Neue Armut, Exklusion, Prekarität: Debatten um Armut in Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland, 1970–1990 9783110613087, 9783110610079

After long neglect, the issue of poverty returned to political discourse after the 1970s in France and West Germany. Enc

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German Pages 390 [392] Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
Dank
Einleitung
I. »Sozialfälle« und »soziale Ungleichheiten«: die französische Armutsdebatte in den 1970er Jahren
Einleitung
1. Die Haltung der Verbände zur Armutsfrage
2. Die parteipolitische Debatte um Armut und die Entwicklung der Armutspolitik
II. Von den »Randgruppen« zur »neuen sozialen Frage«: die Armutsdebatte der Bundesrepublik in den 1970er Jahren
Einleitung
1. Die Entdeckung von Randgruppen im Wohlstand zu Beginn der 1970er Jahre
2. Erstes parteipolitisches Interesse für Armut: die Debatte um die »neue soziale Frage«, 1975–1976
Armutsdebatten in den 1970er Jahren
III. Die Debatte um die neue Armut in Frankreich, 1980–1984
Einleitung
1. Die Entdeckung einer neuen Armut auf lokaler Ebene
2. Die neue Armut als Thema von Politik und Verwaltung
IV. Die Debatte um die neue Armut in der Bundesrepublik, 1983–1987
Einleitung
1. Beschäftigung mit neuen Aspekten der Armutsfrage zu Beginn der 1980er Jahre
2. Die Debatte um die neue Armut
3. Die parteipolitische Diskussion der neuen Armut
Die Entdeckung einer neuen Armut zu Beginn der 1980er Jahre
V. Der Beginn der Exklusionsdebatte und die Einführung der garantierten Mindestsicherung in Frankreich, 1985–1988
Einleitung
1. Impulse durch Kommunen, Verbände und Gewerkschaften
2. Exklusion und Mindestsicherung: die Aufnahme der Ideen durch die politischen Parteien
3. Historischer Konsens? Die Verabschiedung des Gesetzes über die garantierte Mindestsicherung im Jahr 1988
Fazit
Abkürzungen
Unveröffentlichte Quellen
Veröffentlichte Quellen
Literatur
Register der Personen, Parteien und Verbände
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Neue Armut, Exklusion, Prekarität: Debatten um Armut in Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland, 1970–1990
 9783110613087, 9783110610079

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Sarah Haßdenteufel: Neue Armut, Exklusion, Prekarität — 2019/9/11 — page 1 — le-tex

Sarah Haßdenteufel Neue Armut, Exklusion, Prekarität

Sarah Haßdenteufel: Neue Armut, Exklusion, Prekarität — 2019/9/11 — page 2 — le-tex

Pariser Historische Studien Herausgegeben vom Deutschen Historischen Institut Paris

Band 113

Sarah Haßdenteufel: Neue Armut, Exklusion, Prekarität — 2019/9/11 — page 3 — le-tex

Sarah Haßdenteufel

Neue Armut, Exklusion, Prekarität Debatten um Armut in Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland, 1970–1990

Sarah Haßdenteufel: Neue Armut, Exklusion, Prekarität — 2019/9/11 — page 4 — le-tex

Pariser Historische Studien Herausgeber: Prof. Dr. Thomas Maissen Redaktionsleitung: Dr. Stefan Martens Redaktion: Veronika Vollmer Anschrift: Deutsches Historisches Institut (Institut historique allemand) Hôtel Duret-de-Chevry, 8, rue du Parc-Royal, F-75003 Paris

Zugl. überarbeitete Fassung von: Frankfurt a. M./Trento, Univ., Diss., 2016 unter dem Titel »Neue Armut, Exklusion, Prekarität. Armutspolitische Debatten im deutsch-französischen Vergleich, 1970–1990«

Library of Congress Control Number: 2019944916 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: le-tex publishing services GmbH, Leipzig Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck Lektorat: Cordula Hubert, Olching Umschlagabbildung: Wahlplakat des Parti socialiste zur Präsidentschaftswahl, April/Mai 1974, Sammlung Alain Gesgon www.degruyter.com ISBN 978-3-11-061007-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-061308-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-061025-3 ISSN 0479-5997

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Inhalt Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

I. »Sozialfälle« und »soziale Ungleichheiten«: die französische Armutsdebatte in den 1970er Jahren 1. Die Haltung der Verbände zur Armutsfrage . . . . . . . . . . . 1.1. 1.2.

Secours catholique: von der Behandlung der »Sozialfälle« zum politischen Engagement für Arme . . . . . . . . . ATD Quart Monde: Anwalt für die »Vierte Welt« inmitten des Wohlstands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2. Die parteipolitische Debatte um Armut und die Entwicklung der Armutspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. 2.2.

Die Diskussion um »soziale Ungleichheiten« . . . . . . Armutspolitik in einer Zeit der politischen Modernisierungsversprechen . . . . . .

45 45 55 67 67 80

II. Von den »Randgruppen« zur »neuen sozialen Frage«: die Armutsdebatte der Bundesrepublik in den 1970er Jahren 1. Die Entdeckung von Randgruppen im Wohlstand zu Beginn der 1970er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. 1.2. 1.3.

Das Aufkommen der Randgruppendebatte in Folge der Studentenbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Engagement des Caritasverbandes für »soziale Minderheiten« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Politische Reaktionen auf die Randgruppendebatte . . .

89 89 92 99

2. Erstes parteipolitisches Interesse für Armut: die Debatte um die »neue soziale Frage«, 1975–1976 . . . . . . . . . . . . . . . 109 2.1. 2.2.

Die Formulierung der neuen sozialen Frage durch die CDU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Regierungsparteien und Gewerkschaften: Antworten auf eine »neue soziale Phrase« . . . . . . . . . . . . . . . . 121

Armutsdebatten in den 1970er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . .

129

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Inhalt

III. Die Debatte um die neue Armut in Frankreich, 1980–1984 1. Die Entdeckung einer neuen Armut auf lokaler Ebene . . . . . 1.1.

135

»Une voix pour les sans-voix«: Secours catholique und katholische Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neue Armut in den kommunalen Sozialhilfebüros: die Initiativen der französischen Bürgermeister . . . . .

146

2. Die neue Armut als Thema von Politik und Verwaltung . . . .

155

1.2.

2.1.

2.2. 2.3.

135

Die Wiederentdeckung der Armut durch die Verwaltung und die Entstehung der ersten französischen Armutsberichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Das Vordringen der Debatte in den parlamentarischen Raum: neue Armut als Oppositionsthema . . . . . . . . 162 »Programmes contre la pauvreté et la précarité«: sozialpolitische Antworten auf die neue Armut . . . . . 171

IV. Die Debatte um die neue Armut in der Bundesrepublik, 1983–1987 1. Beschäftigung mit neuen Aspekten der Armutsfrage zu Beginn der 1980er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 1.1. 1.2. 1.3.

»Täglich 47 Gramm Fleisch«. Die Situation der Sozialhilfeempfänger . . . . . . . . . 185 Die Kontroverse um den ersten deutschen Armutsbericht 190 Das Diakonische Werk: von der Armut der »Dritten Welt« zur Armut im eigenen Land . . . . . . . . . . . . . . . 196

2. Die Debatte um die neue Armut . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. 2.2. 2.3.

Die Prägung des Begriffs durch den Deutschen Gewerkschaftsbund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Das Aufgreifen des Themas durch Arbeiterwohlfahrt und Diakonisches Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Die Caritas als »Anwalt der Armen« und die Weiterführung der Armutsberichterstattung durch die Verbände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222

3. Die parteipolitische Diskussion der neuen Armut . . . . . . . 3.1. 3.2. 3.3.

207

229

SPD und Grüne: das Vordringen der Debatte in den Bundestag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Alternativen zur Sozialhilfe: die Grundsicherungsmodelle 239 Reaktionen der christlich-liberalen Regierung . . . . . 248

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Inhalt

7

Die Entdeckung einer neuen Armut zu Beginn der 1980er Jahre .

258

V. Der Beginn der Exklusionsdebatte und die Einführung der garantierten Mindestsicherung in Frankreich, 1985–1988 1. Impulse durch Kommunen, Verbände und Gewerkschaften . . 1.1. 1.2. 1.3.

267

Die Entstehung der Mindestsicherungen auf kommunaler Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Der Beitrag von ATD Quart Monde zur Exklusionsdebatte 272 Gewerkschaftliche Vorschläge für eine Mindestsicherung: die CFDT und das »revenu minimum de réinsertion« . 281

2. Exklusion und Mindestsicherung: die Aufnahme der Ideen durch die politischen Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 2.1. 2.2.

Die Weiterentwicklung der parteipolitischen Diskussion zur Exklusionsdebatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Die Vorschläge der Parteien für die Einführung einer Mindestsicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292

3. Historischer Konsens? Die Verabschiedung des Gesetzes über die garantierte Mindestsicherung im Jahr 1988 . . . . . . 305 3.1. 3.2. 3.3. 3.4.

Grundzüge des ersten Gesetzesentwurfs und der Beginn der Lesungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elemente des Konsenses: die Grundstruktur der garantierten Mindestsicherung . . . . . . . . . . . . . . Kontroversen um die Ausgestaltung der Mindestsicherung Die Definition von Eingliederung als zentrale Streitfrage der Gesetzesdebatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

306 309 315 319

Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

333

Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

357

Unveröffentlichte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

359

Veröffentlichte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

363

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

375

Register der Personen, Parteien und Verbände . . . . . . . . . . . . .

389

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Dank Der vorliegende Band stellt eine überarbeitete Version meiner 2016 verteidigten Doktorarbeit dar. Die Entstehung dieses Buches wäre nicht möglich gewesen ohne die Unterstützung von verschiedenen Seiten, für die ich mich an dieser Stelle sehr herzlich bedanken möchte. Dank geht an erster Stelle an die Betreuer meiner Arbeit, Marie-Luise Recker (Goethe-Universität Frankfurt a. M.) und Gustavo Corni (Università degli studi di Trento). Beide hatten immer ein offenes Ohr für meine Fragen und haben mich tatkräftig ermutigt und beraten. Gleichzeitig haben sie mir die nötige Freiheit bei der Arbeit gelassen und mir ermöglicht, mein Projekt so umzusetzen, wie ich es mir vorgestellt hatte. Die Studie ist im Rahmen des internationalen Graduiertenkollegs »Politische Kommunikation von der Antike bis ins 20. Jahrhundert« entstanden. Ein Stipendium des Kollegs hat mir drei Jahre lang die Arbeit an meiner Dissertation ermöglicht. Ich danke dem Kolleg und insbesondere seiner Sprecherin, Luise Schorn-Schütte, für diese Chance. Bedanken möchte ich mich dabei nicht nur für die finanzielle Unterstützung, sondern vor allem auch für drei Jahre interessanten, manchmal auch spannungsvollen, aber immer bereichernden Austausch mit den Mitgliedern des Kollegs in Frankfurt, Innsbruck, Trento, Bologna und Pavia. Unsere gemeinsamen Treffen und insbesondere mein Aufenthalt an der Universität Trento waren ein wichtiger Teil meiner Arbeit. Weil die Studie als deutsch-französischer Vergleich konzipiert ist, gehörten zur Vorbereitung meiner Dissertation auch längere Aufenthalte in Frankreich und der Austausch mit der französischen Forschung. Dabei haben mich mehrere Institutionen unterstützt, denen ich hier ebenfalls Dank aussprechen möchte. Das von der Deutsch-Französischen Hochschule unterstützte Doktorandenkolleg der Universitäten Frankfurt und Paris 1 Panthéon-Sorbonne hat mir zur Archivrecherche drei mehrmonatige Aufenthalte in Paris finanziert. Einen weiteren Aufenthalt in Paris hat das Deutsche Historische Institut Paris ermöglicht, dessen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mir außerdem bei meinen Fragen zu französischen Archiven weitergeholfen haben. An den Universitäten Paris I und Paris VII konnte ich an Forschungsseminaren und Kolloquien teilnehmen. Den Austausch mit französischen Kollegen und Kolleginnen ermöglicht haben mir darüber hinaus die Veranstaltungen des Centre interdisciplinaire d’études et recherches sur l’Allemagne sowie des deutsch-französischen Forschungsnetzwerks Saisir l’Europe, wo ich als Doktorandin assoziiert war. Die Treffen der deutsch-französischen Arbeitsgruppe »Sozialstaat« innerhalb dieses Netzwerks waren eine große Bereicherung. Während meiner Arbeit an der Dissertation hatte ich Gelegenheit, das Projekt bei verschiedenen Konferenzen, Workshops und Kolloquien vorzustellen. Dabei habe ich viel nützliches Feedback erhalten, das in mein Manuskript einhttps://doi.org/10.1515/9783110613087-201

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Dank

fließen konnte. Ich danke allen für die zahlreichen interessanten Kommentare. Insbesondere danke ich folgenden Personen für ihre hilfreichen Anmerkungen in Gesprächen: Christoph Cornelißen, Nicole Kramer, André Gueslin, Dominique Kalifa, Lutz Raphael, Inga Brandes, Sara Lorenzini, Winfried Süß, Christoph Lorke, Meike Haunschild, Max Söllner, Christian Wenkel, Heike Wieters und Karim Fertikh. Wichtig war außerdem die Hilfe der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Archiven und Bibliotheken, die ich für meine Recherchen aufgesucht habe. Mit großem Engagement und viel Geduld haben sie meine oft nicht ganz einfachen Anfragen bearbeitet und damit zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen. Ich nenne namentlich das Archiv der französischen Nationalversammlung und das Centre international Joseph-Wresinski, möchte aber explizit allen Archiven und Bibliotheken, die ich besucht habe, meinen Dank aussprechen. Nach meiner Disputatio hat das Deutsche Historische Institut Paris das Manuskript in die Reihe Pariser Historische Studien aufgenommen und damit die Veröffentlichung meiner Doktorarbeit ermöglicht. Darüber freue ich mich sehr und danke dem Institut und insbesondere Veronika Vollmer für die freundliche und geduldige Begleitung auf dem Weg vom Manuskript zum Buch. Diese Arbeit wäre ohne die persönliche Unterstützung, die ich von meinen Freunden und meiner Familie erhalten habe, nicht möglich gewesen. Ich danke meinen über Italien, Frankreich und Deutschland verstreuten Freunden dafür, dass sie immer für mich da waren, mich im richtigen Augenblick mit französischen Filmen oder italienischem Essen von der Arbeit abgelenkt oder mich mit einem starken Kaffee zurück an den Schreibtisch gebracht haben. Am meisten danke ich meinen Eltern und Geschwistern dafür, dass sie mich meinen Weg gehen lassen und mich dabei begleiten und unterstützen. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet. Frankfurt am Main im Juli 2018

Sarah Haßdenteufel

Sarah Haßdenteufel: Neue Armut, Exklusion, Prekarität — 2019/9/11 — page 11 — le-tex

Einleitung Armut ist nicht neu. Sie stellt vielmehr ein Phänomen dar, das die Geschichte der Menschen von ihren Anfängen an begleitet hat und nie verschwunden war – auch nicht in Zeiten des Wohlstands und des wirtschaftlichen Wachstums. Sehr wohl lassen sich in der Vergangenheit aber Phasen identifizieren, in denen Armut als Thema aus der öffentlichen Debatte verschwand und dann nach einer Zeit der Abwesenheit wieder auftauchte. Auch die jüngste Zeitgeschichte verweist auf eine solche Entwicklung. Weder in Frankreich noch in der Bundesrepublik Deutschland hatte die Armutsfrage in den drei Jahrzehnten nach 1945 ein zentrales Thema der politischen Öffentlichkeit dargestellt, sondern war nach der Überwindung der direkten Nachkriegsnot weitgehend aus der öffentlichen Diskussion verschwunden. Vor allem wurde Armut in jener Zeit nicht als politisches Anliegen verstanden. War in Parteiprogrammen oder Parlamentsdebatten in dieser Zeit von ihr die Rede, so bezog sich der Begriff fast immer auf die materielle Not der Menschen in der sogenannten Dritten Welt, nicht aber auf die Mangellagen, die im eigenen Land trotz des wirtschaftlichen Wachstums weiter existierten1 . Dabei lag auch in den sogenannten Trente Glorieuses, den drei Jahrzehnten des spektakulären wirtschaftlichen Wachstums nach dem Zweiten Weltkrieg, die Armutsquote beider Länder auf einem durchgehend hohen Niveau2 . Armut war insofern als Phänomen in der Gesellschaft faktisch präsent, nicht aber als politisches Thema. Ein erster Blick in die Quellen deutet jedoch an, dass sich diesbezüglich seit den 1970er Jahren eine Änderung abzeichnete. Die Armutsfrage drang seitdem wieder in die öffentliche Sphäre vor und wurde zum Gegenstand politischer Diskussionen, die bis in die nationalen Parlamente beider Länder hineinreichten. Jetzt diskutierten die Parteien dort unter dem Begriff Armut nicht mehr ausschließlich die Notlagen der sogenannten Entwicklungsländer, sondern thematisierten auch die materiellen Mangellagen im eigenen, wirtschaftlich hoch entwickelten und wohlhabenden Land. So stellte Heiner Geißler 1975 fest: »In der Bundesrepublik Deutschland gibt es wieder bittere private Armut. 5,8 Millionen Menschen [. . . ] verfügen nur über ein Einkommen, das unter dem Sozialhilfeniveau liegt«3 . 1986 wandten sich die Grünen mit dem Faltblatt »Freiheit von Armut« an die Öffentlichkeit, in dem sie erklärten: »Armut ist 1

2 3

Petra B u. a., Armutspolitik und Sozialhilfe in vier Jahrzehnten, in: Bernhard B, Hellmut W (Hg.), Die alte Bundesrepublik. Kontinuität und Wandel, Opladen 1991, S. 502–546, hier S. 506–514; Michel M, Pauvreté et exclusion en France, in: François-Xavier M (Hg.), Face à la pauvreté. L’Occident et les pauvres hier et aujourd’hui, Paris 1994, S. 139–169, hier S. 139–142. Zur Entwicklung der relativen Einkommensarmut beider Länder vgl. Punkt 4 der Einleitung. Heiner G, Neue soziale Frage – Zahlen, Daten, Fakten, Bonn 1975, S. 27.

https://doi.org/10.1515/9783110613087-001

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Einleitung

keineswegs nur ein Problem der Entwicklungsländer, sondern weitet sich auch in der Bundesrepublik aus«4 . Zu jener Zeit etablierte sich in der Bundesrepublik auch der Begriff der »neuen Armut«5 . Der gleiche Terminus findet sich auch in Frankreich, wo die Quellen ebenfalls ein steigendes politisches Interesse an diesem Thema bezeugen. So verkündete der Pariser Bürgermeister Jacques Chirac im Sommer 1984: »Il est mon devoir d’alerter solennellement l’opinion publique sur les problèmes que posent les formes nouvelles de pauvreté qui assaillent Paris et l’ensemble des grandes villes de France«6 . Damit lenkte er das öffentliche Interesse auf ein Phänomen, das er als das Entstehen neuer Formen von Armut in Paris und ganz Frankreich beschrieb. Politische Entscheidungsträger entdeckten also in den 1970er und 1980er Jahren die Armut in ihrem eigenen, wohlhabenden Land, und thematisierten sie unter dem Schlagwort der neuen Armut. Vor allem aber entdeckten sie sie als politische Aufgabe. Das verdeutlicht beispielsweise ein Zitat François Mitterrands aus dessen Präsidentschaftswahlkampf 1988. Mitterrand erklärte darin Armutsbekämpfung zur Pflichtaufgabe eines politischen Entscheidungsträgers: »Un responsable politique [. . . ] a le devoir de refuser l’exclusion«7 . Die Quellenbeispiele deuten an, dass die politische Nicht-Thematisierung von Armut in der Zeit nach 1970 aufbrach und politische Entscheidungsträger sowohl in Frankreich als auch in der Bundesrepublik Deutschland die Notlagen im eigenen Land entdeckten. Es ist dieser Prozess der politischen Wiederentdeckung der Armut in zwei wohlhabenden und wirtschaftlich hoch entwickelten Ländern, der im Fokus der vorliegenden Arbeit steht.

Fragestellung und Thesen Die Zielsetzung ist dabei eine doppelte. Erstens soll aufgezeigt werden, dass die oben zitierten Äußerungen keine Einzelbeispiele für sporadisches politisches 4 5

6

7

Freiheit von Armut, AGG, B II 1, 4753. Eine Anmerkung zur Schreibweise: Bei »neuer Armut«, »Randgruppen«, »Minderheiten« oder »Ausgegrenzten« handelt es sich um Begriffe, mit denen die Zeitgenossen Armut beschrieben. Wer diese Begriffe in die Debatte einbrachte und mit welcher Definition sie dort Verwendung fanden, wird in den jeweiligen Kapiteln erläutert werden. Aus Gründen der Lesbarkeit wird im Text darauf verzichtet, diese Termini jedes Mal in Anführungszeichen zu setzen. An dieser Stelle ist jedoch zu betonen, dass es sich um Quellenbegriffe handelt, welche die zeitgenössische Perspektive auf Armut widerspiegeln, sich aber nicht zwangsläufig mit der Perspektive der Autorin decken. Zit. nach Marc A-R, Vagabonds, clandestins, handicapés sans ressources. M. Chirac rend le gouvernement responsable des nouvelles formes de pauvretés à Paris, in: Le Monde, 20.7.1984. François Mitterrand, Lettre à tous les Français, 7.4.1988, S. 34, CAS, Présidentielles 1988, François Mitterrand, 1er tour jusque 6.4.88.

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Fragestellung und Thesen

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Interesse an der Armutsfrage sind, sondern dass es in beiden Ländern zu einer umfassenden politischen Wiederentdeckung der Armut kam. Die Zeit zwischen 1970 und 1990 bedeutet also eine Zäsur für die politische Thematisierung von Armut. Zweitens sollen die Ursachen dieser politischen Wiederentdeckung erklärt werden. Die Leitfrage lautet daher: Warum kehrte Armut nach jahrzehntelanger Nicht-Thematisierung zurück in die politische Debatte? Die Zäsur in der Armutsdebatte zwischen 1970 und 1990 Eine Reihe zeithistorischer Arbeiten hat in den letzten Jahren die Periode nach 1970 unter die Lupe genommen und darauf hingewiesen, dass hier in viele Bereichen Zäsuren feststellbar sind. Sie diagnostizieren unter anderem einen ökonomischen Strukturwandel im Sinne einer Tertiarisierung der Wirtschaft, eine Veränderung der Arbeitswelt durch deren Technisierung, aber auch durch die Herausbildung einer neuen Sockelarbeitslosigkeit, einen demografischen Wandel sowie einen kulturellen Umbruch im Zeichen von Individualisierung und Pluralisierung8 . Angesichts dieser vielfachen Brüche in unterschiedlichen Bereichen haben einige Forscher vorgeschlagen, die Zeit nach 1970 insgesamt als Zäsur und Schwelle zu einer neuen historischen Epoche zu betrachten. Prominent geworden sind in den letzten Jahren in Deutschland diesbezüglich vor allem die Thesen von Lutz Raphael und Anselm Doering-Manteuffel. Beide plädieren dafür, die drei Jahrzehnte nach 1970 als eigenständige Übergangsperiode zu betrachten. Charakteristisch ist für diese Zeit »nach dem Boom«9 ihrer Ansicht nach ein tiefgreifender Strukturbruch, mit dessen Beginn politökonomische Normen und kulturelle Orientierungsmuster die selbstverständliche Ordnungskompetenz verloren, die ihnen vorher zu eigen war10 . Andere Forscher diagnostizieren einen ähnlichen grundlegenden Wandel, fassen ihn aber mit anderen Begriffen. So beschreibt Konrad Jarausch die Zeit nach 1970 als »dritte Phase der Industriegesellschaft«11 , während Andreas 8

9 10 11

Für einen Überblick der verschiedenen Entwicklungen vgl. für die Bundesrepublik: Andreas R, Moderne – Postmoderne – Zweite Moderne. Deutungskategorien für die Geschichte der Bundesrepublik in den siebziger und achtziger Jahren, in: Thomas R, Andreas R, Andreas W (Hg.), Auf dem Weg in eine neue Moderne? Die Bundesrepublik in den siebziger und achtziger Jahren, München 2009, S. 181–201. Für Frankreich vgl. Jean-François S, 1973–1974. La fin des »Trente Glorieuses«, mais le cœur des »Vingt Décisives«, in: Bernhard G u. a. (Hg.), Nach »Achtundsechzig«. Krisen und Krisenbewusstsein in Deutschland und Frankreich in den 1970er Jahren, München 2013, S. 45–49. Anselm D-M, Lutz R, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 3 2012. Ibid., S. 25–29. Konrad J, Verkannter Strukturwandel. Die siebziger Jahre als Vorgeschichte der Probleme der Gegenwart, in: D. (Hg.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008, S. 9–26, hier S. 18.

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Einleitung

Rödder, Thomas Raithel und Andreas Wirsching für die Bundesrepublik in dieser Zeit von einer »neuen Moderne«12 oder sogar – unter Bezug auf JeanFrançois Lyotard – einer »Postmoderne«13 sprechen. Das wachsende Interesse der Forschung an der Zeit nach 1970 und die Diagnose eines strukturellen Wandels ist dabei nicht auf die deutsche Geschichtswissenschaft beschränkt14 . In Frankreich diskutiert Jean-François Sirinelli die beiden Jahrzehnte zwischen 1965 und 1985 unter dem Begriff der »Vingt Décisives«. Im Einklang mit den dominanten Deutungsmustern der französischen Geschichtsschreibung richtet Sirinelli seine Aufmerksamkeit dabei nicht nur auf den wirtschaftlichen Wandel der 1970er Jahre, sondern auch auf den kulturellen Umbruch von 1968. Er diagnostiziert jedoch ebenfalls eine Zäsur in den 1970er Jahren15 . In den USA interpretieren Maier, Ferguson, Manela und Sargent in internationalgeschichtlicher Perspektive den Einschnitt 1970er Jahre als »shock of the global«16 . Zäsuren um 1970 wurden also schon vielfach und mit Bezug auf unterschiedliche Bereiche diagnostiziert. In dieser Arbeit soll eine Zäsur in einem Bereich aufgezeigt werden, die bisher in der Forschung wenig Beachtung gefunden hat, nämlich in der Debatte um Armut. Es soll nachgewiesen werden, dass auch die kommunikative Verhandlung von Armut in Frankreich und der Bundesrepublik nach 1970 von einem strukturellen Bruch gekennzeichnet ist. Im Zentrum der Analyse steht daher nicht das Phänomen Armut selbst, sondern dessen kommunikative Verarbeitung. Die Beschäftigung mit den Armutsdebatten in der Zeit nach 1970 erscheint dabei vor allem aus zwei Gründen als lohnenswert. Einerseits lässt sich die diskursive Verhandlung der Armut immer als Debatte um Exklusion und Inklusion lesen und kann damit grundlegende Vorstellungen von Gesellschaftsordnung offenlegen17 . Andererseits können gerade die Armutsdiskurse der Zeit »nach dem Boom« von besonderem Interesse sein; denn zu den vielfältigen Umbrüchen in Wirtschaft und Gesellschaft gehörte auch die Herausbildung neuer Armutsrisiken18 . Die Auseinandersetzung der Zeitgenossen über eben 12 13 14

15 16 17

18

R, R, W (Hg.), Auf dem Weg in eine neue Moderne. R, Moderne – Postmoderne – Zweite Moderne. Ein Überblick über die verschiedenen Epochenbezeichnungen findet sich auch bei: Horst M, Die 1970er Jahre als zeithistorische Epochenschwelle, in: G u. a. (Hg.), Nach »Achtundsechzig«, S. 1–11. Jean-François S, Les Vingt Décisives. Le passé proche de notre avenir, 1965–1985, Paris 3 2012. Niall F u. a. (Hg.), The Shock of the Global. The 1970s in Perspective, Cambridge 2010. Diese Lesart der Armutsdiskurse auch bei Winfried S, Vom Rand in die Mitte der Gesellschaft? Armut als Problem der deutschen Sozialgeschichte 1961–1989, in: Ulrich B, Hans Günter H, Klaus T (Hg.), Sozialstaat Deutschland. Geschichte und Gegenwart, Bonn 2010, S. 123–140, hier S. 126. In den folgenden Abschnitten der Einleitung werden diese neuen Armutsrisiken noch genauer beschrieben.

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Fragestellung und Thesen

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diese neuen Armutsrisiken kann auch als Auseinandersetzung mit dem wirtschaftlichen und sozialen Wandel ihrer Zeit gelesen werden. Ursachen für die Zäsur in der Armutsdebatte Die Zäsur in der Armutsdebatte soll hier nicht nur aufgezeigt, sondern auch die Frage nach ihren Ursachen beantwortet werden: Warum kam es in Frankreich und der Bundesrepublik nach 1970 zu einem strukturellen Bruch in der kommunikativen Verhandlung von Armut? Eine vorschnelle Antwort darauf suggerieren die Meistererzählungen von den drei Jahrzehnten nach 1945 als »Trente Glorieuses« und »Wirtschaftswunder«19 , sowie von der Zeit nach 1970 als Krisenzeit20 . Sie legen den Schluss nahe, dass das wirtschaftliche Wachstum und die Ausbreitung des Wohlstandes in den Nachkriegsjahrzehnten die Armut auf ein verschwindend geringes Niveau reduziert hätten und erst der Einbruch der Konjunktur in den 1970er Jahren ihren erneuten Anstieg provoziert habe. Dass die Zeitgenossen selbst in beiden Ländern diese Erklärung privilegierten und unter anderem von einer Rückkehr der Armut sprachen, wird im Folgenden noch deutlich werden. Die angeführten Beispiele zeigen, dass sie auch von einer neuen Armut sprachen. Allerdings halten die Thesen vom Verschwinden und von der Rückkehr der Armut der empirischen Prüfung nicht stand. Wie eingangs erwähnt, war Armut in beiden hier untersuchten Ländern keineswegs etwas Neues, sondern im Gegenteil ein stets präsentes und altbekanntes Phänomen. Bereits in den Nachkriegsjahrzehnten hatten die Armutsquoten beider Länder auf einem hohen Niveau gelegen und stiegen danach nicht signifikant an, sondern stabilisierten sich auf dem Niveau, auf dem sie zuvor schon gelegen hatten21 . Armut kam insofern nicht als Phänomen zurück, sondern nur als Thema der politischen Diskussion. Wenn die Verweise auf den Anstieg oder die Rückkehr der Armut jedoch nicht zutreffen und damit auch nicht als Erklärung taugen – wo kann dann nach einer Erklärung für das wachsende politische Interesse an Armut gesucht werden? Hier wird vorgeschlagen, sie in der Veränderung der Armut zu suchen. Ausgehend von dieser Grundannahme soll dem Begriff der neuen Armut besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. 19

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Der Begriff der Trente Glorieuses wurde 1979 vom französischen Ökonom Jean Fourastié geprägt. Nach der Veröffentlichung seines Werks »Les Trente Glorieuses ou la révolution invisible de 1946 à 1975« etablierte sich dieser Terminus im Frankreich zur rückblickenden Beschreibung der drei Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg. Vom Begriff des deutschen Wirtschaftswunders unterscheidet er sich damit insofern, als er ex post geprägt wurde, vgl. Rémy P, Retour sur les »Trente Glorieuses« et la périodisation du second XXe siècle, in: Revue d’histoire moderne et contemporaine 60 (2013), S. 155–175, hier S. 155–157. Ein Überblick über die sozioökonomische Entwicklung der beiden Jahrzehnte nach 1970 findet sich weiter unten, S. 33–38. Für die Entwicklung der Armut in beiden Ländern vgl. Abschnitt 4 der Einleitung.

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Einleitung

Die zeitgenössische Entdeckung einer neuen Armut ist zwar schnell als empirisch unzutreffend widerlegt, wenn man den Begriff als Hinweis auf die Ausbreitung eines Phänomens versteht, das die Gesellschaft zuvor gar nicht betraf. In dieser Perspektive ist die neue Armut dann als politisches Schlagwort enttarnt, das durch das Etikett »neu« Aufmerksamkeit heischen will für ein eigentlich altes Phänomen. Bevor man sich jedoch aus diesem Grund von dem Begriff abwendet, lohnt sich ein genauerer Blick auf die Armutsstatistik. Für die Zeit nach 1970 legt diese einige signifikant neue Entwicklungen offen, und zwar sowohl im Hinblick auf die betroffenen Gruppen als auch auf die Ursachen der Armut. Die Verschiebung des Armutsrisikos von einem Ende der Alterskette zum anderen, nämlich von Alt zu Jung, das steigende Armutsrisiko von Alleinerziehenden, die größere Dynamik der Armut sowie die Herausbildung von Arbeitslosigkeit als Hauptursache der Verarmung zählen in beiden Ländern dazu. In den folgenden Kapiteln wird der Aspekt der empirischen Entwicklung der Armut noch vertieft und mit Zahlen untermauert. Schon an dieser Stelle kann jedoch festgestellt werden: Die sogenannte neue Armut hat einen empirischen Kern. Versteht man sie nicht als Ausbreitung eines gänzlich neuen, sondern als Wandel eines bekannten Phänomens, dann wird die empirische Realität hinter dem politischen Schlagwort deutlich. Es wäre möglich, dass es eben diese neuen Entwicklungen waren, die das Interesse an der Armutsfrage neu entfachten. Aus diesem Grunde stehen die Debatten um diese neuen Armutsrisiken im Zentrum der folgenden Analyse. Die Leitfrage nach den Ursachen der Rückkehr der Armutsfrage auf die politische Agenda kann in vier Teilfragen aufgegliedert werden: Erstens soll untersucht werden, welche Bevölkerungsgruppen und welche Problemlagen unter dem Begriff der Armut diskutiert wurden. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei den Gruppen mit steigendem Armutsrisiko, wie Jugendlichen, Arbeitslosen und Alleinerziehenden. Inwiefern spielte ihre Situation eine Rolle bei der Neuentdeckung der Armutsfrage? Und wurden sie in der Diskussion gleichberechtigt thematisiert – oder vielleicht nur einige von ihnen? Zweitens die Frage, welche Vorstellungen von Armut verhandelt wurden. Zeigt sich in der Annäherung an Armut vielleicht auch eine gewandelte Vorstellung von ihr? Es wäre denkbar, dass die Armutsbilder der Trente Glorieuses nicht mehr zu den neuen betroffenen Gruppen passten und es daher zu einem Bruch in der Repräsentation der Armut kam. Besondere Aufmerksamkeit soll hier den Begriffen gelten, die auf Kontinuität oder Brüche dieser Vorstellungen verweisen können. An dritter Stelle steht die Frage nach den Akteuren: Wer verstand sich als Lobby der Armen und wer brachte die Armutsfrage in die politische Sphäre ein? Wer griff das Thema auf – oder wehrte es ab? Interessierten sich mit dem steigenden Armutsrisiko neuer Bevölkerungsgruppen auch neue Lobbygruppen für die Armutsfrage? Viertens steht die Frage nach den sozialpolitischen Folgen der Wiederentdeckung im Fokus. Es soll gefragt werden, ob das neue politische Interesse an

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Fragestellung und Thesen

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dem Thema auch in armutspolitische Maßnahmen mündete und ob diese mit der bisherigen sozialstaatlichen Logik brachen. Anders formuliert: Folgt auf die Entdeckung einer neuen Armut auch eine neue Armutspolitik? Insgesamt lässt sich die hier zu untersuchende These so formulieren: Der Wandel der Armut in der Zeit nach 1970 führt zu ihrer politischen Neuentdeckung und zu einem Bruch in der Armutsdebatte in Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland. Vorgehen Die vorliegende Analyse ist chronologisch strukturiert. Die Armutsdebatten beider Länder werden in chronologische Teilabschnitte gegliedert. Im folgenden Hauptteil wechseln sich je ein Kapitel zu Frankreich und zur Bundesrepublik ab, auf die dann ein gemeinsames Zwischenfazit folgt. Auf diese Weise wird der Vergleich möglichst eng geführt. Die chronologischen Kapitel sind in sich systematisch gegliedert, und zwar nach den jeweiligen Akteuren. Bei der Analyse steht zunächst das Procedere der Debatte im Fokus – vor den Inhalten soll also das Diskussionsverfahren analysiert werden. Es wird beschrieben, an welchen Orten über Armut gesprochen wurde, welche Begriffe dabei benutzt wurden und welchen Umfang dies annahm. Darauf folgt die Inhaltsanalyse anhand der oben aufgeführten Fragen nach den debattierten Problemlagen und Gruppen, nach den Vorstellungen von Dimension, Erscheinungsform und Ursachen der Armut sowie nach den zeitgenössisch diskutierten Möglichkeiten der Armutsbekämpfung. Es geht hier um das, was Lutz Leisering unter dem Begriff »Armutsbild«22 zusammenfasst. Für ihn ergibt sich dieses Bild einerseits aus den Beschreibungen der Armut im Hinblick auf ihr Ausmaß, ihre Ursachen und Erscheinungen und andererseits aus den impliziten Konzeptualisierungen des Phänomens23 . Eben diese Aspekte stehen bei der Inhaltsanalyse im Fokus; mit Leisering gesprochen soll also das in den Debatten verhandelte Armutsbild analysiert werden. Nach der Analyse des Diskussionsverlaufs und des Armutsbildes folgt ein abschließender Blick auf die armutspolitische Praxis. Bei der Quellenanalyse wird nicht von einer bestimmten Armutsdefinition ausgegangen24 . Kein Aspekt von Armut soll a priori ausgeschlossen werden – bis 22

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Lutz L, Zwischen Verdrängung und Dramatisierung. Zur Wissenssoziologie der Armut in der bundesrepublikanischen Gesellschaft, in: Soziale Welt 44 (1993), S. 486–511, hier S. 489. Unter Letzterem versteht Leisering die Ebene des verwendeten Armutsbegriffs, also etwa die Fragen, ob Armut als kollektive Not spezifischer Gruppen diskutiert wurde und ob nur materielle Mängellagen oder auch andere Lebenslagendimensionen als Armut galten, vgl. ibid. Ein kurzer Überblick über verschiedene Ansätze zur Definition von Armut findet sich in Punkt 4 dieser Einleitung.

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Einleitung

auf die Armut der sogenannten Dritten Welt, die nicht zum Gegenstand dieser Arbeit gehört. Leitend sind stattdessen die verschiedenen Armutsdefinitionen der Akteure: Welche Problemlagen diskutierten sie als Armut oder unter synonymen Begriffen wie Mangellage, Exklusion, Prekarität oder Ähnlichem? Welche Kriterien wurden zur Definition herangezogen? Welche Güter oder Eigenschaften waren es, deren Fehlen nach Meinung der Diskutierenden charakteristisch für Arme war? Gegenstand ist also nicht die Armut selbst, sondern es sind die Vorstellungen von ihr25 und die Frage, ob und wie sich die Vorstellungen der Akteure über die zeitgenössischen Problemlagen änderten.

Forschungsstand und methodische Überlegungen Ähnlich wie in der öffentlichen Debatte nahm Armut auch als Thema der Forschung lange Zeit eine randständige Stellung ein, insbesondere in der Geschichtswissenschaft. Diese Feststellung gilt sowohl für Deutschland als auch für Frankreich. Allerdings verweist der Anstieg der Veröffentlichungen zu diesem Thema gerade in den letzten Jahren auf eine Änderung in dieser Hinsicht. Im Folgenden soll ein Einblick in die Forschungsliteratur gegeben werden, auf die sich diese Arbeit hauptsächlich stützt. Es handelt sich um geschichts- und sozialwissenschaftliche Arbeiten, die auch die Kommunikation über Armut oder ihre Repräsentation berücksichtigen, sowie einige grundlegende Studien zur Erforschung der politischen Kommunikation und zur Methode des historischen Vergleichs. Studien zu Armut in Frankreich und zum französischen Sozialstaat Grundlegend für die Erforschung der Armut in Frankreich, aber auch für die theoretische Annäherung an Armut insgesamt, sind die Arbeiten des Soziologen Serge Paugam. Sie leuchten insbesondere den französischen Diskurs um die neue Armut aus26 . Darüber hinaus stellt Paugam auch die Frage nach der europäischen Dimension der Armut und vergleicht die verschiedenen politi-

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So wie Thorsten Dörting dies auch in seinen Ausführungen zu Armutsforschung als Intellectual History vorschlägt, vgl. Thorsten D, Armutsforschung als Intellectual History, in: Christoph K, Clemens S (Hg.), Aktuelle Tendenzen der historischen Armutsforschung, Wien 2005, S. 201–225. Serge P, La disqualification sociale. Essai sur la nouvelle pauvreté, Paris 4 2009; D., La société française et ses pauvres, Paris 1993; D., Les formes élémentaires de la pauvreté, Paris 2005.

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Forschungsstand und methodische Überlegungen

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schen Lösungsansätze27 . Zentral für die soziologische Armutsforschung sind außerdem die Arbeiten von Robert Castel, die sich unter anderem mit sozialer Kohäsion und deren Bedrohung durch Prekarisierungsprozesse beschäftigen28 . Aus historischer Perspektive hat sich in Frankreich insbesondere der Sozialhistoriker André Gueslin mit Armut befasst. Er untersuchte die Armut sowohl im 19. als auch im 20. Jahrhundert und berücksichtigte dabei insbesondere ihre Repräsentation29 . Neben Gueslins Studien bereichern vor allem die Arbeiten der Historikerin Axelle Brodiez-Dolino die historische Armutsforschung, insbesondere ihre umfassende Studie zur Armutsbekämpfung im Frankreich des 20. Jahrhunderts30 . Brodiez-Dolino analysiert dabei nicht nur die staatliche Armutspolitik, sondern beleuchtet auch den Beitrag privater Verbände zur Armutsbekämpfung31 . Den gleichen Ansatz verfolgt Frédéric Viguier, der das Zusammenspiel von privaten Verbänden und staatlicher Armutspolitik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts am Beispiel des Verbands ATD Quart Monde untersucht32 . Für die vorliegende Arbeit, die sich ebenfalls für den Beitrag der Verbände zur Lösung der Armutsfrage interessiert, sind diese Studien daher besonders relevant. Neben diesen Studien, die explizit Armut thematisieren, befassen sich zahlreiche Analysen mit dem französischen Sozialstaat allgemein. Zu nennen sind hier zum Beispiel die Arbeiten von Jean-Claude Barbier33 , François-Xavier

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D. (Hg.), L’Europe face à la pauvreté. Les expériences nationales du revenu minimum, Paris 1999. Vgl. z. B. Robert C, Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit, Konstanz 2000; D., L’insécurité sociale. Qu’est-ce qu’être protégé?, Paris 2003; D., Jean-François L (Hg.), Le revenu minimum d’insertion, une dette sociale, Paris 1992. André G, Gens pauvres, pauvres gens dans la France du XIXe siècle, Paris 1998; D., Une histoire de la grande pauvreté dans la France du XXe siècle, Paris 2 2013; D., D’ailleurs et de nulle part. Mendiants, vagabonds, clochards, SDF en France depuis le Moyen Âge, Paris 2013; D., Henri-Jacques S (Hg.), Les maux et les mots de la précarité et de l’exclusion en France au XXe siècle, Paris 2012. Axelle B-D, Combattre la pauvreté. Vulnérabilités sociales et sanitaires de 1880 à nos jours, Paris 2013. Ibid.; D., Gérer sa croissance. Le cas des associations de solidarité et humanitaires depuis les années 1940, in: Entreprises et histoire 56 (2009), S. 73–84; D., Penser et panser la vulnérabilité sociale au XXe siècle: Évolutions et recompositions du paysage associatif lyonnais, in: G, S (Hg.), Les maux et les mots, S. 123–138. Frédéric V, La cause des pauvres. Mobilisations humanitaires et transformations de l’État social en France depuis 1945, Diss. EHESS (2010); D., Le rôle des associations de lutte contre la pauvreté dans la protection sociale française depuis 1945. Le cas d’ATD Quart Monde, in: Revue d’histoire de la protection sociale 6 (2013), S. 15–36; D., Pauvreté et exclusion. Des nouvelles catégories de l’État social, in: La Découverte. Regards croisés sur l’économie 4 (2008), S. 152–161. Jean-Claude B, Bruno T, Le système français de protection sociale, Paris 2009.

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Einleitung

Merrien34 und François Ewald35 . Das französische System der Sozialversicherung erklärt Bruno Palier besonders ausführlich36 ; Colette Bec analysiert detailliert das System der Sozialhilfe37 . Aus der deutschen Perspektive hat Ingo Bode den französischen Sozialstaat erschlossen und erklärt38 . Studien zur Armut in der Bundesrepublik und zum deutschen Sozialstaat Einen wichtigen Beitrag zur soziologischen Armutsforschung in der Bundesrepublik hat das Projekt »Sozialhilfekarrieren« des Sonderforschungsbereichs 186 an der Universität Bremen geleistet. In dessen Umfeld entstanden zahlreiche Forschungsarbeiten, die sowohl die statistische Entwicklung von Armut als auch ihre gesellschaftliche Repräsentation sowie ihre politische Bekämpfung in der Bundesrepublik thematisieren. Hervorzuheben sind hier die Studien von Lutz Leisering, Stephan Leibfried, Petra Buhr und Wolfgang Voges39 . Die deutsche Geschichtswissenschaft hat die bundesrepublikanische Armut als Thema zunächst lange wenig beachtet. Dass sich dies mittlerweile geändert hat, illustrieren verschiedene Forschungsarbeiten der letzten Jahre, insbesondere von Meike Haunschild40 , Christoph Lorke41 , Eva Reichwein42 und Christiane Reinecke43 . Einen zentralen Beitrag leisten außerdem die Stu-

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François-Xavier M, L’État-providence, Paris 3 2007. François E, L’État providence, Paris 1986. Bruno P, Gouverner la Sécurité sociale. Les réformes du système français de protection sociale depuis 1945, Paris 2005. Colette B, L’assistance en démocratie. Les politiques assistantielles dans la France des XIXe et XXe siècles, Paris 1998. Ingo B, Solidarität im Vorsorgestaat. Der französische Weg sozialer Sicherung und Gesundheitsversorgung, Frankfurt a. M., New York 1999. Lutz L, Zweidrittelgesellschaft oder Risikogesellschaft? Zur gesellschaftlichen Verortung der »neuen Armut« in der Bundesrepublik Deutschland, in: Karl-Jürgen B, Helga M (Hg.), Neue Armut, Frankfurt a. M., New York, 1995, S. 58–92; Lutz L, Armutsbilder im Wandel. Öffentliche Problemwahrnehmung und neuere soziologische Analysen, in: D. (Hg.), Moderne Lebensläufe im Wandel. Beruf – Familie – soziale Hilfen – Krankheit, Weinheim 1993, S. 164–176; D., Zwischen Verdrängung und Dramatisierung; Stephan L, Wolfgang V (Hg.), Armut im modernen Wohlfahrtsstaat, Opladen 1992; B u. a., Armutspolitik und Sozialhilfe. Meike H, »Elend im Wunderland«: Armutsvorstellungen und soziale Arbeit in der Bundesrepublik, 1955–1975, Baden-Baden 2018. Christoph L, Armut im geteilten Deutschland. Die Wahrnehmung sozialer Randlagen in der Bundesrepublik und in der DDR, Frankfurt a. M., New York 2015. Eva R, Kinderarmut in der Bundesrepublik Deutschland. Lebenslagen, gesellschaftliche Wahrnehmung und Sozialpolitik, Wiesbaden 2012. Habilitationsprojekt »Die Entdeckung der Marginalität. Urbane Problemzonen und die Ordnung des Sozialen im (post)kolonialen Frankreich und der Bundesrepublik«.

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Forschungsstand und methodische Überlegungen

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dien von Winfried Süß44 . Darüber hinaus verweisen Großprojekte wie der Sonderforschungsbereich »Fremdheit und Armut« der Universität Trier45 und das DFG-Projekt »Armut in Deutschland« an der Universität Freiburg darauf, dass die historische Armutsforschung in Deutschland zumindest Ansätze zur Institutionalisierung zeigt. Die Geschichte des deutschen Sozialstaats ist ebenfalls Gegenstand zahlreicher Studien, auf die hier zurückgegriffen werden kann. Zu nennen sind vor allem die verschiedenen Arbeiten von Hans Günter Hockerts46 . Weitere grundlegende Beiträge zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik stellen die Arbeiten von Gabriele Metzler47 und Manfred G. Schmidt48 dar. Einen detaillierten Überblick über die Entwicklung verschiedener Bereiche der Sozialpolitik seit 1945 bietet schließlich die vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung gemeinsam mit dem Bundesarchiv herausgegebene Reihe zur Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland49 . Die Skizze des Forschungsstandes verdeutlicht vor allem zweierlei: Zunächst, dass die Erforschung der Armut sich in beiden Ländern etabliert – allerdings nur sehr langsam. Eine umfassende Beschäftigung mit Armut, gerade in der Zeit nach 1970 und in historischer Perspektive, steht bislang noch aus. Der Aspekt der kommunikativen Verarbeitung der Armut, der in dieser Arbeit 44

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Winfried S, Armut im Wohlfahrtsstaat, in: Hans Günter H, Winfried S (Hg.), Soziale Ungleichheit im Sozialstaat. Die Bundesrepublik Deutschland und Großbritannien im Vergleich, München 2010 (Zeitgeschichte im Gespräch, 8), S. 19–42; Winfried S, Massenarbeitslosigkeit, Armut und die Krise der sozialen Sicherung seit den 1970er Jahren. Großbritannien und die Bundesrepublik im Vergleich, in: Thomas R, Thomas S (Hg.), Die Rückkehr der Arbeitslosigkeit. Die Bundesrepublik Deutschland im europäischen Kontext 1973 bis 1989, München 2009 (Zeitgeschichte im Gespräch, 5), S. 55–66; S, Vom Rand in die Mitte der Gesellschaft. Lutz R, Herbert U (Hg.), Zwischen Ausschluss und Solidarität. Modi der Inklusion/Exklusion von Fremden und Armen in Europa seit der Spätantike, Frankfurt a. M. 2008; Inga B, Katrin M-J (Hg.): Armenfürsorge und Wohltätigkeit. Ländliche Gesellschaften in Europa 1850–1930, Frankfurt a. M. 2008. Hans Günter H, Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945, Göttingen 2011; außerdem: B, H, T (Hg.), Sozialstaat Deutschland; Hans Günter H. (Hg.), Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich, München 1998. Gabriele M, Der deutsche Sozialstaat. Vom bismarckschen Erfolgsmodell zum Pflegefall, München 2003. Manfred G. S, Der deutsche Sozialstaat. Geschichte und Gegenwart, München 2012; D., Sozialpolitik in Deutschland. Historische Entwicklung und internationaler Vergleich, Wiesbaden 3 2005; Tobias O u. a. (Hg.), Der Wohlfahrtsstaat. Eine Einführung in den historischen und internationalen Vergleich, Wiesbaden 2007. Für diese Arbeit sind folgende Bände zentral, alle hg. v. Bundesministerium für Arbeit und Soziales und dem Bundesarchiv: Bd. 5: Bundesrepublik Deutschland 1966–1974. Eine Zeit vielfältigen Aufbruchs, Baden-Baden 2008; Bd. 6: Bundesrepublik Deutschland 1974–1982. Neue Herausforderungen, wachsende Unsicherheit, Baden-Baden 2006; Bd. 7: Bundesrepublik Deutschland 1982–1989. Finanzielle Konsolidierung und institutionelle Reform, Baden-Baden 2005.

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Einleitung

im Fokus steht, wird in den oben genannten Werken teilweise angesprochen, steht jedoch selten im Zentrum des Interesses und wird kaum systematisch untersucht. Außerdem wird deutlich, dass die Analysen der französischen und der deutschen Situation bisher unverbunden nebeneinander stehen. Die Feststellung mag zunächst überraschen, denn schließlich sind deutsch-französische Vergleiche in der historischen Forschung sonst keine Seltenheit. Sie sind es aber im Hinblick auf den Sozialstaat und vor allem auf Armut. Zwar sind einige der deutschsprachigen Studien komparativ angelegt, jedoch dominieren deutsch-deutsche und deutsch-britische Vergleiche. Lediglich das erwähnte Habilitationsprojekt von Christiane Reinecke zur räumlichen Dimension sozialer Ungleichheiten stellt Frankreich der Bundesrepublik gegenüber. Von den zitierten französischen Arbeiten basiert keine einzige auf einem Vergleich50 . Eine Gegenüberstellung deutscher und französischer Armutsdiskurse steht damit bisher aus. In diese Forschungslücke stößt diese Arbeit vor, um so das vorherrschende Bild um die deutsch-französische Perspektive zu erweitern. Der Vergleich als Methode der Geschichtswissenschaft Als Methode der Geschichtswissenschaft ist der Vergleich bereits seit langem etabliert. In den letzten Jahren haben verschiedene Historikerinnen und Historiker indes Kritik an dieser Methode geübt. Michael Werner und Bénédicte Zimmermann stellen als deren Grundproblem heraus, dass sie Synchronität voraussetzt, während Geschichte grundsätzlich eher in diachronen Prozessen abläuft. Sie resümieren, dass in den letzten Jahren vor allem aus drei weiteren Perspektiven Kritik am Vergleich geübt wurde: Erstens im Hinblick auf die Position des Beobachters, die nie neutral sein könne, da immer auch sein kulturelles Referenzsystem sowie seine persönlichen Erfahrungen in die Analyse mit einflössen; zweitens in Bezug auf die Bestimmung der Rahmenbedingungen, die nie neutral sein könnten, sondern immer bestimmten Vorgaben folgten; drittens in Hinsicht auf die Objekte, deren historische Konstitution ihre Gegenüberstellung erschweren könnte51 . Andere Historiker unterstreichen den Mehrwert dieser Methode. Insbesondere Heinz-Gerhard Haupt, Jürgen Kocka und Hartmut Kaelble haben in den letzten Jahren immer wieder eine Lanze für den Vergleich in der Geschichtswissenschaft gebrochen. Kocka und Haupt argumentieren, dass sich dessen Mehrwert vor allem in vier Perspektiven zeigt: Zunächst in heuristischer 50

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Dass Ansätze der Vergleichs- und Transfergeschichte in Frankreich insgesamt noch unterrepräsentiert sind, unterstrich Sonja Levsen auf dem Historikertag 2014, vgl. Anna K, Historikertag 2014: Westeuropa im 20. Jahrhundert, in: H-Soz-Kult, 30.1.2015, http://www.hsozkult.de/debate/id/diskussionen-2607 (22.1.2019). Michael W, Bénédicte Z, Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der »histoire croisée« und die Herausforderung des Transnationalen, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2008), S. 607–636, hier S. 609–612.

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Forschungsstand und methodische Überlegungen

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Hinsicht, denn erst die Gegenüberstellung der Objekte lasse den Beobachter Fragen und Probleme identifizieren, die er sonst nur schwer erkannt hätte. In deskriptiver Hinsicht leiste sie zudem die Profilierung der einzelnen Fälle52 . Vor allem aber zeige sich der Mehrwert des Vergleichs in analytischer Perspektive. Denn nur ein komparatives Vorgehen ermögliche es, über die Beschreibung hinauszugehen und Fragen nach Entstehungs- und Verlaufsbedingungen zu beantworten. Auf diese Art könnten Hypothesen getestet und damit gegebenenfalls auch generalisierende Pseudoerklärungen zurückgewiesen werden53 . Auch Kaelble hebt diesen Aspekt hervor: Der Vergleich schärfe das analytische Instrumentarium des Erklärens und Verstehens historischer Prozesse und ermögliche so die Erfassung historischer Ursachen54 . Kocka und Haupt fügen als letzten Punkt hinzu, dass der Vergleich auch in paradigmatischer Hinsicht einen Mehrwert hat, weil er den Blick des Historikers für andere Konstellationen öffnet und den jeweils interessierenden Fall als eine von mehreren Möglichkeiten erkennbar werden lässt55 . Komparative Studien zu Armut sind in der historischen Forschung bisher rar. An dieser Stelle wird aber deutlich, worin ihr Potential liegt und was diese Arbeit daher leisten kann. Wie oben gezeigt, existieren bereits einzelne Studien zum Thema Armut. Da sie jedoch nur selten Ländervergleiche beinhalten, können sie die beschriebenen Ergebnisse nicht als länderspezifisch oder als allgemeine internationale beziehungsweise europäische Phänomene identifizieren und auch nur schwer ihre Ursachen herausfinden. Durch den komparativen Ansatz wird dies möglich. Die vorliegende Arbeit kann zum einen durch den Kontrast zum jeweils anderen Land spezifisch französische oder spezifisch deutsche Charakteristika der Armutsdebatte ausmachen. Zum anderen kann sie gemeinsame, länderübergreifende Entwicklungen offenlegen, die vielleicht Hinweise auf insgesamt europäische Phänomene geben. Vor allem aber wird der Vergleich erlauben, auch die Ursachen für gemeinsame oder unterschiedliche Entwicklungen und deren Konsequenzen zu diskutieren. Die Erforschung der politischen Kommunikation Im Unterschied zur historischen Armutsforschung ist die Erforschung der politischen Kommunikation mittlerweile so umfangreich und weit verzweigt, dass es den Rahmen sprengen würde, an dieser Stelle ihren Stand zu resümieren. 52

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Heinz-Gerhard H, Jürgen K, Historischer Vergleich. Methoden, Aufgaben, Probleme. Eine Einleitung, in: D. (Hg.), Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung, Frankfurt a. M., New York 1996, S. 9–46, hier S. 12–15. Ibid., S. 13. Hartmut K, Der historische Vergleich. Eine Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1999. H, K, Historischer Vergleich, S. 14.

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Einleitung

Im Folgenden soll daher nur auf die Ansätze hingewiesen werden, die geholfen haben, den Rahmen für diese Analyse abzustecken, die Quellen auszuwählen und Fragen an diese zu formulieren. Schon seit dem Anfang der 1970er Jahre ist in der historischen Forschung die Rede vom Diskurs56 . Seitdem hat sich die Methode der historischen Diskursanalyse herausgebildet57 . In dieser Arbeit kommen ihre Methoden indes nur bis zu einem gewissen Grad zur Anwendung, obwohl es um einen Diskurs geht. Hilfreich waren sie insbesondere bei der Korpusbildung. Auch ging es darum, regelmäßig wiederkehrende Ideen im Diskurs zu entdecken und zu systematisieren. Allerdings ist das Erkenntnisinteresse hier nicht auf das System des Diskurses gerichtet. In den folgenden Kapiteln wird der Diskurs nicht als losgelöst von seinen Produzenten verstanden, sondern explizit in seinem politischen und sozialen Kontext. Es interessieren die Intentionen der Akteure; die von ihnen produzierten Diskurse werden als Verhandlungen zur Bewältigung konkreter Problemlagen verstanden. Im Grunde steht hinter dieser Idee auch der Ansatz der Cambridge School der politischen Ideengeschichte, die politische Ideen als Antworten auf konkrete politische Probleme versteht58 . Bei der Formulierung der Leitfragen dieser Arbeit haben die Ansätze der sogenannten neuen Politikgeschichte geholfen, die politik-, sozial- und kulturhistorischen Ansätze zu vereinen. Ziel ist es dabei, wie Ute Frevert ausführt, nicht bei der Erforschung interner Strukturen und externer Beziehungen des Staats stehenzubleiben, wie dies lange der Fall war, sondern stattdessen »frühere Zeiträume unter dem Gesichtspunkt zu betrachten, welche Vorstellungen des Politischen jeweils kursierten, welche Definitionskämpfe ausgefochten wurden, welche Verhaltensweisen als politisch wahrgenommen wurden und welche nicht«59 . Sie weist darauf hin, dass diese Vorstellungen des Politischen und die Kämpfe um eine bestimmte Deutung sich vorzugsweise in den Semantiken politischer Sprache und in politischen Ritualen entschlüsseln lassen. Abschließend postuliert sie: Darin Machtbeziehungen zu entdecken, Ein- und Ausschlussregeln zu identifizieren, sie auf ihre sozialen Bezugspunkte zu untersuchen, zugleich und vor allem aber danach zu fragen, in welchen Medien und unter welchen Kommunikationsstrukturen Soziales, Ökonomisches, Religiöses, Kulturelles, Moralisches in Politisches transformiert wird und wie die Grenzen dieser Transformierbarkeit bestimmt werden – das sind Aufgaben für eine »neue Politikgeschichte«60 . 56 57 58 59

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Luise S-S, Historische Politikforschung. Eine Einführung, München 2006, S. 77. Für einen Überblick zur historischen Diskursanalyse vgl. Achim L, Historische Diskursanalyse, Frankfurt a. M. 2008. Quentin S, Meaning and Understanding in the History of Ideas, in: History and Theory 8 (1969), S. 3–53. Ute F, Neue Politikgeschichte. Konzepte und Herausforderungen, in: D., Heinz-Gerhard H (Hg.), Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung, Frankfurt a. M. 2005, S. 7–26, hier S. 24. Ibid.

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Quellenkorpus und Quellenkritik

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Im direkten Anschluss daran soll es im Folgenden darum gehen, herauszufinden, wie sich ein sozioökonomischer Sachverhalt wie Armut in eine politische Frage transformiert, und dabei insbesondere die Kommunikationsstrukturen zu beleuchten, unter denen dieser Transformationsprozess stattfindet.

Quellenkorpus und Quellenkritik Um die Ursachen der Repolitisierung der Armutsfrage zu erforschen, ist es sinnvoll, die Akteursgruppe der politischen Parteien und Regierungen in den Blick zu nehmen. Berücksichtigt wurden hier nur die politischen Gruppierungen, die zwischen 1970 und 1990 in den beiden nationalen Parlamenten vertreten waren. Indes wird soziale Sicherung hier nicht als rein staatliche Angelegenheit verstanden, sondern im Sinne der »mixed economy of welfare«61 als Zusammenspiel staatlicher und privater Akteure. Daher konstituieren ausgewählte Verbände62 beider Länder eine zweite zu untersuchende Akteursgruppe. Für die Bundesrepublik wurden das Diakonische Werk, der Deutsche Caritasverband (DCV) und die Arbeiterwohlfahrt (AWO) ausgewählt, für Frankreich der französische Caritasverband Secours catholique und der Verband ATD Quart Monde. Mit dieser Auswahl soll Einblick in die verschiedenen Dimensionen des Spektrums des Verbandswesens beider Länder gegeben werden. Gewiss werden damit große und wichtige Verbände beiseitegelassen, wie der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband (DPWV) oder Emmaüs und der Secours populaire in Frankreich. Allerdings repräsentieren die ausgewählten Beispiele verschiedene wichtige Charakteristika des Verbandswesens. Für Frankreich wurde mit dem Secours catholique ein durch die katholische Lehre geprägter und außerdem offiziell mit der Kirche verbundener Verband ausgewählt. Mit ATD Quart Monde kommt ein Verband hinzu, der zwar ebenfalls durch eine christliche Weltanschauung geprägt ist, jedoch keine offiziellen Verbindungen zur Kirche unterhält und sich außerdem explizit als konfessionell neutral versteht. Eine ähnliche Überlegung liegt der Auswahl der deutschen Verbände zugrunde. Mit Caritas und Diakonie, den Wohlfahrtsverbänden 61

62

Bernard H, Paul B, Introduction. The »Mixed Economy of Welfare« and the Historiography of Welfare Provision, in: D. (Hg.), Charity and Mutual Aid in Europe and North America Since 1800, New York 2007, S. 1–18. Eine Anmerkung zur Begriffsklärung: In der Bundesrepublik werden die hier ausgewählten Verbände als Wohlfahrtsverbände, in Frankreich meist als associations caritatives bezeichnet. Der französische Begriff ist allerdings ein allgemeinsprachlicher und impliziert keinen spezifischen Rechtsstatus. Er ist außerdem insofern problematisch, als der hier untersuchte Verband ATD Quart Monde sich selbst explizit nicht in einer karitativen Logik verortet. Im Folgenden wird daher, um möglichst neutral zu bleiben, nur der Begriff Verband genutzt.

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Einleitung

der beiden großen Kirchen in der Bundesrepublik, wird die konfessionelle Dimension des Wohlfahrtswesens abgedeckt. Die Arbeiterwohlfahrt ergänzt diese Perspektive um einen konfessionell ungebundenen Verband, der ideell der Sozialdemokratie nahesteht. In dieser Arbeit geht es nicht darum, die Institutionengeschichte dieser Verbände zu schreiben. Stattdessen soll nach ihrer jeweiligen Interpretation der Armutsfrage und ihrem eventuellen Einfluss auf die parteipolitische Debatte gefragt werden. Es geht darum, wie sie die Armutsfrage ausdeuteten, ob und wie sie sich mit dieser Interpretation an die politischen Entscheidungsträger wandten, diesen eine bestimmte Lesart der Armutsfrage suggerierten und ob sie Armutsbekämpfung generell als Aufgabe staatlicher Sozialpolitik formulierten. Andere Akteure diskutierten selbstverständlich ebenso über Armut, wie insbesondere Gewerkschaften, Selbsthilfeorganisationen der Armen, aber auch die Kommunen, in deren Zuständigkeit die Sozialhilfe in beiden Ländern fiel. Sie stellen daher einen weiteren potentiellen Untersuchungsgegenstand dar. Darüber hinaus wäre sicher gewinnbringend gewesen, die wissenschaftliche Thematisierung von Armut sowie ihre mediale Darstellung systematisch zu untersuchen. Das hätte jedoch den Rahmen der vorliegenden Arbeit zweifelsohne gesprengt und muss daher weiteren Forschungen vorbehalten bleiben. Diese Auswahl impliziert gleichwohl nicht, dass Akteure wie Wissenschaftler, Gewerkschaften oder Kommunen im Folgenden überhaupt nicht zu Wort kommen sollen, im Gegenteil. Es ist kaum möglich, die Diskussion der neuen Armut in der Bundesrepublik ohne den gewerkschaftlichen Beitrag dazu nachzuzeichnen. Ebenso kann das französische Gesetz über die Mindestsicherung nur unter Berücksichtigung des Handelns kommunaler Akteure vollständig verstanden werden. An verschiedenen Stellen wird daher der Blick auf Akteure jenseits der ausgewählten Gruppen erweitert. Die mediale Berichterstattung über Armut wurde ebenfalls betrachtet, stand aber nicht im Fokus der Analyse. Da die Forschung wiederholt darauf hingewiesen hat, dass Medien als politische Akteure zu betrachten sind, die durch ihr Agieren auch den politischen Prozess beeinflussen63 , soll hier auch nach eventuellen Impulsen der Medien und deren Auswirkungen auf die politische Armutsdebatte gefragt werden. Zur Beantwortung dieser Fragen wurden die Presseschnittsammlungen verschiedener Archive zu den Themen Armut und Sozialhilfe durchgesehen. Darüber hinaus wird aber nicht nach dem durch die Medien transportierten Armutsbild gefragt, da dieser Aspekt für die hier verfolgte Fragestellung nicht zentral ist und in dieser Hinsicht auch schon auf Ergebnisse der Forschung zurückgegriffen werden64 . Insgesamt richtet sich das Hauptinteresse also auf die genannten

63 64

Barbara P, Silke A (Hg.), Massenmedien als politische Akteure. Konzepte und Analysen, Wiesbaden 2008. Für die Bundesrepublik vgl. die Arbeit von L, Armut im geteilten Deutschland, sowie Maja M, Armut in den Medien, in: APuZ 51/52 (2010), S. 40–45. Für Frank-

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Quellenkorpus und Quellenkritik

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politischen Parteien und Verbände, neben denen aber an manchen Stellen ausgewählte weitere Akteure zur Sprache kommen. Quellenkorpus Die Analyse der Armutsdiskurse erfolgt auf der Basis unterschiedlicher Quellengruppen. Die Annäherung an den parteipolitischen Diskurs erfolgte zunächst über Parlamentsschriftgut. Plenardebatten von Bundestag und Assemblée nationale65 wurden in einem ersten Schritt systematisch durchsucht und ausgewertet. Anschließend wurden auch parlamentarische Anfragen und Gesetzesanträge analysiert. In Frankreich wurde mit dem garantierten Mindesteinkommen von 1988 ein einschlägiges Gesetz zur Armutsbekämpfung verabschiedet. Die Unterlagen des parlamentarischen Ausschusses, der das Gesetz vorbereitet hatte, konnte ebenfalls eingesehen werden. In einem zweiten Schritt ging der Blick zu den einzelnen Parteien. Ihre Grundsatz- und Wahlprogramme wurden nach Hinweisen auf ihre Position zu Armut durchsucht, ebenso wie die Diskussionen der Parteitage. Des Weiteren wurden Parteizeitschriften, aber auch Einzelveröffentlichungen und Flugblätter untersucht. Die parteiinternen Debatten zu Armut ließen sich über das in den Parteiarchiven erhaltene Material erschließen. In Deutschland wurden das Archiv der sozialen Demokratie (AdsD) in Bonn und das Archiv für christlich-demokratische Politik (ACDP) in St. Augustin besucht, um mit SPD und CDU zunächst die beiden größten deutschen Parteien abzudecken. Dort konnten die Protokolle der sozialpolitischen Ausschüsse der Vorstände beider Parteien eingesehen werden sowie verschiedene weitere thematisch relevante Bestände. Darüber hinaus standen dort die Presseschnittsammlungen sowie eine große Anzahl publizierter Dokumente zur Verfügung. Da sich im Laufe der Recherchen herausstellte, dass die Grünen in den 1980er Jahren großes Engagement für die Armutsfrage zeigten, wurde auch das Archiv Grünes Gedächtnis (AGG) in Berlin besucht, wo vor allem die Bestände der Grünen Bundestagsfraktion gesichtet wurden. Im französischen Fall konnte die parteiinterne Kommunikation nur für den Fall der sozialistischen Partei eingesehen werden, die sich im Centre d’archives socialistes (CAS) in Paris befindet. Die anderen im Untersuchungszeitraum im französischen Parlament vertretenen Parteien existieren heute nicht mehr in dieser Form und verfügen daher auch nicht über Archive. Hier muss die Analyse auf publizierte Dokumente zurückgreifen. Ein glücklicher Umstand ist

65

reich vgl. Géraud L, Presse et »exclusion«. L’émergence d’une nouvelle catégorie journalistique, in: Société & représentations 5 (1997), S. 157–172. Das französische Parlament besteht aus zwei Kammern, auf welche die Macht asymmetrisch verteilt ist; im Fokus der Analyse steht hier mit der Assemblée nationale die Kammer mit größeren Befugnissen, vgl. Joachim S, Henrik U, Frankreich. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Wiesbaden 2 2006, S. 92.

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Einleitung

die Tatsache, dass das CAS in Wahlkämpfen auch die Materialien der anderen im Parlament vertretenen Parteien gesammelt hat. Die Annäherung an die Armutsdiskurse der Verbände erfolgte zunächst über deren Publikationen. Von besonderem Interesse sind hier die jeweiligen Verbandszeitschriften, die systematisch durchsucht und analysiert wurden. Einzelne Verbandsveröffentlichungen wie zum Beispiel Weißbücher wurden ebenfalls einbezogen. Darüber hinaus war eine Recherche in den Archiven aller oben genannten Verbände geplant. Aufgrund von Zugangsbeschränkungen war dies jedoch nur zum Teil möglich. Verschlossen blieb das Archiv sowohl des deutschen als auch des französischen Caritasverbandes. Letzterer hat allerdings auf Anfrage Scans verschiedener Dokumente zur Verfügung gestellt. Erfolgreicher war die Recherche im Hinblick auf die drei übrigen Verbände. Die Arbeiterwohlfahrt bewahrt einen Großteil ihres Archivguts und ihrer Publikationen öffentlich zugänglich im AdsD auf. Das Archiv des Evangelischen Werks für Diakonie und Entwicklung hat umfassenden Einblick nicht nur in sämtliche Publikationen des Werks gegeben, sondern auch in die Bestände des Verbandsvorstandes. Insbesondere die Aktivitäten einer »Arbeitsgruppe Armut« des Vorstandes konnten so entdeckt und analysiert werden. Eine wichtige Fundgrube war außerdem das Centre international Joseph-Wresinski in Baillet-en-France, wo ATD Quart Monde seine Bestände aufbewahrt. Dort konnten neben der Zeitschrift des Verbandes auch seine unveröffentlichten Jahresberichte eingesehen werden sowie eine Vielzahl unveröffentlichter Studien. Im Archiv fanden sich außerdem einige Bestände, die die Aktivitäten der Arbeitsgruppen des Verbandes dokumentieren. Quellenkritik Die hier untersuchten Quellen weisen damit sehr unterschiedliche Grade von Öffentlichkeit auf. Die Reden in den Parlamenten wurden vor Hunderten von Politikern und Politikerinnen gehalten, in einem Raum, der prinzipiell offen für interessierte Zuhörer war. Ebenso wie die anschließenden Debatten wurden sie Wort für Wort aufgezeichnet und publiziert. Ganz anders stellte sich jedoch die Situation in den parlamentarischen Ausschüssen oder den Arbeitsgruppen der Parteien und Verbände dar. Die Beteiligten tauschten hier ihre Ideen in kleinen Gruppen und vor allem unter Ausschluss der Öffentlichkeit aus. Auch hier wurden Protokolle angefertigt, die die Diskussion dokumentierten, allerdings wurden die Äußerungen der Beteiligten nur in den seltensten Fällen im Wortlaut aufgezeichnet und waren nicht für die Veröffentlichung bestimmt. Es ist also insgesamt von einem unterschiedlichen Öffentlichkeitsgrad der Quellen auszugehen, mit allen sich daraus ergebenden Implikationen. Allerdings geht es bei der folgenden Analyse nicht darum, eine Dichotomie zu errichten zwischen der Kommunikation auf der politischen Bühne einerseits und der Debatte hinter verschlossenen Türen andererseits, wo die Akteure

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womöglich äußerten, was sie wirklich dachten. Gewiss ist Repräsentativität ein wichtiger Aspekt politischer Kommunikation. Thomas Mergel hat herausgearbeitet, dass sie einen festen Bestandteil der Kommunikation im modernen Parlament darstellt66 . Er verweist weiter darauf, dass parlamentarische Kommunikation außerdem immer »von vornherein auch als eine Äußerung auf das imaginierte Gegenüber ›Öffentlichkeit‹ hin gelesen werden«67 muss. Es ist somit davon auszugehen, dass Politiker im Parlament wie auch jenseits davon nicht einfach nur ihre Auffassung zur Armutsfrage kundtaten. Vielmehr ging es ihnen auch um die positive Darstellung ihrer Person und der Politik ihrer Partei, die Profilierung gegenüber den Wählern und um die Diskreditierung des politischen Gegners. Zweifellos eignet sich die Armutsfrage für solche Absichten. Lutz Leisering hat in seiner Analyse der bundesrepublikanischen Armutsdebatte herausgearbeitet, dass es linken wie rechten Parteien nützte, das Thema anzusprechen. Er resümiert: Schreckensbilder von Armut können den Interessen beider Seiten dienlich sein. Marktwirtschaftliche Politik läßt sich leichter rechtfertigen, wenn ihre sozialen Opfer als Asoziale und Bodensatz der Gesellschaft diffamiert werden. [. . . ] Umgekehrt bieten die Marginalisierten ein willkommenes Anschauungsmaterial für linke Gesellschaftskritik und die Bloßstellung »unsozialer« christdemokratischer Politik68 .

Armut kann als Thema also von verschiedenen Akteuren und mit unterschiedlichen Zielsetzungen instrumentalisiert werden. Aus diesem Grunde müssen die konkreten Strategien, die hinter den öffentlichen Äußerungen der Politiker zum Thema Armut stehen, bei der Analyse berücksichtigt werden. Gleiches gilt auch für die öffentlichen Äußerungen der Verbände. Leisering weist darauf hin, dass dabei von Dramatisierungen auszugehen ist: »Es liegt im Eigeninteresse sozialer Professionen, die Hilfebedürftigkeit ihrer Klientel zu betonen, um Stellen zu sichern und womöglich auszubauen«69 . Er erinnert damit an die Tatsache, dass die untersuchten Verbände auch Träger der sozialen Arbeit sind, die in der Bundesrepublik in großem Maße von staatlicher Finanzierung abhängig sind. In Frankreich ist diese staatliche Abhängigkeit geringer. Da die untersuchten Verbände sich jedoch hauptsächlich durch Spenden finanzieren, ist auch hinter ihren öffentlichen Appellen, Flugblättern oder Publikationen die 66

67 68 69

Mergel erläutert, dass die Parlamente sich schon seit der Ausweitung des Wahlrechts immer mehr zu repräsentativen Institutionen der sie umgebenden Gesellschaft entwickelt hätten. Die parlamentarische Kommunikation konnte im Zuge dieser Entwicklung nicht mehr nur auf die interne Öffentlichkeit konzentriert, sondern musste auch auf die Gesellschaft hin orientiert sein, vgl. Thomas M, Funktionen und Modi des Sprechens in modernen Parlamenten. Historische und systematische Überlegungen, in: Andreas S, Andreas W (Hg.), Das Parlament als Kommunikationsraum, Düsseldorf 2012, S. 229–246, hier S. 231. Ibid; Mergel nennt dies den »performativen Vorbehalt«. L, Armutsbilder im Wandel, S. 168. Ibid.

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Einleitung

Absicht zu vermuten, Aufmerksamkeit für ihr Anliegen zu gewinnen, die sich letztlich monetär ausdrückt. Dessen ungeachtet soll hier jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass die Aussagen auf der politischen Bühne aufgrund ihrer eventuellen manipulativen Komponente weniger wertvoll für die Analyse sind. Gegen ein solches Urteil sprechen vor allem drei Argumente. Erstens würde die Glaubhaftigkeit der Sprecher leiden, wenn ihre Aussagen und ihre politischen Taten auf Dauer zu weit auseinanderklaffen würden70 . Ein gewisses Maß an Glaubwürdigkeit muss den Akteuren also a priori zugestanden werden. Zweitens ging es in den hier untersuchten Debatten eben nicht um den bloßen Meinungsaustausch über ein Thema, vielmehr mussten am Ende immer Lösungen für das diskutierte Problem gefunden und umgesetzt werden. Mergel bezeichnet diese Entscheidungsfunktion als eine weitere zentrale Funktion des Sprechens im modernen Parlament insgesamt – neben der schon genannten Repräsentativität71 . Angewendet auf die hier untersuchten Quellen bedeutet dies: Wenn Parlamentarier Armut diskutierten, musste es ihnen zwangsweise auch um Entscheidungen über den Umgang mit der Armutsfrage gehen und sie mussten die Abgeordneten mit Argumenten für die eine oder andere Option der Armutsbekämpfung überzeugen. Dass diese Überzeugung der unmittelbar Anwesenden im Parlament ein wichtiges Anliegen ist, hat Willibald Steinmetz nachgewiesen. Am Beispiel der Wahlrechtsdebatten im englischen Parlament hat er gezeigt, dass dort für den von ihm untersuchten Fall die Außendarstellung nur einen geringen Anteil an den Redebeiträgen ausmachte: »Im Untersuchungszeitraum blieb die Überzeugung der unmittelbar Anwesenden die Hauptsache, der Appell ›nach draußen‹ dagegen die Ausnahme«72 . Dass dieses lösungsorientierte Sprechen auch ein wichtiger Teil der Kommunikation im deutschen und französischen Parlament im hier untersuchten Zeitraum war, kann angenommen werden. Sicher gilt dies ebenso für die Verbände, denn auch sie wollten gewiss nicht nur ihre eigene Finanzierung sichern, sondern suchten auch aktiv nach Lösungen für die Probleme ihrer Klienten. Drittens können außerdem gerade öffentliche Äußerungen interessant sein, weil sie Rückschlüsse auf die politische Kultur der Zeit erlauben. Volker Seresse begründet diese Überlegung so: Ob jemand, der z. B. sein Handeln mit der Berufung auf das Gemeinwohl rechtfertigt, sein Handeln tatsächlich unter diese Norm stellt, oder eher gedankenlos einer Konvention folgt, oder das Gemeinwohl bewusst für die Präsentation nach außen nutzt, oder vielleicht seine wahren Absichten damit verschleiern möchte, ist für die Frage nach politischer Kommuni70

71 72

Volker S, Zur Praxis der Erforschung politischer Sprachen, in: Angela D B u. a. (Hg.), Die Sprache des Politischen in actu. Zum Verhältnis von politischem Handeln und politischer Sprache von der Antike bis ins 20. Jahrhundert, Göttingen 2009, S. 163–184, hier S. 173. M, Funktionen und Modi des Sprechens, S. 230–232. Willibald S, Das Sagbare und das Machbare. Zum Wandel politischer Handlungsspielräume, England 1780–1867, Stuttgart 1993, S. 30.

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Untersuchungszeitraum und -gegenstand

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kation zunächst nebensächlich. Wesentlich ist vielmehr zunächst: Die Verwendung eines etablierten Begriffs weist allemal auf dessen Verständlichkeit in der fraglichen politischen Kultur hin [. . . ]; ebenso bekräftigt der Gebrauch eines Begriffs die Gültigkeit der Norm, für die er steht – ob das nun beabsichtigt war oder nicht73 .

Seresse bezieht seine Überlegungen vor allem auf die Verwendung von Begriffen. Sicher kann aber insgesamt auch angenommen werden, dass generell das Aufbringen oder Abblocken eines Themas in der öffentlichen Debatte auf die politische Kultur verweist. Ein Beispiel zur Verdeutlichung: Oben wurde bereits auf eine Äußerung François Mitterrands aus dem Wahlkampf 1988 verwiesen, in der der Präsident den Kampf gegen Exklusion zu den Pflichten eines jeden Politikers erklärt. Was lässt sich daraus schließen? Sicher nicht zwangsweise, dass Armutsbekämpfung tatsächlich höchste Priorität auf Mitterrands politischer Agenda hatte. Es erscheint vielmehr wahrscheinlich, dass er sich von einer derartigen Aussage die Sympathie seiner potentiellen Wähler versprach. Aber genau das ist interessant, denn sieben Jahre zuvor war das offenbar noch nicht der Fall: Im Wahlkampf 1981 hatte er Armutsbekämpfung mit keinem Wort erwähnt – so wie übrigens auch keiner seiner Konkurrenten. Die Tatsache, dass Mitterrand ebenso wie einige seiner Mitbewerber 1988 die Armutsbekämpfung in sein Wahlprogramm aufnahm, verdeutlicht, welchen neuen politischen Stellenwert das Thema bekommen hatte. Darüber hinaus verweist Mitterrands selbstverständliche Verwendung des Exklusionsbegriffs darauf, dass sich die Vorstellung von Armut als gesellschaftlichem Ausschluss zu diesem Zeitpunkt in der französischen Gesellschaft schon weit verbreitet hatte. An diesem Beispiel zeigt sich, dass gerade die Analyse öffentlicher Aussagen mit politischem Charakter die Chance bietet, den Stellenwert der Armutsfrage in der politischen Kultur beider Länder freizulegen.

Untersuchungszeitraum und -gegenstand Der Mehrwert eines Vergleichs hängt maßgeblich von der Wahl der zu vergleichenden Objekte und den verwendeten Kategorien ab. Für diese Gegenüberstellung der Armutsdebatten fiel die Wahl auf Frankreich und die Bundesrepublik, weil die im Folgenden noch auszuführenden Ähnlichkeiten in der Beschaffenheit beider Sozialstaaten, der wirtschaftlichen Entwicklung beider Länder und der Akteurskonstellation hier eine gute Grundlage bieten. Trotz dieser Ähnlichkeiten bestehen im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand auch Unterschiede zwischen beiden Ländern, die im Folgenden ebenfalls aufgezeigt werden sollen. Denn nur wenn strukturelle Unterschiede schon im Voraus identifiziert wurden, kann die Analyse fruchtbar sein. 73

S, Zur Praxis der Erforschung politischer Sprachen, S. 172 f.

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Einleitung

Eckdaten Die skizzierten Veränderungen des Armutsrisikos, denen hier besondere Aufmerksamkeit gilt, sowie die Wandlungsprozesse in Wirtschaft und Gesellschaft zeichnen sich seit den 1970er Jahren ab. Aus diesem Grund erschien es sinnvoll, das Jahr 1970 als Anfangspunkt der Analyse auszuwählen. Um eventuelle Auswirkungen des Jahres 1968 auf die Armutsdebatte ebenfalls zu berücksichtigen, geht der Blick zunächst auch kurz über die Grenze des Jahrzehnts hinaus und zurück auf das Ende der 1960er Jahre. Das Enddatum 1990 wurde vor allem vor dem Hintergrund der Ereignisse in Deutschland gewählt, wo die Wiedervereinigung der Bundesrepublik mit der DDR eine Fülle neuer sozialer Herausforderungen mit sich brachte, deren Diskussion in dieser Arbeit nicht mehr untersucht werden soll. Daher endet die Untersuchung des deutschen Fallbeispiels mit dem Auslaufen der Debatte um die neue Armut am Ende der 1980er Jahre. Für den französischen Fall bietet sich ganz konkret das Jahr 1988 als Endpunkt an, denn mit dem im Dezember jenes Jahrs verabschiedeten Gesetz über das garantierte Mindesteinkommen trat die französische Armutspolitik in eine neue Phase ein. Wie sich der Diskurs danach weiterentwickelte, muss weiteren Forschungen vorbehalten bleiben. Wirtschaftliche Entwicklung Wie viele andere westeuropäische Länder erlebten Frankreich und die Bundesrepublik in den drei Jahrzehnten nach 1945 ein Wirtschaftswachstum von bis dato ungekannter Dimension. Allerdings waren die Voraussetzungen dafür höchst unterschiedlich, denn während sich die Bundesrepublik in den 1950er Jahren längst zu einem Industrieland entwickelt hatte, war Frankreich in der gleichen Zeit noch deutlich agrarisch geprägt74 . Entsprechend lagen die wirtschaftlichen Wachstumsraten der Bundesrepublik in den 1950er Jahren zunächst noch deutlich über dem französischen Niveau. Auch optierten beide Länder lange für unterschiedliche Wege der Wirtschaftspolitik: Während Frankreich sich für die staatliche Planung der Wirtschaft entschied, war in der Bundesrepublik ein Trend zur Liberalisierung und zum Abbau staatlicher Intervention zu beobachten. Die Wachstumsraten beider Länder näherten sich in den 1960er Jahren jedoch in Folge der schnellen Industrialisierung Frankreichs einander an75 . Hartmut Kaelble verweist außerdem darauf, dass sich Frankreich und die Bundesrepublik in dieser Zeit auch im Hinblick auf ihre Wirtschafts- und 74

75

In den 1950er Jahren arbeiteten in Frankreich noch zwei Fünftel der Beschäftigten in der Landwirtschaft, vgl. Hartmut K, Nachbarn am Rhein. Entfremdung und Annäherung der französischen und deutschen Gesellschaft seit 1880, München 1991, S. 156. Ibid., S. 152.

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Branchenstruktur, ihre Sozialstruktur und die Konsumstile der Bevölkerung anglichen76 . Für beide Länder endete das spektakuläre wirtschaftliche Wachstum in den 1970er Jahren. Es handelte sich hier um eine Entwicklung, die alle Staaten Westeuropas erfasste, wenn auch in unterschiedlicher Intensität. Eine wichtige Zäsur der ökonomischen Entwicklung stellte der erste Ölpreisschock von 1973 dar. Er war sicher nicht allein der Auslöser für die folgende krisenhafte Entwicklung der Wirtschaft, sondern verstärkte teilweise nur Tendenzen, die zuvor bereits feststellbar waren77 . Allerdings verdeutlichen die Statistiken den Zäsurcharakter der Mitte der 1970er Jahre. Für Frankreich illustriert der Index der industriellen Produktion die abrupte Verlangsamung des Wirtschaftswachstums. Zwischen 1974 und 1977 stieg dieser kaum an78 . Sirinelli bilanziert: »Dans la seconde partie des années 1970, la France devint brusquement orpheline de sa très forte croissance économique des trois décennies précédentes«79 . Die folgenden Jahre brachten keine Erholung mit sich, sondern mit dem zweiten Ölpreisschock 1979/80 zunächst einen weiteren Einbruch der Konjunktur. Sowohl die Inflation als auch die Arbeitslosenquote stiegen in der gleichen Zeit steil an. Letztere wuchs allerdings in Frankreich schon seit dem Ende der des vorausgehenden Jahrzehnts. Nachdem sie in den 1960er Jahren zunächst bei unter zwei Prozent gelegen hatte, kletterte sie 1968 schon auf 2,6 Prozent. Auch hier zeigt die Statistik seit der Mitte der 1970er Jahre jedoch eine drastische Verschärfung der Tendenz, denn zwischen 1974 und 1975 stieg die Arbeitslosenquote abrupt von 2,8 auf vier Prozent an und behielt diesen Trend bei; 1985 überschritt sie erstmals die Zehn-Prozent-Grenze und blieb bis zum Ende der 1980er Jahre auf einem ähnlich hohen Niveau80 . Die Bundesrepublik hatte eine erste wirtschaftliche Rezession schon 1966/67 erlebt. Kurz danach waren die Wachstumsraten zwar wieder in die Höhe geklettert, jedoch hielten sie sich anschließend nicht auf dem Niveau der vorigen Jahrzehnte. Auch in der Bundesrepublik war die wirtschaftliche Entwicklung in den 1970er Jahren durch verlangsamtes Wachstum und Instabilität gekennzeichnet81 . Im Unterschied zu Frankreich hielt sich dort jedoch die Arbeitslosenquote in den 1970er Jahren noch auf einem deutlich niedrigeren Niveau. Nachdem sie zwischen 1968 und 1973 sogar bei unter einem Prozent gelegen hatte, stieg sie nach 1973 langsam an, lag aber auch am Ende des Jahrzehnts noch bei unter vier Prozent. Erst in den 1980er Jahren breitete sich die Arbeitslosigkeit auch in der Bundesrepublik deutlich aus. Ihren Höchststand im Untersuchungszeitraum erreichte sie im Jahr 1983 mit acht Prozent. Auch 76 77 78 79 80 81

Ibid., S. 151–167. D-M/R, Nach dem Boom, S. 53. S, Les Vingt Décisives, S. 169. Ibid. 40 ans de politique de l’emploi, hg. v. DARES, Paris 1996, S. 363. Werner A, Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, Bonn 2004, S. 288–294.

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die langsame Erholung der Konjunktur änderte daran nichts. Zwar war auf eine erneute Rezession zu Beginn der 1980er Jahre eine Periode des kontinuierlichen realen Wirtschaftswachstums gefolgt. Allerdings hatte der Aufschwung, der keineswegs mit den Dimensionen des Wirtschaftswachstums der direkten Nachkriegszeit verglichen werden kann, es nicht geschafft, die Arbeitslosigkeit zu reduzieren, denn sie nahm bis zum Ende des Jahrzehnts nur leicht ab82 . Die deutsche Arbeitslosenquote lag damit immer noch auf einem deutlich niedrigeren Niveau als die französische, beide Länder waren jedoch insgesamt mit dem gleichen Problem konfrontiert, nämlich der Herausbildung einer strukturellen Arbeitslosigkeit. Eingebettet war diese Entwicklung auch in beiden Fällen in den gleichen wirtschaftlichen Kontext, nämlich den Umbruch vom spektakulären wirtschaftlichen Wachstum zu einer instabilen Konjunkturentwicklung auf deutlich niedrigerem Niveau. Neue Armutsrisiken Was Armut ist und wer arm ist, darüber kann lange diskutiert und gestritten werden, denn für die Definition von Armut existiert eine Vielzahl konkurrierender Vorschläge. Entsprechend schwierig ist es, die Entwicklung der Armut in beiden Ländern in Zahlen zu erfassen und zu vergleichen. Trotzdem soll hier – nach einer kurzen Systematisierung der verschiedenen Definitionsansätze – ein Blick auf die empirische Entwicklung der Armut in Frankreich und in der Bundesrepublik geworfen werden, um so gemeinsame Tendenzen dieser Entwicklung herauszuarbeiten. Der am meisten verbreitete Ansatz zur Definition von Armut schlägt vor, das Phänomen als reines Einkommensproblem zu betrachten. Arm sind in dieser Perspektive all diejenigen, deren Einkommen unter der Grenze eines bestimmten Prozentsatzes des durchschnittlichen Einkommens der Haushalte insgesamt liegt. Entscheidet man sich für diesen monetären Ansatz, bleibt die Frage offen, wo die Armutsschwelle fixiert wird. Häufig wird die 50-ProzentGrenze genutzt, aber auch Haushalte mit weniger als 40 oder 60 Prozent des durchschnittlichen Haushaltseinkommens wurden schon als arm diskutiert83 . Vor allem aber riskiert der Ansatz mit seinem Fokus auf dem Einkommen, die tatsächliche Lebenssituation der Menschen nicht zu erfassen. Denn wie diese effektiv versorgt sind, welches Leben ihnen das jeweilige Einkommen ermöglicht, darüber sagen diese Zahlen nichts aus. Ebenso wenig wird ihre Beteiligung am gesellschaftlichen Leben oder ihre Selbstverwirklichung berücksichtigt. Daher wurden in den letzten Jahren verschiedene alternative Vorschläge gemacht, um Armut zu definieren und zu messen. So wird inzwischen mit dem subjektiven Ansatz versucht, durch die Befragung von Be82 83

Andreas W, Abschied vom Provisorium. 1982–1990, München 2006, S. 225–228. P, Les formes élémentaires de la pauvreté, S. 1–5.

