbstvergessene und beglückende Aufgehen im Schaffensprozess, das jemanden über sich hinauswachsen lässt. Das gilt aber auch für den großen Zusammenhang, welcher mit dem Hervorgang des „menschlichen“ bzw. gar des „kosmischen Menschen“ verbunden ist, der „sich als eine Lebensgestalt des All-Lebens versteht“ (Rombach 2012, 425) und – mit Nietzsche gesprochen – „das grosse Ja zum Leben“ (KSA 14, 473) sagt, „das vermeintliche Individuum abzuwerfen“ lernt und „kosmisch empfinden“ kann (NL 1881, 11(7), KSA 9, 443; ohne Hervorhebungen). Rombach (2012, 418–420) kritisiert zwar den Begriff des „Übermenschen“ und einige der „vielen Bestimmungen“, die ihm angeblich zukommen, kann Nietzsches Konzeption aber mehr Zustimmendes abgewinnen als Negatives daran finden. Insofern der Übermensch die Stufe darstellt, auf der der Mensch „nach einem langen Selbstmißverständnis zu sich selbst kommt und wahrhaft als Mensch existiert“ (Pieper 2010, 61), indem er schöpferisch gestaltend über sich hinauswächst und zum „Sinn der Erde“ (Z Vorrede 3, KSA 4, 14) wird, kann er als utopischer Menschentypus der Strukturanthropologie gelten. An dieser Stelle muss ich auf eine Bemerkung zurückkommen, die nicht in meiner flüchtigen Skizze des Strukturdenkens verloren gehen darf – zu wichtig ist sie für das Verständnis von Rombachs Philosophie. Soeben war bei der Feststellungsneigung des Menschen von einem Relikt der Substanzontologie die Rede. Es handelt sich dabei allerdings nicht nur um ein Überbleibsel, sondern um einen äußerst dauerhaften und hartnäckigen Restbestand, der sich so leicht nicht entfernen lässt. Laut Rombach kam es nämlich beim Schritt vom Substanz- zum  

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Strukturdenken zu einer Art Fehltritt. Zu ungewöhnlich, zu anspruchsvoll, zu brisant wirkte dieses Denken am Beginn der Neuzeit – exemplarisch in der cusanischen Version –, dass es früh schon auf Abwege geriet und wieder nach einem substantiellen Anker suchte. Dieses Missverständnis des Strukturdenkens ist in Rombachs Terminologie das „System“. Es ist der zweite Schritt in der Abfolge der drei Schritte „Substanz – System – Struktur“, weil das aufkommende Strukturdenken sich sofort und äußerst nachhaltig in das Systemdenken verrennt, mit dessen Ausläufern wir es heute noch zu tun haben, wenngleich unsere spät- bzw. postmoderne Gegenwart als eine Zeit zu begreifen sei, die endlich den ersehnten Umbruch bringen könnte (vgl. Rombach 2012, 18). Das neuzeitlich-moderne Verständnis von Mensch und Welt ist jedenfalls in Rombachs Sinne systematisch geprägt. Was heißt das? Auch hier spielt die Relationalität eine entscheidende Rolle. Ein System besteht aus Elementen, die miteinander verbunden sind und nur aus dem Kontext zu verstehen sind, in dem sie sich befinden. Dieser Zusammenhang aber, das Systemganze, ist nicht im Fluss wie die Struktur, sondern übernimmt sozusagen die Rolle der Substanz. Die Identität wird über Gesetze garantiert, nach denen sich alles zu richten hat, was systemimmanent ist. Zweck ist der Systemerhalt, der aber nicht im Status Quo besteht, sondern – das macht Systeme so verwechslungsanfällig – wie bei Strukturen durch Steigerungen gewährleistet wird. Diese Steigerungen verlaufen allerdings nicht lebendig, unkalkulierbar und schöpferisch, sondern methodisch, systematisch und technisch, weshalb sie zwar zu einer Stabilisierung und Erweiterung des Systems führen können, nicht aber zu einer Selbsttranzendenz, die den Zweck des Systemerhalts konterkarieren würde. Diesem Zweck haben die Einzelelemente eines Systems zu dienen. Sie sind rein funktional bestimmt, haben also nur einen Stellenwert (vgl. Rombach 1988, 163–172). Während strukturale Prozesse verlebendigen und verflüssigen, tendiert das System dazu, Feststellungen zu machen. Analysierung, Berechnung und Algorithmisierung ermöglichen die systematische Kontrolle über die einzelnen Elemente und deren Funktionen. Dem wissenschaftlichen Systemdenken entspricht daher ein manipulierendes Systemhandeln, nämlich die moderne Technik. Als dystopischen Typus des Menschen, der auf diese Weise provoziert und produziert wird, führt Rombach Nietzsches letzten Menschen an. Er ist Teil eines perfekt funktionierenden Systems, welches beansprucht, „alle Belange und Bedürfnisse des Menschen“ zu erfassen und „ohne unaufgelöste Restbestände absättigen“ (Rombach 2012, 68 f.) zu können – freilich nicht ohne zuvor den Menschen so weit reduziert zu haben, dass man mit ihm rechnen kann. System- und Strukturanthropologie sehen sich also oberflächlich zum Verwechseln ähnlich, sind tiefgründig aber mit völlig verschiedenen Menschenbildern verbunden, die sich typologisch im „letzten“ und im „Übermenschen“  

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Nietzsches wiederfinden. Interpretiert man den Transhumanismus als systemtheoretischen und -praktischen Ansatz, dann lässt sich der darin erstrebte letzte Mensch als Selbstmissverständnis von vorletzten Menschen verstehen, die mit dem Anliegen antraten, sich struktural zum Übermenschen zu transformieren, aber auf Abwege gerieten. Tatsächlich nimmt sich der Transhumanismus unter den vielen anderen, oft poststrukturalistisch geprägten posthumanistischen Entwürfen wie ein solches Missverständnis aus (vgl. dazu auch Herbrechter 2009, 6– 30).19 Der Mensch des Systemdenkens ist ein Homo faber, der sich transhumanistisch nicht (innerlich) selbst überwindet, sondern (äußerlich) Hand an sich legt wie an ein technisches Objekt. Er wird dadurch lediglich zum Homo faber fabricatus. Man erlangt so womöglich die Kontrolle über einzelne Konditionen, die bisher unserem Zugriff entzogen sind, liefert sich aber im Ganzen einer Einstellung aus, die echte Selbsttranszendenz verhindert. Um das zu vermeiden, gilt es nicht nur die jeweiligen Zielvorstellungen zu diskutieren, sondern auch die Wege in den Blick zu nehmen. Auch diese müssen sich auf den ersten Blick gar nicht so sehr voneinander unterscheiden. Denn die Lösung wird schwerlich darin bestehen, ganz auf den Einsatz von (Human-)Technologien zu verzichten. Ein abschließender Blick in Nietzsches „Zarathustra“ kann aber zeigen, dass wir lernen sollten, anders damit umzugehen als im (krypto-)transhumanistischen Sinne.20 „Der Mensch“, so heißt es dort, „ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch, – ein Seil über einem Abgrunde“ (Z Vorrede 4, KSA 4, 16). Um nicht abzustürzen auf diesem „gefährliche[n] Hinüber“ (Z Vorrede 4, KSA 4, 16), braucht es sehr wohl technisches Geschick, aber der Überweg, die Transformation, ist kein technischer Vorgang des Herstellens, sondern ein künstlerischer der schöpferischen freien Gestaltung. Auf dem Seil, da wird getanzt.21 Um dieser Herausforderung gerecht zu werden, muss der Homo faber aber erst zum Homo creator werden.

19 Man vergleiche etwa die transhumanistische Technikeuphorie mit der differenzierten affirmativ-kritischen Sicht auf die Technik in Donna Haraways „Manifesto for Cyborgs“ (1985) als Beitrag im Gender-Diskurs. 20 In Sorgners Ausführungen (2009 und 2010) finden sich durchaus erste Schritte in diesem Lernprozess. Insofern ist es zu wünschen, dass diese Debatte fortgeführt wird. Vgl. auch Herbrechter 2009, 32 f. 21 Der Mensch ist Seil und Seiltänzer zugleich (vgl. Pieper 2010, 64). Strukturphilosophisch verstanden werden bei einem gelingenden Tanz beide zu Momenten eines Prozesses, in dem alle Differenzen – auch diejenige zwischen Körper und Geist – überwunden sind. Zu diesem „Flow“Erlebnis vgl. Schmaus 2013.  

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William Mattioli

Die Zeit des Bewusstseins, das Tempo der Triebe und das Problem der Wirksamkeit des Willens bei Nietzsche Abstract: The Time of Consciousness, the Tempo of Drives and the Problem of Will’s Causal Efficacy in Nietzsche. When Nietzsche says, in the aphorism 4 of “The Four Great Errors” in Twilight of the Idols, that the representation of the cause of a phenomenon comes to consciousness only after a “reversal of time”, he resumes and deepens, in a new context, a thesis which was already present in his early reflections on the perceptual processes. Although the aphorism in question mainly refers to the projection of causes of sense impressions on the external world, its underlying thesis serves as a support for one of his many criticisms of the so-called “morality of intentions”. In this case, it is the conscious representation of the internal cause of an action, that is, the representation of the motive, which should be seen as a subsequent construct which is imagined after the initiation of the act. Thus, Nietzsche attempts to deconstruct the belief in the causal efficacy of what we identify as our will. This paper discusses his theses about the temporality of intentional consciousness within his moral psychology, drawing a parallel between his remarks and some recent results in neuroscience. It is also asked in what sense it is still possible to speak of “freedom” (as does Nietzsche himself) after a so sharp criticism of the belief in the causality of the will.

In einer Episode der Fernsehserie „Dr. House“1 wird der Fall eines Split-BrainPatienten untersucht, d.h. eines Patienten, dessen Gehirnhemisphären chirurgisch getrennt wurden. Während eines Testes wird ihm auf einem Bildschirm an seiner linken Seite ein Satz mit dem Befehl „Stehen Sie auf“ angezeigt. Der Satz wird entsprechend nur von seinem linken Auge gesehen. Weil beide Hälften jeweils die Funktionen der anderen Körperseite steuern, erreicht die Information wegen der fehlenden Kommunikation zwischen den Hemisphären nur die rechte Hirnhälfte. Der Patient steht dann auf und wird von Dr. Foreman befragt, warum

1 Es handelt sich um die Episode 24 der 5. Staffel („Nichts geht mehr“).

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er aufgestanden ist. Seine Antwort lautet: „Mir ist ein wenig kalt. Ich wollte mir einen Pulli oder so was aus meinem Zimmer holen.“ Da die linke Hemisphäre in der Regel diejenige ist, die für solche Antworten und für die Sinnstiftung überhaupt verantwortlich ist (sie ist nämlich die Hemisphäre mit den höheren Sprachfähigkeiten), und da sie über die im Befehl „Stehen Sie auf“ enthaltene Information nicht verfügt, erdichtet sie eine sinnvolle Geschichte, die einen Grund für das Aufstehen des Patienten angibt, und projiziert nachträglich diesen Grund als ein vor dem Aufstehen vorhandenes und es bewirkendes Motiv. Ähnliche Fälle werden von Daniel Wegner in seinem Buch The Illusion of Conscious Will berichtet, in dem er von einigen Experimenten des Neurowissenschaftlers Michael Gazzaniga berichtet (Wegner 2002, 181f.). Was in diesen Fällen interessant ist, ist die Konstatierung eines im Gehirn tätigen erdichtenden (konfabulatorischen) Mechanismus von nachträglicher Ursachen-Setzung. Obwohl es hier um ganz spezifische Phänomene geht, geben sie uns ein aufschlussreiches Bild der interpretatorischen Verfahrensweise des Gehirns, das ein Licht auf die Beziehung zwischen der bewussten Vorstellung des Motivs einer Handlung und der Handlung selbst werfen kann. Nietzsche hat sich mit dieser Problematik tief auseinandergesetzt und einige der wichtigsten Resultate der Hirnforschung der letzten Jahrzehnte antizipiert, nämlich die vom Physiologen Benjamin Libet gemachte Feststellung, dass unsere Taten unbewusst initiiert werden.2 Diese Feststellung hängt mit der weiteren These zusammen, dass zwischen den physiologischen Vorgängen, die eine bewusste Vorstellung hervorrufen, und dem eigentlichen Bewusst-Werden dieser Vorstellung eine Zeitverzögerung stattfindet. Grund dafür ist nach Nietzsche die Tatsache, dass der interpretatorische Mechanismus, der dem Bewusstsein zugrunde liegt, eine bestimmte Ursache für den betreffenden physiologischen Zustand finden muss, bevor dieser Zustand irgendwie im Bewusstsein vorgestellt wird. Nietzsche nennt diesen Mechanismus unseren ,Ursachentriebʽ3. Ein Beispiel dieses Prozesses entnimmt er dem Traumerlebnis: Vom Traume auszugehn: einer bestimmten Empfindung, zum Beispiel in Folge eines fernen Kanonenschusses, wird nachträglich eine Ursache untergeschoben […]. Die Empfindung dauert inzwischen fort, in einer Art von Resonanz: sie wartet gleichsam, bis der Ursachentrieb ihr erlaubt, in den Vordergrund zu treten, — nunmehr nicht mehr als Zufall, sondern als ‚Sinn‛. Der Kanonenschuss tritt in einer causalen Weise auf, in einer anscheinenden

2 Für eine Diskussion der Ähnlichkeiten zwischen Nietzsches und Libets Positionen siehe Leiter 2007. 3 Für eine weitergehende Interpretation des Ursachentriebs und der Zeitumkehrung bei Nietzsche siehe Lupo 2006, 37–54.

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Umkehrung der Zeit. Das Spätere, die Motivirung, wird zuerst erlebt, […] der Schuss folgt… Was ist geschehen? Die Vorstellungen, welche ein gewisses Befinden erzeugte, wurden als Ursache desselben missverstanden. (GD Irrtümer 4, KSA 6, 92)

Nietzsche argumentiert dann, dass wir es tatsächlich ebenso im Wachen machen, was bedeutet, dass „jede eigentliche Aktion der Außenwelt immer unbewußt verläuft… Das Stück Außenwelt, das uns bewusst wird, ist nachgeboren nach der Wirkung, die von außen auf uns geübt ist, ist nachträglich projicirt als deren ‚Ursache‛.“ (NL 1888, 15[90], KSA 13, 459) Die Außenwelt, die uns gegenüber steht, ist also unser Werk, das Resultat unseres Ursachentriebs, das nun auf uns zurückwirkt. „Es braucht Zeit, bevor sie fertig ist, aber diese Zeit ist so klein“ (NL 1884, 26[44], KSA 11, 159), dass sie für den Zeitsinn unseres Bewusstseins unbemerkt bleibt. Die vorliegenden Textstellen betreffen somit die Projektion von Ursachen der Sinnesempfindungen auf die Außenwelt. Es handelt sich um einen Vorgang, den Nietzsche durch eine aus unserem Zeiterlebnis hergeleitete Ätiologie des Irrtums ans Licht bringt. Diese kann als eine Art Phänomenologie des Irrtums gesehen werden (Lupo 2006, 42), da sich die Untersuchung über den Ursprung dieses kognitiven Irrtums im Rahmen einer Analyse des Bewusstseins und dessen Prozesse vollzieht. Er nennt das den Irrtum der imaginären Ursachen. Die These aber, die aus dieser Phänomenologie abgeleitet wird, gilt auch als basalen Anhaltspunkt für eine scharfsinnige Kritik an der sogenannten „Absichten-Moral“. Genauso wie die bewusste Vorstellung einer von außen auf uns bewirkenden Ursache soll die bewusste Vorstellung der inneren Ursache einer Handlung, d.h. die Vorstellung des Motivs, als ein nachträgliches Konstrukt gesehen werden, das nach der Initiierung der Tat imaginiert wird. Im vorhergehenden Aphorismus aus Götzen-Dämmerung, der den Irrtum der falschen Ursächlichkeit behandelt, betrachtet Nietzsche das Motiv als ein bloßes „Oberflächenphänomen des Bewusstseins, ein Nebenher der That“ (GD Irrtümer 4, KSA 6, 91). Hier findet ebenso eine Umkehrung der Zeit statt. In einem weiteren Nachlassfragment aus dem Jahr 1885, das den Titel „Die umgekehrte Zeitordnung“ trägt (NL 1885, 34[54], KSA 11, 437), bringt Nietzsche die Arbeitsweise dieses Mechanismus bei der Konstitution der Außenwelt mit dem Phänomen des Schmerzes in Verbindung. Der dieses Fragment abschließende Hinweis auf den Schmerz lässt sich anhand eines späteren Textes erklären, in dem Nietzsche behauptet, der Schmerz sei nicht die Ursache zu den Gegenbewegungen des Leibes bei einer Schmerzempfindung, wie das Volk und die meisten Philosophen glauben. Durch eine genauere Beobachtung sollte ersichtlich werden, dass die Gegenbewegung der Schmerzempfindung vorausgeht.

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Es stünde schlimm um mich, wenn ich bei einem Fehltritt zu warten hätte, bis das Faktum an die Glocke des Bewußtseins schlüge und ein Wink, was zu thun ist, zurücktelegraphirt würde… Vielmehr unterscheide ich so deutlich als möglich, daß erst die Gegenbewegung des Fußes, um den Fall zu verhüten, folgt und dann, in einer meßbaren Zeitdistanz, eine Art schmerzhafter Welle plötzlich im vorderen Kopfe fühlbar wird. Man reagirt also nicht auf den Schmerz. Der Schmerz wird nachher projicirt in die verwundete Stelle. (NL 1888, 14[173, KSA 13, 359)

Es soll hier darauf aufmerksam gemacht werden, dass Nietzsche in diesem Fall von einer messbaren Zeitdistanz spricht. Die Messbarkeit dieser zeitlichen Distanz verleiht dem vorliegenden Beispiel eine besondere Bedeutsamkeit, denn dadurch stellt es eine deutlichere phänomenologische Beobachtung zugunsten der These der Nachträglichkeit des Bewusstseins dar. Außerdem beschränkt es sich nicht auf die kognitiven Grundlagen der Wahrnehmung der Außenwelt: es betrifft nämlich innere Vorgänge, die sichtbare leibliche Bewegungen hervorrufen. Insofern fungiert dieses Beispiel auch als theoretischen Übergang von der These der nachträglichen Projektion von Ursachen auf die Außenwelt zur These der nachträglichen Erdichtung von inneren Handlungsursachen, was schon die Konzeption des Willens anbelangt. Seine eigene Theorie des Willens entwickelt Nietzsche als eine entschiedene Kritik an der traditionellen Vorstellung des Willens als Ursache und an der Schopenhauer’schen Konzeption des Willens als einfache Einheit und unmittelbare Gewissheit. Das ist das Thema des berühmten Aphorismus 19 aus Jenseits von Gut und Böse. In diesem Aphorismus präsentiert Nietzsche eine detaillierte Beschreibung der psychophysiologischen Vorgänge, die der Dynamik des Wollens zugrunde liegen. Brian Leiter (2007) sowie Maudemarie Clark und David Dudrick (2012) haben sich mit diesem Text intensiv auseinandergesetzt und zwei unterschiedliche Interpretationen von Nietzsches Phänomenologie des Wollens vorgeschlagen. Während Leiter anhand von diesem Text und einigen weiteren Passagen aus Götzen-Dämmerung einen Epiphänomenalismus aus Nietzsches Positionen ableitet, schlagen Clark und Dudrick (2012, 176ff.) eine stark normative Interpretation vor, der zufolge Nietzsche die These der Wirksamkeit des Willens aus dem sogenannten Raum der Gründe ableite. Ich kann diese entgegen gestellten Interpretationen hier nicht im Einzelnen diskutieren, aber wie Clark und Dudrick bemerken, ist eines der Hauptprobleme hier die Entscheidung darüber, was in die Phänomenologie des Wollens einbezogen werden muss und was sie begründen soll. Ich bin mit Clark und Dudrick darin einverstanden, dass Nietzsche mit dieser Phänomenologie eine Basis für seine Theorie der Dynamik des Wollens präsentieren will, die gegen die Ungenauigkeit des Alltagsbewusstseins gerichtet ist, an dem sowohl das Volk als auch die Philosophen (insbesondere Schopenhauer) hängen bleiben. Dass die Gültigkeit dieser Beschreibung sich aber

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auf eine ganz bestimmte Klasse von Handlungen beschränkt, nämlich Handlungen, die offensichtlich Willensstärke erfordern, wie die Autoren zu verstehen geben, scheint mir ein Missverständnis zu sein. Auch irreführend scheint mir die stark normative Interpretation zugunsten der These der Freiheit des Willens, die davon ausgeht, dass bei Nietzsche eine deutliche Unterscheidung von Raum der Ursachen und Raum der Gründe zu finden ist.4 In Bezug auf den ersten Punkt argumentieren die Autoren, dass wir den Komplex von Gefühlen, Gedanken und Affekten im Akt des Wollens, wie er von Nietzsche im vorliegenden Aphorismus beschrieben wird, nicht bei jeder Handlungsentscheidung erfahren, sondern nur bei denjenigen, die offensichtlich Willensstärke oder Zielstrebigkeit (willpower) erfordern. Demnach solle sich das hier dargestellte Bild der Komplexität des Wollens nur auf jene Klasse von Handlungen beziehen (Clark/Dudrick 2012, 180ff.). Aber die Tatsache, dass dieser Komplex nicht immer und nicht notwendig als solcher erfahren wird, impliziert nicht, dass er nicht immer vorhanden ist. Dass dieser holistische Zusammenhang in der Regel eben nicht als solcher erkannt wird, ist eigentlich der Ausgangspunkt des Aphorismus, der davon ausgeht, dass der Wille dem Alltagsbewusstsein aufgrund einer falschen Selbstbeobachtung als eine einfache Einheit erscheint. Insofern geht es Nietzsche darum, durch eine genauere Beobachtung des Vorgangs des Wollens ein komplexeres Bild desselben darzustellen.

4 Clark und Dudrick behaupten, dass Nietzsche in seinem angeblichen Versuch, eine Konzeption der Normativität aus dem Raum der Gründe abzuleiten, auf Spir zurückgreift (2012, 124ff.). Dass Spir eine strenge Unterscheidung zwischen dem Logisch-Normativen und dem Physisch-Deskriptiven etabliert, ist klar. Dass Nietzsche aber diese Unterscheidung teilt und sie als Basis für seine Konzeption der Normativität nimmt, ist ein Missverständnis, und das vor allem aus zwei Gründen: Erstens, weil die von Spir aus der Unterscheidung von Logischem und Physischem abgeleitete Konzeption der Normativität an einem allzu inflationären Transzendentalismus hängen bleibt, den Nietzsche stark kritisiert. Die Annahme eines logisch-normativen Raums, der in Bezug auf den Raum der Ursachen autonom wäre, wird von Nietzsche verabschiedet zugunsten der These einer Kontinuität und einer vitalen Einheit zwischen dem Normativen und dem Biologischen. Er geht davon aus, dass wertschätzende Prozesse (Unterscheidungen zwischen Schädlichem und Nützlichem) wesentlich sind für die Erhaltung und Erweiterung der organischen Gebilde in ihrer Beziehung zum natürlichen Milieu (vgl. dazu Heit 2014, 34). Zweitens, weil die von Spir aus dem Raum der Gründe abgeleitete Normativität mit der These zusammenhängt, dass das logische Grundgesetzt des Denkens (das Prinzip der Identität, das jenen Raum regiert) eine ontologische Erweiterung besitzt, die mit dem kantischen Ding an sich (oder dem Unbedingten) zusammenfällt (vgl. Spir 1877 I, 143–244, 312). Das ist ebenfalls eine Konzeption, die Nietzsche stark kritisiert. Die Vorstellung der Normativität, die Clark und Dudrick aus dem Begriff des Politischen im Rahmen von Nietzsches Physiologie herzuleiten versuchen, rückt ihn in die Nähe einer Tradition, die er immer wieder zu dekonstruieren versuchte. Für eine alternative und interessantere Interpretation des Gebrauchs der politischen Metaphern in Nietzsches Triebtheorie siehe Lopes 2012.

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Das wichtigste Moment seines Arguments ist in diesem Kontext die These, dass die Ausführung der Aktion ein hochkomplexes System von Befehlenden und Gehorchenden voraussetzt und insofern von einer Unzahl über- und untergeordneter, den Organismus konstituierender Wesen abhängig ist, die Nietzsche „Unterwillen“ und „Unter-Seelen“ nennt. Dass sich dieses theoretische Bild des Wollens nicht nur auf diejenigen Handlungen bezieht, die Zielstrebigkeit implizieren, bezeugt ein Fragment, in dem Nietzsche das Beispiel einer ganz ordinären Handlung gibt: „Ich habe die Absicht, meinen Arm auszustrecken; […] was giebt es eigentlich Vageres, Blasseres, Ungewisseres als diese Absicht im Vergleich zu dem was darauf geschieht?“ (NL 1886, 7[1], KSA 12, 249)5 Was Nietzsche hier hervorheben will, ist einerseits die Irreduzibilität der Handlung auf die vermeintliche Absicht und andererseits die Zeichenhaftigkeit der letzteren. In demselben Fragment suggeriert er noch, dass der Zweck eine Begleiterscheinung sei, „ein in das Bewusstsein vorausgeworfenes blasses Zeichenbild, […] ein Symptom selbst vom Geschehen, nicht dessen Ursache.“ (NL 1886, 7[1], KSA 12, 248) Die Aktion hebt also „von unten“ an: es muss nämlich immer von neuem bis ins Kleinste hinein befohlen (und gehorcht) werden und dann erst, wenn der Befehl zergliedert ist in die Unzahl kleiner Unterbefehle kann die Bewegung vor sich gehen, die von dem letzten und kleinsten Gehorchenden anhebt — also eine Umkehrung findet statt, wie beim Kanonenschuß-Traum. (NL 1884, 27[19], KSA 11, 279)

Die Rede von Umkehrung und der Hinweis auf den Kanonenschuss-Traum an dieser Textstelle machen nochmals klar, dass es sich hier genau um dasselbe Phänomen der Nachträglichkeit handelt, das die Zeitlichkeit des Bewusstseins überhaupt kennzeichnet. Die sogenannten Zwecke sind als bewusste Erscheinungen End-Erscheinungen, Folgen eines inneren Vorganges, dessen Zeitlichkeit dem Bewusstsein unter normalen Bedingungen entzieht. „Das erste Gelingen auf den ersten Nerven- und Muskelbahnen giebt die verfrühte Vorstellung des Könnens, und daraus resultirt das verfrühte Bild des gewollten Zwecks: die Zweckvorstellung entsteht, nachdem schon die Handlung im Werden ist!“ (N 1880, 6[254], KSA 9, 264) Dieser Schluss kommt den Ergebnissen der berühmten und kontroversen Experimente von Benjamin Libet entgegen. Brian Leiter (2007) hat schon die Ähnlichkeiten zwischen Nietzsches Konzeption des Wollens und derjenigen Libets herausgestellt. Durch die Messung des zeitlichen Abstandes zwischen den

5 Weitere Textstellen, an denen Nietzsche solche Beispiele anführt, sind: FW 127; KSA 3, 482 und NL 1880, 6[254], KSA 9, 264.

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Gehirnaktivitäten, die einer bestimmten Handbewegung vorausgehen, und dem Bewusstwerden der dazu gehörenden Handlungsentscheidung hat der Physiologe herausgefunden, dass die Absicht, die Hand zu bewegen, erst nach dem Auftreten der betreffenden Nervenaktivität im Motorkortex (was er das Bereitschaftspotenzial nannte) bewusst wurde, auch wenn dieses Bewusstwerden der Absicht immerhin vor der eigentlichen Muskelbewegung erfolgte. Die Willensentscheidung habe also die Aktivierung des Motorkortex nicht hervorrufen können (Libet 2004, 124ff.). Das Bild, das wir von der Ursächlichkeit des Willens haben, wäre in diesem Kontext das Resultat eines Mechanismus, der dem ähnlich ist, was Nietzsche die „Umkehrung der Zeit“ im Beispiel des KanonenschussTraums nennt. Anhand von einigen die Wahrnehmung betreffenden Experimenten hat Libet ebenso festgestellt, dass zwischen dem Eintritt eines Nervenreizes und der ihm entsprechenden bewussten Empfindung eine Zeitverzögerung stattfindet, wobei jedoch die bewusste Empfindung gleichsam rückdatiert wird, sodass die Erfahrung subjektiv ohne jene Zeitverzögerung zu erfolgen scheint. Libet nennt diesen Mechanismus backwards referral in time (Libet 2004, 72ff.). Dieser ist Nietzsches „chronologischer Umkehrung“ analog und insofern implizieren beide Theorien eine Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen zeitlichen Referenzrahmen. Es muss nämlich unterschieden werden zwischen der Zeit der physiologischen Vorgänge, die dem Auftreten einer bewussten Vorstellung vorausgehen, und der Zeit, die dieser bewussten Vorstellung als intentionalem Bewusstseinsinhalt entspricht, d.h. der erlebten Zeit. Es muss also unterschieden werden zwischen der Zeit der Vorstellung und der Vorstellung der Zeit, um die Termini zu gebrauchen, mit denen Stegmaier seinen erhellenden Artikel über das Problem der Zeit bei Nietzsche betitelt (vgl. Stegmaier 1987). Daniel Dennett hält diese Unterscheidung auch für grundlegend, wenn es um Modelle für die Beschreibung der Informationsverarbeitung durch unsere kognitiven Systeme und Subsysteme geht. Er setzt diese Differenzierung derjenigen von Inhalt und Träger gleich (Dennett 1991, 147). Demzufolge muss die vorgestellte Zeit dem eigentlichen Nacheinander des Vorgangs des Vorstellens nicht entsprechen. Das Wichtigste für ihn ist das Vorhandensein eines Zeitfensters zwischen Nervenreiz und Wahrnehmung, innerhalb dessen viele editorische Prozesse stattfinden. Bei diesen Prozessen wird der Informationsinhalt durch verschiedene Ergänzungen und Revisionen modelliert, bevor er irgendwo im Gehirn hingeschickt wird, wo die Information in Gebrauch genommen werden soll. Wichtig für Dennett ist weiterhin, dass man den genauen Zeitpunkt nicht fixieren kann, an dem der betreffende Inhalt ins Bewusstsein tritt. Wie Günter Abel bemerkt, besagt Dennetts Modell der „mehrfachen Entwürfe“ (multiple drafts), dass es keine „Zentralperspektive“ gibt bzw. kein inneres „Beobachtungs- und Verarbei-

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tungszentrum in Bezug auf das, was dann als Inhalt ins Bewußtsein tritt oder nicht“ (Abel 2001, 19). Der Ausdruck multiple drafts bezieht sich in diesem Zusammenhang auf die verschiedenen Wirklichkeitsentwürfe, die gleichzeitig in den verschiedenen, im Gehirn verteilten Teilsystemen geschrieben werden und sich nicht auf einen einheitlichen Strom des Bewusstseins reduzieren lassen.6 Anhand dieses Modells und der Thesen von Libet und Nietzsche bezüglich des Zeitverzögerungsphänomens lässt sich sagen, dass die Zeitlichkeit, die als Resultat dieser interpretatorischen Prozesse als Referenzrahmen des intentionalen Bewusstseins auftaucht, mit der Zeit dieser Prozesse selbst inkongruent ist. Es findet nämlich eine Rückdatierung oder eine chronologische Umkehrung statt in einem den kognitiven Subsystemen eigenen Tempo. Andererseits heißt das aber auch, dass die Vorstellung der Zeit auf der Zeit der Vorstellung gegründet ist, jedoch nicht in linearer Weise. Der Prozess der Zeitumkehrung bei der Konstitution der Zeitvorstellung braucht selbst Zeit, bevor er fertig ist. Auf die Unterscheidung zwischen diesen beiden zeitlichen Referenzrahmen wird im folgenden Nachlassfragment angespielt: „Unsere Ableitung des Zeitgefühls […] setzt immer noch die Zeit als absolut voraus.“ (NL 1884, 25[406], KSA 11, 118) Die Bezeichnung „absolut“ scheint zwar eine gewisse metaphysische Valenz zu tragen. Zieht man aber Nietzsches Gesamtkonzeption des Geschehens als Willen-zur-Macht-Prozesse und somit den Interpretationscharakter alles Geschehens in Betracht, kann der Ausdruck seine angeblich metaphysische Valenz verlieren. Worauf hier angespielt wird, so könnte man sagen, ist die Zeitlichkeit, die der Intentionalität des Willens (oder der Willen) inhärent ist.7 Das heißt: von einer anderen Perspektive aus gesehen wäre die Zeit der Vorstellung selbst eine vorgestellte Zeit, aber diese tiefere Vorgestelltheit gehört einer unbewussten kognitiven (oder subkognitiven)

6 Dennetts Model bringt einige Probleme für die Interpretation von Libets Experimenten hervor, da letzterer davon ausgeht, dass es uns möglich ist, den exakten Moment zu bestimmen, an dem ein gewisser Informationsinhalt ins Bewusstsein tritt (sei es ein Sinneseindruck, sei es die Entscheidung, einen Teil des Leibes zu bewegen). Eine Diskussion über diese Probleme und die verschiedenen Interpretationen der vorliegenden Experimente würde die Grenzen dieser Arbeit überschreiten (siehe dazu Dennett 1991, 153ff.; Dennett/Kinsbourne 1992). Es soll nur darauf hingewiesen werden, dass Dennett immerhin die These verteidigt, dass eine Informationsverarbeitungszeit notwendig ist, bevor die Information als bestimmter Inhalt dem Bewusstsein zur Verfügung gestellt wird. Das Dasein einer solchen Informationsverarbeitungszeit (was Dennett „timewindow“ nennt und aufgrund wessen sich eine Inkongruenz zwischen der Zeit der neuronalen Prozesse und dem Zeiterlebnis bildet) ist eben das, was uns dazu zwingt, das Nacheinander der Hirnvorgänge von dem in der Erfahrung subjektiv vorgestellten Nacheinander zu trennen, d.h., zwischen Träger und Inhalt der Zeitvorstellung zu unterscheiden. 7 Zu der die Intentionalität des Willens konstituierenden Zeitlichkeit siehe Richardson 2006, 214ff. und Stegmaier 1987, 226.