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troffenen deren Armut zu erfassen. Der Lebenslagenansatz untersucht hingegen die Versorgung etwa mit Kleidung, Nahrung, Elektrizität sowie die Gesundheit und die Arbeitsbedingungen, um damit die Frage nach dem Einkommen der Betroffenen um die Frage nach ihrer effektiven Lebenssituation zu erweitern84 . Neben diesen Versuchen zur Armutsmessung wurden außerdem verschiedene neue deskriptive Vorschläge gemacht. Einen wichtigen Vorstoß in dieser Hinsicht stellen Amartya Sens Überlegungen über die capabilities dar. Sie gehen von der Grundidee aus, dass Armut nicht nur ein Problem des Einkommensoder Konsumniveaus, sondern eine Frage der Verwirklichungschancen des Individuums darstellt. Sen fordert in dieser Perspektive dazu auf, nicht nur materielle Güter, sondern auch die Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe, freier Meinungsäußerung oder Selbstachtung als Kriterien zur Definition von Armut heranzuziehen85 . Aufgrund dieser Vielzahl von Definitionen können die Armutszahlen also stark variieren. Eine weitere Ursache für unterschiedliche Aussagen der Armutsstatistik stellen darüber hinaus deren unterschiedliche Datengrundlagen dar. Verschiedene Institutionen in der Mitte der 1970er Jahre haben versucht, die Einkommensarmut in Frankreich in Zahlen zu fassen. Obwohl drei von ihnen als Armutsschwelle die 50-Prozent-Grenze anlegten, errechneten sie aufgrund unterschiedlicher zugrunde gelegter Einkommensstatistiken verschiedene Armutsquoten. So diagnostizierte die Europäische Gemeinschaft (EG) 14,8 Prozent Arme in Frankreich86 , die Direction de l’action sociale (DAS) 16,3 Prozent87 und das Centre d’études des revenus et des coûts (CERC) nur 10,2 Prozent88 – alle für das Jahr 1975. Wie viele Menschen im Untersuchungszeitraum als arm zu bezeichnen waren und ob es in Frankreich nun mehr oder weniger Arme als in der Bundesrepublik gab, kann also nicht eindeutig beantwortet werden. Dennoch sollen die Statistiken nicht schon an dieser Stelle beiseitegelegt werden. Vielmehr sollen aus ihnen einige Entwicklungstendenzen herausgearbeitet werden – gleichwohl ohne den Anspruch, sie in einer Zahl auszudrücken. Die eben vorgestellten Statistiken über die Armut in Frankreich bezifferten die Einkommensarmut für die Mitte der 1970er Jahre alle unterschiedlich. Die Zahlen differierten auch für die Folgejahre, wenn die Institute ihre Beobachtungen denn weiterführten. Allerdings zeichnete sich eine gemeinsame Tendenz ab, nämlich, dass die relative Einkommensarmut bis zum Ende der 1970er Jahre absank, um sich dann im Laufe der 1980er Jahre auf diesem

84 85 86 87 88

Ibid. Amartya S, Inequality Reexamined, New York 1992. Danièle D, La mesure de la pauvreté, in: Recherches et prévisions 14–15 (1988), S. 7–14, hier S. 12. Jean-Hugues D, Pauvretés ancienne et nouvelle en France, in: Revue de l’OFCE 30 (1990), S. 7–33, hier S. 13. Vgl. die Tabelle bei V, La cause des pauvres, S. 438.

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Einleitung

Niveau zu stabilisieren89 . Etwas anders entwickelte sich die Armutsquote in der Bundesrepublik in der gleichen Zeit. Eine Studie, die ebenfalls Personen mit einem Einkommen von unter 50 Prozent des durchschnittlichen Nettoeinkommens als arm definierte, bilanzierte zunächst ein deutliches Absinken der Armutsquote in den 1960er Jahren und dann deren Stabilisierung bei 6,5 Prozent in den 1970er Jahren. Mit diesem Wert lag die deutsche Armutsquote in den 1970er Jahren auch unter der französischen; allerdings näherte sie sich ihr in den 1980er Jahren an, da sie in dem Jahrzehnt leicht anstieg und 1988 dann 8,8 Prozent erreichte90 . Auch diese Zahlen müssen jedoch mit Vorsicht behandelt werden, unter anderem weil in der zugrundeliegenden Einkommensund Verbraucherstichprobe zu diesem Zeitpunkt ausländische Haushalte noch nicht mit eingerechnet wurden91 . Aufgrund dieser und anderer Probleme der Statistik soll die Interpretation der Zahlen hier nicht überstrapaziert werden. Allerdings lassen sie, trotz aller problematischen Aspekte, doch wenigstens zwei Feststellungen zu. Sie illustrieren zum einen, dass Armut auch zu Beginn des Untersuchungszeitraums und damit am Ende der Trente Glorieuses in beiden Ländern präsent war. Entgegen vielen zeitgenössischen Annahmen hatte das Wirtschaftswachstum die Armut keineswegs beseitigt. Zum anderen zeigen sie, dass die krisenhafte Entwicklung der Wirtschaft in den 1970er Jahren in beiden Ländern nicht zu einer Explosion der Armut geführt hat. Stattdessen ging die relative Einkommensarmut in Frankreich sogar bis zum Ende der 1970er Jahre noch leicht zurück, um sich in den 1980er Jahren zu stabilisieren, während sie in der Bundesrepublik zunächst konstant war und dann in den 1980er Jahren leicht anstieg. Ein vertiefter Blick auf die Armutsstatistik offenbart weitere interessante Tendenzen, die sich wieder für beide Länder ähneln. Es wird einerseits deutlich, dass in beiden Ländern die Abhängigkeit der Bevölkerung von sozialstaatlichen Transfers substantiell anstieg92 . Andererseits legt er wichtige Veränderungen des Armutsrisikos in beiden Ländern frei. Die Statistiken identifizieren Gruppen, die besonders von Armut betroffen waren, und sowohl in Frankreich als auch in der Bundesrepublik waren das nun verstärkt junge Menschen. Serge Paugam stellt fest, dass deren Armutsrisiko in Frankreich in den 1980er Jahren deutlich über dem allgemeinen Armutsrisiko der Bevölkerung lag. Richard Hauser diagnostiziert für den gleichen Zeitraum in der Bundesrepublik gar 89

90 91 92

Nach der DAS sanken die Zahlen von 16,3 auf 12,3 % ab; das CERC sprach von einem Rückgang von 10,2 auf 8,8 %, vgl. ibid.; vgl. D, Pauvretés ancienne et nouvelle, S. 13. Richard H, Wolfgang V, Armut und Armutspolitik in Deutschland, in: ZSR 44 (1998), S. 308–337, hier S. 314. Ibid. Richard H, Das empirische Bild der Armut in der Bundesrepublik Deutschland – ein Überblick in: APuZ 31–32 (1995), S. 3–13, hier S. 5; Serge P, Von der Armut zur Ausgrenzung. Wie Frankreich eine neue soziale Frage lernt, in: ZSR 44 (1998), S. 339–358, S. 344.

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Untersuchungszeitraum und -gegenstand

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eine »Infantilisierung der Armut«93 und verweist damit auf die wachsende Verarmung von Kindern und Jugendlichen. Im gleichen Zeitraum sank die Armut alter Menschen, die in den vorausgehenden Jahrzehnten noch überdurchschnittlich oft von Armut betroffen waren, in beiden Ländern deutlich ab94 . Eine Verschiebung des Armutsrisikos vom einen Extrem der Alterskette zu anderen ist also für beide Länder feststellbar. Das Phänomen stand zweifellos im Zusammenhang mit der Entwicklung des Arbeitsmarkts in dieser Zeit, denn in beiden Ländern waren junge Menschen besonders stark von Arbeitslosigkeit betroffen95 . Die steigende Armut von Arbeitslosen insgesamt lässt sich als weiteres gemeinsames Problem beider Länder festhalten. Nachdem in der Bundesrepublik im ersten Drittel der 1970er Jahre Sozialhilfebezug und Arbeitslosigkeit noch kaum zusammengehangen hatten, entwickelte sich Arbeitslosigkeit in den 1980er Jahren zum Hauptgrund für den Bezug der im Bundessozialhilfegesetz (BSHG) vorgesehenen monatlichen Mindestunterstützung96 . Das Armutsrisiko eines Haushalts mit mindestens einem Arbeitslosen war in dieser Zeit dreimal so hoch wie das Armutsrisiko der übrigen Bevölkerung97 . Auch in Frankreich waren Arbeitslose verstärkt von Armut betroffen98 . Die Armutsstatistik der Bundesrepublik stellt als weitere Gruppe mit einem deutlich ansteigenden Armutsrisiko die ausländische Bevölkerung heraus. In den 1980er Jahren lag deren Risiko, zu verarmen, ungefähr doppelt so hoch wie das der Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit99 . Dass diese Situation in Frankreich ähnlich war, kann an dieser Stelle nur vermutet, aber nicht mit Zahlen belegt werden, da in französischen Statistiken die ausländische Bevölkerung nicht gesondert erfasst wurde. Da die ausländischen Arbeitnehmer in Frankreich ebenfalls besonders von Arbeitslosigkeit betroffen waren100 , kann vermutet werden, dass auch ihr Armutsrisiko nach 1970 anstieg. Indes war Arbeitslosigkeit nicht die alleinige Ursache für die Verarmung neuer Bevölkerungsgruppen. Eine weitere Gruppe, deren Armutsrisiko in beiden 93 94

95

96

97 98 99 100

H, Das empirische Bild der Armut, S. 8. In der Bundesrepublik unterschritt die Armutsquote der Menschen über 65 sogar erstmals die Armutsquote der Bevölkerung insgesamt, vgl. H, V, Armut und Armutspolitik, S. 316. Thomas R, Jugendarbeitslosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland und in Frankreich in den 1970er und 1980er Jahren, in: D., S (Hg.), Die Rückkehr der Arbeitslosigkeit, S. 67–80. Marcel B, Die »neue soziale Frage« und die »neue Armut« in den siebziger Jahren. Sozialhilfe und Sozialfürsorge im deutsch-deutschen Vergleich, in: J (Hg.), Das Ende der Zuversicht?, S. 140–142. H, V, Armut und Armutspolitik, S. 316. P, Von der Armut zur Ausgrenzung, S. 342. H, V, Armut und Armutspolitik, S. 317. Adrian S, Poverty and Inequality in France, in: Vic G, Roger L (Hg.), Poverty and Inequality in Common Market Countries, London 1980, S. 92–123.

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Einleitung

Ländern nach 1970 stark anstieg, stellen Alleinerziehende dar. In Frankreich war deren Armutsquote in der Mitte der 1980er Jahre bereits doppelt so hoch wie die der übrigen Bevölkerung101 . Eine noch extremere Entwicklung weist die Bundesrepublik auf, wo die Armutsquote der Alleinerziehenden schon 1962 doppelt so hoch war wie die der übrigen Bevölkerung und bis 1995 sogar auf das Dreifache anstieg102 . Insgesamt waren Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland also mit sehr ähnlichen Schwierigkeiten konfrontiert, nämlich mit der Herausbildung neuer Armutsrisiken für die gleichen Bevölkerungsgruppen. Die komparative Analyse kann offenlegen, wie beide Länder mit diesem gleichen Problem umgingen. Deutsches und französisches System der sozialen Sicherung Prinzipiell ähnelten sich im Untersuchungszeitraum die sozialen Sicherungssysteme in Frankreich und der Bundesrepublik. Beide Länder verfügten also über ähnliche Strukturen, um auf diese neuen Probleme zu reagieren. Der deutsche und der französische Sozialstaat finden sich in der von Gøsta Esping-Andersen vorgenommenen dreigeteilten Klassifikation von Wohlfahrtsstaaten als Vertreter des konservativ-korporatistischen Typus in der gleichen Gruppe wieder103 . Die Kategorisierung des dänischen Soziologen wurde inzwischen vielfach kritisiert und weiterentwickelt104 . Zudem haben einige Forscher die Einordnung Deutschlands und Frankreichs in die gleiche Kategorie angezweifelt; bezüglich des französischen Falls wurde insbesondere für eine spezifische »protection sociale à la française« argumentiert105 . Dies soll jedoch an dieser Stelle nicht vertieft werden. Sicher sind Unterschiede beider Sozialstaaten im Detail nicht von der Hand zu weisen. Jedoch verbindet beide Länder, dass sie sich für ein System der Sozialversicherung entschieden haben, das nicht den Staatsbürger, sondern den Lohnarbeiter absichert, da es nicht durch Steuern finanziert wird, sondern aus Beiträgen. In Deutschland haben dafür die ersten Sozialgesetze Bismarcks schon in den 1880er Jahren das Fundament gelegt. In Frankreich fiel die Entscheidung erst mit der Einführung der Sécurité sociale 1945; seitdem ist jedoch auch vom französischen System als »bismarckien« die Rede106 .

101 102 103 104 105

106

P, Von der Armut zur Ausgrenzung, S. 345. H, V, Armut und Armutspolitik, S. 316. Gøsta E-A, The Three Worlds of Welfare Capitalism, Cambridge 1990. Stephan L, Ilona O (Hg.), Welten des Wohlfahrtskapitalismus. Der Sozialstaat in vergleichender Perspektive, Frankfurt a. M. 1998. Bernard F, Puissances du salariat. Emploi et protection sociale à la française, Paris 1998; auch bei Merrien findet sich eine ähnliche Argumentation, vgl. M, L’Étatprovidence. B, Solidarität im Vorsorgestaat, S. 19–24.

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Untersuchungszeitraum und -gegenstand

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Zudem haben beide Länder dieses Sozialversicherungssystem durch ein steuerfinanziertes System der Sozialhilfe ergänzt, das der gesamten Bevölkerung offenstand. Dieses unterste Netz der sozialen Sicherung war wiederum in beiden Fällen unterschiedlich organisiert. In der Bundesrepublik bestand mit der im BSHG vorgesehenen »Hilfe zum Lebensunterhalt« seit 1961 eine generelle, bedarfsabhängige Mindestsicherung107 . In Frankreich hingegen war vor 1988 die Sozialhilfe in verschiedene kategorielle minima sociaux aufgegliedert, die nur gegen bestimme Risiken absicherten, wie beispielsweise Alter oder Behinderung. Eine allgemeine Mindestsicherung, die auch diejenigen absicherte, die nicht in eine dieser Kategorien fielen, existierte vor 1988 noch nicht108 . Da es in dieser Arbeit jedoch gerade um diejenigen geht, die potentiell auf das unterste Netz des sozialen Sicherungssystems angewiesen waren, muss dieser Aspekt bei der Analyse berücksichtigt werden. Parteipolitische Konstellation Die Analyse konzentriert sich auf die in beiden nationalen Parlamenten vertretenen Parteien. Für die Bundesrepublik waren dies in den 1970er Jahren zunächst die CDU, die FDP und die SPD; eine vierte Partei kam 1983 mit den Grünen hinzu. Weniger übersichtlich ist die Situation in der französischen Nationalversammlung, da das französische Parteiensystem durch eine größere Zersplitterung und Instabilität gekennzeichnet ist. Die beiden hier untersuchten Jahrzehnte war insgesamt vor allem von der Herausbildung der sogenannten quadrille bipolaire gekennzeichnet, der Konstellation von je zwei etwa gleich starken Parteien des linken und des rechten Spektrums. Neben dem kommunistischen PCF (Parti communiste français) war dies der sozialistische PS (Parti socialiste) auf der einen Seite und die liberal-konservative Parteienunion UDF (Union pour la démocratie française) sowie die häufig den Namen wechselnde gaullistische Partei (ab 1978: Rassemblement pour la République, RPR) auf der anderen. Eine grüne Partei war im französischen Parlament im Unterschied zur Bundesrepublik noch nicht vertreten. Allerdings zog auch in Frankreich in den 1980er Jahren eine neue Partei ins französische Parlament ein, nämlich 1986 der rechtsextreme Front national (FN)109 . 107

108 109

Zur Begriffsklärung: »Hilfe zum Lebensunterhalt« ist die korrekte Bezeichnung für diese monatliche Mindestsicherung im Rahmen des BSHG. In der Bundesrepublik wurde sie jedoch oft verkürzt als »Sozialhilfe« bezeichnet. Dies ist insofern nicht korrekt, als im Bundessozialhilfegesetz nicht nur diese Hilfe zum Lebensunterhalt vorgesehen war, sondern auch die »Hilfe in besonderen Lebenslagen«. Auch die im Folgenden analysierten Akteure unterschieden oft nicht sauber zwischen diesen Konzepten. Wenn im Folgenden aus den Quellen zitiert wird, wird daher oft von »Sozialhilfe« die Rede sein, auch wenn die Akteure eigentlich die Hilfe zum Lebensunterhalt meinten. B, Solidarität im Vorsorgestaat, S. 89–106. Éric A, Les partis politiques en France, Paris 2 2008, S. 69–124; S, U, Frankreich, S. 38–67.

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Einleitung

In Folge der Instabilität des Parteiensystems sind in Frankreich Regierungswechsel – im Untersuchungszeitraum, aber auch insgesamt – häufiger als in der Bundesrepublik. In beiden Ländern läutete jedoch der Beginn der 1980er Jahre einen einschneidenden politischen Wechsel ein. Allerdings in unterschiedlicher Hinsicht, denn während in der Bundesrepublik 1982 die sozialliberale Koalition nach 13 Jahren Regierungszeit durch eine christlich-liberale Koalition abgelöst wurde, wählte Frankreich 1981 mit François Mitterrand erstmals einen sozialistischen Präsidenten und eine sozialistische Regierung löste im gleichen Jahr die konservativen Vorgänger ab, die seit Beginn der V. Republik alle Regierungen gestellt hatten110 . Verbände und ihre Position im Sozialstaat Zwei französische und drei deutsche Verbände wurden für die Analyse ausgewählt. Dass die französischen sich von den deutschen Verbänden im Hinblick auf ihre Größe, Struktur, finanziellen Mittel und die Anzahl der Mitarbeiter unterscheiden, wird auf den ersten Blick deutlich. Die deutschen Verbände erscheinen als größer und finanziell besser aufgestellt. Dies geht zurück auf ihre unterschiedliche historische Genese. Die französischen Verbände sind im Vergleich jünger. Der Secours catholique etwa wurde 1946 gegründet, nachdem der Priester Jean Rodhain von der französischen Bischofskonferenz den Auftrag bekommen hatte, die zu diesem Zeitpunkt noch zersplitterten katholischen Hilfswerke zu vereinigen. Seitdem spannte der Verband, der als einziger der karitativen Verbände eine formelle Verbindung zur Kirche unterhält, sein Netz von Paris ausgehend über ganz Frankreich aus. Im Untersuchungszeitraum war dieser Prozess noch nicht abgeschlossen, sondern der Verband war noch mit dem Aufbau seiner Strukturen beschäftigt111 . Auch auf ATD Quart Monde trifft dies zu. Dessen Geschichte begann sogar noch später: Erst 1957 hatte der katholische Priester Joseph Wresinski ihn im Obdachlosenlager von Noisy-le-Grand im Osten der Großregion Paris gegründet. Sein Aktionsradius blieb zunächst auf dieses Lager begrenzt und dehnte sich erst in den folgenden Jahrzehnten nach und nach auf ganz Frankreich aus. Da ATD Quart Monde keine offizielle Verbindung zur Kirche unterhielt und anfangs sogar Probleme hatte, als Verband anerkannt zu werden, blieben die Zahl seiner Mitarbeiter und der Umfang seiner finanziellen Mittel in den Jahren nach seiner Gründung zunächst gering112 . Im Unterschied dazu kann die Geschichte der hier untersuchten deutschen Verbände teilweise bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgt werden, zumindest 110 111 112

S, Les Vingt Décisives, S. 213–226. G, Une histoire de la grande pauvreté, S. 185–200; Kap. I.1 stellt den Verband außerdem noch ausführlich vor. V, Le rôle des associations; Kap. I.2 gibt weitere Informationen über ATD Quart Monde.

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Untersuchungszeitraum und -gegenstand

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bei Diakonischem Werk und Caritasverband. Die Vorläuferorganisation für Ersteres, der Centralausschuss für Innere Mission, wurde von Johann Hinrich Wichern bereits 1848 gegründet, und zwar zunächst außerhalb der protestantischen Amtskirche. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde er ergänzt durch eine kircheneigene Einrichtung, das Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland. Beide Werke wurden 1957 zusammengelegt; seit 1975 bildeten sie gemeinsam das Diakonische Werk der evangelischen Kirche in Deutschland, das offiziell von allen evangelischen Landeskirchen getragen wird. Die Gründung des Caritasverbandes durch den katholischen Priester Lorenz Werthmann erfolgte 1897. Im Unterschied zum protestantischen Verband war die Caritas als Organisation innerhalb der katholischen Kirche gegründet worden. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs schließlich gründete 1919 die Sozialdemokratin Maria Juchacz die Arbeiterwohlfahrt. Der Verband wurde 1933 verboten und 1945 neu gegründet; er war seitdem offiziell parteipolitisch und konfessionell unabhängig, ideell jedoch noch stark mit der Sozialdemokratie verbunden113 . Zu Beginn der 1970er Jahre konnten die deutschen Verbände also bereits auf eine lange Geschichte zurückblicken und über Jahrzehnte aufgebaute Strukturen nutzen – im Unterschied zu den jüngeren französischen. Vor allem aber erklärt die jeweils unterschiedliche Verbindung der deutschen und französischen Verbände zum Sozialstaat, warum diese in der Bundesrepublik über mehr Mitarbeiter, größere finanzielle Ressourcen und besser ausgebaute Strukturen als ihre französischen Pendants verfügen. Denn in der Bundesrepublik profitieren die Träger der freien Wohlfahrtspflege vom Subsidiaritätsprinzip und damit von einer privilegierten Stellung im System sozialer Dienste, die sich durch ihren Vorrang vor öffentlichen Trägern und im Anspruch auf staatliche Finanzierung ausdrückt. Anders in Frankreich, wo ein solches Prinzip nicht existiert und der Staat mit seinen Einrichtungen politischen und administrativen Vorrang hat114 . Der unterschiedliche Status der Verbände wirkt sich massiv auf deren Größe, Aufgabenfeld und finanzielle Mittel aus. Rolf G. Heinze, Josef Schmid und Christoph Struenck bezeichnen die deutschen Wohlfahrtsverbände aufgrund des breiten sozialen Dienstleistungsspektrums, das sie bieten, als »Sozialkonzerne«115 . Für die 113

114 115

Florian T, Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege im dualen Wohlfahrtsstaat. Ein historischer Rückblick auf die Entwicklung in Deutschland, in: Soziale Arbeit 41 (1992), S. 342–356; Ewald F, Caritas und soziale Verantwortung im gesellschaftlichen Wandel, in: Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften 38 (1990), S. 21–42; Thomas O, Die Diakonie im westdeutschen Sozialstaat, in: Ursula R, Carola J (Hg.), Die Macht der Nächstenliebe. Einhundertfünfzig Jahre Innere Mission und Diakonie, 1848–1998, Stuttgart 1998, S. 274–285. Thomas B, Wege zum Dienstleistungsstaat. Deutschland, Frankreich und Großbritannien im Vergleich, Wiesbaden 2007, S. 74–79. Rolf G. H, Josef S, Christoph S, Zur politischen Ökonomie der sozialen Dienstleistungen. Der Wandel der Wohlfahrtsverbände und die Konjunkturen der Theoriebildung, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 49 (1997), S. 242–271, hier S. 246.

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Einleitung

französischen Verbände trifft diese Bezeichnung nicht zu. Zwei Zahlen können dies beispielhaft verdeutlichen: Die Anzahl der hauptamtlichen Mitarbeiter des Secours catholique im Untersuchungszeitraum lag bei knapp unter 800 Beschäftigten116 . Der DCV dagegen, der wie die anderen deutschen Spitzenverbände der Wohlfahrtspflege unter anderem Träger von Krankenhäusern, Kindertagesstätten und Seniorenheimen ist, beschäftigte am Ende der 1980er Jahre schon 347 566 Mitarbeiter117 . Er finanzierte sich zu einem Großteil aus staatlichen Mitteln, während sich der französische Verband vor allem auf Spenden stützte. Das erklärt die unterschiedlich ausgebauten Strukturen der Verbände beider Länder. Gleichzeitig deutet sich hier auch ein Abhängigkeitsverhältnis an, das wiederum in der Bundesrepublik deutlich stärker ausgeprägt ist als in Frankreich. Für die Analyse im Hinblick auf ihre eventuellen Impulse für die Beschäftigung der Parteien und Regierungen mit der Armutsfrage muss dies in jedem Fall berücksichtigt werden. Die Darstellung des Untersuchungsgegenstands hat ein hohes Maß an Ähnlichkeiten zwischen beiden Ländern ergeben. Unterschiede bestehen zwar vor allem im Hinblick auf das unterste Netz der sozialen Sicherung, die Position der Verbände im Sozialstaat und die parteipolitische Konstellation. Insgesamt werden im Folgenden jedoch zwei ähnliche Sozialstaaten betrachtet, die durch das gleiche Problem herausgefordert wurden. Auf welche Art und Weise sie ihm begegneten, wird diese Arbeit offenlegen.

116 117

Ingo B, Transformationspfade intermediärer Wohlfahrtsproduktion. Die Entwicklung der Caritas im deutsch-französischen Vergleich, Duisburg 2002, S. 50. F, Caritas und soziale Verantwortung, S. 39.

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I. »Sozialfälle« und »soziale Ungleichheiten«: die französische Armutsdebatte in den 1970er Jahren

»Il s’est bien passé quelque chose d’historiquement décisif en France au milieu de ces années 1970«1 . Mit diesem Hinweis auf eine historische Zäsur in der Mitte des Jahrzehnts leitet Jean-François Sirinelli seine Ausführungen zu den 1970er Jahren in Frankreich ein. Der Historiker erläutert anschließend verschiedene Entwicklungen in dieser Zeit, insbesondere im sozioökonomischen Bereich, die er als Brüche und historische Wendepunkte identifiziert2 . Obwohl sicher einige dieser Prozesse ihren Ursprung schon in den 1960er Jahren hatten oder sich auch teilweise erst in den 1980er Jahren voll entfalteten, ist nicht zu leugnen, dass sie sich gerade in der Mitte der 1970er Jahre deutlich beschleunigten. So treten die Auswirkungen des ersten Ölpreisschocks auf die französische Wirtschaft aus der Statistik klar hervor. Diese verweist auf eine abrupte Verlangsamung des Wirtschaftswachstums schon im Laufe des Jahres 19743 , eine deutlich ansteigende Inflationsrate4 sowie den sprunghaften Anstieg der Arbeitslosigkeit5 . Eindeutig lässt sich die Mitte der 1970er Jahre damit als Zäsur für die französische Wirtschaft beschreiben, die dem Wachstum der Trente Glorieuses ein Ende setzte. Dieses Kapitel stellt die Frage, ob diese allgemeinwirtschaftliche Zäsur auch einen Bruch der Armutsdebatte bedeutet. Wirken sich die wirtschaftlichen Umbrüche auch auf die Diskussion von Armut aus und entsprang aus ihnen ein neues politisches Interesse für dieses Thema? Bei der Analyse ist zu berücksichtigen, dass die krisenhafte Entwicklung der Wirtschaft in den 1970er Jahren keinen sprunghaften Anstieg materieller Bedürftigkeit nach sich zog. Sie brachte allerdings einige neue Armutsrisiken 1 2 3

4 5

S, Les Vingt Décisives, S. 169. Ibid., S. 168–173. Zwischen 1962 und 1974 war der Index der industriellen Produktion in Frankreich um 100 % angestiegen, dagegen zwischen 1974 und 1983 nur noch um weniger als 10 %, vgl. S, Les Vingt Décisives, S. 169; Serge B, Pierre M, Histoire de la France au XXe siècle de 1974 à nos jours, Paris 2 2006, S. 16–22. 15,2 % im Jahr 1974, vgl. S, Les Vingt Décisives, S. 169. Ein Anstieg der Arbeitslosigkeit hatte sich in Frankreich schon seit dem Ende der 1960er Jahre abgezeichnet. 1968 lag die Arbeitslosenquote schon bei 2,6 %; in den folgenden Jahren pendelte sie sich knapp unter 3 % ein. Der erste Ölpreisschock beschleunigte diese Entwicklung jedoch deutlich, denn die Anzahl der Arbeitslosen verdoppelte sich allein im Laufe des Jahres 1974. Bis zum Ende des Jahrzehnts stieg die Arbeitslosenquote weiter an und überschritt die 6 %-Grenze, vgl. S, Les Vingt Décisives, S. 171; 40 ans de politique de l’emploi, S. 363.

https://doi.org/10.1515/9783110613087-part01

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I. Die französische Armutsdebatte in den 1970er Jahren

mit sich, die hier besonders interessieren. Insbesondere die Ausbreitung der materiellen Notlagen unter Arbeitslosen, verstärkt auch jungen Arbeitslosen, stand in engem Zusammenhang mit den wirtschaftlichen Konjunktureinbrüchen. Außerdem bedeutete die Mitte der 1970er Jahre für Frankreich neben der wirtschaftlichen auch eine politische Zäsur. Bei den Präsidentschaftswahlen im April 1974, die auf den Tod Pompidous gefolgt waren, setzte sich der Kandidat Valéry Giscard d’Estaing durch. Erstmals in der V. Republik wurde damit ein Nicht-Gaullist zum Präsidenten gewählt, der übrigens auch mit zahlreichen Reformversprechen und der Ankündigung einer »ère nouvelle de la politique française«6 antrat. Neben der wirtschaftlichen Zäsur könnte auch diese politische Zäsur Auswirkungen auf die Diskussion von Armut haben. Ob dies der Fall ist, soll im Folgenden untersucht werden. Ein weiterer möglicher Impuls zur Beschäftigung mit dem Thema kam darüber hinaus in der gleichen Zeit von der EG. 1975 hatte sie zum ersten Mal die Initiative in diesem Bereich ergriffen und ein erstes europäisches Armutsbekämpfungsprogramm verabschiedet. Unter anderem sah das Programm, in dessen Fokus die Frage nach der Definition des Phänomens und die vergleichende Analyse armutspolitischer Maßnahmen standen, die Erstellung von nationalen Armutsberichten in den neun Mitgliedsstaaten vor7 . Auch hier liegt die Vermutung nahe, dass dieser Impuls der EG Einfluss auf die nationale Debatte nahm und zur Beschäftigung mit dem Thema in Frankreich anregte. Inwiefern diese oder andere Impulse Einfluss auf die französische Armutsdebatte der 1970er Jahre nahmen, soll im Folgenden geklärt werden. Dazu richtet sich der Blick zunächst auf die beiden ausgewählten Verbände, Secours catholique und ATD Quart Monde. Anschließend steht die parteipolitische Diskussion im Zentrum, und zum Schluss die Frage nach den armutspolitischen Maßnahmen.

6 7

Zit. nach Jean-Jacques C, Guy C, Olivier D, Histoire de la Ve République. 1958–2007, Paris 12 2007, S. 218. Die Laufzeit dieses ersten Programms war für 1975 bis 1980 vorgesehen; anschließend folgten 1986–1989 ein zweites und 1990–1994 ein drittes europäisches Armutsbekämpfungsprogramm, vgl. Graham R, Armut und soziale Ausgrenzung: Die neue europäische Agenda für Politik und Forschung, in: ZSR 44 (1998), S. 268–278, hier S. 268; Petra B, Armut und soziale Ausgrenzung im europäischen Kontext. Politische Ziele, Konzepte und vergleichende empirische Analysen, in: APuZ 29–30(2002), S. 29–38, hier S. 29–33.

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1. Die Haltung der Verbände zur Armutsfrage 1.1. Secours catholique: von der Behandlung der »Sozialfälle« zum politischen Engagement für Arme Die spektakuläre wirtschaftliche Expansion in den drei Nachkriegsjahrzehnten hatte bei Teilen der französischen Bevölkerung die Hoffnung geweckt, der Anstieg des gesellschaftlichen Wohlstands würde die Armut beseitigen – oder hätte sie sogar schon beseitigt1 . Dass die karitativen Verbände prinzipiell keine große Gefahr liefen, dieser Fehldeutung zu erliegen, ist zu vermuten, denn schließlich standen sie über ihre alltägliche Arbeit vor Ort in direktem Kontakt mit der Bevölkerung und waren über deren Notlagen informiert. Der Blick auf die Strukturen des französischen Caritasverbandes Secours catholique legt nahe, dass dies auch für diesen Verband angenommen werden kann. Denn sein über ganz Frankreich eng geknüpftes Netz von Regionalverbänden, das vor Ort unter anderem Beratungsstellen, Kleiderkammern und Essensausgaben unterhielt, verband den Secours catholique mit der Bevölkerung und sensibilisierte ihn für deren Bedürfnisse. Im Untersuchungszeitraum war dieses Netz des Secours catholique bereits über ganz Frankreich aufgespannt, auch wenn der Verband noch vergleichsweise jung war. Als einziger französischer Verband, der eine formelle Verbindung zur katholischen Kirche unterhält2 , untersteht er allerdings nicht direkt dem Episkopat, sondern ist unabhängig. Der Einfluss der Kirche manifestiert sich aber durch die Präsenz kirchlicher Vertreter im Verwaltungsrat des Verbandes und wird in der regen spirituellen Praxis des Verbandes sowie in dem in seinem Statut formulierten Hauptziel der Verbreitung christlicher Nächstenliebe deutlich3 . Ausgehend von seinem Hauptsitz in Paris richtete sich der Verband seit seiner Gründung 1946 Vertretungen in den verschiedenen Departements ein. Im Mai 1947 existierten davon dreißig, am Ende der 1960er Jahre waren es schon über hundert. In den ersten Jahren nach seiner Gründung organisierte der Verband vor allem sogenannte campagnes de solidarité, bei denen er 1 2

3

S, Poverty and Inequality in France. Daneben existieren, obwohl der französische Sozialsektor deutlich stärker entkonfessionalisiert ist als der deutsche, in Frankreich zahlreiche weitere karitative Verbände, denen ein christliches Weltbild zugrunde liegt, ohne dass sie dabei institutionell mit der Kirche verbunden sind, wie bspw. Emmaüs oder die Petits Frères des pauvres, vgl. B, Transformationspfade intermediärer Wohlfahrtsproduktion, S. 51. Ibid., S. 50–53.

https://doi.org/10.1515/9783110613087-002

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I. Die französische Armutsdebatte in den 1970er Jahren

zugunsten bestimmter Personengruppen Spenden sammelte: im März 1947 zum Beispiel für die Patienten in Sanatorien, im Oktober des gleichen Jahres für Kleinkinder, 1948 für alte Menschen. Im Laufe der 1950er Jahre gründete der Verband außerdem eine Reihe von Aufnahmezentren. Als erste entstand 1954 in Paris die Cité Notre-Dame, die Wohnraum für Obdachlose bereitstellte. Es folgten weitere Gründungen, hauptsächlich in der Großregion Paris, die sich unter anderem die Aufnahme von Migranten, Müttern mit Kindern oder Arbeitslosen zum Ziel setzten. Ebenfalls in den 1950er Jahren dehnte der Verband sein Engagement, das anfangs noch auf Frankreich begrenzt war, auf andere Länder aus. Insbesondere dem Gründer Jean Rodhain, der bis zu seinem Tode im Jahr 1977 Generalsekretär des Secours catholique war, lag die Situation der sogenannten Entwicklungsländer sehr am Herzen, sodass er die Internationalisierung seines Verbandes resolut vorantrieb4 . In kurzer Zeit hatte der Secours catholique sich damit zum größten karitativen Verband in Frankreich entwickelt. Am Ende der 1980er Jahre unterhielt er 104 über das Land verteilte Vertretungen, 2400 lokale Anlaufstellen und acht Aufnahmezentren. Die Zahl seiner hauptamtlichen Mitarbeiter stieg bis zur Mitte der 1990er Jahre auf 780 an, die der ehrenamtlichen wuchs in der gleichen Zeit auf über 72 000. Ingo Bode weist allerdings in seinem Vergleich des Verbandes mit seinem deutschen Gegenstück darauf hin, dass der Secours catholique mit diesen Zahlen immer noch »ein schwaches Gegenstück zum ›Sozialkonzern‹ Caritas«5 darstellte. Er betont das unterschiedliche Verhältnis der beiden Verbände zu den jeweiligen Sozialstaaten. Wie schon erklärt, räumt in Frankreich kein Subsidiaritätsprinzip den Verbänden Vorrang vor staatlichen Trägerorganisationen ein, was sich insbesondere auf die finanzielle Situation der Verbände auswirkt. Auch im Falle des Secours catholique wird dies deutlich: Nur ein geringer Teil seiner Aktionen wurde durch Mittel aus öffentlichen Haushalten oder Sozialversicherungen finanziert. Stattdessen und im Unterschied zur deutschen Caritas stellt der Verband im Kern eine Spendenorganisation dar6 . Finanzielle Spenden von Privatpersonen oder vermögenden Sponsoren, Sachspenden, aber auch ehrenamtliche Tätigkeit bilden die Grundlage für das Handeln des Verbandes7 . Auf eben dieser Basis hatte der Verband in den Jahrzehnten nach seiner Gründung seine Strukturen ausgebaut und über ganz Frankreich verteilt. Gerade die 2400 lokalen lieux d’accueil, stundenweise geöffnete Hilfebüros, bei denen Menschen in Not um Unterstützung in Form von Finanz- oder Sachbei-

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7

Luc D, Mgr Rodhain et le Secours catholique, Paris 2008, S. 117–224; G, Une histoire de la grande pauvreté, S. 197. B, Transformationspfade intermediärer Wohlfahrtsproduktion, S. 50. Bode zeigt auf, dass im Jahr 2000 nur sieben Prozent der Einnahmen des Verbandes aus öffentlichen Mitteln stammten. Dagegen lag der Anteil von Spenden und Erbschaften an Mitteln des Verbandes im gleichen Jahr bei 70 %, vgl. ibid., S. 58. Ibid., S. 58–65.

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1. Die Haltung der Verbände

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hilfen bitten konnten, aber auch die acht Aufnahmezentren konfrontierten den Verband in seiner täglichen Arbeit mit den aktuellen Notlagen. Aufgrund dieser engen Kontakte zu den Menschen in Not ist prinzipiell davon auszugehen, dass der Verband auch in den Trente Glorieuses für die verschiedenen Armutsrisiken in der Bevölkerung sensibilisiert war. Die Verbandszeitschrift »Messages« bestätigt diese Überlegung. Die Analyse der Jahrgänge von 1970 bis 1980 hat ergeben, dass der Verband in der Zeitschrift seit Beginn des Jahrzehnts regelmäßig wiederkehrend auf die materiellen und sozialen Probleme einer großen Bandbreite von Personengruppen hinwies. Dazu gehörten ausländische Arbeitnehmer8 , Flüchtlinge9 , alte Menschen10 , Jugendliche11 , Behinderte12 , Haftentlassene13 , Einwohner des ländlichen Raums14 , Alleinerziehende15 , Arbeitslose16 , Witwen17 und Obdachlose18 . Die Artikel verdeutlichen, dass der 8

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Lucien B, Les Africains chez nous, in: Messages du Secours catholique 205 (1970), S. 10–12; Jean B, J’ai touché du doigt la grande pitié des migrants, in: Messages du Secours catholique 218 (1971), S. 7 f.; Jean M, Les immigrés parmi nous, in: Messages du Secours catholique 302 (1979), S. 14. N. N., Les réfugiés et les migrants, in: Messages du Secours catholique 218 (1971), S. 5; Hélène G, Les réfugiés d’Indochine, in: Messages du Secours catholique 265 (1975), S. 3; Lucien B, Des cours accélérés de français pour les réfugiés d’Indochine, in: ibid., S. 4. Geneviève N, Agir pour les plus délaissés du 3e âge, in: Messages du Secours catholique 212 (1970), S. 13; N. N., Les retraités en difficulté, in: Messages du Secours catholique 266 (1975), S. 8. Jean B, Les jeunes en désarroi, in: Messages du Secours catholique 236 (1972), S. 8 f.; Louis G, Les malmenés, in: Messages du Secours catholique 242 (1973), S. 7; François G, Des centaines de milliers de jeunes »inutiles«?, in: Messages du Secours catholique 264 (1975), S. 19. Albert R, Les handicapés mentaux, in: Messages du Secours catholique 265 (1975), S. 8–10; N. N., Pour ces »exclus« que sont les handicapés l’écart se creuse, in: Messages du secours catholique 267 (1975), S. 8. Jean B, Le sortant de prison. Réflexions sur un »billet de sortie«, in: Messages du Secours catholique 256 (1974), S. 10; N. N., Deux problèmes: logement – travail, in: Messages du Secours catholique 226 (1972), S. 11. François G, Les cas sociaux d’un tout petit village, in: Messages du Secours catholique 220 (1971), S. 7; D., En milieu agricole aussi, il n’y a pas que des misères matérielles, in: Messages du Secours catholique 235 (1972), S. 19. Jean B, La grande pitié des mères abandonnées, in: Messages du Secours catholique 231 (1972), S. 6 f.; Claire  R, De l’enfant souffrant à la mère en détresse, in: Messages du Secours catholique 303 (1979), S. 9. N. N., Le chômage. Cette plaie qui abîme l’homme, in: Messages du Secours catholique 229 (1972), S. 10–12; Louis G, Autour du chômage, in: Messages du Secours catholique 262 (1975), S. 15; N. N., Au service des victimes du chômage, in: Messages du Secours catholique 271 (1976), S. 12 f. Jean B, »Il est difficile d’être veuve aujourd’hui«, in: Messages du Secours catholique 226 (1972), S. 13; François G, Veuves rurales, in: Messages du Secours catholique 228 (1972), S. 12. Jean B, Les errants, in: Messages du Secours catholique 247 (1973), S. 8; François G, Quand nos délégations s’interrogent sur les problèmes des »errants«, in: Messages du Secours catholique 277 (1976), S. 19.

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I. Die französische Armutsdebatte in den 1970er Jahren

Verband tatsächlich über die verschiedenen materiellen Mangellagen und deren Verbreitung in der Bevölkerung bestens Bescheid wusste. Den Mitarbeitern des Verbandes war klar, dass Armut in den Trente Glorieuses nicht verschwunden, sondern weiter in der französischen Gesellschaft präsent war, und dass sie eine Bandbreite an verschiedenen Situationen und Menschen betraf. Die verschiedenen Situationen betrachtete der Verband nicht nur getrennt, sondern sah auch das verbindende Element zwischen ihnen – nämlich die Bedürftigkeit. Zwar fiel in seinen Publikationen im Laufe der 1970er Jahre nur sehr selten der Begriff Armut. In der ersten Hälfte des Jahrzehnts verweisen jedoch andere Sammelbegriffe auf diese Perspektive, wie etwa »cas sociaux«19 , »marginaux«20 oder »inadaptés«21 – Sozialfälle, Randgruppen, Unangepasste. Diese Begriffe, die schon auf die Annäherung des Verbandes an die Armutsfrage schließen lassen, waren typische Ausdrücke der Sozialarbeit in dieser Zeit. Schon seit den 1960er Jahren hatten sie sich zur Bezeichnung von Bedürftigen in der französischen Sozialarbeit verbreitet. Verbunden mit ihrer Verbreitung war ein zunehmend psychologisierender Umgang mit dem Thema. Sozialarbeiter interpretierten Armut in dieser Zeit vor allem als individuelles Phänomen, als Ausdruck mangelnder Anpassung (inadaptation) der Individuen an die moderne Gesellschaft22 . Diese Interpretation war am Anfang der 1970er Jahre bis in die höchsten Ebenen der Sozialverwaltung vorgedrungen23 . Dass diese Tendenz zur Psychologisierung der Mangellagen in der ersten Hälfte der 1970er Jahre auch beim französischen Caritasverband verbreitet war, machen seine Publikationen deutlich. Die »Sozialfälle«, als die der Verband die Armen bezeichnete, definierte er als »des êtres ayant perdu pied dans leur vie personnelle et sociale«24 , also als Menschen, die in ihrem Leben den Boden unter den Füßen verloren hätten. Als Grund dafür hob der Verband unter anderem persönliche Eigenschaften der Betroffenen hervor. Er sprach von den Armen als »mal armés mentalement, moralement, voire physiquement pour se tenir au niveau des exigences de la vie sociale«25 . Laut seiner Meinung reichten 19 20 21 22 23

24 25

N. N., Les cas sociaux, in: Messages du Secours catholique 209 (1970), S. 5; Jean B, Les cas sociaux, in: Messages du Secours catholique 220 (1971), S. 6 f. Guy L, Une France en progrès matériels. Certains Français dans la détresse morale, in: Messages du Secours catholique 253 (1974), S. 8 f. Jean B, Les jeunes inadaptés sociaux, in: Messages du Secours catholique 215 (1971), S. 8 f. P, Les formes élémentaires de la pauvreté, S. 165–174. Darauf verweist eine Publikation des Staatssekretärs im Sozialministerium, René Lenoir, von 1974, worin der Begriff der inadaptation sociale den roten Faden bildet. Zwar suggeriert der im Titel des Werks verwendete Exklusionsbegriff, der zu dieser Zeit in der Armutsdebatte noch wenig verbreitet war, eine neue Annäherung an das Thema, jedoch wird der Leser in dieser Hinsicht enttäuscht. Lenoirs Auflistung verschiedener sozialer Problemgruppen und ihre Zusammenfassung als sozial Unangepasste ist viel eher typisch für seine Zeit, vgl. René L, Les exclus. Un Français sur dix, Paris 1974. G, Les cas sociaux d’un tout petit village. B, Les jeunes inadaptés sociaux.

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1. Die Haltung der Verbände

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die mentalen und physischen Fähigkeiten der Betroffenen also nicht aus, um mit der übrigen Gesellschaft mitzuhalten. Die Idee von Armen als von der Gesellschaft abgehängt taucht auch an anderer Stelle auf, wo Überlegungen zur Lösung des Problems mit der Frage eingeleitet werden: »N’est-il pas possible de veiller à ce que les marginaux rattrapent les autres«26 ? Diese Frage, ob die Armen den Abstand zum Rest der Gesellschaft aufholen könnten, beantwortete der Secours catholique grundsätzlich mit ja. Und grundsätzlich fühlte der Verband sich selbst auch aufgefordert, sich dafür einzusetzen. Als Grund dafür verwies er auf das christliche Gebot der Nächstenliebe und das Engagement Jesu für die Geringsten seiner Brüder27 . Als Mittel zur Bekämpfung der Notlagen diskutierte der Verband in der ersten Hälfte der 1970er Jahre vor allem zwei Optionen, nämlich erstens Sozialarbeit und zweitens familiäre Unterstützung28 . Insgesamt propagierte er damit die individuelle Annäherung an die Armen. Immer wieder betonte der Verband, wie wichtig die individuelle Zuwendung und Aufmerksamkeit für die Betroffenen sei: »Le pauvre d’aujourd’hui réclame plus que jamais notre attention, notre sollicitude et notre amour, c’est ce dont il a le plus besoin«29 . Von einer politischen Annäherung an das Thema war dagegen am Anfang der 1970er Jahre noch keine Rede. In der Verbandszeitschrift findet sich kein einziger Hinweis darauf, dass der Verband in dieser Zeit sozialpolitische Lösungen der Armutsfrage erwog. Zwar sah er es prinzipiell auch als Teil seiner Aufgabe, öffentlich auf die Notlagen in der Bevölkerung hinzuweisen und Aufmerksamkeit für das Thema zu wecken. 1972 zählte der Verband dies beispielsweise zu den Zielen seines nationalen Aktionstages, der in dem Jahr zum Thema »Partage« stattfand. Allerdings wird aus den Ausführungen deutlich, dass der Verband Sensibilität in der Bevölkerung wecken wollte, nicht aber bei politischen Entscheidungsträgern. An keiner Stelle wandte er sich mit eventuellen sozialpolitischen Forderungen an diese oder forderte zum Handeln auf. Armut stellte also für den Secours catholique in dieser Zeit ein Problem dar, das er durch individuelle Unterstützung der Betroffenen in seiner Funktion als Institution der sozialen Arbeit, aber nicht durch politische Lobbyarbeit für die Betroffenen lösen wollte. Genau das änderte sich aber in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts. André Gueslin beschreibt die Umorientierung des Verbandes in dieser Zeit wie folgt: »Dès 1976, le Secours catholique s’est modifié dans ses orientations du travail. Il consacre désormais une partie de son action à instruire des dossiers en 26 27

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L, Une France en progrès matériels. André R, Partager avec les migrants. Pourquoi? Comment?, in: Messages du Secours catholique 218 (1971), S. 6; N. N., Le cri du pauvre, in: Messages du Secours catholique 222 (1971), S. 3; N. N., Il y a toujours des pauvres, in: Messages du Secours catholique 246 (1973), S. 3. B, Les jeunes inadaptés sociaux. Jean P, Réflexions à l’occasion d’une journée nationale, in: Messages du Secours catholique 235 (1972), S. 4.

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I. Die französische Armutsdebatte in den 1970er Jahren

direction des pouvoirs publics. Il affirme ainsi son rôle de groupe de pression, tout en poursuivant une active politique de lutte contre la misère«30 . Der Sozialhistoriker unterstreicht, dass der Secours catholique sich seit 1976 als politische pressure group im Dienste der Armen verstand, die es auch zu ihren Aufgaben zählte, die Staatsorgane über die Mangellagen im Land zu informieren. Allerdings lässt Gueslin seine Leser im Unklaren darüber, wo sich diese Neuorientierung des Verbandes konkret zeigt. Auch der Verband selbst unterstreicht in der Rückschau den Zäsurcharakter des Jahres 1976 für seine eigene Geschichte. Im Rückblick auf seine Entwicklung seit 1946 resümiert er die Zeit zwischen 1976 und 1985 mit den Worten: »Cette 4e décennie débute ainsi sous le signe de la dimension politique de la charité«31 . Der Secours catholique selbst sah also das Jahr 1976 als Beginn seines politischen Engagements an. Er verweist auch darauf, was er als Anfang dieser Neuorientierung ansah, nämlich die Gründung der Commission d’action institutionnelle32 . In der bisherigen Forschungsliteratur finden sich nur spärliche Informationen zu dieser Kommission. In einem Artikel der Verbandszeitschrift des Secours catholique von 1978 erläutert allerdings der neue Generalsekretär des Verbandes, Louis Gaben, die Idee, die hinter ihrer Einführung stand. Gaben, der als Generalsekretär auf den Verbandsgründer Jean Rodhain folgte, beschreibt darin die Aufgaben der Kommission wie folgt: Nous avons créé au Secours catholique une commission d’action institutionnelle capable de cerner les réalités des besoins et de présenter »à qui de droit« les problèmes actuels des défavorisés. Partant de cas précis de dossiers établis sur le terrain par nos équipes de base centralisés par nos délégations diocésaines, cette commission reçoit ces remontées, les analyse, établit un constat et prépare ses interventions. [. . . ] Nos échanges, nos rapports avec les instances sociales ou publiques permettent à leurs responsables de percevoir les bavures de la politique sociale de notre pays33 .

Der letzte Satz macht deutlich, was der Verband als Ziel seiner Kommission sah: die politisch Verantwortlichen auf Fehler in der Sozialpolitik hinzuweisen. Erreichen sollte die Kommission dies, indem sie die Informationen der Regionalverbände über deren Klientel zusammentrug, auswertete und den politischen Entscheidungsträgern vorlegte. Tatsächlich legt die Einrichtung dieser Kommission eine neue Annäherung des Verbandes an Armutsbekämpfung offen. Nachdem der französische Caritasverband vorher auf die individuelle Unterstützung der Betroffenen gesetzt hatte, zeigt sich hier erstmals seine Absicht, politische Lobbyarbeit für die Betroffenen zu leisten. Mit Recht kann eingewendet werden, dass dies keine insgesamt neue Entwicklung für den Verband ist. Verbandsgründer Rodhain hatte schon in den ersten Jahren des 30 31 32 33

G, Une histoire de la grande pauvreté, S. 199. Vgl. dazu die eigene Darstellung der Verbandsgeschichte, http://www.secours-catholique. org/nous-connaitre/notre-histoire/justice,3588.html (22.1.2019). Ibid. Louis G, Ils le mettent au présent, in: Messages du Secours catholique 300 (1978), S. 13.

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1. Die Haltung der Verbände

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Secours catholique betont, dass zu dessen Aufgabe auch die Information der Öffentlichkeit über die Notlagen der Bevölkerung gehöre34 . Insofern war diese Aufgabe seit der Verbandsgründung schon angelegt, wurde aber hier erstmals auch so formuliert. Die Ausführungen des Generalsekretärs machen deutlich, dass dieser Einforderung einer neuen Aufgabe auch eine neue Problemanalyse zugrunde liegt. Denn erstmals im Untersuchungszeitraum diskutierte der Verband nun Sozialpolitik als mögliche Ursache für die Entstehung von Armut. Gaben hatte von »Irrtümern« (bavures) der Sozialpolitik gesprochen; an anderer Stelle sprach er von »Ungerechtigkeiten« (injustices) und »Lücken« (lacunes) der Sozialgesetzgebung, die den Verband zum Handeln aufriefen35 . Der Fokus des Verbandes verschob sich damit, weg von den individuellen Dispositionen der Betroffenen, die er in der ersten Hälfte des Jahrzehnts als hauptsächliche Ursache von Armut diskutiert hatte, hin zur strukturellen Verortung des Problems in einer fehlerhaften Sozialpolitik. Dabei unterstrich der Generalsekretär, dass der Secours catholique durch seinen direkten Kontakt mit den Betroffenen über die Regionalverbände besonders gut über die Problemlagen informiert sei – und daher auch besonders stark dazu aufgerufen, die Politiker darüber zu informieren. »L’expérience nous oblige à dire ce qui ne va pas, ce qui ne passe pas, nous devons parler pour ceux qui n’ont pas cette possibilité«36 , erklärte Gaben. Er verwendete für die Aufgabe, für diejenigen zu sprechen, die ihre Anliegen selbst nicht artikulieren konnten, den Begriff des »avocat des sans-voix«37 . Das war die Aufgabe, die seiner Meinung der Secours catholique in Zukunft einnehmen sollte und zu deren Zweck die Commission d’action institutionnelle gegründet worden war: um die Anliegen derer vorzubringen, die keine politische Stimme hatten. Von der Diskussion individueller Eigenschaften der Betroffenen hin zum Verweis auf sozialpolitische Lücken; von individueller Unterstützung hin zu politischer Lobbyarbeit – so kann die veränderte Annäherung des Secours catholique an die Armutsfrage in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre beschrieben werden. Was aber hatte diese Neuorientierung ausgelöst? Warum unterstrich der Verband jetzt die politische Dimension der Armutsfrage und fühlte sich zum politischen Anwalt der Betroffenen berufen? Die Grundannahme dieser Arbeit lautet, dass die Herausbildung neuer Armutsrisiken auch einen neuen Umgang mit der Armut einleitet. Tatsächlich verweisen die Publikationen des Verbandes darauf, dass dieser über seine Arbeit vor Ort neue Problemgruppen entdeckt hatte, die im Laufe der 1970er Jahre verstärkt seine Hilfe in Anspruch nahmen. Jedoch kann dabei nicht bei allen 34 35 36 37

D, Mgr Rodhain et le Secours catholique, S. 153–168. »L’injustice ou les lacunes d’application de la législation sociale exigent de nous cette présence agissante au plan institutionnel«, G, Ils le mettent au présent, S. 13. Ibid. Ibid.

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I. Die französische Armutsdebatte in den 1970er Jahren

Gruppen ein Zusammenhang mit der krisenhaften Entwicklung der Wirtschaft festgestellt werden, die hier eingangs skizziert wurde. Beispielsweise berichtete der Verband zwischen 1975 und 1976 über die Herausforderung, welche die massenhafte Ankunft von Flüchtlingen aus Vietnam und Kambodscha für seine lokalen Hilfseinrichtungen darstellte38 . Die Herkunft der Betroffenen weist dabei deutlich auf den Auslöser dieser neuen Problemlage hin, nämlich das Ende des Vietnamkriegs. Eine Notiz über die Einrichtung des neuen Arbeitsbereiches »Femmes et enfants« des Verbandes darauf hin, dass immer mehr alleinerziehende Frauen die Dienste der lokalen Hilfebüros in Anspruch nahmen. Tatsächlich stellte der Secours catholique aber auch einen wachsenden Zulauf von Arbeitslosen zu seinen Hilfebüros und insbesondere zu seinen Aufnahmezentren fest – und das übrigens schon 1972. In diesem Jahr berichtet der Verband über sein Zentrum Notre-Dame in der Rue de la Comète in Paris: Il y a quelques années, seuls les marginaux échouaient à la Comète: ne s’adressaient au Secours catholique, sauf exceptions, que les plus difficilement reclassables: handicapés, travailleurs âgés, anciens ouvriers agricoles et manœuvres. Or, aujourd’hui, nos services sociaux sont assiégés par tous les genres de demandeurs d’emploi. C’est à cela que l’on mesure le marasme du marché du travail39 .

Der Verband unterstrich damit nicht nur den Zulauf von Arbeitslosen, sondern drückte auch sein Erstaunen darüber aus, dass diese Unterstützungsanfragen nicht nur von den für Arbeitslosigkeit besonders anfälligen Kategorien wie Behinderten, Geringqualifizierten oder Arbeitern kurz vorm Rentenalter kamen. Stattdessen stellte das Zentrum fest, dass die Arbeitslosen, die 1972 um Aufnahme baten, zum Großteil eine Berufsausbildung besaßen und aus verschiedenen Gebieten Frankreichs sowie unterschiedlichen Altersgruppen stammten. »Ces trois faits sont donc absolument nouveaux«,40 kommentierte der Verband diese Neuerung. Zwei Jahre später schien sich diese Entwicklung verstärkt zu haben. Das gleiche Aufnahmezentrum berichtet, dass im Dezember 1974 schon 75 Prozent seiner temporären Bewohner unter 30 Jahre alt waren41 . Nicht nur die Aufnahmezentren, sondern auch die lokalen Hilfestellen stellten in der gleichen Zeit eine Änderung ihrer Klientelstruktur fest. 1975 brachte dies erstmals eine lokale Vertretung des Verbandes dazu, eine Statistik über dieses Phänomen zu erstellen. Der Secours catholique Paris dokumentierte darin, dass 35 Prozent der Klienten aufgrund ihrer Arbeitslosigkeit um Hilfe 38

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Georges R, Des réfugiés vietnamiens arrivent. . . , in: Messages du Secours catholique 263 (1975), S. 4; François G, En Val d’Oise. Le Secours catholique et les rapatriés du Cambodge, in: ibid., S. 5, 19; Georges R, Les réfugiés du Sud-Est asiatique, in: Messages du Secours catholique 266 (1975), S. 7. Lucien B, À la cité-secours Notre-Dame. L’afflux des demandeurs d’emplois non satisfaits, in: Messages du Secours catholique 229 (1972), S. 12 f. Ibid. François G, La »Comète« a vingt ans, in: Messages du Secours catholique 258 (1974), S. 7, 19.

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1. Die Haltung der Verbände

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baten. Arbeitslosigkeit war damit zum Hauptmotiv avanciert, um den Secours catholique aufzusuchen42 . Mit Bezug auf diese Statistik verwies ein Mitarbeiter der Pariser Verbandsvertretung darauf, dass die Aufgabe seines Verbandes auch darin bestehen müsse, die Verwaltung auf die Probleme dieser Gruppen aufmerksam zu machen43 . Diese neue Ursache der Bedürftigkeit ihrer Klientel hatte also zum Umdenken des Verbandes beigetragen. Die Not der Arbeitslosen ließ sich schlecht mit dem bis dato dominierenden Armutsbild des Verbandes vereinbaren. Denn wie der Verband selbst zugab, war sie nicht mehr auf bestimmte, von vornherein auf dem Arbeitsmarkt benachteiligte Gruppen begrenzt, sondern betraf Bevölkerungsgruppen aus unterschiedlichen Gebieten Frankreichs und vor allem unterschiedlichen Alters. Nur schwer konnte der Verband die Ursache dafür in der individuellen Disposition der Arbeitslosen suchen. Psychologisierende Annäherungen an die Armutsfrage wurden hier unbrauchbar; daher begann der Verband nach und nach, strukturelle Faktoren als Ursachen des Problems zu diskutieren. Genau in diesen Kontext der Entdeckung einer Veränderung der Klientel und des beginnenden Umdenkens in der Problemanalyse entstand die Commission d’action institutionnelle. Ihre Gründung als Beginn einer Dekade politischer Aktion des Secours catholique auszurufen, so wie der Verband es in der Rückschau tat, erscheint jedoch als etwas verfrüht. Denn anscheinend kam die Kommission dieser Aufgabe in den Jahren nach ihrer Gründung noch sehr wenig nach. Die Verbandszeitschrift verweist in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts auf einen einzigen Fall, in dem sich der Secours catholique direkt an einen politisch Verantwortlichen wandte. Und zwar war es die Pariser Vertretung des Verbandes, die sich im Oktober 1979 mit einem Brief an den Pariser Bürgermeister Jacques Chirac wandte, um gegen dessen Kürzungen bei den Mitteln der Sozialhilfebüros zu protestieren44 . Darüber hinaus legen weder die Publikationen des Verbandes noch die mediale Berichterstattung oder Forschungsliteratur weitere Kontaktaufnahmen des Verbandes zu den Staatsorganen offen. Auch war es in dieser Zeit noch allein die Pariser Vertretung des Verbandes gewesen, die einen Wandel ihrer Klientel entdeckt und diesen statistisch erfasst hatte. Am Beginn der 1980er Jahre sollte sich dies ändern und zahlreiche weitere Städte würden ähnliche Entdeckungen machen und diese dokumentieren45 . In den 1970er Jahren blieb dies jedoch zunächst auf Paris begrenzt. Insofern begann die politische Dekade des Verbandes in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre nur äußerst zaghaft. Mit der Gründung der Kommission hatte der Verband allerdings den Grundstein für sein politisches Handeln gelegt. Er hatte damit

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N. N., Paris, entends-tu leurs cris?, in: Messages du Secours catholique 268 (1975), S. 14. Ibid. N. N., Cet automne, à Paris, in: Messages du Secours catholique 311 (1979), S. 13. Vgl. dazu Kap. III.

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I. Die französische Armutsdebatte in den 1970er Jahren

ein Gremium institutionalisiert, das in Zukunft den Dialog mit politischen Entscheidungsträgern übernehmen könnte. Insgesamt bedeutet die Mitte der 1970er Jahre damit für den Secours catholique und seine Annäherung an die Armutsfrage eine Zäsur. Der Bruch ist zunächst am Vokabular deutlich geworden: dem Verschwinden der Begriffe wie Sozialfälle und Randgruppen. Mit diesen Begriffen war auch die psychologische Ausdeutung des Phänomens aus den Diskursen des Verbands verschwunden, um der Suche nach seinen strukturellen politischen und wirtschaftlichen Ursachen Platz zu machen. Am Ursprung dieses Umbruchs stand, wie hier aufgezeigt und auch eingangs vermutet wurde, die Entdeckung neuer Armutsrisiken. Bei drei Bevölkerungsgruppen hatte der Verband eine steigende Bedürftigkeit festgestellt – jedoch hatte anscheinend nur eine dieser Entdeckungen dazu geführt, dass der Verband seine bisherige Ausdeutung des Phänomens in Frage stellte. Es war weder die Not der Flüchtlinge noch die von Alleinerziehenden, die den Verband zum Umdenken brachte, sondern vor allem der Anstieg der Bedürftigkeit der Arbeitslosen. Dass der Verband sich nach und nach der Rolle des Anwalts der Armen annäherte, war vor allem eine Folge davon, dass er die Ausdehnung von durch Arbeitslosigkeit bedingter Armut auf seiner Ansicht nach ganz untypische Gruppen feststellte. Diese Entdeckung wollte er den politischen Entscheidungsträgern kommunizieren und richtete daher 1976 den neuen Bereich ein, der sich diesem Dialog widmen sollte. Generalsekretär Gaben war 1978 fest davon überzeugt, dass der Verband sich durch diesen neuen Arbeitsbereich und mit Hilfe der Commission d’action institutionnelle politisches Gehör verschaffen würde: »Nos plaidoyers sont écoutés parce qu’ils restent irréfutables, ils reflètent les réalités, ils respectent la vérité, ils rejettent tout esprit partisan«46 . Das Zitat unterstreicht nochmals die Idee des Verbandes, die hinter seinem neuen Arbeitsbereich der Action institutionnelle stand, nämlich neutral seine Erfahrungen aus dem direkten Kontakt mit den Betroffenen an die Politik weiterzugeben. Die folgenden Kapitel werden zeigen, dass beides nicht so einfach werden würde, wie der Generalsekretär es sich 1978 vorstellte. Weder würde das Ohr der Politiker so offen sein, wie der Secours catholique es sich erhofft hatte, noch würde sich der Plan einer neutralen Berichterstattung über Armut so einfach verwirklichen lassen. Bevor hier aber die Frage nach der politischen Rezeption der Bemühungen des französischen Caritasverbandes gestellt wird, wird im nächsten Kapitel noch der Blick auf den zweiten zur Analyse ausgewählten Verband geworfen, nämlich ATD Quart Monde.

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G, Ils le mettent au présent.

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1. Die Haltung der Verbände

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1.2. ATD Quart Monde: Anwalt für die »Vierte Welt« inmitten des Wohlstands Ebenso wie der Secours catholique hatte auch der Verband ATD Quart Monde wenig Anlass dazu, dem Glauben an das Verschwinden der Armut im Wirtschaftswachstum zu erliegen – allerdings aus unterschiedlichen Gründen. Der Secours catholique hatte seine Strukturen zwar erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entfaltet, war damit aber zu Beginn der 1970er Jahre schon weit fortgeschritten. Über ein Netz lokaler, über ganz Frankreich verteilter Regionalverbände stand er im Kontakt mit der Bevölkerung und war sensibilisiert für die verschiedenen Notlagen im Land insgesamt. Ganz anders stellt sich die Situation zu Beginn des Untersuchungszeitraums noch bei ATD Quart Monde dar, dessen Ausdehnung über das Obdachlosenlager von Noisy-leGrand hinaus in den 1970er Jahren noch ganz am stand Anfang. Entsprechend war ATD Quart Monde weniger informiert über die verschiedenen Notlagen in Frankreich insgesamt. Durch seine Arbeit erhielt der Verband zunächst nur Einblick in die Probleme der Familien in Noisy-le-Grand – und damit allerdings Einblick in das Leben der ganz Armen. Denn die 250 Familien, die sich seit 1954 dort angesiedelt hatten, mussten am Anfang noch in Zelten leben und dabei ohne Strom und fließendes Wasser auskommen47 . Dabei stellte das Lager von Noisy-le-Grand kein Einzelphänomen dar, sondern eine von vielen provisorischen Unterkünften, mit denen das große Wohnungsproblem Frankreichs in der Nachkriegszeit überbrückt werden sollte48 . Sicher musste auch ATD Quart Monde die Armut also nicht wiederentdecken, sondern war dort täglich mit ihr konfrontiert. Auch in den Mitteln, die dem Verband zur Bekämpfung des Problems zur Verfügung standen, unterschied sich ATD Quart Monde deutlich vom Secours catholique. ATD Quart Monde war nicht nur später gegründet worden, sondern hatte in seinen ersten Jahren auch Probleme mit der Anerkennung als Verband. Entsprechend schwerer fiel es ihm auch, sich zu finanzieren und Unterstützer zu finden. Noch 1964 verfügte der Verband, der trotz seiner Gründung durch einen Priester keine offiziellen Verbindungen zur katholischen Kirche unterhielt, nur über sieben hauptamtliche Mitarbeiter49 . Um sein Anliegen zu formulieren und um zu agieren, standen ihm also weniger Mittel und weniger solide Strukturen zur Verfügung als dem Secours catholique. Außerdem kann hier bereits vorweggenommen werden, dass ATD Quart Monde ganz sicher nicht erst in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre seine Rolle als Anwalt der Armen entdecken würde. Die Entscheidung für diese Aufgabe hatte der Verband nämlich schon lange vorher getroffen. Der Verbandsgründer 47 48 49

G, Une histoire de la grande pauvreté, S. 219–221. P, La société française et ses pauvres, S. 37–42. G, Une histoire de la grande pauvreté, S. 225.

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I. Die französische Armutsdebatte in den 1970er Jahren

Wresinski beschreibt seine erste Begegnung mit den Familien im Obdachlosenlager und seine dabei gefällte Entscheidung für die Gründung des Verbandes wie folgt: En ce 14 juillet 1956, j’étais entré dans le malheur. C’est ce jour-là que je me promis de révéler ces familles à la société; d’obtenir pour elles de logements décents, du travail pour les adultes, un métier pour les jeunes, et pour les enfants des écoles où on apprend enfin. Ce fut ce jour-là que je décidai du chemin qu’il me faudrait prendre pour que les familles aient une place reconnue et respectée dans le monde. Je devrai leur faire gravir les marches de l’UNESCO, de l’ONU, de l’UNICEF, du Conseil de l’Europe, du Vatican et du BIT pour y faire entendre leur voix50 .

Die von Armut betroffenen Familien nicht nur zu versorgen, sondern auf ihre Situation aufmerksam zu machen, eine Lösung bei politischen Organisationen einzufordern, das gehörte zu den Gründungsanliegen von ATD Quart Monde. Nicht nur in der Rückschau formulierte der Verbandsgründer dieses Anliegen, sondern auch zeitgenössische Aussagen verweisen darauf, dass er sich mit seinem Verband bewusst von einer rein karitativen Arbeit abgrenzen wollte. Zu dieser Überzeugung gehörte für ihn auch, die Armen zu den Akteuren ihrer eigenen Rettung zu machen51 . Wiederholt betonte Wresinski außerdem, dass er nicht nur die materielle Versorgung der Betroffenen erreichen wollte, sondern auch deren gesellschaftliche und politische Teilhabe. Bewusst entfernte er sich damit von den Leitlinien anderer Verbände wie insbesondere Emmaüs, die ihre Bemühungen hauptsächlich darauf richteten, die materiellen Bedürfnisse ihrer Klienten zu befriedigen und vor allem deren Wohnsituation zu verbessern52 . Diese grundsätzliche Auffassung von Armut als politischer Frage charakterisierte die Haltung des Verbandes also schon von seinen Anfängen in den 1950er Jahren an. Trotzdem brachten auch für ATD Quart Monde die 1970er Jahre einige wichtige Neuerungen mit sich, die sowohl die Struktur des Verbandes als auch seine Interpretation der Armutsfrage betreffen. Es handelt sich dabei erstens um eine Konsolidierung und Ausdehnung der personellen Basis des Verbandes, zweitens um seine Entscheidung für die Mittel zur Durchsetzung seiner Ziele, drittens um die Prägung neuer Begriffe und viertens – als Konsequenz aus den ersten dreien – sein kontinuierliches Vordringen in die Sphären von Politik und Verwaltung. Diese Prozesse, die teilweise schon in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre begonnen hatten, sollen im Folgenden skizziert werden. Da es insgesamt nicht die Aufgabe dieser Arbeit ist, die Verbandsgeschichte von ATD Quart Monde zu schreiben, werden die Ausführungen zur institutionellen Entwicklung des Verbandes im Folgenden kurz gehalten. Ganz kann aber nicht auf sie verzichtet werden, da die Ausbildung der Struktur des Verban-

50 51 52

Joseph W, Une lumière contre l’intolérable. Paroles du père Joseph Wresinski, Paris 1994, S. 17 f. V, Le rôle des associations, S. 17–21. G, Une histoire de la grande pauvreté, S. 223.

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1. Die Haltung der Verbände

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des einen wichtigen Faktor zur Erklärung seiner Rolle in der Armutsdebatte darstellt53 . In den ersten Jahren nach der Gründung des Verbandes, der zu diesem Zeitpunkt noch Groupe d’action de culture et relogement des provinciaux de la région parisienne hieß, hatte Wresinski nur wenige Unterstützer für seine Sache finden können. Sogar die amtliche Genehmigung war dem Verband zunächst versagt geblieben, da die Verwaltung Skepsis gegen einige Mitglieder und deren Vorstrafen hegte. Aber auch nachdem Wresinski dieses Problem 1961 mit Hilfe einer Neugründung des Verbandes unter dem Namen Aide à toute détresse (ATD) gelöst hatte, blieb der Zulauf zunächst gering. Noch 1964 zählte der Verband nur sieben feste ehrenamtliche Mitarbeiter54 . Zwar zogen die internationalen Baucamps, die sich in den 1960er Jahren verbreiteten, zahlreiche Kurzzeit-Freiwillige für die Dauer des Sommers an. Jedoch reichten diese nicht aus, um das dauerhafte Angebot von Kindergärten, Bibliotheken und Anlaufstellen zu gewähren, das Wresinski vorschwebte. Bei den wenigen festen Freiwilligen zu Beginn der 1960er Jahre handelte es sich vor allem um junge Frauen. Im Falle einer Familiengründung verließen diese jedoch den Verband, denn Wresinski verlangte von seinen volontaires, dass sie sich nicht nur für die Bedürftigen engagierten, sondern auch mit diesen im Lager lebten55 . Deutlich lässt diese Idealvorstellung der freiwillig gewählten Armut Wresinskis christliche Prägung erkennen. Eine Familiengründung schien dem Priester mit diesem Leben unter den Armen anfangs nicht vereinbar. In der Mitte der 1960er Jahre wich Wresinski indes von dieser Überzeugung ab, sodass erste Freiwillige mit ihren Familien nun innerhalb des Lagers leben konnten. Als Folge blieben die Betroffenen dem Verband nicht nur für wenige Jahre, sondern dauerhaft erhalten. Zur Stabilisierung der Personalstruktur trug außerdem bei, dass ATD diesen Langzeitfreiwilligen seit der Mitte der 1960er Jahre einen Arbeitsvertrag mit Sozialversicherung und einer bescheidenen Entlohnung anbot56 . Die Konsequenz war ein starker Anstieg der Langzeitfreiwilligen im Laufe der 1970er Jahre. Die personell breitere Basis wiederum ermöglichte dem Verband, der zuvor auf das Lager Noisy-le-Grand begrenzt war, sein Engagement auf neue Gegenden auszudehnen57 . Zunächst nur in 53

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Wer darüber hinaus sein Wissen über die Verbandsgeschichte vertiefen will, ist mit den Arbeiten des Soziologen Frédéric Viguier exzellent beraten, z. B. V, Le rôle des associations. Ibid., S. 219–225. V, La cause des pauvres, S. 227–229. Die Entlohnung lag auf der Höhe des gesetzlichen Mindestlohnes; allerdings erwartete der Verband, dass seine Mitarbeiter anschließend einen Teil ihres Einkommens freiwillig wieder an den Verband zurückgaben, vgl. D., Le rôle des associations, S. 27–29. Seit dem Ende der 1960er Jahre waren Mitarbeiter von ATD auch in den bidonvilles von La Courneuve, Stains, Neuilly-Plaisance, Saint-Denis, Créteil und Toulon präsent, um dort arme Familien zu unterstützen, vgl. die Liste im Jahresbericht des Verbandes für 1968 in: André E, Rapport moral 1968, in: Igloos. Le Quart Monde 47–48 (1969), S. 47–59.

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I. Die französische Armutsdebatte in den 1970er Jahren

Frankreich, doch dann dehnte der Verband sich auch auf andere Länder aus. Als Wresinski 1988 starb, war ATD Quart Monde zu einer internationalen Organisation geworden, der allein in Frankreich 350 volontaires permanents angehörten58 . Wresinski war indes nicht nur darum bemüht, Freiwillige für das Leben mit den Armen im Lager zu gewinnen. Von Anfang an strebte der Priester auch danach, Unterstützung für sein Anliegen bei Personen in gesellschaftlichen Schlüsselpositionen zu finden und diese zu alliés, zu Verbündeten von ATD zu machen. Eine der engagiertesten und treuesten Verbündeten des Verbandes hatte Wresinski schon am Ende der 1950er Jahre in der Nichte von Charles de Gaulle gefunden. Geneviève de Gaulle-Anthonioz hatte das Lager Noisyle-Grand erstmals 1958 besucht und sich sofort für Wresinskis Ideen und seine Interpretation der Armutsfrage begeistert59 . Seitdem unterstützte sie den Verband durch ihre politischen Netzwerke – sie war nicht nur Nichte Charles de Gaulles, sondern selbst seit 1958 als Beraterin im Kultusministerium tätig – und wurde 1964 sogar Präsidentin von ATD. Eine direkte Konsequenz dieser Entwicklung zeigte sich schon im folgenden Jahr, als der Verband erstmals staatliche Subventionen erhielt60 – was weiter zu seiner institutionellen Konsolidierung beitrug. So prominente Verbündete wie Geneviève de Gaulle-Anthonioz fand ATD in den folgenden Jahren zwar nicht mehr, aber das Netzwerk an Bündnispartnern des Verbandes dehnte sich seit dem Ende der 1960er Jahre stetig aus. Wresinski knüpfte nicht nur Kontakte zu politischen Entscheidungsträgern, sondern bemühte sich auch darum, an Universitäten und Forschungsinstituten Verbündete zu finden. Dafür war seit 1962 sogar ein eigenes Forschungsinstitut des Verbandes zuständig, das Bureau de recherche sociale in Paris61 . Hier wird deutlich, dass die personelle Konsolidierung des Verbandes nicht erst in den 1970er Jahren erfolgte, sondern dass sich in den 1970ern lediglich ein Prozess fortsetzte, der bereits seit den 1960er Jahren im Gang war. Für die beiden Entwicklungen, die im Folgenden dargelegt werden sollen, stellt sich die Situation anders dar. Zwar begann auch die Ausdifferenzierung des Vokabulars und der Mittel des Verbandes schon vorher, jedoch wurde beides durch ein präzises Ereignis, nämlich die Unruhen im Mai 1968, angestoßen. 58 59

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G, Une histoire de la grande pauvreté, S. 229. Insbes. Wresinkis Auffassung, dass Arme nicht nur materiell versorgt werden müssten, sondern auch ein Anrecht auf Kultur hätten, sagte de Gaulle-Anthonioz zu, da sie dem Künstlermilieu nahestand. Die Situation in Noisy-le-Grand berührte sie allerdings noch aus anderen Gründen, denn die ehemalige Résistance-Kämpferin war 1944 ins Konzentrationslager Ravensbrück deportiert worden. Der Besuch im Lager von Noisy-le-Grand rief in ihr Erinnerungen an diese Erfahrungen hervor. Bewusst zog sie Parallelen zwischen beiden Lagern und entschied sich auch aus diesem Grund dafür, ATD zu unterstützen, vgl. V, Le rôle des associations, S. 26. D., La cause des pauvres. Ibid., S. 239 f.

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1. Die Haltung der Verbände

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Studentenproteste, wie sie in der gleichen Zeit in vielen anderen Ländern stattfanden, hatten auch in Frankreich begonnen und dort im Mai und Juni 1968 einen wochenlangen Generalstreik ausgelöst. Welche Auswirkungen hatten die Proteste und der Streik auf ATD, und wie verhielt sich der Verband gegenüber den Demonstranten und Streikenden? Kontakte zwischen der linken Studentenbewegung und den Einwohnern der bidonvilles, den notdürftig zusammengezimmerten Barackenlagern an der Peripherie der Großstädte, hatten zuvor nicht bestanden; einzige Ausnahme war eine punktuelle Verbindung studentischer Protestgruppen mit den algerischen Einwohnern des bidonville von Nanterre während des Algerienkriegs gewesen. Daher war es 1968 ein gänzlich neues Phänomen, dass Studenten in diese Barackenlager kamen und die Einwohner aufforderten, sich ihrem Protest anzuschließen. Unter anderem forderten sie dabei die Bewohner dazu auf, als Zeichen des Protests ihre elenden Unterkünfte abzubrennen62 . Es überrascht nicht, dass die Bewohner nicht sehr geneigt dazu waren, etwas zu tun, womit sie sich selbst zu Obdachlosen gemacht hätten. Auch darüber hinaus blieb ihre Beteiligung an den Studentenprotesten gering, weil die Streiks die ohnehin schon unsichere Lage der Bewohner der Barackenlager noch zusätzlich verschlechtert hatten. Im Mai 1968 waren diese vor allem mit ihrem eigenen Überleben beschäftigt, denn als in Folge der Streiks viele Supermärkte schlossen, öffentliche Verkehrsmittel stillstanden und sich die Auszahlung von Sozialleistungen verzögerte, traf dies diejenigen ohne Reserven besonders hart63 . Wresinski selbst dachte in dieser Zeit über die Beteiligung seines Verbandes an den Protesten nach. Letztlich fiel diese aber gering aus, obwohl der Priester selbst im Pariser Studentenviertel Flugblätter verteilt und die Studenten zur Begegnung mit den Einwohnern der Barackenlager eingeladen hatte. Die Gründe für seine Zurückhaltung legt Wresinski in einer Ausgabe der Verbandszeitschrift von ATD vom Sommer 1968 dar. Dort erläutert er einerseits, dass die Forderungen der Arbeiter und Studenten sich nicht mit denen der Klientel seines Verbandes überschnitten. Die von den Studenten geforderte Reform der Universitäten helfe den Bedürftigen nicht, da ihnen der Zugang zu höherer Bildung sowieso versperrt sei. Auch die von den streikenden Arbeitern eingeforderte Erhöhung des Mindestlohns und der Sozialleistungen sei nicht im Interesse der ganz Armen, da sie über keine sicheren Arbeitsplätze verfügten und der Zugang zu Sozialleistungen ihnen meist generell versperrt sei64 . Andererseits unterstrich Wresinski, dass Streik auch nicht das Mittel der Wahl für die armen Bewohner der bidonvilles sein könnte: »Si un jour ce peuple arrivait à s’unir pour faire la grève, personne ne s’en apercevrait«65 . 62 63 64 65

Ibid., S. 247. Ibid., S. 246. Joseph W, La condition des exclus, in: Igloos. Science et service 41–42 (1968), S. 31–47, hier S. 36. Ibid., S. 43.

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I. Die französische Armutsdebatte in den 1970er Jahren

Insgesamt teilte Wresinski also die Problemanalyse der Protestbewegung von 1968 nicht und band aus diesem Grund seinen Verband kaum in die Ereignisse ein. 1968 bedeutete insofern für ATD keine neue Mobilisierung für Streiks, Demonstrationen oder Ähnliches. Trotzdem hatten die Unruhen im Mai 1968 auf den Verband wichtige Auswirkungen. Sie stießen innerhalb des Verbandes die Suche nach eigenen Wegen zur Artikulation seines Anliegens an. Aus Wresinskis Ausführungen geht deutlich hervor, dass er nicht nur die Problemanalyse der politischen Aktivisten von 1968 nicht teilte, sondern auch das Mittel des Streiks nicht für geeignet hielt. Welches Mittel hätte er stattdessen gewählt? Der Verband, der zu diesem Zeitpunkt noch jung und erst im Aufbau seiner Strukturen war, hatte bisher noch keine Antwort auf diese Frage gegeben. Zwar verfolgte er das Ziel, die Armen selbst an der Entscheidung über ihr eigenes Schicksal zu beteiligen, hatte jedoch bisher keine sichtbaren Schritte in diese Richtung unternommen. 1968 sollte dies aber passieren. Erstmals forderte Wresinski in diesem Jahr seine Freiwilligen dazu auf, sich mit den Einwohnern der Barackenlager zu treffen und deren politische Anliegen aufzunehmen und zu diskutieren. Die bei diesen Treffen vorgebrachten Forderungen trug der Verband anschließend in sogenannten cahiers de doléances zusammen und nahm mit diesem Begriff Bezug auf 1789 und die gleichnamigen Anweisungen der Wähler an ihre Abgeordneten der Generalstände. Die im Sommer 1968 in den bidonvilles verschiedener französischer Städte gesammelten Forderungen wurden anschließend auch unter dem Titel »Un peuple parle« in einer Ausgabe der Verbandszeitschrift »Igloos« veröffentlicht66 . Damit endete diese neue Form der Einbeziehung der aber Armen nicht, sondern der Verband baute sie im folgenden Jahrzehnt weiter aus und machte sie zu einem seiner spezifischen Kennzeichen67 . Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte diese prise de parole der Armen 1977 bei der Jubiläumsfeier zum zwanzigjährigen Bestehen von ATD Quart Monde. Beim Festakt in Paris standen nicht nur der Vorsitzende sowie Repräsentanten der internationalen Vertretungen des Verbandes auf der Rednerliste, sondern auch mehrere Bewohner der bidonvilles, die von ihrer Situation berichteten. Anschließend wurden ihre Beiträge auch in der Verbandszeitschrift abgedruckt68 . Einen weiteren Weg, um auf die Notlagen der Bevölkerung aufmerksam zu machen, den der Verband in den 1980er Jahren stark ausbauen würde, entdeckte ATD Quart Monde ebenfalls bereits im Laufe der 1970er Jahre für sich, nämlich die Untersuchung und Dokumentation der Lebenssituation der Armen. Erstmals ermöglicht hatte dies das erste Aktionsprogramm der EG, das in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre ausgewählte Projekte zur Erforschung von Armut in den Mitgliedsstaaten finanziell unterstützte. In Frankreich war es ATD Quart Monde gelungen, eine solche Unterstützung für ein Projekt zu 66 67 68

Igloos. Science et service 41–42 (1968). V, La cause des pauvres. Igloos. Le Quart Monde 97–98 (1978).

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1. Die Haltung der Verbände

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erhalten. Zwischen 1976 und 1978 hatte der Verband mit diesen Geldern über 30 Monate hinweg die Einkommenssituation ausgewählter Familien untersucht und die Ergebnisse in einem Bericht dokumentiert69 . Mit seinen genauen Kenntnissen der Problemlagen, die er aus dieser und anderen Untersuchungen gewinnen würde, machte der Verband sich zum Armutsexperten. Wie hier noch deutlich werden wird, sollte diese Expertise ihn in den 1980er Jahren zum privilegierten Partner von Politik und Verwaltung machen. In den 1970er Jahren legte der Verband mit dieser ersten umfassenden Untersuchung in Reims und deren Dokumentation den Grundstein dafür. Als ein drittes Mittel zur Artikulation seines Anliegens entdeckte ATD Quart Monde in dieser Zeit die Petition70 . Die Übergabe einer solchen – mit 100 000 Unterschriften – an den Präsidenten und an die beiden Kammern des französischen Parlaments im Februar 1980, verbunden mit der Einforderung stärkerer Bemühungen um Kinder aus armen Familien, stellt ein Beispiel dafür dar71 . Mit diesen drei Interventionsformen, die der Verband im Laufe der 1970er Jahre ausarbeitete, ergänzte er seine grundsätzliche Strategie der Suche nach Verbündeten in gesellschaftlichen Schlüsselpositionen. Diese Entscheidungen des Verbandes erscheinen als bewusste Abgrenzungen von den Protesten im Mai 1968. ATD Quart Monde entscheidet sich explizit gegen die von Studenten und Arbeitern favorisierten Mittel des Streiks und der Demonstration und wählt andere Wege, um seine Interessen zu artikulieren. Diese Neuorientierung und bewusste Abgrenzung von der 1968er Bewegung zeigt sich auch in der Semantik des Verbandes. Vor 1968 hatte der Verband von den Armen als »sous-prolétaires« gesprochen72 . Wresinski hatte damit den Begriff gewählt, mit dem der Terminus »Lumpenproletariat« in Karl Marx’ Schriften ins Französische übertragen worden war, und sich nicht gescheut, diesen Bezug auf Marx offenzulegen73 . Für diesen Begriff hatte Wresinski sich entschieden, weil er seine Idee von den Bedürftigen als struktureller gesellschaftlicher Gruppe transportieren sollte. Um eben diese Vorstellung sichtbar zu machen, sprach Wresinski auch oft von einem »peuple des pauvres«, einem Volk der Armen74 . Mit dieser Auffassung lehnte er sich bewusst gegen die in den 1960er Jahren in der Sozialverwaltung verbreitete Tendenz auf, Armut 69 70 71 72 73

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Familles pauvres de Reims: de l’argent pour vivre. Étude, janvier 1980, Archiv und Bibliothek von ATD Quart-Monde. V, La cause des pauvres. N. N., 100 000 signatures pour les enfants du Quart Monde, in: Feuille de route Quart Monde 99 (1980), S. 1. G, Une histoire de la grande pauvreté, S. 224. Wresinski selbst erläutert die Wahl des Begriffs wie folgt: »Ce peuple de notre choix, nous l’avons d’abord nommé ›sous-privilégiés‹. Nous pensions que le terme était juste et beau. Puis nous avons repris le terme de Karl Marx et nous l’avons appelé sous-prolétariat afin de rétablir son appartenance légitime au monde ouvrier«, vgl. Joseph W, Où allons-nous?, in: Igloos. Le Quart Monde 47–48 (1969), S. 69–77, hier S. 70. G, Une histoire de la grande pauvreté, S. 224.

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I. Die französische Armutsdebatte in den 1970er Jahren

in viele einzelne Teilprobleme aufzuspalten und nicht als Problem insgesamt zu begreifen. Wie im vorausgehenden Teilkapitel gezeigt, war diese Haltung auch zu Beginn der 1970er Jahre noch verbreitet. An Wresinskis Auffassung von den Bedürftigen als struktureller Gruppe änderte sich im Laufe der 1970er Jahre nichts. Wresinski hielt weiterhin daran fest, sprach auch weiter vom Volk der Armen, verwendete allerdings nach 1968 kaum noch den Begriff der sous-prolétaires. Stattdessen prägte er 1968 einen neuen Begriff, nämlich den der »Vierten Welt« (»Quart Monde«). Im gleichen Jahr wurde der Begriff dem bisherigen Namen des Verbandes hinzugefügt. Seine Inspiration zur Schaffung dieses neuen Terminus hatte Wresinski vor allem aus zwei Quellen geschöpft. Offensichtlich ist zunächst der Bezug zur »Dritten Welt« und damit zu einem in der aktuellen Debatte präsenten Konzept. Daneben stellt Wresinski aber auch – erneut, wie schon bei den cahiers de doléances – Bezug zur Geschichte der französischen Revolution her, nämlich zu Dufourny de Villiers und seiner Idee eines vierten Standes (»quatrième ordre«)75 . Dass hinter diesem neuen Begriff prinzipiell keine neue Idee von Armut stand, geht aus den Schriften des Verbandes hervor. Im Jahresbericht von 1971 wird der neue Terminus wie folgt erklärt: Ce terme consacre une conception nouvelle prônée par l’Institut et le mouvement: celle du peuple sous-prolétaire, réceptacle de ceux qui, aujourd’hui encore, n’ont pas les moyens de participer à la vie et aux biens de la nation: travailleurs étrangers, familles batelières ou d’origine nomade, familles de travailleurs, commerçants ou artisans très modestes ne pouvant surmonter les effets du changement économique, d’une maladie ou d’un trop long arrêt de travail76 .

Obwohl der Verband hier eine Neukonzeptionierung behauptet, weisen die in der Definition verwendeten Begriffe »peuple« und »sous-prolétaires« darauf hin, dass seine Ausdeutung der Armutsfrage sich nicht fundamental geändert hatte. Nach wie vor spielte die Auffassung von den Armen als struktureller Gruppe dabei eine wichtige Rolle. Und nach wie vor wandte Wresinski sich aktiv gegen die in dieser Zeit verbreitete Aufspaltung des Phänomens in viele einzelne Teilprobleme und die Bezeichnung der Betroffenen als individuelle Problemfälle. Allerdings hielt er den Begriffen der Sozialverwaltung jetzt seinen neuen Begriff der Vierten Welt entgegen. Explizit führte er 1975 in der Verbandszeitschrift aus, die Armutsfrage könne nicht gelöst werden, »si nous continuons à présenter le Quart Monde comme des ›cas sociaux‹«77 . Wresinskis Kritik am gesellschaftlichen Umgang mit Armut war also die gleiche geblieben. Warum drückte er sie seit 1968 mit einem neuen Begriff aus? Ähnlich wie die Ausarbeitung der cahiers de doléances kann auch diese semantische

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Ibid. Rapport moral 1971, Archiv und Bibliothek von ATD Quart Monde, S. 8. Joseph W, La démocratie commence dans la commune, in: Igloos. Le Quart Monde 85 (1975), S. 39–50, hier S. 48.

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1. Die Haltung der Verbände

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Neuerung als bewusste Abgrenzung Wresinskis nach Links gedeutet werden – so wie auch Frédéric Viguier dies vorschlägt78 . Denn im Unterschied zum »Lumpenproletariat« war dieser Terminus nicht marxistisch konnotiert. Mit dem neuen Begriff machte Wresinski deutlich, dass das Anliegen seines Verbandes sich insbesondere von dem der 1968 streikenden und demonstrierenden Arbeiter und Studenten unterschied. Der marxistisch behaftete Begriff der Lumpenproletarier verschwand zwar nach 1968 nicht völlig aus der Sprache des Verbandes, trat aber deutlich in den Hintergrund79 . Zum Terminus der Vierten Welt trat ein weiterer Begriff, der im Laufe der 1970er Jahre immer häufiger in den Ausführungen des Verbandes auftauchen sollte: die Exklusion. Dieser Begriff, der seit dem Ende der 1980er Jahre zum maßgeblichen Schlagwort der französischen Armutsdebatte werden sollte, war zu diesem Zeitpunkt noch wenig verbreitet. Die bisherige Forschung hat bei der Frage nach dem Ursprung des Begriffs unterstrichen, dass dieser sporadisch schon in den 1960er Jahren verwendet wurde, und dabei vor allem auf drei Publikationen verwiesen80 : die Studie »L’exclusion sociale« aus dem Jahr 1965 von Jules Klanfer81 , »Les dividendes du progrès« von Pierre Massé und Pierre Bernard von 196982 , sowie »Les exclus« von René Lenoir (1974)83 . Übersehen wurde bisher allerdings, dass auch der Verband ATD Quart Monde schon seit den 1960er Jahren den Begriff nutzte. 1967 war eine Ausgabe der Verbandszeitschrift unter dem Titel »Contre l’exclusion des pauvres« erschienen84 . 1969 beschrieb der Verband außerdem eines seiner Hauptziele als »la détection et la lutte contre l’exclusion sociale et culturelle«85 . Im Laufe der 1970er Jahre tauchte der Begriff immer häufiger auf. Seit 1978 erschienen die Jahresberichte des Verbandes unter dem Titel »Lutte contre l’extrême pauvreté et l’exclusi-

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Viguier weist auch darauf hin, dass Wresinski sich im Laufe der 1970er Jahre damit der deuxième gauche, der nichtmarxistischen Linken annäherte, vgl. V, Le rôle des associations, S. 29. Z. B. erstellte der Verband noch im Jahr 1978 eine Schrift mit dem Titel »La spécificité du sous-prolétariat«. Im gleichen Jahr veranstaltete der Verband auch ein Seminar zum Thema »Quart Monde, revenus et besoins essentiels«, was auf eine Koexistenz beider Begriffe noch bis zum Ende des Jahrzehnts verweist, vgl. La spécificité du sous-prolétariat, hg. v. ATD Quart Monde, 1978, Archiv und Bibliothek von ATD Quart Monde; Quart Monde, revenus et besoins essentiels, hg. v. ATD Quart Monde, 1978, ibid. Für die Geschichte des Exklusionsbegriffs sind folgende Arbeiten zentral: Serge P, La constitution d’un paradigme, in: D. (Hg.), L’exclusion, l’état des savoirs, Paris 1996, S. 7–19; Emmanuel D, De »l’exclusion« à l’exclusion, in: Politix 34 (1996), S. 5–27; Julien D, L’exclusion, Paris 2008. Jules K, L’exclusion sociale. Étude de la marginalité dans les sociétés occidentales, Paris 1965. Pierre M, Pierre B, Les dividendes du progrès, Paris 1969. L, Les exclus. Igloos. Science et service 33–34 (1967). N. N., Options de base de la fondation Aide à toute détresse, in: Igloos. Le Quart Monde 47–48 (1969), S. 18.

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I. Die französische Armutsdebatte in den 1970er Jahren

on«86 . Für das Denken Wresinskis wurde der Begriff seit dem Ende der 1970er zentral87 . Die folgende Karriere des Exklusionsbegriffs wird im Kapitel V noch weiterverfolgt werden. An dieser Stelle kann aber schon festgehalten werden, dass ATD Quart Monde seit dem Ende der 1960er Jahre aktiv auf der Suche nach neuem Vokabular war, das seine Ideen von Armut ausdrücken konnte. Mit dieser Suche und Prägung neuer Begriffe grenzte der Verband sich in verschiedenen Richtungen von anderen Akteuren ab: Zunächst von der Sozialverwaltung und ihrer Auffassung von Armen als individuellen Sozialfällen. Darüber hinaus aber auch von der marxistischen Linken, was die Abkehr vom Begriff der Lumpenproletarier deutlich macht. Für Letzteres haben die Ereignisse im Mai 1968 als Katalysator gewirkt. Zwar haben diese keine radikale Kehrtwende oder Mobilisierung des Verbandes bewirkt, aber doch seine Suche nach Möglichkeiten zur Formulierung und Artikulation seines Anliegens verstärkt – auch und gerade in Abgrenzung zu den Protagonisten der Maiunruhen. Deutlicher als zuvor bemühte sich der Verband seitdem um die Formulierung einer spezifischen Armutsfrage, die er bewusst von der Arbeiterfrage abgrenzte. Im Laufe der 1970er Jahre konnte der Verband die neuen Begriffe und Interventionsformen austesten und ausarbeiten. Frédéric Viguier resümiert die Entwicklung von ATD Quart Monde in den 1970er Jahren wie folgt: »Les années 1970 vont permettre aux militants de la cause des pauvres de préciser leur rapport aux pauvres«88 . Er führt weiter aus, dass der Verband in dieser Zeit seine Ideen von Armut ausarbeiten sowie seine eigene Position finden und gegenüber anderen Verbänden und der Arbeiterbewegung abgrenzen konnte. Öffentliche Aufmerksamkeit dagegen, so Viguier, sei dem Verband in dieser Zeit noch nicht vergönnt gewesen89 . Tatsächlich blieben die meisten Aktionen des Verbandes während der 1970er Jahre für die Öffentlichkeit noch unsichtbar. In der medialen Berichterstattung tauchte der Verband selten auf; seine ersten Appelle an politische Entscheidungsträger in dieser Zeit fanden ebenfalls kaum Gehör. So hatte sich ATD Quart Monde im Mai 1974 mit einem Appell an die beiden Präsidentschaftskandidaten, Mitterrand und Giscard d’Estaing, gewandt und gefordert, dass diese sich im Wahlkampf auch direkt an die Armen wendeten und deren Interessen in die Liste ihrer Wahlkampfthemen aufnähmen90 . Keiner der Kandidaten kam diesem Aufruf jedoch nach91 . Ein genauerer Blick in die Aktivitäten des Verbandes zeigt indes, dass der Verband auch in den 1970er Jahren schon wichtige Kontakte zu Politik und 86

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Lutte contre l’extrême pauvreté et l’exclusion. Rapport moral 1978, Archiv und Bibliothek von ATD Quart-Monde; Lutte contre l’extrême pauvreté et l’exclusion. Rapport moral 1979, ibid. D, De l’»exclusion«. V, La cause des pauvres. Ibid. Rapport moral 1974, Archiv und Bibliothek von ATD Quart Monde. Für die parteipolitische Debatte um Armut in dieser Zeit vgl. Kap. I.2.1.

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1. Die Haltung der Verbände

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Verwaltung knüpfen konnte – auch wenn diese für die Öffentlichkeit zunächst tatsächlich unsichtbar blieben. Beispielsweise dokumentieren die Jahresberichte des Verbandes, dass das französische Sozialministerium in der ersten Hälfte der 1970er Jahre zweimal Vertreter von ATD Quart Monde konsultiert hatte. Im Gespräch mit Staatssekretär René Lenoir hatte der Verband dort insbesondere die Wohnsituation der Armen diskutiert92 . Seit 1977 stand der Verband auch im Kontakt mit dem Staatssekretär für Wohnungswesen, Jacques Barrot. Dieser konsultierte den Verband für die Vorbereitung eines neuen Gesetzes und lud seine Vertreter auch zur Mitarbeit in der interministeriellen Arbeitsgruppe Habitat et vie sociale ein, die sich mit der Erneuerung von Sozialwohnungen beschäftigte93 . Es waren also insbesondere die verstärkten Bemühungen der Regierung um die Lösung der Wohnungsfrage94 , die ATD Quart Monde erste Gelegenheiten gaben, mit der öffentlichen Verwaltung zusammenzuarbeiten. Über diese ersten Kontakte mit Politik und Verwaltung urteilte der Verband selbst im Jahr 1977 wie folgt: »De plus en plus, le mouvement obtient des pouvoirs publics d’être consulté afin que les lois ou les nouvelles politiques tiennent compte de la réalité du Quart Monde«95 . Der Verband knüpfte in dieser Zeit nicht nur Kontakte zur Regierung, sondern auch zum Parlament. Ebenfalls aus den Jahresberichten des Verbandes geht hervor, dass seit 1975 in der französischen Nationalversammlung eine interfraktionelle Groupe d’études du Quart Monde existierte. Die Gruppe, die zwei Jahre nach ihrer Gründung schon 60 Abgeordnete umfasste, hatte sich zur Aufgabe gemacht, die Probleme der Armen verstärkt in die parlamentarische Debatte einzubringen. Alle Parteien der Nationalversammlung waren darin vertreten; den Anstoß zu ihrer Gründung hatte der gaullistische Abgeordnete Émile Bizet gegeben, der ein Unterstützer von ATD Quart Monde war96 . An dieser Stelle wird deutlich, dass die Strategie des Verbandes, sich in gesellschaftlichen Schlüsselpositionen Verbündete zu machen, schon in den 1970er Jahren erste Früchte trug. Wresinski versorgte die Mitglieder der parlamentarischen Gruppe regelmäßig mit den Publikationen seines Verbandes. Auch in der Bibliothek der Nationalversammlung brachte er diese unter und erreichte sogar, dass im dortigen Katalogsystem das Schlagwort der Vierten Welt eingeführt wurde97 . 92 93 94

95 96 97

Rapport moral 1974, Archiv und Bibliothek von ATD Quart Monde. Rapport moral 1977, ibid. Die französische Regierung hatte auf die große Wohnungsnot der Nachkriegszeit mit einer ambitionierten Wohnungspolitik reagiert, die Mitte der 1950er Jahre begann und in den 1960er Jahren ihren Höhepunkt erreichte. Zahlreiche Sozialwohnungen wurden in dieser Zeit neu gebaut, vgl. P, La société française et ses pauvres, S. 37–42. Rapport moral 1977, Archiv und Bibliothek von ATD Quart Monde. Ibid. Ibid.; eine Unterstützergruppe im Senat bestand zu diesem Zeitpunkt noch nicht, jedoch bemühte sich ATD Quart Monde um deren Gründung. Der Jahresbericht des Verbandes berichtet von einem Treffen von Wresinski mit einigen Senatoren zur Vorbereitung einer solchen Gruppe; ob sie letztendlich gegründet wurde, geht aus den Berichten aber nicht hervor.

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I. Die französische Armutsdebatte in den 1970er Jahren

Über seine parlamentarische Unterstützergruppe konnte der Verband also seine Ideen direkt in die Nationalversammlung hineintragen. In einem anderen von der Verfassung vorgesehenen Gremium konnte Wresinski das Anliegen seines Verbandes seit 1979 sogar selbst ohne Umwege einbringen. Denn in diesem Jahr wurde der Vorsitzende von ATD Quart Monde in den Conseil économique et social (CES), den Wirtschafts- und Sozialrat, aufgenommen98 . In diesem Gremium, das die Regierung in wirtschaftlichen und sozialen Fragen beraten sollte99 , waren ursprünglich vor allem Vertreter der Sozialpartner sowie einige von der Regierung ausgewählte Persönlichkeiten vertreten. Die Wahl Wresinskis in diese Gruppen verweist darauf, dass seine Bemühungen um die Anerkennung der Armutsfrage als eigenständiges, von der Arbeiterfrage unabhängiges Anliegen an dieser Stelle bereits Erfolg gehabt hatten. Seine Mitgliedschaft im Rat würde Wresinski in den folgenden Jahren ermöglichen, das Thema dort direkt auf die Tagesordnung zu setzen. Auch für den Verband ATD Quart Monde bedeuten die 1970er Jahre also eine Zeit wichtiger Neu- und Umorientierungen. Neben den genannten institutionellen Entwicklungsprozessen wie der Konsolidierung der personellen Basis und dem langsamen Vordringen in die Sphären von Politik und Verwaltung konkretisiert der Verband in dieser Zeit vor allem seine Ideen von Armutsbekämpfung und wählt seinen Aktionsweg. Indes wurde keiner dieser Prozesse von der hier im Fokus stehenden Zäsur in der Mitte der 1970er Jahre ausgelöst oder katalysiert. Auch die Entdeckung neuer Armutsrisiken spielte dabei keine Rolle. In der Einleitung wurde schon darauf hingewiesen, dass die französische Zeitgeschichtsschreibung die 1970er Jahre oft vor allem als die Zeit nach 1968 versteht. Für die Entwicklung von ATD Quart Monde in den 1970er Jahren kann dies tatsächlich bestätigt werden. Am Ende des Jahrzehnts steht der Verband in jedem Fall auf einer personell und finanziell breiteren Basis als zuvor, hat erste Erfahrung in der Zusammenarbeit mit Politik und Verwaltung gemacht und seine Ideen von Armutsbekämpfung präzisiert. Auch wenn seine Aktionen bis zum Ende des Jahrzehnts noch auf wenig öffentliches Gehör stoßen, legt er damit eine wichtige Grundlage für spätere Handlungen.

98 99

V, Pauvreté et exclusion, S. 155. Im Gesetzgebungsprozess kam dem Wirtschafts- und Sozialrat eine rein konsultative Funktion zu; allerdings konnte das Gremium sich unabhängig von Gesetzesprojekten auf eigene Initiative mit wirtschaftlichen und sozialen Fragen befassen und dazu Veröffentlichungen in Auftrag geben, vgl. S, U, Frankreich, S. 104.

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2. Die parteipolitische Debatte um Armut und die Entwicklung der Armutspolitik 2.1. Die Diskussion um »soziale Ungleichheiten« Nachdem gezeigt wurde, wie die Verbände in den 1970er Jahren ihre Rolle als Lobby der Armen entdeckten, richtet sich der Blick im Folgenden auf die politischen Parteien. Es soll untersucht werden, ob und wie diese zur gleichen Zeit die Armutsfrage behandelten. Die bisherige Forschung hat darauf hingewiesen, dass materielle Mangellagen während der Trente Glorieuses im politischen Raum kaum diskutiert wurden1 . Da die erste Hälfte der 1970er Jahre noch als Teil der Trente Glorieuses gilt, ist zu erwarten, dass die Parteien das Thema in dieser Zeit nur selten besprachen. Dennoch ist hier an verschiedenen Stellen schon deutlich geworden, dass sich im Laufe des Jahrzehnts nicht nur neue Armutsrisiken herausbildeten, sondern auch die Verbände mit ersten Appellen die Politik zur Beschäftigung mit den Notlagen in der Bevölkerung aufriefen. Ob und wie die Parteien in den 1970er Jahren auf diese Appelle eingingen und wie sie auf die Herausbildung der neuen Risiken reagierten, wird im Folgenden untersucht. Der Blick richtet sich hier zunächst auf die parlamentarische Debatte der französischen Nationalversammlung. Anschließend gilt den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen besondere Aufmerksamkeit, denn es ist zu vermuten, dass die Parteien gerade im Vorfeld einer Wahl besonders offen für neue Wahlkampfhemen waren. Der erste Blick auf die Debatten der Nationalversammlung bestätigt die bisherigen Aussagen der Forschung über die Abwesenheit der Armutsfrage in der politischen Sphäre. Tatsächlich tauchte diese in der ersten Hälfte der 1970er Jahre in den Diskussionen der Assemblée nationale nur selten auf. Obwohl Abgeordnete verschiedener Parteien sie an unterschiedlichen Stellen einbrachten, entspann sich anschließend nie eine ausführliche Besprechung des Themas, sondern es verschwand kurz nach seinem Auftauchen sofort wieder. Allerdings lässt sich aus den – wenn auch wenigen – Redebeiträgen der einzelnen Abgeordneten eine Sensibilität für Armut ablesen, die insgesamt höher war als erwartet – und als die Forschung diese bisher dargestellt hat. Denn einerseits verweisen zwar die von den Parlamentariern verwendeten Begriffe darauf, dass diese die Mangellagen prinzipiell als marginales Phänomen

1

V, Le rôle des associations; P, La société française et ses pauvres.

https://doi.org/10.1515/9783110613087-003

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I. Die französische Armutsdebatte in den 1970er Jahren

betrachteten. Von »îlots de pauvretés«2 , »poches de pauvreté«3 »taches de pauvreté«4 war dort die Rede. Die mit diesen Termini beschriebenen Situationen erschienen den Abgeordneten als Inseln im Meer einer sonst reichen Gesellschaft. Auch das Sprechen von einer »pauvreté résiduelle«5 verdeutlicht dies: Die Not einiger Bevölkerungssegmente wurde als Überrest der Vergangenheit in einer nun wohlhabend gewordenen Gesellschaft gesehen. Andererseits zeigen die Abgeordneten ein hohes Bewusstsein dafür, dass Armut auch im Wohlstand existieren könnte, beziehungsweise dass die Kehrseite des Wohlstands der einen auch große Not für die anderen bedeuten könnte. »Il n’est pas douteux qu’au sein des sociétés des pays développés, en dépit de l’augmentation du niveau de vie, une certaine pauvreté irréductible à l’expansion et à la prospérité générales a tendance à s’instituer«6 . Mit dieser Aussage widersprach ein Abgeordneter im Jahr 1970 offen der in den Trente Glorieuses gehegten Hoffnung, Armut könne durch den generellen Anstieg des gesellschaftlichen Wohlstandes beseitigt werden. Anschließend fügte er hinzu, dass wirtschaftliches Wachstum Ungleichheiten nicht nur nicht verhindere, sondern sie auch verursachen könne7 . Auch an anderer Stelle der Debatte vertrat ein Abgeordneter diese Meinung: »Il faut le reconnaître, elle [la croissance] engendre dans ce pays la pauvreté«8 . In diesem Kontext tauchte für die Betroffenen auch der Begriff der »laissés pour compte de l’expansion«9 und der »mal-aimés de l’expansion«10 auf. Die Abgeordneten rückten verschiedene Gruppen, die das Wirtschaftswachstum nicht erfasst hatte, in den Fokus, insbesondere traditionelle Risikogruppen für Armut wie Geringverdiener, alte Menschen und Behinderte11 . Dass diese Gruppen nicht vom gesellschaftlichen Wohlstand profitierten, bezeichneten die Abgeordneten als »injustice«, als Ungerechtigkeit. Neben diesem häufig auftauchenden Begriff verwiesen sie außerdem immer wieder auf die Ungleichheit, die »inégalité«12 . Um beides noch deutlicher hervorzuheben, stellten einige Abgeordnete auch die Mangellagen einzelner Bevölkerungsteile explizit dem generellen gesellschaftlichen Wohlstand gegenüber:

2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12

Jean-Marie Commenay, AN, JO. Débats parlementaires, 16.6.1970, S. 2721; Adrien Zeller, ibid., 27.5.1975, S. 3255. Jean de Broglie, ibid., 20.4.1971, 2. Sitzung, S. 1267; Michel d’Ornano, ibid., 11.4.1973, S. 794. Albin Chalandon, ibid., 10.4.1973, S. 769. Jean-Marie Commenay, ibid., 16.6.1970. Ibid. Ibid. Albin Chalandon, AN, JO. Débats parlementaires, 24.5.1973, S. 1537. Paul Duraffour, ibid., 4.11.1971, S. 5330. Jean-Marie Commenay, ibid., 16.6.1970. Ibid.; Albin Chalandon, ibid., 10.4.1973. Jean de Broglie, ibid., 20.4.1971; Paul Duraffour, ibid., 4.11.1971; Michel d’Ornano, ibid., 11.4.1973; Albin Chalandon, ibid., 24.5.1973.

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2. Die parteipolitische Debatte

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Certains Français sont malheureux, tandis que la grande majorité vit bien, certains affichant parfois même un luxe insolent. Bref, il existe dans ce pays des inégalités dans les ressources, dans les conditions de vie, inégalités qui sont d’autant moins supportées que certains ne disposent pas du strict nécessaire alors que, autour de nous, la publicité, par exemple, nous incite sans cesse à avoir plus13 .

Im Angesicht des Wohlstands einiger Teile der Gesellschaft erschien ihnen die Existenz angeblicher Armutsinseln umso gravierender. An dieser Stelle wird deutlich, dass die politischen Entscheidungsträger die materiellen Mangellagen in der Bevölkerung nicht erst in Folge der wirtschaftlichen Konjunktureinbrüche nach 1973 entdeckten, sondern partiell schon vorher, und zwar als Armut im Wohlstand. Schon bevor sich die wirtschaftliche Situation des Landes insgesamt verschlechterte, hatten zumindest einige Abgeordnete verstanden und offen im Parlament ausgesprochen, dass Armut ein Teil der Trente Glorieuses war und dass generelles wirtschaftliches Wachstum sie nicht zwangsweise verschwinden ließ. Was hatte die Abgeordneten zu dieser Erkenntnis gebracht, die mit ihrer vorausgehenden politischen Annäherung an das Thema brach? In den Quellen weist nichts auf eine Rezeption der oben dargestellten Aktionen der Verbände. Denn weder erwähnen die Abgeordneten diese in der Debatte, noch gibt ihr Vokabular Hinweise darauf, dass sie sich mit den Ideen von Sozialfällen oder einer Vierten Welt auseinandergesetzt hätten. Wie ist dann aber die partielle Sensibilisierung für materielle Mangellagen zu erklären? Die Arbeiten, die sich mit der sozialwissenschaftlichen Thematisierung von Armut befassen, beispielsweise von Michel Messu14 und Christiane Reinecke15 , weisen darauf hin, dass dieser partiellen politischen Wiederentdeckung eine sozialwissenschaftliche Wiederentdeckung in den 1960er Jahren vorausging. Auch dort seien die Notlagen der Bevölkerung nicht als Produkt einer Wirtschaftskrise, sondern als Armut im Wohlstand entdeckt worden. Die Vermutung liegt nahe, dass die Politiker diesen wissenschaftlichen Diskurs rezipiert hatten. Begriffe wie die der Armutsinseln, die eindeutig aus der sozialwissenschaftlichen Debatte stammen16 , lassen dies umso wahrscheinlicher erscheinen. Allerdings war diese Diskussion insgesamt kaum durchgedrungen, da sich nur wenige Abgeordnete vereinzelt dazu äußerten. Die quantitative Dimension weist auf einen ersten wichtigen Unterschied der Debatte der frühen 1970er Jahre zur Verhandlung der neuen Armut zu Beginn der 1980er Jahre hin. 13 14 15

16

Albin Chalandon, ibid., 10.4.1973. M, Pauvreté et exclusion en France, S. 139–169. Vgl. Reineckes Vortrag auf dem Historikertag 2014, in: Arne H, Tagungsbericht HT 2014: Ein verlorenes Jahrzehnt? Die 1970er-Jahre in Frankreich und Großbritannien, 23.9.2014–26.9.2014 Göttingen, in: H-Soz-Kult, 31.10.2014, http://www.hsozkult.de/conf erencereport/id/tagungsberichte-5644 (22.1.2019). Der Begriff geht auf John Kenneth Galbraith zurück, der 1958 in seinem Essay »The Affluent Society« von ländlichen, strukturschwachen Gebieten als insular poverty sprach, vgl. John Kenneth G, The Affluent Society, Cambridge 1958.

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I. Die französische Armutsdebatte in den 1970er Jahren

Bevor weitere Unterschiede offengelegt werden, soll an dieser Stelle noch zwei Ereignissen in der ersten Hälfte der 1970er Jahre und der Rolle der Armutsfrage in dieser Zeit besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden, nämlich den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, die im Frühling der Jahre 1973 und 1974 stattfanden. Zunächst zu den Parteien des politisch linken Spektrums, bei denen grundsätzlich eine hohe Affinität zu sozialen Fragen erwartet werden kann. Unter dem Titel »Changer la vie« verabschiedete die sozialistische Partei 1972 ihr Regierungsprogramm. Auch wenn darin nicht explizit der Begriff Armut fällt, offenbart das Programm doch eine hohe Sensibilität der Sozialisten für die Situation der unteren Einkommensschichten. Schon die ersten Sätze des Parteivorsitzenden François Mitterrand zur Einleitung des Programms verdeutlichen dies. Mitterrand verwies darin auf die »inégalité profonde des conditions sociales«17 und stellte fest: »Des millions de Français vivent dans des conditions déplorables«18 . Als Betroffene zählte er Arbeiter mit geringen Einkünften, alte Menschen und Landwirte und damit traditionelle Armutsgruppen auf, sprach aber auch schon von der hohen Anzahl Arbeitsloser und hob dabei Jugendliche auf der Suche nach dem ersten Arbeitsplatz hervor19 . Mit dem Verweis auf die steigende Anzahl der Arbeitslosen ging Mitterrand schon auf eine empirisch neue Entwicklung der frühen 1970er Jahre ein. Jedoch sah das Programm seiner Partei noch keine Maßnahmen dagegen vor. Denn zur Bekämpfung der zuvor identifizierten Ungleichheiten schlugen die Sozialisten die Anhebung der Löhne und der Mindestrente vor und zielten damit auf die traditionell als arm geltenden Rentner und Geringverdiener20 . In den Wahlkampf zog der PS 1973 letztendlich nicht mit diesem Programm, sondern mit dem »Programme commun«, auf das die Partei sich am 27. Juni 1972 gemeinsam mit der kommunistischen Partei PCF geeinigt hatte und dem in den folgenden Wochen auch die linksliberale Bewegung Mouvement des radicaux de gauche (MRG) beitreten sollte21 . Das gemeinsame Regierungsprogramm der Linken analysiert und beantwortet die Armutsfrage prinzipiell ähnlich wie das ihm vorausgehende Programm der Sozialisten. Auch darin zeichnet sich an einer 17

18 19 20 21

François M, Présentation, in: Changer la vie. Programme de gouvernement du Parti socialiste et Programme commun de la gauche, hg. v. Parti socialiste, Paris 1972, S. 7–33, hier S. 7. Ibid. Ibid. Parti socialiste, Programme de gouvernement du Parti socialiste, ibid, S. 35–254, hier S. 41. Den ersten Schritt für diese Vereinigung der verschiedenen linken Parteien hatte 1965 schon die Gründung einer Fédération de la gauche démocrate et socialiste (FGDS) gelegt. Bei den Wahlen 1969 war die Linke jedoch noch nicht vereint. Erst Anfang der 1970er Jahre näherten sich die verschiedenen Parteien so weit an, dass sie ein gemeinsames Programm annehmen konnten. Zuvor hatten allerdings sowohl PS als auch PCF ihre eigenen Regierungsprogramme ausgearbeitet, erst danach trafen sich Delegierte der Parteien, um aus beiden Programmen ein gemeinsames entstehen zu lassen, vgl. C, C, D, Histoire de la Ve République, S. 190–196.

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2. Die parteipolitische Debatte

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Stelle Aufmerksamkeit für die Notlagen der Bevölkerung ab. Dort heißt es: »L’insécurité matérielle qui résulte de la vieillesse, du chômage, de la maladie constitue encore, dans la société actuelle, une véritable hantise pour des millions de Français. Cet état de choses doit cesser«22 . Auch das »Programme commun« blendete Armut keineswegs aus oder verdrängte sie, sondern stellte sie im Gegenteil als Massenphänomen dar, das Millionen Menschen in Frankreich betraf. Zur Bekämpfung des Problems wurden, wie auch schon vorher im Programm der Sozialisten, die Erhöhung der Löhne, des Kindergelds und der Mindestrente gefordert23 . Im Präsidentschaftswahlkampf des folgenden Jahres waren die Parteien des linken Spektrums dann durch Mitterrand vertreten, der aus dem ersten Wahlgang am 5. Mai 1974 als klarer Sieger hervorging – um dann allerdings im zweiten Wahlgang dem konservativen Kandidaten Valéry Giscard d’Estaing knapp zu unterliegen24 . In Mitterrands Wahlkampf spielte die Armutsfrage eine Rolle – wenn auch keine zentrale. In den öffentlichen Erklärungen, Ansprachen und den verschiedenen Wahlkampfdokumenten fiel der Begriff nicht explizit. Auch wandte sich der sozialistische Präsidentschaftskandidat nicht direkt an die Armen als potentielle Wähler – so wie ATD Quart Monde sich dies gewünscht hätte. Dennoch gehörten sehr wohl verschiedene Forderungen, von denen gerade die untersten Einkommensschichten profitieren würden, zu den festen Bestandteilen von Mitterrands Wahlkampfthemen. Auch hier galt die größte Aufmerksamkeit wieder traditionellen Risikogruppen. Seinen sozialpolitischen Schwerpunkt hatte Mitterrand eindeutig auf alte Menschen gelegt, wie er es selbst ankündigte: »J’ai mis en tête de mon programme effectivement des mesures concernant les personnes âgées«25 . Auch an seinen Wahlplakaten wird dies deutlich. Eines davon zeigt eine alte Frau, einsam auf einer Parkbank sitzend, mit der Bildüberschrift »Que peut-elle faire avec 450 F par mois?«26 Eindeutig zeigt sich hier das Armutsbild der Trente Glorieuses, nach dem vor allem alte Menschen und insbesondere Frauen von materieller Not betroffen waren. In den Trente Glorieuses hatte Armutsbekämpfung daher vor allem im Vorgehen gegen Altersarmut bestanden27 . Zu Mitterrands sozialpolitischen Forderungen gehörten entsprechend die Erhöhung der Mindestrente, aber auch die Erhöhung des Mindestlohnes, der Beihilfen für Behinderte und die

22 23 24 25 26 27

Parti communiste, Parti socialiste, Radicaux de gauche, Le Programme commun de gouvernement, in: Changer la vie, S. 255–337, hier S. 263. Ibid., S. 257–264. Giscard d’Estaing erhielt 50,8 % der Stimmen, Mitterrand 49,2 %, vgl. C, C, D, Histoire de la Ve République, S. 211. Zit. nach N. N., Le face-à-face télévisé des deux candidats, in: Le Monde, 12./13.5.1974. Affiche éditée par le Parti socialiste à l’occasion de l’élection présidentielle d’avril-mai 1974, in: Alain G (Hg.), Affiches, Paris 1982, S. 83. B-D, Combattre la pauvreté, S. 219–246.

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I. Die französische Armutsdebatte in den 1970er Jahren

umfassende Kostenerstattung für medizinische Behandlungen28 . All diese Maßnahmen präsentierte Mitterrand jedoch nie unter dem Schlagwort der Armutsbekämpfung. Stattdessen stellte er sie teilweise als Mittel zur Herstellung einer »société plus juste«29 dar, wie etwa bei der Vorstellung seiner Wahlkampfthemen auf einem außerplanmäßigen Parteitag der Sozialisten im April 1974. Der am häufigsten wiederkehrende Begriff war jedoch nicht der der sozialen Ungerechtigkeiten, sondern der der sozialen Ungleichheiten. Die verschiedenen Situationen von alten Menschen, Geringverdienern, kinderreichen Familien, Arbeitslosen und Behinderten wurden von Mitterrand alle als »inégalités sociales«30 zusammengefasst; Maßnahmen zur Verbesserung ihrer Situation dienten entsprechend der »réduction des inégalités sociales«31 . Insgesamt zeigten sowohl die vereinigten Linksparteien im Vorfeld der Parlamentswahl 1973 als auch Mitterrand als Präsidentschaftskandidat prinzipiell Interesse an der Situation der unteren Einkommensschichten und schlugen verschiedene Maßnahmen zu deren Gunsten vor. Allerdings waren sie damit nicht allein, sondern auch aus dem konservativen Parteienspektrum kamen ähnliche Vorschläge. Seit 1967 waren die drei größten Parteien des konservativen Parteienspektrums, nämlich die Gaullisten, die unabhängigen Republikaner und das Zentrum, zur Union des républicains de progrès (URP) vereinigt und stützten mit dieser Formation zunächst den Präsidenten de Gaulle und seit 1969 Georges Pompidou. Auch zu den Parlamentswahlen 1973 traten diese drei Parteien noch gemeinsam an, jedoch zerfiel ihre Union im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 1974, zu der dann mit Valéry Giscard d’Estaing und Jacques Chaban-Delmas zwei Mitglieder der ehemaligen Parteiunion als Gegner antraten32 . Im Programm, mit dem die URP 1973 in den Wahlkampf zog, weist zunächst nichts auf ein Interesse der drei Parteien für materielle Notlagen hin. Weder von Armut noch von einer Vierten Welt, Sozialfällen oder sozialen Ungleichheiten ist dort die Rede. Allerdings finden sich unter den sozialpolitischen Forderungen einige Maßnahmen, von denen die unteren Einkommensschichten profitieren würden – und die 28

29 30

31

32

Parti socialiste, secrétariat aux études, campagne présidentielle 1974. Arguments et ripostes, CAS, François Mitterrand, documents, analyses, résultats, présidentielles 1974; vgl. auch die verschiedenen darin befindlichen Presseberichte: N. N., Trois plans, trois fonctions, in: Le Monde, 14./15.4.1974; N. N., M. Francois Mitterrand. Un plan économique en trois temps, in: Le Monde, 20.4.1974; N. N., Les positions des trois candidats, in: Le Monde, Dossiers et documents: l’élection présidentielle de mai 1974, S. 86–91. Francois M, Au nom de la gauche tout entière, nous nous adressons au pays tout entier, in: Le Poing et la Rose 27 (1974), S. 4–6. D., Un plan en trois étapes, in: Le Poing et la Rose 28 (1974), S. 12; Parti socialiste, secrétariat aux études, Campagne présidentielle 1974. Arguments et ripostes, CAS, François Mitterrand, documents, analyses, résultats, présidentielles 1974. Déclaration de M. François Mitterrand, candidat à la présidence de la République le 18 avril 1974 devant la presse économique et financière, CAS, François Mitterrand, campagne présidentielle, avril 1974. Jean-Christian P, Le gaullisme, Paris 4 1994, S. 77.

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2. Die parteipolitische Debatte

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den Forderungen der Sozialisten auffallend gleichen. Wie diese forderte auch die URP die Anhebung des Mindestlohns und eine deutliche Erhöhung der Mindestrente33 . Im Präsidentschaftswahlkampf 1974 legte der Kandidat der Républicains indépendants und spätere Präsident Valéry Giscard d’Estaing auch den gleichen Fokus auf Altersarmut wie Mitterrand. Er begründete diese Entscheidung wie folgt: Le groupe social de Français qui est, à l’heure actuelle, le moins protégé au point de vue de ses ressources, c’est le groupe des Français âgés de plus de 65 ans. Si l’on fait une sorte de carte des revenus des ressources en France, c’est là que la tâche est la plus claire. C’est là que la densité des ressources est la plus faible. Et c’est pourquoi en accord avec ceux qui ont examiné avec moi ces perspectives présidentielles, nous avons décidé de mettre en priorité dans notre programme l’amélioration des ressources des personnes âgées34 .

Alte Menschen identifizierte Giscard d’Estaing also als größte Risikogruppe; entsprechend präsentierte er auch die Erhöhung der Mindestrente als eine seiner wichtigsten sozialpolitischen Forderungen35 . Auch sonst ähnelte die Problemanalyse des zukünftigen Präsidenten der seines sozialistischen Konkurrenten. Zwar sprach Giscard d’Estaing teilweise schon von »securités«, Sicherheiten, und benutzte damit einen Begriff, der zu diesem Zeitpunkt sehr selten als Ziel von sozialpolitischen Maßnahmen angeführt wurde. Giscard führte an, mit seiner Sozialpolitik die »sécurité devant la vieillesse«, die »sécurité de l’emploi« und die »sécurité de la femme et de la famille«36 anzustreben. Sonst sprach aber auch er, genau wie Mitterrand, von einem »écart des revenus«37 , das durch bessere Verteilung der Ressourcen gelöst werden könne: »Il faut mieux les repartir«38 . Auch er identifizierte Armut also als Verteilungsfrage und damit als Problem, das durch eine veränderte Verteilung der Einkommen gelöst werden könnte. Giscard d’Estaing erschien der bestehende Sozialstaat als geeignete Instanz, um diese Umverteilung zu leisten. Folglich kamen auch von ihm keine Vorschläge zur Änderung des sozialen Sicherungssystems, sondern auch er setzte auf die Erhöhung und den Ausbau bestehender Sozialleistungen. An dieser Stelle wird eine weitere Parallele zu Mitterrand deutlich – und gleichzeitig ein zweiter fundamentaler Unterschied der Armutsdebatte der frühen 1970er Jahre zur späteren Diskussion der neuen Armut, nämlich das Vertrauen in den Sozialstaat. Wie Giscard d’Estaing hatte auch Mitterrand keine 33 34 35 36 37 38

N. N., Les plates-formes des grandes formations, III: Le programme de la majorité, in: Le Figaro, 13./14.1.1973. Déclarations de M. Giscard d’Estaing lors de sa campagne de 1974, CAS, Législatives 1973, candidatures, éléments programmatiques, résultats et commentaires. N. N., Dossier pour le président (II). Chaban, Giscard et Mitterrand répondent, in: Entreprise, 3.5.1974. Zit. nach Michel S, M. Valéry Giscard d’Estaing. Des »orientations présidentielles« plus qu’un véritable programme, in: Le Monde, 21./22.4.1974. Déclarations de M. Giscard d’Estaing, CAS, Législatives 1973, candidatures, éléments programmatiques, résultats et commentaires. Ibid.

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I. Die französische Armutsdebatte in den 1970er Jahren

Vorschläge für die Einführung neuer Sozialleistungen, sondern prinzipiell wollte er die Probleme lösen, indem bestehende Leistungen wie die Mindestrente, den Mindestlohn, die Beihilfen für Behinderte oder das Kindergeld erhöhte. Er demonstriert damit sein prinzipielles Vertrauen in das französische System der sozialen Sicherung. Auch ein Wahlkampfdokument des PS von 1974 illustriert dieses Vertrauen sehr anschaulich. Verschiedene sozialpolitische Vorschläge sind dort aufgelistet unter der Überschrift »La Sécurité sociale contre les inégalités«39 . Die Sozialversicherung würde nach Meinung der Sozialisten das Problem lösen, das sie als soziale Ungleichheit identifiziert hatten. Diese Auffassung war kurz nach der Einführung der Sécurité sociale, des französischen Sozialversicherungssystems, im Jahr 1945 sehr verbreitet gewesen. Große Hoffnungen richteten sich in dieser Zeit auf das neue System, von dem viele glaubten, es würde nach und nach immer größere Teile der Bevölkerung absichern und schließlich die Sozialhilfe ganz überflüssig machen. Entsprechend wurden 1945 die alten Fürsorgegesetze der III. Republik zunächst gar nicht erneuert, sondern blieben in einem provisorischen Zustand. Erst zwischen 1953 und 1955 wurden sie reformiert und zu den neuen Sozialhilfegesetzen gemacht40 . Die Reform zeigt, dass die politischen Entscheidungsträger Anfang der 1950er Jahre schon verstanden hatten, dass die flankierende Sozialhilfe neben der Sozialversicherung keineswegs überflüssig geworden war. Auch in den hier analysierten Debatten der frühen 1970er Jahre wird deutlich, dass die politischen Entscheidungsträger nicht damit rechneten, dass die Sozialhilfe sich erübrigen würde. Lediglich ein Abgeordneter äußert zu Beginn der 1970er noch die Hoffnung darauf, eine Reform der Sozialversicherung könne zur »disparition de l’aide sociale«41 führen. Darüber hinaus machten die verschiedenen Vorschläge zur Reform von sowohl Sozialversicherung als auch Sozialhilfe deutlich, dass die Notwendigkeit beider Systeme anerkannt war. Verbreitet war aber gleichzeitig auch die Überzeugung, dass diese beiden Systeme eine ausreichende Antwort auf die diskutierten Fragen darstellten. Denn von den hier bisher zitierten Akteuren brachte keiner einen Vorschlag zum Umbau des sozialen Sicherungssystems ein. Stattdessen setzten alle auf die Erhöhung und Ausdehnung verschiedener bestehender Leistungen, etwa der verschiedenen Mindestsicherungen oder des Mindestlohns. Kein anderer Vorschlag wurde in der parlamentarischen Debatte gemacht, und auch die beiden Endkandidaten der Präsidentschaftswahl unterschieden sich in dieser Hinsicht nicht. Hinweise auf die Forderung nach einer zumindest partiellen Änderung des französischen Sozialstaats finden sich in der ersten Hälfte der 1970er Jahre nur an einer Stelle. Sie kamen überraschenderweise vom Präsidentschaftskandidaten der Gaullisten, Jacques Chaban-Delmas. Der ehemalige Premierminister unter 39 40 41

Parti socialiste, secrétariat aux études, campagne présidentielle 1974. Arguments et ripostes, CAS, François Mitterrand, documents, analyses, résultats, présidentielles 1974. B-D, Combattre la pauvreté, S. 218. Paul Duraffour, AN, JO. Débats parlementaires, 4.11.1971, S. 5330.

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2. Die parteipolitische Debatte

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Pompidou hatte Anfang April 1974 noch vor Giscard d’Estaing seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen angekündigt, war diesem dann aber im ersten Wahlgang deutlich unterlegen42 . Schon als Premierminister hatte ChabanDelmas sich den Slogan der »nouvelle société« zu eigen gemacht. Er machte ihn auch 1974 zum roten Faden seines Wahlkampfs und kündigte in diesem Kontext die Einführung einer Mindestsicherung für Familien an: Dans cette nouvelle société, il sera garanti à chaque famille un minimum de ressources de 1500 francs par mois, minimum indexé sur l’indice des prix bien entendu. Je propose donc quelque chose qui est global, garanti et chiffré. Et ce minimum global, garanti et chiffré sera révisé chaque année en hausse par le gouvernement, en fonction de la croissance de la richesse nationale43 .

Jede Familie mit mindestens einem Kind sollte also ein Anrecht auf eine monatliche Mindestsicherung von 1500 Franc haben. Die Summe war dabei extrem niedrig angesetzt; zum Vergleich: Für Mindestlohn und Mindestrente hatten die Kandidaten im Wahlkampf die Anhebung auf 1200 Franc für eine Einzelperson angekündigt. Ein Dreipersonenhaushalt hätte insofern mit der Mindestsicherung nicht seine Existenz bestreiten können. Daher hätte die Umsetzung dieses Vorschlags wahrscheinlich wenig konkrete Änderungen für die Situation armer Familien mit sich gebracht. Interessant ist sie aber insofern, als Chaban-Delmas damit eine beträchtliche Neuerung für das französische System der sozialen Sicherung vorschlug. Bisher war die beitragsunabhängige Unterstützung dort in verschiedenen minima sociaux organisiert, die allerdings nur bestimmten Gruppen der Bevölkerung zustanden, beispielsweise Witwen, alten Menschen oder Behinderten. Um Anspruch auf diese Unterstützung zu haben, musste man einer dieser Kategorien angehören44 . Eine generelle Mindestsicherung, die im Falle von Armut den Betroffenen ein monatliches Existenzminimum garantierte, gab es zu diesem Zeitpunkt in Frankreich noch nicht. In der Bundesrepublik war sie 1961 mit dem Bundessozialhilfegesetz verabschiedet worden. Auch die meisten anderen westeuropäischen Länder hatten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine solche Mindestsicherung eingeführt: Großbritannien, Finnland und Schweden schon vor der Bundesrepublik, die Niederlande kurz nach ihr, Belgien und Dänemark dann 197445 . Chaban-Delmas wollte 1974 aber dem westeuropäischen Trend folgen und 42

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Chaban-Delmas konnte nur 15,1 % der Stimmen für sich verzeichnen, während Giscard d’Estaing mit 32,6 % mehr als doppelt so viele erhielt. Mitterrand übertraf im ersten Wahlgang beide mit einem Ergebnis von 43,2 %, vgl. C, C, D, Histoire de la Ve République, S. 211. Zit. nach N. N., Les programmes. Entretien avec. . . M. Jacques Chaban-Delmas, in: Le Monde, Dossiers et documents: l’élection présidentielle de mai 1974, S. 77–79. B, Solidarität im Vorsorgestaat, S. 89–107. Serge P, Représentations de la pauvreté et modes d’assistance dans les sociétés européennes, in: D. (Hg.), L’Europe face à la pauvreté, S. 13–44, hier S. 13; vgl. auch Yannick V, Philippe V P, Ein Grundeinkommen für alle? Geschichte und Zukunft eines radikalen Vorschlags, Frankfurt a. M., New York 2005.

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I. Die französische Armutsdebatte in den 1970er Jahren

einen ersten Schritt in diese Richtung gehen, indem er sich für eine Leistung einsetzt, die er selbst als »globale« bezeichnete. Nicht alle Franzosen insgesamt würden davon profitieren, aber doch alle Familien, und zwar unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu einer Kategorie. Mit dieser Universalität hätte der französische Sozialstaat sich ein Stück von seiner bisherigen Logik entfernt. Warum schlug Chaban-Delmas als einziger Kandidat einen partiellen sozialstaatlichen Kurswechsel vor? Er selbst begründete die Entscheidung wie folgt: »Nous avons actuellement tout un arsenal de moyens: le SMIC, les allocations familiales, l’allocation logement, les pensions de vieillesse, etc. Or, vous le savez, toutes ces dispositions, malgré leur complexité, laissent souvent de côté certains cas particuliers«46 . Die bestehenden sozialstaatlichen Vorkehrungen erschienen dem Gaullisten also nicht ausreichend; er unterstreicht, dass diese nicht alle Problemlagen abdeckten. Erstmals für den Untersuchungszeitraum wird an dieser Stelle in der politischen Sphäre offen die Erkenntnis geäußert, dass der Sozialstaat in seiner aktuellen Form keine ausreichende Antwort auf die sozialen Probleme darstellte. 1974 stand Chaban-Delmas mit dieser Meinung noch allein da. Im Laufe der 1980er Jahre würde sich dies jedoch ändern und die Kritik an den Institutionen des Sozialstaats sich ausbreiten. Für die erste Hälfte der 1970er Jahre kann jedoch festgehalten werden, dass die Haltung der Politiker durch ein prinzipielles Vertrauen in den Sozialstaat charakterisiert war. Insgesamt wurde Armut als politisches Thema also nicht erst in Folge der krisenhaften Entwicklung der Konjunktur nach dem ersten Ölpreisschock entdeckt. Eine zumindest partielle politische Sensibilität für die Existenz materieller Notlagen im Wohlstand zeigten die Parteien auch schon in der ersten Hälfte der 1970er Jahre. Allerdings diskutierten sie sie in dieser Zeit nur an sehr wenigen Stellen. Entgegen der Vorannahme dieses Kapitels änderte sich aber auch in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts kaum etwas an dieser Situation. In welcher Hinsicht die Jahre 1973/74 einen Bruch bedeuteten, wurde am Anfang dieses Kapitels erläutert. Der Blick auf den Secours catholique hat gezeigt, dass für diesen Verband die Zäsur in der Mitte der 1970er Jahre spürbar war und sich sein Zugang zur Armutsfrage mit der Entdeckung neuer Armutsrisiken zu wandeln begann. Das gleiche Urteil kann indes nicht für die politischen Parteien getroffen werden. Im Gegenteil, die Quellen zeigen auch jenseits der Schwelle von 1973/74 eine erstaunliche Kontinuität auf. Zwar ist in der parlamentarischen Debatte ein leichter quantitativer Anstieg feststellbar, jedoch ist von einer Entdeckung neuer betroffener Gruppen oder einer neuen Armut noch keine Rede. Stattdessen standen im Laufe des Jahrzehnts weiter traditionelle Risikogruppen,

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Zit. nach N. N., Les programmes. Entretien avec. . . M. Jacques Chaban-Delmas, in: Le Monde, Dossiers et documents: l’élection présidentielle de mai 1974, S. 77–79; CAS, François Mitterrand, documents, analyses, résultats, présidentielles 1974.

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2. Die parteipolitische Debatte

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immer wieder vor allem alte Menschen und Geringverdiener, im Fokus47 . Auch änderten sich weder die Begrifflichkeiten noch der Blick auf Armut: Nach wie vor diskutierten die Abgeordneten sie unter dem Schlagwort der sozialen Ungleichheiten und als Frage der ungerechten Verteilung der wirtschaftlichen Reichtümer48 . Ebenso wurde der französische Sozialstaat immer noch als geeignete Instanz zu deren Umverteilung betrachtet und dementsprechend auf die Erhöhung und Ausweitung bestehender Sozialleistungen gesetzt49 . Der Parlamentswahlkampf 1978 illustriert diese Kontinuität. Der PS aktualisierte im Vorfeld der Wahl das »Programme commun«50 , änderte dabei aber nichts an seinen sozialpolitischen Themen51 . Auch die anderen Parteien brachten im Wahlkampf weitgehend die gleichen sozialpolitischen Analysen und Forderungen ein wie schon 1973 und 1974. Die einzige Neuerung in dieser Hinsicht sticht im Wahlprogramm der liberalen und konservativen Parteien hervor. Denn im Programm, auf das sich diese Anfang 1978 in Blois geeinigt hatten, taucht die Idee einer garantierten Mindestsicherung auf, die 1974 bereits zu den Wahlkampfthemen des gaullistischen Kandidaten Chaban-Delmas gehört hatte. Im Unterschied zu seinem Vorschlag einer Mindestsicherung für alle Familien mit Kindern war im »Programme de Blois« die Rede von der Einführung eines Mindesteinkommens für Familien mit mehr als drei Kindern52 . Obwohl die Unterzeichner des Programms aus den Parlamentswahlen als Sieger hervorgingen, setzten sie diese Forderung anschließend jedoch nicht um. Einige weitere, wenn auch sehr geringe Neuerungen zeichnen sich im parlamentarischen Diskurs der zweiten Hälfte der 1970er Jahre ab. Neben dem schon erwähnten leichten quantitativen Anwachsen der Debatte ändert sich auch die Akteurskonstellation. Nachdem in der ersten Hälfte der 1970er Jahre Abgeordnete verschiedener Parteien die Armutsfrage aufgegriffen hatten, waren es in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts fast ausschließlich kommunistische Politiker. Ihre Partei deswegen als Lobby der Armen zu bezeichnen, würde trotzdem zu weit gehen, denn an ihren Ausführungen wird deutlich, dass eher die Arbeiter- als die Armutsfrage sie umtrieb. Nicht die materiellen Notlagen insgesamt, sondern die Notlagen der Arbeiter standen in ihren Argumentatio47 48 49 50

51 52

Roland Leroy, AN, JO. Débats parlementaires, 19.10.1976, S. 6729; Gilbert Schwartz, ibid., 29.10.1976, S. 7289; Guy Ducoloné, ibid., 14.11.1977, S. 7347. Louis Odru, ibid., 9.12.1976, S. 9135. Georges Marchais, ibid., 13.10.1977, S. 6111. Das übrigens zu diesem Zeitpunkt nicht mehr »commun« war, sondern nur noch das Programm der Sozialisten, die sich mit dem PCF auf keine gemeinsame Version hatten einigen können, vgl. A, Les partis politiques en France, S. 69–80. Le Programme commun de gouvernement de gauche. Propositions socialistes pour l’actualisation, hg. v. Parti socialiste, Paris 1978, S. 16–20. Objectifs d’action pour les libertés et la justice. Présentés à Blois, le 7 janvier 1978, par Raymond Barre, Premier ministre, hg. v. Union pour la démocratie française, Paris 1978, S. 55.

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I. Die französische Armutsdebatte in den 1970er Jahren

nen im Zentrum; entsprechend stellte die Erhöhung des Mindestlohns für sie das zentrale Mittel zur Lösung dieser Frage dar53 . Interessant ist aber, dass der PCF in diesem Kontext das Armutsthema als Mittel zur Artikulation von Regierungskritik entdeckte. Indem die Kommunisten auf die Mangellagen in der Bevölkerung verwiesen, klagten sie die Regierung an, ihren Aufgaben nicht nachzukommen, der Bevölkerung keinen Schutz zu gewähren oder sogar durch ihre Wirtschaftspolitik selbst diese Armut geschaffen zu haben. So griff ein kommunistischer Abgeordneter den Wirtschaftsplan der Regierung mit den Worten an: »Votre plan, disais-je, ne combat pas l’injustice. Il aggrave les inégalités«54 . An anderer Stelle lastete ein Abgeordneter der Regierung Barre direkt die Verantwortung für die Entstehung des Problems an: »Prenons les seize millions de pauvres dont vous êtes responsable, à travers la politique Giscard-Barre«55 . In der Armutsdebatte der 1980er Jahren würde dieser Schuldvorwurf an die Regierung zu einem Leitmotiv werden. In den 1970er Jahren trat er nur an wenigen Stellen zu Tage – einige Abgeordnete hatten ihn aber bereits entdeckt und benutzt. Das letzte Zitat verweist auf eine weitere kleine Neuerung in der Debatte, nämlich die dort verhandelte Dimension des Phänomens in Frankreich. Wie selbstverständlich und ohne diese Zahl weiter zu begründen, hatte der Abgeordnete von 16 Millionen Betroffenen gesprochen. Die Angabe überrascht, denn Armut ist immer definitionsabhängig und nur schwierig in einer einzigen Zahl darzustellen. Vor allem aber bricht diese Zahl mit der Anfang des Jahrzehnts geäußerten Vorstellung von Bedürftigkeit als marginalem Phänomen und als Insel in einer reichen Gesellschaft. Mit der Angabe von 16 Millionen Betroffenen hätte der Abgeordnete jedoch fast ein Drittel der französischen Bevölkerung zu Armen erklärt und dabei die Vorstellung von einem marginalen Problem als falsch entlarvt. Tatsächlich blieb die Zahl nicht nur unwidersprochen, sondern tauchte auch in den Debatten der folgenden Monate an zahlreichen anderen Stellen wieder auf56 . Drei Abgeordnete brachten auch andere, abweichende Zahlen ein und sprachen von elf beziehungsweise 15 oder auch 17 Millionen Betroffenen57 . Erstmals im Untersuchungszeitraum drückten die Abgeordneten damit die Armut in Frankreich in Zahlen aus. Woher stammten diese so unterschiedlichen Werte? Mit hoher Wahrscheinlichkeit zitierten die Abgeordneten hier die Studien, die verschiedene internationale Organisationen, wie die EG und die OECD, aber auch nationale Forschungsinstitute und einzelne Wissenschaftler im Laufe der 1970er Jahre erstellt hatten. All diese Studien versuchten, das 53 54 55 56 57

Georges Marchais, JO. Débats parlementaires, AN, 13.10.1977, S. 6111. Roland Leroy, ibid., 19.10.1976, S. 6729. Jack Ralite, ibid., 24.11.1976, S. 8656. Bspw. Louis Odru, ibid., 15.11.1976, S. 8007; Gilbert Schwartz, ibid., 29.10.1976, S. 7289. Guy Ducoloné, ibid., 28.10.1975, S. 7404; Jack Ralite, ibid., 9.5.1978, S. 1506; Georges Marchais, ibid., 13.10.1977, S. 6111.

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2. Die parteipolitische Debatte

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Phänomen in Zahlen zu fassen – und unterschieden sich in ihren Ergebnissen dabei enorm: Sie reichten von zwei Millionen bis hin zu 15 Millionen Betroffenen58 . Einige Abgeordnete zitierten in der Debatte auch explizit diese Studien59 . Daran und an den Zahlen wird deutlich, dass sie die genannten Studien rezipiert und dass diese sie wahrscheinlich für das Thema sensibilisiert hatten. In jedem Fall argumentierten sie auf deren Basis im Parlament. Zum ersten Mal fassten sie damit die Armut in Zahlen und widersprachen damit der Idee von Bedürftigkeit als marginalem Phänomen. Neben der Rezeption dieser Studien finden sich in den Quellen jedoch keine Hinweise auf andere Impulse von außen. Der Ablauf der Debatte und die dort verwendeten Begrifflichkeiten verweisen viel eher darauf, dass die Aktionen der Verbände, die in dieser Zeit bereits aktiv auf die Armutsfrage hinwiesen, in den 1970er Jahren noch kein Gehör fanden. Einige partielle Neuerungen in der Annäherung der politischen Parteien an das Thema zeigten sich also in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre. Sie deuten eine Entwicklung an, die sich im Laufe des folgenden Jahrzehnts verstärken würde. Darüber hinaus kann aber abgesehen von diesen einzelnen Aspekten keine Zäsur in der Debatte insgesamt festgestellt werden. Auch wenn sich im Parlament langsam die Erkenntnis durchsetzte, dass materielle Notlagen in Frankreich kein marginales Phänomen waren, blieben sie ein marginales Thema für die politischen Parteien. Die These dieser Arbeit, dass die Entdeckung neuer Armutsrisiken zu einem neuen politischen Interesse führte, kann daher an dieser Stelle noch nicht bestätigt werden. Viel eher ist zu konstatieren, dass diese neuen Risiken im Laufe der 1970er Jahre noch nicht in die parteipolitische Diskussion vordrangen. Kein Politiker thematisierte in dieser Zeit neu betroffene Gruppen oder neue Ursachen von Armut. Der Befund überrascht insofern, als diese neuen Entwicklungen sich in der Statistik bereits seit dem Beginn des Jahrzehnts andeuteten und seit seiner Mitte deutlich sichtbar waren. Warum wurden sie im Diskurs aber gar nicht aufgegriffen? Die bisherige Forschung hat bereits auf die zeitversetzte Wahrnehmung der wirtschaftlich krisenhaften Erscheinungen in Frankreich nach 1973 hingewiesen. »Il faut plusieurs années, en effet, pour que s’impose l’idée que la ›fin des années faciles‹ était venue«60 , betont Sirinelli. Teilweise bis zum Ende der 1970er Jahre habe es gedauert, bis die empirischen Phänomene auch ins politische und öffentliche Bewusstsein vorgedrungen seien. Mehrere Jahre über 58

59 60

Ein Überblick findet sich bei: D, La mesure de la pauvreté, S. 7–14. Allerdings nennt keine Person oder Organisation in dieser Zeit die Zahl von 16 Millionen Armen in Frankreich. Eine mögliche Vermutung wäre, dass die Abgeordneten die Zahlen der OECD fehlinterpretiert und aus den von der Organisation festgestellten 16 % Armen 16 Millionen gemacht hätten. Zu vermuten ist auch, dass den an der Dramatisierung des Themas interessierten Mitgliedern der Oppositionsparteien diese höhere Zahl sicher sehr gelegen gekommen wäre. Bspw. Guy Ducoloné, JO. Débats parlementaires, AN, 28.10.1975, S. 7404. S, Les Vingt Décisives, S. 171.

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I. Die französische Armutsdebatte in den 1970er Jahren

die Zäsur hinweg habe sich dort stattdessen die Idee von der Fortdauer der Trente Glorieuses gehalten61 . Eindeutig trifft dies auch für die parteipolitische Diskussion zu: auch hier hielt sich über das gesamte Jahrzehnt das Armutsbild der Trente Glorieuses. Die Begrifflichkeiten, aber auch die von den Politikern diskutierten Risikogruppen, Problemlagen und Lösungsvorschläge illustrieren dies. Die empirischen Neuentwicklungen drangen dagegen im Laufe der 1970er Jahre noch nicht bis in die Debatte vor und konnten dementsprechend auch kein neues politisches Interesse für die Armutsfrage auslösen. Stattdessen behielt diese das ganze Jahrzehnt hindurch ihre politisch marginale Stellung bei.

2.2. Armutspolitik in einer Zeit der politischen Modernisierungsversprechen Die zeitgenössischen politischen Entscheidungsträger hatten die 1970er Jahre zu einer Periode des Wandels erklärt. Modernisierung, Wandel, Veränderung – in den Versprechen verschiedener Parteien hatten diese Begriffe in der ersten Hälfte der 1970er Jahre eine zentrale Rolle eingenommen. Mit dem Titel »Changer la vie« hatte die sozialistische Partei 1972 ihr Programm vorgestellt; die Kommunisten folgten mit dem Versprechen eines politischen Kurswechsels unter dem Titel »Changer de cap«62 . Die Union der Parteien des konservativ-liberalen Parteienspektrums war in den Wahlkampf 1973 mit dem Versprechen eingetreten: »Le changement, c’est nous«63 . Und auch der Präsidentschaftskandidat Giscard d’Estaing hatte im Vorfeld seiner Wahl häufig von Modernisierung und Wandel gesprochen und versichert: »Nous ferons ce changement«64 . Auch nach seiner Wahl hielt Giscard an seinem Reformwillen zunächst fest. »La France doit devenir un immense chantier de réformes«65 , erklärte der Präsident im September 1974 im Ministerrat. Effektiv folgte auf diese Erklärung die Verabschiedung einer Reihe von neuen Gesetzen in verschiedenen Bereichen66 – auch wenn wirtschaftliche Probleme und politische Spannungen in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts die politischen Reformen deutlich abbremsten67 . Welche 61 62 63 64 65 66

67

Ibid. A, Les partis politiques en France, S. 83. Zit. nach C, C, D, Histoire de la Ve République, S. 192. Ibid., S. 198. Ibid., S. 231. Wie das Gesetz zur Senkung des Wahlalters von 21 auf 18 Jahren, die loi Veil über die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs oder die loi Haby über die gemeinsame Mittelschule, vgl. ibid., S. 231 f. Auf die wirtschaftlichen Schwierigkeiten Frankreichs in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre wurde bereits hingewiesen. Politische Schwierigkeiten deuteten sich außerdem seit dem Beginn von Giscards Präsidentschaft an, da der Präsident nicht, wie dies bei

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2. Die parteipolitische Debatte

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Rolle nahmen armutspolitische Maßnahmen unter diesen Reformbemühungen ein? Wie entwickelte sich die französische Armutspolitik in den 1970er Jahren, gerade im Kontext dieser Modernisierungsbestrebungen? Diese Fragen stehen im Folgenden im Fokus. Dass die 1970er Jahre keine Zäsur der französischen Debatte bedeuteten, wurde schon verdeutlicht. Für die armutspolitische Praxis der 1970er Jahre kann insgesamt die gleiche Bilanz gezogen werden: Auch hier lässt sich kein Bruch ausmachen. Insgesamt trug in dieser Zeit noch keine sozialpolitische Maßnahme explizit das Etikett der Armutsbekämpfung. Jedoch traten in dieser Zeit einige sozialpolitische Maßnahmen in Kraft, von denen gerade die unteren Einkommensschichten profitieren würden. In erster Linie zielten diese auf die Verbesserung der Situation alter Menschen. Das zeigt sich an der Entwicklung der Mindestrente. 1956 eingeführt, sollte diese Mindestsicherung allen Rentnern ein Minimum an Einkommen garantieren, indem sie deren Einkünfte auf ein bestimmtes Niveau aufstockte. Das Niveau dieses Existenzminimums war seit 1956 jedoch kaum angehoben worden68 . In den Wahlkämpfen 1973 und 1974 hatten daher alle Parteien eine deutliche Anhebung versprochen. Die wechselnden Regierungen der 1970er Jahre trugen alle zur Einlösung dieses Versprechens bei, sodass sich die Höhe der monatlichen Leistung pro Person am Ende des Jahrzehnts fast verdoppelt hatte69 . Gleichzeitig nahm die Zahl derjenigen, die die Mindestrente zur Aufstockung ihrer eigenen Rente in Anspruch nehmen mussten, bis 1980 stetig ab, da die Regierungen nicht nur die Mindestrente, sondern auch die Renten insgesamt kontinuierlich anhoben, insbesondere in den Jahren 1971 und 197570 . Im gleichen Jahr führte die Regierung mit einem Gesetz außerdem neue Standards für Seniorenheime ein, von denen alte Menschen ebenfalls profitieren würden. Mit diesem Fokus auf alten Menschen knüpfte sie eindeutig an eine sozialpolitische Tradition der beiden vorausgehenden Jahrzehnte an. Denn in den 1950er und 1960er Jahren hatten diese im Zentrum der sozialpolitischen Bemühungen gestanden. Brodiez-Dolino erklärt: »Durant les Trente Glorieuses [. . . ] les personnes âgées sont placées au cœur des politiques d’aide et des préoccupations sociales, du grand public comme des associations. De fait, elles apparaissent alors comme d’inadmissibles laissés-pour-compte d’une prospérité qu’elles ont pourtant

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seinen Vorgängern der Fall war, aus einer großen Mehrheitspartei stammte, sondern aus einer kleinen Koalitionspartei. Um sich die politische Unterstützung der Gaullisten zu sichern, hatte er seinen ersten Premierminister, Jacques Chirac, aus deren Partei rekrutiert. Allerdings überwarf er sich mit diesem so schwer, dass Chirac 1976 seinen freiwilligen Rücktritt ankündigte, vgl. S, Les Vingt Décisives, S. 213–215. Hélène C, Katia J, Michèle L, L’aide à la vieillesse pauvre. La construction du minimum vieillesse, in: Revue française des affaires sociales 1 (2007), S. 57–84, hier S. 61. Vgl. dazu die Tabelle der Entwicklung der Höhe der Mindestrente seit 1956, ibid., S. 64. B-D, Combattre la pauvreté, S. 221.

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I. Die französische Armutsdebatte in den 1970er Jahren

contribué à forger«71 . Die sozialpolitischen Maßnahmen zielten also darauf ab, die alten Menschen am Wohlstand teilhaben zu lassen, zu dessen Entstehung sie beigetragen hatten. Dass dieser Wille bis Ende der 1970er Jahre dominierte, zeigt die Entwicklung der Mindestrente auf. Erst zu Beginn der 1980er Jahre endete deren spektakuläres Wachstum und sie stabilisierte sich auf dem erreichten Niveau72 . Mit der Mindestrente hatten die Regierungen auf ein bereits bestehendes System gesetzt. Insgesamt bestand die Sozialpolitik der 1970er Jahre aber nicht nur in der Erhöhung bestehender Sozialleistungen, sondern auch in der Einführung neuer Leistungen. Diese folgten alle der bisherigen Logik des französischen Systems der sozialen Sicherung. Diesem lag die Idee zugrunde, für die verschiedenen Armuts-Risikogruppen spezifische Mindestsicherungssysteme zu schaffen. Für zwei Risikogruppen hatte der französische Staat in den 1950er Jahren bereits Mindestsicherungen eingeführt, neben der Mindestrente (minimum vieillesse) auch für Arbeitsunfähige (minimum invalidité)73 . 1975 verabschiedete die Regierung Chirac mit dem Gesetz über die allocation aux adultes handicapés die dritte Mindestsicherung, für Behinderte. Noch drei weitere Mindestsicherungen folgten in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts. Seit 1976 gewährte die allocation de parent isolé alleinerziehenden Eltern ein monatliches Existenzminimum; die allocation veuvage tat seit 1980 gleiches für Witwen. Mit der allocation d’insertion trat 1979 eine Mindestsicherung der staatlichen Arbeitslosenunterstützung hinzu, die der deutschen Arbeitslosenhilfe ähnelt und vor allem politischen Flüchtlingen und ehemaligen Inhaftierten für die Dauer eines Jahres gewährt werden konnte74 . Hier zeigt sich deutlich, dass die 1970er Jahre insgesamt zahlreiche Verbesserungen für die unteren Einkommensschichten der Bevölkerung mit sich brachten und das französische System der sozialen Sicherung umfassend ausbauten. Zwar trug keine der Maßnahmen explizit das Etikett Armutsbekämpfung, jedoch zielten die hier skizzierten Maßnahmen eindeutig auf die Bevölkerungsgruppen, die in Armut oder am Rande des Armutsrisikos lebten, und versuchten, deren Situation zu verbessern. Konkrete Erfolge dieser Politik zeichneten sich ebenfalls ab. Brodiez-Dolino beschreibt die Situation der alten Menschen in Frankreich in der Mitte der 1970er Jahre als »une catégorie sociale désormais bien protégée – et globalement sortie de la précarité«75 . Der sozialpolitische Fokus auf alten Menschen hatten also Früchte getragen. Mit alten Menschen, aber auch mit Witwen und Behinderten zielte ein Teil dieser Maßnahmen auf traditionelle Risikogruppen, die in der gleichen Zeit im Zentrum der Diskussion gestanden hatten. Teilweise brachten die 71 72 73 74 75

Ibid., S. 245. C, J, L, L’aide à la vieillesse pauvre, S. 64. B, Solidarität im Vorsorgestaat, S. 106. Ibid., S. 98–107; P, Gouverner la Sécurité sociale, S. 108–112. B-D, Combattre la pauvreté, S. 245.

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2. Die parteipolitische Debatte

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neuen Mindestsicherungssysteme aber auch schon Verbesserungen für neue Risikogruppen mit sich, etwa das Existenzminimum für Alleinerziehende. Dies überrascht insofern, als diese Problemlage in der vorausgehenden Debatte um Armut noch gar nicht aufgetaucht war. Es ist zu vermuten, dass sie bereits innerhalb der Sozialverwaltung diskutiert wurden, bevor sie auch in den öffentlichen politischen Diskurs vordrangen. An dieser Stelle kann die Vermutung nicht bestätigt werden, da die entsprechenden Archivbestände noch gesperrt sind. In den folgenden Kapiteln wird die Frage nach der Ausgestaltung der Armutspolitik durch die Verwaltung allerdings noch weiter vertieft werden76 . Hier soll abschließend noch ein Blick auf den Platz dieser neuen Mindestsicherungen im System der sozialen Sicherung geworfen werden. Bruno Palier analysiert die hier skizzierten sozialpolitischen Neuerungen der 1970er Jahre, so wie insgesamt die Entwicklung der französischen Sozialpolitik zwischen 1945 und dem Beginn der 1980er Jahre, wie folgt: »Les actions publiques de cette période sont très fortement marquées par le modèle de protection sociale de référence défini en 1945. Entre 1945 et le début des années 1980, [. . . ] les politiques de protection sociale puisent dans le répertoire idéologique et institutionnel défini en 1945«77 . Der Politologe unterstreicht also, dass die französische Sozialpolitik sich auch bis zu den 1970er Jahren noch stark an den Ideen und Vorgaben orientierte, die die französischen Sozialpolitiker 1945 bei der Einführung des Sozialversicherungssystems geleitet hatten. Mit anderen Worten umschreibt er damit, was in den Sozialwissenschaften als sozialstaatliche Pfadabhängigkeit beschrieben wird. Das Konzept der Pfadabhängigkeit erklärt Kontinuitäten sozialstaatlicher Entwicklung mit dem Verweis auf die Wirkkraft der in der Vergangenheit getroffenen sozialpolitischen Entscheidungen. In der Entstehungsphase der Sozialstaaten sei ein Pfad vorgezeichnet worden, auf denen der Sozialstaat sich danach bewegte – auch wenn der Kontext sich im Laufe der Zeit geändert habe78 . Einige Forscher haben seitdem die Überzeichnung dieses Erklärungskonzepts kritisiert, wie etwa Jens Borchert, der in seinen Arbeiten auf Situationen hinweist, in denen Sozialstaaten diesen Pfaden eben nicht gefolgt sind, sondern neue Wege eingeschlagen haben79 . Die hier nachgezeichnete Entwicklung des französischen Sozialstaats stellt indes ein eindrückliches Beispiel für dessen Pfadabhängigkeit auch nach über 30 Jahren dar – der Ausbau des Systems der kategoriellen Mindestsicherungen macht dies deutlich.

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Vgl. dazu Kap. II und III. P, Gouverner la Sécurité sociale, S. 135. Manfred G. S, Tobias O, Sozialpolitik in Deutschland – ein Fazit aus Sicht der Theorien der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung, in: O u. a. (Hg.), Der Wohlfahrtsstaat, S. 210–220. Jens B, Ausgetretene Pfade? Zur Statik und Dynamik wohlfahrtsstaatlicher Regime, in: L, O, Welten des Wohlfahrtskapitalismus, S. 137–176.

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I. Die französische Armutsdebatte in den 1970er Jahren

Die 1970er Jahre erscheinen damit als eine Zeit des Ausbaus, jedoch nicht des Umbaus oder des Wandels der französischen Armutspolitik. Denn insgesamt waren die wechselnden Regierungen im Laufe des Jahrzehnts durchgehend um die Verbesserung der Situation der unteren Einkommensschichten bemüht. Auch wenn keine ihrer verabschiedeten Maßnahmen explizit der Armutsbekämpfung gewidmet war, wird dies an der Einführung neuer Mindestsicherungssysteme für – unter anderem – Behinderte, Witwen und Alleinerziehende deutlich. Allerdings setzten sie dabei immer auf den Ausbau des bestehenden Systems, an dem sie keine Änderungen, sondern nur Erweiterungen vornahmen. Der Wandel, den die verschiedenen Parteien unter dem Schlagwort des »changement« angekündigt hatten, schlug sich also in der Armutspolitik nicht nieder, sondern sie blieb auch in den Zeiten großer Reformbemühungen unverändert. Vor allem aber ließ die wirtschaftliche Zäsur von 1973/74 die Armutspolitik in den 1970er Jahren vollkommen unberührt – so wie dies auch schon für die Debatte der Fall war. Auch die Armutspolitik des Jahrzehnts lässt sich damit als kontinuierliche Fortsetzung der Politik der Trente Glorieuses lesen. Insgesamt hat dieses Kapitel mehr Kontinuitäten als Brüche offengelegt. Zwar nicht in jeder Hinsicht, denn es wurde gezeigt, dass der Secours catholique tatsächlich in der Mitte des Jahrzehnts neue Armutsrisiken entdeckte und daraufhin seine Interpretation der Armutsfrage änderte. Wichtige Umorientierungen von ATD Quart Monde wurden ebenfalls geschildert, die allerdings eher als Reaktionen auf die Ereignisse von Mai 1968 als auf die wirtschaftlichen Entwicklungen in der Mitte der 1970er Jahre erscheinen. Sowohl der parteipolitische Diskurs als auch die sozialpolitische Praxis lesen sich dagegen als kontinuierliche Fortsetzung der Trente Glorieuses. Zwar weist der Diskurs eine Sensibilität für materielle Notlagen auf, die insgesamt höher ist als erwartet und als viele der bisherigen Arbeiten es suggeriert haben. Auch legen einige neue Aspekte, etwa die Entdeckung von Armut als Mittel der Regierungskritik oder die beginnende Argumentation auf Grundlage wissenschaftlicher Studien und Statistiken, wichtige Grundlagen für die spätere Wiederentdeckung des Themas. Aber in den 1970er Jahren erfolgt diese nicht: Ein Bruch der Debatte im Sinne einer Entdeckung von Armut als politischer Frage lässt sich in den 1970er Jahren für Frankreich nicht finden. Armutsdebatten werden in dieser Arbeit auch als Auseinandersetzung der Zeitgenossen mit dem sozioökonomischen Wandel ihrer Zeit verstanden, zu dem eben auch die Herausbildung neuer Risiken gehört. Im Hinblick auf diese Lesart wird deutlich, dass ein Großteil der Zeitgenossen die Ereignisse der 1970er Jahre, die Wissenschaftler in der Rückschau als historische Zäsuren bewertet haben, gar nicht als solche wahrnahmen. Zumindest für die Herausbildung neuer Armutsrisiken kann dies hier bestätigt werden. Zwar nahm der Secours catholique deren Ausbreitung wahr und bemühte sich um eine Reaktion darauf. Ob dem Verband aber bewusst war, dass sich mit den hilfsbedürftigen Arbeitslosen eine Gruppe herausbildete, die ihn jahrzehntelang

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2. Die parteipolitische Debatte

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beschäftigen und die hauptsächliche Zielgruppe seiner Arbeit werden würde, und ihm damit der historische Bruch bewusst war, ist in Frage zu stellen. Bei den politischen Entscheidungsträgern findet sich dagegen nicht mal ein Hinweis darauf, dass sie den Wandel der Armut überhaupt wahrnahmen. Sicher kann eingewandt werden, dass es Zeit braucht, bis sich empirische Phänomene im Diskurs niederschlagen. Für die hier festgestellte extrem zeitversetzte Wahrnehmung reicht dieser Hinweis jedoch kaum aus. Eher kann bilanziert werden, dass die Meistererzählung von den Trente Glorieuses so extrem zählebig war, dass sie sich noch lange über das faktische Ende des Wachstums hinweg hielt und damit auch die Entdeckung neuer Armutsrisiken verhinderte.

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II. Von den »Randgruppen« zur »neuen sozialen Frage«: die Armutsdebatte der Bundesrepublik in den 1970er Jahren

In Frankreich waren die Trente Glorieuses in der Mitte der 1970er Jahre zu ihrem Ende gekommen. Das gleiche Urteil trifft auch für die Bundesrepublik zu. Eine erste wirtschaftliche Rezession hatte die Bundesrepublik schon 1966/67 erlebt. Danach waren die Wachstumsraten zwar wieder nach oben geklettert, ohne dabei allerdings die Höhe der vorausgehenden Jahrzehnte zu erreichen. Seit 1973/74 war die Bundesrepublik dann wie ihr Nachbarland mit dem als Stagflation umschriebenen Problem konfrontiert, also steigenden Inflationsraten bei gleichzeitig deutlich gebremstem Wirtschaftswachstum1 . Wie Frankreich erlebte auch die Bundesrepublik in diesem Jahrzehnt einen auffälligen Anstieg der Arbeitslosigkeit. Die deutsche Arbeitslosenquote lag zwar die gesamten 1970er Jahre hindurch unter der französischen, stieg aber seit 1973 ebenfalls deutlich an2 . Politisch brachte die Mitte der 1970er Jahre für die Bundesrepublik vor allem den Kanzlerwechsel von Willy Brandt zu Helmut Schmidt mit sich, und damit auch einen politischen Einschnitt, der allerdings weniger scharf ausfiel als der gleichzeitig in Frankreich mit der Wahl Giscard d’Estaings ins Präsidentenamt stattfindende politische Wechsel. Damit erscheinen die 1970er Jahre in der Bundesrepublik weniger als politische, aber genau wie in Frankreich auch als wirtschaftliche Zäsur. So wie im vorausgehenden Kapitel für Frankreich soll daher hier auch für die Bundesrepublik gefragt werden, wie sich diese wirtschaftlichen Umbrüche auf die Armutsdebatte auswirkten. Die bisherige Forschung hat schon auf ein prominentes Beispiel der politischen Thematisierung von Armut in den 1970er Jahren hingewiesen. Mit dem Aufzeigen einer sogenannten neuen sozialen Frage lenkte der CDU-Politiker Heiner Geißler schon in der Mitte des Jahrzehnts nachdrücklich die öffentliche Aufmerksamkeit auf materielle Notlagen in der Bevölkerung3 . Die Analyse 1 2

3

A, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, S. 288–294. In der Bundesrepublik lag die Arbeitslosenquote zu Anfang des Jahrzehnts noch unter einem Prozent. 1975 erreichte sie schon den Stand von 3,6 %. In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre blieb sie allerdings unter der 4-Prozent-Grenze, während sie in Frankreich in der gleichen Zeit schon über 6 % lag, vgl. 40 ans de politique de l’emploi, S. 363. S, Vom Rand in die Mitte der Gesellschaft, S. 135–136.

https://doi.org/10.1515/9783110613087-part02

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II. Die Armutsdebatte der Bundesrepublik in den 1970er Jahren

dieser Debatte ist Teil des folgenden Kapitels. Es soll untersucht werden, ob sich darin schon eine Politisierung der Armutsfrage zeigt, und inwiefern sie durch die aufgezeigten wirtschaftlichen Veränderungen und die Herausbildung neuer Armutsrisiken verursacht worden war. Zuvor richtet sich der Blick aber auf die Kommunikation jenseits der parteipolitischen Sphäre, wo zu Beginn des Jahrzehnts unter anderem Wissenschaftler, Medien und Verbände die Situation sogenannter Randgruppen diskutierten.

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1. Die Entdeckung von Randgruppen im Wohlstand zu Beginn der 1970er Jahre 1.1. Das Aufkommen der Randgruppendebatte in Folge der Studentenbewegung Unter dem Schlagwort der Randgruppen war schon Ende der 1960er Jahre die Existenz von Armut in der Bundesrepublik partiell thematisiert worden. Geprägt und aufgebracht hatte diesen Begriff vor allem die Studentenbewegung, die am Ende des Jahrzehnts Politik und Öffentlichkeit für die Situation dieser Gruppen zu sensibilisieren versuchte1 . Die Debatte um diesen im Zuge der 68er-Bewegung etablierten Begriff entfaltete sich jedoch erst in der ersten Hälfte der 1970er Jahre in vollem Umfang. Über die studentischen Kreise hinaus griffen seit Beginn des Jahrzehnts verschiedene Akteure das Konzept auf und diskutierten es. Die Ersten waren die Medien. 1970 veröffentlichte der »Spiegel« eine Artikelserie über »Benachteiligte Gruppen in der Bundesrepublik«. Unter diesem Titel publizierte die Zeitschrift zwischen September 1970 und Juli 1971 insgesamt sechs Artikel, die sich mit der Situation unterschiedlicher Gruppen befassten. Obdachlose standen im Fokus des ersten Artikels, es folgten Berichte über die Situation von Gastarbeitern, Vorbestraften, Arbeitnehmerinnen, Behinderten und Geisteskranken2 . 1973 erschien ein Buch mit dem Titel »Unterprivilegiert«, in dem alle Artikel zusammen abgedruckt waren3 . In der gleichen Zeit erschienen verschiedene populärwissenschaftliche Reportagen zu diesem Thema, die vor allem aus der Feder der Publizisten Ernst Klee und Jürgen Roth stammten. Klee veröffentlichte schon seit 1969 eine Reihe von Texten, die sich mit der Lage von Gastarbeitern, Häftlingen, Obdachlosen und psychisch Kranken

1 2

3

B u. a., Armutspolitik und Sozialhilfe, S. 515; L, Armut im geteilten Deutschland, S. 183–186. N. N., Spiegel-Report über sozial benachteiligte Gruppen in der Bundesrepublik, I: Hier wurde die Marktwirtschaft zum Fluch. Obdachlose, in: Der Spiegel, 28.9.1970; II: »Komm, komm, komm – Geh, geh, geh«. Gastarbeiter, ibid., 19.10.1970; III: Wer einmal drin war, ist draußen gestorben. Vorbestrafte, ibid., 23.11.1970; IV: »Wer am Fließband saß, steht nicht mehr im Leben«. Arbeitnehmerinnen, ibid., 25.1.1971; V: »Nicht laufen, nicht sprechen, nicht hören«. Behinderte, ibid., 22.3.1971; VI: »Eia-popeia, bitte nicht schlagen!« Geisteskranke, ibid., 26.7.1971. Unterprivilegiert. Eine Studie über sozial benachteiligte Gruppen in der Bundesrepublik Deutschland, hg. v. Spiegel-Redaktion, Neuwied, Berlin 1973.

https://doi.org/10.1515/9783110613087-004

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II. Die Armutsdebatte der Bundesrepublik in den 1970er Jahren

befassten4 . Roth trat 1971 mit dem Buch »Armut in der Bundesrepublik« an die Öffentlichkeit, dem 1974 ein weiteres Werk zu einem ähnlichen Thema folgte5 . Ebenfalls seit dem Beginn der 1970er Jahre wurde die Situation der sogenannten Randgruppen auch zum Gegenstand wissenschaftlicher Publikationen, worauf unter anderen die Studien von Christiansen, Hess und Vaskovics verweisen6 . Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema kulminierte in der Mitte des Jahrzehnts mit dem Erscheinen verschiedener Überblicksdarstellungen und Sammelwerke zur Randgruppenfrage7 . Unter dem Begriff der Randgruppen wurden dabei sehr unterschiedliche Personengruppen und Situationen versammelt, die sich auf den ersten Blick nur schwer auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen. Zwar legten die wissenschaftlichen Studien ihren Fokus noch eindeutig auf schlechte Wohnverhältnisse und Obdachlosigkeit8 . Dies kann als Kontinuität zu den 1960er Jahren gelesen werden, in denen Armut ebenfalls vor allem im Hinblick auf Obdachlosigkeit besprochen worden war9 . An der Artikelserie des »Spiegel« zeigt sich jedoch deutlich die enorme Breite des Randgruppenbegriffs. Auch dort standen die Obdachlosen am Anfang der Beschäftigung mit dem Thema; die anschließenden Artikel erweiterten jedoch den Gegenstand maßgeblich. Eine ähnliche thematische Vielfalt ist für die zitierten populärwissenschaftlichen Werke feststellbar. Unter dem »mitunter weit ausfransenden Begriffsmantel«10 der Randgruppe verbarg sich also eine große Heterogenität an Situationen. Eine verbindende Gemeinsamkeit zwischen diesen unterschiedlichen Gruppen

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10

Ernst K (Hg.), Thema Knast, Bremen 1969; D., Die Nigger Europas. Zur Lage der Gastarbeiter. Eine Dokumentation, Düsseldorf 1971; D., Die im Dunkeln. Sozialreportagen, Düsseldorf 1971; D. (Hg.), Die armen Irren. Das Schicksal der seelisch Kranken, Düsseldorf 1972; D., Behinderten-Report, Frankfurt a. M. 1974. Jürgen R, Armut in der Bundesrepublik. Beschreibung, Familiengeschichten, Analysen, Darmstadt 1971; D., Armut in der Bundesrepublik. Über psychische und materielle Verelendung, Frankfurt a. M. 1974. Ursula C, Obdachlosigkeit. Gesellschaftliche Reaktionen auf die Armut, Köln 1972; Henner H, Achim M, Ghetto ohne Mauern. Ein Bericht aus der Unterschicht, Frankfurt a. M. 1973; Laszlo V, Segregierte Armut. Randgruppenbildung in Notunterkünften, Frankfurt a. M., New York 1976. Alfred B, Hans B, Empirische Befunde, Frankfurt a. M., New York 1974; D., Initiativen und Maßnahmen, Frankfurt a. M., New York 1974; Alfred K, Die Entwicklung von Randgruppen in der BRD. Literaturstudie zur Entwicklung randständiger Bevölkerungsgruppen, Göttingen 1976. Vgl. dazu insbes. C, Obdachlosigkeit, H, M, Ghetto ohne Mauern und V, Segregierte Armut. Bernhard S, Zum öffentlichen Stellenwert von Armut im sozialen Wandel der Bundesrepublik Deutschland, in: L, V (Hg.), Armut im modernen Wohlfahrtsstaat, S. 104–123, hier S. 112–113; vgl. auch B u. a., Armutspolitik und Sozialhilfe, S. 512–514. Wilfried R, Im Schatten des Wirtschaftswunders. Soziale Probleme, Randgruppen und Subkulturen 1949 bis 1973, in: Thomas S, Hans W (Hg.), Gesellschaft im Wandel 1949 bis 1973, München 2002, S. 347–468, hier S. 427.

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1. Die Entdeckung von Randgruppen

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lässt sich auf den ersten Blick nur schwer ausmachen. Wilfried Rudloff verweist darauf, dass die mit dem Begriff erfassten Problemkategorien allerdings schon erkennen lassen, »dass nicht so sehr die strukturelle Schieflage der Einkommensverteilung, sondern der permanente Zirkel von Normabweichung und Devianz, Stigmatisierung, sozialer Benachteiligung und materieller Unterversorgung den eigentlichen Kern des Problems umschrieb«11 . Weitere Auskunft über den Gegenstand geben auch die Begriffe, die in der Debatte benutzt wurden. Zunächst enthält der Randgruppenbegriff eindeutig eine räumliche Komponente. Er stellt Zentrum und Peripherie gegenüber, ordnet die Randgruppen der Peripherie zu und rückt sie damit in Distanz zum gesellschaftlichen Zentrum. In dieser Perspektive wären Randgruppen diejenigen, die entfernt vom gesellschaftlichen Mittelpunkt sind und sich damit auch durch die Abweichung von gesellschaftlichen Standards wie Werten und Handlungsmustern auszeichnen. Die oben zitierten Publikationen verwenden einige Begriffe synonym zu dem der Randgruppe und geben mit diesen Synonymen weitere Auskünfte über die hinter dem Konzept stehende Idee. So sprach der »Spiegel« von »sozial Benachteiligten« und »Unterprivilegierten«12 . Die Begriffe verweisen auf einen weiteren gemeinsamen Nenner der heterogenen Personengruppe: Sie leben nicht nur alle am gedachten Rand der Gesellschaft, sondern sie zeichnen sich auch durch die Benachteiligung aus, und zwar in verschiedenen Bereichen: bei Wohnung und Bildung, aber auch etwa bei Gesundheit. Dieser Aspekt der Benachteiligung verweist damit auch auf die Ursache der Randlage der Betroffenen. Sicher schwingen in der Kategorisierung der Randgruppen als Drogenabhängige oder Strafentlassene auch individuelle Schuldfaktoren mit. Mit dem Verweis auf deren Benachteiligung und damit fehlende Lebenschancen lasten die Publikationen diese explizit nicht den Betroffenen an. Stattdessen räumen sie ein, dass die Betroffenen aufgrund ihrer gesellschaftlichen Benachteiligung in diese Situation gekommen sind. Für die alte Bundesrepublik ist diese Identifikation gesellschaftlicher Strukturen als Ursachen von materiellen Notlagen einzigartig. Petra Buhr u. a. bilanzieren für ihre Untersuchung der Armutsbilder in der Bundesrepublik zwischen 1945 und 1990: »Wenn strukturelle Armutsursachen identifiziert wurden, so im politischen oder im Rechtssystem [. . . ]. Nur im Randgruppenkonzept konnten sich individualisierende Armutsbilder mit sozial- (nicht wirtschafts-)strukturellen Erklärungsmustern treffen«13 . Berücksichtigt werden muss dabei das komplexe Verhältnis von Armut und Unterprivilegierung. Richard Hauser, Helga Crämer-Schäfer und Udo Nouvertné erklären, dass beide Konzepte nicht synonym verwendet wurden, und 11

12 13

Wilfried R, Sozialstaat, Randgruppen und bundesrepublikanische Gesellschaft. Umbrüche und Entwicklungen in den sechziger und frühen siebziger Jahren, in: K (Hg.), Psychiatriereform, S. 181–222, hier S. 193. Unterprivilegiert. B u. a., Armutspolitik und Sozialhilfe, S. 532.