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Ebene, deren Dynamik sich aufgrund ihres eigenen beschleunigten Tempos dem zeitlichen Sinn unseres Bewusstseins entzieht. Die Vorstellung der Zeit, genauso wie jedes Urteil und jeder intentionale Bewusstseinsinhalt überhaupt, ist also das Produkt einer synthetisierenden, durch die vielen kognitiven Teilsysteme des Organismus zeitlich vollzogenen Tätigkeit. Nietzsche sieht diese Teilsysteme als Kräfte-Organisationen, die als Komplexe von Affekten oder Trieben verstanden werden. Über das Tempo dieser Triebe schreibt er: Das Urtheil ist etwas sehr Langsames im Vergleich zu der ewigen unendlich kleinen Thätigkeit der Triebe — die Triebe sind also immer viel schneller da, und das Urtheil ist immer nach einem fait accompli erst am Platze: entweder als Wirkung und Folge der Triebregung oder als Wirkung des miterregten entgegengesetzten Triebes. (NL 1880, 6[63], KSA 9, 210)

Lässt sich aus dem Gesagten also ableiten, dass jede bewusste Willensentscheidung einen bloß epiphänomenalen Charakter besitzt? Ist das Bewusstsein überhaupt ganz und gar unwirksam? Das ist eben die These, die Nietzsche in verschiedenen Momenten seines Werkes zu vertreten scheint. In anderen Momenten scheint er aber die Möglichkeit zuzulassen, dass die Gedanken auf die Triebe zurückwirken können, sodass sie die Trieb-Konstellationen irgendwie reorganisieren und bestimmten Trieb-Auslösungen eine Richtung geben, sowie gegen sie ein Veto einlegen können. In einem weiteren Fragment aus dem Jahr 1880 unterscheidet er aus einer phylogenetischen Perspektive zwei Zeiten, was das Verhältnis von Trieb und Denken angeht: erstens die „Zeit der Triebe ohne Gedanken“; und zweitens die Zeit der Triebe mit Gedanken (Urtheilen). Hier werden Triebe und Trieb-Verhäkelungen vorgestellt. Die häufige Wiederholung, das Zustimmen und Verwerfen solcher Vorstellungen, übt eine Rückwirkung auf die Triebe selbst, einige werden sehr geübt, andere außer Übung gesetzt und ausgedorrt. (NL 1880, 6[265], KSA 9, 266f.)

Da Nietzsche eine Art ontologischen A-Dualismus vertritt, der die Kontinuität zwischen Geistigem und Organischem betont, ist die Vorstellung einer Zusammen- und Wechselwirkung zwischen diesen beiden nur epistemologisch zu differenzierenden Sphären nicht auszuschließen. Ist aber das Argument der Nachträglichkeit des Bewusstseins bei Handlungsentscheidungen, wie es durch Libets Experimenten festgestellt wurde, nicht ein definitives Argument gegen die These der Wirksamkeit des Bewusstseins? Hier soll darauf hingewiesen werden, dass Libet selbst die Möglichkeit annimmt, dass in dem Zeitfenster zwischen der Aktivierung des Motorkortex und der eigentlichen Bewegung das Bewusstsein noch intervenieren kann, und zwar dadurch, dass es die Ausführung der Bewegung zulässt oder nicht. Das Bewusstsein ist also

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in der Lage, die schon physiologisch initiierte Handlung auszusetzen oder zu billigen (Libet 2004, 137ff.).8 Das wäre das Fenster der Freiheit des Willens. Im Aphorismus 360 aus Die Fröhliche Wissenschaft geht Nietzsche noch weiter, indem er sagt, der Zweck sei zwar nicht die treibende Kraft in der Ausführung des Handelns, aber er spiele dabei immerhin eine bescheidene kausale Rolle als dirigierende Kraft. Er suggeriert dann weiter, dass der Zweck „oft genug nur ein beschönigender Vorwand, eine nachträgliche Selbstverblendung der Eitelkeit“ sei (FW 360, KSA 3, 607) – in Übereinstimmung mit dem, was wir vorher gesehen haben. Dieser Hinweis kommt einer epiphänomenalistischen Interpretation seiner Theorie entgegen, auch wenn das Adverb „oft“ gleichsam noch einen Raum für die Annahme der Wirksamkeit des Willens bewahrt. Das Problem hier besteht aber darin, dass eine stark epiphänomenalistische Position mit den normativen Voraussetzungen einiger seiner Thesen unvereinbar ist, die wichtige Momente seines Philosophierens darstellen. Paul Katsafanas (2005) hat z.B. daraufhin argumentiert, dass die grundlegenden Thesen der Genealogie der Moral verabschiedet werden sollten, falls man von einer radikal epiphänomenalistischen Theorie des Bewusstseins ausgeht. Außerdem sind die verschiedenen Momente von Nietzsches Denken, die eine normative Theorie der Ausarbeitung der Triebe und der Kultivierung des Selbst und des Menschen zu artikulieren versuchen (was man gewöhnlich Nietzsches „Perfektionismus“ nennt), mit einem strikten Epiphänomenalismus nicht zu vereinbaren. Nietzsches Hinweise auf den höheren Menschen als einen freien Menschen, auf seine „Freiheit“, seinen „Instinkt der Freiheit“ und seinen „starken Willen“ zählen zu diesen Momenten. In diesem Zusammenhang findet man in Götzen-Dämmerung einige Bemerkungen zum Thema des starken Willens, die in Übereinstimmung mit Libets These über das Vetopotenzial des Bewusstseins stehen. Im Aphorismus 6 des Kapitels „Was den Deutschen abgeht“ schreibt Nietzsche dem starken Willen die Fähigkeit zu, „auf einen Reiz nicht sofort [zu] reagieren, sondern die hemmenden, die abschliessenden Instinkte in die Hand [zu] bekommen“ und die Entscheidung aussetzen zu können (GD Deutschen 6, KSA 6, 108f.). Diese Charakterisierung des starken Willens spielt auch eine wichtige Rolle in Kapitel „Moral als Widernatur“, wo er die Schwäche des Willens als eine „Unfähigkeit, auf einen Reiz nicht zu reagieren“ (GD Moral als Widernatur 2, KSA 6, 83), betrachtet. Solche Merkmale werden zwar als physiologisch beschrieben, was aber eher als ein weiteres Bei-

8 „Free will does not initiate a volitional process; but it can control the outcome by actively vetoing the volitional process and aborting the act itself, or allowing (or triggering) the act to occur.” (Libet 2004, 143)

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spiel von Nietzsches Kontinuum-Modell und weniger als ein Argument gegen die geistige Natur jener Merkmale gesehen werden soll. Wie beziehen sich die vorliegenden Textstellen aus Götzen-Dämmerung zu dem oben zitierten Aphorismus 360 aus Die Fröhliche Wissenschaft? Zusammen stellen sie zwei Möglichkeiten dar, wie man den Einfluss des Willens auf das Handeln zu denken hat. Diese zwei Möglichkeiten entsprechen den zwei von Libet präsentierten denkbaren Einflussmodi des Bewusstseins auf den Willensvorgang: obwohl es den Vorgang selbst nicht initiiert, kann es dessen Ergebnis kontrollieren, indem es ihn aktiv verbietet (was der Fähigkeit des starken Willens entspricht, auf einen Reiz nicht zu reagieren) oder billigt, wobei die Ausführung der Tat in eine bestimmte Richtung ausgelöst wird (was der auslösenden und dirigierenden Kraft entspricht, die eine bewusste Vorstellung auf eine gewisse Triebregung ausüben kann). Hier darf der Begriff der Auslösung als Anhaltspunkt für eine Art anomalen Kompatibilismus gelten,9 demzufolge der Wille als eine sekundäre Ursache interpretiert werden könnte. Es handelt sich um einen anomalen Kompatibilismus, weil er ein Kausalitätsmodell voraussetzt, das in den traditionellen Debatten zwischen Kompatibilisten und Inkompatibilisten nicht vorzukommen scheint. Dieses alternative Kausalitätsmodell wird von Nietzsche anhand des Begriffs der Auslösung gedacht, nach dem die „Veranlassung“ in keinem messbaren Verhältnis steht zu den von ihr ausgelösten Folgen (Brusotti 1997, 58). Dementsprechend geht es „bei dem auf Auslösungen von Kräften beruhenden Geschehen […] um qualitative Vorgänge, die sich jeder Berechnung entziehen.“ (Abel 1998, 45) Das ist ein fundamentaler Aspekt dieses alternativen Modells, denn dadurch wird die Bestimmung durch streng deterministische Prinzipien ausgeschlossen, ohne dass man auf einen naturalistischen Ansatz verzichten müsste. In seiner Rezeption dieses Modells versucht Nietzsche dann, das Verhältnis von Empfindung und Bewegung zu denken. „Zwischen einer Bewegung und einer Empfindung giebt es nicht Ursache und Wirkung, sondern letztere ist eine Auslösung von eigner Kraft, und erstere giebt einen Anstoß dazu – nicht meßbares Verhältniß.“ (Vs JGB 192; in M III 1, 143, vor 11[19]; KSA 14, 358)10 Die Idee, dass ein Reiz von vorstellungshafter Natur als auslösendes Element wirken kann (NL

9 Ken Gemes (2009) schreibt Nietzsche auch eine kompatibilistische Position zu, jedoch nicht ausgehend vom Begriff der Auslösung. Eine weitere interessante kompatibilistische Interpretation von Nietzsches Positionen findet man in der Arbeit von Brian T. Russel (2011), der in diesem Zusammenhang auf die oben zitierten Textstellen aus Götzen-Dämmerung ebenso hinweist. Für eine weitergehende Diskussion von Nietzsches Rezeption des Auslösungsbegriffs siehe Brusotti 1997, 56–64 und Abel 1998, 43–49. 10 Vgl. dazu Brusotti 1997, 58.

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1881, 11[131], KSA 9, 489), ist in diesem Zusammenhang sehr wichtig. „Daß unsere Vorstellungen als auslösende Reize wirken“ (NL 1881, 11[138], KSA 9, 493), ist nämlich die These, die im Aphorismus 360 aus Die Fröhliche Wissenschaft enthalten zu sein scheint. Umgekehrt heißt das aber auch, dass Vorstellungen als Gegenreize wirken können, d.h., sie können eine durch bestimmte Reize veranlassende Bewegung aussetzen, wenn sie als Gegenreize stärker sind als die auslösenden Reize. Das entspricht seinerseits dem Vetopotenzial der intentionalen Instanz unseres psychophysischen Systems, auf das in den oben zitierten Textstellen aus Götzen-Dämmerung hingewiesen wird. Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Physiologen Charles Féré11 spielt hier insofern eine wichtige Rolle, als die Pathologisierung des schwachen Willens die Grundlage für die Charakterisierung der Unfreiheit des Willens bildet. Die „Ohnmacht, auf irgend einen Reiz hin die Reaktion auszusetzen“ (NL 1888, 14[113], KSA 13, 290), die „Unhemmbarkeit der ‚Handlung‛“ (NL 1888, 14[102], KSA 13, 279), „der Mangel an Hemmungskräften gegen Reize“ (NL 1888, KSA 13, 89) werden als Symptome von Degenereszenz und zugleich als Kennzeichen eines „unfreien Willens“ betrachtet. Zieht man solche Überlegungen in Betracht, kann man schließlich dem Bewusstsein eine beschränkte Rolle in der Hervorbringung unserer Handlungen zuschreiben.12 Es mag den physiologischen Geschehen in gewissem Sinne zwar immer nachlaufen und insofern ist alles, was ihm zur Verfügung steht, schon ein Vergangenes. Doch kann der Wille immerhin sagen: „das habe ich gewollt“! Dass der Wille alles „Es war“ in ein „So wollte ich es!“ umschaffen kann (Z Von der Erlösung, KSA 4, 179), ist für Zarathustra seine höchste Versöhnung. Das war

11 Für eine weitergehende Diskussion von Nietzsches Auseinandersetzung mit Féré siehe Lampl 1986. 12 In seinem Vorwort für das hier diskutierte Buch von Libet (2004) schreibt S. M. Kosslyn: „Libet has made a fundamental discovery. If the timing of mental events is as he describes, then we not only have ‘free will’ in principle—but we also have the opportunity to exercise that free will. […] I’ve not mentioned the issue of ‘ultimate responsibility’—whether one is completely responsible for ‘what one is’. Given that one cannot control the genetic cards one’s parents dealt one, the sense of ‘free will’ developed here seems to go only so far. However, Libet’s veto idea leads us to take a step back, and reframe the question: Instead of asking whether one is ‘ultimately responsible’ for every aspect of what one is, why not ask whether one is ‘proximally responsible’ for the effects of every aspect of what one is on what one does? Can we choose—based on what we’ve chosen to become— to override some impulses and express others?” (Kosslyn 2004, xiv-xv) Die Idee, dass wir bestimmte Triebe hemmen, andere zulassen und dadurch in ihre Rangordnung und Organisation aktiv interferieren können, scheint mir eben die Idee zu sein, die in Nietzsches Forderung nach Selbst-Kultivierung vorausgesetzt wird. Wie er im Aphorismus 560 aus Morgenröte sagt: „Man kann wie ein Gärtner mit seinen Trieben schalten und, was Wenige wissen, die Keime des Zornes, des Mitleidens, des Nachgrübelns, der Eitelkeit so fruchtbar und nutzbringend ziehen wie ein schönes Obst an Spalieren“ (M 560, KSA 3, 326).

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für ihn eigentlich die Erlösung des Vergangenen und die Versöhnung mit der Zeit, zugleich aber auch die Befreiung des Willens: wenn dieser fähig ist, sich selbst in seinen Akten zu erkennen. „Alles ‚Es war‛ ist ein Bruchstück, ein Räthsel, ein grauser Zufall — bis der schaffende Wille dazu sagt: ‚aber so wollte ich es!‛“ (Z Von der Erlösung, KSA 4, 181) In einem weniger dramatischen und weniger ehrgeizigen Sinne gilt das auch für die Vergangenheit jeder Handlung, sodass man bezüglich der unergründlichen Zeit der Vorstellung in etwas lässigem und zugleich ermutigendem Ton sagen könnte: in dem Mikrokosmos der Vergangenheit jeder Handlung können wir in jedem Augenblick (wenn auch unbewusst) das „Zurückwollen“ des Zarathustra lernen.

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Transformationen der Zeit – „Wille zur Macht“ und Gedächtnis Abstract: Transformations of Time. „Will to Power“ and Memory. According to Nietzsche’s basic principle of the „will to power“, reality (including ourselves) is permeated by an aimeless escalation of the life process that is in fact wasteful. Life is for Nietzsche „essentially a strive for more power“. This raises the question, in what relation the escalating power – „not wanting to sustain oneself“ as a basic drive – stands to what Nietzsche characterizes just as vehemently as „the task of nature“ , namely to breed „an animal that is entitled to make promises“. Can the tendencies towards the conservation of a livable organism (generally speaking: flexible entities) be derived from the tendency to become infinitely more that is at the basis of all processes? In this article the basic ambivalence in the concept of the „will to power“ will be discussed in light of human temporality and its inherent forms of memory.

In seinem Aufsatz Der Organismus als innerer Kampf. Der Einfluß von Wilhelm Roux auf Friedrich Nietzsche aus dem Jahr 1978 hat Wolfgang Müller-Lauter auf eine erstmals im Zusammenhang der KGW veröffentlichte merkwürdige Notiz Nietzsches aufmerksam gemacht, in der Nietzsche schreibt, der ganze menschliche Organismus sei ein „nach Wachsthum von Machtgefühl ringender Complex“ nur „bis zum Alter der Pubertät“,1 das heißt bis zum Eintritt der Geschlechtsreife. Ich möchte diese von den Herausgebern des fragwürdigen Kompilats Der Wille zur Macht unterschlagene Bemerkung im Folgenden zum Ausgang meiner Überlegungen nehmen und von hier aus die Frage nach der menschlichen Zeitlichkeit stellen. Wenn Nietzsche mit dem Wort vom „Willen zur Macht“ (gesetzt, dieses vor allem in die Nachlassnotizen der mittleren und späten Achtzigerjahre gehörende Wort verfügt über eine philosophische Relevanz und ist nicht, wie Christian Niemeyer kürzlich in einem Aufsatz behauptet hat, primär rhetorisch gemeint

1 Müller-Lauter 1999a, 134. Vgl. Nietzsches Notiz vom Frühjahr 1888: „ […] alle gesunden Funktionen des Organismus haben dies Bedürfniß [siegen zu wollen; Anm. C. N.], – und der ganze Organismus, bis zum Alter der Pubertät, ist ein solcher nach Wachsthum von Machtgefühlen ringender Complex von Systemen – – –“ (NL 1888, KSA 13, 360 ff.)

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(Niemeyer 2013)2 – und ich setze dies voraus), wenn Nietzsche also mit dem Wort vom „Willen zur Macht“ eine für alles organische Leben konstitutive Verschwendung, ein Vorwärtsströmen, ein Mehr konnotiert, was bedeutet dann jene bedeutungsvolle Einschränkung, dies geschehe „bis zum Eintritt der Pubertät“, im Blick auf den ganzen Menschen? Wie steht es um die Machtausweitung des Lebens nach der Pubertät? Welche verschiedenen Formen der Zeitlichkeit, der Organisation dieses machtvollen Stroms nach vorne (der ja als solcher zugleich einen Strom des unablässigen Vergehens, Verkümmerns und Alterns darstellt) durchherrschen dieses ‚Geschehen‘ Mensch, wie verhalten sie sich zueinander und was bedeuten sie im Blick auf die dem Lebens als Wille zur Macht inhärenten Formen des Gedächtnisses?

1 Wirklichkeit als „Wille zur Macht“ Müller-Lauters Interpretationen zeigen nach wie vor, dass es grundsätzlich von großer Aufschlusskraft ist, Nietzsches Gedanken ernst zu nehmen, die Wirklichkeit in all ihren Abertausend Masken, Gesichtern und Möglichkeiten sei letztlich auf eine – von ihm in aller Vorläufigkeit, die sprachlichen Bezeichnungen bei Nietzsche ohnehin zukommen3 – „Wille zur Macht“ genannte Grundstruktur zurückzuführen. So heißt es in dem berühmten Paragrafen 36 von Jenseits von Gut und Böse bekanntlich: Gesetzt […], dass es gelänge, unser gesammtes Triebleben als die Ausgestaltung und Verzweigung Einer Grundform des Willens zu erklären – nämlich des Willens zur Macht, wie es m e i n Satz ist –; gesetzt, dass man alle organischen Funktionen auf diesen Willen zur Macht zurückführen könnte und in ihm auch die Lösung des Problems der Zeugung und Ernährung – es ist Ein Problem – fände, so hätte man damit sich das Recht verschafft, a l l e wirkende Kraft eindeutig zu bestimmen als: W i l l e z u r M a c h t . Die Welt von innen gesehen, die Welt auf ihren ‚intelligiblen Charakter‘ hin bestimmt und bezeichnet – sie wäre eben ‚Wille zur Macht‘ und nichts ausserdem. – (JGB 36, KSA 5, 55)

Dass diese Grundstruktur nicht mit einem Prinzip im metaphysischen Sinne zu verwechseln ist, hat Müller-Lauter ebenfalls deutlich gemacht, indem er darauf hinweist, dass es diese „einzige Qualität nur in Machtquanten“ gibt, in einem „unüberblickbar vielfältigen […] Wirksamsein“ bzw. „nur in der Fülle gegenstre2 Vorangegangen ist ihm in dieser Einschätzung bekanntlich Karl Schlechta; vgl. Schlechta 1958. Dagegen u.a. Brobjer 2006. 3 „Wir haben leider keine Worte, um das wirklich Vorhandene […] zu bezeichnen.“ (NL 1885, KSA 11, 631; vgl. NL 1885, KSA 11, 653)

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biger ‚Existenzen‘“.4 Nietzsche bringt diese im Perspektivismus zusammengefasste Vielheit der Willen zur Macht beispielsweise zum Ausdruck, wenn er festhält: Meine Vorstellung ist, daß jeder spezifische Körper darnach strebt, über den ganzen Raum Herr zu werden und seine Kraft auszudehnen (– sein Wille zur Macht:) und Alles das zurückzustoßen, was seiner Ausdehnung widerstrebt. Aber er stößt fortwährend auf gleiche Bestrebungen anderer Körper und endet, sich mit denen zu arrangieren (‚vereinigen‘), welche ihm verwandt genug sind: – s o c o n s p i r i r e n s i e d a n n z u s a m m e n z u r M a c h t . Und der Prozeß geht weiter… (NL 1888, KSA 13, 373 f.)  

Der Wille ist also notwendig ein endlicher, übergängiger, durch zahllose andere „Willens-Punktationen“, die ihrerseits unablässig an Macht zunehmen oder verlieren,5 bedingter Wille. Genauer, er wird zu einem bestimmten Wollen überhaupt erst dadurch, dass er uns ins Bewusstsein tritt;6 tatsächlich ist er „etwas Complicirtes“, etwas, das wir „zu gewissen Erscheinungen des Bewußtseins […] hinzugedichtet“ (JGB 19, KSA 5, 32) haben. Und auch das „Ich“, jener ‚älteste Glaubensartikel‘, ist eine plurale, ständig im Übergang befindliche Einheit, der kein substanzieller Kern zukommt, sondern von der es genügen soll, sie als eine, wie Nietzsche sagt, „Regentschaft zu fassen“ (NL 1885, KSA 11, 647), als eine „Art A r i s t o k r a t i e von ‚Zellen‘, in denen die Herrschaft ruht“ (NL 1885, KSA 11, 650): Das e g o ist eine M e h r h e i t von personenartigen Kräften, von denen bald diese, bald jene im Vordergrund steht, – und nach den anderen wie ein Subject nach einer einflussreichen und bestimmenden Aussenwelt hinsieht. Der Subjectpunkt springt herum, wahrscheinlich empfinden wir die Grade der Kräfte und Triebe wie Nähe und Ferne, und legen uns wie eine Landschaft und Ebene aus, was in Wahrheit eine Vielzahl von Qualitätsgraden ist. (NL 1880, KSA 9, 211 f.)  

Der Mensch soll also, wie alles, was ins Sein tritt (Nietzsche spricht gelegentlich auch vom ‚in die Natur zurückübersetzten Menschen‘), der Mensch soll also keine Einheit sein, sondern ein plurales Geschehen, genauer: nicht „der“ Mensch, sondern wir – jeder von uns und in jedem Augenblick neu – lösen uns in eine Vielzahl von Individuen auf, in denen sich unendlich viele Augenblicke unablässig neu in ein Nach- und Nebeneinander auslegen. Wir empfinden dieses unter-

4 Müller-Lauter 1999b, 47. 5 „Es giebt keinen Willen: es giebt Willens-Punktationen, die beständig ihre Macht mehren oder verlieren.“ (NL 1887/1888, KSA 13, 36 f.) „Es muß eine Menge Bewußtseins und Willen’s in jedem complicirten organischen Wesen geben: unser oberstes Bewußtsein hält für gewöhnlich die anderen geschlossen. Das kleinste organ Geschöpf muß Bewußtsein und Willen haben.“ (NL 1884, KSA 11, 116) 6 Vgl. NL 1883, KSA 10, 406: „Es giebt nicht mehr ‚Wille‘ als was uns davon bewußt wird“.  

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gründige Geschehen (nach der obigen Notiz) jedoch so, als sei „Nähe und Ferne“, „Aussenwelt“, „Landschaft“, „Raum“, was doch „in Wahrheit“, wie Nietzsche sagt, „eine Vielzahl von Qualitätsgraden“ darstellt – also perspektivische Grade einer im Grunde einzigen Qualität. Nietzsche charakterisiert dieses Ineinander von Empfindung und Auslegung an anderer Stelle auch so: Die fest verknoteten Empfindungen, die immer wieder kehren (‚relativ eine Zeit zusammenhalten‘) werden von uns als die rohen Dinge und Wirklichkeiten angesehen: zunächst unser Leib. Aber ‚alle Eigenschaften dieser Dinge bestehn aus unseren Empfindungen und Vorstellungen‘. (NL 1882–1883, KSA 10, 215)

Was Nietzsche hier anspricht, lässt sich auch mit dem Vokabular einer frühen Aufzeichnung vom Frühjahr 1873 als eine Art Übersetzung der Aufeinanderfolge unendlich kleiner Augenblicke in Raummaße (wie das Näher-Ferner, AußenInnen bzw. überhaupt die in ein begehbares Nebeneinander ausgedeutete Landschaft unseres Innern) beschreiben oder aber umgekehrt als Rückführung bereits etablierter Maße in eine offene Rhythmik der Zeit.7 Nietzsche spielt in diesem mit „Zeitatomenlehre“ überschriebenen Fragment in wenigen Schritten den Gedanken durch, dass die Welt der Vorstellung und das bedeutet zugleich: die Welt des Oberflächenbewusstseins (die über Körper, Flächen, Linien, Substanzen usw. verfügt) auf lebendige Zeit- bzw. Empfindungsmomente zurückgeführt werden müssen, die wir selbst je sind.8 Die empirische Wirklichkeit erweist sich als bis in ihre atomaren Strukturen hinein durchströmt von einer dynamischen, überschüssigen Offenheit – und doch ist diese überschüssige Offenheit (die ‚reine‘ Zeit, das ‚reine‘ Werden, das ‚reine‘ Leiden, wie Nietzsche auch sagt) immer schon, wenn auch in jedem Moment neu und anders, gebunden. Statt also wie Schopenhauer, dessen Vokabular sich Nietzsche Anfang der Siebzigerjahre vornehmlich bedient, zwischen einer Welt als Wille und einer Welt als Vorstellung zu unterscheiden, nimmt Nietzsche sie zusammen in „unendliche Willen: jeder projicirt sich in jedem Momente und bleibt sich ewig gleich. Somit giebt es für jeden Willen eine verschiedene Zeit. […].“ (NL 1870–1871, KSA 7, 204) Nietzsche spricht auch von

7 Nietzsche greift diesen Gedanken später wieder auf, wenn er schreibt: „Der Mensch ist ein rhythmen-bildendes Geschöpf. Er legt alles Geschehen in diese Rhythmen hinein, es ist seine Art, sich der ‚Eindrücke‘ zu bemächtigen. […]“ (NL 1883–1884, KSA 10, 650). Friederike Günther (Günther 2008) versteht Rhythmik grundsätzlich als eine „anthropologische Technik […], ästhetischen Strukturen unter den Bedingungen der Zeitlichkeit Dauer zu verschaffen“ (S. 1); sie gehört „zu den Kunstgesetzen der Übertragung in die symbolische Sphäre“ (S. 77), auf die der Mensch als ein durch und durch temporales Wesen, das seine Offenheit binden und sich dadurch „Sein“ zu verschaffen hat, angewiesen ist. 8 Zu einer ausführlichen Interpretation der „Zeitatomenlehre“ vgl. Nielsen 2014.

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unendlich vielen wachsenden und schwindenden Subjektivitäten oder vom Ganzen als der bewegten und nie abgeschlossenen „Aneinanderfädelung von Wesen mit erdichteten kleinen Welten um sich: indem sie ihre Kraft, ihre Begierden, ihre Gewohnheiten in den Erfahrungen außer sich heraus setzen, als ihre A u ß e n w e l t“. (NL 1885, KSA 11, 503) „Und auch jene kleinsten lebendigen Wesen […] gelten uns“, wie Nietzsche fortfährt, wiederum „nicht als Seelen-Atome, vielmehr als etwas Wachsendes, Kämpfendes, Sich-Vermehrendes und Wieder-Absterbendes: so daß ihre Zahl unbeständig wechselt, und unser Leben wie jegliches Leben zugleich ein fortwährendes Sterben ist.“ (NL 1885, KSA 11, 577) Mit anderen Worten: Das ‚Geschehen‘ Mensch, von dem ich oben gesprochen habe, oder das in Wahrheit in unzählige Willenspunktationen zerpulverte Individuum ist näherhin als eines zu verstehen, das in jedem Moment auf tausendfältige Weise zugleich zeugt und stirbt, ja das, um überhaupt sein zu können, sich in jedem Augenblick neu gewissermaßen retten (zeugen, deuten, aneignen) muss, und zwar, so, dass es den ganzen Zusammenhang, also alles, was in ihm ist an Irrtum, Glaube, Verhängnis mit retten (mit zeugen, mit aneignen) muss. Günter Abel weist in diesem Zusammenhang nicht von ungefähr auf den Problemhorizont der creatio continua hin, wonach die Schöpfung nicht durch einen einmaligen Akt abgeschlossen ist, sondern in jedem Moment neu in ihrem Dasein erhalten werden muss. Während Descartes in seiner Dritten Meditation die Existenz von Seiendem ebenso wie seine Dauer einer externen Ursache (nämlich Gott) anvertraut, der es in jedem Moment in die Existenz ruft und so über die Diskontinuität der Zeit hinüberrettet, antwortet Nietzsche, so Abel, „auf die strukturell ähnliche Problematik […] mit seiner Lehre der von innen heraus wirkenden Kraftzentren, die als Wille-zur-Macht aufzufassen sind.“ (Abel 1981/1982, 368) In seiner Genealogie der Moral stellt Nietzsche dieses Ringen um Kontinuität auch mit der merkwürdigen „Aufgabe“ der „Natur“ gleich, „ein Thier heran[zu]züchten, das ve r s p r e c h e n d a r f “. Versprechen dürfen, das bedeutet für ihn nämlich, „ein eigentliches G e d ä c h t n i s d e s W i l l e n s “ zu entwickeln, eine „Kette“, die zwischen das „ursprüngliche ‚ich will‘ ‚ich werde tun‘ und die eigentliche Entladung des Willens, seinen A k t “ gespannt ist, mit anderen Worten eine Kontinuität, die uns (und damit gewissermaßen auch die Zeit selbst) über den Moment hinaus festzuhalten vermag. „Was“, so fährt er fort, setzt das aber Alles voraus! Wie muss der Mensch, um dermaassen über die Zukunft voraus zu verfügen, erst gelernt haben, […] das Ferne wie gegenwärtig sehn und vorwegnehmen, […] überhaupt rechnen, berechnen können, – wie muss dazu der Mensch selbst vorerst b e r e c h e n b a r , r e g e l m ä s s i g , n o t h w e n d i g geworden sein, auch sich selbst für seine eigne Vorstellung, um endlich dergestalt, wie es ein Versprechender thut, für sich a l s Z u k u n f t gut sagen zu können! (GM II 1, KSA 5, 291 f.)  