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II. Die Armutsdebatte der Bundesrepublik in den 1970er Jahren

schließt daraus, dass das Konzept der Unterprivilegierung das der Armut ersetzt habe14 . Tatsächlich tauchte in den zitierten Werken der Armutsbegriff nur selten auf. Abgesehen von der prominenten Ausnahme des Buchs von Jürgen Roth wird der Begriff sonst vermieden, was entweder die These seiner Ersetzung bestätigt oder auch darauf verweist, mit welch großem Tabu er zu dieser Zeit noch belegt war. Auch Wilfried Rudloff macht darauf aufmerksam, dass es bei der Verhandlung der Situation der Randgruppen nicht ausschließlich um materielle Problemlagen ging. »Wer Randgruppen untersucht, hat weniger Fragen der Verteilung im Auge als blockierte Zugänge zu wichtigen sozialen Handlungsfeldern«15 . Er fügt hinzu, dass Armut aber eine wichtige Rolle im Randgruppenkonzept spielt, da sie sowohl Folge als auch Ursache der Randlage sein könnte16 . Insofern ging es bei den Randgruppen nicht ausschließlich, aber auch um deren Armut. Insgesamt verbreitete sich die Ende der 1960er Jahre durch die Studentenbewegung angestoßene Diskussion um Randgruppen in der ersten Hälfte der 1970er Jahre in Medien, populärwissenschaftlichen Publikationen und in der Wissenschaft. Traditionelle Risikogruppen wie Obdachlose, Behinderte oder psychisch Kranke rückten dabei in den Fokus der Aufmerksamkeit. Diskutiert wurde deren gesellschaftliche Benachteiligung in verschiedenen Bereichen; materielle Notlagen spielten dabei neben anderen Aspekten eine Rolle. Insofern stellte die Debatte um die sogenannten Randgruppen einen ersten Moment der Aufmerksamkeit für Armut nach einer langen Zeit des Desinteresses für das Thema dar.

1.2. Das Engagement des Caritasverbandes für »soziale Minderheiten« In Frankreich war es das über das ganze Land aufgespannte Netz lokaler Hilfestellen gewesen, das es dem Secours catholique ermöglicht hatte, die Herausbildung neuer Armutsrisiken früh zu erkennen. Auch die drei hier untersuchten deutschen Wohlfahrtsverbände verfügten über gut ausgebaute Strukturen, die sich über die gesamte Bundesrepublik erstreckten und die sogar noch dichter waren als die ihrer französischen Pendants. Insofern ist zu erwarten, dass auch sie über die Notlagen der Bevölkerung informiert und dafür sensibilisiert waren.

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15 16

Richard H, Helga C-S, Udo N, Armut, Niedrigeinkommen und Unterversorgung in der Bundesrepublik Deutschland. Bestandsaufnahme und sozialpolitische Perspektiven, Frankfurt a. M., New York 1981, S. 23. R, Im Schatten des Wirtschaftswunders, S. 349. Ibid.

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1. Die Entdeckung von Randgruppen

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Die Forschung hat bereits darauf hingewiesen, dass eben diese Verbände auch schon in der sogenannten »Latenzperiode der Armut«17 , also den 1960er Jahren, intensiv über die materiellen und sozialen Problemlagen in der Bundesrepublik diskutierten – und damit in einer Zeit, in der die politischen Parteien weitgehend desinteressiert an diesem Thema waren18 . Im Untersuchungszeitraum ließen die Verbände natürlich nicht von dieser Frage ab. Jedoch hat die Analyse gezeigt, dass die drei hier untersuchten Verbände erst in den 1980er Jahren begannen, Armut jenseits einzelner Problemlagen auch als übergreifende Frage zu diskutieren. Erst in dieser Zeit thematisierten sie auch die Herausbildung neuer Armutsrisiken und formulierten deren Beseitigung auch als politische Aufgabe. In den 1970er Jahren dagegen finden sich in den Quellen keine Hinweise darauf, dass die Verbände die Herausbildung neuer Armutsrisiken oder materieller Notlagen überhaupt diskutierten. Allerdings drang die Debatte um sogenannte Randgruppen bis zum Caritasverband vor. Als einziger der hier untersuchten Verbände begann der DCV in den 1970er Jahren, sich mit dieser Randgruppenfrage zu beschäftigen. Warum und wie er diese diskutierte, soll im Folgenden gefragt werden. Da der Verband den Zugang zu seinen Archiven verwehrt hat, stützt sich die folgende Analyse nur auf publizierte Quellen. Aber auch die Zeitschrift des Verbandes gibt Auskunft darüber, dass eine intensive Debatte über die Lage der Randgruppen schon 1970 einsetzte. Einen ersten Hinweis darauf gibt das Themenheft »Engagement für Minderheiten«, das im November 1970 erschien. Es behandelte die Situation von Obdachlosen, psychisch Kranken, Körperbehinderten und verhaltensgestörten Kindern unter Sammelbegriffen wie soziale Minderheiten, Randgruppen und Benachteiligte19 . Aus der Einleitung des Themenheftes wird deutlich, woher der Impuls für die Beschäftigung mit diesem Anliegen gekommen war, nämlich von den Studentischen Caritaskreisen. Diese Gruppen, die ursprünglich aus katholischen Studierenden bestanden hatten und eng an die katholischen Hochschulgemeinden angebunden waren, hatten sich kurz zuvor für alle Studierenden, unabhängig von Konfessionen oder Religion, geöffnet und in Sozialpolitische Arbeitskreise umbenannt. In Zusammenarbeit mit eben diesen Gruppen war das Themenheft der Caritaszeitschrift entstanden20 . Die Situation der Randgruppen war ursprünglich ein Anliegen der Studentenbewegung gewesen. Genau auf diesem Wege war es also auch in den Caritasverband hineingetragen worden, und die studentischen Gruppen hatten mit ihrem Vorstoß anscheinend mit Erfolg, denn nach den ersten Diskussio17 18 19 20

B u. a., Armutspolitik und Sozialhilfe, S. 512. Meike H, »Elend im Wunderland«: Armutsvorstellungen und soziale Arbeit in der Bundesrepublik 1955–1975, Baden-Baden 2018. Caritas (1970/6): Engagement für Minderheiten. Aus der Arbeit studentischer Sozialkreise. Diese Verflechtung wird in der Einleitung des Themenhefts offengelegt, vgl. Alfons F, Dieses Heft, ibid., S. 281 f.

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II. Die Armutsdebatte der Bundesrepublik in den 1970er Jahren

nen zu Beginn des Jahrzehnts war die Randgruppenfrage im Oktober 1973 bereits fester Bestandteil der Vertreterversammlung des Caritasverbandes21 . Bereitwillig griff der Verband das von den Studierenden aufgebrachte Thema auf, denn die Unterstützung dieser sogenannten Randgruppen vertrug sich gut mit den Zielen des Verbandes und generell den christlichen Werten. Mitglieder der Caritas erinnerten in diesem Kontext nicht nur daran, dass der christliche Gott generell als Gott der Armen, Ausgestoßenen und Schwachen erscheint22 , sondern verglichen die als Randgruppen bezeichneten Gruppen auch direkt mit den Randgruppen zur Zeit Jesu. Parallelen wurden gezogen zwischen den Drogenabhängigen, psychisch Kranken und Obdachlosen der eigenen Zeit und den Besessenen, Aussätzigen, Zöllnern und Sklaven, von denen das Neue Testament berichtet23 . Aus dem Verhalten Jesu gegenüber den Randgruppen seiner Zeit leitete der Autor eines Artikels in der Verbandszeitschrift Handlungsanweisungen für das Verhalten des Verbandes ab. Er unterstrich, dass Christus »sich der Ausgestoßenen und sozial Geächteten in besonderer Weise annimmt und sich auch hier als Heiland der Armen, der Sünder und Unterdrückten zeigt«24 , und folgerte daraus, dass eben auch die Aufgabe der Caritas als christliche Organisation in der besonderen Sorge um die Randgruppen bestehen müsse25 . Aus diesem Grund zeigte sich der Caritasverband offen für das durch die studentischen Kreise aufgebrachte Thema. Zwar verwendete der Verband selten den Begriff der Randgruppen, sondern sprach häufiger von »sozialen Minderheiten«26 . Seine Aufmerksamkeit lenkte er aber auf die gleichen Gruppen wie zuvor die Studentenbewegung, die Medien und die Wissenschaft, nämlich hauptsächlich auf psychisch Kranke, Obdachlose, Strafentlassene, Drogen-

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Vgl. dazu den Bericht von der Vertreterversammlung des Deutschen Caritasverbandes am 4. und 5. Oktober 1973 in Braunschweig, in: Caritas (1974/2): Caritas der Gemeinde; vgl. insbes. den Bericht über die Aussprache zum Thema Randgruppen auf der Vertreterversammlung: Felix S, Walter S, Randgruppen und Minderheiten als Aufgaben der Gemeinde, in: Caritas (1973/2), S. 102–105. Johannes G, Unsere Verantwortung für die sozialen Minderheiten in der Gesellschaft, in: Caritas (1971/3), S. 117–135; vgl. auch Felix S, Soziale Randgruppen und kirchliche Gemeinde. Pastoraltheologische Überlegungen, in: Caritas (1973/1), S. 36–44. G, Unsere Verantwortung. Gründel führt dort aus: »Die Besessenen, die Zöllner und Dirnen, die Sklaven, die Kriminellen, aber auch die Aussätzigen nehmen in der damaligen Gesellschaft offensichtlich jene Position ein, die wir oben als soziale Minderheiten oder Außenseiter umschrieben haben«, ibid., S. 120. Ibid., S. 121. Ibid., S. 121–127. Unter diesem Begriff hatten die studentischen Caritaskreise das Thema schon 1970 eingebracht, vgl. dazu Caritas (1970/6), dort insbes. Walter D, Wie stark sind die Schwachen? Problemminderheiten und Sozialpolitik, S. 291–304. Dass der Begriff der Minderheit sich anschließend durchsetzte, wird an späteren Beiträgen in der Verbandszeitschrift sowie der Vertreterversammlung 1973 deutlich, vgl. dazu die Themenhefte Caritas (1971/3): Soziale Minderheiten, sowie Caritas (1974/2): Caritas der Gemeinde.

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1. Die Entdeckung von Randgruppen

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abhängige und Behinderte27 . Im Unterschied zu den anderen Akteuren, die sowohl physische als auch soziale Problemlagen der Betroffenen fokussiert hatten, konzentrierte sich die Caritas vor allem auf letzteren Aspekt. Die materiellen Nöte, mit denen die Betroffenen offensichtlich konfrontiert waren, schienen den Verband wenig zu interessieren. Im Gegenteil, ein Verbandsmitarbeiter stellte sogar fest, dass die Arbeit der Caritas in der Bundesrepublik – entgegen einer weit verbreiteten Annahme – gar nichts mehr mit materieller Armut zu tun habe: Unsere Gesellschaft scheint zu meinen, wir hätten es immer noch mit armen Leuten zu tun; aber daß es Armut im Sinne des Hungerns nicht mehr gibt, jedenfalls keine unverschuldete Armut, das hat diese Gesellschaft nicht begriffen, obwohl es ein wirkliches Verdienst unseres Jahrhunderts ist, daß man nach vielen Jahrhunderten in diesem Land nicht mehr zu hungern braucht. »Armut in einem reichen Land« sieht anders aus als Hunger28 .

An anderer Stelle erklärte ein Autor der Verbandszeitschrift, dass die »alten Nöte«29 , also materielle Notlagen, aus den industrialisierten Ländern verschwunden seien und nur noch in sogenannten Entwicklungsländern existierten. Stattdessen seien in der Bundesrepublik »neue Nöte«30 entstanden, und zwar psychische und soziale Nöte der als Minderheiten oder Randgruppen diskutierten Personen. In der Erklärung für die Entstehung dieser neuen Nöte näherte sich der Verband wieder den anderen Akteuren an. Wie gezeigt, war der Randgruppenbegriff mit einem starken Vorwurf an die Gesellschaft verbunden, der die Verantwortung für die Randlage einiger Mitglieder angelastet wurde. Auch in den Äußerungen der Caritas tritt dieser Aspekt deutlich hervor: »Täglich produziert unsere Gesellschaft immer mehr Wohlstandsmüll«31 . Das Zitat verdeutlicht, dass auch die Mitglieder der Caritas die Randlagen nicht nur als gesellschaftlich verursacht, sondern auch explizit als Produkte des Wohlstandes verstanden. Randgruppen existieren also für die Caritas nicht aufgrund wirtschaftlicher Probleme, sondern gerade der Wohlstand der Gesellschaft bringt sie mit sich. Beschrieben wird der Prozess der Marginalisierung der Betroffenen an verschiedenen Stellen mit dem Verweis auf den »Leistungsdruck

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Neben diesen Gruppen, die wiederkehrend thematisiert werden, finden sich vereinzelt auch Beiträge, die die Situation verhaltensgestörter Kinder und der Gastarbeiter auch als Randgruppenphänomen diskutieren; vgl. Caritas (1970/6): Engagement für Minderheiten, und Caritas (1971/3): Soziale Minderheiten. Ulrich B, Caritas in den Lernprozessen der Gesellschaft, in: Caritas (1972/3), S. 177–184, hier S. 177. Helmut W, Gestaltwandel der Not, in: Caritas (1972/6), S. 305–308, hier S. 304. Ibid. D., Funktionen studentischer Sozialkreise innerhalb unserer Gesellschaft, in: Caritas (1970/6), S. 283–290, hier S. 283.

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II. Die Armutsdebatte der Bundesrepublik in den 1970er Jahren

der Gesellschaft«32 , dem viele nicht standhalten könnten und daher an den Rand gedrängt würden. Als Erzeuger dieses gesellschaftlichen Leistungsdrucks nannten die Mitarbeiter unter anderem die technischen Neuerungen in der Arbeitswelt und neue Kommunikationsformen33 . Insofern entdeckte der Caritasverband zu Beginn der 1970er Jahre die Armut neu; jedoch ging es dabei weder um materielle Problemlagen, noch stand diese Neuentdeckung im Zusammenhang mit den wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die in dieser Zeit ihren Anfang nahmen. Viel eher liest sich diese Debatte der Caritas als Verarbeitung des technischen Wandels der Zeit und generell der Modernisierung der Gesellschaft. Der Verband nutzte also das Randgruppenthema, um seine Kritik an gesellschaftlichen Entwicklungen zum Ausdruck zu bringen; es war Teil eines modernisierungsfeindlichen Diskurses. Zu der Frage, wie die Situation der Randgruppen verbessert werden könnte und welche Rolle der Caritas dabei zufallen sollte, hatten sich die studentischen Caritasgruppen klar positioniert: Problemminderheiten haben in unserer Gesellschaft also nur insofern eine Chance der Bekanntmachung und Durchsetzung ihrer Interessen, als es ihnen gelingt, durch Selbstorganisation (gegen die Gesellschaft) als politischer Faktor wirksam zu werden, oder wenn sie hervorragende Anwälte ihrer Problemsituation finden, die es verstehen, durch kluges politisches Taktieren ihren Interessen Anerkennung und Geltung zu verschaffen34 .

Ausgehend von dieser Überlegung forderten sie, die Caritas solle einen Rahmen schaffen, innerhalb dessen die Betroffenen ihre Anliegen selbst organisieren und vertreten könnten35 . Interessant ist, dass in diesem Kontext an einer Stelle bereits Überlegungen zu starken und schwachen gesellschaftlichen Gruppen und zu den Armen als den »Nichtorganisierten«36 auftauchen – eine Thematik, die für die 1970er Jahre immer mit der Person Heiner Geißlers und der neuen sozialen Frage verbunden war. Lange bevor Geißler diesen Ansatz 1975 in die parteipolitische Debatte einbrachte, war er aber hier schon präsent. In jedem Fall forderten die Studierenden eindeutig eine politische Lösung der Randgruppenfrage, bei der dem Caritasverband die Aufgabe zugefallen wäre, die Betroffenen dabei zu unterstützen, ihre Interessen öffentlich zu vertreten und als Forderungen an die Politik zu adressieren. In den Publikationen der folgenden Jahre taucht diese Forderung bei der Caritas jedoch nicht mehr auf. Anscheinend hatte der Verband zwar die Randgruppenthematik von seinen 32

33

34 35 36

Ibid.; die gleiche Argumentation findet sich auch bei: Hartmut S, Die Aufgaben der Caritas im künftigen Schwerpunktprogramm kirchlicher Diakonie, in: Caritas (1972/6), S. 309–312, hier S. 309. Wetzel geht dabei bis zur Aussage: »Ein durch Computer gesteuertes Fließband z. B., das die menschliche Funktions-, Belastungs- und Arbeitsfähigkeit bis auf Bruchteile von Sekunden auslastet, produziert menschliche Tragödien«, in: W, Gestaltwandel der Not, S. 306. D, Wie stark sind die Schwachen, S. 294 f. Ibid., S. 303. Vgl. ibid., S. 294.

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1. Die Entdeckung von Randgruppen

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studentischen Arbeitskreisen übernommen, nicht jedoch deren Lösungsansätze. Stattdessen äußerten seine Mitglieder in den Publikationen der folgenden Jahre, dass die Hilfe der Caritas für Randgruppen in persönlichem Engagement und in »Kontaktaufnahme und mitmenschlicher Beziehung mit den Außenseitern«37 lag. Die persönlichen Kontakte zu den Betroffenen wurden dabei sogar als wichtiger eingestuft als deren materielle Unterstützung38 . Daneben wurden auch die Sensibilisierung der Bevölkerung und der Abbau von Vorurteilen gegen die sogenannten Randgruppen in der Gesellschaft zum Aufgabenbereich der Caritas gezählt39 . Die Idee, die Randgruppenfrage zu einer politischen Forderung zu machen, taucht dagegen nicht mehr auf. Auch weisen keine Aktivitäten des Verbandes darauf hin, dass er die Rolle des politischen Anwalts der Randgruppen übernommen hätte. Einen Hinweis auf die Ursache dafür gibt die Lesart der Armutsfrage des Verbandes in dieser Zeit. Der Randgruppenbegriff war insgesamt nicht deckungsgleich mit dem Armutsbegriff, sondern verwies auf eine Kombination aus unter anderem materieller Unterversorgung, fehlender gesellschaftlicher Teilhabe und Stigmatisierung. Der DCV hatte dabei die materiellen Nöte fast völlig außer Acht gelassen und als Problem der sogenannten Dritten Welt eingestuft. Die Situation der Randgruppen in Deutschland dagegen hatte er vor allem als psychische und soziale Notlage bezeichnet. Entsprechend hatte der Verband menschliche Kontakte und individuelle Hilfe zu den Lösungsansätzen der Wahl erklärt – Maßnahmen, die nur schwierig durch politisches Lobbying zu erreichen sind. Darüber hinaus erklärt auch das gesetzlich geregelte Verhältnis zwischen Staat und Wohlfahrtsverbänden die Zurückhaltung des Caritasverbandes bei der Artikulation der Randgruppenfrage. Dass die Wohlfahrtsverbände in der Bundesrepublik traditionell eng an den Staat gebunden sind und in hohem Maße von staatlicher Finanzierung profitieren, wurde schon erläutert. Diese Anbindung war in der Zeit des expandierenden Sozialstaats der 1950er und 1960er Jahre noch enger geworden, denn die Sozialstaatsexpansion bedeutete auch steigende finanzielle Mittel für die Verbände. Ewald Frie weist darauf hin, dass der Caritasverband zwischen 1950 und 1970 die Anzahl seiner Mitarbeiter fast verdoppeln konnte40 . Er unterstreicht aber auch als Konsequenz dieser Entwicklung: Der enorme Personalzuwachs der katholischen Caritas ging einher mit einer immer stärkeren Einbindung in wohlfahrtsstaatliche Strukturen. [. . . ] Die »freie Wohlfahrtspflege«

37 38 39 40

G, Unsere Verantwortung, S. 132. Ibid. B, Caritas in den Lernprozessen, S. 178. Während der Verband 1950 noch 106 058 Mitarbeiter beschäftigte, waren es 1970 schon 192 484. Bis 1990 stieg die Zahl auf 347 566 an, vgl. F, Caritas und soziale Verantwortung, S. 39.

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II. Die Armutsdebatte der Bundesrepublik in den 1970er Jahren

wurde Objekt staatlicher Wohlfahrtsplanungen, unterlag ihren Qualitätsanforderungen und -kontrollen, wurde Teil eines auf Gegenseitigkeit beruhenden Abhängigkeitsverhältnisses41 .

Die sozialstaatliche Expansion hatte den Verbänden also nicht nur neue finanzielle Spielräume, sondern auch eine stärkere staatliche Kontrolle gebracht. Nicht nur die Expansion des Sozialstaats, sondern auch neue rechtliche Regelungen hatten in den 1960er Jahren das Verhältnis von Staat und Verbänden beeinflusst. Insbesondere die Jahre 1961 und 1967 hatten wichtige Veränderungen mit sich gebracht. Das BSHG von 1961 hatte nicht nur die Rolle des Hilfeempfängers, sondern auch die Stellung der Träger der freien Wohlfahrtspflege neu geordnet. An der Verankerung eines erweiterten Subsidiaritätsprinzips im BSHG, das den Vorrang der freien vor den öffentlichen Trägern etablierte, hatte sich in den folgenden Jahren ein heftiger Streit entzündet. Ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts hatte 1967 die im BSHG vorgesehene Regelung bestätigt und in diesem Zuge festgestellt, dass die Zusammenarbeit freier und öffentlicher Träger zukünftig im Sinne einer Partnerschaft und eines sich ergänzenden Zusammenwirkens ausgebaut werden sollte42 . Die Verankerung und Bestätigung des Subsidiaritätsprinzips brachte für die Wohlfahrtsverbände neue Spielräume, aber auch eine neue Anbindung an den Staat mit sich. Neue Spielräume entstanden vor allem in finanzieller Hinsicht, denn die neuen gesetzlichen Bestimmungen leiteten eine umfassende Förderung der freien Träger mit öffentlichen Mitteln ein. Formell blieb dabei die Rechtsposition der freien Träger unangefochten, effektiv aber wurden der Betrieb und die Förderung ihrer Einrichtungen von der Einhaltung öffentlicher Vorgaben abhängig gemacht. Darüber hinaus rückten die Verbände durch den steigenden Anteil staatlicher Finanzierung ihrer Arbeit auch generell in eine größere Nähe zum Staat43 . Trenk-Hinterberger sieht in dem BVG-Urteil 1967 die Entpolitisierung des Sozialhilferechts44 . Es ist zu vermuten, dass das dadurch festgelegte Verhältnis zwischen Staat und Spitzenverbänden der Wohlfahrtspflege auch einen Erklärungsfaktor für die Zurückhaltung des Caritasverbandes bei der politischen Lobbyarbeit für die von ihm entdeckten sozialen Minderheiten darstellt. Die öffentliche Thematisierung von Armut wäre schließlich zwangsweise auch mit dem Vorwurf verbunden gewesen, dass der deutsche Sozialstaat seinen Aufgaben nicht nachkäme und ganze Bevölkerungsgruppen vernachlässige. Aufgrund seiner engen Verbindung zum Staat wollte sich der DCV mit dieser 41 42

43

44

Ibid. Peter H, Wohlfahrtsverbände in der Nachkriegszeit. Reorganisation und Finanzierung der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege 1945–1961, Weinheim, München 2005, S. 289–291; vgl. Peter T-H, Sozialhilfe, in: Bundesrepublik Deutschland 1966–1974, S. 593–632, hier S. 600. Christoph S, Subsidiarität. Leitmaxime deutscher Wohlfahrtsstaatlichkeit, in: L (Hg), Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe. Historische und aktuelle Diskurse, Frankfurt a. M. 2003, S. 191–214, hier S. 205–208. T-H, Sozialhilfe 1966–1974, S. 600.

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Anklage aber vermutlich nicht zum Kritiker des Staates machen – zumindest noch nicht zu diesem Zeitpunkt. Wie diese Arbeit noch aufzeigen wird, sollte sich diese Einstellung im Laufe der 1980er Jahre wandeln. In den 1970er Jahren blieb die Entdeckung der Randgruppen durch den Caritasverband jedoch noch ohne politische Folgen.

1.3. Politische Reaktionen auf die Randgruppendebatte Die Diskussion um die Situation der Randgruppen hatte anscheinend noch am Ende der 1960er Jahre auch die Regierung erreicht. Einen ersten Hinweis darauf gab schon im Oktober 1969 die erste Regierungserklärung des frisch gewählten Bundeskanzlers Willy Brandt, bei der dieser verkündete: Wir werden Errungenes sichern und besonders für die Mitbürger sorgen, die trotz Hochkonjunktur und Vollbeschäftigung im Schatten leben müssen, die durch Alter, durch Krankheit oder durch strukturelle Veränderungen gefährdet sind. Die Bundesregierung wird um verstärkte Maßnahmen bemüht sein, die den Benachteiligten und Behinderten in Beruf und Gesellschaft, wo immer dies möglich ist, Chancen eröffnen45 .

Auch wenn Brandt nicht explizit von Randgruppen sprach, so rückte er mit dieser Aussage die Gruppen in den Fokus, die zu dieser Zeit unter diesem Stichwort diskutiert wurden. Über die Existenz materieller Notlagen sprach auch der Kanzler nicht, sondern beschrieb die Situation der Betroffenen vage als Leben »im Schatten«. An seiner Ausführung, dass diese »trotz Hochkonjunktur und Vollbeschäftigung«46 der Not ausgesetzt seien, wird deutlich, dass sich in dieser Zeit auch in Regierungskreisen eine verstärkte Sensibilität dafür einstellte, dass in der Bundesrepublik Armut existierte, die auch das wirtschaftliche Wachstum nicht beseitigt hatte. Insofern war es schon der 1968er-Studentenbewegung in einem gewissen Maß gelungen, politische Entscheidungsträger für das Randgruppenthema zu sensibilisieren. Über drei Jahre später formulierte Brandt in einer weiteren Regierungserklärung das gleiche Anliegen: »In den hinter uns liegenden Jahren ist die soziale Sicherung in unserem Lande wesentlich ausgebaut worden. In dieser Legislaturperiode werden wir uns noch mehr den Menschen zuwenden, die durch persönliches Schicksal am Rande der Gesellschaft leben«47 . Auch in dieser Aussage des Kanzlers wird wieder die Sensibilität für die Existenz von Notlagen nicht nur in einem wohlhabenden Land, sondern auch in einem 45

46 47

Willy B, Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969, in: Klaus  B (Hg.), Die großen Regierungserklärungen der deutschen Bundeskanzler von Adenauer bis Schmidt, München, Wien 1979, S. 252–282, hier S. 272. Ibid. Willy B, Regierungserklärung vom 18. Januar 1973, ibid., S. 283–312, hier S. 304.

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expandierenden Sozialstaat deutlich. Explizit sprach Brandt nun auch von gesellschaftlichen Randlagen, was auf die Rezeption der Randgruppendebatte verweist. Verbesserungen für diese Menschen »am Rand der Gesellschaft« verstand Brandt hier ausdrücklich als Aufgabe der Politik und versprach den Betroffenen verstärkte politische Aufmerksamkeit. Ein Versprechen, dass die Regierung auch einlöste. Denn tatsächlich zeugten die sozialpolitischen Maßnahmen der sozialliberalen Regierung von einem intensiven Bemühen um die Verbesserung der Lage sogenannter Randgruppen. Die Ablösung der großen Koalition durch die sozialliberale Regierung hatte zunächst generell eine weitere Periode sozialstaatlicher Expansion in der Bundesrepublik eingeleitet. Die neue Regierung räumte der Sozialpolitik insgesamt einen höheren Stellenwert ein als zuvor und leitete eine Serie von Reformen ein, mit denen die sozialen Sicherungssysteme maßgeblich ausgebaut wurden48 . Dabei profitierten gerade die als Randgruppen diskutierten Personengruppen von den sozialpolitischen Reformen wie der Neuregelung der Wohngeldbestimmungen 1970 oder der Ausweitung des Krankenversicherungsschutzes49 . Am deutlichsten zeigt sich die neue politische Aufmerksamkeit für sogenannte Randgruppen jedoch in den Änderungen des BSHG. Schon mit dessen zweiter Novellierung im Jahr 1969, noch durch die Große Koalition, war sein Leistungsrahmen stark ausgedehnt worden50 . Eine dritte Novelle, die im März 1974 in Kraft trat, verbesserte die Leistungen des Bundessozialhilfegesetzes noch weiter und vergrößerte den Kreis der Anspruchsberechtigten51 . Dass die Novelle auch die Situation der als Randgruppen diskutierten Gruppen verbessern wollte, zeigt sich insbesondere an der Ersetzung der »Hilfe für Gefährdete« durch die neue »Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten« (§ 72 BSHG), in deren Rahmen Obdachlose, Drogenabhängige und Strafentlassene Unterstützung erhalten sollten52 . Auch die Abschaffung der Zwangsunterbringung in Arbeitseinrichtungen weist auf diese Bemühungen hin. Buhr u. a. urteilen über gerade diese beiden Aspekte der Novellierung des BSHG: »Diese Neuregelung reflektiert einen umfassenden Wandel des Armutsbildes: Mit leichter Verzögerung wurde von Seiten der Politik einer Gruppe unter den Armen besondere Aufmerksamkeit geschenkt: den sogenannten ›Randgruppen‹«53 . Tatsächlich erscheinen die sozialpolitischen Entscheidungen eindeutig als auf die Problemlagen derer zugeschnitten, die in dieser Zeit als Randgruppen diskutiert wurden. Die Annahme liegt nahe, dass diesen sozialpolitischen Maßnahmen eine intensive politische Debatte vorausgegangen war. Politische 48

49 50 51 52 53

Tobias O, Manfred G. S, Vom Ausbau zur Konsolidierung: Sozialpolitik von der sozialliberalen Koalition bis zur Wiedervereinigung, in: O u. a. (Hg.), Der Wohlfahrtsstaat, S. 165–172, hier S. 165. Ibid., S. 166 f. T-H, Sozialhilfe 1966–1974, S. 604–613. Ibid., S. 614–626. Ibid. B u. a., Armutspolitik und Sozialhilfe, S. 515.

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Parteien, insbesondere die an der Regierung beteiligten, mussten die Situation sogenannter Randgruppen zu ihrem Anliegen gemacht, sich parteiintern und mit anderen Parteien darüber ausgetauscht und eine Position dazu gefunden haben. Die Sozialpolitik zugunsten von Randgruppen ließe sich dann als Umsetzung der Ergebnisse dieser Diskussionen in politische Maßnahmen lesen. Jedoch hatte diese parteipolitische Debatte nie stattgefunden. Keine der Parteien hatte die Situation der Randgruppen in ihre Programmatik aufgenommen. Die Lage sogenannter Randgruppen fand in kein Grundsatz-, Aktions- oder Wahlprogramm Eingang. Sie wurde nicht zum Gegenstand des Bundestagswahlkampfs 1972, sie wurde auch nicht auf die Tagesordnung des Bundestages gesetzt, und in Regierungserklärungen beschränkte sich ihre Erwähnung auf die zwei oben zitierten Sätze Willy Brandts54 . Die Erkenntnis, dass die Randgruppendebatte auf kein parteipolitisches Interesse gestoßen war, wirft zwei Fragen auf: Erstens, wodurch sich das Desinteresse der Parteien erklären lässt, und zweitens, woher dennoch der Impuls für die sozialpolitischen Anstrengungen für die Randgruppen kam. Die erste Frage kann hier nicht zu voller Zufriedenheit beantwortet werden, da die Quellen keine Auskunft darüber geben, warum die Parteien das Thema nicht aufgriffen. Ein Argument wurde schon angeführt, nämlich die Tatsache, dass die Verbände, die sich der Randgruppen annahmen, zu eng an den Staat gebunden waren, als dass sie sich mit der öffentlichen Thematisierung von Armut zu dessen Kritiker gemacht hätten. Die Forschung verweist außerdem auf zwei weitere Argumente zur Erklärung der Latenz dieser Frage in den 1960er Jahren, die in den 1970er Jahren sicher auch noch Erklärungspotential bergen. Schäfers erklärt, dass der Blick auf das Elend der Entwicklungsländer die Aufmerksamkeit von der Armut im eigenen Land abgelenkt hatte55 . Trenk-Hinterberger ergänzt, die in der Politik verbreitete Vorstellung, mit der Sozialhilfe sei die Armutsfrage gelöst, habe die Debatten darum als überflüssig erscheinen lassen56 . Er fügt weiter hinzu, dass die als Randgruppen diskutierten Gruppen im Hinblick auf ihre Zusammensetzung und ihre Interessen einen extrem heterogenen Personenkreis darstellten und nur über geringes Protestund Wählerpotential verfügen57 . Dem ist hinzuzufügen, dass sich unter den Randgruppen viele als sogenannte unwürdige, also als selbstverschuldete Arme betrachtete Gruppen befanden, wie Drogenabhängige oder Strafentlassene. Für diese ist es traditionell besonders schwer, eine politische Lobby zu finden. Auch könnte die geringe politische Verwendbarkeit der in der Randgruppendebatte vorgebrachten Argumente einen Beitrag zur Erklärung des politischen Des54

55 56 57

Vgl. dazu die Zusammenschau der sozialpolitischen Programme der im Bundestag vertretenen Parteien: Sozialarbeit im Spiegel der Parteiprogramme, in: Blätter der Wohlfahrtspflege 5 (1973), S. 117–126. S, Zum öffentlichen Stellenwert von Armut, S. 112 f. T-H, Sozialhilfe 1966–1974, S. 596. Ibid., S. 599.

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II. Die Armutsdebatte der Bundesrepublik in den 1970er Jahren

interesses leisten. Nicht die materiellen Notlagen der Randgruppen wurden thematisiert, sondern ihre soziale Isolation und ihre fehlende Teilhabe am gesellschaftlichen Leben – und damit Probleme, die sich nur schwer politisch lösen lassen. Auch lassen sich Ursachen wie gesellschaftlicher Leistungsdruck und die Auswirkungen des technischen Wandels, so wie sie in der Debatte identifiziert wurden, auf den ersten Blick nur schwer durch politische Maßnahmen beheben. Vermutlich hielten sich die Parteien auch aus diesem Grund bei der Diskussion über die Randgruppen zurück. Eine klare Antwort kann dagegen auf die Frage gegeben werden, woher der Impuls für die konkreten sozialpolitischen Verbesserungen für Randgruppen kam. Eindeutig kam dieser nämlich aus dem Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit (BMJFG). Das für die Sozialhilfe zuständige Ministerium, das seit 1972 der sozialdemokratischen Ministerin Katharina Focke unterstand, debattierte zwischen 1973 und 1976 nicht nur intensiv die Situation der Randgruppen, sondern ebnete auch den Weg für sozialpolitische Maßnahmen zu deren Gunsten. Noch im August 1973 hatte ein Mitarbeiter des Ministeriums bilanziert, dass Hilfsangebote für die als Randgruppen bezeichneten Personen zwar existierten, aber dass diese unzureichend und außerdem schlecht koordiniert seien. Für dringend geboten erklärte er die Entwicklung und Erprobung neuer Hilfen für die Betroffenen sowie eine genauere Erforschung ihrer spezifischen Situation58 . Noch im gleichen Jahr begannen verschiedene Abteilungen des Ministeriums gemeinsam mit der Ausarbeitung eines Entwurfs für ein »Aktionsprogramm der Bundesregierung zur Eingliederung sozialer Randgruppen«59 . Eine kontinuierliche Diskussion der Randgruppen in den folgenden Jahren gipfelte im Juli 1976 in der Veröffentlichung eines Berichts zu diesem Thema durch das BMJFG60 . Der erste Entwurf des Aktionsprogramms des Ministeriums begründet die Beschäftigung mit dieser Frage wie folgt: Situation und Probleme der sogenannten sozialen Randgruppen finden zunehmend das Interesse einer breiteren Öffentlichkeit. Es gehört zu den vordringlichen Verpflichtungen eines sozialen Rechtsstaates, sich der Menschen besonders anzunehmen, die durch persönliches Schicksal – z. B. Krankheit, Arbeitsunfähigkeit, Ehescheidung, Tod des Ernährers – oder durch äußere Einflüsse wie Vertreibung, Flucht oder auch weil sie den steigenden Anforderungen einer modernen Industriegesellschaft nicht gewachsen sind, in soziale Schwierigkeiten geraten [. . . ] und deshalb am Rande unserer Gesellschaft leben61 .

Der erste Satz illustriert, dass es unter anderem die öffentliche Aufmerksamkeit für die Situation sogenannter Randgruppen war, die das Thema auch in den Fokus des Ministeriums gebracht hatte. An den folgenden Sätzen wird deutlich, 58 59 60 61

Schreiben ORR Kursawe an Herrn RD Stein vom 13.8.1973, BA 189/21991. ORR Kursawe: Entwurf eines Aktionsprogramms der Bundesregierung zur Eingliederung sozialer Randgruppen, 7.1.1974, ibid. Bericht über die Eingliederung von Personen mit besonderen sozialen Schwierigkeiten, 1976, ibid. Entwurf, 7.1.1974, ibid.

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1. Die Entdeckung von Randgruppen

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dass auch die Lesart der Armutsfrage des Ministeriums derjenigen der oben genannten Akteure ähnelt. Auch hier wurden individuelle Schicksale fokussiert, die aber als gesellschaftlich bedingt angesehen wurden. Mit der Erwähnung der steigenden Anforderungen der modernen Industriegesellschaft als Ursache der Marginalisierung nutzte das Ministerium auch eine von anderen Akteuren zuvor aufgebrachte Argumentation und verortete so wie diese die Ursachen für die Entstehung von Randlagen gesellschaftsstrukturell. Ebenfalls analog zu den anderen Akteuren hatte das Ministerium den Randgruppenbegriff als einen sehr weiten Mantel verstanden, unter dem es eine Fülle von Personengruppen ansammeln konnte. Der erste Entwurf des Aktionsprogramms zur Eingliederung von Randgruppen hatte über die Zielgruppe noch ausgesagt: »Dazu gehören vor allem Personen ohne ausreichende Unterkunft, Nichtseßhafte, Alkoholiker, Drogen- oder Rauschmittelabhängige, Strafgefangene, Haftentlassene, Personen ohne ausreichende innere Festigkeit, Landfahrer, Zigeuner, ausländische Arbeitnehmer«62 . Im Unterschied zu den anderen Akteuren diskutierten die Mitarbeiter des Ministeriums anschließend intensiv die Frage nach der Abgrenzung dieser Personengruppe. Dies überrascht insofern nicht, als das Ministerium ja im Unterschied beispielsweise zu den Medien konkrete politische Maßnahmen zugunsten der diskutierten Gruppen einleiten wollte. Die Frage, wer von diesen Maßnahmen profitieren durfte, musste natürlich zuvor geklärt werden. In den Debatten, die auf den Erstentwurf folgten, plädierten verschiedene Abteilungen des Ministeriums dafür, zum einen Alkohol- und Drogenabhängige und zum anderen ausländische Arbeitnehmer nicht als Randgruppen zu behandeln. Zwar bestritt niemand die Konfrontation dieser Gruppen mit sozialen Schwierigkeiten, jedoch wurde darauf verwiesen, dass für diese Gruppen bereits spezifische Programme existierten63 . Letztendlich verschwanden aber nur die ausländischen Arbeitnehmer aus der Liste der Randgruppen64 . Dies überrascht in Anbetracht der Tatsache, dass auch für Drogenabhängige kurz zuvor ein eigenes Programm ins Leben gerufen worden war65 . Überzeugt hatte hier wohl eher das an einer Stelle der Debatte vorgebrachte Argument, dass es politisch nicht angeraten sei, die ausländischen Arbeitnehmer in eine Gruppe mit sämtlichen gesellschaftlichen Außenseitern zu stecken66 . Interessantes Kuriosum: Eine der von der Regierung als Randgruppe eingestufte Personengruppe entschied darüber hinaus selbst, dass sie nicht als solche gewertet werden wollte. Auskunft darüber gibt ein Briefwechsel zwischen dem BMJFG und Vertretern des Korbmacherhandwerks, der auf die Veröffentlichung des Ministeriumsberichts im Sommer 1976 folgte. Er fing mit 62 63 64 65 66

Ibid. Ergebnisprotokoll, 4.9.1974, ibid. Bericht über die Eingliederung, ibid. R, Sozialstaat, Randgruppen und bundesrepublikanische Gesellschaft, S. 194. Ergebnisprotokoll, 4.9.1974, BA 189/21991.

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II. Die Armutsdebatte der Bundesrepublik in den 1970er Jahren

dem empörten Schreiben eines Korbmachermeisters an, der sich vehement darüber beschwerte, dass im Bericht die Korbmacher als Landfahrer und damit als Randgruppe und als »Gruppe mit erheblichen Verhaltensstörungen«67 eingestuft worden seien. Ein Entschuldigungsschreiben des Ministeriums an den Bundesinnungsverband des deutschen Korbmacherhandwerks, verbunden mit dem Versprechen, die Korbmacher aus der nächsten Auflage des Berichts zu streichen, beendete den Streit68 . Diese Auseinandersetzung um die Korbmacher mag bedeutungslos für die Entwicklung der Politik zugunsten der Randgruppen gewesen sein. Sie zeigt jedoch eindrücklich, wie delikat die Frage nach der Zugehörigkeit zu Randgruppen war, und vor allem mit welchem Stigma diese Gruppen behaftet waren. Was sollte das Aktionsprogramm nun für die Situation dieser Gruppen leisten? Der Titel führt auf den ersten Blick in die Irre, denn mit Aktionsprogramm wollte das BMJFG nicht spezifische und neue Maßnahmen für die Zielgruppen ins Leben rufen, sondern vielmehr die Gruppen im Rahmen der bestehenden Aktivitäten des Ministeriums verstärkt berücksichtigen. So wurden als Aufgaben in den Entwürfen für das Aktionsprogramm formuliert, dass die Regierung in der Gesetzgebung die Randgruppen verstärkt berücksichtigen sollte, dass sie das Thema im Austausch mit internationalen Organisationen wie dem Europarat besprechen würde und dass Fachkräfte der sozialen Arbeit in ihrer Ausbildung auf die Arbeit mit Randgruppen vorbereitet werden sollten. Nur ein Punkt auf der selbstgesetzten Agenda des Ministeriums ging über diesen bereits bestehenden Rahmen hinaus, nämlich die Forderung nach Forschungsvorhaben zur besseren Kenntnis der Situation der Randgruppen und der Erprobung neuer Maßnahmen in Modellvorhaben69 . Die Mitarbeiter des Ministeriums erkannten schließlich selbst, dass der Titel Aktionsprogramm für diese Maßnahmen von geringer Reichweite zu hoch gegriffen war. Aus Sorge, dass die Bezeichnung falsche Erwartungen wecken würde70 , änderten sie den Titel des Textes, den sie 1976 der Öffentlichkeit vorlegten, in »Bericht zur Eingliederung von Personen mit besonderen sozialen Schwierigkeiten«71 . Sowohl der Randgruppenbegriff als auch der des Aktionsprogramms waren aus dem Titel verschwunden. Ersteres stellt dabei nur eine formale Korrektur des Ministeriums dar, das mit der Formulierung enger an die Sprache von § 72 des BSHG annähern wollte72 . Dies hatte jedoch keinen Erfolg, 67 68 69 70

71 72

Schreiben von Korbmachermeister Hackländer an Staatssekretär Wolters, 31.8.1976, ibid. Brief des ORR Kursawe an den Bundesinnungsverband des deutschen Korbmacherhandwerks, 6.9.1976, ibid. Entwurf, 7.1.1974, ibid. Im Protokoll einer ministeriumsinternen Sitzung heißt es: »Von der Vorlage eines Aktionsprogramms soll abgesehen werden. Es bestehe sonst die Gefahr, daß in der Öffentlichkeit Erwartungen geweckt würden, die in dem erwarteten Umfange nicht erfüllt werden könnten«, vgl. Ergebnisprotokoll, 4.9.1974, ibid. Bericht über die Eingliederung, ibid. Ergebnisprotokoll, 4.9.1974, ibid.

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1. Die Entdeckung von Randgruppen

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denn der Bericht wurde in der Öffentlichkeit trotzdem als Randgruppenbericht bezeichnet und verhandelt73 . Aufschlussreicher ist die Umbenennung in Bericht, die verdeutlicht, dass es auch dem Ministerium bewusst war, dass seine Aktivitäten für die Randgruppen begrenzt geblieben waren. In seinem im Juli 1976 veröffentlichten Bericht stellte das Ministerium sein Engagement für die Randgruppen trotzdem als Erfolgsgeschichte dar, indem es eine Liste des für die Randgruppen Erreichten präsentierte. Es verwies dabei an erster Stelle auf die Berücksichtigung der Randgruppen in der Novellierung des BSHG, an späterer Stelle auch auf deren Berücksichtigung im neuen Jugendhilfegesetz. Es berichtete außerdem über insgesamt vier Forschungsvorhaben, die mit Haushaltsmitteln des BMJFG zwischen 1975 und 1976 die Situation von Randgruppen untersucht hatten und die sich alle im Bereich der Obdachlosenhilfe bewegten. Ein Modellvorhaben des Ministeriums war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Berichts in Form einer sozialpädagogischen Begegnungseinrichtung in Köln bereits umgesetzt; ein weiteres zugunsten von Haftentlassenen sollte 1976 beginnen74 . Auch im Austausch mit internationalen Organisationen hatte das BMJFG die Thematik wie angekündigt eingebracht. Aus dem Bericht ging hervor, dass Vertreter des Ministeriums an der Arbeitsgruppe Obdachlosigkeit des Europarats teilgenommen sowie in Brüssel im Rahmen des ersten europäischen Armutsbekämpfungsprogramms zwei Anträge für Obdachlosenarbeit gestellt hatten75 . Von den Medien wurde die Veröffentlichung des Berichts nicht nur positiv aufgenommen. Im Gegenteil: Sie attestierten seinen Verfassern eine zu allgemeine Thematisierung und eine gewisse Rat- und Konzeptlosigkeit im Umgang mit der Randgruppenfrage76 . Wilfried Rudloff beurteilt diese Kritik als nicht unberechtigt und unterstreicht, dass der Randgruppenbericht nicht in einer Reihe mit so bedeutsamen Aktivitäten wie der Psychiatrie-Enquete oder dem Aktionsprogramm für die Rehabilitation Behinderter gesehen werden sollte. Denn der Bericht blieb weitgehend folgenlos, und das Randgruppenthema verschwand – nach einem kurzen Moment erneuter Aufmerksamkeit durch den Bericht im Sommer 1976 – endgültig aus der öffentlichen Debatte77 . Mit Fug und Recht kann in Frage gestellt werden, ob die Aktivitäten des Ministeriums, die im Grunde in der Finanzierung von vier Forschungsvorhaben zu Obdachlosigkeit bestanden, eine ausreichende und schlüssige Antwort auf 73

74 75 76 77

Vgl. N. N., Randgruppenbericht der Bundesregierung. Im Schatten des Wohlfahrtsstaates, in: SZ, 30.7.1976. Dass der Begriff in der Öffentlichkeit weiterverwendet wurde, kann nicht nur darauf zurückgeführt werden, dass er seit Ende der 1960er Jahre verbreitet war, sondern auch darauf, dass das Ministerium ihn nur aus dem Titel des Berichts verbannt hatte, ihn im Text aber weiter benutzte, vgl. Bericht über die Eingliederung, BA 189/21991. Ibid. Ibid. Vgl. bspw. Ernst K, Soziales Elend wird verharmlost, in: Die Zeit, 6.8.1976; vgl. auch R, Sozialstaat, Randgruppen und bundesrepublikanische Gesellschaft, S. 195. Ibid.

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die gesamte Randgruppenfrage darstellten. Rudloffs Urteil über die geringe Reichweite des Aktionsprogramms soll daher hier nicht angezweifelt werden. Jedoch soll der Blick auf etwas anderes gelenkt werden. Denn das BMJFG mag zwar unzureichende Antworten auf die Randgruppenfrage gegeben haben – immerhin hat es sich diese aber überhaupt gestellt. Fragen nach der Definition sogenannter Randgruppen, deren Abgrenzung und der möglichen Unterstützungsleistungen für diese wurden im Ministerium vielleicht nicht zur völligen Zufriedenheit beantwortet, aber sie wurden diskutiert. Die Verwaltung war insofern den politischen Parteien voraus, die sich all diese Fragen nicht einmal gestellt hatten. Für die Randgruppenpolitik kann daher ein ähnliches Fazit gezogen werden, wie Trenk-Hinterberger es schon für die Weiterentwicklung der Sozialhilfe zwischen 1966 und 1974 gezogen hat. Auch er konstatiert, dass Sozialhilfe in diesem Zeitraum keine politische Frage darstellte: sie tauchte in keinem Grundsatz- oder Wahlprogramm und keiner Regierungserklärung auf, spielte keine Rolle in den Wahlkämpfen 1969 und 1972 und nahm auch in der übergreifenden sozialpolitischen Debatte dieser Zeit höchstens eine marginale Rolle ein. Trotzdem wurde gerade in dieser Zeit das Bundessozialhilfegesetz durch die beiden Novellierungen, die 1969 und 1974 in Kraft traten, umfassend ausgebaut. Trenk-Hinterberger erklärt diese Weiterentwicklung durch das Engagement verschiedener Akteure jenseits der politischen Parteien: der federführenden Bundesministerien, der kommunalen Spitzenverbände, einzelner Verbände der Wohlfahrtspflege und des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge. »Sozialhilfe war kein ›politisches‹ Thema, sondern wurde zwischen Fachleuten ›sachlich‹ diskutiert und weiterentwickelt«78 , resümiert Trenk-Hinterberger. Ein ähnliches Urteil kann über die Randgruppenfrage gefällt werden: Auch diese war eben kein politisches Thema. Sie spielte keine Rolle in den Auseinandersetzungen der politischen Parteien – aber auch sie wurde von Fachleuten der Sozialverwaltung diskutiert und beantwortet. Dabei leitete die Beschäftigung mit dem neuen Gegenstand innerhalb des Ministeriums auch zumindest ein partielles Umdenken in der Armutsfrage ein. Der Bericht von 1976 legt dies offen, denn er beginnt mit der Aussage: »In der Bundesrepublik Deutschland besteht ein umfassend ausgebautes System der sozialen Sicherung. Auch das beste soziale Sicherungssystem wird aber das Auftreten individueller Notstände und Krisensituationen nicht verhindern können«79 – ein Gedanke, der zu diesem Zeitpunkt in Politik und Verwaltung noch neu war, hatte sich doch mit der Verabschiedung des BSHG 1961 die Auffassung verbreitet, der Sozialstaat habe das Armutsproblem gelöst. In seinem Bericht gab das Ministerium 1976 aber offen zu, dass Notlagen trotz des sozialen Sicherungssystems existieren konnten. Mit diesem Verweis auf Lücken im Sozialstaat entzog es der Auffassung von einem staatlicherseits gelösten 78 79

T-H, Sozialhilfe 1966–1974, S. 600. Bericht über die Eingliederung, BA 189/21991.

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1. Die Entdeckung von Randgruppen

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Armutsproblem die Argumentationsgrundlage. Ein Argument, das in den 1960er Jahren das Aufkommen einer Debatte um die Notlagen im eigenen Land verhindert hatte, verlor damit an Schlagkraft; der Weg für die Thematisierung von Armut wurde ein weiteres Stück geebnet. Die Randgruppendebatte zeigt, dass eine partielle Wiederentdeckung der Armutsfrage in der Bundesrepublik schon zu Beginn des Untersuchungszeitraums stattfand. Verursacht hatte diese Entdeckung nicht etwa die krisenhafte Entwicklung der Wirtschaft in Folge des ersten Ölpreisschocks 1973 oder die Herausbildung neuer von Armut betroffener Gruppen. Im Gegenteil: Die Debatte um Randgruppen rückte Personen mit einem traditionell hohen Armutsrisiko ins Zentrum der Aufmerksamkeit, deren Situation als Nebenprodukt des gesellschaftlichen Wohlstands dargestellt wurde. Angestoßen hatte die Debatte die Studentenbewegung von 1968; in den folgenden Jahren hatten Medien, Wissenschaftler und Verbände das Thema aufgegriffen. Auch in der Gestaltung der Sozialpolitik fanden die Randgruppen in dieser Zeit Berücksichtigung, was vor allem auf das Engagement der Verwaltung, genauer gesagt des BMJFG, zurückzuführen ist. Die im Bundestag vertretenen Parteien beteiligten sich jedoch nicht an der Debatte. So blieb diese auf einen Teil der hier untersuchten Akteure beschränkt und verebbte außerdem 1976 ohne große Folgen. Die Beschäftigung mit den Randgruppen hatte jedoch den Akteuren neue Erkenntnisse gebracht, etwa die Tatsache, dass materielle Not auch in einer reichen Gesellschaft und in einem weit entwickelten Sozialstaat existieren konnte. Damit war ein Grundstein für die spätere diskursive Öffnung des Armutsthemas gelegt.

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2. Erstes parteipolitisches Interesse für Armut: die Debatte um die »neue soziale Frage«, 1975–1976 Obwohl alle im Bundestag vertretenen Parteien kein Interesse für die Randgruppen gezeigt hatten, öffneten sie sich in der Mitte der 1970er Jahre doch noch für die Armutsfrage. Indes diskutierten sie diese nicht unter dem Schlagwort der Randgruppen, sondern sprachen von einer »neuen sozialen Frage«. Im Folgenden soll diese Debatte analysiert werden, die verdeutlicht, dass es das Armutsthema in den 1970er Jahren doch noch auf die Agenda der politischen Parteien geschafft hatte. Im Fokus stehen dabei zwei Fragen: Zunächst, welche Faktoren dieses parteipolitische Interesse für einen Gegenstand auslösten, der kurz zuvor noch ignoriert worden war. Bei der Beantwortung kann der Blick auf Parallelen und Unterschiede zur Randgruppendebatte hilfreich sein. Dann auch die Frage, warum dieses Thema so schnell wieder aus dem politischen Diskurs verschwand. Warum ließen die Parteien nach einem ersten Augenblick des Interesses wieder davon ab?

2.1. Die Formulierung der neuen sozialen Frage durch die CDU Das Aufkommen der neuen sozialen Frage ist eindeutig mit der CDU verbunden. Zum ersten Mal formulierte die Partei diese in der Mannheimer Erklärung, die ihr Bundesvorstand im Juni 1975 auf dem Bundesparteitag in Mannheim den Delegierten vorstellte. Die Autoren des Papiers diagnostizierten dort die Entstehung von »neuen sozialen Problemen«1 sowie die Herausbildung neuer Problemgruppen, die wie folgt erklärt wurde: »Zu dem Konflikt zwischen Arbeit und Kapital sind Konflikte zwischen organisierten und nichtorganisierten Interessen, zwischen Minderheiten und Mehrheiten, zwischen Stadt und Land und zwischen den Machtausübenden und Machtunterworfenen innerhalb der organisierten gesellschaftlichen Gruppen getreten«2 . Weiter führten sie aus, dass Kapitaleigner und Arbeitnehmer mittlerweile in mächtigen Verbänden organisiert seien, mit deren Hilfe sie ihre Interessen wirksam durchsetzen könnten – nicht nur jeweils der anderen Seite gegenüber, sondern auch ge1

2

CDU-Bundesvorstand, Unsere Politik für Deutschland. Mannheimer Erklärung, in: Protokoll. 23. Bundesparteitag, Mannheim, 23.–25.6.1975, hg.v. Bundesgeschäftsstelle der CDU, Bonn 1976, Anhang, S. 30. Ibid., S. 31.

https://doi.org/10.1515/9783110613087-005

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II. Die Armutsdebatte der Bundesrepublik in den 1970er Jahren

genüber denjenigen, die keiner der beiden Seiten angehörten. Auf der Strecke blieben dabei laut der Erklärung des Parteivorstands »die Nichtorganisierten, alte Menschen, Mütter mit Kindern oder die nicht mehr Arbeitsfähigen«3 , deren Situation als »neue soziale Frage«4 beschrieben wurde. Diese sollte in den folgenden Jahren zum prägenden Begriff der sozialpolitischen Debatten der Partei werden. Vor allem aber sollte unter diesem Schlagwort das lange vernachlässigte Problem der materiellen Unterversorgung wieder diskutiert werden5 . Warum kamen die Christdemokraten zu diesem Zeitpunkt des generell geringen Interesses für Armutsfragen dazu, sich dieses Themas anzunehmen? Und woher war der Impuls für diese erste Problematisierung einer neuen sozialen Frage auf dem Mannheimer Parteitag gekommen? Die Mannheimer Erklärung war »von oben herab«6 eingebracht worden: den ersten Entwurf für den Text der Erklärung hatte Kurt Biedenkopf als Generalsekretär der Partei verfasst und zunächst nur bei den Sitzungen des Bundesvorstandes zur Diskussion gestellt. Erst kurz vor dem Parteitag hatten dann auch die Delegierten den Text erhalten7 . Interessant ist, dass im ersten Entwurf des Generalsekretärs, den Biedenkopf im Februar 1975 erstmals dem Vorstand seiner Partei präsentierte, noch keine Rede von einer neuen sozialen Frage war. Zwar hatte Biedenkopf einen Abschnitt dem Thema »Verteilungskonflikte«8 gewidmet, bezog diesen aber ausschließlich auf »die Völker der Dritten und Vierten Welt«9 . Auch wies er bereits auf die Problematik von organisierten und nicht organisierten Interessengruppen in der Bundesrepublik hin, ohne diese aber als neue soziale Frage einzustufen oder auf spezifische Problemgruppen hinzuweisen10 . Erst in einer zweiten Version der Erklärung, die eine vom Parteivorstand eingesetzte Kommission ausgearbeitet und im Mai 1975 vorgelegt hatte, tauchten Ausführungen zur sogenannten neuen sozialen Frage auf11 . 3 4 5 6 7

8 9 10 11

Ibid. Ibid. B u. a., Armutspolitik und Sozialhilfe, S. 517. Frank B, Macht und Machtverlust. Die Geschichte der CDU, Stuttgart, München 2002, S. 35. Der CDU-Bundesvorstand hatte Biedenkopfs Entwurf, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht als Mannheimer Erklärung, sondern als Strategiepapier verhandelt wurde, erstmals im Februar 1975 diskutiert. Erst nach einer erneuten Besprechung des Papiers innerhalb des Vorstandes im Mai sandte Biedenkopf dann im Juni 1975, weniger als drei Wochen vor Beginn des Parteitages in Mannheim, das Papier auch als Vorlage an die Delegierten, vgl. Ergebnisprotokoll der Sitzung des Bundesvorstandes der CDU in der Politischen Akademie Eichholz am 24. Februar 1975, ACDP 07–001 951, und am 12. Mai 1975, ACDP, 007–01 955; Brief Kurt Biedenkopf an die Delegierten des 23. Bundesparteitages der CDU, 4. Juni 1975, ACDP, 07–001 22134. Kurt Biedenkopf, Entwurf: Strategie, 17.2.1975, ACDP, 07–001 951. Ibid. Ibid. Strategieentwurf. Vorlage zur Sitzung des Bundesvorstandes am 12. Mai 1975, ACDP, 007–01 955.

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2. Die Debatte um die »neue soziale Frage«

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Die Kommission gibt keine Auskunft darüber, welches ihrer Mitglieder welchen Teil des Textes verfasst hat12 . Mit hoher Wahrscheinlichkeit war es aber innerhalb dieser vom Parteivorstand eingesetzten Kommission der Sozialexperte der CDU, Heiner Geißler, gewesen. Geißler, der seit 1973 auch dem Bundesfachausschuss für Sozialpolitik der Partei vorsaß, würde in Folge der Mannheimer Erklärung derjenige sein, der die Thesen zur neuen sozialen Frage ausarbeitete und mit empirischen Daten unterfütterte. Aber auch im Vorfeld hatte er sich schon mit diesem Themenbereich beschäftigt und dazu publiziert. Zwar nicht – wie es vielleicht zu erwarten gewesen wäre – im Rahmen des Bundesfachausschusses, dem er vorsaß13 , sondern unabhängig von diesem Gremium. Die Situation von älteren Frauen etwa hatte er schon 1974 in einer Publikation zum Thema gemacht und dort ebenfalls unter dem Begriff »neue soziale Probleme«14 subsummiert. Auch in der ersten Diskussion der Mannheimer Erklärung hatte er für die Aufnahme dieses Themenbereichs in die Erklärung plädiert15 . Nach den Änderungen durch die Kommission tauchten im Text der Erklärung die oben zitierten Ausführungen zu einer neuen sozialen Frage auf, die als Problem von alten Menschen, Müttern mit Kindern und als Folge von deren fehlender Interessenorganisation gedeutet wurde16 . Über Geißler hatte also die neue soziale Frage Eingang in die programmatische Erklärung der Christdemokraten gefunden. Neben dem Engagement Geißlers stellt die thematische Neuorientierung und Programmdiskussion innerhalb der CDU in den 1970er Jahren einen wichtigen Faktor dar, der das Aufkommen der »neuen sozialen Frage« ermöglicht hat. Denn die Mannheimer Erklärung, in der sie erstmals formuliert wurde, war Teil einer intensiven innerparteilichen Debatte um die programmatische Neuausrichtung der Christdemokraten. Anfänge dieser Programmarbeit hatten sich bereits in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre abgezeichnet. Gefördert wurden sie nicht nur durch einen innerparteilichen Generationswechsel und die allgemeine gesellschaftliche Planungseuphorie, sondern vor allem durch die politischen Wechsel, also zunächst die Bildung der Großen Koalition 1966, dann vor allem den Weg der CDU in die Opposition 1969 und die erneute Wahlnieder12

13

14 15 16

Biedenkopf erläutert, dass die Kommission in ihren Arbeitstreffen den Text gemeinsam formuliert habe, vgl. Ergebnisprotokoll der Sitzung des Bundesvorstandes der CDU am 12. Mai 1975 in der Politischen Akademie Eichholz, ibid. Im Bundesfachausschuss sprach Geißler die neue soziale Frage erstmals im September 1975 an, also zwei Monate nach der Mannheimer Erklärung; zuvor hatte sich der Ausschuss nicht damit beschäftigt, vgl. 25.9.1975, Ergebnisprotokoll des Bundesfachausschusses Sozialpolitik vom 19. September 1975 in Bonn, ACDP, 07–001 8725; vgl. auch die Protokolle des Ausschusses zwischen 1970 und 1975, ACDP, 07–001 8715–8724. Heiner G, Daten und Fakten zur Situation der älteren Frau in der Bundesrepublik, Mainz 1974, S. 1. Ergebnisprotokoll der Sitzung des Bundesvorstandes der CDU am 24. Februar 1975 in der Politischen Akademie Eichholz, ACDP 07–001 951 Strategieentwurf. Vorlage zur Sitzung des Bundesvorstandes am 12. Mai 1975, ACDP, 007–01 955.

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lage 1972. In deren Folge bemühten sich die Christdemokraten intensiv um die Ausarbeitung neuer programmatischer Leitlinien; Ergebnisse der Arbeit wurden mit dem Berliner Programm von 1972 und dem Grundsatzprogramm von 1978 sichtbar17 . Die Forschung unterstreicht dabei, dass die Programme nicht nur als Zeichen der Innovation, sondern auch als Krisenzeichen verstanden werden können. Zwar erschloss sich die Partei damit neue Themen und erprobte neue Formen der Partizipation der Parteimitglieder, gleichzeitig aber war die Entstehung dieser Programme nur durch Wahlniederlagen ausgelöst worden. Mit den Programmen reagierte die Partei unter anderem darauf, dass sie ihre exklusive Bindung zu kirchlichen Milieus ebenso verloren hatte wie die weltanschaulichen Gewissheiten, die bisher von den Vereinsnetzen der Milieus getragen worden waren18 . In diesen Kontext der programmatischen Neuausrichtung zur (Rück-) Gewinnung von Wählern fiel auch die Mannheimer Erklärung, und damit auch die dort erstmals formulierte neue soziale Frage. Insofern schrieben sich die Christdemokraten dieses neue Thema in einer Zeit auf die Agenda, in der sie generell offen für und sogar aktiv auf der Suche nach neuen Themen waren. Auf diesem Boden gediehen Geißlers Thesen zur neuen sozialen Frage. Von Anfang an war damit die neue soziale Frage auch Teil einer politischen Strategie gewesen, mit der die CDU sich neue Wählergruppen erschließen wollte. Dass sie dafür den Weg des direkten Angriffs auf die Regierungspolitik wählte, auch mit Hilfe der neuen sozialen Frage, wird schon in der Mannheimer Erklärung deutlich. Denn implizit war die Behauptung, dass in der Bundesrepublik Menschen ohne Lobby bei gesellschaftlichen Verteilungskämpfen auf der Strecke blieben, mit einem starken Vorwurf verbunden. Die Christdemokraten unterstellten damit der Regierung, ihre Politik nur an den organisierten Gruppen auszurichten und so andere, nicht organisierte Bevölkerungsgruppen zu vernachlässigen. Die Verfasser der Mannheimer Erklärung machten diese Kritik aber auch explizit, indem sie formulierten, die Politik der Bundesregierung »beruht geradezu auf einem Bündnis der Starken gegen die Schwachen«19 und habe »die Probleme der wirklich Schwachen und Bedürftigen in unserer Gesellschaft verdeckt«20 . Geißler sollte diesen Gedanken in späteren Publikationen weiter ausführen, in denen er von einer »überkommenen Sozialpolitik«21 der Regierung sprach. Buhr u. a. haben aus diesem Grund darauf hingewiesen, dass die neue soziale Frage teilweise auch als »parteipolitischer Angriff auf SPD, Gewerkschaften und den korporativen Sozialstaat«22 zu lesen sei. Auch Frank Bösch stellt

17 18 19 20 21 22

Udo Z, Die CDU. Das politische Leitbild im Wandel der Zeit, Wiesbaden 2008, S. 146; B, Macht und Machtverlust, S. 42. Z, Die CDU, S. 142 f.; B, Macht und Machtverlust, S. 33. CDU-Bundesvorstand, Unsere Politik für Deutschland, S. 31. Ibid. Heiner G, Die neue soziale Frage. Analysen und Dokumente, Freiburg 1976, S. 11. B u. a., Armutspolitik und Sozialhilfe, S. 517.

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2. Die Debatte um die »neue soziale Frage«

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diesen Angriff der CDU auf SPD und Gewerkschaften mit Hilfe der neuen sozialen Frage heraus. Den Christdemokraten sei es damit gelungen, die sozialpolitische Kompetenz der SPD öffentlich in Frage zu stellen und die Partei auf ihrem ureigenen Feld zu schlagen. Gleichzeitig habe sie die traditionelle Konfliktlinie zwischen Kapital und Arbeit entwertet, die sie selbst immer schon als problematisch empfunden hatte, sowie die Gewerkschaften dem Vorwurf ausgesetzt, nicht den wirklich Schwachen zu helfen. »Strategisch war der Entwurf in mehrfacher Hinsicht ein Geniestreich«23 , urteilt Frank Bösch abschließend über die neue soziale Frage. Inwiefern diese Strategie als erfolgreich beurteilt werden kann, soll an späterer Stelle noch thematisiert werden. In jedem Fall kann hier schon festgehalten werden, dass die Thesen der CDU zur neuen sozialen Frage von Beginn an mit offensiver Kritik an den Gewerkschaften und an der Regierung insgesamt, nicht nur an der SPD, verbunden waren, denen vorgeworfen wurde, sich nicht um die Schwachen zu kümmern. Die Existenz materieller Notlagen stellte zu diesem Zeitpunkt übrigens noch kein explizites Thema der Christdemokraten dar. In der Mannheimer Erklärung wurden sie nicht aufgeführt; stattdessen identifizierten ihre Verfasser darin Probleme wie die Mehrfachbelastung von Frauen zwischen Erwerbstätigkeit, Haushaltsführung und Kindererziehung, die Frage der Erziehungsfähigkeit von Familien oder die Wahrung der Menschenwürde im Alter24 . Auf den Aspekt des geringen oder fehlenden Einkommens der von ihnen fokussierten Problemgruppen kamen sie zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht zu sprechen. Erst im Laufe des Jahres sollte dieser Aspekt hinzukommen. Ausschlaggebend dafür, dass die CDU sich weiter mit dem Phänomen befasste, das sie selbst neue soziale Frage getauft hatte, war anscheinend die große öffentliche Resonanz dieses Themas. Innerhalb der Mannheimer Erklärung hatte die neue soziale Frage nur einen kleinen Teil ausgemacht; unter dem Titel »Unsere Politik für Deutschland« hatten die Verfasser dort die Leitlinien der Partei bezüglich Außen-, Innen-, Entwicklungs-, Wirtschafts-, Gesellschafts- und Finanzpolitik erläutert. Die neue soziale Frage erwähnten sie in der Präambel als eine ihrer zehn grundsätzlichen Überlegungen zur aktuellen Politik und anschließend in den Ausführungen zur Gesellschaftspolitik25 . Obwohl nur ein Aspekt unter vielen, war es gerade diese neue soziale Frage, die nach dem Parteitag großes Interesse hervorrief. Zunächst bei den Medien, die die These der neuen sozialen Frage einerseits kritisch hinterfragten26 und eine Konkretisierung der Thesen von 23 24 25 26

B, Macht und Machtverlust, S. 35. Strategieentwurf. Vorlage zur Sitzung des Bundesvorstandes am 12. Mai 1975, ACDP, 007–01 955; vgl. auch CDU-Bundesvorstand, Unsere Politik für Deutschland, S. 32. Ibid., S. 4, 30–35. Vgl. bspw. N. N., »Alternative ohne Alternative«. Die CDU hat die »neue soziale Frage« entdeckt. Aber bietet sie auch eine Antwort an?, in: Die Zeit, 13.6.1975.

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der CDU einforderten27 , sie aber andererseits auch als spannendsten Teil der Mannheimer Erklärung bezeichneten28 und sie als potentielles Wahlkampfthema für die Bundestagswahlen 1976 handelten29 . Dadurch wurden die beiden Regierungsparteien genötigt, sich zu den Thesen der Christdemokraten zu positionieren und ihnen vor allem zu widersprechen30 . Den Forderungen nach der Konkretisierung ihrer Thesen kam die CDU nach. Dass es Heiner Geißler war, der dieser Aufgabe übernahm, überrascht nicht, denn schließlich hatte er sich für die Aufnahme dieser Thematik in die Mannheimer Erklärung eingesetzt und saß außerdem dem Bundesfachausschuss für Sozialpolitik der CDU vor. Seine Ergebnisse legte Geißler der Öffentlichkeit am 12. November 1975 in Form einer Studie vor – dem Tag, an dem der Parteivorstand der Christdemokraten die Mannheimer Erklärung endgültig verabschiedete, nachdem die auf dem Parteitag von den Delegierten vorgebrachten Änderungsvorschläge eingearbeitet worden waren31 . Der Titel seiner Ausarbeitung: »Die neue soziale Frage – Zahlen, Daten, Fakten«32 , verdeutlicht das Anliegen, das der rheinland-pfälzische Sozialminister mit dieser Studie verfolgte, nämlich die Mannheimer Thesen mit empirischen Daten zu unterfüttern. Und eben diese Studie war es, die nun unter dem Stichwort der neuen sozialen Frage erstmals im Untersuchungszeitraum die materiellen Notlagen in der Bundesrepublik ins Zentrum rückte. Zunächst beschrieb Geißler darin das Problem in gleicher Weise, wie es schon die Mannheimer Erklärung getan hatte: Er identifizierte die Entstehung neuer Konfliktlinien jenseits des Konflikts zwischen Kapital und Arbeit und stellte die »Nichtorganisierten«33 als neue betroffene Gruppe heraus. Noch deutlicher als zuvor unterstrich der Sozialminister, dass diese neuen Probleme »mit dem alten Instrumentarium der Sozialpolitik nicht erfaßt und gelöst werden können«34 . Eine Kursänderung in der Sozialpolitik sei daher notwendig35 . Geißlers Idee war anscheinend, diese bis hierhin weitgehend mit der Mannheimer Erklärung übereinstimmenden Thesen im folgenden Kapitel mit Informationen über die Einkommensver-

27 28 29 30 31

32 33 34 35

Dies taten z. B. zwei Artikel in der »SZ« und in der »Braunschweiger Zeitung« vom 26.6.1975, vgl. die Pressestimmen in G, Neue soziale Frage, Anlage 1, S. 1, 4. Dieses Urteil trafen etwa die »Stuttgarter Zeitung« und der »Mannheimer Morgen« am 26.6.1975, vgl. ibid., S. 1, 3. So das ZDF und der Südwestfunk am 24.6.1975, vgl. ibid., S. 2. Vgl. dazu das folgende Teilkapitel. Der Abschnitt zur neuen Armut war seit dem Parteitag nicht wesentlich verändert worden, vgl. dazu den Text der vom Parteivorstand der CDU am 12.11.1975 verabschiedeten Erklärung: Zum Thema: Unsere Politik für Deutschland. Mannheimer Erklärung, hg. v. CDU-Bundesgeschäftsstelle, Bonn 1976, ACDP, Sozialpolitik, 2/204/1-6-1. G, Neue soziale Frage. Ibid., S. 2. Ibid. Ibid.

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2. Die Debatte um die »neue soziale Frage«

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teilung in der Bundesrepublik zu belegen. Die Umsetzung dieser Idee hatte sich aber schwieriger gestaltet, als er erwartet hatte. Sein Problem bei der Arbeit beschrieb er als »verblüffenden Mangel an Informationen«36 über die Einkommensverteilung in Deutschland und verwies insbesondere auf das Fehlen von Armutsstatistiken. Geißler gab trotzdem nicht auf, sondern zog die Zahlen, die er zur Untermauerung seiner Thesen benötigte, aus einer internen Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung von 1974, die er anschließend mit den Ergebnissen einer Untersuchung in Dortmund verglich. Als Armutsgrenze legte Geißler die Sozialhilfeschwelle an. Mit Hilfe der Zahlen des Berliner Instituts rechnete er vor, dass in der Bundesrepublik zwei Millionen Haushalte beziehungsweise 5,8 Millionen Personen im Jahr 1974 mit ihrem Nettoeinkommen unter dem Sozialhilfeniveau lagen. Nach Geißlers Definition waren damit 5,8 Millionen Menschen in Deutschland arm. Der Sozialminister setzte anschließend diese Zahl in Bezug zur Zahl der Personen, die Hilfe zum Lebensunterhalt im Rahmen des BSHG bezogen, nämlich 861 000 Personen am Ende des Jahres 1973. Er folgerte, dass die Anzahl der Personen mit einem Einkommen unterhalb der Sozialhilfe etwa siebenmal höher sei. Als Gruppen mit einem besonders hohen Armutsrisiko identifizierte Geißler Rentner und alleinstehende ältere Frauen37 . Sowohl im Hinblick auf die Festlegung der Schwelle als auch auf die statistischen Grundlagen waren Geißlers Zahlen angreifbar – und wurden auch angegriffen. So kam ein Journalist der »Frankfurter Rundschau« kurz nach dem Erscheinen der Studie auf höhere Zahlen, indem er nicht den Regelsatz der Sozialhilfe, sondern eine Nettoeinkommen von 1000 DM als Armutsgrenze definierte38 . Deutlich niedrigere Zahlen kamen dagegen aus den Reihen seiner eigenen Partei, zum Beispiel von Georg Gölter, Geißlers Nachfolger im rheinland-pfälzischen Sozialministerium, der die Anzahl der armen Haushalte im Unterschied zu Geißler nicht auf zwei Millionen, sondern auf höchstens 700 000 schätzte39 . Die Presse griff jedoch bereitwillig auf Geißlers Zahlen zurück. Schlagzeilen wie »Sechs Millionen Arme in der Bundesrepublik«40 ,

36 37 38

39

40

Ibid., S. 25. Ibid., S. 28–39. Anton-Andreas G, Armut ist eine Schande, in: FR, 17.11.1975; Guha kam mit dieser Definition zum Ergebnis, dass in der Bundesrepublik zwischen 18 und 20 Millionen Menschen in Armut lebten. Georg G, Begleiter der Arbeitslosigkeit: Abstieg und Armut. Dokumentation zur wirtschaftlichen Lage von Arbeitslosen in der Bundesrepublik Deutschland, Mainz 1978, S. 51. N. N., Sechs Millionen Arme in der Bundesrepublik. Unionspolitiker Geißler legt Dokumentation vor, in: SZ, 14.11.1975; vgl. außerdem für ähnliche Schlagzeilen: N. N., Fast sechs Millionen Menschen in der Bundesrepublik sind arm. Viele der Betroffenen nehmen die Hilfen nicht in Anspruch – CDU legt Dokumentation vor, in: Bonner Rundschau, 14.11.1975; Siegfried  B, Bonn bestätigt Zahlen. Fast sechs Millionen Deutsche sind »arm«, in: Stuttgarter Nachrichten, 14.11.1975.

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»Fast jeder zehnte Deutsche lebt in Armut«41 und »Sozialhilfe nur die ›Spitze des Eisbergs‹«42 zeigten auf, dass das öffentliche Interesse an der Armutsfrage, das sich schon in Folge des Mannheimer Parteitags angedeutet hatte, auch im November 1975 noch ungebrochen hoch war. Als betroffene Gruppen hatte Geißler vor allem Frauen, alte Menschen und kinderreiche Familien ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Die Forschung hat wiederholt darauf aufmerksam gemacht, wie wenig neu deren Armutsrisiko war. Nicht neue, sondern traditionelle Problemgruppen und klassische Adressaten sozialstaatlicher Intervention hatte Geißler zum Thema seiner Studie gemacht43 . Mit Blick auf die Statistik kann der neuen sozialen Frage tatsächlich viel von ihrer Neuheit abgesprochen werden. Die von Geißler identifizierten Faktoren wie Alter und weibliches Geschlecht stellten klassische Charakteristika der Armut in der Bundesrepublik dar. In den 1970er Jahren war das Sozialhilferisiko von alten Menschen und Frauen, das zuvor noch deutlich über dem Bevölkerungsdurchschnitt gelegen hatte, sogar zurückgegangen44 . Zum neuen Risikofaktor für den Sozialhilfebezug entwickelte sich in den 1970er Jahren dagegen die Arbeitslosigkeit, die wiederum in der neuen sozialen Frage keine Rolle spielte. Im Gegenteil: Die Thesen der CDU wollten sogar bewusst den Blick von den Problemen der Arbeitnehmer weglenken. Buhr u. a. urteilen darüber: »Kurios wirkt es rückblickend auch, daß die Ersetzung der ›alten‹ sozialen Frage durch eine neue [. . . ] just in den Jahren proklamiert wurde, als die Armut im Alter zurückzugehen und die Armut Arbeitsloser zum gewichtigsten Problem der Sozialhilfe zu werden begann«45 . Warum rückte die CDU gerade diese Gruppen in den Fokus, die traditionell einem hohen Armutsrisiko ausgesetzt waren, und ließ die statistisch tatsächlich neuen Risiken beiseite? Winfried Süß weist darauf hin, dass der Fokus auf diesen Gruppen als Versuch einer diskursiven Verarbeitung soziostruktureller Wandlungsprozesse im Kontext veränderter Familienformen und demografischer Alterung gelesen werden kann46 . Frank Bösch macht außerdem darauf aufmerksam, dass Geißler Gruppen ins Zentrum seiner Thesen rückte, die im Unterschied zu den Gewerkschaftern potentielle Unionswähler darstellten47 . Als weitere Überlegung ist hinzuzufügen, dass Geißler sich, indem er mit der neuen sozialen Frage die Gruppen fokussierte, die im Zentrum der Überlegungen der katholischen Soziallehre standen, auch die Unterstützung des katholischen Flügels seiner Partei und der katholischen Wähler sichern 41 42 43 44 45 46 47

Karlheinz   D, Sechs Millionen Deutsche sind arm. CDU-Minister Geißler: Meist Rentner und Kinderreiche – Kritik an Bonn, in: Frankfurter Neue Presse, 14.11.1975. N. N., Sozialhilfe nur die »Spitze des Eisbergs«, in: dpa, 13.11.1975. S, Vom Rand in die Mitte der Gesellschaft, S. 136; L, Armut im geteilten Deutschland, S. 239. H, Das empirische Bild der Armut, S. 9. B u. a., Armutspolitik und Sozialhilfe, S. 517. S, Vom Rand in die Mitte der Gesellschaft, S. 135. B, Macht und Machtverlust, S. 36.

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2. Die Debatte um die »neue soziale Frage«

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wollte – ein Plan, der übrigens nicht vollständig aufging, denn von katholischer Seite erntete Geißler Kritik dafür, dass er diese christlichen Bezüge der neuen sozialen Frage nicht explizit herausgestellt hatte48 . Mit dem Fokus auf alten Menschen, Frauen und kinderreichen Familien lenkte die neue soziale Frage außerdem die Aufmerksamkeit auf sogenannte würdige Arme. Geißler hatte dies in seiner Dokumentensammlung von 1976 unterstrichen: Bei den von ihm identifizierten Personen gehe es um Rentner-, Arbeiter- und Angestelltenhaushalte und nicht um »Gammler, Penner und Tippelbrüder«49 . Er verschob damit den Fokus weg von den Gruppen, die in den vorausgehenden Jahren als Randgruppen diskutiert worden waren. Wahrscheinlich erwartete Geißler in seiner Partei, aber auch in der Bevölkerung insgesamt ein größeres Verständnis für diese als unverschuldet arm geltenden Gruppen. Verschiedene Gründe legten Geißler also nahe, diese Gruppen ins Zentrum seiner Überlegungen zu rücken, auch wenn es sich dabei nicht um neue Risikogruppen handelte. Alt waren übrigens auch die Antworten, die die CDU auf diese als neu dargestellten Problemlagen geben wollte. Schon aus der Mannheimer Erklärung geht dies deutlich hervor. Nach neuen Vorschlägen zur Armutsbekämpfung sucht man dort vergebens; stattdessen listen die Autoren die Stärkung der Familien und des freiwilligen Engagements der Bürger sowie den Ausbau der ambulanten sozialen Dienste als Maßnahmen zur Lösung der neuen sozialen Frage auf. Die einzige sozialstaatliche Neuerung wäre die Einführung des Erziehungsgeldes für Mütter gewesen, die dort vorgeschlagen wurde50 . Die anschließenden Konkretisierungen der Mannheimer Thesen steuerten ebenfalls keine neuen Vorschläge bei. Wie wenig die CDU um neue Antworten auf ihre »neue« soziale Frage bemüht war, macht auch die Arbeit des Bundesfachausschusses Sozialpolitik der Partei deutlich. Zwar arbeitete dieser unter dem Titel »Hilfe für die Schwachen« ein 42-seitiges Papier aus, in dem er Lösungen für die neue soziale Frage vorbrachte51 . Jedoch wurden hier nur Vorschläge aufgewärmt, die der Ausschuss im Jahr 1973 in einem »Arbeitspapier Soziale Dienste« schon einmal ausgearbeitet hatte52 . Warum waren die Initiatoren der neuen sozialen Frage so zurückhaltend mit der Präsentation einer neuen sozialen Antwort? Aus den Thesen lassen sich klar ihre Bedenken in Bezug auf die Kosten dieser Lösung herauslesen, denn alle hier zitierten Äußerungen der CDU plädierten für deren kostenneutrale Lösung. Dies war prinzipiell eine schlaue Überlegung ihrer Initiatoren, denn die Kosten sollten eines der Hauptfelder sein, auf dem die neue soziale Frage innerhalb der 48 49 50 51 52

Ibid., S. 36 f. G, Die neue soziale Frage. Analysen und Dokumente, S. 27. CDU-Bundesvorstand, Unsere Politik für Deutschland, S. 115. Hilfe für die Schwachen. Antworten auf die neue soziale Frage. Programm für sozial Benachteiligte in unserer Gesellschaft, 19. Februar 1976, ACDP 07–001 8725. Arbeitspapier Soziale Dienste, 22.8.1973, ACDP 07–001 8720.

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II. Die Armutsdebatte der Bundesrepublik in den 1970er Jahren

eigenen Partei angegriffen wurde53 . Viel Spielraum für die Ausarbeitung neuer Wege der Armutsbekämpfung blieb so jedoch nicht. Insgesamt erscheint die neue soziale Frage der CDU als eine alte Frage, der mit alten Antworten begegnet werden sollte. Jenseits der Fokussierung traditioneller Problemgruppen und Lösungen finden sich aber auch in den Ausführungen der CDU Aspekte, die für die Armutsdebatte eine Neuerung darstellten: Erstens die Verortung der Ursachen, denn Armut wurde zum Produkt des Sozialstaats erklärt. Die Analyse unterscheidet sich damit von der der Randgruppendebatte, bei der die Entstehung materieller Notlagen zwar auch strukturell verortet wurde, allerdings gesellschaftsstrukturell. Im Unterschied dazu wies Geißler als Erster im Untersuchungszeitraum darauf hin, dass Ursachen des Phänomens auch im Sozialstaat selbst gesucht werden müssten. Zweitens rückte die neue soziale Frage auch Kinder in den Fokus, und damit eine Problemgruppe, die zwar seit 1949 einem überdurchschnittlich hohen Armutsrisiko ausgesetzt war, deren Situation in der Debatte aber trotzdem selten zur Sprache kam54 . Neu war drittens auch Geißlers Entdeckung des fehlenden Wissens über das Phänomen. Auch dies stellte eine neue Forderung dar, die nicht nur in den Medien aufgegriffen wurde55 , sondern auch direkt die wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Thema ankurbelte56 . Buhr u. a. beurteilen Geißlers Thesen sogar als Beginn einer neuen Epoche der Beschäftigung mit Armut, bei der deren materielle Aspekte sowie die Frage ihrer Messung in den Vordergrund getreten seien57 . In den 1980er Jahren sollte der Aspekt des Wissens und Unwissens über Armut schließlich eine Dominante der Debatte darstellen. Geißler nahm ihn hier vorweg, ebenso wie einen anderen, und zwar die Kritik an der Sozialhilfe. Als vierte Neuerung rückte Geißlers Analyse nämlich die Dunkelziffer der Armut ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Auch wenn er diesen Begriff nicht explizit vorbrachte, so fokussierten seine Zahlen genau dies: Personen, die trotz ihres Rechts auf Sozialhilfe keine in Anspruch nahmen. Mit diesem Argument begegnete Geißler dem zu dieser Zeit weit verbreiteten Irrglauben, die Sozialhilfe habe das Armutsproblem der Bundesrepublik gelöst. Auch dieser Aspekt der Strukturprobleme der Sozialhilfe sollte in den 1980er Jahren noch eine wichtige Rolle spielen. Neben diesen inhaltlich neuen Aspekten weist die Debatte auch in ihrem Ablauf deutliche Neuerungen im Hinblick auf vorausgehende Diskussionen auf. Neu waren die zahlreichen Reaktionen auf die Thesen der CDU, die auf

53 54 55 56 57

Vgl. dazu die unten, S. 120, zitierte Kritik des Altkanzlers Erhard. R, Kinderarmut in der Bundesrepublik Deutschland, S. 369–372. Die FR widmete dieser Tatsache einen Artikel; sonst blieb sie weitgehend unerwähnt, vgl. N. N., »Wir sind arm an Wissen über die Armut«, in: FR, 27.11.1975. Vgl. dazu die verschiedenen Beiträge in: Hans Peter W (Hg.), Zur neuen sozialen Frage, Berlin 1978. B u.a, Armutspolitik und Sozialhilfe, S. 517.

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2. Die Debatte um die »neue soziale Frage«

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ein hohes Skandalisierungspotential des Themas in dieser Zeit verweisen. Neu war vor allem auch das parteipolitische Interesse an Armut, das hier für das Jahrzehnt erstmals feststellbar ist. Die CDU war die erste Partei, die sich im Untersuchungszeitraum explizit der Armutsfrage annahm, sie auf ihren Parteitagen diskutierte, sie in eine programmatische Erklärung aufnahm und 1978 sogar in ihr Grundsatzprogramm58 . Allerdings war der Weg der neuen sozialen Frage zur Aufnahme in dieses Programm kein geradliniger gewesen. Geißler selbst hatte das Thema zwar weiterverfolgt; davon zeugt eine Veröffentlichung, in der er unter dem Titel »Die neue soziale Frage. Analysen und Dokumente« seine Thesen wiederholte und außerdem eigene sowie Aussagen von Parteikollegen zu diesem Themenkomplex sammelte59 . Die Publikation hatte Geißler 1976 und damit im Jahr der Bundestagswahlen vorgelegt. Im Wahlkampf hatte die CDU dann aber die neue soziale Frage nicht zu einem großen Punkt gemacht, sondern ihr nur einen marginalen Stellenwert eingeräumt60 – entgegen der Prophezeiungen der Presse, die die neue soziale Frage als geeignetes Wahlkampfthema identifiziert hatte. Einige Parteimitglieder, und insbesondere Vertreter der Jungen Union, kritisierten dies auf dem Parteitag der CDU in Düsseldorf nach der Wahl61 . Auch die Tatsache, dass Heiner Geißler auf diesem Parteitag zum Generalsekretär der Partei gewählt wurde und dort in einer Rede die Bedeutung der neuen sozialen Frage für die sozialpolitische Orientierung der Partei unterstrich62 , verlieh dem Thema keinen neuen Aufwind. Sein Stellenwert im ersten Grundsatzprogramm der CDU, das diese sich 1978 gab, verdeutlicht dies. Während die neue soziale Frage in den ersten Entwürfen, die seit 1976 vorlagen, noch eine eigene Kapitelüberschrift gebildet hatte, rückte sie sukzessive in den Hintergrund63 und blieb in der Endversion von 1978 zwar erhalten, nahm aber dort nur geringen Raum ein64 . Dass die CDU damit von einem Thema abließ, mit dem sie drei Jahre zuvor auf breites öffentliches Interesse gestoßen war, kann vor allem durch parteiinter58

59 60

61

62 63 64

Grundsatzprogramm der Christlich Demokratischen Union Deutschlands. Beschlossen vom 26. Bundesparteitag Ludwigshafen 23.–25. Oktober 1978, hg. v. CDU-Bundesgeschäftsstelle, Bonn 1978, S. 37 f. G, Die neue soziale Frage. Analysen und Dokumente. Das Programm, mit dem die CDU 1976 in den Wahlkampf zog, erwähnte zwar an einer Stelle den Begriff der neuen sozialen Frage, führte diesen aber nicht weiter aus. Weder die Thesen der Mannheimer Erklärung noch Geißlers weitere Ausführungen zu dem Thema tauchten dort auf, vgl. Das Wahlprogramm der CDU und CSU 1976, hg. v. CDU-Bundesgeschäftsstelle, Bonn 1976. So z. B. Fritz Brickwedde oder Matthias Wissmann, aber auch Kurt Biedenkopf, vgl. Protokoll. 25. Bundesparteitag, Düsseldorf, 7.3.–9.3.1977, hg. v. CDU-Bundesgeschäftsstelle, Bonn 1977, S. 49 f., 83, 86. Ibid., S. 273–282; vgl. auch Manfred S, Geißler will Diskussion um »neue soziale Frage« wiederbeleben, in: Die Welt, 10.3.1977. B, Macht und Machtverlust, S. 39. Grundsatzprogramm der Christlich Demokratischen Union, S. 37 f.

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ne Widerstände erklärt werden. Schon an der Erwähnung der neuen sozialen Frage in der Mannheimer Erklärung hatte sich Kritik innerhalb der CDU entfacht. Denn während der Arbeitnehmerflügel der Partei die neue soziale Frage enthusiastisch begrüßt hatte, monierte der konservative Flügel, diese treibe nur die Staatsausgaben in die Höhe. Wie auch die CSU wehrte er sich gegen diesen angeblichen Linksruck der Partei. Katholische Christdemokraten beanstandeten außerdem die Nichterwähnung des Christentums65 . Ihren prominentesten Gegner fand die neue soziale Frage in Ludwig Erhard, der sich ebenfalls mit Kritik in die Debatte einschaltete. In einem Brief an den Parteivorsitzenden bezeichnete der Altbundeskanzler nicht nur die Mannheimer Erklärung generell als einen Wegweiser in eine grundsätzlich falsche Richtung, sondern attackierte auch direkt die neue soziale Frage. Erhard sah in ihr lediglich den Auftakt für neue Belastungen der öffentlichen Haushalte und riet seiner Partei daher zur Abkehr von diesem Thema66 . Hinzu kam, dass sich einstige Unterstützer der Thesen zur neuen sozialen Frage im Laufe der Zeit davon abwandten, zum Beispiel der CDU-Generalsekretär Biedenkopf, der anfangs noch zu den maßgeblichen Mitträgern der Mannheimer Erklärung und damit auch der neuen sozialen Frage gehört hatte. Mit der anschließenden Entwicklung der öffentlichen Diskussion war der Generalsekretär jedoch keineswegs einverstanden. In einem Brief an Geißler im März 1976 äußerte Biedenkopf seine Sorge darüber, »daß sich die neue soziale Frage in der öffentlichen Diskussion immer mehr zu einem reinen Armutsproblem entwickelt«67 habe. Wie gezeigt, hatten die Ausführungen der Mannheimer Erklärung keine materiellen Mangellagen thematisiert. Erst mit Geißlers Veröffentlichung im November 1975 hatte sich der Fokus verschoben: »bittere private Armut«68 war ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt und von den Medien dankbar aufgegriffen worden. Genau dies war Biedenkopf aber aus verschiedenen Gründen nicht recht. Der Generalsekretär erinnerte daran, »daß das ausgeprägte Gefühl sozialer Bedürftigkeit, sprich: Armut, die Betroffenen kurzfristig zur SPD treibt. An einer solchen Wirkung der neuen sozialen Frage kann uns nicht gelegen sein«69 . Materielle Not sah Biedenkopf also nicht als Thema seiner Partei und die Betroffenen nicht als potentielle CDU-Wähler, sondern ganz klar als sozialdemokratische Klientel. Dass aber auch die SPD das Armutsthema nicht als ihr Anliegen auffasste und der Generalsekretär insofern Unrecht hatte, wird in dieser Arbeit noch an verschiedenen Stellen aufgezeigt werden. Interessant ist aber trotzdem, dass ein CDU-Politiker hier deutlich macht, dass er Armut 65 66 67 68 69

B, Macht und Machtverlust, S. 36 f. Anmerkungen zur Kritik von Altbundeskanzler Ludwig Erhard an der Mannheimer Erklärung der CDU, 29.9.1975, ACDP, 07–001 22138. Brief von Kurt Biedenkopf an Heiner Geißler, 9.3.1976, ibid. G, Neue soziale Frage, S. 27. Brief von Kurt Biedenkopf an Heiner Geißler, 9.3.1976, ACDP, 07–001 22138.

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nicht als Anliegen seiner Partei versteht. Aufschlussreich ist außerdem ein weiteres Argument, mit dem der Generalsekretär sich dagegen aussprach, weiter materielle Mangellagen zu diskutieren: Ich bin der Auffassung, daß eine solche Entwicklung nicht ungefährlich ist. Sie könnte zum Ausgangspunkt einer umfassenden »Systemkritik« führen, denn wir müssen uns darüber im Klaren sein, daß die jetzt in dieser Breite kritisierten Verhältnisse nicht ausschließlich auf die Politik der letzten Jahre zurückzuführen sind. Wir stellen unser eigenes soziales Sicherungssystem in Frage, wenn wir zulassen, daß jeder, der in irgendeiner Form von der Gemeinschaft abhängig ist, als »arm« bezeichnet wird70 .

Biedenkopf gab hier offen seine Angst zu, das von der CDU aufgebrachte Thema könne sich zum Eigentor für die Partei entwickeln. Er fürchtete, die damit verbundene Kritik am sozialen Sicherungssystem würde sich irgendwann auch gegen seine eigene Partei richten, die eben dieses System lange selbst mitgetragen und auch mit aufgebaut hatte. Aus diesem Grund riet Biedenkopf dazu, sich von diesem Gegenstand abzuwenden71 . Die neue soziale Frage verlor damit einen ihrer prominentesten Unterstützer. Endgültig in der Schublade verschwand sie 1979/80 mit der Kanzlerkandidatur von Franz Josef Strauß. Strauß verheimlichte nicht, dass er von der Programmdiskussion der CDU in den 1970er Jahren generell wenig hielt72 . Die neue soziale Frage griff er frontal an, insbesondere mit dem Argument der Kosten, die dadurch entstehen würden. Sein Generalsekretär Edmund Stoiber stieß ins gleiche Horn, als er der CDU riet, von diesem »Sozialklimbim«73 abzulassen. Für die Christdemokraten war das Kapitel der neuen sozialen Frage geschlossen. Die Option, sich des Armutsthemas dauerhaft anzunehmen, war trotz des großen öffentlichen Interesses gescheitert, und zwar an den Widerständen innerhalb der eigenen Partei.

2.2. Regierungsparteien und Gewerkschaften: Antworten auf eine »neue soziale Phrase« Die Christdemokraten hatten die neue soziale Frage aufgebracht und schnell wieder fallen gelassen. Bedeutete ihre Abwendung auch das generelle Ende dieser Debatte? Zwei Überlegungen lassen diese Option als unwahrscheinlich erscheinen. Denn erstens hatte die CDU mit der neuen sozialen Frage sowohl die Regierungsparteien als auch die Gewerkschaften frontal angegriffen und zu einer Reaktion genötigt. Zweitens waren Geißlers Thesen in der Öffentlichkeit auf enormes Interesse gestoßen, was die vielfältige mediale Berichterstattung 70 71 72 73

Ibid. Ibid. Z, Die CDU, S. 42. Zit. nach B, Macht und Machtverlust, S. 42.

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zeigt. Zu vermuten wäre daher, dass auch andere Parteien sich dieses Thema zu eigen machten, das seine Anziehungskraft in der öffentlichen Debatte bereits unter Beweis gestellt hatte. Tatsächlich reagierten sowohl SPD und FDP als auch die Gewerkschaften prompt auf die erste öffentliche Vorstellung der neuen sozialen Frage und traten schon kurz nach dem Mannheimer Parteitag mit Stellungnahmen an die Öffentlichkeit. Weitere Kommentare zu den Mannheimer Thesen folgten im Laufe des Jahres. Die Stellungnahmen bestanden in erster Linie aus der Abwehr der in der Mannheimer Erklärung formulierten Kritik. Die Abwehrreaktion verwundert nicht, hatten doch die Christdemokraten mit ihren Thesen einerseits der Regierung vorgeworfen, eine ineffiziente Sozialpolitik zu betreiben, die die wirklich Schwachen im Land nicht schützte, und andererseits die Gewerkschaften angeklagt, Teil eines Mächtekartells zu sein, das seine Interessengegensätze auf dem Rücken der Ärmsten in der Gesellschaft austrage. In ihrer Argumentation bedienten sich die beiden Regierungsparteien und die Gewerkschaften sehr ähnlicher Strategien, um die Vorwürfe zu entkräften. Drei dieser vier Strategien zeigen sich exemplarisch an einer Rede des sozialdemokratischen Abgeordneten Claus Grobecker im Bundestag im Mai 1976. Grobecker erklärte dort: »Diese sogenannte neue soziale Frage ist bestenfalls für den Fragesteller neu. Denn die sozialliberale Koalition hat durch ihre Gesetzgebungsarbeit in wenigen Jahren bereits mehr Antworten darauf gegeben als die CDU/CSU während zweier Jahrzehnte. [. . . ] Für Sozialdemokraten ist die neue soziale Frage eine alte Frage«74 . Die erste Argumentationslinie deutet sich in Grobeckers Formulierung »sogenannten neue soziale Frage« an. Insbesondere die Sozialdemokraten versuchten wiederholt, die neue soziale Frage als politische Strategie der Union, als sprachlichen Trick zu enttarnen und so zu dekonstruieren. Das taten sie, indem sie den Begriff nicht einfach übernahmen, sondern fast immer von einer »sogenannten«75 oder »angeblichen«76 neuen sozialen Frage sprachen. Diese Dekonstruktion trieben sie aber noch weiter. Ohne Umschweife warfen sie den Christdemokraten vor, die neue soziale Frage aus taktischen Gründen in den Vordergrund gespielt und als neu etikettiert zu haben77 . Die SPD ging dabei so weit, zu behaupten, der CDU-Vorstand habe

74 75 76

77

BT-Plenardebatte, 7. Wahlperiode, 243. Sitzung, 14.5.1976, S. 17186. Ibid.; vgl. auch Wolfgang H. G: Fakten gegen Biedenkopf. Zur sogenannten neuen sozialen Frage, in: Die neue Gesellschaft 7 (1975), Juli, S. 562 f. So auch der Bundeskanzler Helmut Schmidt und der sozialdemokratische Abgeordnete Ernst Glombig, BT-Plenardebatte, 7. Wahlperiode, 235. Sitzung, 8.4.1976, S. 16358; Eugen G, Reklametechnik statt gesellschaftspolitischer Perspektiven. Mit Täuschungsversuchen will die CDU sich in der Sozialpolitik profilieren, in: SPD-Pressedienst, 26.6.1975, S. 5–7. Wolfgang Z, Keine Alternative zur sozialen Demokratie. Anmerkungen zum CDUEtikett »neue soziale Frage«, ibid., 8.7.1975.

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eine »Arbeitsgruppe Semantik«78 eingerichtet, die sich solche Formeln für den Wahlkampf ausdächte. Sie prangerte die neue soziale Frage in diesem Kontext als »scheinheilige Heuchelei«79 , als »zynischen Täuschungsversuch«80 , »betonte Diffamierung der Gewerkschaften«81 und als »Orgie in Leerformeln und Widersprüchen«82 an. Die Vorwürfe gipfelten in einer Aussage von Bundeskanzler Schmidt, der der Opposition die Erfindung der neuen sozialen Frage vorwarf83 . Der Koalitionspartner FDP unterschied sich in dieser Argumentation wenig von den Sozialdemokraten; auch die Liberalen versuchten, die Strategie der CDU zu durchkreuzen, indem sie deren Thema unter anderem als »neue soziale Phrase«84 abqualifizierten. Auch die Gewerkschaften bemühten sich, die neue soziale Frage als »Schreckensbild«85 zu enttarnen und als »Großversuch der CDU, die geistige Führung zurückzugewinnen«86 . Keine der drei Gruppen bestritt dabei die generelle Existenz des Phänomens. Regierungsparteien und Gewerkschaften waren zwar darum bemüht, die Neuetikettierung der sozialen Frage als Strategie offenzulegen, nicht aber insgesamt die von der CDU aufgezeigten Problemlagen zu widerlegen. Verschiedene Parteimitglieder räumten explizit ein, dass es Konfliktlinien jenseits von Kapital und Arbeit gebe – auch wenn dies nicht neu, sondern längst von der Regierung bemerkt worden sei87 . Der sozialdemokratische Abgeordnete Glombig räumte in diesem Kontext ein: »Es soll aber keinesfalls bestritten werden, daß das CDU-Papier nicht tatsächlich bestehende Probleme anspricht. Nur neu sind diese Probleme nicht«88 . Die zweite Strategie der Regierungsparteien bestand darin, ihre eigenen sozialpolitischen Leistungen hervorzuheben und durch den Verweis auf diese die sozialen Nöte als gelöst oder wenigstens: als erkannt und als in Bearbeitung darzustellen. Der anfangs zitierte Abgeordnete Grobecker hatte dies mit dem

78

79 80 81 82 83 84 85 86 87

88

N. N., CDU-Strategiepapier (1). Die Strategie hinter dem Strategiepapier, in: Informationsdienst der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 8 (1975), 11.6.1975; ebenso bei G, Fakten gegen Biedenkopf. G, Reklametechnik statt gesellschaftspolitischer Perspektiven. Ibid. Herbert Ehrenberg, BT-Plenardebatte, 7. Wahlperiode, 235. Sitzung, 8.4.1976, S. 16418. Erhard E, Orgie in Leerformeln und Widersprüchen. Die CDU versucht, Begriffe zu besetzen, in: Vorwärts, 3.7.1975. BT-Plenardebatte, 7. Wahlperiode, 235. Sitzung, 8.4.1976, S. 16385. Harald H, Die »neue soziale Frage« der CDU ist eine neue soziale Phrase, in: Freie demokratische Korrespondenz, 8.7.1975. Fritz R, Die CDU malt weiter ihr Schreckensbild. Der Staat wird als Beuteobjekt der Organisierten dargestellt, in: Welt der Arbeit 49 (1975), S. 1. Erwin O, Die »neue« soziale Frage hebt die »alte« nicht auf, in: Welt der Arbeit 26 (1975), S. 3. Egon L, Unklarheit schafft Unwahrheit. Wie Biedenkopf die Abkehr vom Sozialstaat zu rechtfertigen versucht, in: Vorwärts, 26.6.1975; E, Orgie in Leerformeln und Widersprüchen. G, Reklametechnik statt gesellschaftspolitischer Perspektiven.

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Verweis auf die sozialliberale Gesetzgebungsarbeit angedeutet89 . Viele seiner Parteikollegen wurden konkreter und zählten minutiös die verschiedenen Sozialgesetze ihrer Regierung auf. Glombig etwa legte eine ganze Liste mit sozialpolitischen Errungenschaften der Regierung vor, auf der unter anderem die Rentenreform von 1972, das Betriebsrentengesetz, die Reform des Familienlastenausgleichs, das Schwerbehindertengesetz und das Gesetz über die Sozialversicherung Behinderter standen90 . Die Liste schloss Glombig mit dem Fazit: »Angesichts dieser Fakten sind die Mannheimer Parolen der CDU wirklich Tatsachenverdrehungen«91 . Die gleiche Argumentationslinie verfolgten seine Parteigenossen Glöckner und Eppler92 . Noch drastischer wurden in diesem Kontext die Vertreter des Koalitionspartners FDP. Wie die Sozialdemokraten zählten auch sie die Errungenschaften der sozialliberalen Sozialpolitik auf, gingen aber noch darüber hinaus, indem sie einerseits der CDU vorwarfen, was diese in ihrer Regierungszeit alles nicht gemacht habe, und andererseits darauf hinwiesen, welche Sozialgesetze die CDU aus der Opposition heraus blockiert hatte. So verwies der Bundesgeschäftsführer der FDP, Harald Hofmann, auf die Einführung eines Babyjahrs in der Rente, das die CDU im Parlament zu Fall gebracht habe93 . Eine dritte Argumentationslinie bezog sich auf das Selbstverständnis der Sozialdemokraten. Grobecker hatte sie mit den Worten umrissen, die neue soziale Frage sei »bestenfalls für den Fragesteller neu. [. . . ] Für Sozialdemokraten [sei sie] eine alte Frage«94 . Intensiv bemühte sich die SPD darum, die von der CDU aufgebrachte Thematik als ihr ureigenes Anliegen darzustellen. Überflüssig zu sagen, dass diese Argumentation sich nur bei der SPD wiederfindet, da sie sich für die FDP weniger gut eignete. Die Sozialdemokraten aber identifizierten insbesondere die Mannheimer Erklärung als Übernahme der Grundideen ihres Godesberger Programms95 – und deuteten damit die neue soziale Frage als Thema um, das die Sozialdemokratie schon lange auf ihrer Agenda hatte. Die Argumentation gipfelte in den Vorwürfen, CDU und CSU hätten den Sozialdemokraten ihre politischen Ideen und Begriffe gestohlen und seien nun »mit Diebesgut auf Stimmenfang«96 . In Bezug auf diesen letzten Aspekt 89 90 91 92

93

94 95 96

BT-Plenardebatte, 7. Wahlperiode, 243. Sitzung, 14.5.1976, S. 17186 f. G, Reklametechnik statt gesellschaftspolitischer Perspektiven. Ibid, S. 6. G, Fakten gegen Biedenkopf; E, Orgie in Leerformeln und Widersprüchen; Eppler verweist darauf, dass die Regierung die Kriegsopferrenten dynamisiert, die Renten der Kriegswitwen angehoben und die soziale Sicherung für Landwirte vorangebracht habe. H, Die »neue soziale Frage« der CDU; eine ähnliche Argumentation findet sich auch bei: Wolfgang M, Ein Papier aus Mannheim, in: Freie demokratische Korrespondenz, 26.7.1975. BT-Plenardebatte, 7. Wahlperiode, 243. Sitzung, 14.5.1976, S. 17186. N. N., CDU-Strategiepapier (2): Zu einzelnen Punkten, in: Informationsdienst der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 8 (1975), 11.6.1975. N. N., CSU und CDU: Mit Diebesgut auf Stimmenfang, in: Sozialdemokratisches Magazin 8 (1975), S. 8.

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sind die Vorwürfe der Sozialdemokraten nicht ganz von der Hand zu weisen. Tatsächlich hatte die CDU sich im Kontext ihrer programmatischen Neuausrichtung der 1970er Jahre in manchen Punkten den sozialdemokratischen Werten angenähert. Ihr Generalsekretär Biedenkopf war schon 1973 mit einer Rede aufgefallen, die er inhaltlich um die sozialdemokratischen Grundwerte Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit konzipiert hatte – wenn sich auch deren Definition von den Ansätzen der SPD unterschieden hatte. Über die Mannheimer Erklärung schließlich hatte er dafür gesorgt, dass sich seine Partei auf diese drei Werte berief97 . Auf die Thesen zur neuen sozialen Frage war die CDU jedoch sicher nicht bei der SPD gestoßen, denn diese waren dort zuvor nicht erwähnt worden. Insofern hatte zwar die soziale Frage des 19. Jahrhunderts ein ursprünglich sozialdemokratisches Anliegen dargestellt, nicht aber die neue soziale Frage der 1970er Jahre. Die vierte und letzte Argumentationslinie der Regierungsparteien und Gewerkschaften bestand darin, die Thesen der neuen sozialen Frage an ihren Schwachstellen anzugreifen. Sie attackierten am Konzept der Christdemokraten dabei vor allem zwei Punkte: zunächst die fehlenden beziehungsweise unzureichenden Lösungsvorschläge der CDU für die neue soziale Frage. In dieser Hinsicht war die CDU vage geblieben, hatte eine kostenneutrale Lösung gefordert und wollte diese vor allem durch Einsparungen an anderen Stellen im Sozialsystem und durch die Stärkung des freiwilligen Engagements herbeiführen. Wie auf diese Art die Situation der von der CDU entdeckten sechs Millionen Armen verbessert werden sollte, erschien offensichtlich fraglich. Die Regierung hatte diese Schwachstelle schnell entdeckt und in der Öffentlichkeit den Finger genau in diese Wunde gelegt. Mit polemischen Übertreibungen wie: »Soll der Bluter abgeschaltet werden, weil er die Versicherungsgemeinschaft zu sehr belastet?«98 , »Ist der Erwerb von künstlichen Nieren ökonomisch noch zu verantworten?«99 oder »Wer krank ist, hat selber schuld«100 , trieb sie die Forderungen der CDU auf die Spitze und zeigte damit auf, wie wenig praktikabel die von der Union vorgeschlagenen Lösungen erschienen. Als weitere, auf den ersten Blick weniger sichtbare Achillesferse der neuen sozialen Frage entdeckten die Regierungsparteien, dass die Thesen und Forderungen nicht von der gesamten CDU unterstützt wurden – letztlich scheiterte der Vorstoß ja auch am parteiinternen Widerstand. Die Regierung wollte diesen Widerstand schüren und bemühte sich daher, das Thema zu personalisieren und als Vorstoß eines einzelnen Christdemokraten darzustellen, der kein Grundanliegen der gesamten CDU vertrat. Das war durchaus richtig beobachtet, jedoch zielte die Regierung auf die falsche Person. Denn 97 98 99 100

B, Macht und Machtverlust, S. 36. L, Unklarheit schafft Unwahrheit, S. 4. Ibid. Kommentar Holger B, Bundesgeschäftsführer SPD im Südwestfunk; Abdruck in: SPD Pressemitteilungen und Informationen, 7.6.1975.

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II. Die Armutsdebatte der Bundesrepublik in den 1970er Jahren

wenn sie das Thema als »raffinierte politische Reklametechnik des cleveren Generalsekretärs«101 und als von der Parteileitung auferlegt102 darstellte, dann sprach sie nicht von Geißler, sondern von Biedenkopf103 . Zu Unrecht stellte sie diesen als Urheber der Thesen zur neuen sozialen Frage dar. Der Grund für diese Verwechslung liegt auf der Hand: Die Mannheimer Erklärung war in der Öffentlichkeit als Biedenkopfs Text bekannt geworden. Dass auch eine Kommission, der unter anderem Geißler angehörte, dieses ursprünglich von Biedenkopf verfasste Papier weiter ausgearbeitet hatte, wusste zunächst nur der CDU-Parteivorstand. Geißlers enger Bezug zur Thematik der neuen sozialen Frage konnte der Öffentlichkeit daher im Sommer 1975 noch gar nicht bekannt sein, sondern er offenbarte sich erst, als Geißler die Mannheimer Thesen mit Publikationen weiter ausführte. Dass das Thema innerhalb der CDU umstritten war, führte die SPD im September 1975 vor, als ein sozialdemokratischer Abgeordneter dem Plenum den Brief Ludwig Erhards an den CDU-Parteivorstand vorlas, in dem dieser scharfe Kritik an der neuen sozialen Frage übte104 . Insgesamt wehrten sich die drei von den Thesen der neuen sozialen Frage angegriffenen Gruppen, also die beiden Regierungsparteien SPD und FDP sowie die Gewerkschaften, mit vielfältigen Argumenten gegen diesen Angriff. Sie enttarnten das Thema als nicht neu und als politische Strategie der CDU, verwiesen auf dessen mangelnden Rückhalt innerhalb der CDU, legten die Schwachstellen der Christdemokraten in deren Argumentationsführung frei und lobten gleichzeitig ihr eigenes Engagement für die Armen. Prinzipiell verwendeten SPD, FDP und Gewerkschaften die gleichen Strategien. Es fällt lediglich auf, dass die Sozialdemokraten das deutlich größte Engagement bei der Abwehr der Vorwürfe von Seiten der CDU an den Tag legten – was nicht weiter überrascht, denn schließlich musste der Vorwurf, eine Politik zu Lasten der gesellschaftlich Schwachen zu betreiben, eine sozialdemokratische Partei besonders hart treffen. Die Existenz materieller Mangellagen leugnete keine der Gruppen, was darauf hinweist, dass auch sie das Problem erkannt hatten. Jedoch brachte dies keine der Parteien dazu, das Thema auf ihre eigene Agenda zu setzen. Als die SPD im November 1975 als Ergänzung zum Godesberger Programm ihren ökonomisch-politischen Orientierungsrahmen verabschiedete, war dort keine Rede von Armut oder einer neuen sozialen Frage105 , und auch sonst weist nichts auf eine weitere Beschäftigung damit hin. 101 102 103 104 105

G, Reklametechnik statt gesellschaftspolitischer Perspektiven, S. 5. Walter Arendt, BT-Plenardebatte, 7. Wahlperiode, 256. Sitzung, 1.7.1976, S. 18360. L, Unklarheit schafft Unwahrheit; G, Fakten gegen Biedenkopf; M, Ein Papier aus Mannheim. Alexander Möller, BT-Plenardebatte, 7. Wahlperiode, 184. Sitzung, 17.9.1975, S. 12949. SPD, Ökonomisch-politischer Orientierungsrahmen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) für die Jahre 1975–1985. Beschlossen vom Parteitag vom 12.–15. November 1975 in Mannheim, in: Siegfried H (Hg.), Ergänzungsband Parteiprogramme. Orientierungsrahmen der SPD. Mannheimer Erklärung der CDU. Parteienfinanzierung 1974, Leverkusen-Opladen 1975, S. 8–111.

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2. Die Debatte um die »neue soziale Frage«

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Die Reaktionen der Regierungsparteien beschränkten sich darauf, die Vorwürfe der CDU abzuwehren. Darüber hinaus sahen sie es anscheinend nicht als ihre Aufgabe an, sich selbst für die Armutsfrage zu engagieren – obwohl Geißlers Publikationen nicht nur die Dimensionen des Problems aufgezeigt hatten, sondern auch das große öffentliche Interesse, das an dieser Frage bestand. Die CDU hatte sich von dem Thema abgewandt, weil sie unter anderem hohe Ausgaben für Armutsbekämpfung fürchtete und und im Übrigen argwöhnte, sein Aufbringen würde zu einer umfassenden Kritik am sozialen Sicherungssystem und damit an ihrer eigenen Sozialpolitik der Vergangenheit führen. Die Quellen geben keine Auskunft darüber, warum SPD und FDP sich nicht der Armutsfrage zuwandten; vermutlich haben hier aber ganz ähnliche Gründe wie bei der CDU eine Rolle gespielt. Auch die Regierungsparteien waren sicher nicht an neuen Ausgaben interessiert, insbesondere in einem Augenblick, in dem sich die finanziellen Spielräume der Sozialpolitik empfindlich verengt hatten. Denn der bis 1974 ungebrochene Ausbau des Sozialstaats kam genau in dem Jahr zu einem Ende, in dem die CDU ihre Thesen zur neuen sozialen Frage erstmals verkündete. Als Reaktion auf die Trendwende in der Konjunkturentwicklung nach dem ersten Ölpreisschock 1973 hatte die Regierung Ende des Jahres 1975 erste Sparmaßnahmen in der Sozialpolitik eingeleitet106 . Offensichtlich wollten die Regierungsparteien in diesem Augenblick alles vermeiden, was mit neuen Ausgaben verbunden gewesen wäre. Und wie wenig überzeugend der Vorschlag einer kostenneutralen Lösung der neuen sozialen Frage war, hatte die CDU demonstriert. Außerdem stellte es sicher auch für die SPD ein Problem dar, dass mit dem Hinweis auf die Existenz von Armut auch immer eine implizite Kritik am sozialen Sicherungssystem verbunden war, denn die Mangellagen der Bevölkerung verweisen auf Lücken in eben diesem System. Wie die CDU hatte auch die SPD unterstrichen, dass sie den Ausbau und die Unterstützung dieses Systems auch als ihre Errungenschaft ansah. Mit dem Eingeständnis der Existenz von Armut hätte sie sich Fehler in ihrem eigenen Handeln eingeräumt. Die Haltung der beiden großen Parteien führte so zu einer Konstellation, die das Aufkommen einer Debatte um Armut in der Bundesrepublik generell hemmte. Insgesamt hat die Analyse der Debatte um die neue soziale Frage wichtige Motive für die Beschäftigung und auch für die Abwendung der Parteien von der Armutsfrage aufgezeigt. Dabei konnten auch Erklärungsansätze, die auf den ersten Blick plausibel erschienen, entkräftet werden. Es wird deutlich, dass die Thematisierung von Armut hier als kein typisch sozialdemokratisches Anliegen erscheint, im Gegenteil: Es war die CDU, die erstmals diese Frage einbrachte. In einer Zeit, die für die Christdemokraten Wählerverluste, die 106

Manfed G. S, Zwischen Ausbaureform und Sanierungsbedarf. Die Sozialpolitik der siebziger und achtziger Jahre, in: R, R, W (Hg.), Auf dem Weg in eine neue Moderne?, S. 131–140, hier S. 132; S, Sozialpolitik in Deutschland, S. 98–100.

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II. Die Armutsdebatte der Bundesrepublik in den 1970er Jahren

Einnahme der Oppositionsrolle nach langer Regierungszeit und die Suche nach neuen Themen zur Rückgewinnung ihrer Wähler bedeutete, hatte die Partei sich für dieses neue Thema geöffnet. Die neue soziale Frage hatte in diesem Kontext für die Christdemokraten nicht nur eine Möglichkeit dargestellt, ihr eigenes Themenspektrum zu erweitern, sondern auch, die Regierung und die Gewerkschaften an einer Schwachstelle frontal anzugreifen. Entgegen der eingangs formulierten Erwartungen hatte diese erste parteipolitische Entdeckung der Armutsfrage noch nichts mit dem Ölpreisschock, den darauffolgenden Konjunktureinbrüchen und der Ausbreitung der Arbeitslosigkeit zu tun. Zwar zeichneten sich diese Entwicklungen genau in der Zeit ab, in denen auch die neue soziale Frage diskutiert wurde, jedoch spielten sie in dieser Debatte noch keine Rolle. Der gedachte Hintergrund, vor dem die neue soziale Frage diskutiert wurde, war keine durch eine Wirtschaftskrise gebeutelte, sondern eine prosperierende Gesellschaft. Ebenso wenig spielten neue empirische Problemlagen eine Rolle dafür, dass die Christdemokraten eine soziale Frage als neu entdeckten. Viel eher verschoben sie damit den Fokus auf traditionelle Problemgruppen und klassische Adressaten des bundesrepublikanischen Sozialstaats – vermutlich, weil sie sich von der Thematisierung der würdigen Armut mehr Resonanz erhofften als für die zuvor als Randgruppen diskutierten Personen. Ebenfalls im Unterschied zu der Randgruppendebatte rückte die neue soziale Frage erstmals explizit materielle Notlagen in den Fokus der Öffentlichkeit. Obwohl das Thema in der Öffentlichkeit auf großes Interesse stieß, wandte sich die CDU im folgenden Jahr davon ab. Grund dafür war die Sorge vor den damit verbundenen Ausgaben und vor dem Auslösen einer generellen Kritik am westdeutschen Sozialstaat. Aus vermutlich ähnlichen Gründen griffen auch die beiden Regierungsparteien die Armutsfrage nicht auf. 1976 verschwand die neue soziale Frage, ein Jahr nach ihrem Aufkommen, wieder weitgehend aus der öffentlichen Debatte. Im Nachhinein bestätigt dieser Verlauf Geißlers Thesen: Den Armen fehlte zu dieser Zeit tatsächlich jegliche Lobby, zumindest im Bundestag.

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Armutsdebatten in den 1970er Jahren Die Analyse hat ein ambivalentes Bild der Debatte der 1970er Jahre ergeben. Für Frankreich wurde bereits bilanziert, dass Armut in der Diskussion insgesamt präsenter war, als die bisherige Forschung es suggeriert hat. Das Kapitel hat jedoch nicht die vermutete Zäsur im Diskurs offengelegt, sondern stattdessen mehr Kontinuitäten als Brüche herausgearbeitet. Das gleiche Urteil kann auch für die Bundesrepublik getroffen werden. Gemeinsam war beiden Ländern in den 1970er Jahren eine zumindest partielle Sensibilität für die Existenz von materiellen Notlagen mitten im Wohlstand. Diese Sensibilität findet sich nicht nur bei Wohlfahrtsverbänden oder Sozialwissenschaftlern, sondern erreicht auch politische Entscheidungsträger – wenn auch nur sehr wenige von ihnen. Dieses Interesse für die Armutsfrage wurde nicht erst durch die Entdeckung neuer Risikogruppen ausgelöst. Auch die krisenhafte Entwicklung der Konjunktur wirkte sich kaum auf den Diskurs aus. Stattdessen drehten sich die Debatten beider Länder um traditionelle Risikogruppen für Armut und wurden vor dem gedachten Hintergrund einer wohlhabenden und wirtschaftlich weiterhin expandierenden Gesellschaft geführt. In Frankreich verdeutlicht dies die parteipolitische Diskussion um das Schlagwort der sozialen Ungleichheiten. In der Bundesrepublik legt die Debatte um sogenannte Randgruppen der Gesellschaft zu Beginn des Jahrzehnts eine hohe gesellschaftliche Sensibilität für die Persistenz wirtschaftlicher und sozialer Notlagen auch im Wohlstand offen. Auch die Verhandlung einer neuen sozialen Frage in der Bundesrepublik seit 1975 stellt ein anschauliches Beispiel dafür dar, dass politisches Interesse an der Armutsfrage bestand, das aber in keinem Zusammenhang mit neuen Risikogruppen oder Problemlagen stand. Dass dieser Vorstoß eines Einzelnen auf enorme Resonanz stieß, verweist darauf, dass Armut zu diesem Zeitpunkt in der Bundesrepublik schon ein beträchtliches Skandalisierungspotential besaß. Darüber hinaus deuten sich in beiden Ländern bereits Entwicklungen der Debatte an, die sich in den 1980er Jahren noch stärker entfalten würden. Dazu gehört die Entdeckung des Bedarfs an Wissen über Armut. In der Bundesrepublik hatten Geißlers Thesen bereits darauf hingewiesen und einen ersten Schub an wissenschaftlicher Beschäftigung mit der Armutsfrage ausgelöst. In Frankreich griffen die Abgeordneten auf Statistiken internationaler Organisationen zurück, um ihre Argumente mit Zahlen zu untermauern. Die politischen Parteien entdeckten außerdem die Nutzbarkeit des Themas als Mittel der Regierungskritik. In der Debatte um die neue Armut würde dieser Aspekt eine Dominante der Argumentation darstellen. Schon in den 1970er Jahren entdeckten aber in der Bundesrepublik die CDU und in Frankreich der PCF, wie nützlich der Verweis auf die Existenz materieller Notlagen im eigenen Land für die Opposition sein konnte. https://doi.org/10.1515/9783110613087-006

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Armutsdebatten in den 1970er Jahren

Christoph Lorke bezeichnet die Entwicklung der Armutsdebatte in der Bundesrepublik in den 1970er Jahren als ein »diskursives Auftauen«107 , im Sinne einer Annäherung einzelner Akteure an das Thema. Dieses Urteil kann aus den hier analysierten Quellen für die Bundesrepublik bestätigt und auch auf Frankreich ausgedehnt werden. In beiden Ländern tauchte die Armutsfrage an verschiedenen Stellen auf; die hier untersuchten Akteure beleuchteten dabei für sie bisher unbekannte Aspekte des Phänomens und entdeckten neue Gelegenheiten zu dessen Diskussion. Sie näherten sich ihm damit ein Stück weit an. Die Forschungsthese vom vollständigen Ignorieren der Armut in den Trente Glorieuses lässt sich in Anbetracht dieser Ergebnisse nicht aufrechterhalten. Auch in der ersten Hälfte der 1970er Jahre, die für beide Länder noch einen wirtschaftlichen Aufschwung bedeuteten, wurde Armut in beiden Ländern an verschiedenen Stellen diskutiert. Allerdings stellte sie kein insgesamt etabliertes Thema dar – und daran änderte sich auch im Verlauf des Jahrzehnts nichts. Gemeinsam waren beiden Ländern nämlich auch die geringe Reichweite und der geringe Umfang der Debatte. Nur wenige Akteure beteiligten sich an der Diskussion. Die Analyse hat gezeigt, dass es in beiden Ländern vor 1980 hauptsächlich Wohlfahrtsverbände, Sozialarbeiter, Sozialwissenschaftler und Verwaltungsbeamte waren, die sich damit befassten. An verschiedenen Stellen entzündete sich auch das Interesse der Medien an diesen Fragen. Vereinzelt befassten sich auch politische Parteien damit. Allerdings blieb deren Interesse immer auf einzelne Personen und kurze Zeiträume begrenzt. Die Parlamente beider Länder diskutierten in den 1970er Jahren die Armutsfrage nie ausführlich. In Frankreich tauchte sie an verschiedenen Stellen im Parlament auf, um dann sofort wieder zu verschwinden. Ähnlich war die Situation im Bundestag: Die neue soziale Frage, die die politischen Parteien doch für einen kurzen Moment intensiv beschäftigte, wurde dort überhaupt nicht diskutiert. Im politischen Raum fehlte den Armen in beiden Ländern zu diesem Zeitpunkt definitiv eine Lobby. In den 1980er Jahren sollte sich dies ändern und politisches Interesse an der Armutsfrage aufflammen. In den beiden folgenden Kapiteln wird dies analysiert und nach den Gründen dafür gefragt. Aus den beiden vorausgehenden Kapiteln sind dagegen mehrere Gründe deutlich geworden, die das Aufkommen einer politischen Debatte um Armut gehemmt haben. Das war zum einen der Glaube der Zeitgenossen an die Fortdauer der wirtschaftlichen Prosperität, mit der sich materielle Problemlagen irgendwann von selbst erledigen würden – wie viele hofften. Zum anderen ist deutlich geworden, dass die politischen Parteien enorm großes Vertrauen in den bestehenden Sozialstaat setzten und ihn als geeignete Lösungsinstanz für die Armutsfrage beurteilten. In der Bundesrepublik war es speziell das Bundessozialhilfegesetz, dem diese Funktion zugeschrieben wurde. Immer wieder verwiesen die

107

L, Armut im geteilten Deutschland, S. 254.

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Armutsdebatten in den 1970er Jahren

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Politiker darauf, dass es mit dem BSHG bereits eine Vorkehrung gebe, die sich schon seit 1961 mit der Lösung des Problems beschäftige. Aber auch für Frankreich hat der parteipolitische Diskurs ein großes Vertrauen der Politiker in das französische System der kategoriellen Mindestsicherungen offengelegt. Die Armutsfrage stellten sie damit, wenn nicht als gelöst, dann doch wenigstens als in guten Händen dar. Für die Bundesrepublik hat sich außerdem gezeigt, dass die beiden großen Parteien sich als Träger des Sozialstaats verstanden, den sie mit auf- und ausgebaut hatten. Kritik an ›ihrem‹ Sozialstaat ließen weder CDU noch SPD zu – und damit auch keine Debatte um Armut, denn der Hinweis auf diese ist immer verbunden mit einer Kritik am Sozialstaat, der seine Aufgaben nicht erfüllt. Bei den Gruppen, die in den 1970er Jahren als Arme diskutiert wurden, handelt es sich außerdem um Gruppen mit schwacher Lobby wie alte Menschen oder Behinderte. Die Analyse hat verdeutlicht, dass sich die in den Parlamenten vertretenen Parteien in keinem der beiden Länder für diese besonders zuständig sahen. Wohl aber zuständig sahen sich in beiden Ländern die Verbände. In Frankreich forderte der Verband ATD Quart Monde auch die politischen Entscheidungsträger nachdrücklich zum Handeln gegen die Armut auf. Allerdings fand der Verband aufgrund seiner geringen personellen Basis und seiner begrenzten finanziellen Handlungsspielräume in den 1970er Jahren nur wenig Gehör für sein Anliegen. Anders war es in der Bundesrepublik, wo die Verbände über gut ausgebaute Strukturen verfügten. Weil sie aber in einem engen Abhängigkeitsverhältnis zum Staat standen, zögerten sie, die Armutsfrage in der Öffentlichkeit als politische Aufgabe darzustellen. Zuletzt erklärt auch die Formulierung der Armutsfrage, warum das politische Interesse daran gering blieb. Wie gezeigt, war in beiden Ländern in den 1970er Jahren die Ausdeutung von Armut als individuelles Phänomen und als psychische Problemlage verbreitet. Schon Begriffe wie inadaptation sociale oder soziale Randgruppe illustrieren dies. Für diese als psychisch beschriebenen Nöte sahen die Parteien sich aber nicht zuständig. Aus diesen Gründen fehlte den Armen in den 1970er Jahren in beiden Ländern eine politische Lobby. Die Sozialpolitik spiegelt dies wider. Keine Maßnahme widmete sich in dieser Zeit explizit der Armutsbekämpfung, weder in Frankreich noch in der Bundesrepublik. Allerdings ist auch deutlich geworden, dass – auch ohne die explizite Kategorie Armut – beide Länder verschiedene sozialpolitische Maßnahmen verabschiedet haben, von denen gerade die unteren Einkommensschichten profitieren würden. In der Bundesrepublik ging dies vor allem auf das Engagement der Verwaltungsbeamten des BMJFG zurück. Die Quellen haben offengelegt, dass in diesem Ministerium eine intensive Beschäftigung mit der Randgruppenfrage begann, auch ohne dass die Parteien sich damit auseinandergesetzt hatten. Dass auch in Frankreich die Beschäftigung der Verwaltung mit dem Thema seiner parteipolitischen Entdeckung vorausging, wird das nächste Kapitel noch zeigen. Armutspolitik war insofern in beiden Ländern in den 1970er Jahren ein Anliegen der Verwaltung,

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Armutsdebatten in den 1970er Jahren

aber keines der Parteien. Eine Änderung dieser Situation zeichnete sich im Laufe des Jahrzehnts nicht ab. Die Ausgangsfrage der beiden vorausgehenden Kapitel war die nach einem eventuellen Bruch der Debatte in Folge des sozioökonomischen Strukturbruchs gewesen. Wirtschaftlich gesehen waren die Trente Glorieuses 1973/74 in beiden Ländern eindeutig zu ihrem Ende gekommen. Die Analyse hat jedoch ergeben, dass auf diese wirtschaftliche Zäsur zunächst kein Bruch des Armutsdiskurses folgte. Stattdessen blieb dieser weiterhin so wie oben skizziert und liest sich in vieler Hinsicht eher als kontinuierliche Fortsetzung des Diskurses der Trente Glorieuses. Die in der Einleitung geäußerte Vermutung, dass die neuen Armutsrisiken, die sich seit der Mitte der 1970er Jahre in beiden Ländern ausbreiteten, neues politisches Interesse auslösten, hat sich bisher nicht bestätigt. Stattdessen ist deutlich geworden, dass die Zeitgenossen dieses Problem in den 1970er Jahre mit hoher Wahrscheinlichkeit noch nicht wahrgenommen hatten. In jedem Fall thematisierten sie es nicht in den hier untersuchten Quellen. Stattdessen standen an den wenigen Stellen, wo Armut verhandelt wurde, in beiden Ländern traditionelle Risikogruppen, insbesondere alte Menschen, im Fokus. Dass sich das Risiko inzwischen aber faktisch zum anderen Ende der Alterskette verschoben hatte, wurde nicht thematisiert. Die einzige Ausnahme bildet der Secours catholique, der als lokal agierender Verband in seinen Hilfebüros schon ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre einen Wandel bei seiner Klientel diagnostizierte und zaghaft darauf aufmerksam machte. Abgesehen davon stellt die Armutsdebatte der 1970er Jahre in beiden Ländern aber keine Debatte um neue, sondern um traditionelle Armutsrisiken dar. Eine grundlegende Idee dieser Arbeit ist es, die Kommunikation neuer Armutsrisiken als Auseinandersetzungen der Zeitgenossen über den sozioökonomischen Wandel ihrer Umwelt zu lesen. Aus dieser Perspektive kann an dieser Stelle bilanziert werden, dass ein Großteil der Zeitgenossen in Frankreich und der Bundesrepublik diesen Wandel ihrer Umwelt in den 1970er Jahren noch gar nicht wahrgenommen hatte. Die Herausbildung neuer Armutsrisiken nahmen sie jedenfalls nicht wahr. Sirinelli hat darauf verwiesen, dass die Meistererzählung von den Trente Glorieuses in Frankreich extrem zählebig war und sich bis zum Ende der 1970er Jahre hielt – und damit lang über das effektive Ende des spektakulären Wirtschaftswachstums hinweg108 . Die hier untersuchten Quellen haben bestätigt, dass das Armutsbild der Trente Glorieuses definitiv zählebig war und sich ebenfalls bis zum Ende der 1970er Jahre hielt. Die Feststellung gilt für beide Länder. Die wirtschaftliche Zäsur von 1973/74 machte sich dagegen nicht bemerkbar; sie wirkte sich weder auf das Armutsbild noch auf die Debatte um Armut aus.

108

S, Les Vingt Décisives, S. 171.

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III. Die Debatte um die neue Armut in Frankreich, 1980–1984

Verschiedene Arbeiten verweisen auf einen abrupten Anstieg des Interesses der französischen Parteien für die Armutsfrage ab 1984. So unterstreicht Julien Damon: »À partir de 1984, le thème de la pauvreté devient politiquement majeur«1 . Claudel Guyennot unterstützt diese Aussage: »Le débat sur les ›nouveaux pauvres‹ se cristallise à l’automne 1984«2 . Beide geben indes keine Antwort auf folgende Fragen: Was genau passierte im Herbst 1984, der die Armut auf die politische Agenda zurückbrachte? Wie gezeigt, hatten in den 1970er Jahren zunächst weder der sozioökonomische Wandel noch die damit verbundene Herausbildung neuer Armutsrisiken noch der politische Wechsel 1974 großen Einfluss auf die Debatte ausgeübt. Welche Faktoren waren es, die 1984 diesen Effekt hatten? Woher kam das Interesse zu diesem Zeitpunkt? Und woher kam und welche Realitäten beschrieb in Frankreich der Begriff der neuen Armut, auf dessen Verwendung Guyennot verweist? Im folgenden Kapitel sollen diese Fragen beantwortet und die politische Wieder- und Neuentdeckung der Armut in Frankreich in der ersten Hälfte der 1980er Jahre beleuchtet werden. Mit dem Untersuchungszeitraum dieses Kapitels richtet sich der Blick auf eine sowohl wirtschaftlich als auch politisch insgesamt von Umbrüchen geprägte Zeit. Wirtschaftlich gesehen waren die Trente Glorieuses zwar schon 1974 beendet; jedoch erlebte Frankreich wie viele andere Länder auch in Folge des zweiten Ölpreisschocks von 1979/80 einen weiteren Konjunktureinbruch. Im Land wuchs die Arbeitslosigkeit danach noch steiler an, als es in den 1970er Jahren der Fall gewesen war. Lag die Arbeitslosenquote 1980 noch bei 6,3 Prozent, erreichte sie 1984 schon den spektakulären Stand von 9,7 Prozent3 . Selbstverständlich stellte diese wirtschaftliche Lage auch eine Herausforderung für die Regierung dar. Die Regierungsmacht lag seit dem Frühjahr 1981 in den Händen der Parteien des linken Spektrums – nachdem diese die vorausgehenden 23 Jahre in der Opposition verbracht hatten. Im Mai 1981 war mit François Mitterrand erstmals in der V. Republik ein Sozialist zum Präsidenten gewählt worden. Schon mit seinem zweiten Dekret hatte dieser die Nationalversammlung aufgelöst und im Juni Neuwahlen durchführen lassen, aus denen die Sozialisten mit einer absoluten Mehrheit hervorgingen. Eine Koalition aus PS, PCF und MRG

1 2 3

Julien D, L’»urgence sociale« au prisme de sa ligne budgétaire. Autour du »47.21«, in: Revue française des affaires sociales 1 (2001), S. 13–35, hier S. 20. Claudel G, L’insertion. Discours, politiques et pratiques, Paris 1998, S. 10. 40 ans de politique de l’emploi, S. 363.

https://doi.org/10.1515/9783110613087-part03

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III. Die Debatte um die neue Armut in Frankreich, 1980–1984

stellte seitdem die Regierung4 . Mitterrand selbst war mit einem Programm von 110 Punkten in den Wahlkampf gezogen und versuchte, noch im Jahr seiner Wahl möglichst viele davon umzusetzen. Folge davon war eine Welle von Reformen ganz unterschiedlicher Natur, die von einer großen Anzahl an Nationalisierungen französischer Unternehmen über die Dezentralisierung bis hin zur Abschaffung der Todesstrafe reichte. Jedoch verwiesen der Anstieg von Arbeitslosigkeit und Inflation sowie das gebremste Wirtschaftswachstum den wirtschaftlichen Reformenthusiasmus schnell in seine Schranken. Schon seit dem Sommer 1982 sah die Regierung sich zum Sparen und sogar zur Rücknahme einiger Reformen gezwungen5 . Die Debatte um die neue Armut kam also in dieser Zeit auf, die geprägt war von politischem Umbruch und Reformenthusiasmus einerseits und erneutem Konjunktureinbruch und damit verbundenem Abbremsen des Reformwillens andererseits.

4 5

S, Les Vingt Décisives, S. 213–231. C, C, D, Histoire de la Ve République, S. 285–291.

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1. Die Entdeckung einer neuen Armut auf lokaler Ebene 1.1. »Une voix pour les sans-voix«: Secours catholique und katholische Kirche Der Journalist Michel Castaing identifizierte im März 1981 den Secours catholique als ersten Akteur, der die Aufmerksamkeit im vorausgegangenen Jahr auf die Armutsfrage gelenkt habe: »Il a été le premier à jeter un cri d’alarme, l’an dernier, sur la montée de la pauvreté en France«1 . Castaing ließ dabei offen, auf welche Aussagen oder Aktionen des Secours catholique er Bezug nahm. Wie schon gezeigt wurde, hatte der Verband bereits 1976 die Grundlage für mögliche Aktionen in diesem Bereich gelegt. Mit der Gründung der Commission d’action institutionnelle hatte er eine Struktur geschaffen, die Informationen über seine Klientel zusammentragen und auswerten konnte und mit den Ergebnissen auf Lücken der Sozialpolitik hinweisen sollte. Allerdings wurde auch schon gezeigt, dass diese Kommission in den 1970er Jahren kaum in Erscheinung getreten war. Lediglich die Pariser Vertretung des Verbandes hatte den Anstieg ihrer Unterstützungsanfragen entdeckt, dokumentiert und sich damit an den Pariser Bürgermeister Jacques Chirac gewandt. Darüber hinaus hatten sich in den Quellen keine Hinweise darauf gefunden, dass der Secours catholique in den 1970er Jahren schon öffentlich auf die Existenz von Mangellagen oder von neuen Formen der Armut hingewiesen hätte. Genau hier zeichnete sich aber seit Beginn des neuen Jahrzehnts eine Änderung ab. Zwischen 1980 und 1984 trat der Verband mit einer Reihe von Publikationen an die Öffentlichkeit, in denen er die Notlagen seiner Klientel thematisierte. In diesen Publikationen diagnostizierte der Secours catholique auch erstmals die Entstehung einer neuen Armut. Den Auftakt bildete »Et chômeurs. . . «, ein Heft zum Thema Arbeitslosigkeit, das der Verband im September 1980 der Presse vorstellte2 . Schon darin sprachen die Autoren von einer neuen Armut: »C’est que des pauvretés nouvelles sont apparues, qui frappent de plus en plus, et de plus en plus lourdement«3 . In dieser ersten Veröffentlichung stand, wie der Titel deutlich macht, noch Arbeitslosigkeit und nicht Armut im Fokus. Letztere rückte der Secours catholi1 2

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Michel C, Pauvres de toujours et pauvres d’aujourd’hui, IV: Des trous dans la couverture sociale, in: Le Monde, 6.3.1981. Et chômeurs. . . , Archiv des Secours catholique; N. N., Un cri d’alarme du Secours catholique en faveur des chômeurs non indemnisés, in: Le Monde, 27.9.1980. Die Studie wurde nach Angaben des Verbandes schon im Herbst 1979 erstellt und dann im September 1980 der Presse vorgestellt. Et chômeurs. . . , Archiv des Secours catholique, S. 2.

https://doi.org/10.1515/9783110613087-007

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III. Die Debatte um die neue Armut in Frankreich, 1980–1984

que in den folgenden Jahren aber explizit ins Zentrum seines Aktionsfeldes. Die folgenden Veröffentlichungen dokumentieren dies. Eine weitere Publikation stellte der Verband im Juli 1981 der Presse vor. Unter dem Titel »Dettes EDFGDF« beschäftigte sie sich mit dem Problem der Verschuldung der Franzosen bei Strom- und Gasrechnungen4 . Eine dritte, deutlich umfangreichere Studie erschien 1982 unter dem Titel »Pauvres d’aujourd’hui. Analyse de 580 situations de pauvreté«5 . Die Verfasser analysieren darin beispielhaft die Situation von 580 Personen, die im Jahr 1981 bei den Anlaufstellen des Secours catholique um Unterstützung gebeten hatten. Eine vierte Publikation zur Wohnungsproblematik erschien im September 19846 . Der Verband selbst weist darauf hin, dass er diese Publikationen an verschiedene Ministerien, Einrichtungen der öffentlichen Verwaltung und an die Presse verteilt hatte7 . Mit diesen Publikationen und deren Verbreitung betrieb der Verband zur Beginn der 1980er Jahre also aktive Öffentlichkeitsarbeit für die Armutsfrage. Sicher waren es diese Aktivitäten, die den eingangs zitierten Journalisten zur Aussage gebracht hatten, der Secours catholique habe als erster Alarm geschlagen, um auf die Notlagen aufmerksam zu machen. Anscheinend war diese Öffentlichkeitsarbeit in der ersten Hälfte der 1980er Jahre sogar so intensiv, dass der Verband damit auf Kritik stieß. Sein seit 1977 amtierende Präsident, Robert Prigent, berichtete im Jahr 1983, dass der Secours catholique sich als Folge dieser Aktionen auch dem Vorwurf ausgesetzt sah, sich von seiner eigentlichen Aufgabe entfernt zu haben. Insbesondere seine intensive Pressearbeit sei kritisiert worden8 . Prigent verteidigte diese Arbeit jedoch, indem er zuerst unterstrich, dass nicht Polemik und Anklage, sondern die neutrale

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7 8

Dettes EDF-GDF, Archiv des Secours catholique. Pauvres d’aujourd’hui. Analyse de 580 situations de pauvreté, ibid. Die Verbandszeitschrift des Secours catholique griff die Studie mehrfach auf, zunächst in ihrem Erscheinungsjahr 1982; zwei Jahre später erschien eine ganze Ausgabe unter dem Titel »Pauvres d’aujourd’hui« und fasste u. a. die Ergebnisse der Studie von 1982 zusammen, vgl. Messages du Secours catholique 360 (1984); Yves C, Daniel D, Pauvres aujourd’hui, in: ibid., S. 9–13; Lucien B, Les pauvres d’aujourd’hui, in: Messages du Secours catholique 341 (1982), S. 8–11. Die Studie wurde nicht veröffentlicht und konnte vom Archiv des Secours catholique nicht bereitgestellt werden. Auskunft über ihren Inhalt und die Reaktionen darauf geben einige Artikel in der Verbandszeitschrift, vgl. N. N., Les premiers retombées de la campagne ». . . et se loger aussi«, in: Messages du Secours catholique 365 (1984), S. 7; Daniel D, Face à l’urgence une action tous azimuts, in: Messages du Secours catholique 366 (1984), S. 8; André A, Se loger, in: Messages du Secours catholique 364 (1984), S. 3. François G, EDF. »De grâce, ne coupez pas!«, in: Messages du Secours catholique 341 (1982), S. 7; D, Face à l’urgence, S. 8. Robert P, Une voix pour les sans-voix, in: Messages du Secours catholique 347 (1983), S. 3.

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1. Auf lokaler Ebene

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Dokumentation der Verhältnisse das Anliegen seien9 . Den intensiven Kontakt mit den Medien rechtfertigte er außerdem mit dem Verweis darauf, dass das Anliegen der Armen hörbar gemacht werden müsse. In dieser Argumentation sprach er vom Secours catholique als »voix pour les sans-voix«10 , die die Öffentlichkeit über die Notlagen informieren muss, weil die Betroffenen selbst sich kein Gehör verschaffen können. Diese Rolle hatte 1978 schon der Generalsekretär des Verbandes Louis Gaben mit anderen Worten für den Secours catholique eingefordert, als er von ihm als »avocat des sans-voix«11 gesprochen hatte. Die hier beschriebenen Aktivitäten in der ersten Hälfte der 1980er Jahre weisen darauf hin, dass der Verband diese Rolle zu Beginn des neuen Jahrzehntes immer nachdrücklicher eingenommen hatte. Die Erkenntnisse über Notlagen der Bevölkerung, die er aus seiner Arbeit gewonnen hatte, teilte er in dieser Zeit der Öffentlichkeit mit und versuchte auch, das Interesse von Politik und Verwaltung dafür zu gewinnen. Warum aber nahm der Verband diese Rolle an, und warum gerade zu diesem Zeitpunkt? Ansätze dazu hatte er schon in den 1970er Jahren gezeigt (vgl. Kapitel I). Schon 1976 hatte der Secours catholique die Commission d’action institutionnelle gegründet. 1978 hatte mit Paris auch erstmals eine Vertretung des Verbandes neue Entwicklungen bei ihrer Klientel festgestellt und sich damit an politische Entscheidungsträger gewandt. Bis zum Ende der 1970er Jahre war sie damit aber die einzige geblieben. Die Analyse der Verbandszeitschrift legt indes offen, dass zahlreiche über Frankreich verteilte lokale Vertretungen es ihr nachmachten. Denn seit 1980 häuften sich in dieser Zeitschrift Mitteilungen dieser lokalen Stellen, die auf die Überforderung der lokalen Hilfebüros hinwiesen. Unter Titeln wie »La misère augmente«12 , »Accroissement des pauvretés«13 und »La ruée des pauvretés«14 berichteten die Autoren darüber, dass immer mehr Menschen bei dem Verband um materielle Unterstützung, insbesondere in Form von Kleidern, Möbeln und Nahrungsmitteln, baten. Gerade diesen letzten Aspekt hoben sie mit Formulierungen wie »On a faim dans le Morbihan«15

9

10

11 12 13 14 15

»Il ne s’agit pas de critique stérile, de dénonciation, de recherche de responsabilité, de polémique. Il s’agit de montrer des images de la réalité, de témoigner avec impartialité et exactitude, de documenter les hommes ou les organismes responsables, de mettre au point les réponses collectives aux besoins ainsi relevés«, ibid. Ibid.; die gleiche Einforderung der Rolle der »voix des sans-voix« findet sich auch an anderer Stelle, vgl. z. B. D., Ces frères venus d’ailleurs, in: Messages du Secours catholique 317 (1980), S. 3; A, Se loger, S. 3. G, Ils le mettent au présent, S. 13; vgl. auch Kap. I.1. N. N., Marseille. La misère augmente, in: Messages du Secours catholique 349 (1983), S. 14. N. N., Versailles. Accroissement des pauvretés, in: Messages du Secours catholique 330 (1981), S. 11. N. N., Le Mans. La ruée des pauvretés, in: Messages du Secours catholique 328 (1981), S. 17. N. N., Vannes. On a faim dans le Morbihan, in: Messages du Secours catholique 349 (1983), S. 14.

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oder »La faim aussi dans l’Oise«16 hervor. Der Secours catholique von Le Mans bekräftigte sogar: »Des personnes affamées se présentent aux permanences«17 . Solche und ähnliche Nachrichten kamen neben den schon genannten Gebieten von den Vertretungen des Verbandes in Toulouse18 und Marseille19 . Aber auch in Versailles20 , Rennes21 , Annonay22 oder La-Roche-sur-Yon23 – um nur einige Beispiele zu nennen – beklagten sich die Vertretungen über die Überforderung ihrer Mitarbeiter und die Ausschöpfung ihrer Mittel angesichts dieser Flut von Anfragen. Insofern lässt sich der Anstieg der Unterstützungsanfragen auch weder einer bestimmten geografischen Region noch speziell den ländlichen oder industrialisierten Gebieten noch speziell dem ländlichen Raum oder der Großstadt zuordnen, sondern schien ein generelles Problem vieler Vertretungen des Secours catholique zu sein. Die über ganz Frankreich verteilten lokalen Vertretungen waren es, die in dieser Zeit die Armutsfrage mit Nachdruck auf die Agenda des Pariser Hauptsitzes setzte. Um seine Behauptung von der »ruée des pauvretés«24 , dem Ansturm der Armen auf seine Beratungsstellen zu stützen, erstellten die Vertretungen auch Statistiken, in denen sie die Entwicklung der Anfragen dokumentierten. Mit diesen Statistiken zeigten der Secours catholique aus Reims und Laval, dass dort die Hilfsgesuche zwischen 1981 und 1983 um 40 beziehungsweise 41 Prozent angestiegen waren. Die Vertretungen in Rouen, Verdun und Auch stellten in den gleichen zwei Jahren sogar einen Anstieg der Anfragen um über 70 Prozent fest25 . Aufschlussreich ist neben diesen Zahlen vor allem eine Statistik des Secours catholique in Reims, der nicht nur die generelle Entwicklung der Anfragen dokumentierte, sondern speziell auf die Unterstützung durch die Ausgabe von Lebensmitteln durch den Verband hinwies. Aus dieser geht hervor, dass sich zwischen 1978 und 1982 die Ausgaben der Vertretung in Reims für Lebensmittelhilfen nicht nur mehr als verzehnfacht hatten, sondern dass auch der Anteil der Lebensmittelhilfe an den Unterstützungsleistungen insgesamt extrem angewachsen war. Nachdem 1978 nur 20 Prozent der Hilfen in der Vergabe von Nahrungsmitteln bestanden hatte, waren es 1982 schon

16 17 18 19 20 21 22 23 24 25

N. N., Compiègne. La faim aussi dans l’Oise, ibid. N. N., Le Mans. N. N., Toulouse. Aider les errants. . . et les femmes en difficulté, in: Messages du Secours catholique 347 (1983), S. 17. N. N., Marseille. N. N., Versailles. Accroissement des pauvretés; N. N., Versailles. Montée de la pauvreté, in: Messages du Secours catholique 338 (1982), S. 16. N. N., Rennes. »La misère progresse plus vite que l’inflation«, in: Messages du Secours catholique 349 (1983), S. 14. N. N., Annonay. Afflux des errants, in: Messages du Secours catholique 347 (1983), S. 17. N. N., La-Roche-sur-Yon. L’afflux des errants, in: Messages du Secours catholique 345 (1983), S. 14. N. N., Le Mans. C, D, Pauvres aujourd’hui, S. 9.

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62 Prozent26 . Die Ausgabe von Lebensmitteln wurde damit zur hauptsächlichen Unterstützungsleistung des Secours catholique in Reims. Die verschiedenen Vertretungen beschränkten sich dabei nicht darauf, auf den Anstieg der Hilfsanfragen hinzuweisen, sondern sie organisierten auch erste Aktionen, mit denen sie in der Öffentlichkeit in ihren Regionen auf die Existenz von Armut aufmerksam machten und die Bevölkerung zur Solidarität aufriefen. So brachte der Secours catholique von Évreux einen Text mit dem Titel »La pauvreté existe. . . partageons!«27 im ganzen Departement Eure in Umlauf, um damit das Bewusstsein der Bevölkerung für die Existenz von Armut zu schärfen28 . In Auch drehten ehrenamtliche Mitarbeiter sogar einen Dokumentarfilm mit dem Titel »La pauvreté chez nous«29 , um auf die Notlagen in ihrer Region aufmerksam zu machen. Die Vertretung des Verbandes in Meaux rief die Einwohner zur Lebensmittelspende für die Armen auf30 , die Vertretung in Le Havre zur Möbelspende31 . Diese Feststellung eines sprunghaften Anstiegs der Hilfsanfragen überrascht vor allem in Anbetracht der Armutsstatistik, da der Untersuchungszeitraum keine Zeit der Rückkehr oder massiven Ausbreitung der Bedürftigkeit darstellt. Auch in den vorausgehenden Jahrzehnten war ein großer Teil der französischen Bevölkerung von Armut betroffen gewesen. Anscheinend hatte dieser aber weniger die Hilfsangebote des Secours catholique in Anspruch genommen. Warum änderte sich das zu Beginn der 1980er Jahre? Wer waren die Menschen, die zu Beginn des Jahrzehnts verstärkt um Unterstützung baten? Die Antwort darauf kann der Verband selbst geben, der in den oben zitierten Publikationen ausführliche Informationen über seine Klientel zusammengestellt hat. Er unterstreicht darin erstens, dass es hauptsächlich Menschen mit französischer Staatsangehörigkeit waren, die Unterstützung des Secours catholique in Anspruch genommen hatten. In der Schrift »Pauvres d’aujourd’hui« werten die Autoren 580 Hilfsgesuche aus und stellen fest, dass es sich bei 83 Prozent der Betroffenen um französische Staatsbürger handelte32 . Die Autoren verbergen ihr Erstaunen über diese Erkenntnis nicht. Offen geben sie zu, dass dies der bisherigen Sicht von Armut als ein vor allem die Migranten betreffendes Phänomen widersprach: »Il reste que ses données vont à l’encontre d’un certain nombre d’idées reçues quant à la population touché par les phénomènes d’ex26 27 28 29 30 31 32

Ibid., S. 11. N. N., Évreux. »La pauvreté existe. . . partageons!«, in: Messages du Secours catholique 318 (1980), S. 15. Ibid. N. N., La pauvreté existe aussi »chez nous«, in: Messages du Secours catholique 339 (1982), S. 13. N. N., Meaux. Ceux qui ont faim près de chez nous, in: Messages du Secours catholique 330 (1981), S. 11. N. N., Le Havre. Meubles et vêtements sont les bienvenus, ibid. Pauvres d’aujourd’hui, Archiv des Secours catholique, S. 2.

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clusion. Pour l’immense majorité entre elles, il s’agit bien de Français d’origine«33 . Zweitens konstatiert der Verband in der gleichen Studie, dass es sich bei seiner Klientel hauptsächlich um Personen jungen oder mittleren Alters handelt. Von den 580 dort untersuchten Anfragen waren 63 Prozent von Personen im Alter zwischen 18 und 39 Jahren gestellt worden34 . Zwei seiner Mitarbeiter kommentieren diese Entdeckung in der Verbandszeitschrift mit den Worten: »Là encore, il faut bousculer nos vieilles idées: nous sommes en présence d’une population dans la force de l’âge«35 . Auch diese Erkenntnis war also überraschend für den Secours catholique und stand im Widerspruch zu seinem bisherigen Bild. Sie stand auch im Widerspruch zum Armutsbild der Trente Glorieuses insgesamt, das vor allem auf Altersarmut fokussiert war. Die vorausgehenden Kapitel haben gezeigt, dass dieses Bild noch bis Ende der 1970er Jahre die Debatte und auch die Sozialpolitik geprägt hatte. An dieser Stelle schien dieses Bild jedoch erstmals zu bröckeln, da es mit den Entdeckungen des Verbandes nicht zu vereinbaren war. Der Secours catholique unterstrich drittens die materiellen Nöte seiner Klientel36 . An seinen Ausführungen zur steigenden Nachfrage nach Lebensmitteln und Kleidung ist dies schon deutlich geworden. »Un milliard de Lazare qui nous regarde«37 . Mit diesem Zitat seines Gründers Rodhain beschrieb der Verband 1980 die Nöte der Arbeitslosen. Mit Lazarus nahmen sie Bezug auf das biblische Sinnbild des materiell verarmten Menschen. Rodhain hatte schon für die frühen Kampagnen des Secours catholique das Vorbild in der Figur des biblischen Lazarus gefunden. Mit Bezug auf das Gleichnis, in dem das Problem des Reichen nicht darin besteht, dass er nicht helfen will, sondern dass er den Armen an seiner Seite nicht sieht, hatte Rodhain die Kampagnen gerechtfertigt und damit auch auf die Existenz materieller Notlagen in Frankreich hingewiesen38 . Trotzdem war auch diese Entdeckung der materiellen Bedürftigkeit am Beginn der 1980er Jahre schwer vereinbar mit den Vorstellungen des Verbandes in dieser Zeit. Wie in Kapitel I gezeigt, hatte der Secours catholique in den 1970er Jahren Armut in Frankreich vor allem als individuelles, psychologisches Problem betrachtet. Materielle Mangellagen galten ihm dagegen mehr als Thema der sogenannten Dritten Welt. Der Anstieg der Anfragen nach Lebensmitteln und Sachhilfen stellte insofern eine große Überraschung für ihn dar, die seine bisherige Deutung in Frage stellte. Aus den Berichten mancher seiner Vertretungen tritt diese Überraschung auch

33 34 35 36 37 38

Ibid. Ibid., S. 3. C, D, Pauvres aujourd’hui, S. 9. Pauvres d’aujourd’hui, Archiv des Secours catholique; Dettes EDF-GDF, ibid. Et chômeurs. . . , ibid; vgl. auch: Robert P, Les autres?. . . Mais nous aussi!, in: Messages du Secours catholique 321 (1980), S. 3. D, Mgr Rodhain et le Secours catholique, S. 154–156.

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deutlich hervor. So wundern sich Vertreter des Secours catholique in Vannes: »Mais qui eût pensé, il y a quelques années, que, lorsque l’on parle aujourd’hui de familles souffrant de la faim, cela ne concerne pas que le tiers monde? Et que l’exemple du Morbihan ne serait pas un cas isolé dans notre pays!«39 Das Zitat verdeutlicht die wachsende Sensibilität der Verbandsmitarbeiter für die handfesten materiellen Notlagen im eigenen Land. Viertens erklärte der Secours catholique, dass die jetzige Klientel seine Unterstützung erstmals in Anspruch nahm. Die Studie von 1982 präzisiert, dass mehr als die Hälfte der analysierten 580 Hilfsgesuche von Personen gestellt worden waren, die dem Verband bisher völlig unbekannt waren und nie zuvor in seinen lokalen Hilfebüros in Erscheinung getreten waren40 . Er schließt daraus, dass diese Menschen bisher entfernt von jedem Armutsrisiko gelebt hätten und plötzlich in die Not »abgerutscht« seien: »Le phénomène nouveau, c’est que ces personnes basculent dans une situation de précarité«41 . Auch diese dritte Feststellung stellte einen Widerspruch zum bis dato dominierenden gesellschaftlichen Armutsbild dar. Durchgesetzt hatte sich in der Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg die Vorstellung, dass Menschen eben nicht plötzlich bedürftig wurden, sondern dass diese vielmehr von Generation zu Generation weitergegeben werde und sich daher auch in bestimmten Familien und bestimmten Gebieten konzentrierte42 . Materielle Not stellt in dieser Perspektive ein statisches Phänomen dar. Mit der Entdeckung einer dynamischen Armut, die nun bis in mittlere Gesellschaftsschichten vordrängen zu schien, passte dieses Bild nicht zusammen. Die hier verwendeten Begriffe précarité (Unsicherheit) und basculer (abrutschen/umkippen/fallen) tauchten in der Debatte dieser Zeit noch häufig auf, um diese Dynamik der Armut zu beschreiben. Bevor hier dieses Bild mit der empirischen Realität konfrontiert und überprüft werden soll, bleibt der Fokus zunächst auf dem Secours catholique und seiner Neuentdeckung eines Phänomens. Der Verband hatte also insgesamt das Bild des an seine Tür klopfenden Armen als Person mittleren Alters mit französischer Staatsangehörigkeit gezeichnet, der zuvor nicht mit materiellen Nöten konfrontiert gewesen sei, und sprach von ihm als »Français moyen«43 , als Durchschnittsfranzosen. Die Entdeckung der Mangellagen dieses »Durchschnittsfranzosen« war in vieler Hinsicht inkompatibel mit den Vorstellungen, die die französische Gesellschaft bis zum Ende der 1970er Jahre dominiert hatte. Auch stand sie insbesondere im Widerspruch zur Auffassung des Verbandes zu Beginn des Untersuchungszeitraums. Der Secours catholique hatte in der ersten Hälfte der 1970er Jahre Armut noch vor allem als individuelle Problemlage ausgedeutet und die Ursache in 39 40 41 42 43

N. N., Vannes. C, D, Pauvres aujourd’hui, S. 9. Ibid. P, Les formes élémentaires, S. 165–174. C, D, Pauvres aujourd’hui, S. 9.

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den Handicaps der Betroffenen gesehen. Dass dieses Bild schon in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre am Verblassen war, wurde ebenfalls aufgezeigt. Die Entdeckung des armen »Français moyen« musste es zwangsweise weiter ins Wanken bringen, denn auf den französischen Staatsbürger mittleren Alters, den der Verband ja gerade als Mensch ohne besondere Handicaps beschrieben hatte, ließ es sich nicht anwenden. Für die Beschreibung dieses neuen Typus des Bedürftigen, des in den lokalen Büros des Caritasverbandes um Hilfe Bittenden, nutzte der Secours catholique zu Beginn des Jahrzehnts erstmals den Begriff der neuen Armut. Mit dem Adjektiv neu wollte er das gewandelte Profil der Betroffenen betonen. Verbunden ist mit dieser Neuentdeckung aber auch eine wachsende Infragestellung traditioneller Armutsbilder. Offen geblieben ist bis zu diesem Zeitpunkt die Ursache für das angeblich plötzliche Abrutschen der Franzosen aus der Mittelschicht in die Armut. Der Verband selbst beantwortete sie hauptsächlich mit dem Verweis auf deren Arbeitslosigkeit. Diese habe sich, so stellte er fest, zum Hauptgrund für die Hilfsgesuche in seinen Beratungsstellen entwickelt44 . Wie eingangs erklärt, bedeutete die erste Hälfte der 1980er Jahre für Frankreich einen spektakulären Anstieg der Arbeitslosenquote. Die Betroffenen suchten anscheinend unter anderem bei den Hilfsangeboten des Secours catholique Unterstützung. Hier liegt auch eine mögliche Erklärung für den extremen Anstieg der Anfragen, der nicht durch einen extremen Anstieg der Bedürftigkeit insgesamt erklärt werden kann. Die Armut hatte sich in dieser Zeit zwar nicht allgemein ausgebreitet, aber doch auf Gruppen ausgedehnt, die – wie hier deutlich wird – eher bereit waren, aktiv um Unterstützung zu bitten. Es kann angenommen werden, dass dies für die in den Trente Glorieuses von Armut betroffenen alten Menschen weniger der Fall war. In jedem Fall wird deutlich, dass der Anstieg der Hilfsanfragen vor allem von Arbeitslosen in den lokalen Hilfebüros des Secours catholique dessen intensive Beschäftigung mit der Armutsfrage ausgelöst hatte. Die Publikationen illustrieren, dass der Verband sie über das Thema der Arbeitslosigkeit entdeckt hat, denn die erste hier zitierte Veröffentlichung, in der auch zum ersten Mal der Begriff der neuen Armut fiel, thematisierte die Arbeitslosigkeit, nicht Armut im Allgemeinen. Erst die späteren Publikationen würden sich dieser Frage zuwenden. Mit der Arbeitslosigkeit diskutierte der Secours catholique außerdem in dieser Zeit eine strukturelle Ursache für materielle Mangellagen. Psychologisierende Erklärungen, die der Verband in der ersten Hälfte der 1970er Jahre erörtert hatte, waren in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre schon weniger geworden; in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre verschwanden sie ganz aus seinen Publikationen. Mit dem neu entdeckten Profil der Betroffenen und der Arbeitslosigkeit als strukturelle Ursache des Phänomens ließ sich die Idee

44

Ibid.

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von Armut als individuellem, psychologischem Problem auch nur schwer vereinbaren. Neben der Arbeitslosigkeit diskutierte der Verband einen weiteren strukturellen Auslöser. Und zwar rief er den Sozialstaat selbst auf die Anklagebank, den er nicht nur als Instanz zur Verhinderung, sondern auch zur Schaffung von Ungleichheiten betrachtete. Lange Bearbeitungsfristen der Sozialverwaltung, so erläuterte er, führten oft zu verspäteten Auszahlungen der Sozialleistungen und lösten Armut der von diesen Leistungen abhängigen Familien aus45 . Auch hier deutet sich ein Motiv an, das in der Debatte um die neue Armut häufig wiederkehren und zentral für die Ausdeutung des Begriffs werden würde, nämlich das schwindende Vertrauen in den Sozialstaat. Auch in den Publikationen des Secours catholique tritt dieses hervor; die folgenden Teilkapitel werden zeigen, dass dieser Aspekt auch an anderen Stellen auftauchen wird. Dass es zur Aufgabe des Verbandes gehörte, sich der neuen Problemgruppen anzunehmen, stellte er an keiner Stelle der hier analysierten Quellen in Frage. Mit der Annäherung der verarmten Arbeitslosen an den biblischen Lazarus hatte der Secours catholique sich selbst auch an seine Pflicht zur Caritas erinnert46 . Allerdings stellte er fest, dass das neue Profil der Bedürftigen neue Mittel zur Armutsbekämpfung nötig machte. Sozialarbeit und familiäre Unterstützung, die der Verband noch zu Beginn der 1970er Jahre propagiert hatte, erschienen ihm als Antwort auf strukturelle Faktoren wie Arbeitslosigkeit wenig tauglich. Für sich selbst sah er keine Möglichkeit, diese strukturellen Probleme zu lösen, sah seine Aufgabe aber darin, auf sie aufmerksam zu machen: »Résoudre le problème du chômage, ce ne peut être le rôle du Secours catholique [. . . ]. Se préoccuper des chômeurs en tant qu’hommes qui souffrent, attirer l’attention sur les plus pauvres d’entre eux, en étant ›la voix de ces sans-voix‹, c’est par contre le devoir de la charité«47 . Hier werden die Motive der Hinwendung des französischen Caritasverbandes zur Rolle des Anwalts der Armen und dem Beginn seiner intensiven Öffentlichkeitsarbeit deutlich. Als Reaktion auf ein neues Armutsprofil und neue Ursachen überdachte und änderte der Secours catholique seine bisherigen Vorstellungen von ihrer Bekämpfung. Seit 1980 bemühte er sich darum, das Thema an die Öffentlichkeit zu bringen. Erste Erfolge seiner Öffentlichkeitsarbeit zeichneten sich in dieser Zeit ab; beispielsweise widmete »Le Monde« den neuen Armen 1982 einen Artikel, in denen die Zeitung ausführlich über den Anstieg der Hilfsgesuche an den Verband berichtete48 . Lange bevor die neue Armut ein Thema im Parlament war, war sie es damit schon in der Öffentlichkeit. 45 46 47 48

Ibid., S. 10 f. Denn während Lazarus in den Himmel kommt, erwartet den Reichen, der ihm die Hilfe versagt hat, die Hölle, vgl. D, Mgr Rodhain et le Secours catholique, S. 154–156. Lucien B, Demain encore, avec les chômeurs, in: Messages du Secours catholique 345 (1983), S. 12. N. N., Les »nouveaux pauvres« sont de plus en plus nombreux, in: Le Monde, 10.5.1982.

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1984 fand der Secours catholique außerdem einen prominenten Fürsprecher, der sein Anliegen aufgriff und es ebenfalls mit Nachdruck an die Öffentlichkeit brachte49 . Es handelt sich um die französische Bischofskonferenz, deren Sozialkommission im September 1984 eine Erklärung mit dem Titel »Attention pauvretés!«50 veröffentlichte. Mit diesem Text griffen die Bischöfe explizit die vorausgehenden Arbeiten des Secours catholique auf. Dies wird an den direkten Verweisen auf dessen Publikationen deutlich51 , vor allem aber an den inhaltlichen Parallelen zwischen dem Text der Bischöfe und den Schriften des französischen Caritasverbandes. Auch die Bischofskonferenz stellte das Erscheinen einer »nouvelle pauvreté«52 fest, die sie als hauptsächlich materielle Notlage ausdeutete. Auch sie akzentuierte den Hunger der Betroffenen und die Notwendigkeit der Unterstützung durch Lebensmittel. Schon am Untertitel der Erklärung: »On a faim aujourd’hui en France«53 , wird dies deutlich; die Verweise auf die steigenden Anfragen nach Nahrungsmitteln bei Secours catholique und Emmaüs stützen diese Argumentation in der Erklärung der Bischöfe. Auch die Bischofskonferenz identifiziert das Profil des neuen Armen als das eines durchschnittlichen Franzosen: »Si on parle de ›nouveaux pauvres‹ à propos de tous ceux qui viennent grossir les rangs des demandeurs d’aides, ce n’est pas qu’en son fond la pauvreté ait changé. Non. Elle reste identique à elle-même, insupportable et dégradante. Mais ce qui paraît nouveau, c’est qu’elle atteint des ›Français moyens‹«54 . Wie der Secours catholique zuvor rechtfertigten die Bischöfe also ihre Neuetikettierung mit dem neuen Profil der Hilfesuchenden. Ebenso akzentuierten sie die Dynamik der Armut mit dem gleichen Vokabular, das zuvor der Caritasverband gebraucht hatte: La situation de ces »nouveaux pauvres« est le plus souvent le résultat de basculements brutaux en état de précarité, de vulnérabilité par rapport à toute diminution de leur pouvoir d’achat, ne disposant d’aucune »avance« que ce soit en argent, en santé, en relation ou en capacités diverses. Le moindre choc – chômage, maladie, retards et blocages administratifs, rupture familiale. . . – les fait basculer dans la spirale inextricable de la pauvreté55 .

Wie der Caritasverband sprachen die Bischöfe von Armut als einem »basculement«, einem plötzlichen Fall der Betroffenen in einen Zustand der »précarité«. Insgesamt folgten sie also der Beschreibung der neuen Armut durch den Secours catholique.

49 50 51

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Die Zeitung »Le Monde« berichtete ausführlich darüber, vgl. Alain W, Les évêques invitent les Français à combattre la »nouvelle pauvreté«, in: Le Monde, 4.10.1984. Attention pauvretés!, hg. v. Commission sociale de l’épiscopat français, Paris 1984. Die Erklärung zitiert den Artikel von Casalis und Druesne in der Verbandszeitschrift »Messages du Secours catholique« von Mai 1984 sowie seine Veröffentlichung zur Wohnproblematik von September 1984, vgl. ibid. Ibid., S. 3. Ibid. Ibid., S. 2. Ibid., S. 3.

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Wie normal oder wie außergewöhnlich war diese Einmischung der katholischen Kirche in die Diskussion einer gesellschaftlichen Frage? Prinzipiell muss die Erklärung der Bischofskonferenz vor dem Hintergrund einer französischen Kirche verstanden werden, die die öffentliche Stellungnahme zu gesellschaftlichen Themen generell als eine ihrer wichtigen Aufgaben ansah. Schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte sich in Frankreich die katholische Laienbewegung Action catholique als Forum zur Einübung zivilgesellschaftlicher Verantwortungsübernahme erwiesen und damit wichtige Grundlagen für das spätere politische Handeln französischer Katholiken und der Kirche gelegt56 . Nachdem sich in dieser Zeit vor allem die unter dem Dach der Action catholique versammelten Verbände zu politischen Fragen geäußert hatten, machte die Bischofskonferenz nun selbst Gebrauch von ihrem Recht, sich zu versammeln und gemeinsame Erklärungen zu veröffentlichen, das sie mit dem Ende des Konkordats 1905 erworben hatte, insbesondere seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Seitdem hatte sie zu einem breiten Spektrum gesellschaftlich relevanter Fragen Position bezogen57 , sich vor 1984 jedoch noch nicht zu Armut in der französischen Gesellschaft geäußert. Allerdings folgten auf »Attention pauvretés!« weitere Erklärungen zu diesem Themenkomplex58 , sodass die Erklärung von 1984 als Beginn der aktiven Einmischung der französischen Kirche in die Armutsdebatte gewertet werden kann. Das Auftreten der katholischen Kirche als Akteur in die Verhandlung der neuen Armut liefert ein Argument für die Forschungsdebatte um die Rolle der Religion in der öffentlichen Sphäre seit den 1970er Jahren. Lange hatte sich in dieser Hinsicht die modernisierungstheoretische Annahme behauptet, dass Religion und Kirche seitdem an Bedeutung verlören. Forscher hatten den Prozess mit Schlagworten wie »Säkularisierung« und »Privatisierung der Religion« beschrieben. Die Abnahme der Kirchenbesuche bei gleichzeitiger starker Zunahme der Kirchenaustritte in den westlichen Industrieländern seit

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Klaus G K, Französische Katholiken vor der politischen Herausforderung: Die Katholische Aktion in Frankreich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Arnd B, Jürgen N (Hg.), Zwischen Fürsorge und Seelsorge. Christliche Kirchen in den europäischen Zivilgesellschaften seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M., New York 2009, S. 155–174, hier S. 171–174. Die Themen reichten im Vorfeld von »Attention pauvretés!« von Erklärungen zur Todesstrafe (1978) über das Problem der Grundbesitzverteilung im ländlichen Raum (1978) bis hin zur nuklearen Abschreckung (1983). Als übliches Procedere galt, dass einzelne Mitglieder oder die verschiedenen Kommissionen eine erste Version des Erklärungstextes ausarbeiteten und diese anschließend der einmal jährlich zusammenkommenden Vollversammlung der französischen Bischöfe zur Abstimmung vorlegten, vgl. Denis M, Le discours sociale de l’épiscopat, in: D. (Hg.), Le mouvement social catholique en France au XXe siècle, Paris 1990, S. 189–214, hier S. 207–211. Bspw. »La solidarité, une urgence« von 1987 und »Face au défi du chômage, créer et partager« von 1988, vgl. ibid.

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III. Die Debatte um die neue Armut in Frankreich, 1980–1984

1969 schien dies zu belegen59 . Verschiedene Arbeiten haben seitdem dieser Auffassung widersprochen, indem sie die steigende Bedeutung der Religion in verschiedenen Situationen aufgezeigt haben. So unterstreicht José Casanova die große Bedeutung der katholischen Kirche in Spanien, Polen und Brasilien in den Demokratisierungsprozessen dieser Länder seit 197060 . Auch Frank Bösch weist auf zahlreiche Situationen hin, in denen ab 1979 die Religion schlagartig an Sichtbarkeit und politischem Einfluss gewann, etwa mit der iranischen Revolution, dem Aufkommen der Befreiungstheologie in Südamerika, der Wahl Johannes Pauls II. zum Papst oder auch der Einmischung der katholischen Kirche in die Debatte um den Paragraphen 218 in der Bundesrepublik61 . Er resümiert: »Während dieser Zeit wurde in vielen Teilen der Welt deutlich, dass Religion und Kirchen keineswegs in die Sphäre des Privaten verschwanden«62 . Die hier untersuchten Quellen haben für einen weiteren Teil der Welt gezeigt, dass sich die Kirche nicht in die private Sphäre zurückgezogen hat. Auch im laizistischen Frankreich hatte sie sich aktiv in die öffentliche Armutsdebatte eingemischt. Auch diese Entdeckung widerspricht klar den Thesen vom Bedeutungsverlust von Kirche und Religion in der öffentlichen Sphäre. Im Hinblick auf die Leitfrage des Kapitels nach dem Anstieg des politischen Interesses im Jahr 1984 hat die Analyse einen möglichen Erklärungsstrang freigelegt. Sie hat gezeigt, dass der Secours catholique eine intensive Öffentlichkeitsarbeit für die Armutsfrage betrieb, bei der er 1984 von der katholischen Kirche unterstützt wurde. Bereits seit 1980 sprach der Verband von einer neuen Armut. Als erster der hier untersuchten Akteure nutzte und prägte er damit diesen Begriff, der 1984 in der öffentlichen Debatte und in der sozialpolitischen Intervention eine wichtige Rolle spielen würde.

1.2. Neue Armut in den kommunalen Sozialhilfebüros: die Initiativen der französischen Bürgermeister Mit dem Begriff der neuen Armut hatte der Secours catholique auf den Anstieg der Anfragen in seinen Regionalverbänden und ein neues Profil der Bedürftigen hingewiesen. Der französische Caritasverband war in Frankreich selbstverständlich nicht die einzige Organisation mit lokalen Hilfsangeboten. Unter den karitativen Verbänden war er in Frankreich zwar der größte mit dem am 59 60 61 62

Frank B, Umbrüche in die Gegenwart. Globale Ereignisse und Krisenreaktionen um 1979, in: Zeithistorische Forschungen 9 (2012), S. 8–32, hier S. 23 f. José C, Public Religions in the Modern World, Chicago 1994. B, Umbrüche in die Gegenwart, S. 24–29. Ibid., S. 29.

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weitesten ausgebauten Netz. Neben seinen Hilfebüros konnten Menschen in Not sich aber auch an andere Strukturen wenden, und zwar in erster Linie an die bureaux d’aide sociale, die kommunalen Sozialhilfebüros63 . Die Vermutung liegt nahe, dass diese in der gleichen Zeit mit einem ähnlichen Phänomen konfrontiert waren wie der Caritasverband. Tatsächlich lässt sich dort eine ähnliche, wenn auch zeitverzögerte Entwicklung feststellen: Auch die kommunalen Sozialhilfebüros stellten seit dem Beginn der 1980er Jahre einen starken Anstieg der Anfragen fest. Kommunalpolitiker trugen diese lokalen Erfahrungen im Jahr 1984 in die Öffentlichkeit und forderten die Regierung zum Handeln gegen eine neue Armut auf. Als erster Kommunalpolitiker lenkte im Juli 1984 der Pariser Bürgermeister Jacques Chirac die Aufmerksamkeit auf ein Phänomen, das er als neue Armut bezeichnete: »Il est mon devoir d’alerter solennellement l’opinion publique sur les problèmes que posent les formes nouvelles de pauvreté qui assaillent Paris et l’ensemble des grandes villes de France«,64 erklärte Chirac am 18. Juli 1984 der Presse. Der Pariser Bürgermeister schilderte die Situation seiner Stadt als dramatisch: Die Unterkünfte für Obdachlose seien überfüllt, zahlreiche Familien seien im Rückstand mit der Zahlung von Mieten und Stromrechnungen und riskierten die Zwangsräumung und die Nachfrage nach Lebensmittelunterstützung habe sich in den letzten drei Jahren verdoppelt65 . Schon unter den regionalen Vertretungen des Secours catholique war es als erste die Pariser Vertretung gewesen, die schon am Ende der 1970er Jahre den Anstieg der Anfragen festgestellt hatte. Auch die kommunalen Sozialhilfebüros der Hauptstadt waren anscheinend die ersten in Frankreich, die dies zu spüren bekamen. Das Phänomen, das die lokal agierenden Akteure als neue Armut beschrieben, manifestierte sich also zuerst in Paris und generell in den großen Städten. Auch die weitere Entwicklung der von Chirac angestoßenen Debatte verdeutlicht dies. Denn der Pariser Bürgermeister fand mit seinem Anliegen Unterstützung bei der Association des maires des grandes villes de France (AMGVF), welche die Bürgermeister aller französischen Großstädte vereinigt. Chirac hatte den Verband darauf gedrängt, die Armutsfrage auf seine Agenda zu setzen66 . Die AMGVF tat dies bei ihrer Versammlung am 13. September 1984, auf der sie auch eine Arbeitsgruppe ins Leben rief, die einen Katalog von Vorschlägen zur Armutsbekämpfung ausarbeiten sollte67 . 63

64 65 66 67

Diese Büros waren 1953 aus der Fusion der ehemaligen bureaux d’assistance und den bureaux de bienfaisance entstanden, vgl. Amédée T, L’aide sociale en France, Paris 8 2004. Zit. nach A-R, Vagabonds, clandestins, handicapés. Ibid. Ibid. Mitglieder der Arbeitsgruppe waren die Bürgermeister von Amiens, Besançon, Dijon, Limoges, Nantes, Paris und Toulon. Die AMGVF weist selbst darauf hin, dass die Arbeitsgruppe auf die Initiative von Chirac hin ins Leben gerufen wurde, vgl. Les maires des grandes villes et la montée de la pauvreté, 9.10.1984, ANF, 19880020/10.