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2 Tendenz auf mehr Leben Das, was wir üblicherweise als mehr oder weniger kontinuierliche Zeit erfahren – ihre Gegliedertheit in ein bestimmtes Nacheinander von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sowie das spezifische Zusammenspiel dieser Momente, das unseren individuellen Lebenslauf ausmacht – wird also nach Nietzsche unterlaufen durch ein Geschehen, das sich als ein Ineinander zahlloser kämpfender, sich vermehrender und wieder absterbender Zeit- oder Willens-Punktationen beschreiben lässt. Zugleich strebt dieses Geschehen in zielloser Weise nach vorne, was Nietzsche immer wieder im Begriff des „Prozesses“ oder „Stromes“9 zu fassen sucht, der uns im Sinne jener überschüssigen Tendenz-auf-mehr durchherrscht: ein „unbekannte[r] Weg“ (NL 1883, KSA 10, 653), der auf eine untergründige Kontinuität des Lebens zielt, die die bewusste Prospektivität des Menschen und damit seine „Kette“ des Willens unterläuft. „Die Vereinzelung des Individuums“, so heißt es an anderer Stelle, „darf nicht täuschen – in Wahrheit fließt etwas fort u n t e r den Individuen. […]“ (NL 1884, KSA 11, 210). Diese strukturelle Expansivität taucht in verwandelter Form wieder auf in dem, wonach der Wille strebt, nämlich im Begriff der Macht. „Das Leben“, so schreibt Nietzsche im Frühjahr 1888, „ist essentiell ein Streben nach Mehr von Macht […]“ (NL1888, KSA 13, 261f.), ein „Willen zum Vorwärts“ (NL 1884, KSA 11, 247), zur „absurden Verschwendung“ (GD 14, KSA 6, 120). „[A]lle Processe des Lebens haben hier ihren Hebel: nichts will sich erhalten, Alles soll summirt und akkumulirt werden“ (NL 1888, KSA 13, 261 f.). „Nehmen wir den einfachsten Fall“, heißt es in einer anderen Nachlassnotiz, „den der primitiven Ernährung: das Protoplasma [also nach damaliger Auffassung die innerste Lebenskraft der Zelle] streckt seine Pseudopodien aus, um nach Etwas zu suchen, das ihm widersteht, – nicht aus Hunger, sondern aus Willen zur Macht.“ Das Bedürfnis nach Selbsterhalt oder Dauer sollen erst nachträgliche Zuschreibungen darstellen; sie sind, so Nietzsche weiter, erst die „Folge eines n i c h t m e h r H e r r w e r d e n d e n Willens zur Macht.“ „Die Zweiheit“ erscheint als „Folge einer zu schwachen Einheit“ (NL 1888, KSA 13, 360 ff.), oder aber der Wille zur Macht tritt, „[u]m nicht fahren zu lassen, was erobert ist, […] in zwei Willen auseinander […]“. ‚Hunger‘ ist in jedem Fall nur „eine engere Anpassung, nachdem der Grundtrieb nach Macht geistigere Gestalt gewonnen hat.“ (NL 1887, KSA 12, 424) Auch was Zeugung bzw. Fortpflanzung ist – als das neben dem Hunger zentrale Charakteristikum dessen, was wir Leben nennen (wobei für Nietzsche Hunger und Fortpflanzung nach JGB 36 eben letztlich „Ein Problem“ sein, also in ihrem Wesen ununterschieden sein  

9 Vgl. NL 1885, KSA 11, 565: „ein ungeheurer unhörbarer Strom“.

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sollen) –, auch was Zeugung ist, bestimmt sich zunächst aus der Dualität starker und schwacher Äußerungen dieses Willens, wobei gilt: „Je größer der Drang ist zur Einheit, um so mehr darf man auf Schwäche schließen; je mehr Drang nach Varietät, Differenz, innerlichem Zerfall, um so mehr Kraft ist da.“ (NL 1885, KSA 11, 560) So soll etwa die Zeugung einmal als „Folge einer Ohnmacht“ geschehen, wenn nämlich die Macht nicht mehr ausreicht, die einverleibten Eindrücke zu organisieren (NL 1885/1886, KSA 12, 38) – hier zerfällt das Eine zu zweien, um das Fremde von sich abstoßen und ausgliedern zu können. Ein anderes Mal kann sie wiederum die bloße „Wiederholung einer Zelle durch sich selber bedeuten“ und gehört damit in den Zusammenhang von „Verlängerung und Reproduktion“ (NL 1880, KSA 9, 236). Was wir nachträglich als Hunger, als Streben nach Selbsterhalt, als Fortpflanzung deuten, soll nach Nietzsche also lediglich eine „A u s n a h m e “ und „zeitweilige Restriktion des Lebenswillens“ (FW 349, KSA 3, 585) bedeuten, eine „Consequenz“ seiner eigentlich „unersättlichen Aneignung“ (NL 1885/1886, KSA 12, 96) bzw. „engere Anpassung, nachdem der Grundtrieb nach Macht geistigere Gestalt gewonnen hat.“ (N 1887, KSA 12, 424) Eigentlich und durch diese Zuschreibungen hindurch entsprechen jedoch der „Geschlechtstrieb; der Rausch; die Mahlzeit; der Frühling […]; die Ekstase des religiösen Gefühls“ (NL 1887, KSA 12, 393) jenem „M e h r v o n K r a f t “,10 in dem die ziellose, von allen unseren bewussten Zwecken und Motiven unbeeindruckte Überschüssigkeit des Lebens selbst die Führung übernimmt – wobei Führung hier zunächst das ausschließliche Hinstreben nach Mehr, nach einer Art unendlicher Vertiefung bedeutet, ein, wie Nietzsche sagt, „Drang zur Einheit, ein Hinausgreifen über Person, Alltag, Gesellschaft, Realität, über den Abgrund des Vergehens: […].“ (NL 1888, KSA 13, 224) Aber auch das Umgekehrte soll der Fall sein: „[T]reten uns Dinge entgegen, welche diese Verklärung und Fülle zeigen, so antwortet das animalische Dasein mit einer Erregung jener Sphären, wo alle jene Lustzustände ihren Sitz haben.“ (NL 1887, KSA 12, 393) Ja, „dass alle Schönheit zur Zeugung reize, — dass dies gerade das proprium ihrer Wirkung sei, vom Sinnlichsten bis hinauf in’s Geistigste“ – diese im Abschnitt 22 der Götzendämmerung formulierte Revokation jener von Diotima im Platonischen Symposion vermittelten Einsicht scheint den „Willen zur Macht“ zuletzt in die Nähe des platonischen Eros zu rücken.11

10 „Das Rauschgefühl, tatsächlich einem M e h r v o n K r a f t entsprechend: am stärksten in der Paarungszeit der Geschlechter: neue Organe, neue Fertigkeiten, Farben, Formen […]“ (N 1888, KSA 13, 293). 11 Wie Cooper zeigt, kann der platonische Eros in einer (bei allen Differenzen) fruchtbaren Analogie zu jener expansiven Kraft des Willens zur Macht, „not just to have more but to be more – to the infinitely more“ (Cooper 2008, 2), gelesen werden. Vgl. Buchner 1965, 9 sowie Bremer 1975,

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[D]ie ungeheure Wichtigkeit, mit der das Individuum den g e s c h l e c h t l i c h e n I n s t i n k t nimmt, ist nicht eine Folge von dessen Wichtigkeit für die Gattung: sondern das Zeugen ist die eigentliche L e i s t u n g des Individuums und sein höchstes Interesse folglich, s e i n e h ö c h s t e M a c h t ä u ß e r u n g (natürlich nicht vom Bewußtsein aus beurtheilt, sondern von dem Centrum der ganzen Individuation). (NL 1886–1887, KSA 12, 295)

Vom „Centrum der ganzen Individuation“ aus betrachtet gilt das Streben nach Unendlichkeit, das sich im Hunger oder Geschlechtstrieb geltend macht, eben nicht, oder nur in einem abgeleiteten Sinne, der Fortsetzung seiner selbst; sie zielt vielmehr auf die untergründige Kontinuität eben jener schwindelerregenden Selbstverschwendung des Lebens, die unauflösbar mit dem Zusammenbruch einer jeden bewussten, in ihr Bestehen geschlossenen Zwecksetzung verbunden ist. So heißt es noch einmal mit Blick auf die „ursprünglichste Thätigkeit im Protoplasma“: man kann die unterste und ursprünglichste Thätigkeit im Protoplasma nicht aus einem Willen zur Selbsterhaltung ableiten: denn es nimmt auf eine unsinnige Art mehr in sich hinein, als die Erhaltung bedingen würde: und vor allem, es ‚erhält sich‘ damit n i c h t , sondern z e r f ä l l t … Der Trieb, der hier waltet, hat gerade dieses Sich-n i c h t -erhaltenwollen zu erklären […]. (NL 1887–1888, KSA 13, 57)

3 Zeitlichkeit Halten wir an dieser Stelle inne und versuchen eine Art Rekapitulation. Unser bewusstes, zweckgerichtetes Leben, einschließlich seiner Erstrecktheit in die Dimensionen der Zeit, soll also in seinem abgründigen Inneren von einem unsinnigen Streben nach Mehr bestimmt sein, das durch unsere bewusste Prospektivität hindurch seinen Weg nimmt. Nietzsche charakterisiert diesen Strom oder Prozess durch das Geschehen der Zeugung, wobei die geschlechtliche Fortpflanzung nur ein späterer Aspekt dieses Grundgeschehens sein soll. Bevor wir von den bereits ausgedeuteten, engeren Trieben des Hungers oder des Geschlechtstriebes im Sinne erhaltender Triebe sprechen können, zeugen wir uns durch Differenzierung und Zerfall fort, bilden Einheiten, aber nur, um sie zu überwin-

50: „Der Grund für die sachliche Prävalenz des erotischen Phänomens […] in Nietzsches Spätwerk liegt in der von der Sache her nahegelegten Verbindung des Eros als des menschlichen Grundstrebens mit dem Willen zur Macht: Der transzendentale Affekt als fundamental-ontologisches Prinzip der Daseinssteigerung ist in seiner intentionalen Ausrichtung auf Seins-Mächtigkeit und Seins-Beständigkeit in Platons Eros angelegt.“

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den; unsere Kontinuität liegt nicht in der befriedeten Form, sondern in der puren Steigerung des Lebensprozesses selbst, seiner Verschwendung.12 Drängt sich hier nicht die Frage auf, in welchem Verhältnis sich diese Verschwendung – das „Sich-n i c h t -erhalten-wollen“ als Grundtrieb – eigentlich zu dem verhält, was Nietzsche gleichermaßen und mit gleicher Vehemenz als „Aufgabe der Natur“ einfordert, nämlich, „ein Thier heran[zu]züchten, das v e r s p r e c h e n d a r f “ (GM II 1, KSA 5, 291)? Wie lässt sich der Grundzug der ziellosen Machtsteigerung mit anderen Worten mit dem zusammendenken, was Günter Abel vor dem Hintergrund der Lehre von der creatio continua als „Lehre der von innen heraus wirkenden Kraftzentren“ reformuliert, „die als Wille-zur-Macht aufzufassen sind“ (Abel 1981/1982, 368), jetzt freilich im Sinne eines Sich-erhaltenwollens zumindest vorübergehender Einheiten? Lassen sich die auf Erhaltung eines lebensfähigen Organismus (oder allgemeiner: auf flexible Einheiten) zielenden Tendenzen überhaupt aus einer unterschiedslos allem Geschehen zugrunde liegenden Tendenz, un-endlich mehr sein zu wollen, ableiten?13 Ich möchte diese Frage, die sich bei Nietzsche ja auf zahllosen Ebenen stellen lässt (sie beginnt bereits mit dem Grundantagonismus von Apollinischem und Dionysischem, der im Begriff des Willen zur Macht zur einer Grundambivalenz des Lebens wird), im Blick auf die menschliche Zeitlichkeit und die ihr inhärenten Formen des Gedächtnisses wieder aufnehmen. Den Ausgang dazu soll jene eingangs zitierte, in der Terminologie des Physiologen vorgenommene Einschränkung Nietzsches bilden, der ganze Organismus sei ein „solcher nach Wachsthum von Machtgefühl ringender Complex“ nur „bis zum Alter der Pubertät“, das heißt, bis zum Abschluss des Körperwachstums und dem Eintritt in die Geschlechtsreife. Wie kann man diese Bemerkung vor dem Hintergrund des Ausgeführten verstehen? Nach Müller-Lauter hat hier (wie im vorliegenden Zusammenhang überhaupt für große Teile nachweisbar) vermutlich ein Gedanke des Leipziger Entomologen William H. Rolph Pate gestanden, wonach bei Erreichen der Grenze des möglichen Wachstums die Teilung des Protoplasmas einsetzt, und die Geteilten ihre Arbeit von neuem beginnen.14 Der Eintritt in die Geschlechtsreife im engeren Sinne bedeutete aus dieser Perspektive also eine Art Abschluss der „absurden“ unbestimmten Machtausweitung bzw. ein Verlust oder Verzicht auf Macht zugunsten neuen Lebens, oder, wie Nietzsche notiert: „Die Theilung eines Protoplasma in 2 tritt ein, wenn die Macht nicht mehr ausreicht, den angeeigneten Besitz zu bewältigen: Zeugung ist Folge einer Ohnmacht.“ (NL 1886, KSA 12, 28)

12 Vgl. GD 14, KSA 6, 120 f.; FW 349, KSA 3, 585 f., JGB 9, KSA 5, 21 u.ö. 13 Vgl. Müller-Lauter 1999a, 225. 14 Rolph 1882, 58 und 89 ff.  



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So wäre mit der Zeugung neuer Generationen, das heißt mit der Abgabe der ‚reinen‘ Zukunft an ein neues Organisationszentrum und somit eine andere, dem Zeugenden entzogene Zukunft, eine mit „Ohnmacht“ assoziierte Grenze der reinen Machtsteigerung angesprochen, die in Spannung zu dem sich sinnlos verschwendenden Ermächtigungsstrom des Lebens bzw. der ihm zugrunde liegenden Kontinuität des reinen Nach-vorne tritt. Wir treten eigentlich erst jetzt, im Erwachsenenalter, in ein Zeitgefüge ein, in dem sich die Zukunft zunehmend mehr bestimmt und damit gewissermaßen verengt, und in dem wir uns mit jedem verrinnenden Augenblick mehr im Blick auf das, was ist und was war ist, ins Vernehmen zu setzen haben. Dass diese Spannung also umgekehrt zugleich als die nun geforderte produktive Spannung im Blick auf die Regentschaft von Deutungskomplexen (deren bestes Beispiel der Leib sein soll) zu begreifen ist, macht Nietzsche deutlich, wenn er immer wieder darauf hinweist, dass die reine Machtsteigerung im Sinne reiner Zukünftigkeit notwendig zu einem Realitätsverlust und damit zu einem frühzeitigen Tode führen würde. Als Grund für ein solches vorzeitiges Zugrundegehen nennt er die mangelnde Fähigkeit zur „Selbstregulierung“, das heißt zu der Fähigkeit eines Organismus (oder einer Gegenwart), sich innerhalb gewisser, durchaus offener Grenzen in einem stabilen Zustand zu halten: „Ja, im Ganzen ist der Mensch ein Wesen, welches nothwendig zu Grunde geht, weil es sie [die Selbstregulierung] noch nicht erreicht hat. Wir sterben alle zu jung aus tausend Fehlern und Unwissenheiten in der Praxis.“ (NL 1881, KSA 9, 488) „Die Projektionen sind lebensfähig nach unendlicher Mühe und zahllosen mißlungenen Experimenten. Der Künstler wird nur hier und da erreicht.“ (NL 1870/1871, KSA 7, 209) Denn der Wille bleibt „kindhaft“, das heißt in seiner maßlosen Irrealität befangen, sofern er den Blick vor den Realitäten (den Herkünften und Übersetzungsprozessen individueller Zeitlichkeit) verschließt, wie Nietzsche es im Antichrist etwa im Blick auf den „heiligen Idioten“ (NL 1888, KSA 13, 237) Jesus beschreibt. Jesus nämlich (und ich denke, man sollte dies weniger als christologische These denn als eine der vielen Selbstkorrekturen Nietzsches lesen) – Jesus als ein Beispiel für eine (wie Nietzsches es physiologisch ausdrückt) „verzögerte und im Organismus unausgebildete Pubertät“, als eine „gleichsam […] ins Geistige zurückgetretene Kindlichkeit“ (AC 32, KSA 6, 203), soll nämlich nur bedingt eine freier Geist genannt werden können. Und zwar nicht, weil sein Glaube über ein Zuviel an Gedächtnis, Zucht, Raum, Abkürzung und Perspektive verfügte, sondern vielmehr über ein Zuwenig: Wenn ich irgend Etwas von diesem grossen Symbolisten verstehe, so ist es das, dass er nur i n n e r e Realitäten als Realitäten, als ‚Wahrheiten‘ nahm, – dass er den Rest, alles Natürliche, Zeitliche, Räumliche, Historische nur als Zeichen, als Gelegenheit zu Gleichnissen

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verstand. Der Begriff ‚des Menschen Sohn‘ ist nicht eine concrete Person, die in die Geschichte gehört, irgend etwas Einzelnes, Einmaliges, sondern eine ‚ewige‘ Thatsächlichkeit, ein von dem Zeitbegriff erlöstes psychologisches Symbol. (AC 34, KSA 6, 206)15

Im Blick auf die „concrete Person“ dagegen, die sich, wie wir oben gehört haben, als ein sich ständig wandelnder Komplex von unzähligen Willens-Punktationen gegen das mit dem ewigen Werden verbundene unablässige Verschwinden stemmen muss – die Realitäten von Natur, Zeit, Geschichte und Sprache (die als „Gleichnis“ immer zugleich Flucht, Abkürzung, ja eine schmerzhafte Zurechtweisung des Lebens darstellt) eingeschlossen – im Blick auf die konkrete Person in ihrer Einzigkeit und Einmaligkeit zeigt sich der Wille zur Macht immer schon als bestimmter, seine ‚ewige Thatsächlichkeit‘ vielförmig ‚lokalisiert‘ beantwortender und beantwortet habender Wille. Denn es sind diese der tödlichen Verschwendung eines Lebens-an-sich (oder der reinen Zukunft) bewusst oder unbewusst entgegengesetzten Widerworte, die es zu einem Leben-für-mich machen, zu meiner Zeit und meinem Raum, so vieldeutig dieser wiederum sein mag. Sie bilden das Gedächtnis des Leibes, seine diffizilen Zweckbündnisse und Hierarchien, seine Einsamkeiten, Missverständnisse und tragenden Irrtümer, aber auch seine Fähigkeit zur Aneignung neuer Perspektiven und Erkenntnisse, die sich nach Nietzsches Auffassung durch die Generationen hindurch weitertragen. In ihnen ist der Lebensüberschuss in seiner tödlichen Konsequenz immer schon eingeschränkt und zumindest für eine gewisse Dauer in einen Lebenszusammenhang gewendet. Wie gezeigt, bricht das reine Mehr als die wilde, überschüssige, sich grenzenlos aussetzende Intimität des Lebensgefühls mit sich selbst an originär produktiven Momenten des menschlichen Daseins auf, wird jedoch im Zuge der Notwendigkeit, berechenbar werden zu müssen, durch gerichtete und in ein hierarchisches Verhältnis zueinander tretende Triebe aufgefangen und in bestimmte Richtungen stillgelegt. Es bleibt nur eine rational nicht einlösbare, weil in die verschlossene Apriorität unserer Anfänge zurückreichende „Ahnung“. Nur hier, wie der Anthropologe und Nietzsche-Interpret Arnold Gehlen schreibt, im „Geschiebe des Traumes oder den Zeiten verdichteten vegetativen Lebens – in der Kindheit oder im Kontakt der Geschlechter, gerade da, wo die Kräfte werdenden Lebens sich anzeigen“, und wo das Leben „in sich die Tendenz zu einem Mehr an Formhöhe, an ‚Stromstärke‘ spürt“ (Gehlen 1958, 350 f.) – hier bezieht sich das  

15 Vgl. AC 32, KSA 6, 204: „[…] er macht sich aus allem Festen nichts: das Wort t ö d t e t , alles was fest ist, t ö d t e t . Der Begriff, die E r f a h r u n g ‚Leben‘, wie er sie allein kennt, widerstrebt bei ihm jeder Art Wort, Formel, Gesetz, Glaube, Dogma. Er redet bloss vom Innersten: ‚Leben oder ‚Wahrheit‘ oder ‚Licht‘ ist sein Wort für das Innerste, – alles Übrige, die ganze Realität, die ganze Natur, die Sprache selbst, hat für ihn bloss den Werth eines Zeichens, eines Gleichnisses. –“

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Leben nicht auf seine Geschlossenheit, sondern greift über seine organische Artikulation hinaus in sein grenzenloses, reines Möglichsein. Ohne diesen Gedanken weiter zu vertiefen, kann hier festgehalten werden, dass der die Kindheit und Jugend (und auf einer anderen Ebene auch den Rausch ‚habitualisiert‘ habenden Künstler) dominierende reine Lebensüberschuss, der das Leben stets an der Grenze äußerster Versehrbarkeit, ja am Rand der Vernichtung hält, mit der Pubertät dahingehend überwunden ist, dass er nicht vollkommen bei sich bleibt, sondern gewissermaßen in ein (zumindest in Teilen) bewusstes Verhältnis zu sich tritt. Dieser im Menschen in ein Verhältnis zu sich tretende reine Überschuss des Lebens ist, wie Arnold Gehlen es formuliert, in seiner merkwürdigen Janusköpfigkeit von Verschwendung und Askese eine anthropologische Grundtatsache.

4 Gedächtnis Wenn wir diesen Gedanken Gehlens aufgreifen, können wir die oben formulierte Frage, wie sich der Grundzug der ziellosen Machtsteigerung, das Sich-nicht-erhalten-wollen, eigentlich mit Nietzsches Einsicht in die auf so vielfältige Weise erfahrbare Ausformuliertheit dieser einen Qualität Wille zur Macht – oder seinem Gedächtnis – verträgt, noch einmal vor dem Hintergrund dessen stellen, dass es ja wir selbst sein sollen, die hier als Zeit- und Empfindungspunkte das Geschehen, den Prozess gleichermaßen erleiden wie vollziehen. Wir – jeder von uns als sich als einzeln und einzigartig erfahrende „concrete Person“ –, wir selbst sind diese Tendenz-nach-vorne, dieser Wille zur Macht, dieser Reichtum an überwältigenden und zugrunde gehenden Willens-Punktationen, die alle ihre eigenen Formen von Bewusstheit mitbringen, ihre eigene Zeit, ihre eigenen Verhängnisse, Zurichtungen und Konsequenzen.16 Wir selbst erfahren uns ständig und ständig neu in mehr oder weniger großem Umfang als solche, die nicht nur ihr momentanes Sein (das es ja als ein Beharren eigentlich gar nicht gibt), sondern immer zugleich auch ihre ganze Vergangenheit und Herkunft wie auch ihre Zukunft in Form bestimmter Wünsche, Entwürfe und Erwartungen von einem Zeitmoment in den nächsten retten und retten müssen: als „Thatsache eines millionenfachen Wachsthums mit eigenen und halbeigenen Initiativen“ (NL 1888, KSA 13, 52 f.), ein polyphoner Gedächtnisraum ungeheuren Ausmaßes, ein, wie Nietzsche sagt, „Spiel von Kräften und Kraftwellen“, zugleich Eines und ‚Vieles‘, „Ströme mit hundert Quellen und Zuflüssen“ (MA I 1, 14, KSA 2, 35), innerhalb derer das bewusste  

16 „[…] jede Macht zieht in jedem Augenblick ihre letzte Consequenz.“ (NL 1888, KSA 13, 258)

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Vergegenwärtigen wie auch das „Gedächtnißb i l d “ etwas eher „Künstliches und S e l t e n e s “ (NL 1872–1873, KSA 7, 470) sind. „Die Vereinzelung des Individuums“, so hieß es ja, „darf nicht täuschen – in Wahrheit fließt etwas fort u n t e r den Individuen. D a ß es [aber] sich einzeln fühlt“, wie Nietzsche fortfährt, „ist der m ä c h t i g s t e Stachel im Prozesse selber […]“ (NL 1884, KSA 11, 210). Alles organische, und das heißt, alles gerichtete, gebundene Leben hat in sich eine Art Instinkt nach Widerstand, weil nur die Hemmung, das Einhalt-Gebieten jenes gesichtslosen, überschießenden Lustgefühls Leben als einen Zusammenhang von bestimmten Bewegungen hervortreten lässt. Ohne Schmerz verbleibt das Leben im Zustand der Indifferenz befangen. Deshalb kann Nietzsche auch sagen, dass das Leben, wie wir es kennen, im Grunde dem Schmerz entspringt und im Schmerz und jener aus ihm geborenen Verendlichung verbleibt. Zu der reinen Lust haben wir (ebenso wie zur reinen Zukunft, zum reinen Willen oder zum reinen Leben) keinen Zugang. Von hier aus ließe sich abschließend auf eine merkwürdige Umdeutung hinweisen, die gerade der späte Nietzsche in Bezug auf den Begriff der Lust vornimmt. Während Lust –Nietzsche beschreibt sie grundsätzlich als ein ein „Gesammtgefühl von überschüssiger überflüssiger Macht“ „im Ganzen eine aufwärts sich bewegende Curve: […]“ (NL 1884, KSA 11, 222) – und Unlust (als das Gefühl der Hemmung) zunächst als Motive des Handelns auftreten („man will für sich Lust oder will Unlust abwehren“ (MA 102, KSA 2, 99), formuliert er nun immer wieder den Gedanken, dass das Leben essenziell nicht nach Lust strebe, sondern dass umgekehrt Lust ein „Symptom vom Gefühl der erreichten Macht, eine Differenz-Bewußtheit“ sei. Das Leben, so heißt es in einer Notiz vom Frühjahr 1888, das Leben „strebt nicht nach Lust: sondern Lust tritt ein, wenn es erreicht, wonach es strebt: Lust begleitet, Lust bewegt nicht –)“ (NL 1888, KSA 13, 300 f.). Danach wäre das tendenziell entgrenzende, expansive Streben für uns in einem tieferen Sinne lustvoll erst dort, wo es Widerstände und das heißt zugleich empfindende Deutungskomplexe gibt, die diese Widerstände überhaupt als solche erfahren und sich als solche einverleiben (oder aber an ihnen scheitern):  

Wenn das innerste Wesen des Seins Wille zur Macht ist, wenn Lust alles Wachsthum der Macht, Unlust alles Gefühl, nicht widerstehen, nicht Herr werden zu können, ist: dürfen wir dann nicht Lust und Unlust als Cardinal-Thatsachen ansetzen? Ist Wille möglich ohne diese beiden Oscillationen des Ja und des Nein? – Aber w e r fühlt Lust? … Aber w e r will Macht? … Absurde Frage! wenn das Wesen selbst Machtwille und folglich Lust- und Unlust-fühlen ist! Trotzdem: es bedarf der Gegensätze, der Widerstände, also, relativ, der ü b e r g r e i f e n d e n E i n h e i t e n … Lokalisirt – – – (NL 1888, KSA 13, 260)

Als lokalisierte Willen zur Macht (Empfindungscomplexe) strömen wir nicht einfach nur dem Entgrenzenden der Lust zu, lösen uns nicht einfach auf in einen

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ewigen progressus in simile, in dem, wie Schopenhauer suggeriert, „jeder Augenblick nur ist, sofern er den vorhergehenden, seinen Vater, vertilgt hat, um selbst wieder eben so schnell vertilgt zu werden“ (Schopenhauer 2006, 36). Wir agieren vielmehr in bestimmten Zusammenhängen und Widerständen, deren Bewältigung durchaus etwas mit einem Sich-ins-Verhältnis-setzen, mit Erkenntnis, wenn auch nur in raren Fällen mit einer ins Bewusstsein tretenden „Differenz des ‚Mehr‘“17 zu tun hat. So schreibt Nietzsche in FW 334: M a n m u s s l i e b e n l e r n e n . – So geht es uns in der Musik: erst muss man eine Figur und Weise überhaupt h ö r e n l e r n e n , heraushören, unterscheiden, als ein Leben für sich isolieren und abgrenzen; dann braucht es Mühe und guten Willen, sie zu e r t r a g e n , trotz ihrer Fremdheit, Geduld gegen ihren Blick und Ausdruck, Mildherzigkeit gegen das Wunderliche an ihr zu üben – : endlich kommt ein Augenblick, wo wir ihrer g e w o h n t sind, wo wir sie erwarten, wo wir ahnen, dass sie uns fehlen würde, wenn sie fehlte. (FW 334, KSA 3, 559)

Und wieder in der Götzendämmerung: Man hat s e h e n zu lernen […], – dem Auge die Ruhe, die Geduld, das An-sich-herankommenlassen angewöhnen; das Urtheil hinausschieben, den Einzelfall von allen Seiten umgehn und umfassen lernen. […] S e h e n lernen, so wie ich es verstehe, ist beinahe Das, was die unphilosophische Sprechweise den starken Willen nennt: das Wesentliche daran ist gerade, n i c h t ‚wollen‘, die Entscheidung aussetzen k ö n n e n . (GD 6, KSA 6, 108 f.)  

Mit jedem Streben nach Mehr, nach Stärkerwerdenwollen wächst zugleich das „Maaß des hiermit herausgeforderten Mißlingens und Verhängnisses“, und „insofern jede Kraft sich nur an Widerstehendem auslassen kann, ist nothwendig in jeder Aktion ein I n g r e d i e n s v o n U n l u s t .“ (NL 1887–1888, KSA 13, 38) Die Widerstände dennoch nicht einfach wegzuleben, sondern sie als schmerzvolle, durch Scheitern, Abstandnahme, Altern und Misslingen gezeichnete in die Rettung aufzunehmen, als Aspekte unserer selbst – das wäre dann das für Nietzsche so nachdrücklich mit dem Aspekt der Ewigkeit verbundene Gefühl der Lust. Lust nicht als Ziel, sondern als ein Symptom, ein begleitendes Gefühl, etwas, das eintritt, wenn es uns gelingt, als Individuum etwas von dem untergründigen Geschehen, das wir zugleich selbst sind, zu begreifen, ja in höchster Form diesen Gedanken selbst ins uns aufzunehmen.

17 „[…] Wenn L u s t und U n l u s t sich auf das Gefühl der Macht beziehen, so müßte Leben ein Wachsthum von Macht darstellen, so daß die Differenz des »Mehr« in’s Bewußtsein träte … Ein Niveau von Macht festgehalten, würde sich die Lust nur an Verminderungen des Niveaus zu messen haben, an Unlustzuständen, – n i c h t an Lustzuständen … Der Wille zum Mehr liegt im Wesen der Lust: daß die Macht wächst, daß die Differenz in‘s Bewußtsein tritt… […].“ (NL 1888, KSA 13, 278)

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Aus der Einsicht, dass Lust und Unlust nicht Motive oder Ursachen unseres Handelns sind, sondern Begleiterscheinungen innerhalb der Geschehensvollzüge selbst impliziert darüber hinaus, dass diese, wie Nietzsche konstatiert, „nach genau derselben Verkettung der Ursachen und Wirkungen [verlaufen würden], wenn diese Zustände ‚Lust und Schmerz‘ fehlten“ (NL 1888, KSA 13, 335) Mit anderen Worten: Die Verkettung geht ihren Weg, sie spielt sich fast zu allen Teilen in einem Bereich ab, der unserem Zugriff entzogen ist. Spätestens damit wäre Nietzsches ‚Lehre‘ vom Willen zur Macht nicht als irgendwie geschmackloser Appell zu lesen, sondern als eine Bemühung um bejahende Einsicht in das, was ist. Und dieser Aspekt verweist uns, wie Günter Abel und Babette Babich auf unterschiedliche Weise gesehen haben, auf die Wiederkunftslehre: „Die uneingeschränkte und vorbehaltslose Bejahung der ewigen identischen Wiederkehr aller Dinge, alles Wirklichen, auch des Leidvollsten und Mediokresten, hat ihr Motiv nicht in Lust und Unlust.“18 Ich möchte mich der Einsicht anschließen, dass das, was Nietzsche den Gedanken der Ewigen Wiederkunft nennt, der ja irgendwie kein Gedanke der Jugend ist, sondern des Alters, des Gedächtnisses viel mehr als jener überschwellenden Tendenz-nach-vorn, des Wiedererkennens, des Summierens,19 des Amor fati – ob dieser Gedanke nicht auf merkwürdige Weise eine Konsequenz seiner Einsicht in die Wirklichkeit als Wille zur Macht darstellt – eine gedankliche Konsequenz wohlbemerkt, der Versuch, die, wie Babette Babich es formuliert, ‚erotische Unschuld des Werdens‘ nicht einfach blind zu leben, sondern sehend zu sein. An anderer Stelle fasst Nietzsche dies auch so zusammen: „Man muss auch die Jugend in sich überwinden, wenn man wieder Kind werden will.“ (NL 1882–1883, KSA 10, 187)

Literaturverzeichnis Abel, Günter (1981/1982): „Nietzsche contra ‚Selbsterhaltung‘. Steigerung der Macht und Ewige Wiederkehr“. In: Nietzsche-Studien 10/11, S. 367–407.

18 Abel 1984, 97 f. Vgl. Babich 2009, 154: „Das Werden ist das Verbrechen oder das Verschulden des Wandels, des Alterns, des Todes. So ist denn die Unschuld des Werdens, die Nietzsche wiederherzustellen sucht, eine erotische Unschuld […]. Das Werden derart als erotische Unschuld zu betrachten, verlangt alles andere als passive Toleranz; stattdessen ist eine bedingungslose Leidenschaft für die Welt gefordert, wobei der unmögliche Drang wahrer Liebe die Voraussetzung für das Erlangen einer bejahenden Haltung gegenüber der Welt, so wie sie ist, darstellt, und wo Bejahung Begehren und niemals Resignation bedeutet.“ 19 Vgl. NL 1882–1883, KSA 10, 191: „Vieles erleben: Vieles Vergangene dabei miterleben; Vieles eigene und fremde Erleben als Einheit erleben: dies macht die höchsten Menschen; ich nenne sie ‚Summen‘.“  

Transformationen der Zeit – „Wille zur Macht“ und Gedächtnis

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Abel, Günter (1984): Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr. Berlin, New York (De Gruyter). Babich, Babette (2009): „Eines Gottes Glück voller Macht und Liebe“. Beiträge zu Nietzsche, Hölderlin, Heidegger. Weimar (Bauhaus-Universität). Bremer, Dieter (1975): „Nietzsches Dionysos und Platons Eros“. In: Andreas Patzer (Hg.): APOPHORETA. Uvo Hölscher zum 60. Geburtstag. Bonn (Habelt). Brobjer, Thomas (2006): „Nietzsche’s magnum opus“ In: History of European Ideas. Bd. 32, S. 278–294. Buchner, Hartmut (1965): Eros und Sein. Erörterungen zu Platons Symposion. Bonn (Bouvier). Cooper, Lawrence. D. (2008): Eros in Plato, Rousseau and Nietzsche. The Politics of Infinity. Pennsylvania (Pennsylvania University Press). Gehlen, Arnold (1958): Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. 6. Auflage. Bonn (Athenäum Verlag). Günther, Friederike Felicitas (2008): Rhythmus beim frühen Nietzsche. Berlin, New York (De Gruyter). Müller-Lauter, Wolfgang (1999a): „Der Organismus als innerer Kampf. Der Einfluß von Wilhelm Roux auf Friedrich Nietzsche“. In: Ders., Über Werden und Wille zur Macht. NietzscheInterpretationen I. Berlin, New York (De Gruyter), S. 97–140. Müller-Lauter, Wolfgang (1999b): „Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht“. In: Ders., Über Werden und Wille zur Macht. Nietzsche-Interpretationen I. Berlin, New York (De Gruyter), S. 25–95. Nielsen, Cathrin (2014): Zeitatomistik und „Wille zur Macht“. Tübingen (Attempto). Niemeyer, Christian (2013): „Wie wirklich ist Der Wille zur Macht? Über die Frage, warum sich Nietzsche fünf Jahre an einem Text versuchte, der primär rhetorisch gemeint war“. In: Renate Reschke (Hg.): Wirklich. Wirklichkeit. Wirklichkeiten. Nietzsche über „wahre“ und „scheinbare“ Welten. Berlin (Akademie Verlag), S. 163–172. Rolph, William H. (1882): Biologische Probleme Zugleich als Versuch einer rationellen Ethik. Leipzig (Engelmann). Schlechta, Karl (1958): Der Fall Nietzsche. München (Hanser). Schopenhauer, Arthur (2006): Die Welt als Wille und Vorstellung. Erster Band. Frankfurt am Main (Zweitausendeins).

Helmut Heit

Wissenschaftskritik in der Genealogie der Moral Vom asketischen Ideal zur Erkenntnis für freie Menschen Abstract: Critique of Science in the Genealogy of Morals. From the Ascetic Ideal to Knowledge in a Free Society. Departing from a comparison between Nietzsche and Paul Feyerabend, this paper argues that Nietzsche develops the idea of a life-affirming, artistic, and joyful science as a possible result of a cultural history of asceticism and sublimation. The closing sections of the Genealogy of Morals introduce a distinction between normal and idealist science and discuss their respective relation to asceticism. The practice of normal scientific labour and the idealist quest for truth both reveal the lack of autonomous ideals. An analysis of his hypothetical and perspectival understanding of knowledge-claims shows (against Charles Larmore) that Nietzsche’s discussion of truth is neither inconsistent nor self-refuting. Nietzsche is no enemy of science but assumes a privileged position for philosophy in the hierarchy of disciplines within a broader context of cultural emancipation.