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III. Die Debatte um die neue Armut in Frankreich, 1980–1984

Innerhalb von drei Wochen trug diese Arbeitsgruppe Statistiken über die Entwicklung der kommunalen Sozialhilfe in 23 französischen Großstädten zusammen, dokumentierte die verschiedenen Aktionen der Städte zur Unterstützung ihrer einkommensschwachen Einwohner und erarbeitete anschließend die erwünschte Liste mit Maßnahmen zur Armutsbekämpfung68 . Schon am 4. Oktober konnte die Arbeitsgruppe die Ergebnisse ihrer Arbeit dem Plenum der AMGVF vorstellen. Nach dessen einstimmiger Zustimmung stellte der Verband am 9. Oktober die Vorschläge der Arbeitsgruppe im Senat und in einer Pressekonferenz vor69 . Außerdem fasste er die Analysen der Arbeitsgruppe, inklusive der Berichte aus den 23 verschiedenen Städten, in einer Dokumentation mit dem Titel »Les maires des grandes villes et la montée de la pauvreté« zusammen, der allerdings nicht veröffentlicht wurde70 . Was die Vertreter der verschiedenen Großstädte darin erläutern, gleicht den Beschreibungen des Secours catholique aus seinen Beratungsstellen aufs Haar. Denn erstens stellten auch die kommunalen Sozialhilfebüros generell einen großen Anstieg an Unterstützungsanfragen fest. Der Bürgermeister aus Amiens berichtete von einem Anstieg um 75 Prozent zwischen 1980 und 198471 ; in Lyon bemerkten die Sozialhilfebüros allein in den zwei Jahren zwischen 1982 und 1984 einen Anstieg der Anfragen um 50 Prozent72 . Nicht alle Städte konnten genaue Zahlen über die Entwicklung der Anfragen in ihren Sozialhilfebüros liefern, jedoch berichteten alle generell über deren Anstieg insbesondere seit Beginn des Jahrzehnts73 . Zweitens stieg unter diesen Anfragen auch in den Sozialhilfebüros die Nachfrage nach materiellen Hilfen in Form von Kleidung und Nahrung an. »Les demandes de recours ont changé de nature: elles touchent directement à la satisfaction de besoins vitaux (logement, alimentation, vêtements)«74 , resümierte die Arbeitsgruppe der AMGVF. Und drittens entdeckten die Sozialhilfebüros wie zuvor der Secours catholique auch das neue Profil des Hilfesuchenden. Die AMGVF führte in ihrer Zusammenfassung der Berichte aus den 23 Städten aus: »Des catégories sociales habituellement peu touchés sont dorénavant concernées. Les personnes secourues sont de plus en plus jeunes, isolées et marquées par une série d’échecs«75 . Indes sprach der Verband der Bürgermeister nicht explizit von der Armut der Durchschnittsfranzosen, drückte aber hier die gleiche Idee aus. Im Zentrum seiner Aufmerksamkeit stand die Bedürftigkeit von Menschen mittleren Alters ohne offensichtliche Handicaps, die nicht zur traditionellen Klientel der Sozialhilfebüros gehörten, 68 69 70 71 72 73 74 75

Die Zusammenstellung dieser Einzelanalysen findet sich ibid. Conférence de presse sur la pauvreté, Sénat, intervention de monsieur Jacques Chirac, maire de Paris, 9.10.1984, ANF, 19880020/10. Les maires des grandes villes et la montée de la pauvreté, 9.10.1984, ibid. Ibid., S. 11. Ibid., S. 26. Ibid., S. 10–43. Ibid., S. 6. Ibid., S. 5 f.

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sondern sich erstmals an diese wandten. Auch die AMGVF diagnostizierte also ein Vordringen der Notlagen in mittlere Gesellschaftsschichten. Diese Beschreibung der neuen Armut ruft Ulrich Becks Thesen zur Risikogesellschaft in Erinnerung. Auf den ersten Blick erscheinen sie als Bestätigung seiner These, dass Risiken nicht mehr an Klassengrenzen haltmachen, sondern potentiell jeden treffen können76 . Nach Darstellung der beiden hier analysierten Verbände trifft genau dies auf die neue Armut zu. Allerdings kann die Statistik diese Aussage nicht vollständig bestätigen. Der Secours catholique hatte darauf hingewiesen, dass es insbesondere die Arbeitslosigkeit sei, die die Prekarität der Betroffenen ausgelöst habe. In der Tat war die französische Arbeitslosenquote gerade in der ersten Hälfte der 1980er Jahre stark angestiegen. Der französische Caritasverband hatte erklärt, dass diese einen abrupten Fall (basculement) der Betroffenen in die Armut auslöse. Jedoch fielen die Arbeitslosen nicht plötzlich in die Bedürftigkeit, sondern erlebten eher eine graduelle Verschlechterung ihrer Situation. Je nach Alter und Dauer ihrer vorausgehenden Beschäftigung hatten die Arbeitslosen in Frankreich in dieser Zeit ein Anrecht auf Arbeitslosengeld für eine Dauer von vier Monaten bis zu fünf Jahren. Allerdings wurden bei längeren Versorgungsansprüchen stufenweise Leistungskürzungen vorgenommen. Erst wenn diese Unterstützungsansprüche ausgelaufen waren, hielt der französische Sozialstaat für die Betroffenen keine andere Option bereit als die kommunalen Sozialhilfebüros. Ein Rechtsanspruch auf eine monatliche Mindestsicherung, wie er in der Bundesrepublik seit 1961 im BSHG verankert war, existierte dagegen in Frankreich zu diesem Zeitpunkt noch nicht77 . Insofern wurden nicht alle Arbeitslosen sofort zu Fällen für den Secours catholique oder die kommunalen Sozialhilfebüros. Für einige unter ihnen sah die Situation indes besonders schwierig aus. Denn Jugendliche auf der Suche nach dem ersten Arbeitsplatz, Langzeitarbeitslose oder Arbeitslose mit einer zu kurzen vorausgehenden Beschäftigungszeit hatten kein Anrecht auf diese Unterstützungsleistungen. Genau diese Problemlagen hatten sich seit Beginn der 1980er Jahre stark ausgedehnt. Die Langzeitarbeitslosigkeit sollte 1987 einen Höchststand von einer Million Personen erreichen78 . Ein Sockel von Jugendarbeitslosigkeit hatte sich in Frankreich sogar schon vor 1974 herausgebildet; bis zur Mitte der 1980er stieg die Arbeitslosenquote unter Jugendlichen noch auf 25 Prozent an79 . Es ist zu vermuten, dass es genau diese Menschen waren, die seit Beginn der 1980er Jahre verstärkt an die Türen von kirchlichen und kommunalen

76 77 78

79

Ulrich B, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M. 1986, S. 17–24. B, Solidarität im Vorsorgestaat, S. 94–107. Serge P, Marion S, La perception de la pauvreté en Europe depuis le milieu des années 1970. Analyse des variations structurelles et conjoncturelles, in: Économie et statistique 383–385 (2005), S. 283–305, hier S. 305. R, Jugendarbeitslosigkeit.

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III. Die Debatte um die neue Armut in Frankreich, 1980–1984

Beratungsstellen klopften. Eine insgesamt neue Dynamik in der Armutsstatistik ist damit nicht zu leugnen. Dennoch muss berücksichtigt werden, dass diese Dynamik Grenzen hatte: Einerseits war das Risiko der Arbeitslosigkeit nicht gleichmäßig über die Bevölkerung verteilt, sondern besonders hoch bei Arbeitern und unter diesen wiederum besonders bei Geringqualifizierten verbreitet80 ; andererseits führte Arbeitslosigkeit nicht alle Betroffenen direkt in die Bedürftigkeit, sondern insbesondere die, die keine Rücklagen hatten, weil sie vielleicht zuvor bereits ein geringes Einkommen gehabt hatten. Insofern betraf Armut zu Beginn der 1980er Jahre vielleicht eine potentiell größere Personengruppe, aber nicht alle. Außerdem verweist die Statistik deutlich darauf, dass zwar traditionelle Risiken wie Altersarmut seit den 1970er Jahren tatsächlich rückgängig waren; gleichzeitig kristallisierte sich aber eine hohe Armutsquote von Kindern und Jugendlichen heraus81 . Das Armutsrisiko hatte sich also nicht gleichmäßig auf alle Altersgruppen verteilt, sondern nur von einem Extrem der Alterskette zu anderen verschoben. Darüber hinaus waren traditionelle Risikogruppen wie kinderreiche Familien auch in den 1980er Jahren noch einem kontinuierlich hohen Risiko ausgesetzt82 . Trotz neuer Dynamik konzentrierte sich Armut nach wie vor auf bestimmte Gruppen. Aber auch die begrenzte neue Entwicklungsdynamik hatte ausgereicht, um neues Interesse hervorzurufen. Wie schon erklärt, lässt sich dieses verstärkte Interesse vor allem dadurch erklären, dass sich die entdeckte Dynamik so wenig mit den Vorstellungen der Trente Glorieuses vereinbaren ließ. Mit der jahrzehntelang dominierenden Vorstellung von materieller Not als Phänomen, das von Generation zu Generation weitergegeben und damit auf eine feste Personengruppe begrenzt ist, passte das neue, dynamische Armutsbild nicht zusammen. Die Herausbildung einer neuen Form von Bedürftigkeit hatte also neues Interesse für die Armutsfrage hervorgerufen. In den Debatten um dieses Problem erscheinen nicht nur neue Begrifflichkeiten, sondern auch eine neue Perspektive der beiden hier untersuchten Akteure auf das Phänomen – und auch auf den Sozialstaat. Sie diskutierten die neue Armut als Frage der Unsicherheit. Das illustrieren ihre Beschreibung eines plötzlichen Fallens in die Not hinein, aber auch der Begriff der Prekarität, den der Secours catholique schon benutzt hatte und der auch in den Ausführungen der Bürgermeister auftaucht83 . Eckart Conze hat vorgeschlagen, die Zeit nach 1970 unter dem Schlüsselbegriff der Sicherheit zu untersuchen. Seinen Vorschlag illustriert er mit dem Verweis auf zentrale Fragen militärischer Sicherheit in dieser Zeit84 . Hier wird deutlich, dass 80 81 82 83 84

Ralph S, Histoire de la société française au XXe siècle, Paris 2005, S. 403–407. P, Von der Armut zur Ausgrenzung, S. 340 f. Ibid. Les maires des grandes villes et la montée de la pauvreté, 9.10.1984, ANF, 19880020/10, S. 1. Eckart C, Modernitätsskepsis und die Utopie der Sicherheit. NATO-Nachrüstung und

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sich auch soziale Sicherheit zu einem zentralen Anliegen für die Zeitgenossen entwickelt hatte. Selbstverständlich tauchte diese Frage nicht erst nach 1970 auf. Zweifellos stellt soziale Sicherheit ein Versprechen des Sozialstaats generell dar. Meike Haunschild hat gezeigt, welche wichtige Rolle diese bereits in den 1950er Jahren in den Debatten über die Expansion des Sozialstaates in der Bundesrepublik gespielt hat85 . De bisherige Forschung und auch die vorausgehenden Kapitel zeigen aber deutlich, dass Armut bis in die 1970er Jahre hinein in Frankreich nicht als Frage der Unsicherheit, sondern der Ungleichheit diskutiert worden war86 . Erst zu Beginn der 1980er Jahre zeichnen sich hier Änderungen ab – und zwar in dem Augenblick, als eine Ausdehnung der Bedürftigkeit auf die Mittelschicht entdeckt wird. Deutlich zeigt sich hier, dass die Absicherung der Mittelschicht eine zentrale Erwartung der Zeitgenossen an den Sozialstaat war. Mit der Entdeckung der neuen Armut stellten sie fest, dass der Sozialstaat diese Erwartung nicht erfüllte. Damit kann das Aufkommen der Debatte um neue Armutsrisiken auch gelesen werden als eine Auseinandersetzung über die Diskrepanz zwischen Erwartungen an den Sozialstaat und seine effektiven Leistungen. Sie legt einen Vertrauensverlust der Zeitgenossen in den Sozialstaat offen. Der Soziologe Pierre Rosanvallon hat dem französischen Sozialstaat der 1980er Jahre eine tiefe ideologische Krise attestiert: »Elle [la crise] correspond à la remise en cause d’une machinerie de plus en plus opaque et de plus en plus bureaucratique, qui brouille la perception des finalités et entraîne une crise de légitimité«87 . Die hier analysierten Verbände stellten die Legitimität des Sozialstaats zwar nicht völlig in Frage, so wie Rosanvallon es suggeriert. Tatsächlich führt aber die Entdeckung der neuen Armut sehr wohl dazu, dass sie die Mechanismen des Sozialstaats kritisch hinterfragten. Auch dies stellt eine neue Entwicklung der Debatte im Vergleich zu den 1970er Jahren dar, in denen das Vertrauen in den Sozialstaat ungebrochen war. Auch die Bürgermeister bezeichneten wie der Secours catholique den Anstieg der Bedürftigkeit als eine neue Armut. In der Pressekonferenz am 9. Oktober 1984 erläuterten die Vertreter der Bürgermeisterunion diese Erkenntnisse über den Anstieg der Unterstützungsanfragen und das neue Profil der Betroffenen.

85 86 87

Friedensbewegung in der Geschichte der Bundesrepublik, in: Zeithistorische Forschungen 7 (2010), S. 220–239. Meike H, Freedom versus Security. Debates on Social Risks in Western Germany in the 1950s, in: HSR 41(2016), S. 176–200. Vgl. Kap. I. Pierre R, La nouvelle question sociale. Repenser l’État-providence, Paris 1995. Die ideologische Krise stellt für Rosanvallon nur eine der drei Krisen dar, die der französische Sozialstaat seit den 1970er Jahren erlebt; er diagnostiziert außerdem eine Finanzkrise seit den 1970er Jahren sowie eine philosophische Krise des Sozialstaats seit den 1990er Jahren.

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III. Die Debatte um die neue Armut in Frankreich, 1980–1984

Unter anderem sprachen sie dabei von »nouvelles situations de détresse«88 und »nouvelles structures de précarité«89 . Chirac hatte bei seiner öffentlichen Erklärung im Juli 1984 schon von »nouvelles formes de pauvreté«90 gesprochen. Auch die Arbeitsgruppe nutzte in der Dokumentation ihrer Ergebnisse den Begriff der neuen Armut an verschiedenen Stellen91 . In der Öffentlichkeit war er zu dieser Zeit schon teilweise verbreitet. Wie gezeigt, hatte der Secours catholique schon 1980 von einer neuen Armut gesprochen; auch hatte die Presse dies bereits aufgegriffen. Dass der Begriff sich vor 1984 auch schon in der französischen Verwaltung verbreitet hatte, wird außerdem das folgende Kapitel noch zeigen. Auch die AMGVF griff 1984 diesen Terminus auf, um damit auf die gleichen Inhalte hinzuweisen wie zuvor schon der Caritasverband. Bevor die Abgeordneten im Parlament die neue Armut zu diskutieren begannen, debattierten Kommunalpolitiker sie also schon. Vor allem hatten eine große Anzahl der französischen Großstädte schon erste Schritte zur Bekämpfung dessen eingeleitet, was sie als neue Armut beschrieben hatten. Aus dem Bericht ihrer Arbeitsgruppe geht hervor, dass alle 23 von der AMGVF untersuchten Großstädte eine generelle Erhöhung der Budgets ihrer Sozialhilfebüros vorgenommen hatten. Insbesondere hatten sie die Mittel für die Verteilung von Nahrungsmitteln und Kleidern aufgestockt92 . Darüber hinaus zeigten viele der Städte ein großes Engagement für Obdachlose, indem sie die Aufnahmekapazitäten von Notunterkünften und Aufnahmezentren erhöhten93 . Neun Städte hatten Fonds zur Bezahlung von Mietschulden eingerichtet, um Zwangsräumungen zu verhindern; zusätzlich hatten einige Städte Abkommen mit den Elektrizitäts- und Gaswerken geschlossen, um die Unterbrechung der Versorgung bei Familien mit Zahlungsrückständen zu verhindern94 . In fünf Städten hatten sich Arbeitsgruppen für die Suche nach neuen Wegen der Armutsbekämpfung gebildet95 . Einige Städte hatten in diesem Kontext auch über die Einführung eines garantierten Mindesteinkommens auf kommunaler Ebene zu diskutieren begonnen96 . Die Vorschläge, die die AMGVF dann am 9. Oktober 1984 dem Senat und der Presse vortrug, waren ganz klar von diesen kommunalen Projekten inspiriert. Denn den Kern der Vorschläge bildet die Wohnungsproblematik, 88 89 90 91 92 93 94 95 96

Conférence de presse sur la pauvreté, Sénat, intervention de monsieur Jacques Chirac, maire de Paris, 9.10.1984, ANF 19880020/10. Ibid. Zit. nach A-R, Vagabonds, clandestins, handicapés. Les maires des grandes villes et la montée de la pauvreté, 9.10.1984, ANF, 19880020/10, S. 3. Ibid., S. 10–43. So z. B. in Lyon, Metz, Orléans oder Toulouse, vgl. ibid., S. 26, 28, 33, 41. Ibid., S. 46. Ibid., S. 7. Überlegungen zur Einführung des garantierten Mindesteinkommens wurden zu Beginn des Jahrzehnts u. a. in Lille, Rennes und Nîmes angestellt, vgl. ibid., S. 24, 46; zum Thema kommunale Mindestsicherungen vgl. auch Kap. V.1.

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wobei die Vorschläge der AMGVF von der Einrichtung von Aufnahmezentren für Obdachlose über die Gewährung zinsloser Kredite für Mietzahlungen bis hin zu der Idee reicht, die Einstellung der Strom- und Gasversorgung wegen Zahlungsrückständen für die Zeit zwischen November und März zu verbieten97 . Die Parallelen zwischen der Entdeckung der neuen Armut durch den Secours catholique und durch die Kommunalpolitiker sind deutlich zu erkennen: In beiden Fällen war es die Überforderung der Hilfseinrichtungen vor Ort mit ansteigenden Anfragen, die die Wiederentdeckung des Themas auf nationaler Ebene einleitete. Beide Akteure ähnelten sich auch in der Beschreibung des Phänomens, das sie als neue Armut bezeichneten. Ein wichtiger Unterschied wird dagegen im zeitlichen Verlauf deutlich. Denn während der Secours catholique seit 1980 und damit als erste Organisation auf den Anstieg der materiellen Bedürftigkeit aufmerksam machte, interessierte sich die AMGVF erst 1984 für dieses Thema – ein Befund, der insofern überrascht, als aus den Berichten der Bürgermeister der 23 Großstädte klar hervorgeht, dass auch dort der Anstieg der Anfragen schon seit 1980 spürbar war. Was hatte sich zwischen 1980 und 1984 geändert und das Interesse der AMGVF an Armut entfacht? Zwei Aspekte rücken bei der Suche nach den handlungsleitenden Motiven der AMGVF ins Zentrum. Erstens könnten die Dezentralisierungsgesetze von 1982/83, die einen Teil der großen Reformen Mitterrands nach dessen Wahl darstellten, einen wichtigen Einfluss auf die Mobilisierung der kommunalen Akteure ausgeübt haben. Zwar war natürlich auch in Frankreich schon vor diesem Zeitpunkt die Sozialhilfe Angelegenheit der Kommunen, jedoch wurden diesen mit der loi Defferre darüber hinaus weitere Kompetenzen im sozialen Bereich übertragen, die zuvor noch in den Händen des Staats gelegen hatten98 . Diese Verschiebung der Zuständigkeiten zwischen Staat und Kommunen kann als Katalysator der Diskussion der neuen Armut gedeutet werden. Zweitens scheint auch der politische Wechsel von 1981 das Engagement der AMGVF in der Armutsdebatte beeinflusst zu haben, oder genauer gesagt: das Engagement einzelner Mitglieder der AMGVF. Jacques Chirac war der erste Bürgermeister gewesen, der vor der Presse laut auf die Probleme seiner Stadt aufmerksam gemacht hatte. Vor der Presse hatte er seine Ausführungen mit einer scharfen Anklage der Regierung verbunden. Denn die Armut in Paris und anderen französischen Städten, so Chirac, sei nicht nur durch den Anstieg der Arbeitslosigkeit verursacht worden, sondern auch durch Mängel des Schulund Ausbildungssystems sowie die ungenügende Kontrolle der Immigration. »Autant de domaines qui sont de la responsabilité du gouvernement«99 , resü97 98

99

Les maires des grandes villes et la montée de la pauvreté, 9.10.1984, ANF 19880020/10. Michel B, Les compétences en matière sociale, in: Annuaire des collectivités locales 22 (2002) S. 185–202, hier S. 187–190; D., La décentralisation du »social«. De quoi parle-t-on?, in: Informations sociales 6 (2010), S. 6–11. Zit. nach A-R, Vagabonds, clandestins, handicapés.

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III. Die Debatte um die neue Armut in Frankreich, 1980–1984

mierte der Bürgermeister – und schob der Regierung damit die Schuld für die Entstehung einer neuen Armut zu. Weiter führte er aus, dass die Regierung unter dem Vorwand der Dezentralisierung dieses von ihr verursachte Problem in die Verantwortung der Kommunen abschieben wolle: »L’État renvoie vers les communes des charges insupportables et ce calcul s’habille scandaleusement du prétexte de la décentralisation«100 . Diese Aussage verdeutlicht nicht nur den frontalen Angriff auf die Regierung, sondern bestätigt auch die oben geäußerte These, dass die mit den Dezentralisierungsgesetzen gestiegene Verantwortung der Kommunen für die Sozialhilfe das Interesse der Kommunalpolitiker an der Armutsfrage erhöht hat. Seinen Angriff auf die Regierungspolitik schloss Chirac mit der Ankündigung, dass die AMGVF das Thema auf ihre Agenda setzen würde, und erklärte dies mit den Worten: »Nous y mettrons le gouvernement devant ses responsabilités«101 . Das Verhalten Chiracs suggeriert, dass es diesem um mehr ging, als nur auf die Probleme seiner Stadt aufmerksam zu machen. Vielmehr nutzte er die kommunalen Herausforderungen politisch aus, um so seine Regierungskritik zu formulieren. Damit wird auch deutlich, warum das Armutsthema den Politiker 1980 noch nicht interessiert hatte, war es doch seine eigene Partei RPR, die zu diesem Zeitpunkt gemeinsam mit der UDF die Regierung gestellt hatte. Seit 1981 musste sich die RPR jedoch in der Oppositionsrolle zurechtfinden – eine Rolle, mit der sie keineswegs vertraut war, denn seit ihrer Gründung 1976 war die Partei immer an der Regierung beteiligt gewesen102 . Insofern war die Partei seit diesem Zeitpunkt sicher auf der Suche nach Themen, mit denen sie sich in der Opposition profilieren konnte. Die Kommunalwahlen im März 1983 brachten der RPR und insbesondere Chirac anschließend den nötigen politischen Rückhalt für den Angriff auf die Regierung. Denn in diesen Wahlen, in denen der PS seine Mehrheit in 30 Städten verlor, wurde Chirac als Bürgermeister von Paris nicht nur bestätigt, sondern gewann sogar alle Pariser Arrondissements103 . Rückhalt fand Chirac auch bei der AMGVF, was ebenfalls nicht verwundert, da einer seiner politischen Verbündeten, Jean-Marie Rausch, Mitglied der UDF und Bürgermeister von Metz, seit 1983 deren Vorsitzender war. Die konservativen Kommunalpolitiker attackierten damit die Regierung an einer Flanke, die für diese besonders schmerzhaft sein musste: Sie hielten ihr die Existenz von materieller Not in einem sozialistisch regierten Land vor. Die politische Nutzbarkeit der neuen Armut, die in den folgenden Kapiteln noch eine wichtige Rolle spielen wird, zeichnet sich schon an dieser Stelle ab. Der Begriff der neuen Armut kam jedenfalls »von unten«; er wurde von lokal agierenden Akteuren geprägt und genutzt, um den Anstieg und den Wandel der Unterstützungsanfragen zu beschreiben. 100 101 102 103

Ibid. Ibid. Colette Y, Les partis politiques sous la Ve république, Paris 1989. C, C, D, Histoire de la Ve République, S. 291.

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2. Die neue Armut als Thema von Politik und Verwaltung 2.1. Die Wiederentdeckung der Armut durch die Verwaltung und die Entstehung der ersten französischen Armutsberichte Bis sich das Interesse der politischen Parteien an diesem Begriff entfachen würde, sollte es noch bis zum Herbst 1984 dauern, das haben die eingangs zitierten Forscher betont. Indes verweisen die Quellen darauf, dass sich die französische Verwaltung bereits zuvor, nämlich seit 1980, mit der Armutsfrage beschäftigte und in diesem Zuge auch eine neue Armut zu diskutieren begann. Einen ersten Hinweis auf dieses neue Interesse findet sich in den Arbeiten zur Vorbereitung des achten französischen Wirtschaftsplans, der 1981 in Kraft treten sollte1 . Im Rahmen der Vorbereitung dieses Plans gründete sich eine Arbeitsgruppe mit dem Namen »Paupérisation et personnes isolées«2 . Nachdem soziale Sicherung insgesamt zu den festen Themen bei der Vorbereitung des Plans gehörte, wurde jetzt erstmals auch die Armutsfrage explizit in diesem Kontext diskutiert3 . Die Gruppe, die im März 1980 ihre Arbeit aufnahm, wurde von der bisherigen Forschung kaum wahrgenommen. Tatsächlich diskutierte die Arbeitsgruppe auch bei ihren Treffen keine spektakulär neuen Ideen zu Armut oder brachte neue Vorschläge zur Armutsbekämpfung ein. Interessant ist aber – abgesehen von der Existenz dieser Gruppe überhaupt –, dass die Mitglieder ein Phänomen diskutierten, das sie so beschreiben, wie die oben analysierten Verbände die neue Armut beschrieben hatten. Allerdings sprach die Arbeitsgruppe nicht explizit von neuer Armut, sondern stattdessen von Pauperisierung. Im Protokoll eines ihrer Treffens hielt sie fest: »Des populations en situation précaire mais trouvant par elles-mêmes jusqu’ici la solution à leurs difficultés semblent de plus en plus souvent amorcer un processus de descente sociale que l’on peut à bon droit qualifier de paupérisation«4 . Damit verweist die Arbeitsgruppe auf das gleiche Phänomen wie vorher auch schon Secours catholique und AMGVF, nämlich die Ausdehnung der Armut auf neue, bisher von ihr verschonte Bevölkerungsschichten. Auch das hier genutzte Adjektiv »précaire« hatten die Verbände zur Beschreibung der neuen Armut 1

2 3 4

Frankreich hatte sich im Unterschied zur Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg für die verstärkte staatliche Planung der Wirtschaft entschieden, vgl. Einleitung und K, Nachbarn am Rhein, S. 152. Rapport du sous-groupe »Paupérisation et personnes isolées«, 7.3.1980, ANF 19850293/53. Bruno J, Le social en plan, Paris 1981. Rapport du sous-groupe »Paupérisation et personnes isolées«, 7.3.1980, ANF 19850293/53.

https://doi.org/10.1515/9783110613087-008

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III. Die Debatte um die neue Armut in Frankreich, 1980–1984

schon genutzt. Die Gruppe sprach außerdem von einem »basculement dans ces circuits nouveaux de ménages précaire«5 , nutzte also mit »basculement« einen weiteren zur Beschreibung der neuen Armut bereits verwendeten Terminus. Wie die beiden Verbände begründen sie ihre Feststellung auch mit dem Verweis auf den starken Anstieg der Unterstützungsanfragen bei Sozialdiensten. Zwar folgerte die Arbeitsgruppe aus dieser Erkenntnis nicht mehr, als dass dieses Phänomen einer expliziten Thematisierung sowie einer politischen Bekämpfung bedurfte6 . Wenn man allerdings den Blick auf die 1970er Jahre richtet und sich an das bis zu deren Ende geringe politische Interesse an Armut sowie das Fehlen einer Armutspolitik erinnert, erscheint diese Haltung bereits als wichtige Neuentwicklung. Auch wenn die geforderte Neuorientierung der Politik zunächst nicht folgte, ist es vor allem interessant, dass die Arbeitsgruppe diese Themen schon diskutierte, lange bevor sie die parlamentarische Debatte erreicht hatten. Noch deutlicher wird dieser Vorsprung der Verwaltung vor den politischen Parteien in Bezug auf eine andere Entwicklung in der gleichen Zeit. Und zwar gab am Anfang der 1980er Jahre erstmals eine französische Regierung einen Armutsbericht in Auftrag. Indes war es noch nicht die neue sozialistische Regierung, sondern noch deren konservative Vorgängerin, die sich dieser Frage zuwandte. Im Juni 1980 trug Premierminister Raymond Barre dem Verwaltungsbeamten und Mitglied des französischen Staatsrates7 Gabriel Oheix auf, eine Studie zu Armut in Frankreich und Vorschläge zu deren Bekämpfung auszuarbeiten8 . In Anbetracht des zu diesem Zeitpunkt noch vorherrschenden Desinteresses der politischen Parteien an der Frage überrascht diese Entscheidung. Warum ein Regierungsbericht zu einem Thema, das zu diesem Zeitpunkt noch kaum als politisches Anliegen diskutiert wurde? Daniel Fayard weist darauf hin, dass kurz vor diesem Auftrag bereits zwei Armutsberichte für Frankreich erschienen beziehungsweise im Erscheinen begriffen waren. An der Entstehung beider Berichte war die französische Regierung jedoch nicht beteiligt gewesen. Fayard interpretiert Barres Auftrag daher als Reaktion einer Regierung, die sich durch diese Berichte zum Handeln herausgefordert sah9 . Die erste Initiative für einen der beiden von Fayard erwähnten französischen Berichte hatte 1975 die EG gegeben. Auf deren erstes Armutsbekämpfungsprogramm wurde in Kapitel I schon hingewiesen. Dieses 1975 verabschiedete Programm beinhaltete unter anderem die Erstellung von neun nationalen Armutsberichten in den jeweiligen Mitgliedsländern. In Frank5 6 7 8 9

Ibid. Ibid. Der Conseil d’État ist das höchste französische Verwaltungsgericht, vgl. S, U, Frankreich, S. 130. Der Brief von Barre an Oheix ist am Anfang der Veröffentlichung des Berichts abgedruckt, vgl. Gabriel O, Contre la précarité et la pauvreté. 60 propositions, Paris 1981, S. 1 f. Daniel F, Il y a vingt ans. Le rapport Wresinski, in: Revue Quart Monde (2006/200), https://www.revue-quartmonde.org/416 (22.1.2019).

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2. Als Thema von Politik und Verwaltung

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reich war der Auftrag zur Erstellung dieses Berichts an das Forschungsinstitut FORS (Fondation pour la recherche sociale) gegangen. Seit 1976 mit diesem Projekt betraut, veröffentlichte die FORS im Dezember 1980 ihre Ergebnisse in einem Bericht mit dem Titel »La pauvreté et la lutte contre la pauvreté«10 . Eine andere Institution war ihr in der Zwischenzeit mit einem weiteren Bericht schon zuvorgekommen. Denn im Dezember 1976 hatte der französische Wirtschafts- und Sozialrat – anscheinend angeregt durch eine Initiative der EG11 – ebenfalls den Auftrag zum Verfassen eines Armutsberichts erteilt. Der Medizinprofessor Henri Pequignot, der mit dieser Aufgabe betraut worden war, hatte die Ergebnisse seiner Arbeit schon im September 1978 dem Plenum des Rats vorgestellt. Die Vollversammlung hatte den Bericht jedoch nicht zur Abstimmung gestellt, woraufhin er politisch folgenlos blieb. Ein anderes Szenario wäre dabei denkbar gewesen, denn die französische Verfassung hatte dem CES Möglichkeiten zur direkten Einwirkung auf die Regierung eingeräumt. Seiner Funktion, die Regierung in wirtschaftlichen und sozialen Fragen zu beraten, kam der Rat unter anderem dadurch nach, dass er sich jenseits von konkreten Gesetzesinitiativen mit Themen beschäftigte und dazu auch Studien erstellen ließ – so wie im Falle des Armutsberichts von 1979. Wenn über diese Studien im Plenum abgestimmt und sie mit einer Stellungnahme des Rats verabschiedet wurden, verpflichtete dies die Regierung zu einer Reaktion innerhalb einer bestimmten Frist12 . 1979 wählte der Rat aber absichtlich nicht diesen Weg und begründete dies mit seinem Wunsch nach Neutralität in dieser Frage13 . Dass diese Haltung sich im Laufe der Zeit noch ändern würde und der Rat acht Jahre später jeglichen Wunsch nach Neutralität in dieser Hinsicht abgelegt, seinen zweiten Armutsbericht mit einer Stellungnahme versehen und abgestimmt haben würde, wird in späteren Kapitel noch aufgezeigt14 . An dieser Stelle ist nur festzuhalten, dass der Wirtschafts- und Sozialrat 1978 noch keine

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La pauvreté et la lutte contre la pauvreté. Rapport français présenté à la Commission des communautés européennes, hg. v. FORS, Paris 1980. Im Vorwort nahm der Verfasser, der Medizinprofessor Henri Pequignot, u. a. Bezug auf die vier Pilotprojekte, die mit der Finanzierung der EG in Frankreich durchgeführt werden konnten, vgl. La lutte contre la pauvreté, AN, JO. Avis et rapports du Conseil économique et social, 6.3.1979, S. 366–443, hier S. 367. S, U, Frankreich, S. 104. »On ne trouvera pas dans ces pages un programme ou un projet de programme, une politique espérant supprimer les phénomènes étudiés. Cela n’est pas fortuit, un large consensus s’est établi dans la section pour penser qu’il n’était pas possible d’arriver à mettre une telle politique dans le cadre qui nous était imparti car c’eût été véritablement prendre parti sur l’ensemble des problèmes politiques, économiques, sociaux et fiscaux et un tel objectif paraissait hors de portée à notre section. C’est donc en pleine conscience que la section a préféré une étude à prétention plus modeste à un rapport pour avis«, La lutte contre la pauvreté, AN, JO. Avis et rapports du Conseil économique et social, 6.3.1979, S. 366–443, hier S. 368. Vgl. dazu Kap. V.

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III. Die Debatte um die neue Armut in Frankreich, 1980–1984

Stellung in Armutsfragen beziehen wollte und sein Bericht damit zunächst ohne direkte Folgen auf die Politik blieb. Obwohl er seinen Bericht im Plenum nicht zur Abstimmung stellte, veröffentlichte der Rat ihn allerdings, und zwar im März 1979. Damit erschienen 1979 und 1980 die ersten beiden Armutsberichte für Frankreich. Beide Studien enthielten keine direkten Aufforderungen oder Handlungsempfehlungen an die Regierung. Premierminister Barre stellt in seinem Auftrag für den Armutsbericht auch keinen Bezug zu diesen Studien her. Dass die Regierung sich durch diese Berichte zum Handeln aufgefordert fühlte – so wie Fayard es suggeriert –, kann jedoch vermutet werden. In den beiden Berichten von 1979 und 1980 war von einer neuen Armut oder einem Wandel des Phänomens noch keine Rede gewesen. Auch in den Anweisungen des Premierministers an den Staatsrat Oheix tauchten diese Aspekte nicht auf. Im Gegenteil, die Formulierungen Barres spiegeln eindeutig das Armutsbild wider, das in den Trente Glorieuses verbreitet war. Schon an seiner Aufforderung an den Staatsrat, er solle Maßnahmen zur Reduktion der »îlots de pauvreté«15 ausarbeiten, wird dies deutlich. Im Bericht, den Oheix im Februar übergab, tauchten dieser und andere für die Trente Glorieuses typische Begriffe jedoch nicht mehr auf. Stattdessen finden sich im Bericht, der offiziell den Titel »Contre la précarité et la pauvreté« trug, jedoch schnell nach dem Verfasser als »Rapport Oheix« bekannt wurde, Ausführungen über die Entstehung einer neuen Armut. In seinem Bericht nahm Gabriel Oheix eine definitorische Abgrenzung zwischen einer »pauvreté traditionelle«16 und einer »nouvelle pauvreté«17 vor. Über Erstere führt er aus, sie sei durch Immobilität gekennzeichnet, und zwar in geografischer, familiärer und beruflicher Hinsicht: Sie reproduziere sich innerhalb derselben Familien und in den gleichen Gebieten. Die neue Armut dagegen beschreibt er wie folgt: »Il ne s’agit donc pas ici de familles jugées socialement pauvres, mais de ménages normalement insérées dans la société, qui se trouvent pris dans un processus d’exclusion progressive. Il peut même s’agir de personnes disposant d’un certain niveau de vie avant d’être engagées dans ce processus«18 . Oheix formuliert damit die gleiche Idee wie zuvor schon der Secours catholique, nämlich die von der neuen Armut als der Ausdehnung von Notlagen auf neue Bevölkerungsschichten. Deren Situation beschrieb er ebenfalls als Prekarität: »Il s’agit de ménages en situation précaire, c’est-à-dire vulnérables à toute diminution de leur pouvoir d’achat«19 . Welchen zentralen Stellenwert dieser Aspekt der Prekarität für Oheix einnimmt, lässt sich daran ablesen, dass er ihn in den Titel seiner Studie aufnahm und den

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O, Contre la précarité, S. 1. Ibid., S. 14. Ibid., S. 15. Ibid. Ibid.

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Bericht über die Reduktion sogenannter Armutsinseln umwidmet zu einer Studie »Contre la précarité et la pauvreté«20 . Mit dem Prekaritätsbegriff prägt dabei keiner der hier zitierten Akteure einen völlig neuen Begriff. Schon in den 1970er Jahren hatte sich der Terminus zunächst im politischen und dann im sozialwissenschaftlichen Diskurs in Frankreich etabliert und wurde vor allem im Kontext der »précarité de l’emploi«21 , der unsicheren Beschäftigungsverhältnisse, gebraucht. Als neu kann aber doch die hier aufgedeckte feste Verbindung des Begriffs mit Armut gesehen werden22 , die sich in den folgenden Jahren fest etablieren würde23 . In seiner Ausdeutung der Armutsfrage nähert sich der Bericht also deutlich den oben analysierten Verbänden an. Er nutzte nicht nur ähnliches Vokabular, sondern beschrieb damit auch genau die Phänomene, auf die sie aufmerksam gemacht hatten. Wodurch können diese Ähnlichkeiten erklärt werden? Die Großstädte hatten in der Zeit, in der der Bericht erarbeitet wurde, zwar den Anstieg der Anfragen in den Sozialhilfebüros schon festgestellt, aber vor 1984 noch nicht an die Öffentlichkeit gebracht. Anders der Secours catholique, der ihn schon seit 1980 in Publikationen genutzt hatte. Dass der Verfasser des Berichts diese Publikationen rezipiert hatte, kann vermutet werden. Darüber hinaus weisen die Quellen aber auf einen noch engeren Zusammenhang zwischen dem Caritasverband und dem ersten Armutsbericht für die Regierung hin. Zwar geben die Bestände des Nationalarchivs zum Rapport Oheix keine Auskunft über dessen Entstehungsprozess, jedoch weist der Secours catholique selbst darauf hin, dass Oheix ihn um Mitarbeit bei der Abfassung des Berichts gebeten habe. Begonnen habe die Einbeziehung des Verbandes mit einer Anhörung zweier seiner Vertreter; anschließend hätten Mitglieder des Secours catholique an den Sitzungen der Unter-Arbeitsgruppen für den Bericht teilgenommen und auch Vorschläge für den Text des Berichts gegeben24 . Auf diesem Weg konnten also 20 21 22 23

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Ibid. Jean-Claude B, La précarité. Une catégorie française à l’épreuve de la comparaison internationale, in: Revue française de sociologie 2 (2005), S. 351–371, hier S. 352–355. Patrick C, La précarité, Paris 3 2011, S. 81–89. Prominente Beispiele dafür sind die Armutsbekämpfungsprogramme, die seit 1984 als programmes contre la pauvreté et la précarité bezeichnet wurden, und der Armutsbericht von Joseph Wresinski für den Wirtschafts- und Sozialrat, vgl. D, L’»urgence sociale«, S. 21; Grande pauvreté et précarité économique et sociale, AN, JO. Avis et rapports du Conseil économique et social, 28.2.1987. N. N., Écho d’une action qui s’appelle »institutionnelle«, in: Messages du Secours catholique 324 (1981), S. 8; François G, Contre la pauvreté en France: 60 propositions en 140 pages, in: Messages du Secours catholique 327 (1981), S. 7. Oheix hatte nicht nur den Secours catholique, sondern auch ATD Quart Monde zur Vorbereitung des Armutsberichts eingeladen. Die Mitarbeit von ATD an diesem und anderen Armutsberichten wird in Kap. V noch ausführlich thematisiert. Die Beteiligung der Verbände an der Entstehung der ersten Armutsberichte in Frankreich und der Bundesrepublik analysiert außerdem: Sarah H, Armutsberichterstattung, Staat und Wohlfahrtsverbände in Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland in den 1980er Jahren, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 26 (2015), S. 149–169.

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III. Die Debatte um die neue Armut in Frankreich, 1980–1984

Begriffe wie neue Armut und Prekarität, aber auch die Problembeschreibungen der lokal agierenden Verbände in den Regierungsbericht gelangen. Mit dem Rapport Oheix thematisierte und definierte erstmals ein offizielles Dokument für die Regierung die Frage der neuen Armut. Ein weiteres sollte kurz darauf folgen. Denn kurz nach der Aufnahme der Regierungsgeschäfte gab die neue sozialistische Regierung unter Premierminister Pierre Mauroy selbst einen Armutsbericht in Auftrag. Schon im Mai 1982, und damit nur 15 Monate nach Übergabe des Rapport Oheix, überreichte der Verwaltungsbeamte Dominique Charvet der Sozialministerin Nicole Questiaux das Ergebnis. Im Unterschied zum Rapport Oheix wurde dieser Bericht mit dem Titel »Les carences de la protection sociale«25 nicht veröffentlicht. Sowohl Charvets Situationsanalyse als auch seine Vorschläge zur Bekämpfung von Armut ähneln denjenigen von Oheix jedoch sehr26 . Oheix hatte insgesamt 60 Vorschläge zur Armutsbekämpfung gemacht, wozu er von Barre ja explizit aufgefordert worden war. Seine Arbeitsgruppe hatte als erstes und zentrales Problem ein »dysfonctionnement de nos systèmes sociaux«27 festgestellt. Dies äußere sich einerseits darin, dass einige Leistungsbezieher die ihnen zustehenden Zahlungen nicht regelmäßig erhielten, andererseits darin, dass für einige Gruppen im bestehenden Sicherungssystem gar nichts vorgesehen sei. Ausdrücklich hatte der Bericht hier die Langzeitarbeitslosen hervorgehoben28 . Unter den 60 Vorschlägen fanden sich so einige zur Abänderung des bestehenden Sicherungssystems, insbesondere der Vorschlag zur Einführung einer gesetzlich garantieren Mindestsicherung29 . Dass der Rapport Charvet ebenfalls die Mängel des Sicherungssystems zu seinem Hauptthema machte, lässt schon sein Titel »Les carences de la protection sociale« mehr als deutlich erkennen. Hier ging es also nicht mehr wie in den 1970er Jahren wieder nur um die Erhöhung bestehender Sozialleistungen. Ein Stück dieses Vertrauens in den Sozialstaat, das damals noch bestanden hatte, schien inzwischen verloren gegangen zu sein, das illustrieren die Sozialstaatskritik und die Änderungsvorschläge, die beide Berichte formulieren. Insgesamt legt die zeitliche und inhaltliche Nähe der beiden Berichte nahe, dass es der neuen Regierung mit dem Rapport Charvet auch nicht um die Analyse einer neuen Problemlage ging, sondern viel eher um die Abgrenzung von der Vorgängerregierung mit einem eigenen Bericht. Dass diese Armutsberichte mehr als neutrale Analysen darstellten, sondern auch über eine deutlich politische Komponente verfügten, wird hier deutlich. Wie seine drei Vorgänger

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Les carences de la protection sociale. Rapport Dominique Charvet, 15.3.1982, ANF 19880020/10. Ibid. O, Contre la précarité, S. 132. Ibid. Ibid., S. 26.

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erfuhr auch der Bericht von Charvet »ni publicité ni écho«30 . Indes gab die Regierung noch im gleichen Jahr einen weiteren Armutsbericht in Auftrag. Wie schon 1980 stand die Beschäftigung mit dem Thema auch im Oktober 1982 im Zusammenhang mit der Vorbereitung des Wirtschaftsplans. Diesmal forderte der Minister für Wirtschaftsplanung, Michel Rocard, für die Vorbereitung des neunten Wirtschaftsplans sogar einen Armutsbericht an. Bisher hatte die Regierung ihre Berichte bei hohen Staatsbeamten in Auftrag gegeben. 1982 änderte sich dieses Muster, denn Rocard erteilte den Auftrag für seinen Bericht an den Vorsitzenden von ATD Quart Monde31 . Schon im Januar 1983 veröffentlichte dieser daraufhin sein Ergebnis unter dem Titel »Enrayer la reproduction de la grande pauvreté«32 . Von neuer Armut war in diesem Bericht keine Rede – was nicht überrascht, denn ATD Quart Monde lehnte den Begriff sowie generell die Zweiteilung in neue und traditionelle Formen von Armut ab.33 . Zwischen 1979 und 1983 erschienen damit insgesamt fünf Armutsberichte, in kurzem Abstand und innerhalb eines kurzen Zeitraums. Für die letzten drei hatte die Regierung selbst den Auftrag gegeben, was deren steigenden Bedarf an Wissen über das Phänomen illustriert. Für die Bundesrepublik hat Gabriele Metzler bereits herausgestellt, dass schon seit den 1960er Jahren verstärkt Wissen als Grundlage politischen Handelns herangezogen wurde. Sie beschreibt den generellen Aufschwung von Planungskonzepten seit dieser Zeit und betont, dass wissenschaftliche Experten sich in dieser Zeit stärker im politischen Prozess zu Wort meldeten und dort auch Gehör fanden34 . Auch Lutz Raphael hat sich mit der Frage nach der Rolle von Experten speziell in sozialpolitischen Angelegenheiten befasst. Wie Metzler betont er die wachsende Bedeutung von Expertenwissen und zeigt für die Bundesrepublik, dass sich dort seit den 1970er Jahren die Praxis der Absicherung durch Experten in sozialpolitischen Fragen verstetigte35 . Auch für Frankreich scheint dieses Urteil zuzutreffen. Aus den hier untersuchten Quellen geht deutlich hervor, dass der Bedarf der Regierung an Expertenwissen in armutspolitischen Fragen anstieg. Dass sie dafür unter anderem karitative Verbände heranzog, illustriert, dass Experten zu diesem Zeitpunkt nicht unbedingt als sozialwissenschaftliche

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Michel A, Les paradoxes du travail social, Paris 2004, S. 107. Vgl. dazu den Brief von Michel Rocard an Joseph Wresinski mit dem Auftrag, den Armutsbericht zu verfassen, der am Anfang des Berichts abgedruckt ist: Joseph W, Enrayer la reproduction de la grande pauvreté, in: Rapports de mission au ministre d’État, ministre du Plan et de l’Aménagement du territoire, hg. v. Ministère du Plan et de l’Aménagement du territoire, Paris 1983, S. 87–118, hier S. 91 f. Ibid. Weiteres zu diesem Bericht in Kap. V und in H, Armutsberichterstattung. Gabriele M, Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft, Paderborn 2005, S. 151–260. Lutz R, Experten im Sozialstaat, in: H (Hg.), Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit, S. 231–258, hier S. 251–253.

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III. Die Debatte um die neue Armut in Frankreich, 1980–1984

Experten zu verstehen sind, sondern jenseits von akademischen Positionen vor allem als Kenner eines bestimmten Terrains. Nicht nur die Verbände, sondern auch die französische Verwaltung beschäftigte sich seit 1980 mit der Armutsfrage und entdeckte dabei auch eine neue Armut. Die Beschäftigung der Verwaltung mit diesem Thema ging der parteipolitischen Debatte damit deutlich voraus, um über vier Jahre.

2.2. Das Vordringen der Debatte in den parlamentarischen Raum: neue Armut als Oppositionsthema Ein wichtiger Auslöser für die Beschäftigung der Verwaltung mit Armut und die Entstehung der ersten Berichte zu diesem Thema waren das erste Armutsbekämpfungsprogramm der EG und die damit verbundenen Armutsberichte. Graham Room verweist darauf, dass diese Berichte in manchen Ländern auch den Anstoß für eine öffentliche Debatte um die materielle Not im eigenen Land gegeben haben, so beispielsweise in Italien36 . Für Frankreich ist dies nicht feststellbar, denn um den Bericht für die EG gab es keine öffentliche Debatte. Indes weist die Forschung darauf hin, dass dem ersten Bericht für die französische Regierung, dem Rapport Oheix, eine wichtige Rolle bei der öffentlichen Diskussion von Armut zukomme. Jean-Hugues Déchaux sieht den Bericht als Auslöser einer großen Medienaufmerksamkeit an der neuen Armut37 ; Johann Wilhelm bescheinigt dem Bericht großen Einfluss auf die Bildung eines neuen Problembewusstseins in Regierungskreisen38 ; Noëlle Mariller sieht ihn als Ursache für den Wandel der Armutspolitik39 . Ein erhöhtes Interesse der Medien an der Armutsfrage insgesamt lässt sich mit dem Erscheinen des Berichts tatsächlich feststellen40 . Nach öffentlichen Reaktionen der Parteien sucht man jedoch vergebens. In der Nationalver36 37 38 39

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R, Armut und soziale Ausgrenzung, S. 268. D, Pauvreté ancienne et nouvelle, S. 8. Johann W, Neue Armut in Frankreich. Sozialpolitische und sozialarbeiterische Reaktionen, in: Neue Praxis 6 (1986), S. 515–528, hier S. 519. Noëlle M, Le plan gouvernemental français contre la pauvreté et la précarité, in: Alain F, Marie- France M, Jacques W (Hg.), La pauvreté. Une approche plurielle, Paris 1985, S. 104–114, hier S. 105. »Le Monde« berichtete nicht nur ausführlich über die Übergabe des Berichts an die Regierung, sondern widmete dem Thema der neuen Armut auch eine Serie von Artikeln, vgl. Michel C, Pauvres de toujours et pauvres d’aujourd’hui, I: Les ratés de l’école et de l’administration, in: Le Monde, 3.3.1981; II: De la salle commune au blockhaus, ibid., 4.3.1981; III: Les deux mamelles sèches, ibid., 5.3.1981; IV: Des trous dans la couverture sociale, ibid., 6.3.1981; D., Un rapport préconise l’attribution d’un »soutien social« aux plus démunis, ibid., 24.3.1981; D., Un nouveau rapport sur la pauvreté en France. Un développement inquiétant, ibid., 17.4.1981.

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sammlung wurde der Bericht nicht einmal besprochen; bei einer seiner ersten Erwähnungen handelt es sich sogar um die Aussage eines Abgeordneten, der das völlige Vergessen des Berichts beklagte41 . Die These des direkten Einflusses des Berichts auf die Armutsdebatte ist damit in Frage zu stellen. Über Gründe dafür kann nur spekuliert werden. Sicher ist einerseits der Zeitpunkt seiner Übergabe an die Regierung zu berücksichtigen, nach dem die Regierung nur noch wenige Monate im Amt blieb. Dass die neue sozialistische Regierung nur wenig Interesse an einem Bericht für ihre Vorgänger zeigte, ist anzunehmen. Andererseits hätte dieser Zeitpunkt den Bericht auch geradezu dazu prädestinieren können, zu einem großen Wahlkampfthema zu werden – so wie es bei der folgenden Präsidentschaftswahl 1988 mit einem anderen Armutsbericht der Fall sein sollte42 . Mit dem Bericht von 1981 passierte dies noch nicht, was darauf schließen lässt, dass die französischen Parteien sich von seiner Thematisierung zu diesem Zeitpunkt noch nichts versprachen. Dieses Urteil kann nicht nur für den Bericht, sondern für die Armutsfrage insgesamt zu diesem Zeitpunkt getroffen werden: Die Parteien versprachen sich nichts davon. Denn weder der Bericht noch das Armutsthema überhaupt spielten im Wahlkampf 1981 eine Rolle. Keiner der zehn Kandidaten, die im April 1981 für den ersten Wahlgang antraten, erwähnte in seinen Vorschlägen eine neue Armut43 . Auch das Wahlprogramm Mitterrands enttäuscht in dieser Hinsicht. Zwar war der sozialistische Kandidat, der sich gemeinsam mit dem amtierenden Präsidenten Valéry Giscard d’Estaing für den zweiten Wahlgang qualifiziert hatte, mit zahlreichen und tiefgreifenden Reformvorschlägen in den Wahlkampf gezogen. Deutlich setzten diese sich vom »Programme commun« von 1972 ab. Insbesondere hatte die sozialistische Partei sich nach dem Bruch ihres Bündnisses mit dem PCF ideologisch mehr nach links orientiert44 , was in ihrem 1980 verabschiedeten »Projet socialiste« klar zum Vorschein kommt45 . Auf dieser neuen Leitlinie des PS gründeten sich auch Mitterrands 110 Wahlkampfvorschläge, die die sozialistische Partei auf ihrem Parteitag im Januar 1981 in Créteil angenommen hatte46 . Selbstverständlich umfassten einige dieser Vorschläge auch sozialpolitische Maßnahmen, wie beispielsweise 41

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Der Abgeordnete Jacques Barrot hatte moniert: »Je regrette vivement que les recommandations du rapport Oheix aient été complètement oubliées depuis 1981«, JO. Débats parlementaires, AN, 13.12.1984, S. 6918. Vgl. dazu Kap. V. N. N., Les principales propositions économiques des dix candidats, in: Le Monde, L’élection présidentielle 26 avril–10 mai 1981. La victoire de M. Mitterrand. Supplément aux dossiers et documents du Monde, Mai 1981, S. 76–79. Ysmal spricht vom »virage à gauche« des PS seit 1979, vgl. Y, Les partis politiques. Der PS optierte darin klar für eine umfassende staatliche Wirtschaftsplanung und für die Verstaatlichung privater Unternehmen – Themen, die im Laufe der 1970er Jahre wegen der Zurückhaltung der Sozialisten immer wieder zu Streit mit der kommunistischen Partei geführt hatten. Vgl. Projet socialiste pour la France des années 1980, hg. v. Parti socialiste, Paris 1980; Y, Les partis politiques. C, C, D, Histoire de la Ve République, S. 278.

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III. Die Debatte um die neue Armut in Frankreich, 1980–1984

die Versprechen zur Anhebung des Mindestlohns, der Mindestrente, des Kindergeldes und des Behindertengeldes47 . Dass all diese Maßnahmen, die vom PS schon im »Projet socialiste« von 1980 unter dem Schlagwort der »réduction des inégalités«48 präsentiert wurden, potentiell Armut verhindern oder verringern können, ist offensichtlich. Jedoch zielte keiner der Vorschläge explizit darauf. An keiner Stelle ihres Programms stellte die sozialistische Partei diese als explizites Ziel der Maßnahmen heraus. Mitterrand selbst begründete die Notwendigkeit dieser Maßnahmen vor allem im Hinblick auf sein wirtschaftspolitisches Programm. Dies beruhte auf der grundsätzlichen Idee, die Wirtschaft durch Konsum anzukurbeln und damit aus der Krise zu führen49 . »Cette relance se fera par et pour la réduction des inégalités«50 , erklärte der sozialistische Kandidat und verdeutlichte damit, dass die Erhöhung der Sozialleistungen vor allem die Kaufkraft der unteren Einkommensschichten und so deren Konsum steigern sollten. Das Ziel der Beseitigung der Armut schien Mitterrand indes nicht zu verfolgen. Neben dieser generellen Erhöhung verschiedener Sozialleistungen richteten sich die sozialpolitischen Forderungen der Sozialisten vor allem auf die Situation alter Menschen. Die Verbesserung ihrer Lebenssituation stellte Mitterrand als sein zentrales Anliegen heraus51 – und fokussierte damit die Bevölkerungsgruppe, die auch in den 1970ern durchgehend als die klassische Risikogruppe für Armut diskutiert worden war. Die Hinweise der Verbände auf die Verjüngung der Unterstützungsempfänger hatte er offensichtlich noch nicht rezipiert. Auch am Vokabular des Wahlkampfprogramms der Sozialisten zeigen sich im Hinblick auf die Annäherung an Armut deutliche Kontinuitäten zu den 1970er Jahren. Mit der »réduction des inégalités« standen die sozialpolitischen Forderungen des PS 1981 noch unter dem gleichen Schlagwort wie schon in den Wahlkämpfen der 1970er Jahre. Der konzeptionelle Umbruch von der Ausdeutung der Armut als Ungleichheit hin zur Unsicherheit, wie er sich bei den Verbänden und in der Verwaltung gezeigt hatte, hatte sich bei den Parteien in dieser Zeit also noch nicht vollzogen. Die Forschung weist zu Recht darauf hin, dass sich die 110 Vorschläge der sozialistischen Partei deutlich vom »Programme Commun«, dem gemeinsamen Programm der Sozialisten und Kommunisten von 1972, absetzten; im Hinblick auf die Annäherung der Partei an Armut zeigen sich in diesen Vorschlägen jedoch eindeutige Kontinuitäten. Insgesamt fielen die Impulse der Verbände und Verwaltung keineswegs in einen ungünstigen Zeitraum, im Gegenteil: Ihre zeitliche Nähe zu den Wahlen und zum politischen Wechsel hätte sich positiv auswirken können, denn sie 47 48 49 50 51

Parti socialiste, 110 propositions pour la France, in: Le Poing et la Rose 91 (1981), S. 12–15. Projet socialiste, S. 173 f. C, C, D, Histoire de la Ve République, S. 286–287. Zit. nach N. N., Le plan Mitterrand, in: L’Express, 4.–10.4.1981. Bernard M, François Mitterrand. Ce que je ferais. . . , in: Le Parisien, 13.4.1981; vgl. N. N., M. Mitterrand. La dignité des personnes âgées, in: Le Monde 23.4.1981.

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bot die Chance, die Armut zum Wahlkampfthema zu machen. Dass aber keine der Parteien diese Möglichkeit ergriff, lässt darauf schließen, dass sich die Parteien durchweg keine politischen Gewinne von der Aufnahme dieses Themas versprachen. Noch bis 1981 stellte Armut in Frankreich also eine Frage dar, für die die Öffentlichkeit wenig sensibilisiert war, für die sich Parteien nicht interessierten und die nicht zum Gegenstand politischer Debatten wurde. Weder die ersten Armutsberichte noch die ersten öffentlichkeitswirksamen Aktionen des Secours catholique hatten daran etwas ändern können. Auch nach der Wahl änderte sich zunächst wenig an dieser Situation. Noch bis 1984 blieb das Thema auch der Nationalversammlung fern. Zwar fiel in der Haushaltsdebatte im November 1982 zum ersten Mal der Begriff der neuen Armut – um allerdings anschließend direkt wieder zu verschwinden. Es war der sozialistische Abgeordnete Jean-Michel Belorgey, der im Rahmen der Budgetdiskussion die Regierung mit dem folgenden Plädoyer zum Handeln aufforderte: Le sens de mon intervention est de vous dire qu’il y a urgence. [. . . ] Une urgence que je dirais à peine politique car le propre des couches sociales marginalisées est de n’avoir guère d’expression politique, ni dans un sens ni dans un autre; et cela vaut autant pour les pauvres consolidés – le quart monde d’Aide à toute détresse que d’autres mouvements préfèrent appeler autrement – que pour ceux que l’on appelle, bien maladroitement, les nouveaux pauvres [. . . ]. Non pas une urgence politique donc, mais une urgence humaine52 .

Belorgey selbst macht damit deutlich, dass er den Begriff der neuen Armut nicht für treffend hielt. Wie er zu diesem gekommen ist, legen jedoch seine anschließenden Ausführungen dar, denn er zitiert ausführlich den Secours catholique, dessen Statistiken und dessen Klagen über die Ausbreitung der materiellen Bedürftigkeit53 . Aus Belorgeys Ausführungen wird damit vor allem zweierlei deutlich: Einerseits, dass die Botschaft des französischen Caritasverbandes zu diesem Zeitpunkt zumindest bei einem Abgeordneten angekommen und sein Anliegen wahrgenommen worden war. Andererseits zeigen seine Ausführungen auch, dass Belorgey sich selbst und das Parlament für diese Frage nur begrenzt zuständig sah. Denn in seinem Plädoyer bezeichnete er Armut zwar als drängendes, nicht aber als politisches Problem. Belorgey stellte sie als »urgence humaine«54 , als menschliche Notlage dar. Er appelliert an menschliche Gefühle und versucht, das Handeln aus einem Gefühl mitmenschlicher Solidarität zu schaffen. Mit keinem Wort dagegen äußerte er sich zur Frage nach der Zuständigkeit des Staates für die benachteiligte Bevölkerung oder auch der Rolle seiner eigenen Partei, die seit ihrer Gründung häufig die Rolle der Verteidigerin der Schwachen eingefordert hatte. Stattdessen sprach er sogar von einer »urgence que je dirais à peine politique«55 und etikettierte 52 53 54 55

JO. Débats parlementaires, AN, 18.11.1982, S. 7403. Ibid. Ibid. Ibid.

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III. Die Debatte um die neue Armut in Frankreich, 1980–1984

die Armutsfrage damit explizit als unpolitisch. Auch darin zeigt sich wieder die Kontinuität zum Armutsbild der 1970er Jahre, das Bedürftigkeit als eine individuelle Notlage und damit als wenig politisches Anliegen sah. Man mag einwenden, dass es sich bei Belorgeys Aussage nur um die Meinung eines einzelnen Abgeordneten handelt, die keine Rückschlüsse auf das generelle Armutsbild der politischen Entscheidungsträger zulässt. Belorgeys Thesen von materieller Not als menschlicher, aber unpolitischer Problemlage blieben in der Nationalversammlung unwidersprochen, und auch sein Aufruf zur Armutsbekämpfung verhallte. Beides legt die Vermutung nahe, dass zu diesem Zeitpunkt viele der Abgeordneten Belorgeys Meinung teilten und Armut zu dieser Zeit nicht als politische Frage und damit nicht als ihre Zuständigkeit sahen. Das generelle Schweigen zu diesem Thema im Parlament dauerte nach dieser ersten Erwähnung der neuen Armut noch anderthalb Jahre an. Eine Änderung der Situation zeichnet sich erst im Herbst 1984 ab – so wie die Forschung dies auch mehrfach unterstrichen hat. Der Aufschwung des Interesses äußert sich zunächst darin, dass zwei Abgeordnete in der Fragestunde an die Regierung Anfragen zu Armut stellten. Am 4. Oktober war es der liberalkonservative Abgeordnete Adrien Zeller, der eine Anfrage zu »Le problème de la grande pauvreté« eingereicht hatte. Wenige Tage später folgte sein Parteikollege Loïc Bouvard mit einer weiteren Anfrage56 . In der Haushaltsdebatte der folgenden Monate kehrte seitdem das Armutsthema an verschiedenen Stellen wieder57 . Vor allem beschloss die Regierung noch im Oktober 1984 ein umfangreiches Programme contre la pauvreté et la précarité«, das mit einem Budget von 500 Millionen Franc ausgestattet wurde58 . Nur schwer kann dieser plötzliche Anstieg des Interesses an diesem Thema mit den Armutsberichten in Verbindung gebracht werden, die lange vor diesem Zeitpunkt veröffentlicht worden waren. Auffällig ist dagegen die zeitliche Nähe zu den Appellen der Bischöfe und der Bürgermeister. Der Secours catholique war im September mit einer weiteren Publikation zu Armut an die Öffentlichkeit getreten; die Sozialkommission der Bischofskonferenz hatte diese Publikation in ihrem Appell aufgegriffen und am 2. Oktober veröffentlicht. In der gleichen Woche trat auch die AMGVF mit ihren Vorschlägen zur Armutsbekämpfung auf, die sie am 4. Oktober einstimmig angenommen und am 9. Oktober im Senat vorgestellt hatte. Und genau in dieser Zeit stellten die ersten Abgeordneten 56

57 58

JO. Débats parlementaires, AN, 3.10.1984, S. 4473; ibid., 12.10.1984, S. 4674. Im Rahmen der »Questions au gouvernement« haben die französischen Abgeordneten die Möglichkeit, zweimal pro Woche Fragen zu Themen einzubringen, die nicht auf der Tagesordnung der Nationalversammlung verankert sind. Jeder Fraktion steht bei dieser Fragestunde eine festgelegte Zeit für ihre Fragen zu; die Themen der Anfragen müssen der Regierung vorher nicht kommuniziert werden. Vgl. ibid., 19.10.1984, S. 4987–4993; 29.10.1984, S. 5358–5362; 13.11.1984, S. 5926–5933 und 13.12.1984, S. 6908–6933. D, L’»urgence sociale«.

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ihre ersten Anfragen zu Armut an die Regierung. Die Synchronizität der Ereignisse lässt eine Verbindung wahrscheinlich erscheinen – und wird von einem der Abgeordneten in seiner Anfrage auch explizit hergestellt: »Les associations bénévoles d’entraide et les élus locaux sont appelés à intervenir en dernier recours avec des moyens limités et des budgets épuisés sans recevoir, pour l’instant, le moindre soutien de la collectivité nationale, de l’État ou du gouvernement«59 . Der Abgeordnete wollte also die Überforderung der Hilfsangebote von Verbänden und Kommunen mit dem Anstieg an Anfragen thematisieren. Er griff damit auf, was die Verbände im Oktober 1984 an die Öffentlichkeit getragen hatten. Als deren Anliegen erreichte die neue Armut also das Parlament. Prinzipiell folgten beide Abgeordnete zunächst auch den Verbänden in der Ausdeutung. Auch wenn beide nicht explizit den Begriff der neuen Armut verwendeten, so hoben sie doch wie die Verbände den ihrer Meinung nach neuen Charakter des Phänomens hervor und sprachen von einer »nouvelle réalité«60 . Als Grund für diese Neuetikettierung erwähnten auch die beiden UDF-Politiker den Anstieg der materiellen Bedürftigkeit. Adrien Zeller führte aus: »Des milliers de familles n’ont plus de quoi se nourrir, payer leur loyer, se chauffer, se vêtir«61 . An seiner Formulierung »des milliers de familles«62 sowie der von ihm behaupteten »grande pauvreté«63 zeigt sich außerdem, dass Zeller die Ausbreitung der Armut als ein weiteres neues Charakteristikum ansah. Wie die Verbände stellten auch die beiden Abgeordneten die Arbeitslosen als hauptsächliche neue Risikogruppe für Armut dar. Das illustrieren unter anderem Bouvards Ausführungen über die »demandeurs d’emploi ayant épuisé leur droits à l’indemnisation«64 . Beide Abgeordnete führen aber einen weiteren Aspekt als Charakteristikum der neuen Armut an, der in den Ausführungen der Verbände noch nicht enthalten gewesen war. Und zwar erklärten sie die Armut als neu, weil sie durch die neue sozialistische Regierung verursacht worden sei. Zeller hatte sich direkt an den Premierminister gewandt und ihm vorgeworfen, die Betroffenen seien Opfer der »raccourcissements drastiques [qu’il avait] décidé«65 . Er bezog sich damit auf eine Reform der Arbeitslosenunterstützung, die die Regierung im gleichen Jahr vorgenommen und die im Endeffekt die Unterstützungszeiten für bestimmte Gruppen von Arbeitslosen reduziert hatte66 . Zeller stellte damit die Armut als Folge der Regierungspolitik dar. Noch drastischer formulierten 59 60 61 62 63 64 65 66

Adrien Zeller, JO. Débats parlementaires, AN, 3.10.1984, S. 4473. Ibid. Ibid. Ibid. Ibid. AN, JO. Débats parlementaires, 12.10.1984, S. 4674. Ibid., 3.10.1984, S. 4473. Rachid F, François S, La lutte contre le chômage de longue durée ou l’émergence d’une politique autonome, in: Revue française des affaires sociales 3 (1987), S. 31–41.

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III. Die Debatte um die neue Armut in Frankreich, 1980–1984

es zwei Abgeordnete der RPR in den Debatten der folgenden Woche: »Votre système de protection sociale crée de nombreux ›exclus‹«67 , warf Hélène Missoffe der Sozialministerin vor. Jean Falala ging sogar so weit, der Regierung zu unterstellen: »Les nouveaux pauvres, c’est vous qui les avez faits«68 . Die Abgeordneten fügten dem Begriff der neuen Armut also eine neue Bedeutungskomponente hinzu: Indem sie die materiellen Notlagen der Bevölkerung als von der Sozialpolitik der Regierung verursacht darstellten, verbanden sie ihn mit einem klaren Schuldvorwurf. Ein weiterer Faktor der Politisierung der Armutsfrage tritt damit deutlich hervor. Die Klagen der Verbände über den Anstieg der Hilfsbedürftigkeit drangen nicht einfach irgendwann zu den politischen Entscheidungsträgern vor, sondern sie fanden ein besonders offenes Ohr bei den Oppositionsparteien. Sie waren es, die das Anliegen ins Parlament brachten, um mit diesem Thema die Regierung anzugreifen. Die Aktionen des Pariser Bürgermeisters und der AMGVF hatten schon angedeutet, dass die Opposition besonders aufmerksam für die Feststellung einer neuen Armut durch die Verbände war; die Entwicklung der parlamentarischen Debatte bestätigt es. Für die Bundesrepublik hat Winfried Süß bereits darauf hingewiesen, dass die Opposition das Thema der neuen Armut genutzt hat, um sich in der neuen Rolle zurechtzufinden und die sozialpolitische Kampagnenfähigkeit zurückzugewinnen69 . Die westdeutsche Situation wird im folgenden Kapitel noch genauer beleuchtet; an dieser Stelle kann aber schon bilanziert werden, dass dieses Urteil exakt auch auf Frankreich passt. Auch hier nutzten zwei Parteien – die übrigens im Unterschied zu den deutschen noch nicht einmal Erfahrung mit der Oppositionsrolle hatten, da sie als Regierungsparteien gegründet worden waren – die neue Armut dazu, um sich in der neuen Rolle einzurichten. Wie ging die Regierung mit diesen Vorwürfen und den Aufforderungen zum Handeln gegen die Armut um? Die Antwort des Staatssekretärs Raymond Courrière, der in Vertretung der Sozialministerin die parlamentarische Anfrage am 12. Oktober beantwortete, resümiert die Haltung der Regierung in wenigen Worten. Courrière leitete seine Entgegnung auf Bouvards Fragen und Vorwürfe wie folgt ein: »Le phénomène de pauvreté connaît aujourd’hui un développement qui n’est pas contestable. Pourtant ce n’est pas un phénomène nouveau: il existait même pendant la période de croissance«70 . Schon in diesen ersten zwei Sätzen von Courrières Antwort kristallisiert sich die Position heraus, die die Regierung auch in den folgenden Monaten immer wieder zum Thema der neuen Armut vertreten würde und die vor allem durch zwei Aspekte gekennzeichnet ist: einerseits die generelle Akzeptanz der Existenz des Problems, andererseits das Zurückweisen jeglichen Schuldvorwurfs. 67 68 69 70

Hélène Missoffe, AN, JO. Débats parlementaires, 13.12.1984, S. 6923. Jean Falala, ibid., 16.10.1984, S. 4793. S, Vom Rand in die Mitte der Gesellschaft, S. 137. AN, JO. Débats parlementaires, 12.10.1984, S. 4674.

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2. Als Thema von Politik und Verwaltung

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Den Schuldvorwurf an die Regierung wies diese vor allem dadurch zurück, dass sie wiederholt an die dauerhafte Präsenz von Armut in der französischen Gesellschaft erinnerte, »même pendant la période de croissance«71 , wie Courrière dies ausführte. Auch die Sozialministerin Georgina Dufoix verfolgte diese Argumentation, indem sie in ihrer Antwort auf die parlamentarische Anfrage am 3. Oktober auf die sozialen Fragen der frühen 1970er Jahre einging72 . Beide versuchten so, der Idee von einer neuen Armut als einem in der Regierungszeit der Sozialisten entstandenen Problem das Fundament zu entziehen. Entsprechend hütete sich die Regierung auch davor, den Begriff der neuen Armut selbst zu nutzen. Zwar sprach die Sozialministerin im Parlament selbst von einem Wandel der Problemlagen, der sich für sie unter anderem an der Verschiebung des Armutsrisikos weg von alten Menschen und hin zu Arbeitslosen und Alleinerziehenden zeigte73 . Für diesen Wandel den Begriff der neuen Armut zu benutzen, so wie dies der Secours catholique seit Beginn des Jahrzehnts tat, stand für Mitglieder der Regierung aber außer Frage – wahrscheinlich, weil mit diesem Begriff zu sehr die Definition von neuer Armut als einem von der sozialistischen Regierung verursachtem Problem und damit der Schuldvorwurf verbunden war. Statt die neue Armut als Fehlschlag ihrer eigenen Politik zu sehen, rückte die Regierung die Wirtschaftskrise als Ursache für die Entstehung der Armut ins Zentrum ihrer Argumentation. Courrière führte beispielsweise aus: »Il convient d’être clair sur un point: si apparaissent maintenant des formes nouvelles de pauvreté, c’est biensûr du fait du prolongement de la crise économique et non pas des carences des systèmes de protection sociale. Comparé à celui de tous les pays développés, notre système de protection sociale est un système de haut niveau«74 . Nicht nur das Sozialministerium verfolgte diese Argumentation bei seinen Antworten auf die parlamentarischen Anfragen, sondern auch der Präsident und der Premierminister trugen diese Haltung offensiv in die Öffentlichkeit. Mitterrand war sehr bemüht darum, zu unterstreichen, dass das Problem nicht neu und damit kein Resultat seiner eigenen Präsidentschaftszeit sei. Auf den Schuldvorwurf für die Entstehung der neuen Armut entgegnete er im Oktober 1984: »Il est bien clair que ce qui est dit, un peu partout, soudainement sur la ›nouvelle pauvreté‹, je le pense moi aussi. Elle n’est pas née d’aujourd’hui«75 . Premierminister Fabius bekräftigte bei einem Fernsehauftritt am 17. Oktober ebenfalls: »La pauvreté il y en a toujours eu«76 . Um gar nicht erst die Idee von Armut als einem neuen Phänomen entstehen zu lassen, versuchte Fabius

71 72 73 74 75 76

Ibid. Georgina Dufoix, AN, JO. Débats parlementaires, 3.10.1984, S. 4474. Ibid. Raymond Courrière, AN, JO. Débats parlementaires, 12.10.1984, S. 4674. N. N., F. Mitterrand: »La participation de tous est nécessaire«, in: Lettre de Matignon. Service d’information et de diffusion du Premier ministre, Nr. 124, 22.10.1984, S. 3. N. N., Laurent Fabius: »Parlons France«, ibid., S. 1–3.

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III. Die Debatte um die neue Armut in Frankreich, 1980–1984

sogar, »Krisenarmut« als alternativen Begriff zu prägen77 – eine Initiative, die ohne Erfolg blieb, da zu diesem Zeitpunkt der Begriff der neuen Armut schon verbreitet war. Unabhängig von der Terminologie gab Fabius aber zu, dass materielle Notlagen in Frankreich existierten. Der Premierminister führte aus: »C’est vrai qu’il y a des poches de pauvreté. Il y en a beaucoup moins qu’aux États-Unis, où il y a plus de trente millions de pauvres, mais il y en a, et il faut s’en occuper«78 . Fabius gab also die Existenz von Armut zu, versuchte aber, dies durch den Verweis auf das angeblich noch viel größere Armutsproblem der USA abzuschwächen. Das Zitat stellt eine der seltenen Stellen dar, an denen die Akteure Bezüge zur Situation anderer Länder herstellten. Obwohl sowohl die Herausbildung neuer Armutsrisiken wie auch deren Diskussion westeuropäische Phänomene waren, haben sich in den französischen Quellen bisher kaum Verbindungen zwischen diesen nationalen Diskursen gefunden. Die Vermutung, dass die Debatte eines anderen Landes einen Anstoß zur Thematisierung der Armut in Frankreich gegeben hätte, kann nicht bestätigt werden. Inwiefern dies für die Bundesrepublik der Fall war, kann das folgende Kapitel zeigen. Die französische Regierung wies jedenfalls die Schuldvorwürfe der Opposition zurück, nahm aber generell das von ihr aufgebrachte Thema an. Auch an den Antworten auf die parlamentarischen Anfragen wird diese deutlich: Courrière hatte die Ausbreitung der materiellen Not als unbestreitbar bezeichnet; Dufoix sprach von einem »sujet grave«79 und von Armutsbekämpfung als »une tâche qui est difficile et qui mérite la convergence de tous nos efforts«80 . An keiner Stelle dagegen versuchte die Regierung, die Existenz von Armut in der französischen Gesellschaft zu leugnen oder kleinzureden. Dass sie sich damit von der deutschen Regierung fundamental unterschied, wird im Folgenden noch deutlich werden. Insgesamt drang die neue Armut als Thema in die parlamentarische Debatte vor, nachdem Akteure außerhalb des politischen Prozesses – Verbände, Kommunalpolitiker, Kirchen, Medien – vehement in der Öffentlichkeit auf sie aufmerksam gemacht hatten. Hingegen war der politische Wechsel von 1981 folgenlos für die diskursive Verhandlung der Armut geblieben. Weder der neue sozialistische Präsident und noch die neue sozialistische Regierung waren es gewesen, die dem Thema neuen Auftrieb gegeben hatten. Auch waren es im Parlament nicht die Sozialisten, sondern die Oppositionsparteien, die sich die von den Verbänden aufgebrachte Frage als Erstes auf ihre Agenda schrieben. Allerdings fing die Regierung den Ball des Armutsthemas auf, den die Opposition ihr zuspielte. 77 78 79 80

Fabius erläuterte, durch die Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit entstünden »Ce que j’appellerais non pas les nouveaux pauvres, mais les pauvres de la crise«, vgl. ibid. Ibid. Georgina Dufoix, AN, JO. Débats parlementaires, 3.10.1984, S. 4474. Ibid.

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2.3. »Programmes contre la pauvreté et la précarité«: sozialpolitische Antworten auf die neue Armut Bis zum Ende der 1970er Jahre hatte Armut keine Kategorie der französischen Sozialpolitik dargestellt. Zu Beginn der 1980er Jahre änderte sich zunächst nichts an dieser Haltung. Wie zu erwarten war, stellt die Wahl Mitterrands zum Präsidenten, die schon keinen Einschnitt für die Debatte markiert hatte, auch keine Zäsur für die Armutspolitik dar. Denn der neue Präsident bemühte sich zwar kurz nach seiner Wahl um die Einlösung eines Großteils seiner Wahlversprechen. Armutsbekämpfung hatte jedoch nicht dazugehört; entsprechend zeigte der Präsident keine Anstrengungen in dieser Hinsicht. Die politischen Reformen in dieser Zeit konzentrierten sich vor allem auf die Umsetzung der drei Kernversprechen Mitterrands, die er im Wahlkampf unter den Begriffen »nationalisation«, »décentralisation« und »réforme de l’audiovisuel« vorgebracht hatte81 . Die Regierung setzte ebenfalls um, was im Wahlkampf als Maßnahme zur Reduktion sozialer Ungleichheiten präsentiert worden war. So erhöhte sie schon 1981 massiv den Mindestlohn, das Kindergeld und das Behindertengeld. Ebenso löste die Regierung Mitterrands Versprechen der besonderen Sorge für alte Menschen ein, indem die Mindestrente deutlich erhöht und das Rentenalter auf 60 Jahre gesenkt wurde82 . Neben den Bemühungen für alte Menschen standen seit 1981 aber auch Jugendliche im Fokus der Politik, was sich an der Einführung des »Programme 16/18 ans«, der prévention été chaud, der Einführung der zones d’éducation prioritaire (ZEP) im Dezember 1981 und schließlich der travaux d’utilité collective« im September 1984 zeigte83 . Damit rückte die Problemgruppe ins Zentrum der Aufmerksamkeit, auf welche die Verbände und die Armutsberichte hingewiesen hatten. Jedoch sind die Maßnahmen nicht als Reaktion auf deren Hinweise zu lesen, sondern die Regierung reagierte mit ihnen unter anderem – wie es am Namen der Programme teilweise deutlich wird – auf die Unruhen in verschiedenen französischen Vorstädten im Sommer

81 82 83

C, C, D, Histoire de la Ve République, S. 279–284. Ibid., S. 285–291. Die genannten Programme zielten alle darauf, die Chancen von Jugendlichen auf einen Schulabschluss, eine Ausbildung oder einen Arbeitsplatz zu erhöhen. Die travaux d’utilité collective bspw. richteten sich an Jugendliche mit niedrigem Bildungsabschluss und ermöglichten diesen, für mehrere Monate Arbeitserfahrung bei einer gemeinnützigen Organisation zu sammeln. Die Einrichtung der ZEP hatte zum Ziel, Schulen in potentiell schwierigen Gegenden mit zusätzlichen Mitteln auszustatten, vgl. Jacques B, Les mesures en faveur de l’insertion des jeunes. Esquisse de bilan et réflexions, in: Problèmes économiques (1987/2047), S. 8–16; Eric J-L, Xavier V, L’insertion des jeunes à la sortie de l’école entre 1983 et 1987. Moins de chômage, plus de précarité et de déqualification, in: Économie et statistique 216 (1988), S. 51–59.

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III. Die Debatte um die neue Armut in Frankreich, 1980–1984

1981, beispielsweise in den Minguettes bei Lyon. Mit diesen Unruhen zu Beginn der 1980er Jahren nahmen die »problèmes des banlieues«84 erstmals Gestalt an und lenkten die Aufmerksamkeit der Politik auch auf Probleme der Migranten, der Jugendlichen und generelle Fragen des Urbanismus85 . Insgesamt hatte der politische Machtwechsel von 1981 spektakuläre wirtschaftsund sozialpolitische Umbrüche eingeleitet – aber keinen Umbruch im Hinblick auf die Armutspolitik. Keine einzige der neuen Maßnahmen visierte jedoch explizit die Bekämpfung der Armut an. Allerdings werden im Januar 1983 erste Anzeichen für einen Wandel in dieser Hinsicht sichtbar, also fast zwei Jahre nach dem politischen Machtwechsel – und auch deutlich vor dem Beginn der Diskussion der neuen Armut im Parlament. Am 26. Januar 1983 verabschiedete der Ministerrat unter dem Titel »Les mesures contre la pauvreté« ein Programm, das nicht nur erstmals den Begriff Armut verwendete, sondern auch die Bekämpfung des Problems explizit als drängende Notwendigkeit und seine Hauptaufgabe bezeichnete86 . Mariller und Janvier weisen in Bezug auf die Bestimmungen des Programms darauf hin, dieses sei »composé de mesures de nature et de portée diverses, sinon disparates«87 . Tatsächlich liest sich der vom Ministerrat verabschiedete Text als eine bunte Zusammenstellung ganz unterschiedlicher Maßnahmen. An erster Stelle wird dort die Einrichtung von 24 Stunden lang geöffneten Beratungs- und Aufnahmezentren in großen Städten angekündigt. Als zweiter Punkt folgen Instruktionen an die Verwaltung, die eine schnellere und regelmäßigere Auszahlung der Sozialleistungen garantieren soll. Die anschließenden Ausführungen stellen Maßnahmen vor, mit denen die Armut unter den besonderen Risikogruppen wie Jugendlichen und Langzeitarbeitslosen bekämpft beziehungsweise frühzeitig erkannt und ihr vorgebeugt werden sollte88 . Die wahllos erscheinende Zusammenstellung der Maßnahmen lässt auf eine gewisse Hilflosigkeit der Regierung bei ihrer ersten Annäherung an ein neues Thema schließen. Trotzdem erscheint das Programm von 1983 als eine wichtige Etappe auf dem Weg zur Herausbildung der Armutspolitik, taucht hier doch erstmals die Kategorie Armut auf, die sonst in keinem der sozialpolitischen Programme im Untersuchungszeitraum zu finden ist. Bevor also eine öffentliche Debatte um das Thema einsetzte, hatte das Umdenken in Regierungskreisen schon begonnen und sich bereits in einer ersten Maßnahme niedergeschlagen. An den Formulierungen des Ministerrats wird außerdem deutlich, was dieses 84 85 86 87 88

Annie C, Des désordres sociaux à la violence urbaine, in: Actes de la recherche en sciences sociales (2001/136–137), S. 104–113. Ibid. Communiqué du Conseil des ministres: les mesures contre la pauvreté, 26.1.1983, http: //discours.vie-publique.fr/notices/836002112.html (22.1.2019). Noëlle M, Guy J, Les programmes gouvernementaux de lutte contre la pauvreté et la précarité, in: Revue française des affaires sociales 2 (1988), S. 23–33. Communiqué du Conseil des ministres, http://discours.vie-publique.fr/notices/836002112. html (22.1.2019).

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Umdenken der Regierung ausgelöst hatte. Denn schon auf den ersten Blick treten die Parallelen der Vorschläge des Ministerrats zu den 60 Vorschlägen des Rapport Oheix hervor. Mit der Forderung nach der schnelleren Auszahlung der Sozialleistungen macht der Ministerrat eine der Hauptforderungen des Berichts zu seinem Anliegen89 . Auch Julien Damon unterstreicht die Parallelen zwischen dem Armutsbericht und dem Programm von 1983. In einem Vergleich arbeitet er heraus, dass der Ministerrat im Januar 1983 insgesamt 16 der 60 Vorschläge von Oheix umsetzte90 . Der Rapport Oheix – so wie die anderen in dieser Zeit verfassten Armutsberichte – hatte es nicht geschafft, eine öffentliche Debatte um Armut anzustoßen. Hier wird allerdings deutlich, dass die Regierung den Bericht sehr wohl rezipiert und Ansätze zu seiner Umsetzung gezeigt hatte. Noëlle Mariller hat den Wandel der französischen Armutspolitik als Folge des Rapport Oheix dargestellt91 . Wenn an dieser Stelle auch noch kein vollständiger Wandel diagnostiziert werden kann, so ist ihr doch insofern zuzustimmen, dass die Umsetzung des Berichts eine erste Neuorientierung der Armutspolitik einleitete. Interessant ist dabei, dass diese Neuerungen noch völlig losgelöst von der politischen Debatte beschlossen werden. Armut war zu diesem Zeitpunkt noch kein Thema der politischen Parteien und wurde im Parlament nicht diskutiert. Jenseits des parteipolitischen Diskurses beschloss die Regierung aber genau in dieser Zeit ein erstes Armutsbekämpfungsprogramm. Ein weiteres, deutlich umfangreicheres und mit größeren Mitteln ausgestattetes Programm beschloss der Ministerrat dann nach dem Vordringen der Armutsdebatte in die Nationalversammlung. Schon am 17. Oktober und damit nur zwei Wochen nach der ersten parlamentarischen Anfrage zu Armut in der Nationalversammlung rief er das programme contre la pauvreté et la précarité ins Leben. Das Programm stellt damit eine direkte Antwort auf die Debatte um die neue Armut dar. Das zeigt sich nicht nur an der zeitlichen Nähe, sondern auch an der Semantik. Denn auch wenn das Programm nicht explizit den Begriff der neuen Armut nutzt, den die Regierung ja ablehnte, so stellt der Prekaritätsbegriff im Titel, der eng mit dem Begriff der neuen Armut verbunden und grundlegend für dessen Deutung war, den Bezug her. Damit liegt die Vermutung nahe, dass das Programm auch auf die neu entdeckten Problemlagen reagiert, die in der Debatte verhandelt wurden. Jedoch enttäuscht das Programm diese Erwartungen in jeder Hinsicht. In der Nationalversammlung hatte die Sozialministerin Georgina Dufoix die Prioritäten der Regierung bei der Umsetzung der Programme wie folgt umrissen: »Elles [les priorités] tournent toutes autour des priorités suivantes: hébergement et logement, secours d’urgence pendant l’hiver, utilisation des surplus agricoles«92 . 89 90 91 92

O, Contre la précarité, S. 27. D, L’»urgence sociale«, S. 20. M, Le plan gouvernemental français, S. 105. Georgina Dufoix, AN, JO. Débats parlementaires, 13.11.1984, S. 5975.

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III. Die Debatte um die neue Armut in Frankreich, 1980–1984

Armutsbekämpfung bedeutete für die Ministerin vor allem das Vorgehen gegen Hunger und Obdachlosigkeit. Zu diesem Zweck stellte die Regierung 500 Millionen Franc bereit, die im Zeitraum zwischen Oktober 1984 und März 1985 ausgegeben werden sollten, denn die Laufzeit des Programms war auf den Winter 1984/85 begrenzt. Das Geld wollte sie unter den Departements und ausgewählten Sozialverbänden aufteilen; auch der Secours catholique und ATD Quart Monde gehörten zu diesen93 . Die Bilanz, die im August des folgenden Jahres Auskunft über die Verwendung des Budgets gab, verdeutlicht, dass die Verwendung der Mittel nach den Prioritäten der Sozialministerin erfolgt war: 41 Prozent und damit der Löwenanteil des Budgets waren für die Verteilung von Nahrungsmitteln ausgegeben worden, 23 Prozent für die Bereitstellung von Notunterkünften, während 20 Prozent in einen Garantiefonds zur Zahlung von Mietschulden sowie Strom- und Gasrechnungen geflossen waren94 . Neue sozialpolitische Konzepte und die Ausrichtung der Politik an einem Phänomen, das in der Debatte als neu und gewandelt bezeichnet wurde, werden hier also vergeblich gesucht. Stattdessen orientierten sich die Programme zur Bekämpfung der neuen Armut an ganz traditionellen Methoden der Armutsbekämpfung. Dass die Programme damit der in ihrem Titel proklamierten Ambition der Bekämpfung der Prekarität nicht gerecht werden konnten, liegt auf der Hand. Vielmehr erhöhten sie auf Dauer die Prekarität der Betroffenen, indem sie sie in die Abhängigkeit von Güterverteilungen brachten, die übrigens noch nicht einmal permanent eingerichtet wurden, sondern nur für die Dauer des jeweiligen Winters. Diese Ausgestaltung der Programme rief schon wenige Tage nach deren Beschluss scharfe Kritik einiger Politiker hervor. Es war der Ministerrat gewesen, der das programme contre la pauvreté et la précarité beschlossen hatte. Eine Rücksprache mit dem Parlament hatte nicht stattgefunden; entsprechend wurde das Programm dort vor diesem Datum nicht diskutiert. Erst als die Programme schon beschlossen waren und die Regierung im Rahmen der Haushaltsdebatten für 1985 vom Parlament die Zustimmung zur Erhöhung der Vermögenssteuer verlangte, mit der sie das Programm finanzieren wollte, lenkten einige Abgeordnete die Aufmerksamkeit auch auf die Armutsbekämpfungsprogramme. Scharfe Kritik brachte in diesem Rahmen Adrien Zeller vor. Als einer der ersten Abgeordneten hatte er die Regierung zum Handeln gegen die Armut 93

94

Das Sozialministerium kündigte an, dass insgesamt sechs Verbände von der Finanzierung profitieren sollten, nämlich der Secours catholique, die Armée du salut, der Secours populaire, ATD Quart Monde, Emmaüs und die Petits Frères des pauvres. Die Auswahl begründete das Sozialministerium mit der gut ausgebauten Struktur dieser Verbände, vgl. Secrétariat général du gouvernement, Relevé de décisions de la réunion interministérielle tenue le 19 octobre 1984 à l’hôtel Matignon sous la présidence de M. Bernard Pêcheur, conseiller auprès du Premier ministre, 20.10.1984, ANF 19880351/32. Direction de l’action sociale, Bilan du programme d’actions contre la pauvreté et la précarité 1984/1985, August 1985, ANF 19880020/10.

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aufgefordert; die Reaktionen der Regierung entsprachen jedoch nicht seinen Erwartungen: »Je vous le dis avec déception: la politique proposée apparaît, certes, comme généreuse; en réalité, elle est insuffisante, contradictoire, et à certains regards archaïque«95 . Diese scharfe Kritik begründete Zeller wie folgt: »Elle [la politique] est en effet presque exclusivement fondée sur la distribution de secours sur une assistance au demeurant très partielle [. . . ]. Même si elle donne quelques moyens supplémentaires, elle ne rompt pas avec le bricolage et le rafistolage qui caractérisent les actions entreprises«96 . Kritische Bemerkungen zu den Armutsbekämpfungsprogrammen kamen in der Haushaltsdebatte nicht nur von der Opposition, sondern auch aus den eigenen Reihen. Die sozialistische Abgeordnete Martine Frachon erklärte: Si des solutions conjoncturelles sont impératives, elles ne doivent pas faire oublier que le problème sera résolu par des solutions véritablement structurelles. Parce que la pauvreté n’est pas seulement matérielle, elle ne peut pas être réglée uniquement par l’octroi des ressources financières ponctuelles, parce qu’elle implique détresse morale et exclusion de la société, il faut autre chose qu’un traitement social97 .

Die Kritik nahm also hauptsächlich die rein materielle Ausrichtung des Programms und das Fehlen einer strukturellen Lösung der Armutsfrage ins Visier. Obwohl erste Kritik damit schon zwei Tage nach der Verabschiedung des Programms formuliert wurde, änderte die Regierung den eingeschlagenen Kurs nicht, sondern behielt die von der Sozialministerin skizzierten Linien des Programms bei. Warum wendete die Regierung diese traditionellen Methoden der Armutsbekämpfung an, um auf ein Phänomen zu reagieren, dass in den Debatten als neu und gewandelt bezeichnet worden war? Und warum hielt sie daran fest, obwohl die Kritik dem Programm auf den Fuß folgte? Schon die Zeitgenossen haben nach Erklärungen für diese Frage gesucht. Der Gründer und Vorsitzende der Organisation ATD Quart Monde rückte 1987 bei seinem Rückblick auf die Verabschiedung der Programme die unzureichende Vorbereitung auf das neue Problem in den Fokus: »La nation ne s’était pas suffisamment préparée, elle n’avait pas mis en place des structures pour faire face au-delà de l’urgence aux situations de grande pauvreté. Elle a donc répondu à la même manière qu’il y a 30 ans par la soupe populaire, la banque alimentaire, l’ouverture du métro la nuit, etc.«98 Sicher spielte es eine Rolle, dass die Programme in extremer Eile konzipiert worden waren, da sie im Abstand von nur zwei Wochen auf die große mediale Diskussion um die neue Armut folgten. Viel Zeit für Reflexion und Ausarbeitung neuer Methoden zur Armutsbekämpfung hatte der Regierung damit nicht zur Verfügung gestanden. 95 96 97 98

AN, JO. Débats parlementaires, 19.10.1984, S. 4988. Ibid. AN, JO. Débats parlementaires, 29.10.1984, S. 5358. Joseph W, Conférence de presse du rapporteur, 9 février 1987, in: Revue Quart Monde 126 (1988), S. 8–13, hier S. 8.

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III. Die Debatte um die neue Armut in Frankreich, 1980–1984

Darüber hinaus hat die Analyse der parlamentarischen Debatte gezeigt, dass im Parlament nicht einmal eine tiefe Auseinandersetzung mit den Ideen der Verbände und der Verwaltung und deren Motiven zur Neuetikettierung des Phänomens stattgefunden hatte. Nachdem die Opposition die neue Armut als Thema in die Nationalversammlung gebracht hatte, drehte sich die Debatte dort vor allem um die Frage nach Ursache und Schuld am Problem. Die sozialistische Regierung war hauptsächlich damit beschäftigt gewesen, Schuldvorwürfe abzuwehren, und ließ so wenig Raum für die Frage nach den Dimensionen und der Beschaffenheit der Armut. Insofern überrascht es nicht, dass das Programm von 1984 noch an traditionellen Formen der Armutspolitik orientiert war. Wirft man allerdings einen Blick auf die Entwicklung dieser Politik in den darauffolgenden Jahren, so wird deutlich, dass die Erklärung nicht mehr greift. Denn nachdem das programme contre la pauvreté et la précarité, das für die Dauer eines Winters konzipiert worden war, im März 1985 ausgelaufen war, wurde im Oktober 1985 ein weiteres Programm mit dem gleichen Namen, einer Finanzierung über das gleiche Budgetkapitel und einer sehr ähnlichen inhaltlichen Ausgestaltung ins Leben gerufen. Und auch in den folgenden Jahren wurden die Programme regelmäßig im Oktober erneuert. Selbst die politische Zäsur im März 1986 änderte daran nichts, denn auch danach wurden die Programme jährlich erneuert und noch bis 1990 unter dem gleichen Namen weitergeführt – und zwar von einer Regierung, die nun von Jacques Chirac selbst, also einem der Initiatoren der Debatte um die neue Armut, angeführt wurde99 . Lebensmittelverteilung blieb damit ein wichtiger Bestandteil der Armutspolitik der Regierung. Und auch außerhalb der staatlichen Sozialpolitik lässt sich in Frankreich in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre ein genereller Trend hin zur Güterverteilung zur Abhilfe gegen Bedürftigkeit feststellen. Mit der Gründung der Lebensmittelbanken im November 1984100 und der Restaurants du cœur im Dezember 1985101 entstanden zwei in den 1980er Jahren sehr aktive Projekte, die die Nahrungsverteilung zu ihrer Hauptaufgabe und Daseinsberechtigung machten. 99 100

101

D, L’»urgence sociale«, S. 15; vgl. dazu auch Kap. V.2. Die erste Lebensmittelbank in Frankreich wurde im November 1984 auf die gemeinsame Initiative der Verbände Secours catholique, Emmaüs und Armée du salut hin gegründet. Sie verteilte zunächst Nahrungsmittel aus der Überproduktion der EG und später auch Überschüsse der französischen Lebensmittelindustrie sowie Nahrungsmittelspenden von großen Supermärkten und Privatpersonen, vgl. G, Une histoire de la grande pauvreté, S. 233 f. Die Initiative zur Gründung der Restaurants du cœur kam von dem Schauspieler Coluche, der es sich zum Ziel setzte, mit dieser Organisation im Winter 1985/86 200 000 Mahlzeiten pro Tag zu verteilen. Nachdem das erste Restaurant du cœur im Dezember 1985 eröffnete, konnte Coluche dieses Ziel für den folgenden Winter zunächst nicht erreichen. Jedoch institutionalisierten sich die Restaurants du cœur im Laufe der folgenden Jahre. In der Mitte der 1990er Jahre konnte sich die Organisation schon auf einen Stamm von über 30 000 freiwilligen Helfern stützen und über 61 Millionen Mahlzeiten pro Jahr verteilen, vgl. ibid., S. 229–233.

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2. Als Thema von Politik und Verwaltung

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Wenn der Verweis auf den Zeitdruck keine hinreichende Erklärung für die Konzeption der Programme bietet, wie kann dann die Rückkehr zur Lebensmittelverteilung als Option der Sozialpolitik erklärt werden? Teilweise können diese Maßnahmen ganz einfach als Reaktion auf die in der Öffentlichkeit erhobenen Forderungen gesehen werden. Denn obwohl sie zunächst keine Lösung für die von verschiedenen Akteuren nachgezeichneten Probleme der Prekarität oder für die administrativen Schwierigkeiten der Sozialverwaltung geben, so können sie doch sehr wohl als Antworten auf die wiederholt proklamierte Ausbreitung der materiellen Bedürftigkeit gesehen werden. Immer wieder hatten die Akteure auf die steigenden Anfragen nach Essen, Kleidung und einer Unterkunft für die Nacht aufmerksam gemacht. Die Erklärung der Sozialkommission der französischen Bischöfe hatte sogar als ihren Untertitel den Satz gewählt: »On a faim aujourd’hui en France«102 . Die Verteilung von Essen kann also zunächst als eine ganz logische Folge auf den in der Debatte immer wieder akzentuierten Hunger der französischen Bevölkerung gesehen werden. Die Beschränkung der Programme auf den Winter kann außerdem als direkte Umsetzung einer Forderung der AMGVF gelesen werden, die immer wieder betont hatte, dass eine Lösung für die Probleme der Armen im Winter den Kern ihres Anliegens darstellte103 . Insofern stellt das programme contre la pauvreté et la précarité zunächst nichts anderes dar als eine Umsetzung der in der Öffentlichkeit erhobenen Forderungen. Der Soziologe Serge Paugam bietet eine weiter Erklärung dafür, dass solche traditionellen Fürsorgestrukturen in modernen und wohlhabenden Ländern noch nicht verschwunden sind, indem er auf die Problematik der Sozialhilfesysteme hinweist, die auf spezielle Zielgruppenkategorien ausgerichtet sind. Oft verhindere diese Spezialisierung, dass mit der Sozialhilfe alle Bedürftigen erreicht werden. Es bleiben nämlich diejenigen ausgeschlossen, die sich in keine der existierenden Kategorien einordnen lassen – und dann kann nur mit fakultativen oder außergesetzlichen Unterstützungen geholfen werden104 . Auch die französische Sozialhilfe folgte vor der Einführung der generellen Mindestsicherung im Jahr 1988 der Logik der verschiedenen Kategorien von Zielgruppen. Sie war ein Netz, durch dessen Maschen seit Beginn der 1980er Jahre immer mehr Menschen fielen, wie die Langzeitarbeitslosen, für die dieses System nichts vorgesehen hatten. Ein erstes Bewusstsein dafür, dass das Sicherungsnetz Lücken hatte, hatte sich mit der Diskussion der neuen Armut eingestellt, auch in Regierungskreisen, wie an der oben skizzierten Debatte 102 103

104

Attention pauvretés!, S. 1. In der Liste der Vorschläge hatte die Arbeitsgruppe der AMGVF einleitend formuliert: »L’urgence des mesures à prendre appelle le concours de tous si l’on veut éviter des situations dramatiques pendant l’hiver 84/85«. Im Fazit wiesen die Autoren nochmals darauf hin: »Ces mesures transitoires et bien limitées dans le temps, n’engageront ni l’État ni les autres partenaires au-delà de l’hiver 84/85«, vgl. Les maires des grandes villes et la montée de la pauvreté, 9.10.1984, ANF 19880020/10. P, Les formes élémentaires de la pauvreté, S. 262–264.

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III. Die Debatte um die neue Armut in Frankreich, 1980–1984

deutlich wird. Jedoch brachte dies die Regierung zu diesem Zeitpunkt noch nicht dazu, Änderungen am System der sozialen Sicherung vorzunehmen. Statt in die bisherige Sozialgesetzgebung einzugreifen und die existierenden Kategorien der Sozialhilfe zu überdenken, versuchte sie mit den 1984 beschlossenen Armutsbekämpfungsprogrammen, den Betroffenen eine Unterstützung zukommen zu lassen, ohne dabei die Gesetzgebung anzutasten. Das Verhalten der Regierung zeigt, dass sie trotz ihrer neuen Aufmerksamkeit für Armut und ihres immer wieder beteuerten Willens zum Vorgehen dagegen die Dimensionen des Phänomens zu diesem Zeitpunkt entweder nicht voll erfasst hatte – oder sie nicht zugeben wollte. Denn in den Programmen spiegelt sich eine Bild, das Armut zwar als schwerwiegendes, aber gleichzeitig auch als punktuelles und vorübergehendes Problem ansieht, auf das sich der Sozialstaat nicht ausrichten muss. Der Befund legt wiederum nahe, dass die Regierung die Wirtschaftskrise, die sie immer wieder als Ursache der Mangellagen in der Bevölkerung vorgebrachte hatte, auch 1984 noch als temporäres Phänomen deutete. Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht Mitterrands abschließende Bemerkung zu seinen Ausführungen zur neuen Armut. Der Präsident lobte die Initiativen der Regierung für die Armutsbekämpfungsprogramme, mahnte aber gleichzeitig an: »Mais ne croyez pas que la réponse sociale suffira. L’essentiel reste, encore, toujours, la capacité de production, le réveil de l’économie«105 . Er glaubte also auch zu diesem Zeitpunkt immer noch an den Aufschwung der Wirtschaft, der die Armut beseitigen und damit jede tiefere Beschäftigung mit ihr überflüssig machen würde. Genau dieses Bild zeigt sich auch in den Programmen der Regierung: Sie lenken den Blick auf den Glauben an eine temporäre Krise – oder deren Fiktion –, deren Ende auch das Ende der Armut mit sich bringen würde. Jedenfalls reagierte die französische Regierung im Oktober 1984 mit traditioneller Armutspolitik auf die neue Armut. Mit ihrer Reaktion verweist sie darauf, dass noch nicht alle Armutsbilder zu diesem Zeitpunkt erneuert waren und die Suche nach neuen Lösungen für die als neu identifizierten Probleme noch nicht weit fortgeschritten war. Das Kapitel hat vielfache Brüche in der kommunikativen Verhandlung von Armut offengelegt. Diese Brüche zeigen sich einerseits am Verlauf der Debatte, andererseits auch am dort verhandelten Armutsbild. Zunächst zur Entwicklung der Debatte. Hier zeichnet sich erstens eine diskursive Öffnung ab. Nachdem in den 1970er Jahren vor allem Sozialarbeiter und Wohlfahrtsverbände die Armutsfrage diskutiert hatten, stiegen seit 1980 nach und nach neue Teilnehmer in diese Diskussion ein. Im Herbst 1984 entspann sie sich dann nicht mehr nur zwischen diesen traditionellen Akteuren, sondern zwischen kommunalen Verbänden, Wohlfahrtsverbänden, kirchlichen Institutionen, Verwaltungsbeamten, Medien und politischen Entscheidungsträ-

105

N. N., F. Mitterrand, S. 3.

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2. Als Thema von Politik und Verwaltung

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gern. Ein Wandel vom Expertendiskurs hin zur breiten öffentlichen Diskussion der Armutsfrage kann also festgestellt werden. Zweitens lässt sich eine Politisierung des Themas feststellen. Dass mit Armut generell immer eine politische Frage diskutiert wird, weil damit auch die Zugehörigkeit zur Gesellschaft verhandelt wird, hat diese Arbeit bereits in der Einleitung umrissen. Ebenso hat sie aber aufgezeigt, dass die hier untersuchten Akteure den Umgang mit Armut in den 1970er Jahren nicht im Zuständigkeitsbereich der Politik sahen. Der Redebeitrag eines Abgeordneten der Nationalversammlung, der im Jahr 1982 dort das Thema als »à peine politique«106 bezeichnete, macht deutlich, dass diese Auffassung auch noch Anfang der 1980er Jahre verbreitet war. Danach zeichnet sich aber auch in dieser Hinsicht eine Änderung ab. Denn im Herbst 1984 drang die Armutsfrage bis in die parlamentarische Debatte vor, wo sie von den verschiedenen Parteien kontrovers diskutiert wurde. Abgeordnete der Opposition forderten die Regierung mehrfach zum Handeln auf. Dass auch diese begann, Armutsbekämpfung als ihre Aufgabe zu betrachten, wird spätestens mit der Verabschiedung ihres Programms im Oktober 1984 deutlich. Wenn diese Entwicklung als Politisierung umschrieben wird, meint dies also: Politische Entscheidungsträger begannen, Armut als ihre politische Aufgabe zu betrachten. Ein drittes Phänomen, das in den folgenden Kapiteln noch genauer beleuchtet wird, zeichnet sich hier bereits ab, und zwar die Verwissenschaftlichung der Armutsfrage. Die Analyse hat einen großen Bedarf der Akteure an Wissen über Armut offengelegt. Dieser führte bei den Verbänden zum Beispiel zum Erstellen von Statistiken über ihre Klientel; den Wirtschafts- und Sozialrat und die Regierung ließ sie Armutsberichte in Auftrag geben. In den folgenden Debatten dienten diese Studien, Berichte und Statistiken den Akteuren als Grundlage der Argumentation – wenn auch in sehr unterschiedlichem Maß. Entsprechend wuchs auch die Nachfrage nach Experten zum Thema. Gefragt war in erster Linie nicht deren (sozial-)wissenschaftliche Ausbildung, sondern vor allem die Kenntnis des Terrains. Frédéric Viguier diagnostiziert außerdem die Institutionalisierung der Armut als sozialstaatliche Kategorie. Er datiert diesen Prozess auf den Zeitraum zwischen 1988 und 2008107 . Allerdings deutet sich diese Institutionalisierung der Armutsfrage schon in den hier analysierten Quellen an und könnte damit als vierte Neuentwicklung der Debatte festgehalten werden. 1983 und 1984 verabschiedete der französische Ministerrat erstmals Programme, die sich explizit Armutsbekämpfung zum Ziel setzten. Armut wird damit zu einer Kategorie sozialpolitischen Handelns. Zuvor hatte sie sich bereits als Kategorie des sozialpolitischen Diskurses etabliert oder zumindest Ansätze zur Etablierung gezeigt. Darauf verweist beispielsweise, dass die Diskussion in

106 107

Jean-Michel Belorgey, AN, JO. Débats parlementaires, 18.11.1982, S. 7403. V, Pauvreté et exclusion.

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III. Die Debatte um die neue Armut in Frankreich, 1980–1984

die Vorbereitung der Wirtschaftspläne aufgenommen wurde oder dass die Verfassung von Armutsberichten sich verstetigte. Nicht nur die Art der Kommunikation änderte sich mit dem Beginn des neuen Jahrzehnts, sondern die Debatte lässt auch auf ein – zumindest in großen Teilen – gewandeltes Armutsbild der Akteure schließen. Zunächst zeigt sich ein semantischer Wandel. Neue Begriffe wie neue Armut oder Prekarität oder ganz einfach auch der Begriff Armut selbst, der im vorausgehenden Jahrzehnt nur selten gefallen war, ersetzten die in den 1970er Jahren verbreiteten Termini wie soziale Ungleichheiten oder Unangepasstheit. Hinter diesen semantischen Neuerungen hätte nicht unbedingt auch eine gewandelte Idee von der beschriebenen Realität stehen müssen. Die Analyse hat jedoch gezeigt, dass dies der Fall war. Denn im Unterschied zum vorausgehenden Jahrzehnt diskutierten die Akteure das von ihnen als neu etikettierte Phänomen nicht mehr als psychologische, sondern als handfeste materielle Notlage. Ebenso verschwand die in den Trente Glorieuses verbreitete Idee von Armut als marginalem Problem weitgehend aus der Debatte – eine Entwicklung, die sich seit der zweiten Hälfte der 1970er Jahre schon angedeutet hatte. Auch rückten nun andere Risikogruppen in den Fokus der Akteure. In den 1970er Jahren hatte immer noch die klassische Armutsgruppe der Trente Glorieuses gestanden im Zentrum der Diskussion, nämlich die alten Menschen. Tatsächlich stellten diese schon in den 1970er Jahren gar nicht mehr die Bevölkerungsgruppe mit dem höchsten Armutsrisiko dar. Erst Anfang der 1980er Jahre jedoch setzte sich diese Erkenntnis langsam durch. Die Debatte um die neue Armut in Frankreich ist keine Verhandlung von Altersarmut mehr, sondern kreist um die Situation der Arbeitslosen, insbesondere der Langzeitarbeitslosen und der Arbeitslosen jungen und mittleren Alters. Die These dieser Arbeit ist an dieser Stelle bestätigt – auch wenn sie einer kleinen Korrektur bedarf. Sie hatte gelautet, dass die Entdeckung neuer Formen von Armut auch neues politisches Interesse für das Thema hervorrufen würde. Dies traf bei allen hier untersuchten Akteuren zu. Andere Neuentwicklungen, die die Statistik offenlegt, wurden jedoch kaum diskutiert. Weder die Situation der Alleinerziehenden noch die der Migranten stießen auf großes Interesse. Nicht die neuen Formen von Armut insgesamt, sondern eine davon hatte die Aufmerksamkeit der Akteure gewonnen. Insbesondere die Vermutung, dass gerade in Frankreich die Debatte um Armut auch eine Debatte um die Situation der Migranten und eine Verarbeitung der verstärkten Migrationsbewegungen sein könnte, hat sich nicht bestätigt. Denn bei der neuen Armut ging es primär um die Notlagen der französischen Staatsbürger, nicht um die der Einwanderer. Die hier untersuchten Verbände hatten die verarmten Arbeitslosen ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt, weil sie über die Bedürftigkeit dieser ›normalen‹ Franzosen schockiert waren. Sie beschrieben die Betroffenen als Angehörige mittlerer Schichten, die bisher entfernt von Armutsrisiken gelebt hatten, und deren Situation als einen plötzlichen Fall in die Armut.

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2. Als Thema von Politik und Verwaltung

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Zentrale Erwartung dieser Akteure scheint aber gewesen zu sein, dass der Sozialstaat gerade diese ›Normalen‹, also Menschen ohne Handicaps wie Alter, Behinderung, Migrationshintergrund oder Ähnlichem, schützt. Der Abgleich mit der Statistik hat offengelegt, dass Armut in dieser Zeit tatsächlich eine neue Dynamik entwickelte, die aber nicht die Dimensionen erreichte, die die Verbände beschrieben. Sie bedrohte auch im Frankreich der 1980er Jahre nicht potentiell jeden, sondern nach wie vor waren bestimmte gesellschaftliche Gruppen einem besonders hohen Armutsrisiko ausgesetzt. Trotzdem ging in dieser Zeit das Vertrauen der Akteure in den Sozialstaat, das bis zum Ende der 1970er Jahre ungebrochen hoch war, teilweise verloren. Erstmals setzte daher in dieser Zeit die Suche nach neuen Wegen der Armutsbekämpfung und nach Möglichkeiten der Änderung des bestehenden Sicherungssystems ein, während in den 1970er Jahren immer dessen Ausbau die Methode der Wahl dargestellt hatte. Insbesondere die zu Beginn des Jahrzehnts erscheinenden Armutsberichte, die die Mängel des sozialen Sicherungssystems thematisieren, machen dies deutlich. Nicht in jeder Hinsicht wurde das Armutsbild indes völlig erneuert. Die im Oktober 1984 verabschiedeten Programme illustrieren beispielsweise, dass die Parteien die neue Armut immer noch nicht als dauerhaftes Phänomen akzeptiert hatten. Auch verweist ihre Orientierung an traditionellen Konzepten darauf, dass die Suche nach neuen Wegen der Armutsbekämpfung noch nicht besonders weit fortgeschritten war. Inwiefern sich dies in den folgenden Jahren noch ändern würde, soll in Kapitel V gefragt werden. Trotz dieser Ausnahmen rechtfertigen es die aufgezählten Brüche an dieser Stelle schon, von einem Einschnitt zu Beginn der 1980er Jahre zu sprechen. Das Kapitel hat damit die Zäsur der Armutsdebatte offengelegt, die in den vorausgehenden Kapiteln vergeblich in den 1970er Jahren gesucht wurde. Der strukturelle Bruch der Debatte lag jedoch nicht wie vermutet in der Mitte der 1970er Jahre, sondern an der Schwelle von den 1970ern zu den 1980er Jahren. Aus der Perspektive der Armutsdiskurse ist insofern den Arbeiten Recht zu geben, die bei der Frage nach Zäsuren in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht auf 1973/74, sondern auf 1979/80 verweisen108 . Der mit den sozioökonomischen Entwicklungen verbundene Wandel der Armut wurde nur zeitversetzt spürbar. Erst seit dem Beginn des Jahrzehnts fiel den lokal agierenden Verbänden ein Wandel ihrer Klientel auf. Seitdem trugen sie ihn auch in die Öffentlichkeit und adressierten entsprechende Forderungen an die Politik. Zunächst fanden sie mit diesen Forderungen jedoch keine Aufmerksamkeit in der politischen Sphäre. Erst nachdem der Anstieg von Arbeitslosigkeit und Inflation den bis 1982 vorherrschenden Reformenthusiasmus gebremst und einen Sparkurs eingeleitet hatten, öffneten sich auch die Politiker langsam für die Armutsfrage. Im Herbst 1984 schließlich drang das Thema

108

Für Deutschland vgl. B, Umbrüche in die Gegenwart.

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III. Die Debatte um die neue Armut in Frankreich, 1980–1984

dann auch in die politische Debatte vor – in einem Augenblick, in dem die Kirche, die Bürgermeister, der Caritasverband und die Medien laut auf die neue Armut aufmerksam machten. Insofern ist es dem nachdrücklichen Wirken von Akteuren jenseits des politischen Prozesses zu verdanken, dass die neue Armut auf die Agenda der Parteien rückte. Der politische Wechsel von 1981, der in so vieler Hinsicht eine Zäsur der Entwicklung markiert hatte, wirkte sich dagegen nicht auf die Debatte aus.

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IV. Die Debatte um die neue Armut in der Bundesrepublik, 1983–1987

Wie in Frankreich kehrten auch in der Bundesrepublik die Mangellagen der Bevölkerung unter dem Stichwort der neuen Armut in die öffentliche Debatte zurück. Im Folgenden steht die Frage im Fokus, ob – so wie in Frankreich – auch in der Bundesrepublik die Diskussion der neuen Armut mit einer diskursiven Öffnung und Politisierung des Themas verbunden war. Die bisherige Forschung hat darauf sehr unterschiedliche Antworten gegeben. Ein Dissens zeigt sich insbesondere zwischen französischen und deutschen Wissenschaftlern. In der deutschen Forschung herrscht die Meinung vor, auch in der Bundesrepublik seien die 1980er Jahre das Jahrzehnt, in denen nach 30 Jahren die Armutsfrage wieder »politikfähig«1 wurde. Für diese Sichtweise plädieren neben Bernhard Schäfers auch Lutz Leisering2 oder Winfried Süß3 . Ganz anders argumentiert der französische Soziologe Serge Paugam, der zu dem Schluss kommt, in der Bundesrepublik habe es vor der Wiedervereinigung gar keine politische Debatte um Armut gegeben4 . Das folgende Kapitel versucht, diesen Dissens aufzulösen. Zuvor einige Informationen über den politisch-ökonomischen Hintergrund, vor dem die neue Armut in der Bundesrepublik aufkam. Wirtschaftlich bedeutete der Beginn der 1980er Jahre für die Bundesrepublik – so wie für Frankreich auch – einen erneuten Einbruch der Konjunktur. Die Bundesrepublik sich allerdings konnte schneller als Frankreich davon erholen, denn auf den Einbruch folgte dort eine langsame wirtschaftliche Erholungsphase. An die Rezession von 1981/82 schloss sich eine Periode des kontinuierlichen realen Wirtschaftswachstums an, das unter anderem dazu führte, dass das bis 1982 gegenwärtige Krisenbewusstsein langsam zurückging5 . Andreas Wirsching weist jedoch darauf hin, dass die 1980er Jahre »in ökonomischer Hinsicht einen Januskopf«6 trugen. Denn die Dynamik des bundesdeutschen Wirtschaftswachstums in dieser Zeit sei sehr bescheiden gewesen und könne nicht mit dem Wirtschaftswachstum der Nachkriegszeit verglichen werden7 . Als Aufschwungphase können die 1980er Jahre insofern nicht bezeichnet werden. 1 2 3 4 5 6 7

S, Zum öffentlichen Stellenwert von Armut, S. 116. L, Zwischen Verdrängung und Dramatisierung, S. 493; vgl. auch D., Armutsbilder im Wandel, S. 165. S, Vom Rand in die Mitte der Gesellschaft, S. 132. P, Les formes élémentaires de la pauvreté, S. 159. W, Abschied vom Provisorium, S. 225–228. Ibid., S. 228. Ibid.

https://doi.org/10.1515/9783110613087-part04

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IV. Die Debatte um die neue Armut in der Bundesrepublik, 1983–1987

Insbesondere reichte der ökonomische Aufschwung nicht dazu aus, die Arbeitslosigkeit zu reduzieren. 1982 hatte die Arbeitslosenzahl mit über zwei Millionen eine Rekordmarke erreicht8 . Die Arbeitslosenquote, die in jenem Jahr bei 6,1 Prozent lag, stieg in der Folgezeit noch an und schwankte bis zum Ende des Jahrzehnts zwischen sechs und acht Prozent. Damit lag die deutsche Arbeitslosenquote immer noch unter der französischen; jedoch musste die Bundesrepublik sich genau wie Frankreich mit neuen Formen struktureller Arbeitslosigkeit auseinandersetzen. Wie in Frankreich kam auch in Westdeutschland der Begriff der neuen Armut im Kontext eines politischen Machtwechsels auf. Jedoch waren die Rollen anders verteilt: Während in Frankreich 1981 die Sozialisten von der Opposition in die Regierung gelangten, mussten in der Bundesrepublik die Sozialdemokraten nach 13 Jahren an der Regierung wieder die Oppositionsrolle einnehmen. Ihr Bruch mit dem Koalitionspartner FDP im September 1982 ebnete den Weg für eine neue christlich-liberale Koalition unter Helmut Kohl, der am 1. Oktober 1982 zum Kanzler gewählt wurde. Der Regierungswechsel brachte einen einschneidenden Kurswechsel in der Sozialpolitik mit sich. Zwar hatte auch die sozialliberale Regierung schon seit 1975 erste Sparmaßnahmen vorgenommen und damit die Wende vom Expansions- zum Sparkurs des Sozialstaats bereits eingeleitet. Insofern führte die Regierung Kohl nur einen Trend weiter – allerdings mit deutlich höherer Geschwindigkeit9 . Vor allem zwischen 1983 und 1984 nahm sie wichtige Änderungen am Netz der sozialen Sicherung vor, die sie vor allem über die Haushaltsbegleitgesetze abwickelte. Die Kürzungen betrafen unter anderem das Arbeitslosengeld und die Arbeitslosenhilfe, die Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten, die Ausbildungsförderung und auch die Sozialhilfesätze. Erst in der Mitte des Jahrzehnts beendete die Regierung den Sparkurs in der Sozialpolitik, sodass im Jahr 1985 erstmals seit einer Dekade keine Kürzungen der Sozialleistungen vorgenommen wurden10 . In diesem Kontext des politischen Wechsels, der Überwindung einer erneuten wirtschaftlichen Rezession und des sozialpolitischen Sparkurses kam in der Bundesrepublik der Begriff der neuen Armut auf. Der Begriff taucht in den Quellen erstmals 1983 auf; allerdings weisen die Debatten seit 1980 darauf hin, dass Teile der neuen Armutsfrage bereits unter anderen Begriffen diskutiert wurden, die auch in die Analyse mit einbezogen werden.

8 9

10

Ibid., S. 236–242. Hockerts weist darauf hin, dass die Bundesrepublik damit auch früher als die meisten anderen westeuropäischen Länder dem Trend der Sozialstaatsexpansion ein Ende setzte, vgl. Hans Günter H, Vom Problemlöser zum Problemerzeuger? Der Sozialstaat im 20. Jahrhundert?, in: Friedhelm B, Anja K (Hg.), Der Sozialstaat in der Krise. Deutschland im internationalen Vergleich, Bonn 2008, S. 3–30. S, Sozialpolitik in Deutschland, S. 101 f.; vgl. D., Zwischen Ausbaureform und Sanierungsbedarf, S. 136–138.

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1. Beschäftigung mit neuen Aspekten der Armutsfrage zu Beginn der 1980er Jahre 1.1. »Täglich 47 Gramm Fleisch«. Die Situation der Sozialhilfeempfänger Noch bevor sich 1983 eine Debatte um den Begriff der neuen Armut entzündete, rückte zu Beginn des Jahrzehnts die Situation der Sozialhilfeempfänger immer weiter in den Fokus der Öffentlichkeit. Die unzureichende Versorgung dieser Bevölkerungsgruppe wurde zunehmend kritisiert. Auch wenn in dieser Auseinandersetzung um die Situation der Sozialhilfeempfänger der Armutsbegriff noch nicht fiel, so stellt sie doch eine Voraussetzung für die Entdeckung der neuen Armut dar. Denn das Aufzeigen der materiellen Mangellagen eines Teils der Bevölkerung ebnete dafür mit den Weg. Dass der Sparkurs in der Sozialpolitik, der zu Beginn der 1980er Jahre als »Sozialabbau« gebrandmarkt wurde, seinen Ursprung in den 1970er Jahren genommen hatte, wurde bereits erklärt. Auch die Wurzeln der Probleme, mit denen das System der Sozialhilfe die gesamten 1980er Jahre hindurch konfrontiert war, lassen sich bis 1975 zurückverfolgen. Denn auf die 1970 vorgenommene Bedarfsfortschreibung des Warenkorbs, mit dem die Höhe des Regelsatzes für die laufende monatliche Unterstützung der Sozialhilfeempfänger ermittelt wurde1 , sollte 1975 eine weitere folgen. Der zuständige Arbeitskreis des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge (DV), dem diese Aufgabe oblag, nahm seine Arbeit jedoch erst 1977 auf. Weitere Fortschreibungen, mit

1

Seit 1955 wird der Regelsatz, der gemeinsam mit den einmaligen Leistungen die monatliche Unterstützung für Bezieher der Hilfe zum Lebensunterhalt in der Sozialhilfe bildet, anhand eines Warenkorbs ermittelt. Die Verantwortung für die Zusammenstellung dieses Warenkorbs lag seitdem beim Arbeitskreis Aufbau der Richtsätze (später: Aufbau der Regelsätze) des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, in dem kommunale Spitzenverbände, Wohlfahrtsverbände und Landessozialbehörden vertreten waren. Mit Hilfe wissenschaftlicher Berechnungen sollte er ermitteln, welche Güter den Sozialhilfeempfängern monatlich gewährt werden mussten, um ihnen ein Leben in Würde zu gewähren. Regelmäßige Anpassungen des Warenkorbinhalts an die Preissteigerungen waren vorgesehen, ebenso wie eine Bedarfsfortschreibung in größeren zeitlichen Abständen, mit der auf die Veränderung der Konsumgewohnheiten und des Lebensstandards reagiert werden sollte. Die jeweiligen Fortschreibungen von 1962 und 1970 hatten zu deutlichen Erhöhungen des Warenkorbs geführt, vgl. Matthias W, Sozialhilfe, in: Bundesrepublik Deutschland 1982–1989, S. 479–516, hier S. 493–495.

https://doi.org/10.1515/9783110613087-009

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IV. Die Debatte um die neue Armut in der Bundesrepublik, 1983–1987

denen der Warenkorb an die Veränderungen des Lebensstandards und der Konsumgewohnheiten angepasst werden sollte, fanden in den 1970er Jahren jedoch nicht mehr statt2 . Insofern war der Handlungsbedarf zu Beginn der 1980er Jahre groß; eine Fortschreibung des Warenkorbs war überfällig geworden. Erste und vereinzelte Kritik am Warenkorb wurde bereits in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre geäußert; sein Inhalt wurde als lebensfremd und unzureichend beurteilt, da er auf dem Lebensstandard von 1970 beruhte3 . Im April 1980 kumulierte diese Kritik erstmals, und zwar anlässlich des 69. Deutschen Fürsorgetages, bei dem der Deutsche Verein für öffentliche Fürsorge auch sein hundertjähriges Bestehen feierte. Kritik kam vor allem von zwei Seiten: Zum einen von Wissenschaftlern, die genau zu diesem Zeitpunkt Studien vorlegten, in denen sie kritisch mit den Regelsätzen der Sozialhilfe ins Gericht gingen. »Systematische Willkür bei der Bestimmung des Existenzminimums der Armutsbevölkerung«4 warfen beispielsweise die Bremer Sozialwissenschaftler Stephan Leibfried und Albert Hoffmann dem DV vor. In ihrer Studie rechneten sie vor, dass mit den aktuellen Regelsätzen ein Sozialhilfeempfänger mit denen im Warenkorb vorgesehenen Mitteln für Stromversorgung nur 20 Minuten am Tag eine Glühbirne brennen lassen könnte oder Kinder aus Familien im Sozialhilfebezug mit den für Körperpflege vorgesehenen Mitteln im Warenkorb einmal täglich ihre Zähne putzen und nur einmal im Jahr eine neue Zahnbürste kaufen könnten5 . Andere Wissenschaftler brachten ähnliche Kritik vor6 . Zum anderen waren es aber auch die Betroffenen selbst, nämlich die Sozialhilfeempfänger, die in der Öffentlichkeit erstmals auf ihre eigene Situation aufmerksam machten und Missstände anprangerten. Seit der Mitte der 1970er Jahre hatten sich Sozialhilfeempfänger erstmals zu Gruppen zusammengeschlossen, mit denen sie ihre Interessen selbst organisieren und vertreten

2 3 4

5 6

T-H, Sozialhilfe, S. 626–629. Ibid. Ziti. nach: N. N., »Unter dem Existenzminimum«. Zwei Professoren der Bremer Universität legen Studie über Sozialhilfe vor, in: Bremer Nachrichten, 23.4.1980; vgl. auch: N. N., Kritik am Sozialhilfe-»Warenkorb«. Wissenschaftler werfen Fürsorge-Verein Willkür bei den Regelsätzen vor, in: SZ, 24.4.1980. Albert H, Stephan L, Historische Regelmäßigkeiten bei Regelsätzen. 100 Jahre Tradition des Deutschen Vereins, Bremen 1980. T-H, Sozialhilfe 1974–1982, S. 627.

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1. Neue Aspekte der Armutsfrage

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wollten7 . Zwei erste öffentliche Protestaktionen gegen die Sozialhilfepolitik der Regierung hatten sie schon im Juni und Oktober 1979 durchgeführt und mit Demonstrationen in Bonn gegen die Anrechnung des Kindergeldes auf die Sozialhilfe protestiert8 . Den Festakt, mit dem das Jubiläum des Deutschen Vereins am 23. April 1980 in der Frankfurter Paulskirche zelebriert wurde, begleiteten die Sozialhilfegruppen mit einer Kundgebung und Demonstration auf dem Platz vor der Paulskirche sowie zahlreichen Informationsständen9 . Die »Erhöhung der viel zu niedrigen Regelsätze«10 war dabei die zentrale Forderung. Die Selbstorganisation der Sozialhilfeempfänger stellt bisher ein Desiderat der Forschung dar und müsste von anderen Arbeiten genauer untersucht 7

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10

Die historische Erforschung der Entstehung dieser Sozialhilfegruppen steht bisher noch aus. Informationen über ihre Gründungszeit sowie eine Sammlung von Dokumenten zu diesen Initiativen findet sich in zwei von der Arbeitsgemeinschaft Sozialhilfeinitiativen, einem Zusammenschluss verschiedener Sozialhilfegruppen aus Nordrhein-Westfalen, RheinlandPfalz, Hessen und dem Saarland, herausgegebenen Bänden: Wolfgang S, Lothar S, Schluß mit dem Geschwätz, erhöht die Regelsätz! 10 Jahre Sozialhilfebewegung, 2 Bde. (Haupt- und Dokumentenband), Frankfurt a. M. 1988. Im Hauptband erläutern die Autoren, dass ein Teil der Gründungen dieser Sozialhilfegruppen in den 1970er Jahren von Sozialarbeitern angestoßen wurde, die auch an der Organisation beteiligt waren, dass teilweise aber auch Gruppen ohne die Beteiligung von Sozialarbeitern aus Bürgerinitiativen und aus den neuen sozialen Bewegungen heraus entstanden. Pionierin war die Interessengruppe Sozialhilfe Chorweiler, die sich 1976 in Köln konstituierte, vgl. ibid., Hauptband, S. 9–19. N. N., Protest gegen Anrechnung des Kindergeldes auf Sozialhilfe, in: dpa, 18.6.1979; N. N., Sozialhilfeempfänger demonstrierten in Bonn, in: dpa, 20.10.1979. Eine Sammlung von Dokumenten zu diesen Veranstaltungen, die u. a. die Aufrufe zum Protest, den Text einer Petition an den Bundestag, Reaktionen einzelner Bundestagsabgeordneten sowie einen Pressespiegel enthält, findet sich ebenfalls in S, S, Schluß mit dem Geschwätz, Dokumentenband, S. 37–63. Ebenso wie die Gründung der Sozialhilfegruppen ist diese erste große Protestaktion noch nicht erforscht. Dokumente, wie Flugblätter und die Aufrufe zum Protest, finden sich aber ibid. Weitere Dokumente, insbes. mediale Reaktionen auf die Proteste, sowie die Perspektive des DV auf die Demonstration der Sozialhilfeempfänger finden sich bei: Eberhard O, Tarife, Richtsätze, Regelsätze. Dokumentarischer Bericht über eine hundertjährige Problemdiskussion, Frankfurt a. M.1986. Nach Aussagen der Sozialhilfegruppen hatte die AG Tuwas der Fachhochschule Frankfurt die Koordination der Proteste übernommen, die schon im Januar 1980 alle Sozialhilfegruppen zu einem Vorbereitungstreffen eingeladen hatte. Mit Hilfe eines »Aufruf zur Sozialhilfeaktion« hatte sie im März zur Teilnahme an den Protesten in Frankfurt aufgerufen und auch die Medien über die geplanten Aktionen informiert; ein Abdruck dieses Aufrufs findet sich ibid., S. 148–150. So geht es aus dem Flugblatt hervor, das die Sozialhilfegruppen bei der Demonstration verteilten. Daneben forderten sie außerdem die Erhöhung der einmaligen Beihilfen für Möbel und Kleidung in der Sozialhilfe, die Nicht-Anrechnung des Kindergeldes auf die Sozialhilfe, ein verbessertes Informationssystem durch die Sozialämter sowie die Einbeziehung der Sozialhilfeempfänger in die Erarbeitung der Empfehlungen zum Warenkorb durch den DV, vgl. Abdruck des Flugblatts in: S, S, Schluß mit dem Geschwätz, Dokumentenband, S. 69.

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werden, als es an dieser Stelle möglich ist. Hier kann jedoch schon bilanziert werden, dass sich zu Beginn der 1980er Jahre ein neues Selbstverständnis der Sozialhilfeempfänger zeigt, die sich nicht mehr als passive Klienten der Sozialämter sahen, sondern aktiv ihre Rechte einforderten11 . Der Impuls für die Selbstorganisation der Sozialhilfeempfänger war aus den neuen sozialen Bewegungen heraus gekommen12 ; vermutlich lässt sich dieser Wandel des Selbstverständnisses aber auch durch das veränderte Profil der Sozialhilfeempfänger in dieser Zeit erklären, denn die Anzahl der Frauen und alten Menschen im Sozialhilfebezug war seit der Mitte der 1970er Jahre rückläufig. Gleichzeitig waren verstärkt Männer mittleren Alters wegen Arbeitslosigkeit auf Sozialhilfe angewiesen13 ; diese vertraten ihre Interessen vielleicht energischer als die anderen Gruppen. Unterstützung für ihr Anliegen fanden die Sozialhilfegruppen in den Medien, die ihre Proteste gegen die Sozialhilfepolitik der Regierung bereitwillig aufgriffen. Ausführlich berichteten verschiedene Zeitungen über die Demonstration der Sozialhilfegruppen anlässlich der Jubiläumsfeier des DV14 . Die meisten schlugen sich dabei auf die Seite der Demonstranten; so geißelte der »Spiegel« die Zusammenstellung des Warenkorbs als »grotesken Katalog«15 ; andere bezeichneten den Festakt des DV als »Jubiläum ohne Grund zum Jubel«16 oder hinterfragten kritisch, »warum Sozialhilfeempfänger nur einmal zähneputzen dürfen?«17 Verschiedene Zeitungen druckten auch die Appelle der Wissenschaftler ab oder berichteten über deren Veröffentlichung18 . Aber auch jenseits dieser öffentlichen Protestaktionen entwickelte sich die Situation der Sozialhilfeempfänger zu einem Thema, das die Medien seit 1981 11 12 13 14

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Diese Feststellung findet sich auch bei B u. a., Armutspolitik und Sozialhilfe, S. 522. S, S, Schluß mit dem Geschwätz, Hauptband, S. 9–19 H, Das empirische Bild der Armut, S. 8. N. N., Während der Carstens-Rede demonstrierten Fürsorgeempfänger. Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge feierte sein hundertjähriges Bestehen in der Paulskirche, in: FR, 24.4.1980; Jutta S, Jubiläum ohne Grund zum Jubel. 100 Jahre Fürsorgeverein, ibid.; Jürgen R, Kein Grund zum Feiern, in: Stern, 24.4.1980; N. N., 69. Deutscher Fürsorgetag. Feste feiern, wie sie fallen? in: Die Tageszeitung, 25.4.1980; N. N., Festakt und Proteste zum Jubiläum des Fürsorge-Vereins. Warum Sozialhilfeempfänger nur einmal zähneputzen dürfen, in: Die Neue, 26.4.1980; N. N., Einfaches Leben, in: Der Spiegel, 28.4.1980; Hans J. G, Die Wohltätigkeit aus dem Warenkorb, in: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 4.5.1980; Reinhold R, Das Bittstellerdasein satt. »Anti-Fürsorge-Tag« zur Lage der Sozialhilfeempfänger, in: Deutsche Volkszeitung, 15.5.1980. Eine umfassende Presseschau für dieses Ereignis findet sich in S, S, Schluß mit dem Geschwätz, Dokumentenband, S. 93–110. N. N., Einfaches Leben. S, Jubiläum ohne Grund zum Jubel. N. N., Festakt und Proteste. N. N. »Unter dem Existenzminimum«; N. N., Kritik am Sozialhilfe-»Warenkorb«; N. N., Im Wortlaut: »Die Ärmsten tragen die Opfer«, in: FR, 18.12.1981; Roland B, »Kürzungen gesetzeswidrig«. Armutsforscher sehen Garantien der Sozialhilfe verletzt, ibid., 2.2.1983.

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1. Neue Aspekte der Armutsfrage

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verstärkt behandelten. Mit den Worten »Der Staat vergreift sich an den Ärmsten«19 kommentierte die »Frankfurter Rundschau« im Dezember 1981 die im Zweiten Haushaltsstrukturgesetz vorgesehene Deckelung der Eckregelsätze in der Sozialhilfe. Im Laufe der beiden folgenden Jahre stand der Warenkorb kontinuierlich im Fokus der medialen Kritik verschiedener Zeitungen. Kritisch begleiteten die Medien die sozialpolitischen Kürzungen und deren Auswirkungen auf die Situation der Sozialhilfeempfänger. Der »Stern« rechnete seinen Lesern vor, dass Sozialhilfeempfänger mit dem aktuellen Warenkorb Anrecht auf »täglich 47 Gramm Fleisch«20 hätten; der »Kölner Stadtanzeiger« rechnete aus, dass sie »jeden dritten Tag [. . . ] einen Löffel Joghurt essen«21 dürften. Das System der Sozialhilfe wurde als »unverantwortlich überlastet«22 und »in Gefahr«23 dargestellt; die Verantwortung dafür wurde den Kürzungen in der Sozialhilfe durch die Regierung zugeschoben24 . Was war der Effekt dieser öffentlich geäußerten Kritik, die sich zwischen 1980 und 1983 intensivierte? Wenn sie zum Ziel gehabt hatte, Eingriffe des Gesetzgebers in die Sozialhilfe zu verhindern, so war sie gescheitert. Denn die Gesetze, auf die die Aktionen der Sozialhilfegruppen abzielten, also die verschiedenen Haushaltsgesetze, wurden trotz des Protests inklusive der kritisierten Regelungen, insbesondere der Deckelung der Regelsätze, verabschiedet. Die eingeforderte Fortschreibung des Warenkorbs, die zu einer Erhöhung des Regelsatzes führen sollte, fand außerdem nicht statt. Zwar hatte der DV auf den öffentlichen Druck reagiert und 1981 einen Vorschlag für eine neue Warenkorbberechnung vorgelegt, jedoch hätte danach der Eckregelsatz um über 30 Prozent angehoben werden müssen, was wiederum jährliche Mehrausgaben von 988 Millionen DM bedeutet hätte25 . Auf Einsprüche der kommunalen Spitzenverbände hin zog der Verein schließlich seine Vorschläge zurück26 . Eine 19 20 21 22 23

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25

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N. N., Schnitt bei Sozialhilfe. Der Staat vergreift sich an den Ärmsten, ibid., 12.12.1981. N. N., Und das bei uns. In der reichen Bundesrepublik leben 4 Millionen Menschen in Armut, in: Stern, 18.3.1982. Peter P, Den bescheiden gefüllten Korb noch höher hängen. Wie Sozialhilfeempfänger die Folgen der Spar-Aktion spüren, in: Kölner Stadtanzeiger, 30.4.1982. N. N., Sozialhilfe. »Unverantwortlich überlastet«, in: Der Spiegel, 31.5.1982. Peter P, Nothilfe in Not, in: Kölner Stadtanzeiger, 25.10.1982; an anderer Stelle wurde auch die Frage gestellt »Reißt das soziale Netz«, vgl. Hans J. G, Die Armen im Wohlfahrtsstaat, in: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 12.12.1982. Peter T, Sparen am Sozialstaat. Hart am Unzumutbaren, in: Handelsblatt, 23.8.1982; N. N., Sozialhilfe. Keine Einigung auf neuen Warenkorb. Es geht auch um die Flasche Bier mehr oder weniger für Sozialhilfeempfänger, ibid., 15.11.1982; Arno S, Das letzte Netz, in: FR, 20.11.1982; N. N., Brauchste Kohle, geh zur Wohle; Stefan G, Die Ärmsten werden noch ärmer, in: Stuttgarter Zeitung, 29.9.1983; N. N., Kleine Schnitte, große Wunden, in: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 23.10.1983. Es waren insbes. die Teilwarenkörbe Energie, Körperpflege und persönliche Bedürfnisse, deren Stand der Arbeitskreis des DV als nicht zeitgemäß beurteilt und daher starken Ausbau vorgeschlagen hatte, vgl. W, Sozialhilfe, S. 494. Grund dafür war sicher die Mitgliedschaft vieler Kommunen und Landkreise im DV. Dass die Vorschläge zurückgezogen wurden, wehrte jedoch nicht nur die Regelsatzerhöhung ab,

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Erhöhung der Regelsätze fand also, abgesehen von geringen Anpassungen an die Preissteigerungen, nicht statt, sondern der Warenkorb orientierte sich auch 1983 immer noch an den Lebensstandards und Konsumgewohnheiten von 1970. Faktisch hatten die Protestaktionen also keine Verbesserungen für die Sozialhilfeempfänger bewirkt. Jedoch kommt ihnen das wichtige Verdienst zu, die Öffentlichkeit für materielle Mangellagen eines Teils der Bevölkerung sensibilisiert zu haben. Wie in den vorausgehenden Kapiteln gezeigt, hatte sich bis in die 1970er Jahre bei verschiedenen Akteuren noch die Auffassung gehalten, dass die Sozialhilfe das Problem der materiellen Notlagen weitgehend gelöst habe und soziale Nöte vor allem psychischer Natur seien. Die Proteste der Sozialhilfegruppen und Wissenschaftler, unterstützt von den Medien, griffen zu Beginn der 1980er Jahre genau diese Überzeugung frontal an. Indem sie die Notlagen der Sozialhilfeempfänger thematisierten, führten sie der Öffentlichkeit vor Augen, dass das BSHG keineswegs das Armutsproblem gelöst hatte, und leisteten damit einen wichtigen Beitrag zur Enttabuisierung der Armutsfrage in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit.

1.2. Die Kontroverse um den ersten deutschen Armutsbericht Einer der ersten französischen Armutsberichte im Untersuchungszeitraum war dem Auftrag der EG folgend entstanden. In der Bundesrepublik hatte die EG-Kommission diese Aufgabe Richard Hauser anvertraut, Professor für Sozialpolitik an der Universität Frankfurt, und seiner Forschergruppe, die im Februar 1979 ihre Arbeit an dem Bericht aufnahm27 . In Frankreich hatte der Bericht für Brüssel die französische Regierung dazu angeregt, selbst einen Armutsbericht in Auftrag zu geben. Die Bundesregierung indes gab keinen eigenen Armutsbericht in Auftrag, im Gegenteil: Noch bevor Hauser seinen Bericht fertig gestellt hatte, versuchte sie mit allen Mitteln, dessen Veröffentlichung und Übergabe an die Europäische Kommission zu verhindern. Erste Widerstände gegen den Bericht offenbarten sich bereits im November 1979 im BMJFG. Das von der sozialdemokratischen Ministerin Antje Huber geführte Ministerium begleitete die Arbeit der Frankfurter Forschergruppe und ließ sich regelmäßig von Richard Hauser über den Stand seiner Arbeit

27

sondern leitete auch eine generelle Debatte über das Bemessungssystem der Sozialhilfesätze ein, die sich über die folgenden Jahre hinziehen sollte und am Ende des Jahrzehnts in die Ablösung des Warenkorbmodells durch das Statistik-Modell mündete, vgl. ibid., S. 494–501. H, C-S, N, Armut, Niedrigeinkommen und Unterversorgung.

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1. Neue Aspekte der Armutsfrage

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Bericht erstatten. Schon auf den von Hauser vorgelegten Zwischenbericht reagierte das Ministerium mit umfassender Kritik28 . Anscheinend waren die Frankfurter Armutsforscher den Änderungswünschen des Ministeriums jedoch nicht nachgekommen. Als Hauser im September 1980 seinen Entwurf für den abschließenden Bericht dem Ministerium vorlegte, löste er innerhalb des Ministeriums eine Welle von Kritik aus. Prinzipiell brachten die Mitarbeiter des Ministeriums die gleichen Einwände vor, mit der sie zuvor schon auf den Zwischenbericht reagiert hatten. Sie wehrten sich zum einen gegen die von Hauser verwendeten Armutsgrenzen. Der Bericht vertrete »in der Frage der Armutsgrenze eine Auffassung, die den bisherigen Stellungnahmen des BMJFG widerspricht«29 , monierte ein Mitarbeiter in einem Brief an einen Kollegen und spielte damit auf die von Hauser verwendete Armutsdefinition an. Dieser zählte nämlich auch die Empfänger der im BSHG vorgesehenen »Hilfe zum Lebensunterhalt« zu den Armen, nachdem er vorgerechnet hatte, dass selbst deren aufgestocktes Einkommen noch unter der Grenze von 60 Prozent des Durchschnittseinkommens lag30 . Mit dieser Definition widersprach er deutlich dem Ministerium, das in der Vergangenheit auch in öffentlichen Stellungnahmen unterstrichen hatte, dass das BSHG eine effektive Bekämpfung der Armut garantiere und die Empfänger der Sozialhilfe entsprechend nicht als arm zu werten seien31 . Zum anderen übte das Ministerium Kritik an der Datengrundlage des Berichts. Ein Mitarbeiter beanstandete in einem ministeriumsinternen Briefwechsel, »daß dieser Bericht auf überholten Einkommens-Daten beruht und daher ein falsches Bild der wirtschaftlichen Situation der Bevölkerung in der Bundesrepublik gibt«32 . Der Vorwurf bezog sich darauf, dass Hauser sich auf die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe von 1973 als Datengrundlage stützte33 . Nachdem diese Kritik innerhalb des Ministeriums ausgetauscht war, trugen die Beamten sie Richard Hauser auch in einer persönlichen Besprechung vor. Hauser begegnete ihr jedoch mit dem Verweis darauf, dass die Armutsschwellen von der EG vorgegeben seien und dass aktuellere Daten als die von 1973 zu jenem Zeitpunkt nicht zur Verfügung stünden. Den Vorschlag des Ministeriums, die Ergebnisse der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe von 1978 28

29 30 31 32 33

Brief von Dr. Lenz an Professor Hauser: EG-Programm von Modellvorhaben zur Bekämpfung der Armut, hier Nationale Berichte – deutscher Zwischenbericht, 28.11.1979, BA 189/22035. Brief von Jochen Grönert an Herrn Abteilungsleiter 5: Entwurf des deutschen Armutsberichts an die EG-Kommission, 25.9.1980, ibid. H, C-S, N, Armut, Niedrigeinkommen und Unterversorgung, S. 27. Grönert zitiert exemplarisch eine der Stellungnahmen der Ministerin von 1977, in der diese Auffassung deutlich wird, vgl. Brief von Jochen Grönert, BA 189/22035. Brief von Abteilungsleiter 2 an Unterabteilungsleiter 23: EG-Programm zur Bekämpfung der Armut – Nationaler Bericht, 7.10.1980, ibid. Ibid.

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IV. Die Debatte um die neue Armut in der Bundesrepublik, 1983–1987

einzuarbeiten, wies Hauser mit dem Argument zurück, dass diese Daten erst 1981 zur Verfügung stünden, er seinen Bericht aber vor Ablauf des Jahres 1980 in Brüssel einreichen solle. Genau dies wollten die Mitarbeiter des Ministeriums aber unbedingt verhindern. Nachdem sie Hauser nicht von ihren Vorschlägen hatten überzeugen können, gingen sie sogar so weit, sich mit ihrem Anliegen direkt an die Europäische Kommission zu wenden. In einem Brief baten sie den Generaldirektor für soziale Angelegenheiten der EG-Kommission um Aufschub für den deutschen Armutsbericht: Damit seine Autoren noch aktuelle Daten einarbeiten könnten, sollte der deutsche Bericht nicht wie die übrigen acht Berichte am Ende des Jahres 1980 nach Brüssel geschickt werden, sondern erst Anfang 198234 . Mit dem Verweis darauf, dass alle Mitgliedsstaaten mit dem Problem der veralteten Datenlage zu kämpfen hätten, schmetterte der Generaldirektor Leo Crijns diese Anfrage allerdings sofort ab35 . Am Ende des Jahres 1980 passierte dann, was das Ministerium so gerne verhindert hätte: die Frankfurter Forschergruppe legte ihren Bericht nicht nur der EG-Kommission vor, sondern bereitete auch die Veröffentlichung ihrer Ergebnisse vor, die dann 1981 erfolgte36 . Die Regierung zog im Januar 1981 ihr letztes Register und trat mit einer Stellungnahme zum deutschen Armutsbericht an die Öffentlichkeit. Diese Möglichkeit hatte die Brüsseler Kommission allen nationalen Regierungen ihrer Mitgliedsstaaten eingeräumt. In ihrer Stellungnahme listete die Regierung insgesamt zehn Kritikpunkte an Hausers Bericht auf. An erster Stelle standen die beiden Argumente, die sie schon seit 1979 vorgebracht hatte, nämlich die Datengrundlage und die Definition von Armut. Für letzteren Punkt hatte die Regierung übrigens inzwischen wissenschaftliche Unterstützung bekommen: Frank Klanberg, der Leiter der Transfer-Enquête-Kommission hatte sich mit einem Brief an das BMJFG gewandt, in dem er sich den Bedenken des Ministeriums gegen Hausers Bericht anschloss37 . Die Regierung monierte in ihrer Erklärung diverse andere Punkte am ersten deutschen Armutsbericht. Dabei ging sie allerdings deutlich über eine bloße Kritik an den Methoden und Daten der Frankfurter Forschergruppe hinaus. Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht insbesondere der Abschnitt »Sozialhilfe« der Stellungnahme, der in erster Linie eine Verteidigung des 34

35 36 37

Brief von Dr. Schubert an Leo Crijns, Kommission der EG, Generaldirektion Soziale Angelegenheiten: EG-Programm von Modellvorhaben zur Bekämpfung der Armut – Nationaler Bericht über die Armut in den Mitgliedsstaaten, 20.10.1980, ibid. Brief von Leo Crijns, Kommission der EG, Generaldirektion Soziale Angelegenheiten, an Hartmut Schubert, Leiter der Abteilung Sozialwesen im BMJFG, 6.11.1980, ibid. H, C-S, N, Armut, Niedrigeinkommen und Unterversorgung. Aus Klanbergs Brief geht übrigens hervor, dass es Richard Hauser selbst gewesen war, der Klanberg in diese Diskussion einbezogen hatte: Hauser habe Klanberg ein Exemplar des Berichts mit der Bitte um Stellungnahme zugesandt, vgl. Brief von Frank Klanberg, Transfer-Enquête-Kommission an Ministerialrat Hübner, 26.11.1980, BA 189/22035.

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1. Neue Aspekte der Armutsfrage

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deutschen Sozialhilfesystems darstellt. Die deutsche Sozialhilfe, liest man dort, gewähre ein »annehmbares Minimum an Lebensstandard«38 ; dank des BSHG müsse in der Bundesrepublik niemand unter dem soziokulturellen Existenzminimum leben39 . Am Ende kam die Regierung sogar zu dem Fazit, ihr Anspruch, allen Bürgern ein Leben ohne Armut zu garantieren, sei »weitgehend verwirklicht«40 . Ihre Lobeshymne auf die Sozialhilfe mündete damit in ein direktes Abstreiten der Existenz von Armut in der Bundesrepublik. Im Unterschied zur französischen Regierung, die den Impuls der EG aufgegriffen und einen eigenen Armutsbericht in Auftrag gegeben hatte, beschränkte sich die Reaktion der deutschen Regierung auf die Abwehr des Themas – überflüssig zu sagen, dass die Regierung danach auch keine Initiative zeigte, einen eigenen Armutsbericht zu verfassen. Warum diese Unterschiede? Die deutsche Reaktion erscheint prinzipiell verständlich: Mit dem Auftrag für einen Armutsbericht hätte die Regierung die Existenz von Bedürftigkeit in der Bevölkerung zugegeben und sich damit selbst dem Vorwurf ausgesetzt, keine effektive Sozialpolitik zu betreiben. Schließlich gehört die Vermeidung von Armut zu den Grundversprechen des Sozialstaats. Gleiches gilt aber auch für Frankreich, und trotzdem nahm sich die französische Regierung das Thema an. Eine Erklärung über die politische Ausrichtung der Regierungen funktioniert nicht, denn in Frankreich war es eine konservative Regierung gewesen, die den ersten Armutsbericht in Auftrag gegeben hatte, in der Bundesrepublik dagegen eine sozialliberale Koalition, die sich gegen die Veröffentlichung eines solchen Berichts stellte. Wieder wird hier deutlich, dass Armut sich als Thema nicht in das politische Rechts-Links-Schema einordnen lässt. Insofern zeigt sich hier weniger die spezifische Reaktion einer linken oder rechten Regierung, sondern ein grundsätzlich höheres Zuständigkeitsempfinden des französischen Staats für Armut. Insgesamt verwundert diese Entdeckung nicht, denn die politische Kultur Frankreichs ist insgesamt geprägt vom Glauben an die umfassende Zuständigkeit des Zentralstaats für soziale und politische Probleme41 . Dass der französische Staat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts außerdem die Planung der Wirtschaft als seine Aufgabe ansah, wurde hier ebenfalls schon aufgezeigt. Armut hatte die französische Regierung am Anfang der 1980er Jahre als wirtschaftliche Frage interpretiert und in die Wirtschaftsplanung mit aufgenommen. Dass einer der ersten Armutsberichte im Zuge der Vorbereitung eines Wirtschaftsplans entstand, verdeutlicht dies. Da die Bundesregierung die Planung der Wirtschaft nicht zu ihren Aufgaben zählte, fehlte in der Bundesrepublik dieser Anknüpfungspunkt. 38

39 40 41

Stellungnahme der Regierung der Bundesrepublik Deutschland zum Bericht der Arbeitsgruppe Armutsforschung an der Universität Frankfurt über die Armut in der Bundesrepublik Deutschland, ibid. Ibid. Ibid. S, U, Frankreich, S. 23 f.

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IV. Die Debatte um die neue Armut in der Bundesrepublik, 1983–1987

Außerdem verfügte die deutsche Regierung im Gegensatz zur französischen über ein weiteres schlagkräftiges Argument für ihr Verhalten. In ihrer Stellungnahme begründete sie ihre Haltung mit dem Verweis auf die Existenz der im BSHG enthaltenen Hilfe zum Lebensunterhalt, die in der Bundesrepublik die Armutsfrage angeblich gelöst habe. Damit führte sie ein Argument an, das der französischen Regierung effektiv nicht zur Verfügung gestanden hatte, da der französische Sozialstaat zu diesem Zeitpunkt noch über keine Mindestsicherung verfügte. Die Forschung hat darauf aufmerksam gemacht, dass diese Haltung die 1960er Jahre hindurch einen wichtigen Hemmfaktor für die Entfaltung einer Armutsdebatte in der Bundesrepublik darstellte42 . Dass dies auch für die 1970er Jahre gilt, konnte im vorausgehenden Kapitel bereits nachgewiesen werden. Die Regierung führte die Sozialhilfe als Argument zur Abwehr jeder Beschäftigung mit Armut auch noch zu Beginn der 1980er Jahre ins Feld. Allerdings ist fraglich, wie viel Schlagkraft es zu diesem Zeitpunkt noch hatte und in den folgenden Jahren noch haben würde, denn bereits ab 1980 machten verschiedene Akteure auf die Lücken im Sozialhilfesystem aufmerksam. Für die Bundesregierung war die Beschäftigung mit Armutsberichten damit zunächst beendet. Aufträge für eine weitere wissenschaftliche Beschäftigung mit den Mangellagen der Bevölkerung erteilte sie nicht, weder an die Frankfurter Forschergruppe noch an andere Armutsforscher. Diese jedoch blieben auch ohne Auftrag von Regierung oder EG dem Thema treu und traten in den folgenden Jahren mit Stellungnahmen zu Armut an die Öffentlichkeit und auch direkt an die Regierung heran. Wie im vorausgehenden Teilkapitel skizziert, hatten verschiedene Wissenschaftler sich schon anlässlich der Jubiläumsfeier des DV im April 1980 mit kritischen Publikationen zum Warenkorb zu Wort gemeldet. Ein weiterer Hinweis auf politische Aktivitäten deutscher Armutsforscher findet sich im Dezember 1981, als sich eine Gruppe von 14 Wissenschaftlern und Journalisten mit einem öffentlichen Appell an den Bundestag wandte, um gegen die Kürzungen in der Sozialhilfe zu protestieren. Zu den Unterzeichnern gehörten mit Richard Hauser, Helga Crämer-Schäfer und Udo Nouvertné auch die Autoren des deutschen Armutsberichtes für die EG43 . Mit dem Appell mischten sich die Unterzeichner direkt in die Debatte um das zweite Haushaltsstrukturgesetz ein44 und kritisierten die darin vorgesehenen Kürzungen der Sozialhilfe als

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T-H, Sozialhilfe 1966–1974, S. 596. Die FR druckte den Text des Appells und die Liste der Unterzeichner ab, vgl. N. N., Im Wortlaut: »Die Ärmsten tragen die Opfer«, in: FR, 18.12.1981. Da Bundestag und Bundesrat seit September 1981 keine Einigung über das Gesetzesprojekt gefunden hatten, beschäftigte sich seit November 1981 ein Vermittlungsausschuss damit. Der Bundesrat hatte im Rahmen dieses Gesetzes eine Reihe von Änderungen für die Sozialhilfe gefordert, die u. a. die Deckelung der Regelsätze für 1982 und 1983 auf 3 % sowie die Kürzung der Mehrbedarfszuschläge vorsahen, vgl. T-H, Sozialhilfe 1974–1982, S. 622–626.

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1. Neue Aspekte der Armutsfrage

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untragbar für die Betroffenen und als Widerspruch zum Sozialstaatsprinzip der Bundesrepublik45 . Der Bundestag kümmerte sich jedoch nicht um ihre Kritik46 . Außerdem setzte die neue Regierung nach 1982 den Sparkurs in der Sozialpolitik mit erhöhtem Tempo fort. Eines ihrer Gesetze gab einer Gruppe von Armutsforschern wieder Anlass zu einer kritischen öffentlichen Stellungnahme. In diesem Fall waren es das Haushaltsbegleitgesetz für 1983 und die darin vorgesehenen Einsparungen in der Sozialhilfe47 , das im Januar 1983 einen Appell mit dem Titel »Armut und Unterversorgung« hervorgerufen hatte. Zu den insgesamt 16 Unterzeichnern gehörten wieder die Verfasser des Armutsberichts für die EG sowie diverse andere Armutsforscher48 . In ihrer Stellungnahme, die sie an Bundesregierung, Parteien und verschiedene Verbände richteten, fokussierten die Unterzeichner diesmal allerdings keine speziellen Bestimmungen des Gesetzes, sondern gingen mit dessen Auswirkungen auf die Sozialhilfe generell hart ins Gericht: »Das unterste Netz der sozialen Sicherung, die Sozialhilfe, steht in Gefahr, seiner gesellschaftspolitisch notwendigen Aufgabe nicht mehr gerecht zu werden, der Absicherung eines Lebens in Würde für all die Fälle, in denen Menschen in Not geraten sind bzw. den notwendigen Lebensunterhalt nicht aus eigenen Mitteln bestreiten können«49 . Die aktuelle Zusammenstellung des Warenkorbs bezeichneten sie als »unzweifelhaft veraltet und zu niedrig angesetzt«50 . Eine weitere, wie die vorausgehende ebenfalls als »fachpolitische Stellungnahme« deklarierte Erklärung veröffentlichte eine andere Gruppe von Armutsforschern und Sozialarbeitern im August 198451 . Im folgenden Jahr warnte dann eine Gruppe von Sozialwissenschaftlern mit einer Publikation vor der »Spaltung des Sozialstaats«52 . Unter ihnen waren zahlreiche Forscher der Universität Bremen, die wie die Universität Frankfurt in dieser Zeit sehr aktiv Armutsforschung betrieb. Im Dezember des gleichen Jahres legte außerdem ein Zusammenschluss von Armutsforschern, die Arbeitsgruppe Armut und

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N. N., Die Ärmsten tragen die Opfer. Sowohl die Deckelung der Regelsätze als auch die Kürzung der Mehrbedarfszuschläge wurden ins neue Gesetz aufgenommen, vgl. T-H, Sozialhilfe 1974–1982, S. 625 f. Das Gesetz hatte die Erhöhung der Regelsätze für die Hilfe zum Lebensunterhalt um ein halbes Jahr auf den 1. Juli 1983 verschoben und außerdem auf 2 % begrenzt, vgl. W, Sozialhilfe, S. 484. Arbeitsgruppe Armut und Unterversorgung, Fachpolitische Stellungnahme zur aktuellen Situation in der Sozialhilfe, Februar 1983, Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung, Z9803/1983, 2.1. Ibid. S. 1. Ibid., S. 13. N. N., Das traditionelle System der Sozialpolitik in Frage gestellt, in: FR, 7.4.1984. Stephan L, Florian T, Politik der Armut und die Spaltung des Sozialstaats, Frankfurt a. M. 1985.

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IV. Die Debatte um die neue Armut in der Bundesrepublik, 1983–1987

Unterversorgung, ein Modell zur Weiterentwicklung der Sozialhilfe zu einem garantierten Mindesteinkommen vor53 . Ähnlich wie die Selbstorganisation der Sozialhilfeempfänger stellt auch das politische Engagement der Armutsforscher ein Forschungsdesiderat dar, das diese Arbeit nicht schließen kann. An dieser Stelle kann jedoch schon festgehalten werden, dass sich neben den Sozialhilfegruppen auch die Armutsforscher in der ersten Hälfte der 1980er Jahre nicht nur mit wissenschaftlichen Publikationen, sondern auch mit öffentlichen Stellungnahmen und direkten Appellen an die Politik wandten. Von der zunehmenden Verwissenschaftlichung der Politik war schon die Rede, sie wird auch in der weiteren Darstellung wieder zur Sprache kommen. Hier zeigt sich jedoch der umgekehrte Prozess, es deutet sich die Politisierung der Wissenschaft, hier: der Armutsforschung, an. In jedem Fall prangerten die zitierten Wissenschaftler ähnlich wie die oben beschriebenen Sozialhilfegruppen Unzulänglichkeiten des Sozialhilfesystems an. Während Letztere aus ihrer persönlichen Erfahrung heraus argumentiert hatten, stützten die Forscher sich auf wissenschaftliche Untersuchungen. Mit einer unterschiedlicher Argumentationsgrundlage stützten sie dabei die gleiche Aussage, nämlich dass das BSHG eben nicht die Lösung des Armutsproblems bedeute. Damit trugen auch sie zur Enttabuisierung der Armutsfrage bei. Anders als in Frankreich hatte damit der europäische Impuls für die Erstellung von Armutsberichten und generell für die Beschäftigung mit den materiellen Notlagen der Bevölkerung in der Bundesrepublik zunächst keine direkten Folgen. Aber auch ohne dass die Regierung einen weiteren Bericht in Auftrag gegeben hatte, waren die Verfasser des ersten deutschen Armutsberichts dem Thema treu geblieben und hatten gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern die Entwicklung der Sozialhilfe mit kritischen Studien und öffentlichen Stellungnahmen begleitet. Insofern war der europäische Impuls doch nicht komplett im Sand verlaufen, sondern hatte auch in der Bundesrepublik zum Anstoß einer nationalen Debatte um Armut beigetragen – wenn auch nur indirekt.

1.3. Das Diakonische Werk: von der Armut der »Dritten Welt« zur Armut im eigenen Land Als erster unter den hier untersuchten deutschen Wohlfahrtsverbänden befasste sich das Diakonische Werk seit dem Beginn der 1980er Jahre wieder mit der Armut in der Bundesrepublik. Dies wird einerseits aus den Publikationen des Verbandes deutlich: im April 1980 widmete er ein Heft seiner Zeitschrift

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Kap. V.3.2 analysiert dieses Grundsicherungsmodell noch ausführlich.

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1. Neue Aspekte der Armutsfrage

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»Diakonie« dem Thema »Armut in Deutschland«54 ; das Jahrbuch des Verbandes für 1980/81 erschien unter dem Titel »Armut als Herausforderung an Kirche und Diakonie«55 ; eine Ausgabe der Zeitschrift »Diakonie-Report« erschien im Januar 1984 unter dem Titel »Neue Not«56 . Andererseits zeigt ein Blick in die Archive des Verbandes, dass diesen Publikationen eine intensive verbandsinterne Debatte zu Armut vorausging. Davon zeugen die Aktivitäten der Arbeitsgruppe Armut, die der Vorstand des Diakonischen Werks im April 1980 eingerichtet hatte und die seitdem regelmäßige Treffen abhielt57 . Selbstverständlich hatte der Wohlfahrtsverband auch in den Jahren zuvor die Situation von Personengruppen behandelt, die einem hohen Armutsrisiko ausgesetzt waren58 . Vor 1980 hatte er die Situation dieser verschiedenen Gruppen aber stets einzeln behandelt und nie zusammen und unter dem diese Heterogenität an Situationen verbindenden Aspekt der Armut. Erst 1980 löste sich die Diakonie von dieser separaten Behandlung der Einzelsituationen und fasste sie unter dem Stichwort der Armut zusammen. Auch der Caritasverband würde dies im Laufe des Jahrzehnts tun und eine interne Arbeitsgruppe Armut einrichten – jedoch erst im Jahr 198959 . Das Diakonische Werk zeigte nicht nur neun Jahre vor dem Caritasverband schon Interesse für die Armutsfrage, sondern auch zu einem Zeitpunkt, an dem kein anderer der hier untersuchten Akteure das Thema auf seine Agenda gesetzt hatte. Wie gezeigt, hatten zwar Wissenschaftler und Sozialhilfegruppen ebenfalls seit 1980 mit ersten öffentlichen Protesten auf materielle Notlagen aufmerksam gemacht; jedoch konzentrierten sie sich auf die Situation der Sozialhilfeempfänger. Der Armutsbegriff fiel vor 1983 nur selten in der öffentlichen Debatte; vor diesem Jahr griff außerdem keine politische Partei und kein anderer der hier untersuchten Verbände das Thema auf. Warum tat es dann das Diakonische Werk? Ein Blick auf die Evangelische Kirche insgesamt und auf ihre anderen Hilfswerke zeigt, dass die Armut in der Bundesrepublik zu Beginn der 1980er Jahre nicht nur ein großes Anliegen des Diakonischen Werks, sondern insgesamt der evangelischen Kirche in Deutschland darstellte. Die von der Evangelischen Akademie veranstalteten Konferenzen zu den Themen »Armut in der Bundesrepublik Deutschland« und »Armut auch bei uns« machen dies deutlich60 . Sogar 54 55 56 57 58 59 60

Diakonie. Zeitschrift des Diakonischen Werks der Evangelischen Kirche in Deutschland und des internationalen Verbandes für Innere Mission und Diakonie 2 (1980). Diakonie. Jahrbuch des Diakonischen Werkes 1980/81: Armut als Herausforderung an Kirche und Diakonie. Diakonie-Report (1984/1). Arbeitsgruppe Armut der Hauptgeschäftsstelle des Diakonischen Werks, 1980–1982, ADE, HGSt 5650. Darauf verweist bspw. die Verbandszeitschrift »Diakonie-Report«. Vgl. dazu Kap. IV.3.2. Jan J (Hg.), Armut in der Bundesrepublik Deutschland, Rehburg-Loccum 1983; D. (Hg.), Armut auch bei uns. Eine Herausforderung an die Kirche, Rehburg-Loccum 1985.

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IV. Die Debatte um die neue Armut in der Bundesrepublik, 1983–1987

das Evangelische Missionswerk, das ursprünglich vor allem für Themen der Entwicklungszusammenarbeit zuständig war, befasste sich in dieser Zeit mit der Armut in der Bundesrepublik61 . Im April 1980 resümierte der Präsident des Diakonischen Werks, Theodor Schober, diesen Anstieg des Interesses: »Schon lange ist in unserer Kirche nicht mehr so leidenschaftlich über Armut gestritten worden wie in den letzten Monaten, seit die für Mai 1980 festgesetzte Weltmissionskonferenz des Ökumenischen Rats der Kirchen in Melbourne ihre Schatten vorauswirft«62 . Schober gibt mit dieser Aussage einen wichtigen Hinweis auf den Ursprung des neu entfachten Interesses der Diakonie für die Armut in Deutschland. Die Weltmissionskonferenz, die er hier in Zusammenhang mit der neu entfachten Debatte brachte, stand im Jahr 1980 unter dem Thema »Dein Reich komme« und rückte – inspiriert durch die lateinamerikanische Befreiungstheologie – die Frage nach der Rolle der Armen in der Mission in den Vordergrund63 . Innerhalb des Evangelischen Missionswerks war bereits seit 1978 eine intensive Diskussion über Armut und deren theologische Rechtfertigung im Gange, die von Mitarbeitern des Werks aus der Entwicklungsarbeit angestoßen worden war64 . Dass die Konferenz als Katalysator für diese Debatte über Bedürftigkeit in den sogenannten Entwicklungsländern wirkte, liegt auf der Hand. Anscheinend stieß sie darüber hinaus aber auch die Beschäftigung des Missionswerks mit der Armut im eigenen Land an. Denn im Vorfeld der Konferenz intensivierte das Evangelische Missionswerk nicht nur seine Beschäftigung mit den Mangellagen in Entwicklungsländern, sondern zog jetzt auch erstmals die Armut in der Bundesrepublik in seine Überlegungen mit ein65 . Diese Erweiterung des Blickfelds erklärte das Missionswerk selbst wie folgt: Es mag befremdlich klingen, daß sich in der Vorbereitung auf eine Weltmissionskonferenz im Jahre 1980 die Theologische Kommission des EMW dem Thema Armut in der Bundesrepublik zuwendet. Die Kommission war sich dessen durchaus bewußt, daß sich Armut in ihrer brutalsten Form in der Dritten Welt zeigt. Sie meint aber, daß echte Kompetenz zur Teilnahme an ökumenischer Diskussion und Arbeit zur Überwindung der weltweiten Armut nur aus einem neuen, praktischen Ernstnehmen der immer noch vorhandenen Herausforderung 61

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Darauf verweist bspw. das Themenheft »Das Reich Gottes und die Armen. Unsere missionarische Aufgabe in der Bundesrepublik Deutschland« der Verbandszeitschrift »EMW-Informationen« von Januar 1980. Theodor S, Armut im Gespräch, in: Diakonie 2 (1980), S. 76–78, hier S. 76. Der Verweis auf die Weltmissionskonferenz als Anstoß für die Diskussion von Armut in der evangelischen Kirche findet sich auch in einem Artikel des »Jahrbuchs des Diakonischen Werks«, vgl. Helmuth F, Biblisch-theologische Aspekte der Armut, in: Jahrbuch des diakonischen Werkes 1980/81: Armut als Herausforderung an Kirche und Diakonie, S. 10–21, hier S. 10. Martin L-H (Hg.), Dein Reich komme: Bericht der Weltkonferenz für Mission und Evangelisation in Melbourne 1980. Darstellung und Dokumentation, Frankfurt a. M. 1981. N. N., Einleitung, in: Das Reich Gottes und die Armen. Unsere missionarische Aufgabe in der Bundesrepublik Deutschland, EMW-Informationen 15, Januar 1980 (Themenheft), S. 1 f. Ibid.

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1. Neue Aspekte der Armutsfrage

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der Armut in unserer eigenen Gesellschaft erwachsen könnte. Zum anderen ging sie davon aus, daß diese »Mission vor der eigenen Tür« nicht von den Aufgaben in der Dritten Welt ablenken würde, weil »die Strukturen, die Verarmung hervorbringen und Unterdrückung produzieren, bei uns wie in der Dritten Welt die gleichen sind«66 .

Um die Bedürftigkeit in Entwicklungsländern besser verstehen und bekämpfen zu können, wollte sich das Missionswerka also auch der Armut im eigenen Land zuwenden. Dass die Hinwendung zu diesem Problem zu diesem Zeitpunkt noch einer Rechtfertigung bedurfte, wird aus dem Zitat deutlich. Das Missionswerk fühlte sich dazu verpflichtet, sein Interesse für die Frage nach der Armut in einem reichen Land zu erklären und dem eventuellen Vorwurf zu begegnen, von der Not in Entwicklungsländern abzulenken. Noch einmal wird damit deutlich, wie ungewöhnlich die Beschäftigung mit der Bedürftigkeit der Bevölkerung in der Bundesrepublik zu diesem Zeitpunkt war. Die Frage nach dem Ursprung der intensiven Debatte um die Armut in der Bundesrepublik innerhalb der Evangelischen Kirche findet an dieser Stelle schon ihre Antwort. Über den Umweg der Armut in Entwicklungsländern hatte das Evangelische Missionswerk das Thema eingebracht. Über das Evangelische Missionswerk erreichte das Thema dann auch zunächst die Evangelische Kirche insgesamt. Die EKD-Synode in GarmischPartenkirchen im Januar 1980 fasste, nachdem das Missionswerk dort über seine Aktivitäten berichtet hatte, den Beschluss, das Diakonische Werk, das Evangelische Missionswerk und das sozialwissenschaftliche Institut der EKD dazu aufzufordern, ihre Arbeiten zu Problemen und Möglichkeiten alternativen Lebensstils aufeinander abzustimmen und der Synode zur Beratung vorzulegen. Die genannten Stellen sollten sich nicht scheuen, in ihrer Darstellung besonders die Alternativen aufzuzeigen, die zur Verbesserung der Lebensmöglichkeiten der Armen beitragen, und ferner die Bereiche privater wie öffentlicher Entscheidungen einschließlich solcher der Kirche einzubeziehen67 .

Der EKD-Beschluss, begleitet von einer Aufforderung des Präsidenten des Diakonischen Werks, war es auch gewesen, der den Vorstand des Diakonischen Werks dazu gebracht hatte, eine Arbeitsgruppe zum Thema Armut ins Leben zu rufen68 . Im April 1980 nahm die Arbeitsgruppe ihre Arbeit auf und diskutierte im Laufe des Jahres vor allem grundsätzliche Fragen wie die Definition von Armut, die möglichen Hilfen und die Rolle der Diakonie bei ihrer Bekämpfung. Dabei war die Annäherung der Mitglieder an das Thema in den ersten Sitzungen vor allem gekennzeichnet durch: erstens einen Rechtfertigungsdruck, zweitens 66 67 68

Arbeitsbericht des Evangelischen Missionswerks. Vorgelegt zur EKD-Synode in GarmischPartenkirchen, 27.1.–1.2.1980, ADE, HGSt 5650. Ein Beschluss der Synode der EKD, undatiert, ibid. So erklärt ein Mitglied der Arbeitsgruppe Armut bei der Referentenklausur des Diakonischen Werks im Dezember 1980 die Gründung der Arbeitsgruppe, vgl. Protokoll der Referentenklausur am 16./17. Dezember 1980, ibid.

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IV. Die Debatte um die neue Armut in der Bundesrepublik, 1983–1987

Berührungsängste mit einem weitgehend unbekannten Gegenstand, drittens Uneinigkeit über die Abgrenzung dieses Gegenstands. Wie das Evangelische Missionswerk fühlte sich auch die Arbeitsgruppe des Diakonischen Werks dem unausgesprochenen Vorwurf ausgesetzt, mit ihrer Arbeit vom Elend der Entwicklungsländer abzulenken, und sah sich daher unter hohem Rechtfertigungsdruck. »Die Armutsfrage zu einem gesellschaftlichen Problem in der Bundesrepublik Deutschland zu erheben, erscheint angesichts der weltweiten Unterversorgung und der für uns kaum vorstellbaren Probleme, vor allem in der Dritten Welt, eigentlich absurd«69 . Mit diesen Worten leitete das Arbeitsgruppenmitglied Horst Steinhilber einen Vermerk an seine Kollegen zur Vorbereitung der nächsten Besprechung der Gruppe ein. Steinhilber führte weiter aus, in der Bundesrepublik existiere Armut in geringerem Maße als in Entwicklungsländern, sei aber dennoch vorhanden und müsse bekämpft werden70 . Ähnliche Überlegungen finden sich bei seinem Kollegen Moll, der resümiert: »Das bedeutet keine Verdrängung der Armutsfrage in der Dritten Welt«71 . Auch die Arbeitsgruppenmitglieder fühlten sich also dem unausgesprochenen Vorwurf ausgesetzt, durch ihren Fokus auf den materiellen Notlagen der Bevölkerung eines reichen Landes von der Bedürftigkeit in armen, wirtschaftlich unterentwickelten Ländern abzulenken. In den ersten Artikeln, die in der Zeitschrift und im Jahrbuch des Diakonischen Werks das Thema Armut behandeln, wird diese Sorge deutlich72 . Wie die Forschung gezeigt hat, waren in der öffentlichen Debatte der 1960er Jahre in der Bundesrepublik materielle Notlagen ganz klar mit sogenannten Entwicklungsländern verbunden und nur ganz selten mit dem eigenen Land. Hier wurde bereits aufgezeigt, dass dies teilweise auch noch für die 1970er Jahre bestätigt werden kann: Auch der Caritasverband hatte beispielsweise noch zu Beginn der 1970er Jahre behauptet, dass handfeste materielle Notlagen nur noch ein Problem der Entwicklungsländer seien73 . Auf die Diskussion materieller Mangellagen innerhalb der Bundesrepublik hatte diese Auffassung sich natürlich hemmend ausgewirkt. An den Debatten des Diakonischen Werks wird deutlich, wie stark auch noch zu Beginn der 1980er Jahre der Armutsbegriff mit den Ländern der sogenannten Dritten Welt assoziiert wurde: nämlich so stark, dass die Beschäftigung mit der Armut in der Bundesrepublik einer Rechtfertigung bedurfte. Gleichzeitig deutet sich aber auch ein Aufbrechen 69 70 71 72

73

Horst Steinhilber, Vermerk an die Kolleginnen und Kollegen der Arbeitsgruppe Armut, 18.8.1980, ibid. Ibid. Peter Moll, Vermerk an die Mitglieder der Arbeitsgruppe Armut, 14.8.1980, ibid. So ist den Beiträgen des Jahrbuchs 1980/81, die sich alle mit der Armut in der Bundesrepublik befassen, ein Artikel zu Armut in Entwicklungsländern nachgestellt, der vermutlich demonstrieren soll, dass die Diakonie dieses Thema nicht aus den Augen verliert, vgl. Hans Otto H, Mangel und Überfluß, in: Jahrbuch des diakonischen Werkes 1980/81: Armut als Herausforderung an Kirche und Diakonie, S. 78–84. Vgl. Kap. II.1.2.

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dieser Vorstellung an. Denn die Mitglieder sprachen den impliziten Vorwurf der Verdrängung der Probleme in Entwicklungsländern nicht nur offen aus, sondern argumentierten auch dagegen: Die Beschäftigung mit der Armut in der Bundesrepublik müsse nicht zwangsweise die Verdrängung der Notlagen in Entwicklungsländern bedeuten, sondern könne sogar nützlich sein zu deren besserer Bekämpfung. Indem sie das Argument entkräfteten, welches das Aufkommen einer Armutsdebatte in der Bundesrepublik lange verhindert hatte, trugen sie zur Öffnung der Diskussion bei. Nach den ersten Sitzungen der Arbeitsgruppe Armut verschwand das »Argument Dritte Welt«, was darauf hinweist, dass dieses Argument durch die offene Thematisierung und Entgegnung an Schlagkraft verloren hatte. Berührungsängste und Schwierigkeiten im Umgang mit dem Armutsthema blieben jedoch bestehen, auch nachdem der implizite Vorwurf der Vernachlässigung der Entwicklungsländer ausgeräumt war. Hinweise darauf gibt ein Vermerk von Andreas Hutter für die Vorbereitung eines Arbeitsgruppentreffens, in dem dieser – mit Bezug auf die von seinen Kollegen beim letzten Treffen geäußerten Probleme mit dem Thema – den Punkt »Unsere Schwierigkeit bei der Beschäftigung mit der Armut« auf die Tagesordnung für die nächste Versammlung der Gruppe setzte74 . Unter diesem Punkt brachten dann bei der Sitzung im Oktober 1980 verschiedene Arbeitsgruppenmitglieder ihre Schwierigkeiten vor. »Angst vor Widerstand und Angegriffenwerden«75 sowie die Sorge, für ihre Beschäftigung mit Armut »in die linke Ecke gedrückt zu werden«76 , standen dabei auf der Liste der Bedenken. Erneut machen diese Argumente deutlich, wie ungewöhnlich die Beschäftigung mit dem Thema zu diesem Zeitpunkt noch war. Vor allem aber gründen die Berührungsschwierigkeiten der Arbeitsgruppe mit dem Thema in einem Mangel an Informationen über das Phänomen Armut sowie einer fehlenden Definition des Gegenstands. Schon bei den ersten Treffen der Arbeitsgruppe waren die Definitionsschwierigkeiten deutlich hervorgetreten, denn die Mitglieder hatten ganz unterschiedliche Vorschläge eingebracht; so plädierte Andreas Hutter dafür, Sozialhilfebezug, und damit also materielle Notsituationen, als Kriterium für Armut zu sehen77 , während einer seiner Kollegen psychosoziale Notlagen als »die häufigere Erscheinungsform von Armut in unseren Breitengraden«78 vorbrachte sowie Überlegungen über »selbstgewählte Armut«79 . Über die von Armut betroffenen Gruppen wurde die Arbeitsgruppe sich dagegen schnell einig, denn die Mitglieder, die die verschiedenen Arbeitsbereiche 74 75 76 77 78 79

Andreas Hutter, Vermerk an alle Kolleginnen und Kollegen im Arbeitskreis Armut für das Gespräch am 13. Oktober 1980 um 9.30 Uhr, 8.10.1980, ADE, HGSt 5650. Protokoll der Arbeitsgruppe Armut vom 13.10.1980, ibid. Ibid. Andreas Hutter, Vermerk an alle Kolleginnen und Kollegen im Arbeitskreis Armut für das Gespräch am 21. August 1980, 15.8.1980, ibid. Wilhelm Gerwig, Gesprächsnotiz zum Thema Armut, 9.4.1980, ibid. Wilhelm Gerwig, Vermerk an die Mitglieder der Arbeitsgruppe Armut, 19.8.1980, ibid.

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IV. Die Debatte um die neue Armut in der Bundesrepublik, 1983–1987

der Diakonie vertraten, brachten einfach ihre jeweilige Klientel als die potentiell Betroffenen ein. Traditionelle Risikogruppen für Armut wie alte Menschen, psychisch Kranke, Ausländer, Straffällige, Obdachlose und Arbeitslose standen also im Fokus80 . Ein Verweis auf eine eventuelle Herausbildung neuer Problemgruppen oder eine Verschärfung der Situation bestimmter Gruppen findet sich übrigens an keiner Stelle. Damit unterscheidet sich das Diakonische Werk deutlich vom französischen Caritasverband, der zwar im gleichen Zeitpunkt die Armutsfrage wiederentdeckte, dabei jedoch auch neue Risikogruppen identifizierte. Beim diakonischen Werk war zu diesem Zeitpunkt noch von keinem dieser Aspekte die Rede. An keiner Stelle diagnostizierte die Arbeitsgruppe eine Änderung der Situation der Armut in Deutschland; im Fokus ihrer Arbeit standen die Problemgruppen, mit denen sich das Diakonische Werk traditionell beschäftigte und die teilweise auch noch mit den typischen Begriffen der 1970er Jahre, etwa als Randgruppen, bezeichnet wurden. Ebenso wenig war von einer Verschlechterung der Situation die Rede; die wirtschaftliche Krise oder eine eventuelle Ausbreitung der Armut spielten in den Argumentationen keine Rolle. Neben den aufgezeigten Brüchen mit den tradierten Armutsbildern zeigten sich auch noch Kontinuitäten. Mit der Auflistung der Risikogruppen war die Frage nach dem Gegenstand der Arbeitsgruppe jedoch nicht gelöst. »Wir konnten relativ gut sagen, was wir für Armut bei dem Personenkreis ansehen, für den wir jeweils da sind. Versuchen wir doch, näher damit umzugehen, stellen wir fest, daß wir lediglich über ›Zeitungswissen‹ verfügen«81 . Andreas Hutter resümiert mit diesem Satz die grundsätzliche Schwierigkeit der Arbeitsgruppe, die aus Vertretern der verschiedenen Bereiche der Hauptabteilung Sozial- und Jugendhilfe des Diakonischen Werks bunt zusammengewürfelt war. Die Mitarbeiter, die es gewohnt waren, in ihren Bereichen mit spezifischen Herausforderungen einer klar umrissenen Gruppe zu tun zu haben, sahen sich jetzt mit der Herausforderung konfrontiert, ein Problem über diese Grenzen hinweg zu bearbeiten. Schon bei der Suche nach einer Definition ihres Gegenstandes stolperten die Mitglieder darüber. Das Protokoll der Sitzung von Oktober 1980 erklärt dazu: [Es] versteht sich jedes Referat als fachspezifisch und bearbeitet etwa die Fragen des alternden Menschen oder des psychisch kranken Menschen, was sicher seine Berechtigung hat, wobei aber aus dem Blick gerät, daß das Altern ebenso wie das Kranksein, je nach Einkommen, gesellschaftlichem Status, Bildung usw. sehr unterschiedliche Konsequenzen für die Betroffenen hat. [. . . ]. Die rein oder vorwiegend fachspezifische Bearbeitung verdeckt die Problemanteile, die soziale Ungleichheit an den Problemlagen hat, und sichert damit zugleich den Status quo der gegenwärtigen Verteilungsgerechtigkeit82 .