„Ich lobe mir eine jede Skepsis auf welche mir erlaubt ist zu antworten: ‘Versuchen wir’s!’“ (FW 51)

1 Erkenntnis für freie Menschen (Nietzsche und Feyerabend) Der Untertitel dieses Beitrags spielt auf einen der einflussreichsten und vielleicht umstrittensten Wissenschaftsphilosophen des 20sten Jahrhunderts an: Erkenntnis für freie Menschen heißt ein Buch aus dem Jahre 1980 von Paul Feyerabend. 1924 in Wien geboren, machte er nach dem Krieg zunächst Karriere mit einer von Ludwig Wittgenstein und Karl Popper geprägten Philosophie der Physik und Quantenmechanik. Im Rahmen seiner Abkehr von Popper und einer Radikalisierung des Kritischen Rationalismus wird er auch außerhalb der Wissenschaftsphilosophie berühmt, wenn nicht berüchtigt. Nach der Veröffentlichung von Against Method (zu Deutsch: Wider den Methodenzwang) lernt ihn eine breitere Öffentlichkeit

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dadurch kennen, dass er die Begriffe ‘Anarchismus’, ‘Dadaismus’ und ‘anything goes’ in die Debatte um die Wissenschaften einführt (Feyerabend 1975). In der Zeitschrift Nature ist 1987 zu lesen, Feyerabend sei „currently the worst enemy of science“ (Theocharis/Psimopoulos 1987, 596). Im Gegensatz zu diesem negativen Bild zeigt sich bei genauerer Lektüre, dass Feyerabend so wenig ein Feind der Wissenschaften ist wie Nietzsche, vielmehr wird hier wie dort Kritik mit Feindschaft verwechselt. Beide unterziehen die Wissenschaften und das wissenschaftliche Selbstverständnis einer kritischen Analyse und beide streben eine grundlegende Transformation der kulturellen Rolle der Wissenschaften an.1 Dabei hegen sowohl Nietzsche wie auch Feyerabend den Verdacht, dass die konkrete wissenschaftliche Praxis und ihr theoretisches Selbstverständnis nicht identisch sind, dass es also möglich und nützlich sein könnte, über gewisse Vorurteile in Bezug auf die Wissenschaften aufzuklären. Zu diesen Vorurteilen zählen beide diverse metaphysische Annahmen sowie vereinheitlichende dogmatische Methodologien. Außerdem stellen beide die Funktion der Wissenschaften in modernen Gesellschaften in Frage, deren unantastbare Hegemonie Feyerabend mit der sozialen Rolle einer Kirche vergleicht. Sie fragen, welche Rolle die Wissenschaften in unserer Welt spielen können und sollen. Eine Formulierung aus der Morgenröte könnte als Motto über den Arbeiten Feyerabends stehen: „Es giebt keine alleinwissendmachende Methode der Wissenschaft! Wir müssen versuchsweise mit den Dingen verfahren“ (M 432, KSA 3, 266). Aus der erfahrungsgesättigten Einsicht in die begrenzte Reichweite auch von bereits andernorts bewährten und erfolgreichen Methoden ergibt sich eine pluralistische und experimentelle Wissenschaftspraxis. Experimentell ist eine solche Praxis nicht allein im Sinne künstlicher Laborbedingungen, sondern vor allem im Sinne des kreativen Versuchens und Ausprobierens. Das ist es, was Feyerabend meint, wenn er die Begrenztheit aller methodologischen Regeln betont und in diesem Sinne von anything goes spricht: Es ist nicht etwa egal was man tut, weil alles gleichermaßen zielführend wäre und ‚geht’, sondern weil wir nicht vorher wissen, was funktioniert, und weil der Glaube, es doch zu wissen, unseren Möglichkeitsspielraum einschränkt (Feyerabend 1972). Wir sollten besser in der Lage sein, alles Mögliche auszuprobieren. Ein solcher Methodenpluralismus sei die einzige philosophische Haltung, welche die Entwicklung der Wissenschaften und der Menschheit nicht behindert. Paul Feyerabend hat die Nähe seiner Philosophie zu derjenigen Nietzsches durchaus gesehen und hin und wieder, also selten, angesprochen. In seinem Text

1 Zu Feyerabends kritischer Genealogie der abendländischen Wissenschaften siehe Heit/Oberheim 2009 und Heit 2016.

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Die ‚Rationalität’ der Forschung unterscheidet er vier Positionen: Einen naiven Rationalismus, der etwa durch Descartes, Kant und Popper vertreten werde und einen kontextabhängigen Rationalismus, den er an Marxisten und Anthropologen festmacht. Diesen beiden Auffassungen stellt er Ausnahmen und Gegenbeispiele entgegen und weist so ihren impliziten oder expliziten Anspruch auf universale Geltung zurück. Eine dritte Position sieht er in einem naiven Anarchismus, mit dem seine Wissenschaftsphilosophie oft verwechselt werde. Im Unterschied zu den naiven Anarchisten leitet Feyerabend aber aus dem Umstand, dass alle Regeln und Maßstäbe ihre Grenzen haben, nicht die Folgerung ab, dass man daher ganz ohne Regeln und Maßstäbe auskommen müsse oder auch nur praktisch auf sie verzichten könnte (Feyerabend 1978, 344). Vielmehr fordert er, „daß jeder Maßstab, der einen Handlungsverlauf leitet, selbst zu einem Teil des Handlungsverlaufs gemacht werde“ (Feyerabend 1978, 345). Die Regeln und methodologischen Standards, nach denen wir wissenschaftliche Forschung (oder auch andere Dinge) betreiben, werden dieser Auffassung zufolge nicht einfach angewendet, sondern in der Verwendung gestaltet und modifiziert, erfunden und verändert. Sie sind letztlich vom Handlungsverlauf nicht zu trennen. Feyerabend sieht darin ein entscheidendes Element einer „Wissenschaft für freie Menschen“ (Feyerabend 1978, 349), ohne aus dieser Idee eine neue Doktrin zu machen. So bezeichnete er eine solche Haltung zwar als „meine eigene ‚Position*’“, aber er versäumt nicht, das Wort ‚Position’ in Anführungszeichen zu setzen und um eine Fußnote zu ergänzen. Ich „führe Positionen vor“ schreibt er dort, „wie ein Modemodell ein neues Kleid vorführt oder ein Schauspieler eine neue Rolle, und nicht wie ein die Messe zelebrierender Bischof das Allerheiligste vorführt“ (Feyerabend 1978, 343). Als „Vorläufer“ dieser sogenannten Position bezeichnet er „etwa Kierkegaards Abschliessendes unwissenschaftliches Nachwort, Niels Bohr, und auch Nietzsche, wenn er sich nur nicht so ernst nähme“ (Feyerabend 1978, 343). Die folgenden Ausführungen sollen zeigen, dass Feyerabend die Parallelen zwischen sich und Nietzsche durchaus richtig erkannt hat; inklusive der Vorbehalte gegenüber klar etikettierbaren und fixen Standortbestimmungen. Ich denke sogar, dass Feyerabend behilflich sein kann, bestimmte Überlegungen Nietzsches zu verstehen und vor allem gegenüber voreiligen und falschen Einwänden zu verteidigen. Darüber hinaus möchte ich deutlich machen, dass Nietzsche ähnlich wie das enfant terrible aus Wien mit einer fröhlichen Wissenschaft experimentiert. Dazu werde ich ein auf den ersten Blick wenig humoristisches Themenfeld in Nietzsches Oeuvre vertiefen, nämlich seine Thesen zum Verhältnis von Wissenschaft und asketischen Idealen. In einem ersten Schritt würdige ich die besondere Rolle, die Nietzsche einer fröhlichen Wissenschaft in der Vorrede zur Genealogie der Moral für eine Kritik und Transformation der Kultur zuschreibt (2). Eine Analyse der letzten Abschnitte der Genealogie zeigt die enge Verbindung

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von Wissenschaft und asketischen Idealen, die nach dem Tod Gottes eine radikale Rekonzeptualisierung der Wissenschaften erfordern (3). Eine solche neue Auffassung stellt vor allem die Möglichkeit und den Wert der Wahrheit als zentralem normativem Ideal der Wissenschaften auf eine Weise in Frage, die noch immer diversen Interpreten als inkonsistent und unmöglich erscheint (4). Indem ich diese falschen Einwände am Beispiel Charles Larmores zurückweise, skizziere ich abschließend eine alternative fröhliche Wissenschaft, die sich durch eine veränderte epistemische Einstellung und größere skeptische Selbstreflexion auszeichnet und auf diese Weise die künstlerische Seite der Wissenschaften in den Vordergrund rückt (5).

2 Fröhliche Wissenschaft als Lohn des Ernstes Die Streitschrift Zur Genealogie der Moral kann mit gewissem Recht als ein nüchternes und geradezu wissenschaftliches Buch angesehen werden, als eine „veritable Abhandlung“, in der sich Nietzsche „auf einem Höhepunkt seiner Argumentationskunst“ befindet (Höffe 2004, 7). Sie stellt sich den Leserinnen und Lesern als eine Studie zur kulturhistorischen Erforschung der „H e r k u n f t unserer moralischen Vorurteile“ vor (GM Vorrede 2, KSA 5, 248), die sich ihre „historische und philologische Schulung“ ebenso zugutehält, wie ihren Spürsinn für „psychologische Fragen“ (GM Vorrede 3, KSA 5, 249). Schon ihr Titel verspricht Logoi über die Genesis und in Abgrenzung vom „englischen Hypothesenwesen i n ’ s B l a u e “ lenkt Nietzsche – zumindest expressis verbis – das Augenmerk in der Vorrede auf „d a s G r a u e , will sagen, das Urkundliche, das Wirklich-Feststellbare, das Wirklich-Dagewesene“ (GM Vorrede 7, KSA 5, 254). Die staubigen Details einer präzisen wissenschaftlichen Erforschung der „Bedingungen und Umstände“, aus denen heraus bestimmte moralische Vorurteile „gewachsen, unter denen sie sich entwickelt und verschoben haben“ (GM Vorrede 6, KSA 5, 253), stehen allerdings nicht wirklich im Zentrum der drei Abhandlungen. Mit Blick auf den tatsächlichen Inhalt der Genealogie lässt sich vielmehr sagen, dass Nietzsche auch hier letztlich anderes und auch „viel Wichtigeres am Herzen“ lag, „als eignes und fremdes Hypothesenwesen über den Ursprung der Moral“ (GM Vorrede 5, KSA 5, 251), sei es nun ins Blaue oder ins Graue entworfen. Was dieses „viel Wichtigere“ sei, ist nach der hier vertretenen Auffassung die Kritik und Transformation der abendländischen Kultur. Den Wissenschaften kommt in diesem Zusammenhang die prekäre Rolle zu, zugleich Instrument wie auch Gegenstand der Kritik und Transformation zu sein. Sie wirken an einer Destruktion der alten und an der Konstruktion neuer kultureller Ziele, Wege und Institutionen mit. Diese instrumentelle und auf die Zukunft bezogene Aufgabe der

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Wissenschaften spricht Nietzsche sehr deutlich in der Anmerkung zum Ende der ersten Abhandlung aus: A l l e Wissenschaften haben nunmehr der Zukunfts-Aufgabe des Philosophen vorzuarbeiten: diese Aufgabe dahin verstanden, dass der Philosoph das P r o b l e m v o m W e r t h e zu lösen hat, dass er die R a n g o r d n u n g d e r W e r t h e zu bestimmen hat (GM I Anmerkung, KSA 5, 289).

Den einzelnen spezialisierten Wissenschaften wird so ein instrumenteller Charakter zugewiesen und insoweit die Abhandlungen der Genealogie solche einzelwissenschaftlichen Studien sind, charakterisiert Nietzsche sie retrospektiv zu Recht als „Vorarbeiten“ (EH Bücher GM, KSA 5, 353). Allein die Philosophie fragt systematisch nach dem Wert und stellt sich so als einzige Disziplin der Herausforderung, eine Hierarchie der Ziele des Handelns, auch des forschenden Handelns ins Auge zu fassen. Diese überlegene Aufgabe sichert der Philosophie zugleich eine privilegierte Position in der Rangordnung der Wissenschaften.2 Auf die spezifische Aufgabe der Philosophie wird noch zurück zu kommen sein. Fürs erste ist nur zu bedenken, dass die Genealogie der Moral weder das Buch eines Fachgelehrten ist noch sein will, sondern eines Philosophen: sie ist kein im engeren Sinne wissenschaftliches Buch. Dennoch nehmen die Wissenschaften, wie schon die bisher besprochenen Passagen zeigen, in diesem Buch eine bedeutende Stellung ein. Als moralhistorische Studien, zu denen Nietzsche neben der Etymologie und Sprachwissenschaft auch die Medizin und Physiologie heranziehen will, verschaffen sie die notwendigen Kenntnisse, die zu einer „K r i t i k der moralischen Werthe“ nötig sind (GM Vorrede 6, KSA 5, 253). Diese Kritik besteht wesentlich in der genealogischen Rückführung mutmaßlich universal und kontextfrei gültiger Werte auf ihre historischen, sozialen, kulturellen und natürlichen Kontexte. Eine solche Kritik kann sich nicht einfach pauschal auf Darwin verlassen, wie Nietzsche es Paul Rée vorhält, sondern sie muss sich „die ganze lange, schwer zu entziffernde Hieroglyphenschrift der menschlichen Moral-Vergangenheit“ (GM Vorrede 7, KSA 5, 254) mit philologischer Gründlichkeit vornehmen. Wie gesagt, diese Arbeit bleibt in der Genealogie eher Programm als Praxis, denn Nietzsche verfolgt ein anderes und ernsteres Ziel. Die Wissenschaften leisten nicht nur einen Beitrag zur Analyse und Kritik, sondern sie tragen auch dazu bei, die Probleme der Moral wirklich ernst zu nehmen und sowohl ihre Kritik wie auch ihre Umwertung ins Auge fassen

2 Diesen Gedanken hat Tilman Borsche (2012) sehr deutlich herausgearbeitet, wobei er insbesondere den selbstreflexiven und undogmatischen Charakter von Nietzsches Wissenschaftsphilosophie betont.

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zu können. Damit deutet sich eine konstruktive und künstlerisch-schaffende Dimension von Wissenschaft an, die über ihre bloß zweckmäßige Funktion des kritischen Detailwissens hinausweist. Indem Nietzsche den Namen seiner Fröhlichen Wissenschaft gebraucht, bringt er diese weitere Dimension des Wissenschaftlichen ebenfalls in der Vorrede zur Sprache: Die Heiterkeit nämlich oder, um es in meiner Sprache zu sagen, die f r ö h l i c h e W i s s e n s c h a f t – ist ein Lohn: ein Lohn für einen langen, tapferen, arbeitsamen und unterirdischen Ernst, der freilich nicht Jedermanns Sache ist. (GM Vorrede 7, KSA 5, 255)

Heiterkeit und Ernst finden sich hier in einer erstaunlichen Verbindung. Indem Heiterkeit mit fröhlicher Wissenschaft synonymisiert wird, rückt das Moment des Informierten, Methodischen und Wissenden in den Vordergrund. Die Heiterkeit, von der hier die Rede ist, wird so entschieden abgegrenzt von jeder ahnungslosen Vergnügtheit, sie besteht vielmehr aufgrund oder auch trotz besseren Wissens. Die fröhliche Wissenschaft gilt Nietzsche als ein Lohn des Ernstes, weil und insofern sie das mögliche positive Resultat einer langen Anstrengung und aufgestauten Kraft ist. Fröhliche Wissenschaft ist nur möglich als Überwindung einer vorher statthabenden Geschichte der Askese: ohne Ernst, keine Heiterkeit. In dieser bemerkenswerten Passage deutet sich so eine kulturhistorische Überlegung an, die für die folgenden Ausführungen tragend sein wird, obwohl ‚Heiterkeit’ oder ‚fröhliche Wissenschaft’ allem Anschein nach gerade nicht im Zentrum dieser Schrift stehen. Im Gegenteil, zu ihrem Abschluss wird Wissenschaft im Kontext der nicht allzu heiter wirkenden asketischen Ideale diskutiert. Dennoch erweist sich dieser Konnex als zentral. Die in der Vorrede angedeutete Verbindung von Heiterkeit und Ernst, von fröhlicher Wissenschaft als Lohn und Resultat einer arbeitsamen Anstrengung und Entsagung entfaltet ihre ganze Bedeutung erst im Zusammenhang mit den Ausführungen zu Wissenschaft und asketischen Idealen am Ende der Genealogie der Moral und macht diese verständlich.

3 Wissenschaften und asketische Ideale Die dritte Abhandlung der Genealogie der Moral ist im Wesentlichen zwei Fragen gewidmet: „Was bedeuten asketische Ideale?“ (GM III 1, KSA 5, 339). Und „w o ist der gegnerische Wille, in dem sich ein g e g n e r i s c h e s I d e a l ausdrückte?“ (GM III 23, KSA 5, 395) Mit Blick auf die erste Frage ist auffallend, dass Nietzsche nicht danach fragt, was asketische Ideale sind, sondern was sie bedeuten. Damit ist aber offenbar nicht im Stile einer modernen Sprachphilosophie die Frage nach der Referenz gemeint. Vielmehr operiert Nietzsche mit der Überzeugung, kulturelle

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Phänomene wie menschliche Ideale unterliegen einem Wandel in der Zeit und sie bedeuten unterschiedliches etwa für Künstler, Philosophen oder Priester. Die tatsächliche Vorgehensweise in der dritten Abhandlung trägt der Historizität und Pluralität der Bedeutung asketischer Ideale Rechnung, indem sie eine Genealogie exemplarischer Typen entwickelt.3 ‚Bedeutung‘ meint daher, welche Funktion, welche Vor- und Nachteile und welche Wirkungen asketische Ideale für bestimmte Typen von Menschen haben und warum sie von diesen praktisch oder auch ausdrücklich Aufmerksamkeit oder sogar Wertschätzung erfahren. In diesem Sinne ‚bedeutet‘ das asketische Ideal etwas, es lässt darauf raten „was hinter ihm, unter ihm, in ihm versteckt liegt, wofür es der vorläufige, undeutliche, mit Fragezeichen und Missverständnissen überladne Ausdruck ist“ (GM III 23, KSA 5, 395). Um eingedenk dieser Reflexionen zu einem ersten Vorbegriff der asketischen Ideale zu kommen, kann man sagen, dass sie in ihrer Eigenschaft als ‚Ideale‘ erstens Werthaltungen und Zielvorstellungen zum Ausdruck bringen, sie markieren etwas Erstrebenswertes und weisen so über den aktuellen Zustand hinausweisen. Zugleich attribuiert Nietzsche diese Ideale zweitens als ‚asketisch‘ und bringt sie so mit Verzicht, Enthaltsamkeit und Disziplin in Verbindung. Werner Stegmaier etwa geht davon aus, dass Askese nun einmal notwendig sei, um ein Ideal anzustreben „und insofern ist das Ideal ein asketisches Ideal“ (Stegmaier 2004, 154). Das ist sicher richtig, denn eine gewisse Askese gehört zu den Realisierungsbedingungen eines jeden Ideals. Aber damit wären die Ideale selbst nicht im engeren Sinne asketisch und würden durch das Attribut auch nicht näher spezifiziert. Hier scheint ein anderer Gedanke Stegmaiers weiterführend zu sein, wonach ein spezifisch asketisches Ideal paradoxerweise gerade durch seine Nicht-Realisierbarkeit an Attraktivität gewinnt: „daß es nicht erreicht werden kann, entwertet es nicht nur nicht, sondern motiviert um so größere Anstrengungen, es zu erreichen und dies, je ferner es rückt“ (Stegmaier 2004, 155). Zu diesem Schluss kommt

3 Die „resoluten Typisierungen“, die Nietzsche auch an anderen Stellen der GM gebraucht, sind verstörend ins Auge gefallen: „Man kann das als Übertreibungen und Vereinseitigungen abtun, aber es hat Methode. Nietzsche treibt die Vereinseitigungen so weit, daß sie sofort als Vereinseitigungen erkennbar sind. Seine Typisierungen sind perspektivische Verkürzungen, Begriffe, die nicht abbilden, sondern scharfzeichnen, die das für seine Perspektive Bedeutsame herauszeichnen sollen“ (Stegmaier 1994, 89). Sie sind somit einem Kunstwerk vergleichbar. Nietzsches exemplarische und zugespitzte Typen entsprechen jedoch nicht nur seiner privaten Perspektive. Sie rücken vielmehr einerseits wichtige Aspekte historischer Phänomene in den Vordergrund und sie vermeiden dabei andererseits die kaschierte Verfälschung, die durch die Prätension einer objektiven und rein sachgerechten Beschreibungsrhetorik entsteht. Gerade in ihrer übertriebenen Zuspitzung bringen Nietzsches Typen so Wahrheit zum Erscheinen, denn „nur die Übertreibung ist wahr“ wie Horkheimer und Adorno es einmal offenkundig und performativ selbst übertreibend formuliert haben (Horkheimer/Adorno 1944, 142).

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auch Charles Larmore: „Das, was Nietzsche mit dem pauschalen Begriff des asketischen Ideals bezeichnen will, ist die Überzeugung, ein nie völlig erreichbares Ziel zu haben, nach dem man beharrlich, gewissenhaft und opferbereit streben muß“ (Larmore 2004, 166). Daher ist den asketischen Idealen eine gewisse Maßlosigkeit, Unruhe und permanent gefühlte Unzulänglichkeit ebenso eigen wie eine starke Zukunfts- und Fortschritts- und somit auch Jenseitsorientierung. Insofern asketische Ideale in dem Streben nach unerreichbaren Zielen bestehen, nimmt letztlich das Streben selbst die Funktion des eigentlichen Wertes ein. Damit ist die Praxis der asketischen Lebensform nicht mehr nur ein Mittel, sondern de facto der ganze Inhalt und Zweck des asketischen Ideals. „Asketismus [wird] im Rahmen des asketischen Ideals zum Selbstzweck“ (NWB 2004, 157). Eine solche Verselbständigung der Askese durch ein Ideal der radikalen Überforderung findet sich in der platonischen „homoíôsis theô“ (Platon 1990, 176b) ebenso wie in der paulinischen Aufforderung zur imitatio Christi (1. Kor. 11,1). Gemessen an diesem Ideal müssen leibhaftige Menschen immer unzulänglich und schuldig sein. Nach dem Ende der Glaubwürdigkeit dieser Ideale, die Nietzsche mit dem Tod Gottes markiert, bleibt in der spätmodernen Kultur absurderweise die verselbständigte Lebensform der Askese allein zurück. Wir werden sehen, dass die wissenschaftliche Suche nach Wahrheit, gerade dort wo sie nicht mehr an die positive Möglichkeit von echter Wahrheitsgewissheit glaubt, dieser Bestimmung entspricht. Zugleich kann man vielleicht nicht genug betonen, dass Askese bei Nietzsche keineswegs per se negativ konnotiert ist, sondern sowohl für die Kultur als Ganzes ihr Gutes hat, wie auch für spezifische Typen.4 Ihre Bedeutung hängt entschieden davon ab, ob sie einem Typus nur Mittel zu einem eigenen Zweck ist, oder ob sie sich zu einem Selbstzweck erhoben hat. Diese Alternative zeigt sich deutlich im Vergleich zwischen den Philosophen, bei welchen die asketischen Ideale bereits zu einer „ernsthafteren Frage“ (GM III 5, KSA 5, 345) werden, und den Priestern, bei denen es schließlich wirklich „Ernst“ wird (GM III 11, KSA 5, 361).5 Der Philosoph ist gegenüber den asketischen Idealen positiv voreingenommen, denn sie gehören zu seinen Existenzbedingungen als autonom denkender Mensch, „er

4 In dem Eintrag zu ‚Askese’ im Nietzsche-Wörterbuch der Nietzsche-Research Group wird ausdrücklich zwischen einer positiven oder neutralen und einer negativen Verwendungsweise des Wortes bei Nietzsche unterschieden (NWB 2004, 156). 5 Der lebensdienlichen, tröstlichen oder koketten Bedeutung asketischer Ideale für Frauen oder die normale Mehrheit der Verunglückten und Verstimmten schenkt Nietzsche keine weitere Aufmerksamkeit. Dem Künstler, also Wagner, widmet er einige Abschnitte, jedoch mit dem Ergebnis, sie hätten für ihn im Grunde „keinerlei Bedeutung“ (Guéry 2004, 137; vgl. GM III 5). Wir werden gegen Ende dieses Textes sehen, dass damit allerdings noch längst nicht das letzte Wort über das Verhältnis von Heiterkeit, Wissenschaft, Askese und Kunst gesprochen ist.

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verneint n i c h t damit ‚das Dasein’, er bejaht vielmehr darin s e i n Dasein und n u r sein Dasein“ (GM III 7, KSA 5, 351). Zu seinem Dasein gehört Einsamkeit und Wüste, Freiheit von Sorgen und Pflichten, innerer wie äußerer Frieden und eine kontrollierte Ordnung der inneren Leidenschaften, wo „alle Hunde hübsch an die Kette gelegt“ sind (GM III 8, KSA 5, 352). Auch eine gewisse Weltabgewandtheit zählt Nietzsche, sich selbst sowie die Lesen inklusiv einschließend, zu diesen Bedingungen, „denn wir Philosophen brauchen zu allererst vor Einem Ruhe: vor allem ‚Heute‘“ (GM III 8, KSA 5, 353). Die Philosophen „denken, Alles in Allem, bei dem asketischen Ideal an den heiteren Ascetismus eines vergöttlichten und flügge gewordenen Thiers“ (GM III 8, KSA 5, 352). Sie sind ihm „Brücken zur U n a b h ä n g i g k e i t “ (GM III 7, KSA 5, 351), also Mittel zu einem eigenen und höheren Zweck. Das asketische Ideal bedeutet somit für den Philosophen nicht nur Voraussetzung und Konsequenz seiner Existenz, sondern es verbindet sich bereits mit Heiterkeit und Vergöttlichung. Diese heitere Dimension deutet auch auf eine Verbindung von Philosophie und Wissenschaft, die im Unterschied zu der Wissenschaft des Ernstes tatsächlich die Aufgabe einer Alternative zu den asketischen Idealen in Angriff nehmen könnte. Beim Priester hingegen findet sich hinsichtlich der Bedeutung des asketischen Ideals keine Spur mehr von Heiterkeit. Jetzt erst, nachdem wir den a s k e t i s c h e n P r i e s t e r in Sicht bekommen haben, rücken wir unsrem Probleme: was bedeutet das asketische Ideal? ernsthaft auf den Leib, – jetzt wird es ‚Ernst’: wir haben nunmehr den eigentlichen R e p r ä s e n t a n t e n d e s E r n s t e s überhaupt uns gegenüber (GM III 11, KSA 5, 361).

Ohne hier allzu detailliert auf die spezifische Leistung des Priesters in der Kulturphilosophie der Genealogie der Moral eingehen zu müssen, dokumentiert sein Ernst gegenüber der potenziell heiteren Askese des Philosophen die fundamental unterschiedlichen Bedeutungsmöglichkeiten von asketischen Idealen. Und erst im Typus des Priesters, unter den Nietzsche auch Philosophen wie Eugen Dühring subsumiert (GM III 14; vgl. Stegmaier 2004, 157), gewinnen die asketischen Ideale eine kulturhistorisch tiefgreifende und gefährliche Bedeutung. Hier kommt das asketische Ideal zu sich selbst: Es gibt dem menschlichen Handeln und Denken ein Ziel (nämlich sich selbst) sowie dem Leben und Leiden einen monopolistischen Sinn. Die asketische Herrschaft über die lebendigen Impulse und Affekte wird dabei von einem konkreten und partiell nützlichen Mittel zu einem eigenständigen Zweck und höchsten Ideal, weil sich in Ermangelung eines anderen und stärkeren Ideals sonst nicht angeben lässt, wofür die ganze Anstrengung letztlich gut sein soll. Kommen wir auf die zweite Frage zurück: „Wo ist das G e g e n s t ü c k zu diesem geschlossenen System von Wille, Ziel und Interpretation?“ (GM III 23, KSA 5, 396) Eine gängige Antwort seiner Zeit aufgreifend zieht Nietzsche die Wissenschaften in

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Erwägung. Das Ziel objektiver und nüchterner Wahrheitssuche „habe nicht nur einen langen glücklichen Kampf mit jenem Ideale gekämpft, es sei vielmehr in allen Hauptsachen bereits über jenes Ideal Herr geworden: unsre ganze moderne Wissenschaft sei das Zeugniss dafür“ (GM III 23, KSA 5, 396). An die Wissenschaft als „Gegenstück“ eines durch Priester geprägten Weltbildes zu denken, konnte im ausgehenden 19. Jahrhundert als naheliegend erscheinen. Diverse kulturgeschichtliche Narrative berichten von einer veränderten Stellung, wonach sich die Menschheit aus primitiven und kindlichen Anfängen in einem kontinuierlichen Prozess schließlich im zeitgenössischen Europa zur Nüchternheit des erwachsenen ‚Mannesalters’ entwickelt habe. Variationen dieser seit Herder und Hegel bis in die maskuline Lebensalter-Metaphorik hinein bekannten Fortschrittsgeschichte finden sich in zahlreichen Texten des 19. Jahrhunderts, etwa in den von Nietzsche recht gründlich studierten Büchern von John William Draper.6 Besonders prominent wurde sie von Auguste Comte in seinem Drei-Stadien-Gesetz formuliert: Nach einer mythisch-religiösen und einer philosophisch-metaphysischen Phase sei die Menschheit schließlich in die wissenschaftlich-positive Phase eingetreten. Zentrale Elemente dieses Überlegenheitsgefühls sind die ethnologischen Berichte über primitive Kulturen, die kulturellen Auseinandersetzungen mit der zeitgenössischen Kirche und der akademische, technologische und soziale Siegeszug der Naturwissenschaften. Nachdem die Wissenschaften die überlieferten religiösen und metaphysischen Systeme durch ihre praktische Kritik destruiert hatten, sollten sie selbst den frei gewordenen Platz übernehmen, aber Nietzsche traut ihnen diese zentrale kulturelle Funktion nicht zu, denn: die Wissenschaft hat heute schlechterdings k e i n e n Glauben an sich, geschweige ein Ideal ü b e r sich, – und wo sie überhaupt noch Leidenschaft, Liebe, Gluth, L e i d e n ist, da ist sie nicht der Gegensatz jenes asketischen Ideals, vielmehr d e s s e n j ü n g s t e u n d v o r n e h m s t e F o r m selber. (GM III 23, KSA 5, 396f.)

Mit dieser Formulierung unterscheidet Nietzsche zwei Versionen von Wissenschaft und von Wissenschaftlern, die in den folgenden Zeilen weiter analysiert werden. Auf der einen Seite sieht er ein „braves und bescheidenes Arbeiter-Volk“ (GM III 23, KSA 5, 397) und auf der anderen Seite die „letzten Idealisten“ und „H e k t i k e r des

6 In Nietzsches Bibliothek finden sich noch die von ihm 1875 gekauften Exemplare von John William Draper: Geschichte der geistigen Entwickelung Europas. (Leipzig: Wigand, 1871) undGeschichte der Conflicte zwischen Religion und Wissenschaft (Leipzig: Brockhaus, 1875). In beiden Studien verfolgt Draper die Konkurrenz zwischen Religion und Wissenschaft von den Anfängen der wissenschaftlichen Forschung in der griechischen Antike (wobei ihm erst das Museum von Alexandria als „Pflanzstätte streng wissenschaftlicher Forschung“ gilt) über das mittelalterliche „Zeitalter des Glaubens“ bis in das gegenwärtige „Zeitalter der Vernunft“.

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Geistes“ (GM III 24, KSA 5, 398). Zum Verständnis seiner Wissenschaftsphilosophie ist es entscheidend, diese Differenzierung im Auge zu behalten.7 Die weit überwiegende Mehrheit der Wissenschaftler sieht Nietzsche mit der Erforschung „kleiner Winkel“ beschäftigt, die darin zufrieden sind, durch strenge Arbeit „viel Nützliches zu thun“ (GM III 23 , KSA 5, 397), indem sie wissenschaftliche Probleme methodisch angehen. Man kann dabei durchaus an die Praxis des Rätsellösens denken, die nach der Analyse von Thomas Kuhn die normalwissenschaftliche Forschung charakterisiert. Grundsätzliche Probleme kommen dabei nicht in den Blick, da die Lösbarkeit der Rätsel nach den gängigen Regeln der Kunst im Rahmen eines etablierten Paradigmas als sicher gilt (Kuhn 1969, 49–56). Auch das methodische Entziffern der moralhistorischen Hieroglyphenschrift, von dem in der Vorrede der Genealogie die Rede ist, gehört hierher. Nietzsche respektiert diese spezialisierte Detailforschung durchaus, „denn ich freue mich ihrer Arbeit“ (GM III 23, KSA 5, 397). Er bestreitet weder den Nutzen derartiger Forschung, noch die Brauchbarkeit der so generierten Forschungsergebnisse; er nimmt keine anti-wissenschaftliche Haltung ein. Aber er bestreitet die Möglichkeit eines eigenständigen wissenschaftlichen Weltbildes, welches als Alternative zum asketischen Ideal in Frage käme. Wie schon in der Betrachtung Zum Nutzen und Nachteil der Historie geht Nietzsche auch in der Genealogie davon aus, dass die positiven wissenschaftlichen Kenntnisse und Methoden allein unzulänglich sind, um komplexe kulturelle Funktionen zu erfüllen. Sie können nicht einmal die Praxis der Wissenschaften selbst begründen und leiten. Vielmehr scheint Nietzsche die „Tüchtigkeit unserer besten Gelehrten, ihr besinnungsloser Fleiss, ihr Tag und Nacht rauchender Kopf, ihre Handwerks-Meisterschaft selbst“ das Indiz einer im Kern orientierungslosen Tätigkeit zu sein, die gar kein Ideal über sich hat (GM III 23 , KSA 5, 397). In diesem Sinne ist die Wissenschaft ein Versteck, es verbirgt sich in ihr „die U n r u h e der Ideallosigkeit selbst, das Leiden am M a n g e l der grossen Liebe, das Ungenügen an einer u n f r e i w i l l i g e n Genügsamkeit“ (GM III 24, KSA 5, 400). Sicher sind dergleichen Spekulationen über die Stimmungslage normaler Wissenschaftler/innen schlecht zu belegen, aber per se unplausibel scheinen sie nicht.

7 Im sechsten Abschnitt von Jenseits von Gut und Böse operiert Nietzsche ebenfalls mit dieser Unterscheidung. Auf der einen Seite steht die grosse Philosophie als „das Selbstbebekenntnis ihres Urhebers“, die bezeugt, „in welcher Rangordnung die innersten Triebe seiner Natur gestellt sind.“ Demgegenüber ist der Gelehrte ein „kleines unabhängiges Uhrwerk, welches, gut aufgezogen, tapfer drauflos arbeitet“ und seine wirklichen Interesse ausserhalb der Forschungstätigkeit hat „etwa in der Familie oder im Gelderwerb oder in der Politik; ja es ist beinahe gleichgültig, ob seine kleine Maschine an diese oder jene Stelle der Wissenschaft gestellt wird, und ob der ‚hoffnungsvolle’ junge Arbeiter aus sich einen guten Philologen oder Pilzekenner oder Chemiker macht“ (JGB 6, KSA 5, 19f.).

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Der wissenschaftliche Nachwuchs (ein Wort, an dem Nietzsche gewiss seine Freude gehabt hätte) hofft darauf, durch Fleiß und Geschick ebenso wie durch Glück und Beziehungen eine feste Stelle zu erringen und endlich verbeamtet zu werden. Der etablierte Professor (seltener auch die etablierte Professorin) hingegen wartet auf die Bewilligung eines Sonderforschungsbereichs, auf das Ende der nächsten Akkreditierung, auf die Zeichen steigenden Prestiges in der einschlägigen scientific community, oder vielleicht auch nur noch auf die Pensionierung. Wissenschaft ist Geschäft. Hinsichtlich der Frage nach dem Wozu, selbst bloß nach dem Wozu der Wissenschaften, haben Wissenschaftler in der Regel keine wissenschaftlichen, sondern allenfalls private Meinungen. Dem Typus des arbeitsam-interesselosen Gelehrten stellt Nietzsche die „letzten Idealisten“ unter den zeitgenössischen Wissenschaftlern an die Seite, die sich immerhin als Vertreter eines anderen Ideals „g l a u b e n “ (GM III 24, KSA 5, 398). Sie üben darin die auch den Philosophen eigene Enthaltsamkeit und es ist daher nicht zu verwundern, dass Nietzsche diesen Typus der „harten, strengen, enthaltsamen, heroischen Geister, welche die Ehre unsrer Zeit ausmachen“ einen „Anspruch auf intellektuelle Sauberkeit“ zuspricht und ihn insgesamt mit einer gewissen Hochschätzung charakterisiert (GM III 24, KSA 5, 398). Tatsächlich erkennt er sich selbst in diesen Geistern wieder; ihr Atheismus und Skeptizismus ist ihm nah vertraut und er würdigt ihre „verehrungswürdige Philosophen-Enthaltsamkeit […] jenes Stehenbleiben-W o l l e n vor dem Thatsächlichen, dem factum b r u t u m “ und „jenes Verzichtleisten auf Interpretation überhaupt“ (GM III 24, KSA 5, 399f.). Dennoch erkennt er letztlich in diesem zweiten Typus ebenfalls kein Gegen-Ideal. Durch die Betonung des Stehenbleiben-Wollens vor den kleinen Fakten und in dem Versuch, auf Wertungen und Interpretationen, also auf aneignende Übersetzungen zu verzichten, bringen sie einen noch radikaleren Asketismus zum Ausdruck, als er sich bei den weniger idealistischen Gelehrten findet. Indem sie sich eines jeden Urteils enthalten wollen, treiben sie die „S e l b s t ve r a c h t u n g des Menschen“ auf die Spitze (GM III 25, KSA 5, 404). Zugleich tun sie das auf der Basis eines zweifach problematischen Glaubens: Dass sie glauben, ist selbst schon problematisch, sofern im Glauben eine vertrauensvolle und unkritische Haltung gegenüber dem Geglaubten zum Ausdruck kommt. Woran sie glauben ist problematisch, denn ihr Glaube an den absoluten Wert der Wahrheit und ihr unbedingter Wille dazu, „das ist der G l a u b e a n d e s a s k e t i s c h e I d e a l s e l b s t “ (GM III 24, KSA 5, 400), wenn auch in seiner sublimsten und vornehmsten Form. Sie unterscheiden sich daher von wirklich freien Geistern, „d e n n s i e g l a u b e n n o c h a n d i e W a h r h e i t … “ (GM III 24, KSA 5, 399). Dieser Glaube ist es also, der auch die Idealisten unter den Wissenschaftlern zu einer Praxis und Tugend der Askese zwingt und unauflöslich mit dem asketischen Ideal verbindet. Demgegenüber lehrt „unser Misstrauen“, gerade einen besonders starken und hermetisch geschützten Glauben als Indiz für

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die Unwahrscheinlichkeit des Geglaubten zu betrachten: „Wir ‚Erkennenden’ sind nachgerade misstrauisch gegen alle Art Gläubige“ (GM III 24, KSA 5, 398). Dieses Misstrauen indes ist offenkundig selbst ein Produkt des Willens zur Wahrheit, und richtet sich nun auf den Glauben an den Wert der Wahrheit selbst. Die Arbeit am wissenschaftlichen Fortschritt ist unendlich, sie dient entweder einem unzugänglich-regulativen Ideal von Wahrheit oder sie steht ohne eigenes Ideal im Dienst anderer, in der Regel ökonomischer und sozialer Interessen. Beide Typen, der wissenschaftliche Arbeiter ebenso wie der forschende Idealist, sind daher auf ihre Art mit einer Kultur des Asketismus verbunden, die nicht allein die Wissenschaften prägt. Die enge Gemeinschaft von Wissenschaft und asketischen Idealen mit den Grundzügen einer protestantisch-kapitalistischen Arbeitsethik und Kultur hat besonders Babette Babich betont: „The social pattern of regluarization and impersonality characterizing our work and business world is the explicit criterion not merely of capitalist but also of scientific efficiency“ (Babich 1994, 193). Wissenschaft ist so ihrer Praxis wie ihrem Ideal nach eine Form der innerweltlichen Askese; sie passt zu der kapitalistischen Produktionsweise, mit der sie zeitgleich im 19. Jahrhundert ihren globalen Siegeszug antritt. Angetrieben wird diese unausgesetzte und entsagungsvolle Bemühung um kontinuierliche Effizienzsteigerung (zumindest dort, wo es ernstlich um Wissenschaft und nicht ohnehin um anderes geht) durch den Willen zur Wahrheit, deren Wert als regulative Idee nicht in Frage steht. Die Überzeugung, über Wahrheit nur als Grenzbegriff zu verfügen, entzieht ihren konkreten Wert zugleich jeder Evaluation. Hier die aufklärende Skepsis einen Schritt weiter zu treiben, sieht Nietzsche als unverzichtbare Voraussetzung einer Überwindung der asketischen Ideale an. Die Wissenschaften stehen dem asketischen Ideal nicht als Alternative gegenüber und zwar aus zwei Gründen: Erstens kann die Wissenschaft aus sich kein gegnerisches Ideal hervorbringen, denn „sie bedarf in jedem Betrachte erst eines Werth-Ideals, einer wertheschaffenden Macht, in deren D i e n s t e sie an sich selber g l a u b e n d a r f , — sie selbst ist niemals wertheschaffend“ (GM III 25, KSA 5, 402). Die Wissenschaften können qua Wissenschaft weder befinden, was wissenswert ist und was nicht, noch können sie uns sagen, wozu unsere wissenschaftlichen Kenntnisse verwendet werden sollten. In diesem instrumentellen Sinne ist ein rein wissenschaftliches Weltbild nicht möglich, denn es fehlen die wertsetzenden Ressourcen. Zieht man jedoch den Wert heran, auf welchen die Wissenschaften intrinsisch bezogen sind, nämlich die Wahrheit, so zeigt sich für Nietzsche, dass darin gerade kein dem asketischen entgegen gestelltes Ideal zu sehen ist, „eher noch die vorwärtstreibende Kraft in dessen innerer Ausgestaltung“ (GM III 25, KSA 5, 402). Dies ist der zweite Grund, warum sie kein Gegenideal darstellen, denn „Wissenschaft und asketisches Ideal, sie stehen ja auf Einem Boden“, sie beruhen gemeinsam „auf der gleichen Überschätzung der Wahrheit (richtiger: auf dem gleichen

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Glauben an die U n abschätzbarkeit, U n kritisirbarkeit der Wahrheit)“ und können deshalb nur gemeinsam problematisiert werden: „Eine Werthabschätzung des asketischen Ideals zieht unvermeidlich auch eine Werthabschätzung der Wissenschaft nach sich“ (GM III 25, KSA 5, 402). Mit Blick auf diese Forderung fragt sich jedoch, ob sich die Wissenschaft durch eine Emanzipation von der blinden Idealisierung der Wahrheit vom Geist der Schwere befreien, fröhlich sein und doch zugleich Wissenschaft bleiben kann.

4 Vom Recht der Frage nach dem Wert der Wahrheit Den wichtigsten Schritt zu einer Überwindung der asketischen Ideale und zu einer Ermöglichung wirklich freier Geister und fröhlicher Wissenschaft sieht Nietzsche darin, zu einer Wertabschätzung der Wahrheit zu kommen. Unabhängig davon, dass Nietzsche zumindest an dieser Stelle das Ergebnis einer solchen Abschätzung noch offen lässt, sehen nicht wenige schon in der bloßen Infragestellung des Wertes der Wahrheit eine problematische, wenn nicht inkonsistente oder selbstwidersprüchliche Vorgehensweise (siehe Heit 2009). Mit Blick auf den Schluss der Genealogie wurde diese Kritik besonders entschieden von Charles Larmore vorgebracht, und da dieser Einwand so grundsätzlich ist, soll er hier ausführlich behandelt werden. Nietzsche habe, so Larmore, eine Reihe sehr guter Fragen aufgeworfen, aber seine Behandlung bleibe „letzten Endes oberflächlich“ (Larmore 2004, 168). Eine dieser Fragen fasst Larmore wie folgt: „Warum sollte Wahrheit so wichtig sein, so unumgänglich erscheinen, daß wir uns kaum ein Leben vorstellen können, in dem wir uns nicht nach den Meinungen richten, die wir für wahr halten“ (Larmore 2004, 167). So hat Nietzsche allerdings nicht gefragt und schon die oberflächliche Art, in der seine Formulierung paraphrasiert wird, verweist auf ein Spektrum von Problemen in Larmores Rezeption: Die Frage nach dem Wert wird mit den Fragen nach Wichtigkeit oder nach Unumgänglichkeit gleichgesetzt; Wahrheit gilt zugleich epistemisch als Eigenschaft von Meinungen und psychologisch als Orientierung an dem, was wir für wahr halten; und die klärende Instanz soll darin bestehen, welches Leben wir uns vorstellen können. Es wird sich zeigen, dass diese inhaltlichen Verschiebungen letztlich nicht geeignet sind, Nietzsches Verknüpfung des Willens zur Wahrheit mit dem asketischen Ideal angemessen zu begreifen und zu kritisieren. Wie bereits erwähnt, besteht für Larmore der Kern des asketischen Ideals darin, „ein nie völlig erreichbares Ziel zu haben, nach dem man beharrlich, gewissenhaft und opferbereit streben muß“ (Larmore 2004, 166). Soweit ich sehe,

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widerlegt Larmore nicht, dass Wahrheit als ein solcher unerreichbarer und doch anzustrebender asketischer Wert verstanden werden kann, obschon er Wahrheit offenbar als etwas begreift, über das wir auch positiv verfügen. Die Verbindung des asketischen Ideals mit dem Willen zur Wahrheit hält er aus einem anderen Grund für fehlgeleitet: Bei dem Wert der Wahrheit handele es sich nicht um eine willkürliche Setzung der Menschen, sondern um eine Verpflichtung, der wir uns nur unter Preisgabe unseres Denkvermögens entziehen könnten: Die Bindung an Wahrheit ist aber dem Denken nicht so äußerlich, wie Nietzsche es hier unterstellt. Im Gegenteil, das Denken ist letzten Endes ohne ein Gerichtetsein auf Wahrheit unverständlich. Es läßt sich sogar sagen, daß diese notwendige Beziehung zwischen Denken und Wahrheit den Charakter einer Verpflichtung hat. Denn wie kann man überhaupt denken, ohne sich verpflichtet zu fühlen, mindestens in gewissem Maße das zu beachten, was man schon für wahr hält? (Larmore 2004, 169)

Obwohl Larmore seinen mutmaßlichen Einwand hier nur in die Form einer suggestiven rhetorischen Frage kleidet, deutet sich seine zentrale Argumentationslinie an. Leider wird jedoch weder hier noch später die genaue Bedeutung des Verpflichtungs-Gefühls präzisiert, und auch die relativierende Einschränkung, man müsse sein eigenes Für-Wahr-Halten doch mindestens in gewissem Maße beachten, bleiben unaufgeklärt. Larmore fokussiert vielmehr den spezifischen Charakter der Verpflichtung auf Wahrheit. Hier zeigt sich, dass er implizit – denn die Ergänzung wird nur durch die Richtung seiner Kritik deutlich – das asketische Ideal als eine willkürliche Konvention versteht. Wahrheit hingegen sei zwar auch ein Wert, aber nicht konventionell oder fakultativ. Im Unterschied zu anderen Verpflichtungen unterliege die Fixierung des Denkens auf Wahrheit nicht dem menschlichen Willen, sondern sei vielmehr notwendige Bedingung des Denkens überhaupt. Für Larmore ist daher ein Denken ohne Wertschätzung der Wahrheit nicht nur unverständlich, sondern auch auf dieser Welt nicht zu realisieren. Er versichert daher trocken: „Ohne eine Grundorientierung an Wahrheit ist das Denken einfach unmöglich“ (Larmore 2004, 171). Demgegenüber geht Nietzsche offenbar davon aus, dass menschliches Denken weniger auf einer notwendigen und unverzichtbaren Orientierung an Wahrheit beruht, sondern auf unserem wertschätzenden Willen: „Den Willen aber überhaupt eliminiren, die Affekte sammt und sonders aushängen, gesetzt, dass wir dies vermöchten: wie? hiesse das nicht den Intellekt c a s t r i r e n ?…“ (GM III 12, KSA 5, 365).8 Statt die Wirkungen des Willens zu leugnen, wären eher der spezi-

8 Noch im Druckmanuskript hatte Nietzsche anstelle dieser offenen Frage in apodiktischerem Ton geschrieben, „das hieße den Intellekt castriren – Mehr noch: es hieße – nicht denken!“ (KSA

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fische Wille zur Wahrheit und der darin verborgene „Rest von Ideal“ (GM III 27) zu befragen. Der Einwand, es gebe bisher kein „Bewusstsein darüber, inwiefern der Wille zur Wahrheit selbst erst einer Rechtfertigung bedarf“ verweist jedoch in den Augen Larmores nicht auf „eine Lücke in jeder Philosophie“ (GM III 24, KSA 5, 401), sondern diskreditiert vielmehr Nietzsches eigene, indem sie gerade das fordert, was Larmore unmöglich erscheint: Das, was Nietzsche nicht einsieht, ist, daß gewisse Verpflichtungen, die Anerkennung gewisser Werte wie eben der Wahrheit, so tief im Denken verankert sind, daß sie die Bedingungen seiner Möglichkeit ausmachen. Solche Werte sind nicht vom Denken geschaffen. Im Gegenteil, nur unter ihrer Anleitung kann sich das Denken überhaupt zurechtfinden. (Larmore 2004, 172)

Aufgrund der grundsätzlichen Bedeutung dieses Einwandes für ein Verständnis der Philosophie Nietzsches und des Willens zur Wahrheit, lohnt es sich, einen Moment bei diesem Zitat zu verweilen, auch wenn es gemessen an den Erwartungen an einen bedeutenden analytischen Philosophen erneut reichlich unklar formuliert ist. Was genau ist mit der Rede von gewissen Verpflichtungen und gewissen Werten sowie der tiefen Verankerung gemeint? Zudem fragt sich, woher diese Verpflichtungen stammen, die zwar im Denken verankert, aber nicht vom Denken geschaffen sein sollen. Nietzsche wäre bereit, unsere Orientierung an einem Ideal von Wahrheit natur- und kulturhistorisch, also im Grunde empirisch-wissenschaftlich etwa durch physiologische oder soziologische Notwendigkeiten zu erklären. Larmore hingegen bleibt mit seiner Verankerungs-Metapher ganz in der Domäne philosophischer Konstruktionen. Statt einer Auskunft über die Herkunft dieser Werte betont er, dass wir uns der Verpflichtungen des Denkens auf Wahrheit „als unterworfen betrachten müssen, um überhaupt kohärent denken zu können“ (Larmore 2004, 171). Der Glaube an die Möglichkeit und Wichtigkeit von Wahrheit wird so durch eine Denkfigur begründet, die quasi transzendentalphilosophisch die vertrauensvolle Verpflichtung auf Wahrheit als Bedingung der Möglichkeit dessen begreift, was man für gegeben und wünschenswert ansieht, nämlich kohärent zu denken. Das Argument hat den Anschein eines konditionalen Beweises: Wenn es A (kohärentes denken) gibt oder geben soll, muss es B (Verpflichtung auf Wahrheit) geben. Dieser Denkfigur kann man auf verschiedene Arten begegnen: Man kann sie erstens als bloßen Ausdruck einer festen Überzeugung zurückweisen. Man kann zweitens darlegen, inwiefern A (kohärentes Denken) entweder unklar

14, 381). Obwohl er mit dieser Larmore direkt entgegen gesetzten These wohl in größerer Übereinstimmung mit den Wissenschaften vom Menschen ist als dessen rationalistische Spekulationen, zeigt sich Nietzsches Umsicht doch darin, es dann im veröffentlichten Text bei einer Frage zu belassen, die anders als bei Larmore gerade nicht vorgibt, ein Argument zu sein.

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bestimmt ist oder nicht existiert, so dass der Konditional hinfällig wird. Und man kann drittens argumentieren, dass es zwar A gibt, dass B aber nicht zu dessen notwendigen Bedingungen gehört. Alle drei Formen der Replik finden sich bei Nietzsche. Wenn Larmore betont, ohne eine Grundorientierung an Wahrheit sei Denken einfach unmöglich, so bringt er damit zunächst vor allem die feste Überzeugung zum Ausdruck, dass er sich Denken anders nicht vorstellen kann. Er gibt zu erkennen, dass er ohne diesen Glauben nicht recht selig werden könnte. Auch mit Nietzsche könnte man sagen, dass der Glaube an die Wahrheit selig macht, aber „ein starker Glaube, der selig macht, ist ein Verdacht gegen Das, woran er glaubt, er begründet nicht ‚Wahrheit’, er begründet eine gewisse Wahrscheinlichkeit – der T ä u s c h u n g “ (GM III 24, KSA 5, 398). In dieser direkt zurückweisenden Kritik erscheint die Denkfigur von Larmore nicht als Argument, sondern als rationalisierter und durchgesiebter Herzenswunsch.9 Tatsächlich scheint mir Larmore die Notwendigkeit der Wahrheitsorientierung eher zu behaupten als zu begründen. Dennoch macht man es sich mit dieser letztlich ad hominem geführten Replik womöglich ein wenig einfach. Ausgehend von Nietzsche lässt sich zweitens einwenden, dass der menschliche Intellekt in erster Linie ein Organ der Lebenserhaltung und -steigerung ist. Die zentrale Leistung unseres Denkvermögens besteht nicht in der Erkenntnis von Wahrheit, sondern in der menschheitsgeschichtlich erfolgreichen Lebensbewältigung durch Komplexitätsreduktionen. Wie jedes Lebewesen brauchen wir zunächst keine Wahrheiten über die Dinge selbst, sondern Informationen über das für uns Zuträgliche und Gefährliche. Kohärenz innerhalb unserer Vorstellungen ist dabei wenig relevant. Ein Organ des kohärenten Denkens ist der menschliche Intellekt daher allenfalls in zweiter Linie, zumal nicht klar ist, was im Einzelnen mit ‚kohärent’ gemeint ist. Wichtiger scheint mir aber die dritte Form der Replik, wonach die Orientierung an Wahrheit gar keine unverzichtbare konditionale Bedingung und absolute Verpflichtung des Denkens ist, deren Verletzung unweigerlich zu Inkohärenzen führt. In der Form, in der Larmore von Inkohärenz spricht, bezeichnet er eine Art psychologischer Kollision: „Man kann sich nicht täuschen bei vollem Bewußtsein, daß es ein Akt der Selbsttäuschung ist, den man durchführt“ (Larmore 2004, 170). Schon wahrnehmungspsychologisch spricht einiges gegen Larmores aprio-

9 Besonders Theodor W. Adorno zeigte sich von dieser Art der Widerlegung bei Nietzsche beeindruckt. In der Minima Moralia sieht er darin „das stärkste Argument nicht bloß gegen die Theologie, sondern auch gegen die Metaphysik ausgesprochen: daß Hoffnung mit Wahrheit verwechselt werde, daß die Unmöglichkeit, ohne ein Absolutes zu denken, glücklich zu leben oder überhaupt zu leben, nicht für die Legitimität jenes Gedankens zeuge. Er widerlegt den christlichen Beweis der Kraft, daß der Glaube wahr sei, weil er selig mache“ (Adorno 1951, 122).

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risch postulierte Unmöglichkeit, immerhin belegen unzählige optische Illusionen, dass wir bei vollem Bewusstsein um den Akt der Täuschung dennoch flimmernde Linien, rotierende Kreise oder ähnliches sehen. Hier sind wir uns der Täuschung klar bewusst, ohne dass sie dadurch verschwindet oder bedeutungslos wird. Nietzsches „entlarvende Psychologie“ zielt genau darauf, nicht-pathologische Phänomene der Selbsttäuschung philosophisch zu fassen (Gödde 2009, 499–545). Der von Larmore konstruierte Kontrast ist falsch, denn wir sind stets nur mehr oder minder sicher, ob eine Täuschung vorliegt. Zwischen Wahrheitsgewissheit und dem vollen Bewusstsein einer Täuschung besteht eine Vielzahl gradueller Abstufungen, während wir über die Extrempunkte dieser Relation praktisch nie verfügen. An die Stelle der exklusiven Disjunktion von ‚Gewissheit’ oder ‚Täuschung’ tritt für uns ein Kontinuum von mehr oder minder glaubwürdigen und wahrscheinlichen Hypothesen. Mit Hilfe eines psychologisch informierten und graduellen anstelle des exklusiv-binären Wahrheits- und Gewissheitsverständnisses können auch bewusste Selbsttäuschungen widerspruchsfrei gedacht werden. Wer mit ziemlicher, aber eben nicht absoluter Gewissheit glaubt, dass es schwarze Materie gibt, dass privatwirtschaftliche Unternehmen sich am besten nur um ihre Profite kümmern, oder dass eine gewisse Person der Partner fürs Leben sei, kann doch zugleich die Möglichkeit erwägen, hierbei einer Täuschung zu erliegen. Wir können sogar sicher sein, dass es eine vereinfachende oder übertriebene und somit genau genommen falsche Auffassung ist, die wir dennoch als zweckmäßig ansehen, verwenden und praktisch glauben. Sowohl im alltäglichen Realismus wie auch in der wissenschaftlichen Praxis operieren wir mit Idealisierungen, Typisierung, Modellen, Näherungen und Simplifizierungen, deren prinzipielle Falschheit klar ist. Die Grenze zwischen Wahrheit und Täuschung verläuft daher selbst in den Wissenschaften nicht so strikt, wie Larmore sich denkt: Gerade wie man sich nicht täuschen kann, ohne zu glauben, daß die Illusion doch wahr ist, kann sich der Wissenschaftler keine Hypothese zu eigen machen, ohne den Anspruch dabei zu erheben, daß diese ‚Interpretation’ richtig ist. (Larmore 2004, 175)

Offenbar ist die Einsicht in den hypothetischen und falliblen Charakter des wissenschaftlichen Wissens, wie sie nach vorherrschender Meinung das ausgehende 19. Jahrhundert prägt, bei Larmore nicht angekommen. Nietzsche hingegen wusste bereits, dass in der Wissenschaft „die Ueberzeugungen kein Bürgerrecht“ haben (FW 344, KSA 3, 574), und dass aufgeklärten Wissenschaftler/ innen die fallible Vorläufigkeit auch der bestbegründeten Hypothesen bekannt ist (Schiemann 2014). Die epistemische Einstellung, mit der man sich eine Hypothese zu Eigen macht, ist nicht länger die der Gewissheit, sondern die der bestmöglichen Glaubwürdigkeit. Nur durch die Einsicht in den hypothetischen und falli-

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blen Charakter selbst unserer gut begründeten Überzeugungen eröffnet sich der Raum, um an eine Evaluation des Willens zur Wahrheit und infolgedessen auch an eine andere, fröhliche Wissenschaft zu denken. Ähnlich wie Laplace auf die Frage nach der Stellung Gottes in seinem mechanistischen Weltbild geantwortet haben soll, könnte man heute über die Rolle von Wahrheit in den Wissenschaften sagen: Ich komme ohne diese Hypothese aus. Die kulturellen Konsequenzen aus dieser Einsicht sind allerdings weitreichender, als es der klassische Fallibilismus unterstellt.

5 Wissenschaft als Kunst und Freiheit der Perspektiven Trotz der ausführlichen, offenkundigen und grundsätzlichen Beschäftigung Nietzsches mit dem Charakter, der Funktion und der Geltung von Wissenschaft soll gegen Ende dieser Abhandlung noch einmal betont werden, was schon Klaus Spiekermann ganz richtig feststellt: Zu guter Letzt ist Nietzsche weder Wissenschaftstheoretiker noch Naturphilosoph, sondern seine „Grundlagenkritik“ zielt selbst in dieser Hinsicht vielmehr auf „eine Klärung des ‚existentiellen Verhältnisses‘ des Menschen zur Natur und Naturwissenschaft“ (Spiekermann 1992, S. 8). Die Wissenschaften sind ein besonders zentraler und wirkmächtiger Faktor in der modernen säkularen Kultur und geraten daher geradezu notwendig in Nietzsches Fokus, aber „im Mittelpunkt steht ein pädagogisches Interesse größten Stils“ (Spiekermann 1992, S. 8). Nietzsches Kritiken, Genealogien und Analysen greifen daher nicht nur stets über die beschränkte Domäne der Wissenschaftsphilosophie hinaus, sondern sie verbinden sich immer wieder mit einer weitreichenden erzieherischen oder ärztlichen Ambition. Nietzsche betreibt Kritik in transformativer Absicht. In den vergangenen Abschnitten war vor allem davon die Rede, was die asketischen Ideale bedeuteten und worin sich bisher keine Alternative dazu ausdrückt. Dieser Frage scheint auch der Schluss der Genealogie gewidmet, wenn Nietzsche noch einmal geradezu bündig antwortet: „D a s eben bedeutet das asketische Ideal: das Etwas f e h l t e “ (GM III 28, KSA 5, 411). Es fehlte der Menschheit an einem „D a z u des Leidens […] — u n d d a s a s k e t i s c h e I d e a l b o t i h r e i n e n S i n n ! “ (GM III 28, KSA 5, 411). Dieses Sinnangebot brachte jedoch „alles Leiden unter die Perspektive der S c h u l d …“ (GM III 28, KSA 5, 411) und zeigt damit an, welche Richtung der menschliche Wille vom asketischen Ideal her bekommen hat: „— das Alles bedeutet, wagen wir es, dies zu begreifen, einen W i l l e n z u m N i c h t s “ (GM III 28, KSA 5, 412). Der Text endet mit der Fest-

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stellung, dass auch das immerhin ein Wille sei, und dass der Mensch eher das Nichts wolle, als nicht zu wollen. Über das „G e g e n s t ü c k zu diesem geschlossenen System von Wille, Ziel und Interpretation“ oder auch nur, warum es bisher „f e h l t “ (GM III 23, KSA 5, 396), erfahren wir hingegen auf den ersten Blick nichts mehr. Bei einem zweiten oder dritten Blick lassen sich der Abhandlung jedoch immer wieder interessante Hinweise zur Antwort auf diese Frage entnehmen. Daher möchte ich abschließend noch einmal auf die prospektiven Dimensionen gegen Ende der Genealogie der Moral und auf die Indizien einer fröhlichen Wissenschaft zu sprechen kommen. Schaut man auf die Funktionen, die Nietzsche der Askese im positiven Sinne für Künstler/innen, Philosoph/innen und Wissenschaftler/innen zuschreibt, so dürfte das Gegenstück zum asketischen Ideal offenbar nicht in lässigem SichGehen-Lassen bestehen. Das Spezifikum des asketischen Ideals besteht in der Entsagung um ihrer selbst willen, und sollte nicht mit jeglicher Form zielgerichteter Sublimation verwechselt werden. Daher ist von dem Gegen-Ideal eher der heitere Asketismus eines flügge gewordenen Tiers zu erwarten (GM III 8), und nicht etwa die abstrakte Negation jeglicher Askese. In sehr polemischer Abgrenzung von zeitgenössischen Historikern und modernen „K o m ö d i a n t e n des christlich-moralischen Ideals“ (GM III 26, KSA 5, 408) bekennt Nietzsche sogar: „Alle meine Ehrfurcht dem asketischen Ideale, s o f e r n e s e h r l i c h i s t ! “ (GM III 26, KSA 5, 407). In dieser positiven Haltung drückt sich zumindest zweierlei aus: Erstens wird hier nochmals die erhebliche kulturhistorische Bedeutung des asketischen Ideals gewürdigt, gegen die wir „zuletzt, gerade als Erkennende, nicht undankbar“ sein sollten (GM III 12, KSA 5, 364). Zweitens grenzt Nietzsche das Ideal unter der Bedingung seiner Ehrlichkeit von „koketten Wanzen“ und „ehrgeizigen Künstler“ ab (GM III 26, KSA 5, 407), die allenfalls als „Curiositäten und Complexitäten des modernsten Geistes“ in Betracht kommen (GM III 27, KSA 5, 408). Dieses positive Werturteil bezieht sich also weniger auf den Asketismus des Ideals, sondern auf die Ehrlichkeit. Zugleich deutet der Verweis auf Ehrlichkeit ebenso wie die Abscheu vor ehrgeizigen Künstlern auf eine wichtige Präzisierung in Nietzsches Einstellung zur Kunst. Im Lichte der Philosophie Nietzsches liegt es nahe, bei der Suche nach einem Gegenideal zum Asketismus weniger an die Wissenschaft als vielmehr an die Kunst zu denken. Immerhin hat in der Kunst „der W i l l e z u r T ä u s c h u n g das gute Gewissen zur Seite“ (GM III 25, KSA 5, 402) und aus diesem Grund ist sie nicht nur in seinen früheren Schriften, sondern auch in der Genealogie „dem asketischen Ideale viel grundsätzlicher entgegengestellt als die Wissenschaft“ (GM III 25, KSA 5, 402). Allerdings bleibt es an dieser Stelle bei einer in Klammern gesetzten Parenthese sowie der Ankündigung, „irgendwann des Längeren“ über die Kunst zu sprechen, während die folgende Abschnitte die Diskussion um die

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Wissenschaften fortsetzen. Der tiefere Grund dafür liegt meines Erachtens darin, dass für Künstler das asketische Ideal in der Tat letztlich „g a r N i c h t s ! “ bedeutet (GM III 5, KSA 5, 344), und das vor allem, weil sie als Künstler „nicht unabhängig genug in der Welt und g e g e n die Welt“ stehen (GM III 5, KSA 5, 344). Die Kunst ist daher dem asketischen Ideal zwar grundsätzlicher entgegengestellt als die Wissenschaft, aber auf eine indifferente, vielgestaltige und daher letztlich bedeutungslose Weise. Die Kunst kann eine ästhetisch-performative Alternative zu dieser Auslegung allen Daseins sein, und als solche ist sie nicht nur Zuflucht und Entlastung, sondern auch kritische Impulsgeberin. Die Überwindung des asketischen Ideals selbst kann sie hingegen nicht leisten, denn dazu kennt und durchschaut sie ihren Gegner zu wenig. Zu dieser Überwindung ist vielmehr verlangt, dass man auch die Erbschaft des asketischen Ideals antritt, denn: „Alle grossen Dinge gehen an sich selbst zugrunde, durch einen Akt der Selbstaufhebung“ (GM III 27, KSA 5, 410). Deshalb vermag letztlich nicht die Kunst, sondern nur die in Philosophie und Wissenschaft kultivierte und eingefleischte „christlichen Wahrhaftigkeit […] am Ende ihren s t ä r k s t e n S c h l u s s , ihren Schluss g e g e n sich selbst“ zu ziehen, indem sie die Frage nach der Bedeutung des Willens zur Wahrheit stellt (GM III 27, KSA 5, 410). Dennoch spielt die Kunst auch in diesem Akt der Selbstaufhebung ihre Rolle, indem Nietzsche den künstlerischen, schöpferischen und perspektivischen Charakter unserer sogenannten Wahrheiten betont (GM III 12). Damit deutet er zugleich an, dass auch die Wissenschaften, zumal die fröhlichen, eine Art von Kunst sind. Kunst ist nicht auf das Kriterium der adäquaten Repräsentation verpflichtet und kann doch Wahrheit zum Ausdruck bringen, etwa in Form der Übertreibung. Ein Künstler ist zudem darin frei, dass er wissentlich das vorgefundene Material nach eigenem Willen gestaltet, während ein asketischer Wissenschaftler danach strebt, nur möglichst getreu zu repräsentieren. In der gaya scienza hingegen vereinigen sich Kunst und Wissenschaft zu einer schöpferischen, spielerischen und gestaltenden Kraft. Allerdings bleiben die Wissenschaften im Unterschied zur Kunst auf methodische Vorgehensweisen verwiesen und müssen sich zugleich an ihrem empirischen Erfolg messen lassen. Wie die heiter-entsagungsvolle Philosophie kann auch die fröhliche Wissenschaft nicht auf die Instrumente der Askese, der Konzentration und des Ernstes verzichten. Der kulturhistorisch sublimierte Wille zur Wahrheit bleibt darin als Tugend der intellektuellen Redlichkeit erhalten. Diese Redlichkeit drängt zu einer radikalisierten Skepsis sogar gegenüber den klassischen Bedingungen wissenschaftlicher Wahrheitssuche. Es sind die erkenntniskritischen, historischen und sinnesphysiologischen Einsichten selbst, die für den perspektivischen Charakter unserer Theorien sprechen und die zugleich einen methodologischen Pluralismus nahelegen. Im Unterschied

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zum sisyphos-artigen, asketischen Streben nach einem Ideal von Wahrheit weiß die fröhliche Wissenschaft darum, dass sie ihre Themen selbst wählen, ihre Werte selbst abwägen, ihre Ziele selbst setzen und ihre Erfolgskriterien selbst definieren muss. Darin dem Künstler vergleichbar macht sie ihre Maßstäbe zu einem Teil des Handlungsverlaufes selbst (Feyerabend 1978, 345). In diesem Sinne versteht auch Nietzsche Wissenschaft als Kunst (Feyerabend 1984). Das wichtigste Merkmal der heiteren Wissenschaftlichkeit ist somit eine veränderte epistemische Einstellung, ein höherer Grad an Bewusstheit und Ehrlichkeit. Sie ist in dem Sinne Wissenschaft, dass sie die Summe der kleinen Tatsachen respektiert und nutzbringend in eine Rangordnung zu bringen und zu integrieren weiß, darin zeigt sich ihr kritischer und asketischer Charakter. Ihre Heiterkeit hingegen resultiert aus dem Bewusstsein um die kreativen und schöpferischen Dimensionen ihrer epistemischen Praktiken, deren Ergebnisse nicht an sich fixiert, sondern Ausdruck reicher Gestaltungs-Spielräume sind. Fröhliche Wissenschaft ist kein isoliertes Konzept gutgelaunter Forschung, sondern das Moment einer Kultur, die sich in heiterer Bejahung ihrer Möglichkeiten und Grenzen bewusst ist und die Wissenschaften zu ihren Bedürfnissen einsetzt. In diesem Sinne ist sie eine Wissenschaft für freie Menschen. Sie wurde und wird möglich durch die Kulturgeschichte des Ernstes. Realisieren kann sie sich allerdings nur, wenn es insgesamt gelingt, aus der „Perspektive der S c h u l d “ (GM III 28, KSA 5, 411) herauszutreten und zugleich die Frage nach dem ‚Wozu?’ unserer Anstrengungen anders zu beantworten. Diese Antwort kann aber selbst die fröhlichste Wissenschaft aus eigenen Bordmitteln nicht geben, sie bleibt den zukünftigen und „u n b e k a n n t e n Freunde[n]“ vorbehalten (GM III 27, KSA 5, 410). Insofern ist auch die Genealogie der Moral ebenso wie Jenseits von Gut und Böse am Ende ‚nur’ ein Vorspiel und eine kritische Vorarbeit für die Philosophie, Wissenschaft und Kultur der Zukunft. Wie soll es auch anders sein.

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Silvia Stoller

Nietzsches radikales Lachen Spuren einer Philosophiekritik der ungewohnten Art

Abstract: Nietzsche’s Radical Laughter. Traces of a Rare Kind of Critique of Philosophy. In Nietzsche’s work, many different dimensions of laughter can be found. They range from light-hearted, cheerful, mocking and sarcastic forms of laughter to more radical and dangerous forms of laughter. The radical type of laughter has been a neglected topic in Nietzsche-research. I will address the radical dimension of laughter with reference to The Gay Science and Thus Spoke Zarathustra. This radical laughter should be viewed as a form of philosophical critique. It is a form of a laughing at, not just making fun of the appearance of the philosophy of the other, and it is also apparent in laughing-at-oneself as a means of philosophical self-criticism. This radical laughing at oneself endangers up to a certain degree one’s own philosophy. The question that arises is to what extent can such a philosophical self-criticism through laughter be a means of philosophical practice? In my opinion, radical laughter brings about a transformation of philosophy in general because it requires a productive distance to one’s own philosophy and philosophizing.

1 Einleitung Mit Nietzsche wird das Lachen radikal, radikal gefährlich, sehr sogar. Dass man bei Nietzsche eine radikale Philosophie des Lachens findet, das ist meine Ausgangsthese, die ich im Folgenden ausführen werde.1 Es geht also um die Frage,

1 Weithin wird die mangelnde Beschäftigung mit der Rolle des Lachens in Nietzsches Werk beklagt. Gunter sprach in den 1960er-Jahren von einer „ungenügenden Aufmerksamkeit“ (Gunter 1968, 493) bezüglich des Themas Lachen bei Nietzsche. Kunnas gibt dazu zwar keine nennenswerten Hinweise, er äußert sich beiläufig aber dahingehend, dass er sagt, dass das Lächeln (sic!) „von allzu vielen Interpreten außer acht gelassen wurde“ (Kunnas 1982, 46). Lippitt beginnt seinen Artikel über den „Status des Lachens“ in Nietzsches Zarathustra mit der Feststellung, dass das Lachen keines derjenigen Phänomene sei, die man im Allgemeinen mit Friedrich Nietzsche assoziiere; die Forschung ließe Nietzsche regelmäßig aus (vgl. Lippitt 1992, 39). Weeks merkt ebenfalls an, dass die Bedeutung des Lachens bei Nietzsche im Allgemeinen „übersehen“ worden sei (Weeks 2004, 1). Hay bekräftigt, dass eine systematische Aufarbeitung des Lachens im Werk Nietzsches noch ausständig sei (Hay 2013, 69). Und in einem demnächst erscheinenden Buch von

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weshalb das Lachen bei Nietzsche so radikal wird und was unter dieser Radikalität des Lachens zu verstehen ist. Im Hintergrund dieser Beschäftigung mit Nietzsche steht mein Interesse am kritischen Potenzial des Lachens, und zwar insbesondere dort, wo es die Philosophie selbst betrifft. Mich beschäftigt also an einer Philosophie des Lachens das, was Martin Seel den „theoretischen Humor“ (Seel 2002, 745) genannt hat. Ein solcher theoretischer Humor nehme Distanz zum ausformulierten theoretischen Denken, er „bildet ein exzentrisches Verhältnis zum Schreiben und zum Geschriebenen – vor allem zum jeweils eigenen Schreiben und Geschriebenen – aus“ (Seel 2002, 745). Es handelt sich dabei um eine ganz besondere Form der kritischen Selbstreflexion, im Zuge dessen Philosophierende ihre eigene Position zur Disposition stellen. Nun wird bei Nietzsche, wie zu zeigen sein wird, das Lachen zum Mittel einer solchen philosophischen Selbstkritik. Das ist meine Begleitthese. Die beiden Thesen zusammengeführt, besagen: Nietzsches Philosophie des Lachens ist radikal, und zwar insofern, als damit die Philosophie selbst auf dem Spiel steht – und, so möchte ich gerne hinzufügen, sogar seine eigene. Dass eine solche radikalisierte Philosophie des Lachens dennoch für eine philosophische Praxis taugt, das soll abschließend mit Nietzsche in den Raum gestellt werden. Nietzsches radikales Lachmodell bietet sich als Mittel zur Transformation eines Philosophierens an, das sich nicht mit Halbwahrheiten und Halbherzigkeiten abgeben will. Sich mit dem Lachen bei Nietzsche zu beschäftigen, ist allerdings keine einfache Sache. Drei Gründe können dafür genannt werden. Erstens hat Nietzsche keine Theorie des Lachens im engeren Sinne entwickelt. Das heißt, er hat nicht über das Lachen geschrieben, folglich gibt es auch kaum Begriffsklärungen oder Referenzen auf andere lachtheoretische Ansätze. Sie findet sich bestenfalls implizit in seinem Werk, und diese müssten folglich erst mühsam herausgearbeitet werden.2 Aus diesem Grund kann man Bernhard Taurek zustimmen, wenn er sagt, dass sich Nietzsche als „Befürworter“ des Lachens, nicht aber als „Theoretiker“ des Lachens verstanden habe (Taurek 1999, 130). Zweitens gibt es zwar lachrelevante Stellen bei Nietzsche, und das nicht wenige, aber diese finden sich weit verstreut in seinem ganzen Werk. Diese systematisch aufzuarbeiten, ist ein lobenswertes ebenso wie wünschenswertes Unternehmen.3 Drittens weisen diese

Lydia Amir wird die Ansicht vertreten, dass zu viele Nietzsche gelesen hätten, ohne sich mit den Themen Lachen und Komik in seinem Werk zu beschäftigen (Amir 2016, Kapitel 4). An dieser Stelle möchte ich Lydia Amir für die Einsicht in ihr noch unpubliziertes Manuskript danken. 2 Ein Beispiel für die wenigen ausführlichen namentlichen Referenzen in Bezug auf VertreterInnen einer Philosophie des Lachens ist Nietzsches Notiz Nr. 294 aus Jenseits von Gut und Böse, in der er auf Thomas Hobbes Bezug nimmt und diesen mit einem ihm zugeschriebenen Zitat zitiert, das er aufgrund seines das Lachen abwertenden Gehalts polemisch kritisiert (KSA 5, 236).

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lachrelevanten Stellen keinen einheitlichen thematischen Bezugsrahmen auf. Vielmehr gibt es im Werk Nietzsches sehr unterschiedliche Aspekte des Lachens, die sich nur schwer bis gar nicht zu einer Theorie des Lachens zusammenfügen lassen.4 Ich werde mich nicht zuletzt aus diesen Gründen auf zwei Werke konzentrieren, nämlich erstens auf Nietzsches Schrift Die fröhliche Wissenschaft und zweitens auf Also sprach Zarathustra. Diese beiden Schriften eignen sich deshalb für das eingangs geschilderte Vorhaben, weil darin der für mich ausschlaggebende Aspekt des Lachens als Selbstkritik besonders deutlich ausgeprägt ist und die Formen des Auslachens und des Über-sich-selbst-Lachens thematisiert werden.5

3 Nach wie vor ein Klassiker diesbezüglich ist Kunnas’ Studie Nietzsches Lachen aus den 1980erJahren (Kunnas 1982). Allerdings trifft auf Kunnas zu, was schon bei Bergson (2011) der Fall war: Die Studie verspricht, was sie nur teilweise hält: Sie kündigt im Haupttitel das Thema Lachen an und weist sich mit dem Untertitel als eine Studie über das Komische aus. Im Zentrum von Kunnas’ Studie steht das „Komische bei Nietzsche“ (Kunnas 1982, 10), was zur Folge hat, dass das Lachen selbst nur sehr marginal in den Blick gerät, am meisten noch in der Einleitung und im Kapitel 4 „Wie Nietzsche selbst das Komische versteht“ (Kunnas 1982, 39–50). Im Unterschied dazu geht es mir primär um eine Aufklärung des Lachens, ich stehe also der phänomenologischen Arbeit von Plessner (2003) näher als den Studien von Kunnas und Bergson. – Aus jüngerer Zeit zu erwähnen ist Kathleen Marie Higgins’ Studie Comic Relief, in der die Aufmerksamkeit auf humoristische und parodistische Strategien in Nietzsches Fröhlicher Wissenschaft gelegt wird (Higgins 2000). Die jüngst erschienene Monografie von Nicholas D. More widmet sich Nietzsches Autobiografie Ecce Homo in dem Versuch, diese als eine Satire darzustellen (More 2014). An einer systematischen Aufarbeitung des „Gebrauchs“ des Lachens im Gesamtwerk Nietzsches arbeitet derzeit Katia Hay (vgl. Hay 2013). In dem bald erscheinenden neuen Buch von Lydia Amir über Laughter and Good Life wird man ein umfangreiches Kapitel über Friedrich Nietzsche finden können (Amir 2016). 4 Katia Hay beispielsweise unterscheidet gleich sechs verschiedene „Grundbedeutungen“ des Lachens bei Nietzsche (vgl. Hay 2013, 70 ff.). Zuvor hat sie in einem Interview vier verschiedene Bedeutungen unterschieden: erstens das Lachen als eine Form der Freude, zweitens das Lachen als eine Form der Weisheit, drittens das Lachen als eine Form der Überwindung und viertens das Lachen als eine Form der Kritik (vgl. Hay 2012). Wenn auch weniger systematisch, so hat auch Miguel Skirl in seinem Artikel „Lachen“ in dem von Henning Ottmann herausgegebenen Nietzsche-Handbuch unterschiedliche Lachweisen bei Nietzsche unterschieden, wie beispielsweise das „agonale“, das „sardonische“, das dem Lächeln nahekommende „skeptisch-vornehme“, das „mitleidig-schreckliche“ und das „dämonische Lachen“ (Skirl 2010/2011). 5 Die beiden Schriften stehen sowohl in einem zeitlichen als auch inhaltlichen Zusammenhang zueinander. Die fröhliche Wissenschaft erschien 1882, Also sprach Zarathustra 1883 bis 1885.

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2 Die fröhliche Wissenschaft: Wissenschaftskritik und Auslachen Dass es sich bei der Fröhlichen Wissenschaft um eine fröhliche Wissenschaft handelt, weckt bei dieser Thematik zwangsläufig das Interesse. Genau genommen, beschreibt Nietzsche mit der „fröhlichen Wissenschaft“ nicht eine Wissenschaft bzw. Philosophie, wie sie ist, sondern wie sie sein sollte. Die ernste Philosophie wird aufs heftigste kritisiert und bekämpft, bekämpft mit allen Mitteln, einschließlich dem Mittel des Lachens. Damit stellt sich Nietzsche ganz in jene Tradition der abendländischen Philosophie, die das Lachen als ein hilfreiches kritisches Instrument der Philosophie begreift – im Unterschied zu jenen philosophischen Ansätzen, die das Lachen lieber aus der Philosophie ausgetrieben haben wollten, allen voran Platon mit seinem äußerst rigiden Umgang mit dem übermäßigen Lachen.6

2.1 Ernsthaftigkeit als Vorurteil Der Aphorismus 327 gibt Auskunft über Sinn und Zweck der „fröhlichen Wissenschaft“ und trägt den schlichten Titel „Ernst nehmen“: Ernst nehmen. – Der Intellect ist bei den Allermeisten eine schwerfällige, finstere und knarrende Maschine, welche übel in Gang zu bringen ist: sie nennen es ‚die Sache ernst nehmen‘, wenn sie mit dieser Maschine arbeiten und gut denken wollen – oh wie lästig muss ihnen das Gut-Denken sein! Die liebliche Bestie Mensch verliert jedesmal, wie es scheint, die gute Laune, wenn sie gut denkt; sie wird ‚ernst‘! Und ‚wo Lachen und Fröhlichkeit ist, da taugt das Denken Nichts‘: – so lautet das Vorurtheil dieser ernsten Bestie gegen alle ‚fröhliche Wissenschaft‘. – Wohlan! Zeigen wir, dass es ein Vorurtheil ist! (FW 327, KSA 3, 555)

Nietzsche kritisiert in diesem an Aussagen reichhaltigen, aber unzweideutigen Aphorismus den Intellekt seiner Zeit. Die intellektuelle Fähigkeit des Denkens beschreibt er als „knarrende Maschine“, d. h. als etwas Unlebendiges, das sich „finster“ und „schwerfällig“ gibt und das wie ein alter Motor nur schwer „in Gang zu bringen [sei]“. Diejenigen, die davon Gebrauch machen, nämlich die Philosophen, setzten das Denken gleich damit, „eine Sache ernst [zu] nehmen“. Philosophieren hieße ernst philosophieren. Sie seien der Ansicht, die Philosophie müsse ernst sein und ernst praktiziert werden. Unmissverständlich geht aus dieser Stelle

6 Zur wechselvollen Geschichte des Lachens in der Philosophie mit ihren Versuchen der Inklusion und Exklusion des Lachens siehe Geier (2007).

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jedoch hervor, dass Nietzsche das Denken und die Philosophie nicht mit einem solchen tierischen Ernst verknüpft sehen möchte. Vielmehr sollte die Philosophie alles andere als ernst sein. Dass sich Heiterkeit nicht mit dem Denken verträgt, sei ein reines Vorurteil, das es abzubauen gelte, und Nietzsche will es sich zur Aufgabe machen, zu zeigen, dass die Gleichsetzung von Philosophie und Ernsthaftigkeit eine überholte wie unrichtige Vorstellung ist. In weiterer Konsequenz sollte der schwerfällige Ernst der Philosophie von einem heiteren und fröhlichen oder eben lachenden Denken abgelöst werden. Philosophie und Fröhlichkeit schlössen einander nicht aus, sondern seien notwendig aufeinander bezogen.7 Sie können sich zu einer „fröhlichen Weisheit“ (FW 1, KSA 3, 372) oder eben einer „fröhlichen Wissenschaft“ vereinen.

2.2 Auslachen und Über-sich-selbst-Lachen In der zweiten, etwas veränderten und erweiterten Auflage von 1887 stellt er dem Buch folgendes, ebenfalls weithin bekanntes Motto voran (KSA 3, 343): Ich wohne in meinem eigenen Haus, Hab Niemandem nie nichts nachgemacht Und – lachte noch jeden Meister aus, Der nicht sich selber ausgelacht. Ueber meiner Hausthür.

Dieses Motto verdient deshalb besondere Aufmerksamkeit, weil es zur Aufklärung dessen dient, was Nietzsche darunter versteht, wenn er sagt, die Philosophie solle „fröhlich“ werden. Es enthält einen selbstverfassten Sinnspruch über das Lachen. Zugleich wird mit diesem Motto eine wichtige, zentrale Bedeutung seiner Lachtheorie transportiert, nämlich das Auslachen des Philosophen, das sich letztlich als Auslachen der Philosophie insgesamt gibt – und ganz zum Schluss den Philosophierenden selbst einschließt. Im ersten Teil dieses Vierzeilers sagt Nietzsche, dass er in seinem eigenen Haus wohne – eine metaphorische Umschreibung dessen, dass seine Philosophie nicht auf einem anderen System fuße oder sich fremde Gedanken aneigne. Mit dem Bild des „eigenen Hauses“ drückt Nietzsche seine – wenn vielleicht auch nur 7 SympathisantInnen dieses nietzscheanischen Philosophieverständnisses können leicht sehen, dass Nietzsches Versuch, die Verknüpfung von Philosophie und Ernsthaftigkeit eines Vorurteils zu entlarven, nichts an Aktualität verloren hat. Insbesondere die kontinentale, deutschsprachige Philosophie gibt sich in Ausübung ihrer Profession nach wie vor als äußerst humorlos und performativ ernst – oder eben vorurteilsbehaftet, wie man mit Nietzsche sagen müsste.

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vermeintliche – Unabhängigkeit von anderen Systemen aus. Seine Selbsteinschätzung in Bezug auf die philosophische Eigenständigkeit wird durch die zweite Zeile verstärkt, wenn es heißt: „Hab Niemandem nie nichts nachgemacht“. Nietzsche gibt zu verstehen, dass er kein Nachahmer sein will; er reproduziere nicht schon bestehende Gedanken, und er interpretiere sie auch nicht einfach. So will es ihm zumindest selbst scheinen. Um was es ihm geht, ist eigentlich etwas, was noch nie gedacht worden sei. Die letzten beiden Zeilen schließlich sind jedoch die für unsere Zwecke bedeutsamsten. Nietzsche sagt hier, dass er jeden Meister auslachte, der nicht sich selbst ausgelacht hat. Wenn darin eine Botschaft versteckt sein sollte, wovon man ausgehen kann, dann die: Man muss über jeden lachen, der nicht über sich selbst lachen kann. Nicht derjenige sei lächerlich, der lacht, sondern derjenige, der es nicht verstünde, über sich selbst zu lachen. Als Programm eines bestimmten Philosophierens besagt das: Das Über-sich-selbstLachen müsse zum Kennzeichen des Philosophierens werden. Die Fähigkeit, über sich selbst – als Philosoph, als Philosophin – lachen zu können, solle zum Prinzip des Philosophierens erhoben werden. Damit ist man meiner Ansicht nach an einem zentralen Punkt in Nietzsches Philosophie des Lachens angekommen.8 Es kann schwerlich behauptet werden, dass das Über-sich-selbst-Lachen oder gar das „Sich-selbst-Auslachen“ eine besondere, geschulte Fähigkeit von Philosophen und Philosophinnen sei. Nicht nur wird die Philosophie in der Tat zumeist und nach wie vor als eine ernste Wissenschaft betrieben, die Philosoph_innen nehmen sich mit ihren Theorien selbst auch ziemlich ernst. Sie glauben, stets die richtige und wahre Antwort auf ein Problem gefunden zu haben, und sie verteidigen sie ebenso ernst gegenüber anderen Ansätzen. Genau das aber ist für Nietzsche das eigentliche Problem. Er ist der Ansicht, die Menschheit sei sich ihrer wirklichen Existenz noch nicht bewusst geworden, und diese wirkliche Existenz ist Nietzsche zufolge im Grunde eine Komödie. Er nennt sie die „Komödie des Daseins“ (FW 1, KSA 3, 370). Es gäbe nämlich keine Wahrheit, die von sich behaupten könne, ewige oder letzte Wahrheit zu sein. Erkenntnistheoretisch gesprochen, gibt es nach Nietzsche keine letztgültige, unveränderbare Erkenntnis. „Erkenntniß ist wesentlich Schein“ (NL 1880, KSA 9, 312). Stets würden neue Erkenntnisse hervorgebracht werden, stets müssten offenbar immer neue Erkenntnisse produziert werden. Das ist die Erkenntnis, die Nietzsche angesichts der komödiantischen Existenz zunächst selbst zum Lachen bringt und von der er behauptet, sie sei noch nie zuvor mit einer solchen Deutlichkeit

8 Im erwähnten Motto wird das Auslachen angesprochen. Wenn ich im Folgenden „jemanden auslachen“ und „über jemanden lachen“ synonym verwende, so deshalb, weil Nietzsche selbst keinen Unterschied macht, wie man entsprechenden Stellen bei Nietzsche entnehmen kann.

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erkannt worden. Weil aber jeder einzelne Philosoph und jede einzelne Philosophin der „Wahrheit“ gerne auf der Spur ist, müsse die Einsicht in die Unmöglichkeit der Erkenntnis schließlich auch auf diese selbst zutreffen. Sie dürfe nicht vor sich selbst haltmachen. Nietzsche scheint hier konsequent zu sein. Nicht nur die Erkenntnisse der anderen seien wandelbar, auch die eigenen seien es: „Und – lachte noch jeden Meister aus, / Der nicht sich selber ausgelacht“ (meine Hervorhebung). Das ist vielleicht die einzige Wahrheit, die es Nietzsche zufolge zu verstehen gilt. Doch die Philosophie hätte noch nicht zu dieser besonderen Selbsterkenntnis gefunden: „Über sich selber lachen, wie man lachen müsste, um aus der ganzen Wahrheit heraus zu lachen, – dazu hatten bisher die Besten nicht genug Wahrheitssinn und die Begabtesten viel zu wenig Genie!“ (FW 1, KSA 3, 370), kann man in der Fröhlichen Wissenschaft lesen. Erneut zeigt sich, dass die bisherige Kultur es verabsäumt habe, eine solche Veränderung betreffend Denken und Intellekt herbeizuführen, und dass es sich Nietzsche zur Aufgabe machen will, eine Transformation des Philosophierens auf den Weg zu bringen. Im Grunde müsse der Philosoph sogar zu einem Narren werden. Auf Nietzsche trifft das zu, wenn er sich in der Fröhlichen Wissenschaft selbst als Narren bezeichnet, wenn auch als einen „Narr[en] in Verzweiflung“, wie der Titel eines Gedichts heißt (KSA 3, 646).

3 Also sprach Zarathustra: Auslachen und Übersich-selbst-Lachen Philosophisch betrachtet geht es im Zarathustra um eine Kritik an der Gegenwart und am Christentum. Gegenstand der Kritik sind die christliche Mitleidsmoral, die Vorstellung vom strafenden Gott, die Leidensphilosophie, die Lebensfeindlichkeit, die Leibfeindlichkeit, die Weltfremdheit und nicht zuletzt die Lachfeindlichkeit des Christentums. Lachtheoretisch ist Also sprach Zarathustra wahrscheinlich jene Schrift, in der das Lachen am stärksten thematisiert wird (vgl. Markotic 2010, 162). Darüber hinaus kommt im Zarathustra eine neue Bedeutung des Lachens hinzu: Das Lachen ist hier eng mit der von Zarathustra verkündeten neuen „Lehre“ vom Übermenschen verknüpft. Das Lachen, das hier thematisiert wird, ist das Lachen des Zarathustra selbst. Wer so lacht wie er, der ist ein Übermensch. Man kann daher sagen, dass Zarathustra nicht nur die neue Lehre vom Übermenschen verkündet, sondern in eins damit auch die neue Lehre vom Lachen. Schließlich werden im Zarathustra einmal mehr zwei Aspekte des Lachens thematisiert, die für Nietzsches Philosophie des Lachens zentral sind. Da ist zum einen das Auslachen, das heißt das Lachen als Ausdruck der Kritik am anderen, und

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zum anderen das Über-sich-selbst-Lachen, das heißt das Lachen als eine Form der Selbstkritik. Beide Aspekte sind in der Fröhlichen Wissenschaft schon angesprochen worden. Der Zarathustra bietet sich nun an, sich genauer mit diesen spezifischen Lachausdrücken auseinanderzusetzen.

3.1 Lachen als Auslachen Der Mensch ist Nietzsche zufolge lächerlich, weil er noch nicht Übermensch geworden ist. Als Zarathustra erstmals seine freigewählte Einsiedelei in den Bergen unterbricht und in eine Stadt kommt, spricht er zu den Menschen dieser Stadt, denn er will ihnen den „Ü b e r m e n sc h e n “ lehren (Z Vorrede 3, KSA 4, 14). Diese zeigen sich jedoch desinteressiert und uneinsichtig, was für Zarathustra Anlass ist, sie auszulachen: „Und ebendas soll der Mensch für den Übermenschen sein: ein Gelächter oder eine schmerzvolle Scham“ (Z Vorrede 3, KSA 4, 14). Der Übermensch also wird sich auf schmerzvolle Weise für die Menschen schämen, weil sie sich noch nicht zu einem Leben als Übermenschen entschlossen haben. Gelächter ist die Antwort auf diese Menschen.

3.2 Lachen über die Christen Zarathustra lacht aber auch über die Christen im Besonderen. Nietzsches Kritik am Christentum zeigt sich besonders deutlich im Kapitel „Vom freien Tode“, in dem es um den „Hebräer Jesus“ geht. Er zeichnet ein negatives Bild von ihm und wirft ihm eine falsche Lebensführung vor, weil er noch nicht gelernt hätte, wirklich zu leben. Zu weltfern sei Christus und zu lebensfeindlich, das Lachen habe er noch nicht erlernt: „Wäre er doch in der Wüste geblieben“, lautet der Spott, „und ferne von den Guten und Gerechten! Vielleicht hätte er leben gelernt und die Erde lieben gelernt – und das Lachen dazu!“ (Z Vom freien Tode, KSA 4, 95). In seiner Kritik am freudlosen Christentum bezieht sich Nietzsche im Zarathustra auf eine bekannte Stelle im Lukas-Evangelium, in dem den Menschen auf Androhung, unglücklich zu werden, das Lachen verboten wird. Die Stelle heißt: „Weh euch, die ihr jetzt lacht; denn ihr werdet klagen und weinen“ (Lk 6, 24–26). Für Nietzsche ist diese Drohung ein untrügliches Zeichen dafür, dass das Christentum auf Leid und nicht auf Freude setze. Er unterstellt dem Christentum sogar, dass es die Liebe nicht ernst genug genommen habe, da der Christ ansonsten lachen würde, wie ein Kind es zu lachen verstehe. Daher bezeichnet Nietzsche das christliche Lachverbot als „bisher die grösste Sünde“ auf Erden (Z Vom höheren Menschen 16, KSA 4, 365).

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Die Christen vergleicht Nietzsche mit „Taranteln“ (Z Von den Taranteln, KSA 4, 128 ff.), sie seien „Gift-Spinnen“ (Z Von den Taranteln, KSA 4, 130), die mit ihrem Gift die Seelen der Menschen vergiften würden. Lügner seien sie, weil sie eine falsche Wahrheit verkündeten, und Rachsüchtige, weil sie die Ungläubigen mit Strafe bedrohten. Misstrauen sollte man daher jener Religion entgegenbringen, die auf einem „Trieb, zu strafen“ aufgebaut ist (Z Von den Taranteln, KSA 4, 129). Die Christen seien letztlich Prediger vom Tode (vgl. KSA 4, 130) – was Nietzsches „Lehre vom Leben“ (Z Von den Taranteln, KSA 4, 129) diametral entgegensteht. Zarathustra hat es sich zur Aufgabe gemacht, diesen giftigen Tieren den Garaus zu machen, ihnen die Stirn zu bieten und gegen sie anzukämpfen. Und er tut es immer und immer wieder mit dem Mittel des Gelächters. Im Kapitel „Von den Taranteln“ heißt es: „Aber ich will eure Verstecke schon an’s Licht bringen: darum lache ich euch in’s Antlitz mein Gelächter der Höhe“ (Z Von den Taranteln, KSA 4, 128). Zarathustra, der Übermensch, das ist der hohnlachende Christenverächter.

3.3 Das superiore Lachen des Übermenschen Hier zeigt sich das ganze Lachen des Über-Menschen, das sich als ein superiores Lachen zu erkennen gibt. Furcht und Schüchternheit sind kein Kennzeichen des Übermenschen! Im Gegenteil, der Übermensch ist durch Mut und durch die Bereitschaft zu kämpfen gekennzeichnet. Nur dadurch könne man sich gegen verkrustete Strukturen und überkommene Glaubenslehren wehren. Zarathustra also, der eine gewisse Höhe erreicht hat, lacht diesen in ihr Antlitz. Das ist kein trotziges Lachen, sondern ein Lachen, das wie eine Kampfansage klingt. Man lacht, weil man sich vor der Gefahr nicht fürchtet. Das „Gelächter der Höhe“ wird ihnen entgegengebracht, weil dieses Lachen schon mehr weiß und weil dieses Wissen die Kraft gibt, sich jenen Taranteln entgegenzustellen (wie der mutige Krieger, der sich in die Schlacht wirft). Dass dieses Lachen ein superiores Lachen ist, eines von oben herab, zeigt sich nicht zuletzt symbolisch in der erzählerischen Konstruktion des Zarathustra: Der Übermensch ist ein „erhobenes“, superiores Wesen, das sich in die Niederungen des Menschlichen hinabbegibt. Zarathustra steigt von den Bergen herab und wandert nach unten ins Tal und in die Städte.

3.4 Zarathustra wird selbst zum Gespött der Leute Doch wird Zarathustra im Zuge seiner Vermittlungsbemühungen um die Lehre des Übermenschen selbst zum Gespött der Leute. Nachdem er nämlich zu den

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Menschen in der Stadt gesprochen hatte, um diesen die Natur des Übermenschen nahezubringen, bricht das Volk in Lachen aus. Einer aus dem Volk macht sich über ihn lustig, indem er meint, nun hätte man genug gehört: „nun lasst uns ihn auch sehen!“. „Und alles Volk lachte über Zarathustra“ (Z Vorrede 3, KSA 4, 16). Zarathustra hat wohl so viel Phantastisches von sich gegeben, dass das Volk nur Spott für ihn übrig hatte. Nietzsche kommentiert dieses spöttische Gelächter des Volks – wie einst Platon in Bezug auf die lachende Magd im Theaitetos – als Unverstand. Er lässt Zarathustra sagen: „Sie verstehen mich nicht: ich bin nicht der Mund für diese Ohren“ (Z Vorrede 5, KSA 4, 20). Die Botschaft, die Zarathustra den Menschen überbringen wollte, kam bei den Menschen nicht an; sie stieß bloß auf Unverständnis, und Zarathustra erntete dafür nur Spott. Dieses Lachen ist ein spöttisches Lachen, und Zarathustra selbst muss es einstecken: „Und nun blicken sie mich an und lachen: und indem sie lachen, hassen sie mich noch. Es ist Eis in ihrem Lachen“ (Z Vorrede 5, KSA 4, 21). Spott allein wäre noch zu wenig gesagt: Es ist auch Hass, den Zarathustra von den Menschen erntet, ein hasserfülltes Lachen.

3.5 Gefährliches Lachen Man sollte sich keinen Illusionen hingeben und meinen, das Lachen Zarathustras sei nur ein fröhliches und heiteres Lachen und nur manchmal ein wenig spöttisch und grausam! Es ist nicht selten beißender Spott, den Zarathustra den Menschen und ZuhörerInnen seiner Gleichnisse entgegenbringt. Zumindest nehmen das die anderen so wahr. Das wird ersichtlich im sogenannten „Gespräch mit den Königen“. Einer von zwei Königen, die Zarathustras Lehren kennenlernen wollen, berichtet, wie Zarathustra auf die Menschen wirke: „Deine Feinde nämlich zeigten uns dein Bild in ihrem Spiegel: da blicktest du mit der Fratze eines Teufels und hohnlachend: also dass wir uns vor dir fürchteten. […] Aber was half’s! Immer wieder stachst du uns in Ohr und Herz mit deinen Sprüchen“ (Z Gespräch mit den Königen 2, KSA 4, 307). Das Lachen Zarathustras nimmt also auch eine teuflische Form an. Das spöttische Lachen wird zu einem diabolischen Lachen, vor dem sich die Menschen fürchten. Das sind Worte, die nicht zum Frieden neigen, sondern eher zum Krieg. Es sind kriegerische Worte, Worte, die aufwühlen, verletzen, alles durcheinanderbringen. „Niemand sprach je so kriegerische Worte“, sagt der König an dieser Stelle (Z Gespräch mit den Königen 2, KSA 4, 307). Nietzsches Zarathustra will also nicht einfach nur Lust und Laune verbreiten. Er ist kein Unterhaltungskünstler, auch wenn er sich die Narrenkappe aufsetzt. Der Lust müssen nicht selten schmerzhafte Erfahrungen vorausgehen, und ist man durch diese Erfahrung hindurchgegangen, hat man jene Überwindung ge-

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schafft, dann ist man bereit für Neues. Das aber wird wiederum lustvoll erfahren. Dann ist man Nietzsche zufolge nicht nur ein „Wahrsager“, sondern auch ein „Wahrlacher“ (Z Vom höheren Menschen 18, KSA 4, 366).9 Nietzsche weiß um die gefährliche Kraft des Lachens – schnell nämlich kann das Lachen Ausdruck des Bösen werden – ziemlich genau Bescheid. Frustriert kehrt Zarathustra nach seiner Wanderschaft wieder zurück in die Berge. Da träumte ihm von einem Kind, das einen Spiegel bei sich hatte und Zarathustra aufforderte, in den Spiegel zu schauen. Zarathustra gibt dieser Aufforderung statt und blickt in den Spiegel. Doch was er sieht, lässt ihn schaudern: „denn nicht mich sahe ich darin, sondern eines Teufels Fratze und Hohnlachen“ (Z Das Kind mit dem Spiegel, KSA 4, 105). Erschrocken wacht Zarathustra von diesem bösen Traum auf. Nietzsche kennt also auch das Lachen des Bösen, das ihn, den Zarathustra selbst, diesen Übermenschen, aus der Fassung bringen kann – gegen das er nicht gewappnet ist, sucht ihn doch das Böse noch im Traume auf. Neben dem Motiv des Verfolgtwerdens vom Bösen taucht auch das Motiv der Angst im Zarathustra auf. Beides steht für die Gefährlichkeit jenes Lachens, auf das ich bei meiner Lektüre von Nietzsche meine besondere Aufmerksamkeit gelenkt habe. Als Zarathustra nämlich erstmals die Menschen durchschaut, überkommt ihn nicht Freude angesichts dieser neuen Erkenntnis, sondern Angst, und in dieser Angsterfahrung bricht er in Lachen aus: „So angst mir auch war, – ich musste lachen! Nie sah mein Auge etwas so Buntgesprenkeltes! Ich lachte und lachte, während der Fuss mir noch zitterte und das Herz dazu“ (Z Vom Lande der Bildung, KSA 4, 153). Dieses Lachen nennt man das Lachen angesichts einer furchtbaren Erfahrung, das sich bis zum Lachen angesichts des Todes steigern kann. Wahrheit ist nicht immer beglückend, sondern mitunter furchterregend. Eine Weise, mit solchen existenziellen Erfahrungen umzugehen, ist das Lachen.10

9 Vgl. dazu Steffen Dietzsch, der dieses „Wahr-Lachen“ bei Nietzsche ausdrücklich und ganz zu Recht von einem „humoristischen Gelächter“ abgrenzt (Dietzsch 2004). 10 Damit befindet sich Nietzsche einerseits in unmittelbare Nähe zur griechischen Vorstellung vom Lernen durch Leiden (gr. pathos mathos), wie sie vom Tragödiendichter Aischylos im Agamemnon beschworen und später in pädagogische Theorien Eingang gefunden hat. In einem Naheverhältnis steht Nietzsche meiner Ansicht nach aber auch zu Helmuth Plessners phänomenologischer Theorie des Lachens, die im Kern besagt, dass man immer dann lachen müsse, wenn eine im Grunde „unbeantwortbare“ Situation vorliegt und der Mensch in eine „Grenzlage“ gerät (siehe z. B. Plessner 2003, 328).

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3.6 Über-sich-selbst-Lachen Zarathustra aber kann auch über sich selbst lachen, womit Nietzsche an die Selbstkritik aus der Fröhlichen Wissenschaft anknüpft: „Und indem Zarathustra so sprach, lachte er mit Schwermuth und Bitterkeit über sich selber“ (Z Der Wanderer, KSA 4, 196). Sich selbst als Narren bezeichnend, gilt dieses Lachen sich selbst als einem Narren: „Zum Lachen ist wahrlich meine Narrheit und meine Bescheidenheit in der Liebe!“ (Z Vom Lander der Bildung, KSA 4, 155) Dies bezeugt die Selbstkritik, die in der Philosophie des Übermenschen impliziert ist. Zarathustra lacht über die anderen, er lacht aber auch über sich selbst. Das Über-sich-selbst-Lachen wird sogar zu einem Kennzeichen des Übermenschen überhaupt, und Zarathustra selbst will es den Menschen lehren: „Lernt über euch lachen, wie man lachen muss! Ihr höheren Menschen, oh wie Vieles ist noch möglich!“ (Z Vom höheren Menschen 15, KSA 4, 364).11 Hier zeigt sich die ganze Bedeutung des Lachens im Werk des Zarathustra. Es ist das eine, über andere zu lachen und seinen Spott über sie auszulassen, das ist die eine Tendenz im Zarathustra. Es ist aber das andere, über sich selbst zu lachen. Dazu bedarf es einer gewissen selbstkritischen Distanz, einer Fähigkeit, sich selbst der Kritik auszusetzen und seine eigene Wahrheit auf den Prüfstand zu stellen. Ist man selbst nicht auch letztlich der Unsicherheit ausgesetzt? Können die selbst verkündeten Wahrheiten wirklich Geltung für sich in Anspruch nehmen? Liegt darin letztlich nicht auch die Erkenntnis verborgen, auch sich selbst nicht zu wichtig zu nehmen? – Es liegt eine gewisse Ironie in dieser Ansicht, denn einerseits soll der Mensch in der Gestalt des Übermenschen Nietzsche zufolge das Maß aller Dinge sein (und keine höhere, göttliche Instanz), andererseits gibt Nietzsche unmissverständlich zu verstehen, dass auch das Eigene noch wert ist, mit Kritik bedacht zu werden.

11 Die Verfasserin des Lexikoneintrags „Lachen“ in dem von Christian Niemeyer herausgegebenen Nietzsche-Lexikon, Bärbel Frischmann, zögert nicht, das Über-sich-selbst-Lachen gleich an den Anfang ihres Artikels zu stellen. Sie schreibt: „Am Ende von Za empfiehlt N. als angemessene Lebenseinstellung das L, und zwar nicht nur über die Geschehnisse der Welt, sondern vor allem über sich selbst“ (Frischmann 2009, 194). Allerdings sind solche Hinweise auf speziell diesen Aspekt des Lachens im Werk von Nietzsche auch in der Nietzsche-Forschung keine Selbstverständlichkeit.

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4 Radikales Lachen und Philosophiekritik Abschließend bleibt zu verdeutlichen, was ich darunter verstehe, wenn ich bei Nietzsche von einer „radikalen“ Philosophie des Lachens spreche. (1) Erstens ist Nietzsches Philosophie des Lachens deshalb radikal, weil es unzensuriert in Erscheinung tritt. Schon Platon hatte die Gefährlichkeit des Lachens erkannt, aber dies zum Anlass genommen, das übermäßige Lachen zu verbieten, also genau das, was Nietzsche bzw. Zarathustra den Menschen dezidiert mit auf ihren Weg geben will. Insbesondere die Dichter waren ihm ein Dorn im Auge. Ihre Darstellungen von lachenden Männern und Göttern könne sich negativ auf die Erziehung junger Menschen auswirken, argumentierte Platon. Es hätte keine Vorbildwirkung, Menschen dazustellen, welche die Kontrolle über sich selbst verlieren, wie beim Lachen, und andere kompromittieren, wie beim Auslachen (vgl. Politea, 388d–389a). Spottreden auf Bürger der Polis sind Platon zufolge überhaupt verboten. Diejenigen, die sich dazu hinreißen lassen, seien sogar des Landes zu verweisen (vgl. Nomoi, 936a). Bei Nietzsche gibt es ein solches gefährliches Lachen, aber von einem Verbot des Lachens oder gar einer politischen Zäsur und Verfolgung kann weit und breit nicht die Rede sein. Im Unterschied zu Platon gebietet Nietzsche das gefährliche Lachen. Wenn man so will: Platon war radikal restriktiv in seinem Verbot des Lachens. Nietzsche war radikal freizügig in seinem Gebot des Lachens. (2) Zweitens kann man von Radikalität auch in Bezug auf die spezifische Qualität des Lachens bei Nietzsche sprechen. Das Lachen wird nämlich mitunter radikal gefährlich, und es zeigt auch Spuren der Selbstgefährdung. Das wird meiner Ansicht nach besonders im Zarathustra deutlich. Zum einen hat Zarathustra den gewöhnlichen Menschen in der Stadt gegenüber nur Spott und Hohn übrig. Das Lachen ist furchteinflößend, wie das „Gespräch mit den Königen“ zeigt, denn es ist ein teuflisches und höhnisches Lachen, es hat einen aggressiven Charakter. Dieses teuflische Lachen sucht den Lachenden aber selbst noch im Traum auf. Was aber jemanden noch im Traum heimsucht, das muss schon etwas Gefährliches sein. Manchmal ähnelt das gefährliche Lachen bei Nietzsche jenem Lachen, das Elias Canetti in seinem Roman Die Blendung so überaus pointiert geschildert hat. Es ist das Lachen im Angesicht des Todes: das sogenannte apokalyptische Lachen. Der Roman handelt von einem Bibliothekar, der sich ganz seinen Büchern verschrieben hat. Zu Hause besitzt er eine große Bibliothek, die er über alles liebt, mehr als seine Haushälterin, aber eines Tages bricht ein Brand aus. Der bibliophile Protagonist namens Kien steht schlussendlich in der in Flammen aufgehenden Bibliothek. Er sieht seine geliebten Bücher und nicht zuletzt sich

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selbst dem Tode geweiht. Der Roman endet mit den Worten: „Als ihn die Flammen endlich erreichen, lacht er so laut, wie er in seinem ganzen Leben nie gelacht hat“ (Canetti 2007, 510). Auch darin ist Nietzsche radikal, dass er nämlich das Lachen in Verbindung mit dem Tod bzw. der Todeserfahrung zu bringen weiß. Trotz aller fröhlicher Wissenschaft.12 (3) Drittens erachte ich das Lachen bei Nietzsche radikal dort, wo die Philosophie selbst auf dem Spiel steht. In der Geschichte der Philosophie des Lachens finden sich zu Hauf Theorien, die das Auslachen zum Gegenstand der Betrachtung machen. Es ist der Stolpernde, der Hässliche, der Dumme; es sind bestimmte menschliche Qualitäten wie die Ungeschicktheit oder die Zerfahrenheit, die zum Lachen bzw. Auslachen reizen.13 Auch sogenannte „Behinderungen“ sind Menschen immer wieder Anlass zu Gelächter gewesen.14 Zumeist geht es also um Menschen (nicht selten sind es Frauen) und Dinge. Doch bei Nietzsche findet das Lachen Anwendung auf die Philosophie selbst, das Lachen – und eben auch das Auslachen – wird zu einem Mittel der Kritik an der Philosophie. Die Theorie wendet sich gegen sich selbst, das Lachen wird zum Mittel der philosophischen Selbstkritik. Nun ist das selbstverständlich kein Gedanke, den Nietzsche erfunden hätte. Zu denken wäre etwa an den Humanisten Erasmus von Rotterdam, der in seiner Schrift Das Lob der Torheit von 1509 ungeschminkt die verlogene Theologie und Philosophie mit spitzer Feder lächerlich macht. Zu denken wäre aber auch an den britischen Philosophen Shaftesbury. Dieser hatte zweihundert Jahre später in seiner Schrift Sensus Communis von 1709 den „spöttischen Scherz“ (engl. raillery) ausdrücklich als eine Waffe gegen dogmatische Lehren vor allem philosophischer und theologischer Art verteidigt. Die Spöttelei (engl. ridicule) dient Shaftesbury

12 Es gibt bei Nietzsche selbstverständlich auch das fröhliche Lachen. Dieses ist von Leichtigkeit und Unbeschwertheit gekennzeichnet, es taucht etwa im bekannten Motiv des Tanzes auf. Das ist jenes Motiv, das Nietzsche-LiebhaberInnen gerne in aller Schöngeisterei herauspicken und das sich im dritten Teil des Zarathustra, im Aphorismus 23 findet, wo es heißt: „Und verloren sei uns der Tag, wo nicht Ein Mal getanzt wurde! Und falsch heisse uns jede Wahrheit, bei der es nicht Ein Gelächter gab!“ (Z Von alten und neuen Tafeln 23, KSA 4, 264). Doch ist damit noch nicht alles gesagt. Die enge Verknüpfung von Lachen und Tanz suggeriert eine Leichtigkeit, die dem Lachen angesichts des Todes oder aber auch einer schmerzhaften Erkenntnis fehlt. Kien, der realisiert, dass alles das, was er geliebt hat, soeben dem Untergang geweiht ist, einschließlich er selbst, tanzt nicht mehr; sein Lachen ist das letzte Aufflackern eines Lebens, das mit einem Bein schon in der Welt des Todes steht. Wenn, dann könnte man höchstens von einem „letzten Tango“ sprechen. 13 Auf diesen Aspekt des Lachens, das komische Lachen, hat sich Henri Bergson in seiner Studie Das Lachen konzentriert (Bergson 2011). 14 Siehe dazu aus historischer Perspektive Gottwald (2009).

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zufolge der Wahrheitsfindung. Sie sei eine Art Probe aufs Exempel. Mit ihr könne getestet werden, ob eine Theorie tauge oder nicht. Die Begründung lautet: Wenn eine Theorie den Spott nicht erträgt, stimme etwas nicht mit ihr. In den Worten von Shaftesbury: „Denn eine Sache, die keinen Scherz vertrüge, sei verdächtig“ (Shaftesbury 1990, 332). Shaftesbury stellt damit das Lachen bzw. Auslachen in den Dienst der Philosophie und präsentiert es als ein Mittel des Philosophierens, genau genommen der philosophischen Wahrheitssuche. Schließlich kann auch noch Schopenhauer genannt werden. In der Welt als Wille und Vorstellung mündet seine Kritik an der Systematizität, der Abstraktheit und der Machtverliebtheit der Philosophie in einen überschäumenden Sarkasmus an der akademischen Philosophie, der sogenannten „Kathederphilosophie“, und in eine ungehemmte, beißende Kritik an einzelnen Philosophen wie Kant und Hegel. In lachtheoretischer Hinsicht hat er die Ansicht vertreten, dass man immer dann lache, wenn ein Begriff mit der Anschauung plötzlich nicht mehr übereinstimme. Man lache, man freue sich, es ergötze uns, meint er, wenn man die Vernunft scheitern sähe: „Diese strenge, unermüdliche, überlästige Hofmeisterin Vernunft jetzt einmal der Unzulänglichkeit überführt zu sehn, muß uns daher ergötzlich sein. Deshalb also ist die Miene des Lachens der der Freude sehr nahe verwandt“ (Schopenhauer 1986, 131). Die Frage ist hier nur: Richtet sich das Lachen bloß gegen andere Philosophien, gegen andere Philosophen und Philosophinnen, oder aber auch prinzipiell gegen die Philosophie, und zwar gegen die Philosophie im Allgemeinen, und das heißt schlussendlich auch gegen die eigene? Meinem Kenntnisstand zufolge geht es den meisten Theoretiker*innen des Lachens in der Philosophie um eine Kritik an der Philosophie der anderen. Bei Erasmus waren es die orthodoxen Theologen und Philosophen seiner Zeit, über die er sich lustig machte. Auch Shaftesbury war in erster Linie mit dem Dogmatismus und der Humorlosigkeit der Vertreter seiner Zunft unzufrieden. Schopenhauer attackierte die zu seiner Zeit praktizierte Universitätsphilosophie ebenso wie seine unmittelbaren Berufskollegen. Gewiss muss auch Nietzsches Philosophie in erster Linie als Zeitkritik verstanden werden. Nicht wenige Stellen im Zarathustra beschreiben ein Lachen, das gegen andere und anderes gerichtet ist: gegen die noch nicht Übermenschen gewordenen gewöhnlichen Menschen, gegen die Lachfeindlichkeit des Christentums, gegen das einfältige Meisterdenken usw. Aber keiner stellte so sehr wie er auch das Über-sich-selbst-Lachen in den Dienst einer Kritik an der Philosophie. Das heißt, bei Nietzsche geht es nicht nur darum, die anderen auszulachen, sondern auch sich selbst. Wenn Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft mittels seines Mottos zu verstehen gibt, dass er diejenigen auslache, die es nicht verstünden, über sich selbst zu lachen, dann muss er konsequenterweise auch über sich selbst lachen. Das heißt, seine Ansicht, ein Meister der Philosophie müsse auch über

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sich selbst lachen können, muss auch auf ihn selbst angewandt werden, also auf Friedrich Nietzsche, den Philosophen. Eine solche Schlussfolgerung kann auch für den Zarathustra gezogen werden, denn auch Zarathustra ist eine Art Meister, wenn er dem Menschenvolk seine in der Einsamkeit schwer abgerungene Weisheit verkünden will. Bei Nietzsche kommt es daher meiner Ansicht nach zu einer Radikalisierung der Philosophiekritik. Die Philosophie muss sich selbst in Frage stellen können, will sie ernsthaft Philosophie genannt werden. Damit hier kein Missverständnis aufkommt: Damit ist nicht einfach das eigene Fach gemeint, also die Philosophie. Es ist auch diejenige Philosophie gemeint, die man selbst betreibt: Ich lache mich selbst als Philosophierender oder als Philosophierende aus! Damit reiht sich Nietzsche in die Reihe der KritikerInnen der Philosophie ein, er treibt es aber mit seiner Kritik zum Äußersten, weil sie vor sich selbst nicht halt macht. Das nenne ich radikal. (4) Als radikal kann man schließlich eine bestimmte Art des Lachens im Werk von Nietzsche bezeichnen, insofern es sich kompromisslos zeigt. Was damit gemeint ist, kann mit Shaftesbury und Kant demonstriert werden. Für Shaftesbury ist nicht jedes Lachen für einen Wahrheitstest gleich gut geeignet. Er trifft eine Auswahl und stellt gewissermaßen Bedingungen an die von ihm propagierte kritische Lachkultur. Der Witz, der ihm zufolge dem Wahrheitstest auf besondere Weise dient, muss unterhaltend sein (engl. pleasant amusement) (vgl. Shaftesbury 1990, 325). Plumpe, beleidigende Scherze werden dezidiert von ihm ausgeschlossen.15 Niemals dürfe aus einem Witz Verachtung sprechen (Shaftesbury 1990, 332 f.). Das aber bedeutet, dass Shaftesbury im Grunde eine Philosophie des guten, kultivierten, feinen Humors vertritt. Er beschreibt eine gesellige Lachkultur, wie man sie auch bei Immanuel Kant finden kann. Auch Kant trifft eine Auswahl. Er unterscheidet zwischen einem erlaubten und einem unerlaubten Lachen. Zum unerlaubten Lachen zählen das Auslachen und das „hämische Lachen“, das heißt dasjenige Lachen, das durch Boshaftigkeit und durch Tücke gekennzeichnet ist. Dem gegenüber steht das „gutmütige“, das „offenherzige“, das „gesellige“ Lachen. Und er hebt hervor, dass das Lachen stets ein Mitlachen von anderen zur Folge haben müsse, was den geselligen Charakter des Lachens, beispielsweise in der sogenannten Tischgesellschaft, hervorstreicht: „Das Lachen  

15 Vgl.: „Dies ist jene plumpe Art des Scherzes, die in guten Gesellschaften so sehr beleidigt“ (Shaftesbury 1990, 325). Vgl. auch: „Die Freiheit des Scherzes, die Macht, alles in einem anständigen Ton zu bezweifeln, und die Erlaubnis, jede Behauptung ohne Beleidigung des Behaupters zu enthüllen oder zu widerlegen, sind die einzigen Mittel, die eine solche philosophische Unterredung auf einige Weise angenehm machen können“ (Shaftesbury 1990, 329; meine Hervorhebungen).

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muß so beschaffen seyn, daß Jederman daran Antheil nehmen kann“ (Kant 1997, 141). Damit unterscheiden sich Shaftesbury und Kant aber deutlich von Nietzsche: Dort, wo das Lachen bei Nietzsche die gewöhnlichen Menschen treffen soll und wo es sich zu einer Kritik am Meisterdenken ausweitet, geht es ganz und gar nicht gesellig zu. So sehr Nietzsche auch versucht, den Menschen die Erkenntnis des Übermenschen nahezubringen, er tut dies nicht im Einvernehmen mit den Betroffenen. Er lacht sie aus, er schämt sich auch ein bisschen für sie. Gegen die Geselligkeit spricht auch das Distanz schaffende und Angst erzeugende Hohnlachen, wie es im Zarathustra, im „Gespräch mit den Königen“, thematisiert wird. Eine Einladung zum geselligen Beisammensein ist das nicht! Kompromisslos ist also jenes Lachen insofern, als Nietzsche keine Abstriche zu machen bereit ist. Es tritt ungehobelt in Erscheinung und zielt nicht auf das Mitlachen der anderen ab.

5 Transformation der Philosophie Nietzsches indirekte Thematisierung des Lachens im Zarathustra und der Fröhlichen Wissenschaft wirft die Frage nach der Möglichkeit einer Selbstkritik mittels Lachen auf, und hier wiederum, wenn auch nicht ausschließlich, die Selbstkritik im Bereich der philosophischen Praxis. Damit rückt aber eine grundsätzliche Frage für die gegenwärtige Philosophie ins Zentrum: Wie sehr kann oder soll das selbstkritische Lachen in Wissenschaft und Forschung Einzug halten? Wenn ich diese Frage im Schlussteil aufwerfe, dann gehe ich davon aus, dass das Über-andere-Lachen und das Über-sich-selbst-Lachen zwei qualitativ unterschiedliche Formen des Lachens sind. Letzteres verlangt nach einer besonderen, selbstbezüglichen Einstellung und setzt eine besondere menschliche Fähigkeit voraus, die sich nicht von selbst versteht. Sie versteht sich deshalb nicht von selbst, weil sie in der sogenannten „westlichen“ Kultur meiner Ansicht nach nicht wirklich gefördert wird. Zwar haben Karl Heinz Bohrer und Kurt Scheel die Ansicht vertreten, dass das Lachen als Selbstkritik ein Kennzeichen der westlichen Zivilisation und in erster Linie durch die Fähigkeit zur umfassenden Distanzierung charakterisiert sei: „Im Lachen steckt beides: die Distanzierung des Anderen, und die Distanzierung des Eigenen, sogar des eigenen Selbst. Dieses kritische und selbstkritische Moment des Lachens ist ein Kennzeichen der westlichen Zivilisation geworden“ (Bohrer/Scheel 2002, keine Seitenangabe). Doch kann man über die von Bohrer und Scheel skizzierte kulturelle Sonderstellung des Humors in der „westlichen Zivilisation“ geteilter Meinung sein.16 Ferner wäre zu fragen, ob man wirklich von einer wirksamen und nachhaltigen Kultivierung des selbstkritischen Lachens in westlichen Demokratien sprechen kann. Auf die

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Wissenschaftskultur scheint die Diagnose von Bohrer und Scheel nicht zuzutreffen. Hier regiert nach wie vor die Vorstellung von der Wissenschaft als strenger Wissenschaft. Gelacht wird später, und wenn es ans Eingemachte geht, hört sich der Spaß sowieso auf: Kritisiert werden in erster Linie die anderen. Der Wettstreit der philosophischen Theorien wird bestenfalls höflich und respektvoll ausgetragen, nicht selten aber auch beinhart und kompetitiv, fast nie wird er von einer humoristischen Leichtigkeit begleitet. In der Erziehung gilt günstigenfalls die Prämisse „Du sollst nicht über andere lachen!“ – „Lerne über dich selbst lachen!“ hat im Vergleich dazu keinen großen Stellenwert in der Erziehungswirklichkeit.17 Dass Nietzsche aber das Lachen auch als pädagogisches Mittel in Betracht zog, ist unter anderem einem Aphorismus aus der Fröhlichen Wissenschaft über das deutsche „Erziehungswesen“ zu entnehmen: „In Deutschland fehlt dem höheren Menschen ein grosses Erziehungsmittel: das Gelächter höherer Menschen; diese lachen nicht in Deutschland“ (FW 177, KSA 3, S. 501).18 Diese und

16 So wäre zum Beispiel an die bekannte Figur des Nasreddin Hoca, eine der bedeutendsten Figuren der türkisch-islamischen Literatur und Satire, zu denken (siehe dazu beispielsweise Hübsch 2013). 17 In der Pädagogik und den Erziehungswissenschaften wird der Humor als humane Potenz zwar allmählich entdeckt, aber als Ressource im pädagogischen Kontext nach wie vor unterschätzt (vgl. Lorenzen 2012). Zur immensen Bedeutung Nietzsches für die Pädagogik siehe Hoyer (2002). Im Zentrum dieser umfassenden Arbeit stehen Nietzsches „Ausführungen und Vorstellungen zu Fragen der Pädagogik“ (Hoyer 2002, 14). Leider fehlen in dieser Arbeit Hinweise zur pädagogischen Bedeutung von Lachen und Humor im Ausgang von Nietzsche. 18 So sieht es auch Kunnas in Bezug auf diesen Aphorismus: „In seiner Kulturkritik beschuldigt Nietzsche seine Landsleute mangelnden Lachens. Die idealistische Philosophie hat die Deutschen zum Respekt vor absoluten, unbedingten Werten und Wahrheiten erzogen. Es sei nach Nietzsche das Verhängnis der deutschen Erziehung, daß nicht einmal die genialen Deutschen einen erkenntnistheoretisch ironischen Abstand zu ihren Überzeugungen haben“ (Kunnas 1982, 43). – Nietzsche hat sich in seiner frühen, kulturkritischen Phase intensiv mit Fragen der Pädagogik, vor allem hinsichtlich der deutschen Universitätsphilosophie, beschäftigt. Dazu zählen „Schopenhauer als Erzieher“ in den Unzeitgemäßen Betrachtungen (KSA 1, 335–427) sowie der Vortragszyklus „Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten“ in den Nachgelassenen Schriften 1870–1873 (KSA 1, 641–752). In „Schopenhauer als Erzieher“ hebt Nietzsche neben den Eigenschaften Ehrlichkeit und Beständigkeit die Heiterkeit als typisches Kennzeichen Schopenhauers positiv hervor (KSA 1, 348 ff.). Lobend fügt er hinzu: „Der wahre Denker erheitert und erquickt immer, ob er nun seinen Ernst oder seinen Scherz, seine menschliche Einsicht oder seine göttliche Nachsicht ausdrückt“ (SE 2, KSA 1, 348). Nähere Ausführungen zur Bedeutung des Lachens im Rahmen einer erneuerten Philosophie wird man in diesem Text allerdings vergeblich suchen. Auch den Reden über die Zukunft der deutschen Bildungsinstitutionen kann man kein Plädoyer für das Lachen entnehmen. Zwar wird einmal das homerische Lachen erwähnt (KSA 1, 681), und zweimal wird der „Philosoph“ als lachender vorgestellt (vgl. KSA 1, 696 u. 703), aber nirgends schlägt Nietzsche das Lachen als Waffe gegen das von ihm so heftig kritisierte Bildungssystem seiner Zeit vor. Wenn

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ähnliche Stellungnahmen können als Beleg dafür genommen werden, dass Nietzsche das Transformationspotenzial des Lachens nicht nur auf persönlicher, sondern auch auf akademischer Ebene für pädagogisch wertvoll erachtet. Einstweilen aber haben der Philosoph, der sich die Narrenkappe aufsetzt, und die Philosophin, die sich selbst zur Närrin macht, keinen wirklich guten Stand im deutschsprachigen akademischen Raum. Man ist mehr als nur geneigt zu sagen, dass sich seit Nietzsches Plädoyer für das Lachen als kritisches Mittel des Philosophierens diesbezüglich so gut wie nichts geändert hat. Man wird sich über die „Witzbolde“ in der Philosophie amüsieren, aber man wird sie philosophisch nicht ernst nehmen. Kaum wird man an einer wissenschaftlichen Tagung Vortragende gehört haben, die bei ihrem Vortrag ihre eigenen vorgetragenen Theorien einer kritischen Revision unterzogen hätten und dabei über ihre eigenen Gedanken in lautes Lachen ausgebrochen wären. Von sich selbst und seiner eigenen philosophischen Position überzeugt sein wird als Merkmal philosophischer Redlichkeit interpretiert. Wer hier lacht, erzeugt unweigerlich den Eindruck, dass dessen Theorie wertlos ist. Der Ausdruck von Unsicherheiten und das Eingeständnis von Unwissenheit werden in der philosophischen Performance zudem eher als Schwächen wahrgenommen denn als Zeichen eines Prozesses gründlicher Überlegung oder einer authentischen philosophischen Persönlichkeit.19 Welche Konsequenzen können aus der Beschäftigung mit Nietzsches radikalem Lachen für die gegenwärtige philosophische Praxis gezogen werden? Was heißt es genau und wie würde es aussehen, wenn man Nietzsches Aufforderung, über sich selbst als Meister – oder Meisterin – zu lachen, Folge leisten möchte? Ich denke, wir können von Nietzsche zumindest das lernen, dass es diese radikale Variante des Lachens gibt, die zunächst und vor allem bei sich selbst ansetzt. Bei „sich selbst“ ansetzen heißt meiner Auffassung nach zweierlei: einerseits bei seinem eigenen Fach der Philosophie, andererseits bei seinem eigenen philosophischen Ansatz. Wer hier lachen möchte, der muss aber die Fähigkeit zur Distanznahme und vor allem zur Selbstdistanzierung entwickelt haben. Eine solche Fähigkeit erfordert eine gezielte Kultivierung der selbstkritischen Distanz. Die erkenntniskritische Funktion des Lachens für die Philosophie wurde schon vielfach hervorgehoben. Sie findet sich mehr als nur deutlich in der Philosophie Friedrich Nietzsches: „Das Lachen ist für Nietzsche vor allem Mittel zur

es etwas gibt, das er als Grundvoraussetzung für eine „wahre“ Philosophie einfordert, dann ist es der Schrecken: Also nicht das Gelächter, der Schrecken solle alle zukünftige Philosophie anleiten (vgl. KSA 1, 673 f.). – Zu Nietzsches „Schopenhauer als Erzieher“ siehe Hödl (2009, 303 ff.); überblicksartig zu Nietzsche als Pädagoge siehe Löwisch (1998). 19 Die hier geschilderte Wissenschaftspraxis verdankt sich einzig und allein meiner, aber immerhin jahrzehntelangen Erfahrung im Universitätsbereich.  

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Erkenntnis“, hält Kunnas (1982, 43) fest. Christina Schües hat ganz in diesem Sinne auf die eminent wichtige Rolle des Perspektivenwechsels aufmerksam gemacht, die Menschen beim Lachen vollziehen, und im Zuge dessen der Ansicht Ausdruck verliehen, dass das Lachen folglich ein zentrales philosophisches Mittel zur Wahrheitsfindung sei (Schües 2013). Beachtenswert in diesem Zusammenhang ist der Beitrag der feministischen Forschung zur Frage der Rolle des Lachens in der philosophischen Praxis. Sie hat einerseits die intellektuelle Sprengkraft des Lachens als eines Mittels der Philosophiekritik herausgestrichen.20 Zum anderen hat sie festgestellt, dass der weibliche Humor im Unterschied zum männlichen durch eine kräftige Portion Selbstkritik in Form des Über-sich-selbst-lachen-Könnens charakterisiert sei (vgl. z. B. Kotthoff 1996). Das hat unter anderem damit zu tun, dass der weibliche Humor im besonderen Maße durch Selbstbezüglichkeit charakterisiert sei, das heißt, dass sich Frauen im konversationellen Humor eher in die Humorsituation mit einschlössen; man kann auch von Selbstironie sprechen (vgl. Jenkins 1988, 36 ff.). Hier finden sich zahlreiche Anknüpfungspunkte an Nietzsche. Aber vielleicht hat sich die nietzscheanische Art wissenschaftlicher Lachkultur deshalb noch nicht wirklich durchgesetzt, weil sie so radikal ist. Allzu radikal? Sie würde eine anspruchsvolle Transformation des Selbstverhältnisses voraussetzen, eine Transformation, die den Philosophierenden sehr viel abverlangt. Allzu vieles?21

Literaturverzeichnis Amir, Lydia (2016): Laughter and the Good Life. Montaigne, Nietzsche, Santayana. Albany, NY (SUNY Press) (im Erscheinen).

20 Klassiker sind Hélène Cixous’ Essay aus den 1970er-Jahren, Das Lachen der Medusa (Cixous 2013; siehe dazu Stoller 2013), oder Adriana Cavareros feministische Interpretation von Platons lachender Magd im Theaitetos (Cavarero 1992). – Zu einer feministischen Interpretation des Lachens unter Einbeziehung des Lachens bei Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft siehe insbesondere Thorgeirsdottir (2012). Thorgeirsdottir lenkt in diesem Artikel ihre Aufmerksamkeit ganz auf die Rolle der mythologischen Figur der Baubo bei Nietzsche in deren Bezug zum Lachen und stellt fest, dass dieses Lachen einen subversiven und befreienden Charakter habe und daher der feministischen Subversion nahestünde (Thorgeirsdottir 2012, 65; siehe dazu auch Thorgeirsdottir 1996, 171 ff.). 21 Für äußerst wertvolle, ausdauernde, inspirierende Gespräche zur Philosophie des Lachens danke ich ganz besonders Sigridur Thorgeirsdottir sowie vielen anderen lachenden Philosoph_innen an der Nietzsche-Tagung in Naumburg 2014.

Nietzsches radikales Lachen

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Bohrer, Karl Heinz/Scheel, Kurt [K.H.B./K.S.] (2002): Ohne Titel. In: Lachen. Über westliche Zivilisation. Sonderheft Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 56. Jg., Heft 9/10 (September/Oktober 2002), keine Seitenangabe. Bergson, Henri (2011): Das Lachen. Ein Essay über die Bedeutung des Komischen. Übers. von Roswitha Plancherel-Walter. Hamburg (Felix Meiner). Canetti, Elias (2007): Die Blendung. Frankfurt/Main (S. Fischer). Cavarero, Adriana (1992): „Die thrakische Dienstmagd“. In dies.: Platon zum Trotz. Weibliche Gestalten der antiken Philosophie, übers. von Getraude Grassi. Berlin (Rotbuch Verlag), S. 53–89. Cixous, Hélène (2013): „Das Lachen der Medusa“. In: Das Lachen der Medusa zusammen mit aktuellen Beiträgen. Hg. von Esther Hutfless, Gertrude Postl und Elisabeth Schäfer. Wien (Passagen), S. 39–61. Dietzsch, Steffen (Hg.) (1993): Luzifer lacht. Philosophische Betrachtungen von Nietzsche bis Tabori. Leipzig (Reclam). Dietzsch, Steffen (2004): „Wandern als Aufklärung? Nietzsches Wanderer und sein Schatten“. In: Renate Reschke (Hg.): Nietzsche. Radikalaufklärer oder radikaler Gegenaufklärer? Berlin (Akademie Verlag), S. 67–80. Frischmann, Bärbel (2009): „Lachen“. In: Nietzsche-Lexikon. Hg. von Christian Niemeyer. Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), S. 194. Geier, Manfred (2007): Worüber kluge Menschen lachen. Kleine Philosophie des Humors. Frankfurt/Main (Rowohlt). Gottwald, Claudia (2009): Lachen über das Andere. Eine historische Analyse komischer Repräsentationen von Behinderung. Bielefeld (transcript). Gunter, Pete A. (1968): „Nietzschean Laughter“. In: The Sewanee Review LXXVI/3 (Juli-September), S. 493–506. Hay, Katia (2012): „Das Lachen in Nietzsches Philosophie. Ein Dialog mit Katia Hay“. In: Philosophisches Experiment. Im Radio unterwegs zum Denken, 22. Juni 2012, Audiostream, 60 min. (http://philosophisches-experiment.com/mit-nietzsche-lachen/) (abgerufen: 23. 11. 2012). Hay, Katia (2013): „Wie Nietzsche uns zum Lachen bringt. Silvia Stoller im Interview mit Katia Hay“. In: Journal Phänomenologie 39, S. 67–81. Higgins, Kathleen Marie (2000): Comic Relief. Nietzsche’s Gay Science. New York (Oxford University Press). Hobbes, Thomas (1953): Vom Menschen. Vom Bürger. Eingeleitet und hg. von Günter Gawlick. Hamburg (Felix Meiner). Hödl, Hans Gerald (2009): Der letzte Jünger des Philosophen Dionysos. Studien zur systematischen Bedeutung von Nietzsches Selbstthematisierungen im Kontext seiner Religionskritik [= MTNF 54]. Berlin, New York (Walter de Gruyter). Hoyer, Timo (2002): Nietzsche und die Pädagogik. Werk, Biografie und Rezeption. Würzburg (Königshausen & Neumann). Hübsch, Hadayatullah (2013): Der muslimische Witz. Ostfildern (Patmos). Jenkins, Mercilee M. (1988): „Was ist daran so lustig? Scherzen unter Frauen“. In: Helga Kotthoff (Hg.): Das Gelächter der Geschlechter. Humor und Macht in Gesprächen von Frauen und Männern. Frankfurt/Main (Fischer), S. 33–53. Kant, Immanuel (1997): Kant’s Vorlesungen. Hg. von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Bd. II: Vorlesungen über Anthropologie. Erste Hälfte. Berlin (Walter de Gruyter & Co).

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Silvia Stoller

Kotthoff, Helga (1996): „Interview – Lachen Frauen anders als Männer?“ Interview von Franziska Wanner-Müller mit Helga Kotthoff. In: NZZ Folio 08 (1996). Download: http://folio.nzz.ch/ 1996/august/lachen-frauen-anders-als-manner (abgerufen: 27. 6. 2015). Kunnas, Tarmo (1982): Nietzsches Lachen. Eine Studie über das Komische bei Nietzsche. München (Flade). Lippitt, John (1992): „Nietzsche, Zarathustra and the Status of Laughter“. In: British Journal of Aesthetics 32/1 (January 1992), S. 39–49. Löwisch, Dieter-Jürgen (1998): „Friedrich Nietzsche“. In: Wolfgang Fischer und Dieter-Jürgen Löwisch (Hg.): Philosophen als Pädagogen. Wichtige Entwürfe klassischer Denker. Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), S. 212–226. Lorenzen, Anja (2012): Humor und Pädagogik. Zur Bedeutung des Humors in pädagogischen Zusammenhängen. Unveränderte Neuauflage. Saarbrücken (AV Akademikerverlag). Markotic, Lorraine (2010): „Nietzsche’s Nascent Laughter“. In: Hans-Georg Moeller und Günter Wohlfart (Hg.): Laughter in Eastern and Western Philosophies. Proceedings of the Académie du Midi. Freiburg, München (Karl Alber), S. 162−174. More, Nicholas D. (2014): Nietzsche’s Last Laugh. Ecce Homo as Satire. Cambridge (Cambridge University Press). Platon: Politea. In: Sämtliche Werke, Bd. 3, hg. von Walter F. Otto, Ernesto Grassi und Gert Plamböck. Hamburg (Rowohlt), 1958. Platon: Nomoi. In: Sämtliche Werke, Bd. 6, hg. von Walter F. Otto, Ernesto Grassi und Gert Plamböck. Hamburg (Rowohlt), 1959. Plessner, Helmuth (2003): Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens. Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft). Schopenhauer, Arthur (1986): Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. II. In: Sämtliche Werke, Bd. II, hg. von Wolfgang Frhr. von Löhneysen. Frankfurt/Main (Suhrkamp). Schües, Christina (2013): „Das Lachen, der gezielte Witz und die verbo(r)gene Wahrheit“. In: Journal Phänomenologie 39, S. 9–16. Seel, Martin (2002): „Humor als Laster und als Tugend“. In: Sonderheft Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 56. Jg., Heft 9/10 (September/Oktober 2002), S. 743–751. Shaftesbury, Anthony Earl of (1990): Sensus Communis. Ein Versuch über die Freiheit des Witzes und der Laune. In einem Brief an einen Freund. In: Der gesellige Enthusiast. Philosophische Essays. Hg. von Karl-Heinz Schwabe. Leipzig, Weimar (C. H. Beck/Gustav Kiepenhauer). Skril, Miguel (2010/2011): „Lachen“. In: Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Henning Ottmann. Stuttgart, Weimar (J. B. Metzler), S. 268–269. Stoller, Silvia (2013): „Warum lacht Medusa? Zur Bedeutung des Lachens bei Hélène Cixous“. In: Das Lachen der Medusa zusammen mit aktuellen Beiträgen. Hg. von Esther Hutfless, Gertrude Postl und Elisabeth Schäfer. Wien (Passagen), S. 155–170. Taurek, Bernhard (1999): Nietzsche-ABC. Leipzig (Reclam). Thorgeirsdottir, Sigridur (1996): Vis creativa. Kunst und Wahrheit in der Philosophie Nietzsches. Würzburg (Königshausen & Neumann). Thorgeirsdottir, Sigridur (2012): „Baubo. Laughter, Eroticism and Science to Come“. In: Renate Reschke (Hg.): Frauen: Ein Nietzschethema? – Nietzsche: Ein Frauenthema? [Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft; Bd. 19]. Berlin (Akademie Verlag), S. 65–73. Weeks, Mark (2004): „Beyond a Joke. Nietzsche and the Birth of ‚Super-Laughter‘“. In: Journal of Nietzsche Studies 27, S. 1–17.

Autorinnen und Autoren Babette Babich ist Professorin für Philosophie an der Fordham University, New York City, und unter anderem Herausgeberin der New Nietzsche Studies. Zu ihren zahlreichen Publikationen gehören Nietzsche’s Philosophy of Science. Reflecting Science on the Ground of Art and Live (1994) und The Hallelujah Effect: Philosophical Reflections on Music, Performance Practice and Technology (Surrey 2013), sowie Un politique brisé. Le souci d’autrui, l’humanisme, et les juifs chez Heidegger (2016). Im Erscheinen sind zur Zeit Heidegger Schwarz (Berlin) und Nietzsches Antike (Berlin). Jakob Dellinger studierte Philosophie in Wien und wurde dort 2016 mit der Arbeit „Situationen der Selbstbezüglichkeit. Studien zur Reflexivität kritischer Denk- und Schreibformen bei Friedrich Nietzsche“ promoviert. Von ihm stammen diverse Vorträge, Aufsätze und Lexikonartikel zu Nietzsche mit Schwerpunktsetzung auf textnahe Detaillektüren und Selbstbezüglichkeitsphänomene. Seit 2010 ist er Mitglied der Nietzsche Research Group Nijmegen und arbeit am NietzscheWörterbuch Projekt mit (Artikel: Perspektive/Perspektivismus). Helmut Heit ist Associate Professor für Philosophie an der Tongji-Universität Shanghai. Zu seinen Publikationen zählen Nietzsche’s Value as a Scholar of Antiquity (ed. mit Anthony Jensen 2014), Handbuch Nietzsche und die Wissenschaften. Natur-, geistes- und sozialwissenschaftliche Kontexte (ed. mit Lisa Heller 2014), Nietzsches Wissenschaftsphilosophie. Hintergründe, Wirkungen und Aktualität (ed. mit Günter Abel & Marco Brusotti, 2012), Paul Feyerabend: Naturphilosophie (ed. mit Eric Oberheim 2009) sowie Der Ursprungsmythos der Vernunft. Zur philosophiehistorischen Genealogie des griechischen Wunders (2007). Luce Irigaray war Directeur de la Recherche in Philosophie am Centre Nationale de la Recherche Scientifique in Paris. Nach einem Studim von Linguistik, Philologie und Psychoanalyse wurde sie mit ihrer Dissertation Speculum: Spiegel des anderen Geschlechts (1974) berühmt und zählt heute zu den einflussreichsten feministischen Denkerinnen. Zu ihren zahlreichen und in viele Sprachen übersetzten Schriften gehören Amante marine de Friedrich Nietzsche (1980), Éthique de la différence sexuelle (1984), J’aime à toi (1992) und Il mistero di Maria (2010). Markus Kleinert ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt (Leitung der Kierkegaard-Forschungsstelle). Studium der Germanistik und Philosophie in München, Pisa und Kopenhagen. Promotion mit der Arbeit: Sich verzehrender Skeptizismus. Läuterungen bei Hegel und Kierkegaard. Berlin/New York 2005. Mitherausgeber der Deutschen Søren Kierkegaard Edition (DSKE). Habilitationsprojekt zur Begriffsgeschichte der Verklärung.

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Autorinnen und Autoren

William Mattioli ist Doktorand der Philosophie an der Universidade Federal de Minas Gerais (Brasilien), Mitglied der GruNie (Nietzsche-Gruppe UFMG) und Co-Übersetzer des NietzscheLexikons in Brasilien. Aufsätze über Nietzsche, das Unbewusste, die Zeit und Nietzsches Verhältnis zur Transzendentalphilosophie. Cathrin Nielsen studierte Philosophie und Mediävistik in München, Berlin und Tübingen und wurde 2001 mit einer Arbeit zum späten Heidegger promoviert. Nach Forschungsaufenthalten in Prag, Wien und Kyoto lebt und arbeitet sie als Herausgeberin, Lektorin und Autorin in Frankfurt am Main. Neben Aufsätzen vor allem zu Platon, Schopenhauer, Nietzsche, Fink, Heidegger und Ricœur zahlreiche Katalogbeiträge zur zeitgenössischen Kunst. Manos Perrakis studierte Germanistik, Semiotik und Philosophie in Athen und Berlin. 2009 promovierte er in Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er arbeitet vorwiegend an der Schnittstelle von Ästhetik und Praktischer Philosophie. 2011 erschien seine Monographie Nietzsches Musikästhetik der Affekte in Freiburg bei Alber. Derzeit ist er Lehrbeauftragter am Institut für Philosophie, Literatur-, Wissenschafts- und Technikgeschichte an der TU Berlin. Martin Saar ist Professor für Politische Theorie an der Universität Leipzig. Arbeitsschwerpunkte: Politische Ideengeschichte der frühen Neuzeit, Politische Theorie der Gegenwart, Kritische Theorie und neuere französische Philosophie. Veröffentlichungen u.a.: Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault (2007, Campus) Sozialphilosophie und Kritik (2009, hg. mit Rainer Forst, Martin Hartmann und Rahel Jaeggi) und Die Immanenz der Macht. Politische Theorie nach Spinoza (2013, Suhrkamp). Oscar Rocha Santos ist seit 2008 Mitglied der Nietzsche-Gruppe der Universidade Federal de Minas Gerais (UFMG, Brasilien), wo er sich in seiner Magisterarbeit mit der Natur und Dynamik der Werte in Nietzsches mittlerer Periode befasst hat (2011). Derzeit Doktorand mit einem PhDProjekt über Nietzsches Beziehung zur utilitaristischen Tradition. Veröffentlichungen u.a.: „Naturalismo descritivo e ficção normativa: a questão dos valores sob a perspectiva do espírito livre nietzscheano“ in Cadernos Nietzsche. Thomas Schmaus ist seit 2013 Juniorprofessor für philosophische Anthropologie am Institut für philosophische und ästhetische Bildung der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter/Bonn. Studium der Philosophie, Katholischen Theologie und Religionspsychologie in München und Wien; 2010 Promotion an der Hochschule für Philosophie in München mit einer Arbeit zur Philosophie des Flow-Erlebens. Schwerpunkte: philosophische Anthropologie, Phänomenologie, Kultur-, Kunst-, Technik- und Religionsphilosophie. George W. Shea, IV ist Assistant Professor of Philosophy an der Misericordia University in Dallas, USA. Seine Forschungsschwerpunkte betreffen Themen der Kritik in der post-metaphysischen

Autorinnen und Autoren

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Philosophie und der ‚critical social theory’, mit besonderem Bezug auf die Arbeit von Michel Foucault, Max Horkheimer und Friedrich Nietzsche. Melanie Shepherd ist Associate Professor of Philosophy an der Misericordia University in Dallas, USA. Zu ihren Veröffentlichungen zählen Beiträge zu Nietzsche in Philosophy Today und Philosophy and Literature. Herman Siemens ist Associate Professor für Moderne Philosophie an der Universität Leiden sowie Adjunct Professor an der Universidad Diego Portales (Chile) und Research Associate an der University of Pretoria (South Africa) und der Universidade de Lisboa (Portugal). Er ist Präsident der Friedrich Nietzsche Society und, mit P. van Tongeren, Direktor des Nietzsche-Wörterbuch (de Gruyter). Zu seinen Publikationen zählt Nietzsche, Power and Politics (ed. 2008). Zur Zeit leitet er ein Forschungsprojekt der NWO (Netherlands Organisation for Scientific Research) zu Between Deliberation and Agonism: Rethinking Conflict and its Relation to Law in Political Philosophy. Jaanus Sooväli studierte Philosophie in Tartu (Estonia), Greifswald (Deutschland) und Lissabon (Portugal). Er erhielt seinen PhD an der University of Tartu in 2013. 2014–2015 war er Postdoc an der Universität Basel. Zur Zeit arbeitet er am Institut für Philosophie und Semiotik der Universität von Tartu. Er publizierte das Buch Decision as Heresy (2013) sowie diverse Aufsätze in verschiedenen Zeitschriften und Sammelbänden. Er ist zudem Herausgeber der estnischen Ausgabe von Nietzsches Antichrist und arbeitet an einer estnischen Übersetzung von Jenseits von Gut und Böse. Silvia Stoller (Dr. phil., PhD) ist Universitätsdozentin am Institut für Philosophie der Universität Wien und Lehrbeauftragte am Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft an der KarlFranzens-Universität Graz. Ausgewählte Publikationen: Existenz – Differenz – Konstruktion. Phänomenologie der Geschlechtlichkeit bei Beauvoir, Irigaray und Butler (2010); Simone de Beauvoir’s Philosophy of Age (ed. 2014), Feministische Phänomenologie und Hermeneutik (ed. 2005), das Schwerpunktheft „Lachen“ des Journal Phänomenologie 39 (2013) sowie „Warum lacht Medusa? Zur Bedeutung des Lachens bei Hélène Cixous“, in: Hélène Cixous. Das Lachen der Medusa. Zusammen mit anderen Texten (2013). Sigridur Thorgeirsdottier ist Professorin für Philosophie an der Universität Island und war 2014– 2015 Erkko Professorin am Helsinki Collegium for Advanced Studies. Sie hat Philosophie in Boston und Berlin studiert und publizierte Bücher zu Nietzsche und Arendt, zur Philosophie des Körpers und feministischer Philosophie sowie zu Philosophinnen in der Geschichte der Philosophie. Sie ist im Vorstand der International Federation of Philosophical Societies, Vorsitzende des FISP-Kommittees für Geschlechterfragen und gehört zu den Gründerinnen des GEST Programms der United Nations University.

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Autorinnen und Autoren

Nina Tolksdorf ist PhD Studentin an der Johns Hopkins University in Baltimore. Sie studierte Deutsche Philologie, Vergleichende Literaturwissenschaften und Philosophie an der Technischen Universität Berlin und an der University of Aberdeen. Ihre Magisterarbeit hat sie über Wahrnehmungen von Identität und Wahrheit in Heinrich von Kleists Amphitryon geschrieben. In ihrem Dissertationsprojekt arbeitet sie an Konzepten von Redlichkeit und Aufrichtigkeit bei Friedrich Nietzsche, Heinrich von Kleist und Franz Kafka. Christoph Türcke ist emeritierter Professor für Philosophie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Zu seinen wichtigsten Publikationen zählen Der tolle Mensch. Nietzsche und der Wahnsinn der Vernunft (1989), Erregte Gesellschaft. Philosophie der Sensation (2002), Jesu Traum. Psychoanalyse des Neuen Testaments (2009) und Mehr! Philosophie des Geldes (2015).

Personenregister Abel, Günter 99, 228, 232, 234, 240, 244, 250, 297 Adorno, Theodor W. 1, 4, 8, 112–116, 128, 135, 146, 258, 268 Agamben, Giorgio 40 Amery, Jean 159 Amir, Lydia 276–277 Anders, Günther 112, 116 Ansell-Pearson, Keith 62, 68 Arendt, Hannah 122, 182, 299 Aristoteles/Aristotle 64, 146, 155 Aronowitz, Stanley 129 Aschheim, Stephen 114, 117 Bäumler, Alfred 4 Babich, Babette 8, 112, 114–115, 117, 122, 126, 128–129, 196, 211, 216, 250, 264, 297 Backhaus, Jürgen G. 123, 191 Bataille, Georges 118, 122, 200 Baudelaire, Charles 73 Bauer, Karen 135 Beckmann, Max 4 Behler, Ernst 74–76 Benjamin, Walter 4, 9, 75–76, 79, 155, 160–162, 223, 227, 234 Benn, Gottfried 4, 117 Benne, Christian 107 Bergson, Henri 277, 288 Blanchot, Maurice 145 Bloch, Ernst 4 Bohr, Niels 254 Bohrer, Karl Heinz 291 Borsche, Tilman 256 Bostrom, Nick 208, 210, 216 Brecht, Bertold 4, 159 Bremer, Dieter 242 Brenner, Albert 63 Brentano, Clemens 77 Brobjer, Thomas 237 Brock, Eike 212, 215 Brose, Karl 94 Brown, Wendy 103 Brusotti, Marco 199, 232, 234, 297 Buchner, Hartmut 242

Bull, Malcolm 118 Butler, Judith 40, 299 Cavarero, Adriana 294 Cavell, Stanley 108 Caygill, Howard 62, 97 Chateaubriand, François-René 73 Cixous, Hélène 294, 299 Clark, Maudemarie 82, 84, 139, 225–226, 234 Clarke, James Freeman 33 Clausewitz, Carl von 97 Comte, Auguste 261 Conant, James 106–108 Conway, Daniel 114 Cooper, Lawrence D. 242 Dallmayr, Fred 120, 134 Darwell, Stephen 191 Darwin, Charles 67, 99, 123, 256 Delacroix, Eugène 73 Deleuze, Gilles 5, 100, 118, 145 Dellinger, Jakob 7, 49–50, 53–54, 57, 297 Dennett, Daniel 228–229, 234 Derrida, Jacques 5, 9, 114, 118, 145–146, 148, 151–154 Descartes, René 240, 254 Detering, Heinrich 29 Dietzsch, Steffen 115, 285 Diogenes Laertius 67–68 Diotima 242 Draper, John William 261 Drechsler, Wolfgang 123 Dudrick, David 82, 84, 225–226, 234 Dühring, Eugen 260 Durão, Fabio Akcelrud 128–129 Emden, Christian J. 95, 99 Emerson, Ralph Waldo 32, 108 Engels, Friedrich 97 Enkelmann, Wolf Dieter 195 Epicurus, Epikur 62–71 Esfandiary, Fereidoun M. 208

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Personenregister

Faustino, Marta 154 Feyerabend, Paul K. 11, 121, 252–254, 273, 297 Fontane, Theodor 28 Foucault, Michel 37, 39–40, 45, 112–114, 118, 150, 298–299 Frisch, Max 155 Frischmann, Bärbel 286 Galindo, Martha Zapata. 120 Gehlen, Arnold 117, 209, 246–247 Geier, Manfred 278 Gemes, Ken 136, 232, 234 George, Stefan 4 Gerhardt, Volker 60, 174 Gödde, Günter 269 Goethe, Johann Wolfgang 31–33, 74, 126 Goldman, Emma 4 Gottwald, Claudia 288 Graeber, David 10, 189–190 Groddeck, Wolfram 42 Grosz, George 4 Guéry, Francois 259 Gunter, Pete A. 275 Günther, Friederike Felicitas 239 Habermas, Jürgen 4, 8, 112–119, 125, 134–135, 140–143, 208 Haraway, Donna 211 Hatab, Lawrence 120 Hauskeller, Michael 211, 216 Hawthorne, Nathaniel 34 Hay, Katia 275, 277 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 15, 21, 25, 113, 119, 122, 151, 155, 261, 289, 297 Heidegger, Martin 15, 17, 21, 113–114, 117–120, 145, 148, 217, 297–298 Heil, Reinhard 208, 210, 216 Heit, Helmut 1, 11, 194, 226, 234, 252–253, 265, 297 Held, Virginia 201 Herbrechter, Stefan 206, 220 Herder, Johann Gottfried 261 Higgins, Kathleen Marie 277 Hobbes, Thomas 173, 191–192, 276 Hödl, Hans Gerald 293 Höffe, Otfried 255

Homer 119–120 Honneth, Axel 44, 94, 113 Horkheimer, Max 1, 4, 8, 112–117, 135, 160, 258, 299 Hoyer, Timo 292 Humboldt, Wilhelm von 96, 216, 298 Hume, David 66, 82 Husserl, Edmund 217 Huxley, Aldous 208 Huxley, Julian 208 Illich, Ivan 131 Irigaray, Luce 6, 10, 15, 20, 113, 118, 122, 129, 189, 197–198, 202, 297, 299 Jaeggi, Rahel 107, 298 Janaway, Christopher 5, 81 Jean Paul (Johann Paul Friedrich Richter) 28 Jenkins, Mercilee M. 294 Jesus 26, 127, 162, 245, 282 Joël, Karl 73 Joy, Morny 202 Jünger, Ernst 4, 27, 115, 117 Kaempfert, Manfred 29 Kant, Immanuel 1, 49–50, 60, 65, 81–85, 89, 96, 99, 113, 137, 155, 254, 289–291 Katsafanas, Paul 231, 234 Kierkegaard, Søren 94, 297 Kimmich, Dorothee 59 Kiss, Endre 119 Klee, Paul 159 Klein, Naomi 124 Knoll, Manuel 120 Knortz, Karl 119 Köselitz, Heinrich (Peter Gast) 64, 71 Kotthoff, Helga 294 Kuhn, Elisabeth 38, 262 Kuhn, Thomas 38, 262 Kunnas, Tarmo 275, 277, 292, 294 Kurz, Robert 124, 129 Lampl, Hans Erich 233–234 Lange, Friedrich Albert 67 Laplace, Pierre-Simon 270 Larmore, Charles 11, 252, 259, 265–269 Latour, Bruno 123

Personenregister

Lazzarato, Maurizio 10, 189–191, 196, 203 Leiter, Brian 223, 225, 227, 234 Lemm, Vanessa 108, 116 Levi, Primo 159 Libet, Benjamin 223, 227–234 Lippitt, John 275 Locke, John 191–193 Lopes, Rogério 226, 234 Lorenzen, Anja 292 Louden, Robert 82 Löwisch, Dieter-Jürgen 293 Löwith, Karl 94 Lucretius, Lukrez 67 Lukács, Georg 113, 118–119, 194 Lupo, Luca 223–224, 234 Luther, Martin 25, 27 Lyotard, Jean-Francois 42, 114 MacIntyre, Alasdair 114 Mann, Heinrich 4 Mann, Thomas 4 Marin, Louis 29 Markotic, Lorraine 281 Marx, Karl 94, 97, 101, 125 Maurer, Reinhart 112, 115, 118 Maysenbug, Malwida von 63 Mehring, Franz 194 Menke, Christoph 99, 103, 113 Meyer, Katrin 179 Mill, John Stuart 216 Montinari, Mazzino 4 More, Nicholas D. 62, 138, 145, 150, 277 Mortensen, Ellen 197 Müller, Enrico 107 Müller-Lauter, Wolfgang 118, 171, 236–238, 244 Musil, Robert 4 Nagl, Ludwig 114–115 Nancy, Jean-Luc 37–38, 42 Nehamas, Alexander 136 Nielsen, Cathrin 10, 236, 239, 298 Norgaard, Richard 194 Novalis (Friedrich von Hardenberg) 7, 73–76, 78–79

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Oldemeyer, Ernst 215 Ottmann, Henning 95, 101, 118, 193–194, 277 Owen, David 105, 114–115, 120, 150 Pateman, Carol 191 Pichler, Axel 55 Pieper, Annemarie 212, 216, 218, 220 Piketty, Thomas 200 Pippin, Robert B. 95 Platon/Plato 58, 146, 243, 259, 278, 284, 287, 294, 298 Plessner, Helmuth 277, 285 Polyakova, Ekaterina 115 Popper, Karl R. 252, 254 Raffael 31–32 Rawls, John 9, 167–168, 173, 191 Rée, Paul 63, 256 Redecker, Eva v. 101 Reschke, Renate 4, 96 Richardson, John 99, 229, 235 Rifkin, Jeremy 202 Rolph, Wilhelm H. 244 Rombach, Heinrich 206, 217–219 Rosenkranz, Karl 25–26, 30 Rousseau, Jean Jacques 108, 112, 125–126, 191 Roux, Wilhelm 171, 236 Russel, Brian T. 232, 235 Saar, Martin 8, 93, 96, 103, 105–106, 108, 114–115, 298 Schallmayer, Peter 194 Scharff, Sabine 195 Scheel, Kurt 291 Schiemann, Gregor 269 Schlechta, Karl 237 Schlegel, Friedrich 7, 73–75, 78–79 Schmidt, Alfred 112, 115 Schmidt, Friedrich 74, 78 Schopenhauer, Arthur 9, 29, 65, 81, 108, 113, 123, 137, 155–157, 178, 225, 239, 249, 289, 292, 298 Schotten, C. Heike 101 Schrift, Alan 33, 192, 202 Schubert, Corinna 44 Schubert, Franz 155

304

Personenregister

Schües, Christina 294 Seel, Martin 276 Seneca 71 Siemens, Herman 9, 167, 174, 299 Skowron, Michael 207, 211–212 Sloterdijk, Peter 118, 189, 200–201 Sokrates/Socrates 155, 182 Solms-Laubach (Graf zu), Franz 118 Sommer, Urs Andreas 99 Sorgner, Stefan Lorenz 206, 211, 215 Spencer, Herbert 51, 55, 57–58, 60, 174 Spengler, Oswald 4, 117 Spiekermann, Klaus 270 Spinoza, Baruch de 64, 298 Spir, Afrikan 66, 226, 235 Stöcker, Helene 4 Stegmaier, Werner 43, 49–54, 56–57, 59–60, 195–196, 228–229, 235, 258, 260 Stendhal (Marie-Henri Beyle) 29 Stifter, Adalbert 28, 33 Stocker, Barry 120 Stoller, Silvia 11, 203, 275, 294, 299 Strauß, David Friedrich 27 Strong, Tracy B. 105, 114–115, 120 Swindal, James 116

Tongeren, Paul van 29, 299 Tönnies, Ferdinand 118 Trawny, Peter 117 Tucholsky, Kurt 4 Tugendhat, Ernst 117, 119–120 Vaughan, Genevieve 202 Vietta, Silvio 73 Wagner, Richard 3, 7, 32, 63, 65, 73, 79, 118, 155, 259 Waldenfels, Bernhard 40 Warren, Mark E. 103, 120 Weeks, Mark 275 Wegner, Daniel 223, 235 Wesche, Tilo 107 White, Alan 37–38 Wiggershaus, Rolf 116–117 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 28 Wittgenstein, Ludwig 252 Wolin, Richard 119–120 Wordsworth, William 76 Yack, Bernard 104 Zelter, Carl Friedrich 74

Taurek, Bernhard 276 Teichmüller, Gustav 146–147 Thorgeirsdottir, Sigridur 1, 10, 117, 122, 129, 189, 193, 200, 294

Sachregister Amor fati 2, 9, 32, 116, 155, 157–163 Antagonismus/antagonism 167–168, 173, 182–187 Aufklärung/enlightenment 8, 29–30, 93, 96, 98, 100, 102, 106, 108, 125–126, 134, 140–141, 143, 150, 277, 279 Aufstand/rebellion 8, 97, 102, 108, 214 Bewusstsein/consciousness 23, 83, 146, 222 Bildung/education 8, 28, 93, 96, 98–100, 102, 125, 182, 285–286, 298 Christ/christlich/christian 6, 28, 32, 37, 162, 198–199, 268, 271–272 Creatio continua 240, 244 Criticism 19, 73, 117, 126, 145, 149, 151, 154, 222, 275 Destruktion/destruction 1, 128, 146, 153, 167, 169, 178–179, 255 Diskurs/discourse 8, 17, 19, 21, 27, 148, 155–156, 159, 185, 220 Dualismus 216, 230 Ereignis/event 9, 27, 145, 149, 151–154, 159 Evolution 98, 208, 210–211 Experiment 143, 201–202, 223, 227–230, 245 Feind/Feindschaft 100, 171–172, 181, 186, 216, 284 Frauen/women 4, 122, 128–129, 198, 259, 288, 294 Freier Geist/free spirit 63, 65, 68–69, 143, 152 Freier Will/free will 233 Freiheit/freedom 62–63, 65, 87, 147, 150, 167, 222 Freund/Freundschaft/friend/friendship 3, 6, 15, 40, 68, 71, 142, 152–162, 156, 158, 181, 273 Generosität/generosity 10, 189, 192, 199–203 Geschlecht/sex 6, 20, 192, 198, 242, 246, 297

Gleichheit/equality 112, 121–123, 181, 185–186, 190, 192, 196, 214 Individualismus/individualism 100–101, 109, 161–162, 168, 181, 200 Interpretation 8–10, 44, 50, 52–54, 56, 73–74, 77, 99, 134, 177–178, 192, 197, 200, 216, 223, 225–226, 229, 231–232, 239, 260, 263, 269, 271, 294 Kampf/struggle 3, 54, 100, 148, 161, 173–174, 181–184, 187, 236, 251, 261 Kapitalismus/capitalism 190, 193–194, 200 Kraft 100–103, 157, 171–173, 183–186, 192, 199, 231–232, 237–238, 240–242, 244, 246–247, 249, 257, 264 Krise/crisis 2, 189, 197 Kritische Theorie/Critical theory 112–116, 121, 124, 146 Lachen 11, 275–294, 299 Leben/life 6, 9, 16, 19, 23, 30, 39, 64, 71, 123– 124, 138–143, 157–159, 161–162, 169, 175, 181, 186, 196, 211, 218, 237, 240–241, 243, 246–249, 260, 265, 269, 282–283, 288 Lüge/lie 39, 42–43, 46, 78, 124, 126, 180 Macht 6, 11, 30, 53–54, 62, 70, 100, 107, 134–135, 139–143, 156, 160, 163, 194–196, 229, 234, 236–238, 240–242, 244, 246–250, 264, 290, 298 Machtgefühl/feeling of power 62, 69–70 Metaphysik/metaphysics 21, 65, 69, 134–143, 146, 148 Mitleid/pity 69, 124, 126–127 Moderne/modernity 9, 27, 31, 78, 98, 119, 131, 143, 183, 186, 208 Moral 22, 49, 65, 82–84, 121, 124, 126, 139, 141–143, 149–150, 167, 169, 222 Nationalsozialismus/national socialism 120 Natur/nature 15–16, 18, 20–21, 38, 65–66, 70, 76, 83–85, 101, 123, 134, 139, 142, 145, 154, 198, 202, 208, 236, 267

306

Sachregister

Nihilismus/nihilism 15, 18, 20–23, 126, 141 Parrhesia 7, 37, 39–40 Person 20, 69, 71, 88, 127, 136, 167 Perspektive/perspective 20, 22, 49, 67, 70, 81, 84–89, 121, 123–124, 127, 143, 189 Physiologie 167 Post-metaphysisch/post-metaphysical 9, 134, 137, 142–143, 298 Protest 120 Reaktion/reaction 93–94, 199, 212, 233 Religion 114–115, 126, 150, 189 Revolution 93, 101, 112, 125–126 Romantik/romantisieren/romantic 7, 73–76, 128 Schulden/debt 189, 199 Selbst/self 2, 4, 7–9, 40, 49, 68, 75, 83, 95, 100, 103–109, 157, 163, 167, 170, 173–174, 178, 180–182, 201, 214, 216, 231, 233, 291 Selbstaufhebung/self-overcoming 58–59, 69, 216, 272 Sexuate identity 15, 21 Sozialismus/socialism 101, 112, 121, 125–126, 194 Subjekt/subject 5, 9–10, 19, 38, 40, 43, 45, 75, 84–86, 89, 93–100, 103–107, 127, 129, 146, 167, 169–170, 178–180, 189, 192, 195, 201–202, 209, 298 System 116, 146, 148–149

Transfiguration 25, 30 Transformation 18, 25, 62, 69, 81–82, 89, 93, 101, 108, 116, 145–146, 148–154, 206, 275 Trieb/drive 157, 177–178, 230, 243, 283 Verklärung/transfiguration 6, 25–36, 124, 141, 242, 297 Versöhnung/reconciliation 51, 233–234 Widerstand/resistance 97, 248 Wille zur Macht/will to power 63, 88, 121, 127, 139–140, 236 Wille/will 6, 9–11, 15, 18–19, 21–23, 53–54, 59, 63, 65, 84, 88, 94, 97, 100, 120–122, 125, 127, 134–136, 139–143, 150, 156–157, 194, 196, 210, 222, 225–226, 228–229, 231–234, 236–250, 257, 260, 263–267, 270–272, 274, 289 Wissen/knowledge 42, 49, 53, 65–66, 68–70, 81–89, 96, 98–99, 112–113, 115, 127, 135, 140, 147, 150, 184, 213, 252, 283 Zeit/time 15–16, 20, 23, 63, 65, 67, 71, 76, 83, 87, 93, 122, 125, 129, 222, 228–229 Zeitlichkeit/temporality 11, 222, 227, 229, 236–237, 239, 243–245 Zukunft/future 1–3, 9–11, 31, 63, 65, 86, 88, 97, 142–143, 145, 148–149, 151–154, 160, 191, 202, 212, 218, 240–241, 245–248, 255, 273, 292