80 81 82

Vgl. etwa Thesengruppe Armut: Vorbereitung der Referentenbesprechung am 30.6.1980, ibid. Andreas Hutter, Vermerk an alle Kolleginnen und Kollegen im Arbeitskreis Armut für das Gespräch am 13. Oktober 1980 um 9.30 Uhr, 8.10.1980, ibid. Protokoll der Arbeitsgruppe Armut vom 13.10.1980, ibid.

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Erneut thematisiert die Arbeitsgruppe hier einen Aspekt, der in der Forschung als Hemmfaktor für das Aufkommen einer Armutsdebatte identifiziert wurde, nämlich die Aufsplitterung sozialer Probleme in viele einzelne Teilbereiche, so wie sie für die 1970er Jahre charakteristisch war. Mit der Gründung einer Arbeitsgruppe Armut macht das Diakonische Werk 1980 den Versuch, diese verschiedenen Bereiche zusammenzubringen. Der letzte Teil des Zitats zeigt, dass die Gruppe diese Schwierigkeit der Aufsplitterung der Problembereiche nicht nur erkannte, sondern auch kritisierte und zu überwinden versuchte. In einem Protokoll hielt sie explizit fest: »Die Berücksichtigung des Querschnittsaspektes ›Soziale Lage‹ würde gemeinsame Arbeit oder Aktionen [. . . ] ermöglichen«83 . Das Resultat aus diesen Überlegungen stellten die Kriterien für die Erfassung von Armut in der Bundesrepublik dar, auf die sich die Arbeitsgruppe im Dezember 1980 einigte und die tatsächlich auch in eine politische Forderung mündeten. Die Kriterien lauteten: »Die Nichtteilhabe an Arbeit, der Mangel an Wohnmöglichkeit, die ungenügende Versorgung (medizinisch, bildungsmäßig, rechtlich usw.)«84 . Mit der Aufnahme von materiellen Kriterien in die Definition wandte die Arbeitsgruppe sich damit eindeutig von der in den 1970er Jahren dominierenden Ausdeutung von Armut als psychosozialem Problem ab. Auch ihre Idee von Armutsbekämpfung verdeutlicht einen Bruch. Seit ihrer ersten Zusammenkunft im April 1980 hatte die Arbeitsgruppe zunächst auch Fragen aufgeworfen wie: Sollte Armut überhaupt bekämpft werden? Gehörte dies zu den Aufgaben der Diakonie?85 Am Ende des Jahres resümierte die Gruppe: »Wir kamen zu dem Ergebnis, daß es Aufgabe von Kirche und ihrer Diakonie sei, Armut und gesellschaftliche Randständigkeit als ein gesellschaftliches, politisches Problem zu begreifen und dies auch mit adäquaten politischen Mitteln zu beantworten«86 . Als solche Mittel schlug die Gruppe den Dialog mit den Betroffenen, die Unterstützung ihrer Selbstorganisation, den Austausch mit Verantwortlichen in Sozial- und Arbeitsämtern sowie Beratungsstellen und die Vermittlung der Ergebnisse an Entscheidungsträger in Politik und Verwaltung vor87 . Durch Publikationen der Mitglieder trug die Arbeitsgruppe dieses Ergebnis auch in die Öffentlichkeit88 . 83 84 85

86 87 88

Ibid. Referentenklausur am 16./17. Dezember 1980: Armut in der Bundesrepublik Deutschland – Herausforderung an unsere Arbeit und was hat Diakonie damit zu tun, ibid. Im Juni 1980 warf die Gruppe noch die Frage auf: »Ist es überhaupt das Ziel der Diakonie, Armut zu beseitigen?«, vgl. Thesengruppe Armut: Vorbereitung der Referentenbesprechung am 30.6.1980, ibid. Referentenklausur am 16./17. Dezember 1980: Armut in der Bundesrepublik Deutschland – Herausforderung an unsere Arbeit und was hat Diakonie damit zu tun, ibid. Ibid. Bspw. Fritz-Joachim S, Die Armut und der Auftrag der Diakonie, in: Jahrbuch des Diakonischen Werkes 1980/81: Armut als Herausforderung an Kirche und Diakonie, S. 46–51.

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IV. Die Debatte um die neue Armut in der Bundesrepublik, 1983–1987

Die Umsetzung dieser Forderung blieb jedoch zunächst anscheinend aus. Über weitere Aktivitäten der Arbeitsgruppe Armut kann hier keine Aussage getroffen werden, da diese nur bis 1981 im Archiv des Diakonischen Werkes dokumentiert sind89 . Auch in anderen Quellen findet sich kein Hinweis darauf, dass die Arbeitsgruppe nach der Entdeckung von Armut als politisches Thema direkt zur Tat schritt und sich mit ihren Forderungen an die politischen Entscheidungsträger wandte. Obwohl das Diakonische Werk zu diesem Zeitpunkt noch nicht direkt zur politischen Aktion überging, ist prinzipiell die Auffassung der Arbeitsgruppe, Armut als politisches Problem zu begreifen, als neu für diese Zeit hervorzuheben. Zu dieser Auffassung wiederum war die Arbeitsgruppe gelangt, weil sie im Laufe ihrer Arbeit einige der bisher gesellschaftlich dominierenden Armutsbilder diskutiert, in Frage gestellt und schließlich dekonstruiert hatte. So hatte die Arbeitsgruppe insbesondere für sich erkannt, dass die Existenz armer Länder die Beschäftigung mit Mangellagen in einem reichen Land wie der Bundesrepublik nicht ausschließt. Auch hatte sie den Willen gezeigt, die heterogenen Situationen der Armut anhand ihrer verbindenden Aspekte gemeinsam zu betrachten. Eindeutig stellen diese Erkenntnisse einen Bruch zu den dominierenden Armutsbildern der 1960er und 1970er Jahre dar. Der Fokus der Arbeitsgruppe auf traditionellen Risikogruppen sowie die Verwendung ähnlicher Begrifflichkeiten wie in der Randgruppen-Debatte weisen jedoch darauf hin, dass der Bruch mit den Armutsbildern der Vergangenheit zu Beginn der 1980er Jahre nicht vollständig vollzogen war, sondern erst begann. Drei untereinander unverbundene Entdeckungen der Armutsfrage standen am Beginn der 1980er Jahre. Die Sozialhilfeempfänger selbst, die sich immer weniger als passive Klientel betrachteten, forderten mit zunehmenden Selbstbewusstsein ihre Rechte ein und machten mit öffentlichen Protestaktionen auf Probleme im Sozialhilfesystem aufmerksam. Angestoßen durch die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema, unter anderem im Auftrag der EG, mischten sich Armutsforscher mit öffentlichen Stellungnahmen in den politischen Umgang mit den Sozialhilfeempfängern ein. Über den Umweg der Armut in Entwicklungsländern und durch Impulse der Befreiungstheologie entdeckte schließlich das Diakonische Werk 1980 die materiellen Notlagen in der Bundesrepublik und nahm seine Beschäftigung mit dieser Frage auf. Was waren die Folgen dieser verschiedenen Entdeckungen der Armut in der Bundesrepublik? Zunächst: überhaupt keine. Die Forderungen der verschiedenen Akteure wurden in der Politik nicht berücksichtigt; keine politische Partei griff außerdem vor 1983 die aufgebrachten Themen auf. Trotzdem legen

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Das Archiv konnte keine Aussage darüber machen, ob die Dokumente der Arbeitsgruppe für die folgenden Jahre noch nicht erschlossen und verzeichnet wurden oder ob der Vorstand die Arbeitsgruppe nicht weitergeführt hat.

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diese drei partiellen Wiederentdeckungen einen wichtigen Grundstein für die Diskussion der neuen Armut. Denn die Akteure kratzten mit diesen Debatten an den gesellschaftlich dominierenden Armutsbildern. Indem sie aufzeigten, dass materielle Not weder durch das BSHG gelöst sei noch ein ausschließliches Problem der Entwicklungsländer darstellte, entkräfteten sie wichtige Argumente, die in den vorausgehenden Jahrzehnten das Aufkommen einer Armutsdebatte verhindert hatten, und ebneten den Weg für die Thematisierung von Armut in der Bundesrepublik.

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2. Die Debatte um die neue Armut 2.1. Die Prägung des Begriffs durch den Deutschen Gewerkschaftsbund »Wir haben die Armut wieder zu einem politischen Thema gemacht«1 . Mit diesem Satz forderte der stellvertretende Vorsitzende des DGB, Gerd Muhr, bei einer Rede auf einer Tagung zu Armut im Juli 1985 für den DGB die Rolle des Initiators der Debatte um die neue Armut ein. In Anbetracht der im vorausgehenden Kapitel geschilderten Aktivitäten des Diakonischen Werkes erscheint die Aussage zunächst als fragwürdig. Mit welchen Argumenten reklamierte der DGB nun die Repolitisierung des Armutsthemas für sich? In seiner Rede verweist Muhr auf eine Studie zur neuen Armut, mit der der DGB »die Öffentlichkeit [. . . ] auf die materiellen Nöte und Probleme der Arbeitslosen aufmerksam gemacht«2 und »das Stichwort für eine Diskussion über Ursachen und Ausmaß von Armut in diesem Land geliefert«3 habe. Die Studie, auf die Muhr sich bezieht, war als Veröffentlichung der Hans-BöcklerStiftung unter dem Titel »Die neue Armut: Ausgrenzung von Arbeitslosen aus der Arbeitslosenunterstützung«4 im November 1983 erschienen – zu einem Zeitpunkt, an dem das Diakonische Werk schon intensiv mit dem Armutsthema beschäftigt war. Insofern entdeckten die Gewerkschaften es nicht als erste. Aus drei Gründen kommt dem DGB jedoch tatsächlich eine wichtige Rolle in der Verhandlung der neuen Armut zu. Erstens brachte der Gewerkschaftsbund den Begriff der neuen Armut in die öffentliche Debatte der Bundesrepublik ein und seine Definition dieses Begriffs sollte dominierend für dessen künftige Verwendung sein. Zweitens bildete sich durch die 1983 veröffentlichte Studie und deren rege mediale Kommentierung erstmals eine mediale Öffentlichkeit um das Armutsthema, in deren Folge auch der Begriff der neuen Armut erstmals in den Medien auftauchte. Drittens stießen die Studie und die darauf folgenden Aktivitäten des DGB auch eine rege parteipolitische Debatte um die neue Armut an. Im Folgenden werden zunächst die Aktivitäten und Forderungen des DGB im Bereich Armut chronologisch skizziert, um anschließend nach seiner Verwendung des Armutsbegriffs zu fragen. Im Fokus stehen danach die Motive des 1

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Gerd M, Immer mehr Menschen am Rande der Gesellschaft, in: Die im Dunkeln sieht man nicht. . . Gewerkschaftliche Strategien gegen die »Neue Armut«, hg. v. Hans-BöcklerStiftung, Düsseldorf 1985, S. 11–31, hier S. 11. Ibid. Ibid. Werner B u. a., Die neue Armut. Ausgrenzung von Arbeitslosen aus der Arbeitslosenunterstützung, Köln 1983.

https://doi.org/10.1515/9783110613087-010

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IV. Die Debatte um die neue Armut in der Bundesrepublik, 1983–1987

Gewerkschaftsbundes für seine Einmischung in die Armutsdebatte: Warum setzte der DGB 1983 die Armutsfrage erstmals auf die Agenda? Erste Hinweise für die Beschäftigung des DGB mit Armut finden sich im September 1983. Im Zuge der Ankündigung einer »Kampagne gegen den Sozialabbau«5 , mit der der Gewerkschaftsbund auf die Auswirkungen der sozialpolitischen Kürzungspolitik aufmerksam machen wollte, erklärte Gerd Muhr, Armut würde in vielen deutschen Haushalten wieder ein Problem werden. Sein Appell erschien im DGB-Nachrichtendienst unter der Überschrift: »Das Thema ›Armut‹ wird wieder akut«6 . Als erster Schritt auf dem Weg zur öffentlichen Thematisierung der Armut durch den DGB kann die oben zitierte Studie zur neuen Armut gewertet werden. Sie erschien im November 1983 zunächst in der Grauen Reihe der Hans-Böckler-Stiftung und erregte großes Medieninteresse7 . Eine zweite, aktualisierte und erweiterte Auflage der Studie in Buchform erschien nur acht Monate später, im Juli 19848 . Der DGB stellte sie am Anfang des Monats in einer Pressekonferenz der Öffentlichkeit vor und nutzte die Gelegenheit, um auch seine Forderungen zur Bekämpfung der Armut zu artikulieren9 . Im Herbst des gleichen Jahres forderte der Gewerkschaftsbund an verschiedenen Stellen die Anhebung der Sozialhilfesätze und richtete diese Forderung sogar direkt an die Konferenz der Ministerpräsidenten10 . Zwischen 1985 und 1986 organisierte der DGB außerdem drei Veranstaltungen, die sich dem Thema der neuen Armut widmeten. Im Juli 1985 knüpfte eine gemeinsame Veranstaltung von DGB und Hans-Böckler-Stiftung an die Studie zur neuen Armut an11 . Dort diskutierten Vertreter von Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbänden sowie Wissenschaftler über mögliche Lösungen der Armutsfrage. Im Oktober des gleichen Jahres folgte eine Aktionswoche des DGB unter dem Titel »Schluß mit der Politik für wenige. Arbeit für alle. Mitbestimmung. Soziale Gerechtigkeit«12 . Eine Tagung in Köln mit dem Titel »An denen der Aufschwung vorbeigeht« komplettierte im November 1986 die Reihe der Veranstaltungen, mit denen der DGB öffentliches Bewusstsein 5 6 7 8 9

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11 12

N. N., Das Thema »Armut« wird wieder akut, in: DGB-Nachrichtendienst, 16.9.1983. Ibid. L, Armut im geteilten Deutschland, S. 315. Werner B u. a., Die neue Armut. Ausgrenzung von Arbeitslosen aus der Arbeitslosenunterstützung, Köln 2 1984. N. N., Arbeitslose von Verarmung bedroht. DGB legt aktualisierte Studie zur Ausgrenzung von Arbeitslosen vor, in: DGB-Informationsdienst, 10.7.1984; Gerd M, »Neue Armut« – Ursachen und Auswege. Zugang zur Arbeitslosenversicherung erleichtern, in: Soziale Sicherheit 33 (1984), S. 225–228. N. N., DGB: Entstehung von Massenarmut verhindern, Sozialhilfesätze anheben, in: DGBNachrichtendienst, 31.8.1984; N. N., Muhr: Mehr Geld für die Sozialhilfeempfänger, ibid., 5.9.1984; N. N., Muhr: Sozialhilfeempfänger geraten in Existenznot, ibid., 12.9.1984; N. N., Im Wortlaut: Mahnbrief in Sachen Sozialhilfe, in: FR, 11.12.1984. Die im Dunkeln sieht man nicht. . . Schluß mit der Politik für wenige. Arbeit für alle. Mitbestimmung. Soziale Gerechtigkeit, hg. v. DGB-Bundesvorstand, Düsseldorf 1985.

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für Armut schaffen wollte13 . Im gleichen Jahr legte die Hans-Böckler-Stiftung eine dritte und abermals aktualisierte und erweiterte Auflage der Studie zur neuen Armut vor, die unter dem Titel »Neue Armut – keine Wende. Zur (Nicht-)Absicherung der Arbeitslosen nach drei Jahren Wende-Regierung« erschien14 . Seit 1983 machte der DGB also kontinuierlich in der Öffentlichkeit auf die Existenz von Armut aufmerksam, die er als neue Armut beschrieb. Eine erste, sehr knappe Definition dieses Begriffs und eine Erklärung dafür, was als Neuheit des Phänomens angesehen wurde, findet sich in der Studie des rheinischen Journalistenbüros von 1983. Dort erläutern die Autoren: »Eine neue Armut in der Bundesrepublik ist entstanden: Die Armut der Erwerbslosen ohne Arbeitslosenunterstützung«15 . Detaillierter führen die Autoren in der zweiten Auflage ihrer Studie aus: Armut hat es in der Bundesrepublik, einem der reichsten Länder der Welt, immer gegeben: die Armut von Rentnern, Obdachlosen, Behinderten, Ausländern und Sozialhilfeempfängern. Aber durch die jetzt schon zehn Jahre lang anhaltende Massenarbeitslosigkeit und die dramatischen Kürzungen bei der Arbeitslosenunterstützung ist eine in der Geschichte der Bundesrepublik neue Form der Armut dazugekommen: die Armut der Arbeitslosen16 .

Prinzipiell machen die Titel der Studie diesen Fokus auf der Armut von Arbeitslosen schon deutlich, denn die ersten Auflagen erschienen beide mit dem Untertitel »Ausgrenzung von Arbeitslosen aus der Arbeitslosenunterstützung«17 . Diese Definition von neuer Armut als der Situation der Arbeitslosen ohne Unterstützung prägte alle folgenden Aktivitäten des DGB, in deren Fokus die Arbeitslosen standen, die kein Recht auf Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe mehr geltend machen konnten. Die Ausdeutung des Armutsbegriffs macht deutlich, dass der Gewerkschaftsbund mit seinen Aktivitäten vor allem zwei Problemgruppen des Arbeitsmarkts in den Blick nahm, nämlich einerseits Langzeitarbeitslose, andererseits Neulinge auf dem Arbeitsmarkt. Denn sowohl lang andauernde Arbeitslosigkeit als auch eine zu kurze vorausgehende Beschäftigungszeit konnten den Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung verhindern. Diesem Fokus entsprechend betrafen die Vorschläge des DGB zur Bekämpfung der neuen Armut vor allem die Situation der Arbeitslosen: eine bedarfsorientierte Mindestsicherung für Arbeitslose, die Senkung der Anspruchsvoraussetzungen für die Arbeitslosenunterstützung und die Verkürzung der Arbeitszeiten gehörten dazu. Aber auch eine generelle Verbesserung der Si-

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14 15 16 17

Vgl. dazu Uwe Kantelhardt, Langzeitarbeitslosigkeit und »neue Armut« aus der Sicht gewerkschaftlicher Arbeitslosenarbeit. Einleitungsreferat für das Forum I der DGBFachtagung am 5.11.1986 in Köln, Bibliothek der Friedrich-Ebert Stiftung, C 98–413. Werner B u. a., Neue Armut – keine Wende. Zur (Nicht-)Absicherung der Arbeitslosen nach drei Jahren Wende-Regierung, Köln 1986. D., Die neue Armut, 1983. D., Die neue Armut, 2 1984. Ibid.; D., Die neue Armut, 1983.

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IV. Die Debatte um die neue Armut in der Bundesrepublik, 1983–1987

tuation der Sozialhilfeempfänger durch die Weiterentwicklung des Warenkorbs stand auf der Liste seiner Forderungen18 . Die Definition der Armen als Arbeitslose ohne Unterstützung liefert eine erste wichtige Antwort auf die Frage, warum der Gewerkschaftsbund sich im Herbst 1983 erstmalig in die Armutsdebatte einmischt, für die er in den vorausgehenden Jahren kein Interesse aufgebracht hatte. Sie zeigt, dass der DGB mit der neuen Armut kein gänzlich neues Thema aufgriff, sondern vielmehr eines, mit dem er sich seit Beginn des Jahrzehnts intensiv beschäftigte, neu etikettierte beziehungsweise: eine neue Perspektive auf den gleichen Gegenstand einnahm. Denn Arbeitslosigkeit stand als Thema schon mindestens seit dem Beginn des Jahrzehnts weit oben auf der Agenda des Gewerkschaftsbundes19 . Mit der neuen Armut wandte der DGB sich damit keinem neuen Thema und keiner neuen Problemgruppe zu, sondern weiterhin standen die Arbeitslosen im Zentrum seines Interesses. Mit dem Fokus auf der »Ausgrenzung der Arbeitslosen aus der Arbeitslosenunterstützung« richtete der DGB zwar seinen Blick auf spezielle Gruppen unter den Arbeitslosen, blieb aber insgesamt dem Thema treu. Warum der Gewerkschaftsbund sich für die Situation der Arbeitslosen generell interessierte, ist leicht erklärt. Auch wenn der DGB die Interessenvertretung der Arbeiternehmer und nicht der Arbeitslosen war, betraf auch die Situation der Arbeitslosen seine Belange. Schließlich sind Arbeitslose immer auch eine Konkurrenz für die Arbeitnehmer dar, da sie aufgrund ihrer wirtschaftlichen Situation eher dazu bereit sind, Tätigkeiten mit geringer Bezahlung oder unter schlechten Arbeitsbedingungen zu akzeptieren und damit die Verhandlungsposition der Gewerkschaften einschränken. Jedoch ist damit noch nicht geklärt, warum der DGB sich erst zu diesem Zeitpunkt für diese Frage interessierte, denn diesen Zusammenhang hatte es schon immer gegeben. Und auch dass Arbeitslosigkeit mit einem potentiellen Verarmungsrisiko verbunden war, kann nicht als spezifisches Problem der 1980er Jahre bezeichnet werden. Einen wichtigen Erklärungsstrang zur Beantwortung dieser Frage kann der Blick auf die Arbeitslosen- und Sozialhilfestatistik liefern. Erstere zeigt zunächst, dass die Arbeitslosenquote in der Bundesrepublik, nach einer kurzen Erholung Ende der 1970er Jahre, zu Beginn der 1980er Jahre wieder stark angestiegen war. Nachdem sie im Jahr 1980 noch unter vier Prozent gelegen hatte, erreichte sie 1982 schon 7,5 Prozent und sollte bis 1985 sogar auf 9,3 Prozent ansteigen. Die Anzahl der Arbeitslosen, die 1975 erstmals die Millionengrenze überschritten hatte, stieg damit 1983 auf über zwei Millionen an20 . Innerhalb der Arbeitslosen 18 19 20

N. N., DGB: Entstehung von Massenarmut verhindern; N. N., Muhr: Mehr Geld für die Sozialhilfeempfänger. Im Jahr 1983 erklärte der DGB die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit auch zu seinem vorrangigen innenpolitischen Ziel, vgl. L, Armut im geteilten Deutschland, S. 314. Axel S, Die Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland bis 1989/90, München 2007, S. 56–58; B, Die »neue soziale Frage« und die »neue Armut«, S. 145.

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vergrößerte sich in dieser Zeit der Anteil der Langzeitarbeitslosen beträchtlich: Waren 1975 nur circa zehn Prozent der Arbeitslosen für die Dauer von mehr als zwölf Monaten ohne Arbeit, so verdreifachte sich dieser Anteil bis zur Mitte der 1980er Jahre21 . Mit dem Anstieg der Langzeitarbeitslosigkeit wuchs die Gruppe derjenigen Arbeitslosen, die der DGB in seinen Aktionen fokussierte: diejenigen, die keine Arbeitslosenunterstützung mehr erhielten. Denn waren bei dauerhafter Arbeitslosigkeit die Ansprüche auf Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe abgelaufen, konnten die Betroffenen nur noch durch Sozialhilfe unterstützt werden. Die Sozialhilfestatistik verdeutlicht darüber hinaus, dass die Entwicklung des Sozialhilfebezugs immer mehr der Entwicklung der Arbeitslosigkeit folgte. Nachdem zwischen Sozialhilfebezug und Arbeitslosigkeit im ersten Drittel der 1970er Jahre noch kaum ein Zusammenhang bestanden hatte, trat deren gegenseitige Abhängigkeit zu Beginn der 1980er Jahre deutlich aus der Statistik hervor22 . Immer häufiger nannten die Empfänger der Hilfe zum Lebensunterhalt im Rahmen der Sozialhilfe Arbeitslosigkeit als Grund für ihren Sozialhilfeantrag; 1984 wurde Arbeitslosigkeit erstmals zur Hauptursache für die Gewährung dieser Hilfen23 . Mit der Veränderung der Ursachen für den Sozialhilfebezug änderte sich zu Beginn der 1980er Jahre auch das Profil der Sozialhilfeempfänger in der Bundesrepublik maßgeblich. Erstens stieg der Anteil der Männer deutlich an: Nachdem 1972 nur rund 37 Prozent der Empfänger männlich waren, stieg dieser Anteil zu Beginn der 1980er Jahre auf etwa 45 Prozent an. Die Empfängerquoten von Männern und Frauen näherten sich in dieser Zeit also einander an24 . Zweitens war der Anteil der Sozialhilfeempfänger im Alter zwischen 18 und 50 Jahren, also im besten Arbeitsalter, ebenfalls stark angestiegen: Gehörten 1972 nur 26 Prozent der Empfänger zu dieser Altersgruppe, so machte sie zu Beginn der 1980er Jahre schon fast die Hälfte aus25 . Drei weitere Entwicklungen stechen außerdem bei der Betrachtung der Sozialhilfestatistik ins Auge: Auch die Zahl alleinerziehender Mütter im Sozialhilfebezug nahm zu Beginn der 1980er Jahre deutlich zu26 , ebenso das Sozialhilferisiko der ausländischen Arbeitnehmer. Die Anzahl der Kinder und Jugendlichen, die in Sozialhilfeempfängerhaushalten aufwuchsen, stieg 21 22

23

24 25 26

Vgl, S, Die Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, S. 57. B, Die »neue soziale Frage« und die »neue Armut«, S. 145. Boldorf erklärt, dass die Sozialhilfequote 1973 zwar einen Höchststand für die Bundesrepublik erreichte; er führt diese Entwicklung aber auf den Ausbau der sozialpolitischen Leistungen in dieser Zeit zurück. Ibid., S. 146; an zweiter Stelle stand als Grund für den Sozialhilfebezug die unzureichende Alterssicherung, die vorher Hauptursache für die Gewährung der Unterstützung gewesen war. Ibid.; vgl. auch H, Das empirische Bild der Armut, S. 9. B, Die »neue soziale Frage« und die »neue Armut«, S. 146; vgl. auch W, Sozialhilfe. Ibid.

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IV. Die Debatte um die neue Armut in der Bundesrepublik, 1983–1987

ebenfalls an27 . Diese letzten drei Entwicklungen interessierten den DGB jedoch nicht, der sich ganz auf den Sozialhilfebezug der Arbeitslosen konzentrierte und nur diesen als neue Armut ansah. Insgesamt können die Entwicklungen von Arbeitslosigkeit und Sozialhilfebezug also teilweise erklären, warum der DGB 1983 die neue Armut entdeckte: Der in dieser Zeit immer deutlicher werdende Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Sozialhilfebezug hatte den Ausschlag dafür gegeben. Auch Barbara Riedmüller erklärt so die Hinwendung des DGB zu dieser neuen Frage: »Die ›neue Armut‹ wurde erst zum Thema, als Arbeitslosigkeit und Armut Kernbereiche des Arbeitsmarktes bedrohten. War bislang Armut auf nichterwerbstätige Gruppen wie Frauen, alte Menschen und sogenannte Randgruppen beschränkt, so wurden jetzt auch männliche Erwerbstätige erfaßt, deren Interessen gewerkschaftlich und politisch organisiert waren«28 . Ein wichtiger Erklärungsstrang für das Engagement des DGB in der Armutsfrage ist damit freigelegt. Arbeitslosigkeit brachte zwar schon immer ein erhöhtes Verarmungsrisiko für die Betroffenen mit sich; aber erst seit dem Beginn der 1980er Jahre stellte sie den Hauptgrund für den Sozialhilfebezug dar. Verbunden mit dieser Entwicklung war ein gewandeltes Profil des Sozialhilfeempfängers, der zunehmend dem Typus des white male breadwinner ähnelte. Genau dieses Phänomen hatte die Einmischung der Gewerkschaften in die Armutsdebatte ausgelöst. Der stellvertretende DGB-Vorsitzende selbst artikulierte diese Sorge in einer Rede: »Materielle Unterversorgung und soziale Deklassierung sind heute nicht mehr nur auf Personengruppen beschränkt, die außerhalb des Arbeitsprozesses stehen, sondern erfassen sehr schnell sogenannte Normalarbeitnehmer und ihre Familien. Sozialer und materieller Abstieg [. . . ] wird zur Gefahr für breite Arbeitnehmerschichten«29 . An dieser Stelle wird auch deutlich, dass die am Anfang formulierte Vermutung, dass neue Entwicklungen der Armutsstatistik auch zur Neuentdeckung der Armut geführt haben, sich nur zum Teil bestätigt. Zwar stellte der steigende Sozialhilfebezug von Arbeitslosen eine neue Entwicklung in der Sozialhilfestatistik der 1980er Jahre dar – jedoch nur eine von vieren. Nur diese eine war jedoch als neue Armut entdeckt worden: die mit der stärksten Lobby – nicht aber die anderen Gruppen, die ausländischen Arbeitnehmer, Kinder oder Alleinerziehenden. Auch Buhr u. a. kommen zu dem Schluss, »daß die ›neue Armut‹ ein Vehikel war, um auf die Lage der Arbeitslosen hinzuweisen«30 . Ausgangspunkt der Debatte um die neue Armut in den 1980er Jahren sei nicht das Interesse an 27 28

29

30

H, Das empirische Bild der Armut, S. 9. Barbara R, Sozialpolitik und Armut. Ein Thema zwischen Ost und West, in: Ulrich B, Elisabeth B-G (Hg.), Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt a. M. 1994, S. 74–88, hier S. 78. »Immer mehr werden an den Rand der Gesellschaft gedrängt«. Vortrag des stellvertretenden DGB-Vorsitzenden Gerd Muhr auf einer Fachtagung zum Thema »Neue Armut«, September 1985, Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung, A 12–2998. B u. a., Armutspolitik und Sozialhilfe, S. 522.

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2. Die Debatte um die neue Armut

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Armut insgesamt, sondern an der Situation der Arbeitslosen gewesen31 . Diese Feststellung kann hier eindeutig bestätigt werden. Buhr u. a. weisen allerdings darauf hin, dass sich die Armutsfrage in den folgenden Jahren wieder von der Arbeitslosenfrage emanzipierte und Armut wieder in einem breiteren Zusammenhang thematisiert werden konnte32 . Inwiefern das zutrifft, soll in den folgenden Kapiteln noch untersucht werden. An dieser Stelle kann allerdings schon bestätigt werden, dass der DGB über sein Interesse für die Situation der Arbeitslosen auch die Probleme der Sozialhilfeempfänger generell entdeckte und in seine Forderungen mit aufnahm33 . Insgesamt legt der Blick auf die Arbeitslosen- und Sozialhilfestatistik einen wichtigen, jedoch nicht den einzigen Erklärungsstrang für die Einmischung des DGB in die Armutsdebatte frei. Ein zweiter wichtiger Erklärungsstrang besteht darin, dass der DGB diese statistisch neuen Entwicklungen auch aktiv nutzte, um Kritik an der Sozialpolitik der Regierung zu üben. Dies wurde deutlich, als der Gewerkschaftsbund die Frage nach der Ursache für die Entstehung der neuen Armut aufwarf und die Antwort darauf bei der Regierung suchte. Mit unterschiedlicher Stärke brachten Vertreter des Gewerkschaftsbundes den Schuldvorwurf an die Regierung vor. In einer ersten, gemäßigteren Argumentation warfen sie der Regierung vor, die Herausbildung von Arbeitslosigkeit und Armut zu akzeptieren, ohne dagegen vorzugehen. »Die Arbeitslosigkeit wird hingenommen [. . . ] Ganze Gruppen von Arbeitnehmern werden abgeschrieben und bleiben auf der Strecke«34 , so ein Vorwurf, der auf der DGB-Aktionswoche im Oktober 1985 erhoben wurde. Im Jahr zuvor hatte Gerd Muhr schon im Anschluss an eine ausführliche Kritik der Wirtschaftsund Sozialpolitik der Regierung behauptet: »›Neue Armut‹ unter Arbeitslosen ist die kalkulierte Folge dieser Sanierungspolitik; sie wird bewußt in Kauf genommen«35 . In dieser Argumentation erscheint Armut als zwar nicht von der Regierung verursachtes, aber doch von ihr geduldetes Phänomen. Ein zweiter, schwerwiegenderer Vorwurf lastete der Regierung aber direkt die Schuld für die Herausbildung der Armut an. Formuliert wurde dieser zum Beispiel vom DGB-Vorsitzenden Ernst Breit, der der Regierung vorwarf, sie habe durch die sozialpolitischen Kürzungen einen großen Teil der Bevölkerung »in eine neue Armut hineingespart«36 . Auch Gerd Muhr erhob diesen Vorwurf; er brachte die Kürzungen bei Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe vor und erklärte, dass die Regierung damit »immer mehr Personengruppen in die

31 32 33 34 35 36

Ibid. Ibid. N. N., DGB: Entstehung von Massenarmut verhindern; N. N., Muhr: Mehr Geld für die Sozialhilfeempfänger. DGB-Bundesvorstand, Schluß mit der Politik für wenige, S. 11 M, »Neue Armut« – Ursachen und Auswege, S. 226. Zit. nach N. N., Breit: »Unbarmherzig in die neue Armut hineingespart«, in: DGBNachrichtendienst, 17.10.1984.

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IV. Die Debatte um die neue Armut in der Bundesrepublik, 1983–1987

Armut treibe«37 . Die gleiche Idee wurde auch vom Vorstandsmitglied des DGB Ilse Brusis bei der Tagung des Gewerkschaftsbundes zur neuen Armut im Juli 1985 vorgebracht. »Die Kahlschlagpolitik im Sozialbereich hat ›neue Armut‹ produziert«38 , erklärte Brusis dort. Neue Armut produziert, in die neue Armut hineingespart und hineingetrieben – der Begriff der neuen Armut war, so wie er vom DGB verwendet wurde, von Beginn an mit einem starken Schuldvorwurf verbunden. Aktiv nutzte der Gewerkschaftsbund den Begriff, um seine Kritik an der Regierung zu artikulieren. Damit schreiben sich die Aktivitäten des DGB zur neuen Armut nach 1983 deutlich in die »Kampagne gegen den Sozialabbau«39 ein – so die Bezeichnung des Gewerkschaftsbundes für eine Reihe von öffentlichen Erklärungen und Veranstaltungen, mit denen er die Bevölkerung auf die Auswirkungen der Bonner Sozialpolitik aufmerksam machen wollte40 . Hier wird deutlich, warum der DGB gerade 1983 die neue Armut auf seine Agenda setzte: Nicht nur wegen der Entwicklung der Arbeitslosen- und Sozialhilfestatistik, sondern auch wegen des politischen Machtwechsels und des sozialund wirtschaftspolitischen Kurses, den die neue Regierung einschlug. Wie zu Anfang schon skizziert, nahm die Regierung Kohl insbesondere 1983 und 1984 scharfe sozialpolitische Kürzungen vor. Einschnitte in die Sozialhilfe standen auf der Tagesordnung, aber auch Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe wurden deutlich beschnitten41 . Insbesondere Letzteres rief natürlich den DGB auf den Plan. Mit Recht kann eingewandt werden, dass die Kürzungen auch und gerade bei der Arbeitslosenunterstützung nicht erst 1982 und mit der neuen Regierung begonnen hatten, sondern teilweise auch schon von der sozialliberalen Koalition eingeleitet wurden und ihre Anfänge schon in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre gelegt wurden42 . Dass der DGB aber gegen die ihm personell und ideell eng verbundene SPD nicht mit einer Kampagne ins Feld zog, liegt auf der Hand. Nachdem die SPD jedoch im Herbst 1982 aus der Regierung ausgeschieden war, zögerte der DGB nicht mehr, seine 37 38

39 40

41

42

Zit. nach N. N., Gerd Muhr: Arbeitslosigkeit bedeutet immer häufiger Armut, ibid., 29.11.1983. Ilse B, Wir müssen Alternativen sichtbar machen. Eröffnungsbeitrag zum HansBöckler-Gespräch zum Thema »Neue Armut«, in: Die im Dunkeln sieht man nicht. . . , S. 7–10, hier S. 9. Diese Kampagne kündigt im September 1983 Gerd Muhr an, vgl. N. N., Das Thema »Armut« wird wieder akut. Der DGB machte bei den Kundgebungen am 1. Mai 1983 an vielen Orten auf dieses Thema aufmerksam. Im November 1983 richtete er auch einen Appell direkt an die Bundestagsabgeordneten und forderte diese auf, dem Haushaltsgesetz nicht zuzustimmen, vgl. N. N., DGB warnt vor Kürzungen im Sozialetat, in: DGB-Nachrichtendienst, 11.5.1983; N. N., DGB-Appell an Bundestag: Etatentwurf ’84 ablehnen, ibid., 23.11.1983. Die Regierung verschärfte beim Arbeitslosengeld die Anspruchsvoraussetzungen, verlängerte die Sperrzeiten und kürzte die Leistungsdauer für Arbeitnehmer mit geringen Beitragszeiten, vgl. S, Sozialpolitik in Deutschland, S. 102 f. Ibid.

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2. Die Debatte um die neue Armut

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Kritik an der Sozialpolitik zu artikulieren, und attackierte mit großem Elan die Entscheidungen der neuen christlich-liberalen Koalition. Schon wie zuvor die neue soziale Frage kann also auch die neue Armut als Debatte interpretiert werden, in der das Armutsthema als Mittel genutzt wird, um Regierungskritik zu formulieren. Auch Winfried Süß weist auf diese Analogien zwischen der Diskussion der neuen sozialen Frage und der neuen Armut hin: »Für die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften hatte die Debatte um die ›neue Armut‹ eine ähnliche Funktion wie Geißlers provozierende Thesen zur ›Neuen Sozialen Frage‹ wenige Jahre zuvor für die Union. Es ging dabei auch darum, sich in der unbequemen Oppositionsrolle zurechtzufinden und die sozialpolitische Kampagnefähigkeit zurückzuerlangen«43 . Zwischen beiden Debatten bestehen aber nicht nur Ähnlichkeiten, sondern auch explizite Bezüge. Denn der DGB verwies in seinen Ausführungen zur neuen Armut an mehreren Stellen ausdrücklich auf Geißler und Blüm und die von ihnen aufgebrachte neue soziale Frage. So kommentierte Muhr im Juli 1984 das Erscheinen der zweiten Auflage der Studie des rheinischen Journalistenbüros zur neuen Armut mit den Worten: »Da die CDU ihre eigenen noch zu Oppositionszeiten verfaßten Dokumente nicht mehr zur Kenntnis nimmt, geschweige denn zur handlungsleitenden Politik macht, will der DGB mit der vorliegenden Untersuchung an diese verschüttete Tradition anknüpfen«44 . Aktiv stellt der stellvertretende DGB-Vorsitzende damit die Handlungen des DGB als Fortführung einer CDU-Tradition dar. Muhr verstärkte mit dieser Aussage den Vorwurf noch weiter, denn er lastete der CDU hier an, nicht nur irgendein Thema zu ignorieren, sondern eines ihrer eigenen Themen. Im Nachhinein entlarvte er damit die neue soziale Frage als parteipolitischen Angriff einer Opposition, die mehr an der Denunzierung der Regierungspolitik als am Armutsthema an sich interessiert war. Auch in folgenden Publikationen und Reden rekurrierte der DGB auf die neue soziale Frage und deren Initiatoren45 . Die Ausdeutung der »neuen sozialen Frage« der 1970er Jahre als parteipolitischer Schlag gegen SPD und Gewerkschaften46 ist in der Forschung mittlerweile allgemein akzeptiert und verbreitet. In Weiterführung dieser Interpretation kann die »neue Armut« als eine Art Gegenschlag oder Antwort der Gewerkschaften auf dieses Thema begriffen werden. In jedem Fall nutzte der DGB die Armutsfrage, um damit die Politik der Regierung anzugreifen. Um seiner These Nachdruck zu verleihen, griff der DGB übrigens auf einen historischen Vergleich zurück, der schon seit 1983 in seinen Argumentationen präsent war. So beginnt schon die Studie zur neuen Armut für die Hans-Böckler-Stiftung mit den Worten: »Mit dem Arbeitsförderungs43 44 45 46

S, Vom Rand in die Mitte der Gesellschaft, S. 137. M, Neue Armut – Ursachen und Auswege, S. 226. B u. a., Die Neue Armut, 2 1984; M, »Immer mehr werden an den Rand gedrängt«. B u. a., Armutspolitik und Sozialhilfe, S. 517.

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IV. Die Debatte um die neue Armut in der Bundesrepublik, 1983–1987

konsolidierungsgesetz (AFKG) von 1982 und dem Haushaltsbegleitgesetz von 1983 hat in der Bundesrepublik eine Demontage des Systems der Arbeitslosenunterstützung begonnen. Diese Demontage läßt erschreckende Parallelen zum Abbau der Arbeitslosenunterstützung in der Weimarer Republik erkennen«47 . Dieser Vergleich tauchte seitdem immer wieder in den Argumentationen des Gewerkschaftsbundes auf48 . Er führte den Vergleich auch konsequent weiter: So, wie die Massenarbeitslosigkeit in den 1930er Jahren die Demokratie bedroht hatte, so stellte auch die aktuelle neue Armut eine Bedrohung nicht nur für den Sozialstaat, sondern für die demokratische Grundordnung der Bundesrepublik dar. Muhr führte beispielsweise 1984 aus: »Weimar hat auf traurige Weise gezeigt, daß durch einen noch so rasanten Sozialabbau die Beschäftigungsprobleme nicht gelöst werden können. Im Gegenteil. Die Geschichte lehrt: Ein Gesundschrumpfen der Arbeitslosenversicherung darf es nicht wieder geben, da andernfalls eine neuerliche soziale und politische Katastrophe droht«49 . In der DGB-Aktionswoche im Herbst 1985 führt der Gewerkschaftsbund die vorher noch vage als »soziale und politische Katastrophe« umschriebene Idee konkret aus, indem er die sozialpolitischen Sparmaßnahmen der Regierung so beschrieb: »Hier wird der Sozialstaat aufs Spiel gesetzt und die Demokratie. Welche Gefahren Massenarbeitslosigkeit politisch mit sich bringen kann, haben wir in unserer Geschichte schon einmal erlebt. Diese Erfahrung wollen wir nicht noch einmal machen«50 . Verschiedene Forschungsarbeiten haben auf die hohe Präsenz und Bedeutung des Vergleichs mit Weimar in der frühen Phase der Bundesrepublik hingewiesen. Die Orientierung an den Lehren, die man aus Weimar ziehen wollte, spielte eine große Rolle sowohl in wissenschaftlichen als auch in juristischen und politischen Debatten bis in die 1960er Jahre hinein51 . Sebastian Ullrich weist außerdem darauf hin, dass der Vergleich mit Weimar über die Frühphase der Bundesrepublik hinaus bis mindestens in die 2000er Jahre eine wichtige Rolle in den Aussagen von Politikern, Intellektuellen und Journalisten spielte52 . Jedoch deutet er diese als Überbleibsel der politischen Kultur der alten Bundesrepublik, die sich von ihrem historischen Gegenstand weitgehend gelöst hätten: Sie beschrieben keine realen Entwicklungsoptionen der Bundesrepublik 47 48

49 50 51

52

B u. a., Die Neue Armut, 1983, S. 1. Teilweise war er auch schon in den Appellen des Gewerkschaftsbundes gegen die Spargesetze der Regierung präsent, vgl. N. N., Breit: Setzt die Demokratie nicht auf’s Spiel!, in: DGB-Nachrichtendienst, 28.1.1983; N. N., Sozialabbau gefährdet demokratische Grundordnung, ibid., 28.4.1983. M, Neue Armut – Ursachen und Auswege, S. 227. DGB-Bundesvorstand, Schluß mit der Politik für wenige, S. 11. Vgl. die Ergebnisse einer Tagung, die sich 2003 in Bielefeld mit der Frage nach dem »Argument Weimar« befasste: Christoph G (Hg.), Weimars lange Schatten. »Weimar« als Argument nach 1946, Baden-Baden 2003. Sebastian U, Der Weimar-Komplex. Das Scheitern der ersten deutschen Demokratie und die politische Kultur der frühen Bundesrepublik, Göttingen 2009, S. 9–13.

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2. Die Debatte um die neue Armut

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mehr, sondern dienten lediglich der Erregung öffentlicher Aufmerksamkeit. Entsprechend würden sie auch nur wenig ernst genommen53 . Natürlich können auch die Zukunftsprognosen des DGB zu den Folgen der Sozialpolitik der Regierung Kohl nicht als reale Entwicklungsoptionen der Bundesrepublik in den 1980er Jahren bezeichnet werden. Nicht nur die generellen Unterschiede zwischen der Bonner und der Weimarer Republik54 verbieten dies, sondern auch die fehlenden Parallelen zwischen der Sozialpolitik der 1930er und der 1980er Jahre, denn bedeutete Letztere zwar starke Einsparungen, wurde aber von den Zeitgenossen zu Unrecht als Abbau des Sozialstaats gebrandmarkt. Jenseits ihres Bezugs zur historischen Wirklichkeit könnten die Debatten jedoch als Wahrnehmung von Veränderungen im politischen Raum durch die Zeitgenossen gelesen werden. Gabriele Metzler schlägt diesen Blick auf die Diskurse um »Unregierbarkeit« und »Staatsversagen« in den 1970er Jahren vor. Auch diese zeichnen laut Metzler keine Entwicklungsoptionen der westeuropäischen Länder vor, weisen jedoch auf eine Neubestimmung des Staatsverständnisses und der Grenzen des Politischen hin55 . Ebenso könnte die Diskussion einer »Weimarer Entwicklung« des bundesdeutschen Sozialstaats auch als Debatte um das Verständnis und die Rolle des Sozialstaats gelesen werden, die durch das Ende seiner jahrzehntelangen Expansion und den Beginn der sozialstaatlichen Konsolidierung ausgelöst wurde. Weitere Argumente für oder gegen diese These werden die Reaktionen der politischen Parteien auf den Weimar-Vergleich des DGB in den folgenden Kapiteln liefern. An dieser Stelle ist zunächst festzuhalten, dass es in der Bundesrepublik der Deutsche Gewerkschaftsbund war, der 1983 den Begriff der neuen Armut prägte und mit der Ausdeutung als Problem der Arbeitslosen im Sozialhilfebezug in die öffentliche Debatte einbrachte. Der Anstieg der arbeitslosen Sozialhilfeempfänger, aber auch der politische Wechsel und der sozialpolitische Sparkurs der neuen Regierung hatten den DGB dazu gebracht, sich zu diesem Zeitpunkt der Armutsfrage zuzuwenden.

2.2. Das Aufgreifen des Themas durch Arbeiterwohlfahrt und Diakonisches Werk Der DGB hatte als Erster das Thema der neuen Armut aufgebracht, blieb aber nicht lange der Einzige, der sich dieses Anliegen auf seine Agenda schrieb. Zwei Wohlfahrtsverbände, nämlich die Arbeiterwohlfahrt und das Diakonische 53 54 55

Ibid., S. 13. Friedrich B, Benno W (Hg.), Vom Nutzen und Nachteil historischer Vergleiche. Der Fall Bonn – Weimar, Frankfurt a. M., New York 1997. Gabriele M, Staatsversagen und Unregierbarkeit in den siebziger Jahren?, in: J (Hg.), Das Ende der Zuversicht?, S. 243–260.

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IV. Die Debatte um die neue Armut in der Bundesrepublik, 1983–1987

Werk, reagierten prompt auf die vom Gewerkschaftsbund aufgebrachte Frage und griffen sie auf. Als Erstes war es das Diakonische Werk, das sich in die Debatte einmischte. Der Wohlfahrtsverband der Evangelischen Kirche hatte die Armutsfrage nach Impulsen aus der evangelischen Entwicklungsarbeit schon 1980 zu seinem Anliegen gemacht und kann seitdem als sensibilisiert für die materiellen Notlagen in der Bundesrepublik gelten. Die Diakonie hatte zu diesem Zeitpunkt jedoch weder eine Neuheit der Armut diagnostiziert noch sich mit Forderungen zur Armutsbekämpfung direkt an die politischen Entscheidungsträger gewandt – auch wenn eine verbandsinterne Arbeitsgruppe dies bereits als Aufgabe vorgezeichnet hatte. Eine Änderung deutete sich seit 1983 an. Schon seit 1982 begleitete das Diakonische Werk, ebenso wie der DGB, kritisch die sozialpolitischen Entscheidungen der Regierung. Diakonie-Präsident Theodor Schober brandmarkte diese öffentlich als »Spar-Hysterie«56 und »Ausverkauf des Staates«57 . Kritische Artikel in der Zeitschrift »Diakonie-Report« flankierten die Haushaltsbegleit- und Haushaltsstrukturgesetze, die zwischen 1982 und 1984 verabschiedet worden waren, und kommentierten kritisch die sozialpolitischen Kürzungen, die sie als »Sparpolitik zu Lasten der Schwachen«58 bezeichneten59 . Im Kontext eben dieser Kritik an der Sparpolitik tauchte auch ab 1983 die Armutsfrage wieder auf, so wie es auch schon beim DGB der Fall gewesen war. Genau genommen diagnostizierte die Diakonie schon einige Monate vor dem DGB, im März 1983, die Existenz einer »neuen Not«60 in der Bundesrepublik. Nach dieser ersten einzelnen Erwähnung beschäftigte sich der Verband jedoch erst seit 1984 intensiv mit dem Thema, und damit zu einem Zeitpunkt, als der DGB sich zur neuen Armut schon programmatisch aufgestellt hatte. Im Januar 1984 widmete er eine ganze Ausgabe seiner Verbandszeitschrift dieser »neuen Not«61 . In den Artikeln wurde auf den Anstieg der Anfragen, insbesondere nach Kleidung und Nahrung, in den Beratungsstellen des Diakonischen Werks

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60 61

Theodor S, Netzwerk oder Flickwerk, in: Diakonie-Report (1982/3), S. 5. Zit. nach N. N., Nachrichten aus der Diakonie: Warnung vor »Ausverkauf des Staates«, in: Diakonie-Report (1982/4), S. 3. N. N., Sparpolitik nicht zu Lasten der Schwachen planen, in: Diakonie-Report (1983/5), S. 11. Beispiele für andere kritische Artikel zur sozialpolitischen Entwicklung zwischen 1982 und 1984: Gerhard H, Kürzungen bei Sozialleistungen – oder: Wie sieht die Zukunft des »sozialen Netzes« aus?, in: Diakonie-Report (1982/2), S. 7; N. N., Löcher im sozialen Netz. »Es ist den Abgeordneten zu unterstellen, daß sie wußten, was sie taten«, in: DiakonieReport (1982/3), S. 6–7; Brigitte B, Mitte fünfzig, und schon keine Zukunft mehr? Eine Beschreibung des sozialen Netzes am Einzelfall, in: Diakonie-Report (1982/4), S. 6; HansJoachim H, Wende? – Wohin geht die Reise? Bemerkungen zum sozialpolitischen Teil einer Regierungserklärung, in: Diakonie-Report (1983/3), S. 6. Günther D, Die neue Not. Immer mehr Menschen bitten um Kleidung und Lebensmittel, in: Diakonie-Report (1983/3), S. 8. Diakonie-Report (1984/1).

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verwiesen und damit die »neue Not« als Anstieg der materiellen Bedürftigkeit ausgedeutet62 . Mit dieser Definition nähert sich das Diakonische Werk dem Secours catholique an, der 1980 den Begriff der neuen Armut in Frankreich aufgebracht und ebenfalls als Anstieg der materiellen Bedürftigkeit beschrieben hatte. Auch der Secours catholique war durch die steigende Nachfrage nach Kleidung und Nahrung alarmiert worden. Im Unterschied dazu zog aber das Diakonische Werk eine direkte Linie zwischen dem Anstieg dieser Anfragen und der sozialpolitischen Gesetzgebung. Aussagen der Diakonie wie »Bonner Sparmaßnahmen zeigen Wirkungen in Beratungsstellen«63 machen dies deutlich. Auch der Secours catholique hatte die Ursachen für die neue Armut zwar im Sozialstaat insgesamt gesucht, nicht aber so direkt wie das Diakonische Werk die Regierung angegriffen. Ähnlich wie der DGB verband das Diakonische Werk die neue Armut mit einer direkten Beschuldigung der Regierung. Das Engagement des Wohlfahrtsverbandes der evangelischen Kirche gipfelte im Mai 1985 in seiner öffentlichen Stellungnahme »Zur gegenwärtigen sozialpolitischen Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland«64 . Die neue Armut bildet darin den roten Faden der Argumentation. Obwohl die Verfasser einräumen, dass auch die wirtschaftliche Rezession mitverantwortlich für die Herausbildung materieller Notlagen sei, werden auch hier wieder die sozialpolitischen Sparmaßnahmen als hauptsächliche Ursache der neuen Armut präsentiert65 . Erstmals wandte sich eine Institution der Diakonie mit dieser Erklärung direkt an die Regierung, die übrigens mit einer prompten Abwehr reagierte66 . Die schnelle Verteidigung der Regierung überrascht nicht, hatte das Diakonische Werk Westfalen ihr in seiner Erklärung doch vorgeworfen, mit den sozialpolitischen Kürzungen, explizit mit dem Haushaltsstrukturgesetz von 1982 und den Haushaltsbegleitgesetzen von 1983 und 1984, gegen die

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Ibid.; Joachim H, Der Griff in die soziale Schublade, ibid., S. 8. Schon im März 1983 hatte das Diakonische Werk auf eine Verdreifachung der Hilfsgesuche bei seinen Beratungsstellen in Hof und eine Verdopplung in München und Nürnberg hingewiesen. Auch 1985 berichtete der Verband noch darüber und stellte fest: »Kleiderstuben sind wieder aktuell geworden«, vgl. N. N., Sozialpolitik: Notiz, in: Diakonie-Report (1985/6), S. 5; D, Die neue Not, S. 8. N. N., Die hilflosen Helfer. Bonner Sparmaßnahmen zeigen Wirkungen in Beratungsstellen, in: Diakonie-Report (1983/6), S. 13. Zur gegenwärtigen sozialpolitischen Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Stellungnahme des Diakonischen Werks der Evangelischen Kirche von Westfalen, 20.5.1985, ADE, PB 1245. Ibid., S. 8–13. Für die Reaktionen auf die Studie vgl. CDU-Bundesgeschäftsstelle, Abteilung Sozialpolitik, Analyse der Schrift des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche von Westfalen »Zur gegenwärtigen sozialpolitischen Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland«, 9.7.1985, ADE, PB 1245; Wolfgang Vogt, Brief an den ersten Vorsitzenden des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche von Westfalen, 15.8.1985, ibid.; vgl. auch Kap. IV.3.2.

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Prinzipien des Sozialstaats verstoßen und Leistungsabbau auf dem Rücken der Schwächsten betrieben zu haben.67 Auf ähnlichem Wege wie das Diakonische Werk entdeckte auch die Arbeiterwohlfahrt die neue Armut. Wie die Diakonie kommentierte auch sie – allerdings erst seit 1983 – kritisch die sozialpolitischen Kürzungen. Auf der Bundeskonferenz des Verbands 1983 warnte der Vorsitzende, Hermann Buschfort, der Sozialstaat sei »in ernster Gefahr«68 und ein »Zurück zur Armenpflege«69 müsse verhindert werden. Im August 1984, als DGB und Diakonisches Werk das Thema bereits auf ihre Tagesordnung gesetzt hatten, wandte sich auch die AWO der neuen Armut zu. Erste Artikel in ihrer Verbandszeitschrift weisen darauf hin. So wie das Diakonische Werk zuvor machte auch die AWO auf den Anstieg der Anfragen in ihren Kleiderkammern aufmerksam70 . Und so wie vor ihr schon DGB und Diakonie beschrieb auch die AWO die neue Armut als Folge des sozialpolitischen Sparkurses. »Nach den Kürzungen im Sozialbereich macht sich eine neue Armut breit«71 , stellte der Verband schon bei der ersten Erwähnung des Themas in seiner Zeitschrift fest. Mit einem Rekurs auf Weimar bemühte die AWO auch den gleichen historischen Bezugspunkt wie der DGB72 . Prinzipiell näherte sich die Arbeiterwohlfahrt also in ihrer Interpretation der neuen Armut dem Diakonischen Werk, vor allem aber dem DGB an. Ein Unterschied zu Letzterem tritt lediglich in den als arm diskutierten Gruppen zum Vorschein. Denn während der DGB die Arbeitslosen als die neuen Armen bezeichnet hatte, richtete sich der Blick der AWO neben diesen auch auf alte Menschen73 und am Ende des Jahrzehnts auch auf Kinder74 . Auch die AWO erfasste damit das empirisch Neue an der neuen Armut nur teilweise. Denn mit der Altersarmut fokussierte sie ein Phänomen, das die Statistik für die 1980er Jahre eindeutig als rückläufig beschreibt. Dagegen war das Armutsrisiko von

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CDU-Bundesgeschäftsstelle, Abteilung Sozialpolitik, Analyse der Schrift des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche von Westfalen »Zur gegenwärtigen sozialpolitischen Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland«, 9.7.1985, ADE, PB 1245, S. 6–11. Zit. nach N. N., Sozialstaat in ernster Gefahr, in: Sozialprisma (1983/12), S. 181. Zit. nach N. N., Kein Zurück zur Armenpflege, ibid., S. 192. Stefan G, Die Ärmsten werden noch ärmer, in: Sozialprisma (1984/9), S. 144; später auch: N. N., Kleiderstuben haben Hochkonjunktur, in: Sozialprisma (1985/6), S. 94; Doris W, Kleiderstuben als »Second-help-shops« der Sozialämter?, in: Sozialprisma (1986/4), S. 51; Heinz N, Kleiderstuben haben Konjunktur, in: Sozialprisma (1989/4), S. 63. So heißt es auf dem Titelblatt der Verbandszeitschrift im August 1984; das Heft erschien unter dem Titel »Armut morgen«, vgl. Sozialprisma (1984/8). Vgl. dazu das Titelbild der Verbandszeitschrift von Oktober 1982, das jeweils eine Warteschlange vor dem Arbeitsamt von 1930 und von 1982 zeigt: Sozialprisma (1982/10). G, Die Ärmsten werden noch ärmer; D., So lebt sich’s mit der Sozialhilfe, in: Sozialprisma (1984/8), S. 115: »Nicht etwa Außenseiter der Gesellschaft, sondern Väter und vor allem Mütter der Steuerzahler sind auf die Leistungen der Sozialhilfe angewiesen«. Vgl. insbes. das Januarheft 1987 der Verbandszeitschrift zum Thema »Kinder der Krise sind die Kinder von Arbeitslosen«, in: Sozialprisma (1987/1).

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2. Die Debatte um die neue Armut

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Kindern und Jugendlichen in der gleichen Zeit tatsächlich steil angestiegen. Für diese statistisch neue Risikogruppe hatte sich bisher keiner der anderen untersuchten Akteure interessiert. Nur der AWO kam unter den Verbänden der Verdienst zu, dieses statistisch neue Problem identifiziert und darauf aufmerksam gemacht zu haben. Die Aktionen der AWO kulminierten im Jahr 1984, als der Verband eine bundesweite Unterschriftensammlung »Für Solidarität und soziale Gerechtigkeit – gegen eine Ellenbogengesellschaft und gegen den Sozialabbau« durchführte. Dem vorausgegangen war die bundesweite Verteilung von Faltblättern mit der Überschrift »Zielscheibe Sozialstaat – Es kann auch Sie treffen«. Auf den Faltblättern hatte der Verband erklärt: »Es gibt eine neue Armut in Deutschland, denn selbst die Ärmsten wurden nicht verschont. Die zweitreichste Industrienation der Welt leistet sich Almosenopfer«75 – ein Vorwurf, der natürlich eine Reaktion der Regierung hervorrief. Das Ministerium für Arbeit und Sozialordnung, das eine offizielle Antwort an die AWO formulierte, wehrte die Anklagen ab. Die Aussagen der AWO wertete der Staatssekretär des Ministeriums in seinem Schreiben an den Verbandsvorsitzenden Buschfort als »Schauerbilder«76 und »Volksverdummung«77 ab. Insgesamt griffen die beiden Verbände die Frage der neuen Armut in einer Zeit auf, in der der DGB sie bereits zu seinem Anliegen und mit ersten Aktionen und Publikationen in der Öffentlichkeit auf sie aufmerksam gemacht hatte. Sie brachten also kein neues Thema auf, sondern schalteten sich in eine Debatte ein, die bereits im Gang war – auch wenn sie noch am Anfang stand. Auch inhaltlich lehnten sich die Verbände in ihrer Lesart der Armutsfrage stark an den DGB an: Wie der Gewerkschaftsbund verstanden sie die neue Armut als Konsequenz der Sozialpolitik der christlich-liberalen Regierung. Ebenso diskutierten sie das Thema nicht nur verbandsintern, sondern verbreiteten es mit Publikationen, Stellungnahmen oder Unterschriftensammlungen in der Öffentlichkeit. Direkt forderten sie die Regierung damit zum Handeln gegen die Armut auf. Zwar reichen die vereinzelten Aktionen von AWO und Diakonie in ihrem Ausmaß nicht an die des Gewerkschaftsbundes heran, der mit einer Reihe von Publikationen, Tagungen und einer Aktionswoche von 1983 bis 1986 durchgehend die neue Armut skandalisierte. Trotzdem stellen diese Aktionen eine wichtige Neuerung dar, weil die Verbände damit erstmals im Untersuchungszeitraum die Armutsfrage als politisches Anliegen formulierten und in der Folge auch direkt an die Regierung adressierten. Warum taten sie dies jetzt? Der AWO können zunächst ähnliche Motive wie dem DGB unterstellt werden, denn auch sie war ideell und personell eng

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Vgl. den Abdruck des Faltblatts in: Sozialprisma (1984/11). Wolfgang Vogt, zit. nach Herrmann B, CDU droht Arbeiterwohlfahrt, in: Sozialprisma (1985/2), S. 19. Ibid.

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mit der Sozialdemokratie verbunden78 und daher vor 1982 sicher wenig an Regierungskritik interessiert. Nach dem Amtsantritt der Regierung Kohl sah die Situation jedoch anders aus. Dass die AWO den Sparkurs der Sozialpolitik, den die sozialliberale Regierung bereits eingeleitet hatte, erst kritisierte, als die christlich-liberale Regierung ihn fortsetzte, bestätigt diese Vermutung. Jedoch greift die Erklärung nicht für das Diakonische Werk, das mit keiner der beiden Regierungen so eng verbunden war und außerdem die Spargesetze sowohl vor als auch nach dem Regierungswechsel öffentlich kritisiert hatte. Erklärungen für das Verhalten beider Verbände finden sich in einem generellen Wandel ihres Verhältnisses zum Staat in dieser Zeit79 . Thomas Olk weist für das Diakonische Werk darauf hin, dass die 1980er Jahre insgesamt eine Phase der Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Diakonie und Staat darstellen. Seit das BSHG 1961 das Subsidiaritätsprinzip im Gesetz verankert und den Wohlfahrtsverbänden eine privilegierte Stellung im sozialen Bereich zugewiesen hatte, war das Verhältnis zwischen Staat und Diakonie vor allem durch Partnerschaftlichkeit gekennzeichnet gewesen. Seitdem aber in der Mitte der 1970er Jahre die sozialpolitischen Verteilungsspielräume enger wurden, fürchtete die Diakonie, die zu diesem Zeitpunkt immerhin zu 38 Prozent aus staatlichen Mitteln finanziert wurde, um ihre Stellung80 . Für das Diakonische Werk, so wie für die anderen Spitzenverbände der deutschen Wohlfahrtspflege auch, bedeuteten die sozialpolitischen Sparmaßnahmen also eine Verunsicherung, da sie ihre finanzielle Basis in Frage stellten. Mit ihren Hinweisen auf die neue Armut prangerten die Verbände also nicht nur die Situation der Betroffenen an, sondern wiesen implizit auch auf ihre eigene Situation hin. Die Skandalisierung der neuen Armut durch die Verbände kann also auch als Teil einer Debatte um die Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Verbänden und Sozialstaat gelesen werden, in einer Zeit der enger werdenden finanziellen Spielräume des Sozialstaats.

2.3. Die Caritas als »Anwalt der Armen« und die Weiterführung der Armutsberichterstattung durch die Verbände Auch der deutsche Caritasverband entdeckte in den 1980er Jahren Armut als materielle Notlage wieder und wandte sich wie AWO und Diakonie auch mit Aufforderungen zur Armutsbekämpfung an die Bundesregierung. Obwohl der Verband sich damit den anderen beiden Verbänden annäherte, wird seinem 78 79 80

Der 1983 neu gewählte Vorsitzende der AWO, Hermann Buschfort, saß sogar für die SPD im Bundestag. Genauer in: H, Armutsberichterstattung. O, Die Diakonie im westdeutschen Sozialstaat, S. 281–283.

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2. Die Debatte um die neue Armut

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Beitrag zur Armutsdebatte hier ein eigenes Kapitel gewidmet, da die Caritas mit den Armutsberichten ein anderes Mittel zur Thematisierung des Problems wählte und außerdem die Armutsfrage deutlich später als die anderen beiden Verbände aufgriff. Letzteres kann sicher teilweise durch die Verbundenheit des katholischen Verbandes zu einer von den Christdemokraten angeführten Regierung erklärt werden. Aber auch sein Festhalten an Begriffen und Analysekategorien der 1970er Jahre spielt eine Rolle. Denn als einziger der hier untersuchten Verbände hatte die Caritas in den 1970er Jahren schon die Armutsfrage als psychosoziale Notlage sogenannter Randgruppen entdeckt. An dieser Ausdeutung hielt sie bis Anfang der 1980er Jahre fest. Zwar hat ihr Archiv auch hier die Einsicht in die relevanten Bestände verwehrt, jedoch geht aus der Verbandszeitschrift deutlich hervor, dass die Caritas noch bis zur Mitte der 1980er Jahre an ihrer Auffassung von Armut als Isolation und psychischer Not und an der Beschreibung der Betroffenen als Randgruppe festhielt81 . Eine europäische Caritas-Regionalkonferenz hatte 1982 noch festgestellt, dass Armut vor allem »seelische Armut«82 im Sinne von Vereinsamung bedeute und dass die Aufgabe der Caritas daher nicht in materieller Unterstützung bestehe, sondern im pastoralen Bereich liege83 . Der DCV nannte im gleichen Jahr Krankenhilfe und Integrationsarbeit für ausländische Arbeitnehmer als seine wichtigsten Aufgaben84 . Für materielle Problemlagen zeigte der Verband noch bis zu Beginn der 1980er Jahre wenig Interesse. Erst 1985 zeichnet sich eine Veränderung ab – zu einem Zeitpunkt, als der Begriff der neuen Armut in der öffentlichen Debatte der Bundesrepublik schon verbreitet war. Zwar wies die Caritas den Begriff ausdrücklich zurück und lehnte die »zu schlagwortartig verwendete These von der ›neuen Armut‹«85 ab. Jedoch distanzierte sich ein Verbandsmitarbeiter in der Zeitschrift im Jahr 1985 auch erstmals von seinem jahrelang verwendeten Randgruppen-Begriff und räumte ein: »Armut und Sozialhilfe sind also keine Probleme einer besseren Versorgung eines immer größer werdenden, vielfach noch als Randgruppe betrachteten Teils unserer Gesellschaft, sondern sie betreffen die Grundfesten der sozialen Sicherung«86 . Der semantische Bruch spiegelt den generellen Wandel in der Annäherung des Verbandes an Armut wider. Denn seit 1985 interessierte sich die Caritas verstärkt für materielle Notlagen, die vorher hinter 81

82 83 84 85 86

Paul M. Z, Leben am Rande der Gesellschaft, in: Caritas (1979/5), S. 266–270; Franz K, Die Behinderung ein Fall – der Behinderte ein Mensch, in: Caritas (1981/1), S. 3–11; Julia A, Sparen, aber wo?, in: Caritas (1982/4), S. 193–199; Teresa B, Mitarbeiter in der Nichtseßhaftenhilfe, in: Caritas (1983/5), S. 225–232. Loretta P, Von Malta nach Athen über Berlin, in: Caritas (1982/4), S. 189–193. Ibid. Georg H, Grundfragen der Caritas. Schwerpunkte und Perspektiven in der Gegenwart, in: Caritas (1982/1), S. 16–24. Bernd-Otto K, Die verhinderte Warenkorbfrage – Armut unter Sozialhilfeempfängern, in: Caritas (1985/5), S. 267–270. Ibid.

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den psychischen Problemen zurückgetreten waren. Vermehrt stellte sie fest, Armut sei »zuallererst eine Frage des Geldes«87 und ein »Einkommensproblem [. . . ] das zunächst mit Geld gelöst werden muß«88 . Neue Personengruppen rückten außerdem als Betroffene dieser materiellen Schwierigkeiten in den Fokus der Caritas. Nachdem der Verband in den 1970er Jahren psychisch Kranke, geistig Behinderte, Straffällige und Obdachlose als Randgruppen diskutiert hatte, interessierte er sich seit der Mitte der 1980er Jahre verstärkt für alte Menschen, Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger. Auch verortete die Caritas die Ursache dieser Notlagen anders als in den 1970er Jahren. Gesellschaftliche Prozesse wie der technische und mediale Wandel, die in den 1970er Jahren hauptsächliche Erklärungsfaktoren für die Entstehung von Armut gewesen waren, verloren in den Argumentationen an Bedeutung. Mit der Formulierung, Armut sei die »Folge der über zehnjährigen Massenarbeitslosigkeit und ihrer ungenügenden sozialpolitischen Abfederung«89 , resümiert Franz-Xaver Ertl in einem Artikel der Caritas-Zeitschrift die beiden von der Caritas favorisierten Erklärungen für die Entstehung der Armut, nämlich einerseits die Wirtschaftskrise und andererseits auch die fehlende sozialpolitische Absicherung dieser Probleme. Wie vor ihm schon AWO und Diakonie machte auch der Caritasverband die Regierung mit verantwortlich für die Herausbildung der materiellen Notlagen. Ebenso wie die anderen Verbände kritisierte er dabei insbesondere die Kürzungen in der Sozialhilfe. Beispielsweise erklärte ein Caritas-Mitarbeiter, die Einschnitte in der Sozialhilfe seien »schlichtweg ein Ärgernis«90 , und führte weiter aus: »Alle sozialen Sparmaßnahmen der letzten Jahre haben auch nicht im entferntesten jenes Ausmaß angenommen, das hier einer Gruppe ohne Einfluß und ohne Lobby auferlegt wurde«91 . Insbesondere der letzte Aspekt der Armen als Gruppe ohne Lobby kehrte in den Argumentationen des Caritasverbandes häufig wieder92 . Auch Diakonie und AWO waren zu dieser Feststellung gekommen, und ebenso wie diese forderte die Caritas anschließend diese Lobby-Rolle für sich selbst ein. Sie wollte »eigenständige Formen einer anwaltlichen Politik für Arme entwickeln«93 und eine »Option für die Armen«94 realisieren. Die letzte Formulierung nimmt eindeutig Bezug auf die Überlegungen der Befreiungstheologie, die das Prinzip der »Option 87 88 89 90 91 92

93 94

Franz Xaver E, Die Armut hat viele Gesichter, in: Caritas (1989/1), S. 16. Karl-Heinz G, Armut in der Bundesrepublik – Wissenschaftliche Untersuchungen und ihre Konsequenzen für Politik, Gesellschaft und Kirche, in: Caritas (1989/3), S. 109. E, Die Armut hat viele Gesichter. Bernd-Otto K, Sozialhilfe: ein Ärgernis, in: Caritas (1985/3), S. 104–108. Ibid. Karl G, Hat der Caritas-Verband in der Kirche einen politischen Auftrag als Anwalt der Armen?, in: Caritas (1989/3), S. 102–108; Hartmut F, Familien in sozialen Brennpunkten, in: Caritas (1985/1), S. 26–33; Bernd-Otto K, Caritas ist Anwalt der Armen, in: Caritas (1988/1), S. 11–20. G, Hat der Caritas-Verband in der Kirche einen politischen Auftrag. Ibid.

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2. Die Debatte um die neue Armut

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für die Armen« geprägt hatte. Schon in den Diskussionen des Diakonischen Werks waren Bezüge auf diese in Lateinamerika entwickelte Richtung der christlichen Theologie deutlich geworden. Die Einforderung der Rolle der Stimme für die Armen durch die lateinamerikanische Kirche hatte 1980 die Beschäftigung der evangelischen Kirche in Deutschland mit der Situation der Armen in der Bundesrepublik angestoßen. Hier wird aber deutlich, dass befreiungstheologische Impulse auch für den Umgang der Caritas mit den materiellen Notlagen in der Bundesrepublik prägend waren. Parallelen nicht nur zum Diakonischen Werk, sondern auch zur AWO treten insgesamt deutlich hervor: Wie diese beiden entdeckt auch der Caritasverband materielle Notlagen in den 1980er Jahren wieder, und die Armen als Gruppe ohne Lobby. Die Schuld verortete auch die Caritas unter anderem in der Sozialpolitik der Regierung. Ebenso können der Caritas ähnliche Motive unterstellt werden wie zuvor schon der Arbeiterwohlfahrt und dem Diakonischen Werk. Auch die Caritas befand sich in hoher Abhängigkeit von staatlichen Mitteln und fürchtete mit den sozialpolitischen Kürzungen die Schwächung ihrer finanziellen Basis. Wie vor ihr schon Diakonie und AWO wollte auch die Caritas die Rolle des Anwalts für die Armen einnehmen. Erstere hatten diese Rolle unter anderem mit Unterschriftensammlungen, Flugblattaktionen und Protestschreiben an die Regierung ausgefüllt. Der Caritasverband wählte ein anderes Mittel, um auf die Situation der Bedürftigen aufmerksam zu machen, und zwar die Erstellung eines Armutsberichts. Die Caritas griff damit eine Forderung auf, die verschiedene Akteure zu diesem Zeitpunkt schon in der öffentlichen Debatte geäußert hatten, nachdem die Bundesregierung den Armutsbericht von Richard Hauser von 1981 nicht als Anregung zur Beschäftigung mit diesem Thema aufgegriffen hatte. Der DGB95 oder auch ein Abgeordneter der SPD-Bundestagsfraktion96 hatten aber in den folgenden Jahren weiterhin einen Armutsbericht der Regierung eingefordert, ebenso wie der Caritasverband selbst97 . Bei der Regierung stießen sie damit jedoch alle auf taube Ohren. Zwar traten seit 1985 die ersten deutschen Großstädte mit kommunalen Armutsberichten an die Öffentlichkeit98 ; ein nationaler Bericht blieb jedoch aus. Erst im Jahr 2001, und damit zwanzig Jahre 95

96 97 98

Der Deutsche Gewerkschaftsbund äußerte die Forderung nach einem Armutsbericht erstmals im November 1986 und wiederholte sie in den folgenden Jahren mehrfach, vgl. N. N., DGB fordert »ehrliche« Daten über Neue Armut. Immer mehr Arbeitslose leben von Sozialhilfe, in: FR, 5.11.1986; N. N., DGB fordert »nationalen Armutsbericht«, in: dpa, 24.4.1987; N. N., DGB fordert »Armutsbericht«, ibid., 2.1.1989. Der SPD-Abgeordnete Reimann brachte im Mai 1986 während einer Fragestunde im Bundestag dieses Anliegen vor, vgl. BT-Drucksache 10/5456. N. N., Caritas verlangt systematische Armutsberichterstattung, in: ddp, 19.2.1987. Dies waren 1985 die Städte Düsseldorf, Hamm, Hagen, Konstanz und Schwäbisch Hall. Weitere Städte taten es ihnen nach; ihre vorläufige Hochzeit erreichte die kommunale Armutsberichterstattung in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre, vgl. Silke M, Konzepte und Methoden von Sozialberichterstattung. Eine empirische Analyse kommunaler Armuts- und Sozialberichte, Wiesbaden 2006, S. 169.

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IV. Die Debatte um die neue Armut in der Bundesrepublik, 1983–1987

nach dem Erscheinen des Berichts für die EG, sollte erstmals eine deutsche Regierung einen nationalen Armutsbericht in Auftrag geben99 . So stießen in den 1980er Jahren die Wohlfahrtsverbände in die Lücke, die die Regierung offenließ. Als Erster wurde der Caritasverband der Diözese Münster aktiv und legte im Oktober 1987 unter dem Titel »Arme haben keine Lobby. CaritasReport zur Armut«100 einen Bericht vor, der noch eine Mischform zwischen regionalem und nationalem Ansatz darstellt. Zwar verstanden die Autoren selbst ihn als Armutsbericht für die Bundesrepublik und bezogen ihre Aussagen auf die gesamte Republik. Jedoch stammten die Beispiele und Erfahrungsberichte, die einen großen Teil des Berichts ausmachten, ausschließlich aus der Arbeit der Caritas in der Diözese Münster101 . Der Bericht, den der Verband 1993 unter dem Titel »Arme unter uns« publizierte, hatte sich schließlich von jeglichem kommunalen oder regionalen Fokus gelöst102 . Zuvor war ein weiterer Armutsbericht für Deutschland veröffentlicht worden, und zwar durch den DPWV. Im November 1989, also etwas mehr als zwei Jahre nach dem Erscheinen des Berichts der Caritas Münster, legte er das Ergebnis seiner Arbeit vor unter dem Titel: »›. . . wessen wir uns schämen müssen in einem reichen Land‹«103 . 1994 legte der DPWV außerdem mit »Armut in Deutschland« einen weiteren, gemeinsam mit dem DGB verfassten nationalen Armutsbericht vor104 . Die meisten der hier angeführten Berichte fallen aber aus dem zeitlichen Rahmen dieser Studie heraus und können daher keiner ausführlichen Analyse unterzogen werden. Exemplarisch soll an dieser Stelle nur ein Blick auf den Bericht der Caritas von 1987 geworfen werden. Wie wenig bekannt die Situation der Armut in der Bundesrepublik über den gesamten Untersuchungszeitraum war, ist an verschiedenen Stellen dieser Arbeit immer wieder hervorgetreten. »Wir sind arm an Wissen über die Armut«105 – dieses Fazit hatte ein Artikel der »Frankfurter Rundschau« 1975 aus den Thesen Heiner Geißlers zur neuen sozialen Frage gezogen. Seit dem Beginn der 1980er Jahre zeichnete sich eine Änderung dieser Situation ab. Nicht nur der Armutsbericht für die EG, sondern auch die zitierten einzelnen Arbeiten von 99

100 101 102 103

104 105

Richard H, Armutsforschung und Armutsberichterstattung. Vortrag beim ZUMAWorkshop über Armuts- und Reichtumsberichterstattung, Mannheim, 8.–9. November 2001, http://www.gesis.org/fileadmin/upload/dienstleistung/veranstaltungen_fortbil dungen/archiv/soz_ind/Hauser.pdf (22.1.2019). Arme haben keine Lobby. Caritas-Report zur Armut, hg. v. Caritasverband für die Diözese Münster, Freiburg 1987. Ibid., S. 29–93. Richard H, Werner H, Arme unter uns, Bd. I: Ergebnisse und Konsequenzen der Caritas-Armutsuntersuchung, hg. v. DCV, Freiburg 1993. ». . . wessen wir uns schämen müssen in einem reichen Land. . . « Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes für die Bundesrepublik Deutschland, in: Blätter der Wohlfahrtspflege 11–12 (1989), S. 269–348. Walter H u. a., Armut in Deutschland. Der Armutsbericht des DGB und des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Hamburg 1994. N. N., »Wir sind arm an Wissen über die Armut«.

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Armutsforschern sowie die Antworten auf die parlamentarischen Anfragen hatten dazu beigetragen, dass das Wissen über Armut stetig zunahm – auch wenn zu diesem Zeitpunkt noch viele Wissenslücken bestanden. Mit seinem Bericht trug auch der Caritasverband dazu bei, dieses Wissen zu vergrößern. Er leistete dies einerseits mit Statistiken zur Entwicklung von Obdachlosigkeit, Sozialhilfebezug und Arbeitslosigkeit in der Diözese Münster, andererseits auch mit Erfahrungsberichten der Betroffenen und der Mitarbeiter des Verbandes sowie mit Überlegungen zur Armutsbekämpfung106 . Der Anspruch des Berichts ging aber deutlich über diesen Anspruch der neutralen Information hinaus. Dies wird schon in seinem Vorwort deutlich, in dem die Verfasser ihre Motivation zur Erstellung des Berichts wie folgt erläutern: »Der Caritasverband für die Diözese Münster e. V. legt den Bericht der Öffentlichkeit vor, um dadurch auf eine wachsende Gruppe von Menschen aufmerksam zu machen, die weithin übersehen werden, bzw. deren Lebenssituation auf weite Strecken hin nicht wahrgenommen wird«107 . Mit dem Bericht wollte der Verband nicht nur informieren, sondern er stellte für die Caritas ein Mittel dar, mit dem sie die Aufmerksamkeit auf die ihrer Meinung nach vernachlässigte Armutsfrage zog. Daneben nutzte sie ihn auch, um dem Gesetzgeber die Vorschläge des Verbandes zur Armutsbekämpfung zu unterbreiten. In diesem Kontext forderte die Caritas beispielsweise an erster Stelle die sofortige Anhebung der Sozialhilferegelsätze um 30 Prozent und in langfristiger Perspektive die Ersetzung des Sozialhilfesystems durch eine neue Form der Grundsicherung108 . Aufmerksamkeit für ein vernachlässigtes und von der Regierung nicht anerkanntes Thema schaffen – diese Motivation bildete den Hintergrund für die Verfassung des Armutsberichts der Caritas. Ähnliche Motive können auch dem DPWV für seinen zwei Jahre später erscheinenden Bericht unterstellt werden. Denn schon der Titel »Wessen wir uns schämen müssen in einem reichen Land« verdeutlicht, dass es auch dem DPWV nicht nur darum ging, Informationen zu verbreiten, sondern auch darum, öffentliches Interesse und Unterstützung für sein Anliegen zu gewinnen. Lutz Leisering beschreibt aus diesem Grund diese ersten Armutsberichte der Wohlfahrtsverbände als »Zeugnis einer pauschalen Skandalisierung«109 . Als Gesamturteil ist dem Bericht der Caritas damit Unrecht getan, denn der Bericht enthält wie gesagt eine sorgfältige Analyse eines Feldes, in dem der Verband sich von seiner alltäglichen Arbeit her bestens auskannte. Ohne Zweifel spielt aber auch die Skandalisierung der Armutsfrage eine wichtige Rolle – was letztlich nicht überrascht, denn schließlich hatte ein Verband den Bericht verfasst, der sich kurz zuvor zur Lobby der Armen erklärt hatte. Insofern sind die Berichte 106 107 108 109

Arme haben keine Lobby. Ibid., S. 7. Ibid., S. 25–28. So das Urteil von Lutz Leisering, vgl. L, Armutsbilder im Wandel, S. 168.

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in einer Linie mit den vorher skizzierten Unterschriften- und Flugblattaktionen von AWO und Diakonie zu lesen, denn sie verfolgten das gleiche Ziel, nämlich öffentliche Aufmerksamkeit für die Armutsfrage zu erlangen. Ein wichtiger Unterschied zur französischen Situation wird an dieser Stelle deutlich. Wie im vorausgehenden Kapitel gezeigt, stellten auch in Frankreich Armutsberichte ein wichtiges Element der Debatte dar. Dort war es allerdings die Regierung gewesen, die den Auftrag für diese Berichte erteilt hatte. Die Verbände waren an der Erstellung dieser Berichte auch beteiligt – nachdem die Regierung sie zur Beteiligung eingeladen hatte. Sie hatten die Berichte im Auftrag der Regierung verfasst oder in den Arbeitsgruppen mitgearbeitet, die die Berichte vorbereitet hatten. Verbände und Sozialstaat hatten dort also in einem partnerschaftlichen Verhältnis agiert. In Deutschland dagegen verfassten die Verbände ihre Armutsberichte nicht nur aus eigener Initiative, sondern auch gegen den Willen der Regierung. Auch hier zeigt sich wieder, was sich schon bei AWO und Diakonie abgezeichnet hat, nämlich eine Veränderung des Verhältnisses der Verbände zum Sozialstaat. Die in Deutschland traditionell eng an den Staat angebundenen Verbände gingen in den 1980er Jahren ein Stück weit auf Distanz. Der Sparkurs der Sozialpolitik brachte die Verbände dazu, eine kritischere und distanziertere Haltung gegenüber dem Staat einzunehmen. Und aus eben dieser Distanz heraus konnten sie öffentlich auf die Armut aufmerksam machen.

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3. Die parteipolitische Diskussion der neuen Armut 3.1. SPD und Grüne: das Vordringen der Debatte in den Bundestag Unter den politischen Parteien war die SPD die erste, die sich die Frage der neuen Armut zu eigen machte. Aufgrund ihrer engen personellen und ideellen Verbindungen zum DGB verwundert es nicht, dass sie als Erste das Thema aufgriff, das der Gewerkschaftsbund eingebracht hatte, und zwar im September 1984 bei der Verhandlung des Haushaltes des kommenden Jahres. Bei der Diskussion um die Familienpolitik wandte sich die SPD-Abgeordnete Anke Fuchs mit der Anklage an die Regierung: »Sie haben das Kindergeld gekürzt. Sie haben das Wohngeld gekürzt. Und wenn Herr Geißler seine früheren Studien über die neue Armut ernst nehmen würde, dann müßte er sich schämen. Denn er produziert neue Armut in diesem Land«1 . Der Vorwurf der produzierten Armut, so wie der DGB ihn schon formuliert hatte, war also auch in der Debatte im Bundestag von Anfang an präsent. Fuchs richtete den Vorwurf an Heiner Geißler und damit an ihren direkten Nachfolger im Amt des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit. Neue Armut wurde so zum Element der Kritik der ehemaligen Regierung an der neuen. Darüber hinaus wird hier der Rückbezug auf die neue soziale Frage deutlich, der auch schon für den DGB nachgewiesen werden konnte. Denn Fuchs wandte sich hier nicht nur an ihren Amtsnachfolger im Ministerium, sondern auch an den Initiator der neuen sozialen Frage. Wie der DGB wollte also auch die SPD im Nachhinein die neue soziale Frage als Farce der ehemaligen Opposition darstellen, indem sie aufzeigte, dass das Interesse der CDU an Armut mit dem Ende ihrer Oppositionsrolle erloschen sei. Das Thema der neuen Armut griffen am gleichen Tag noch zwei weitere SPD-Abgeordnete im Bundestag auf2 . Im Oktober kamen außerdem Mitglieder der Fraktion der Grünen hinzu, die sich nach der SPD nun ebenfalls an der Debatte um die neue Armut beteiligten. Dabei ähnelten die ersten Redebeiträge der Grünen zu diesem Thema prinzipiell denen der SPD. Auch die Grünen stellten die neue Armut als Folge der Politik der christlich-liberalen Regierung dar. So nahm die Grünen-Abgeordnete Gabriele Potthast Bundesarbeitsminister Norbert Blüm für die Verlängerung der Sperrzeiten in der Arbeitslosenversicherung bei gleichzeitigen Überschüssen der Bundesanstalt für Arbeit ins Gebet: »Das zu rechtfertigen, Herr Blüm, ist Ihr eigentliches Problem, das zu 1 2

BT-Plenardebatte, 10. Wahlperiode, 82. Sitzung, 13.9.1984, S. 6022. Wolfgang Roth und Wolfgang Sieler, ibid., S. 5989, 6043.

https://doi.org/10.1515/9783110613087-011

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rechtfertigen vor dem Hintergrund der neuen Armut, einer neuen Armut, die Sie nicht zuletzt auch durch Ihre Haushaltsbegleitgesetze aus dem vorigen Jahr gnadenlos herbeigeführt haben«3 . Nicht Familienminister Geißler, sondern Arbeitsminister Blüm stand jetzt im Feuer der Kritik; nicht familienpolitische, sondern arbeitsmarktpolitische Entscheidungen der Regierung wurden attackiert. Die Ausdeutung der neuen Armut blieb jedoch identisch mit der der SPD: Auch die Abgeordneten der Grünen warfen sie der Regierung vor. Neue Armut stellte die Abgeordnete hier ganz konkret als Folge der Haushaltsbegleitgesetze dar. An anderer Stelle sprachen auch die Grünen wie die SPD explizit von einer »neu produzierten Armut«4 . Zwischen Oktober und Dezember 1984 brachten verschiedene andere Abgeordnete der Grünen das Thema erneut auf5 . Zur gleichen Zeit wie in Frankreich, im Herbst 1984, fand damit auch in der Bundesrepublik die neue Armut erstmals den Weg ins Parlament. Wie in Frankreich waren es auch hier Abgeordnete der Oppositionsparteien, die das Anliegen einbrachten. Im Unterschied zu Frankreich aber, wo die Regierung es schon im Oktober 1984 aufgegriffen und Programme zur Armutsbekämpfung beschlossen hatte, reagierte die Bundesregierung zunächst nicht auf diese Vorwürfe6 . Die Oppositionsparteien, die das Thema aufgebracht hatten, nutzten die folgenden Monate, um ihre Forderungen in Bezug auf Armutsbekämpfung auszuarbeiten. Eine intensive Beschäftigung der SPD fand erstmals im Dezember 1984 auf ihrem Parteiforum »Ausgrenzung in die Neue Armut« statt7 . Das Forum stieß auf großes Interesse der Medien8 . Laut FAZ wurden hier »heftige Angriffe gegen die Bundesregierung«9 geführt, was darauf verweist, dass auch hier die Dominante für die Annäherung der SPD an die neue Armut die Regierungskritik war. Untätigkeit der Regierung gegenüber der Arbeitslosigkeit und die Betreibung einer Politik für die Bessergestellten auf Kosten der Schwachen gehörten zu den auf dem Forum geäußerten Vorwürfen10 . Der Begriff der neuen Armut dominierte dabei die Debatte. Zwar lancierte SPD-Bundesgeschäftsführer Peter Glotz in seiner Rede den alternativen Begriff der Zwei-Drittel-Gesellschaft, der die dauerhafte Marginalisierung eines Drit3 4 5

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BT-Plenardebatte, 10. Wahlperiode, 95. Sitzung, 26.10.1984, S. 6984–6986. Ibid. Christa Nickels und Hans Verheyen, BT-Plenardebatte, 10. Wahlperiode, 103. Sitzung, 27.11.1984, S. 7500–7503, 7524; Hubert Kleinert, ibid., 105. Sitzung, 29.11.1984, S. 7806 f.; Gabriele Potthast, ibid., 108. Sitzung, 6.12.1984, S. 8109–8111. Mit der Reaktion der Bundesregierung auf die Vorwürfe beschäftigt sich Kap. IV.3.2. SPD, Forum »Neue Armut«, 5.12.1984, AdsD, 2/PVAX721. Vgl. bspw. Rolf-Dietrich S, SPD will Weg in eine »Zwei-Drittel-Gesellschaft« blockieren, in: FR, 6.12.1984; N. N., Warnung vor einer Stigmatisierung der aufkeimenden »neuen Armut«, in: Handelsblatt, 6.12.1984; N. N., Glotz wirft Bundesregierung »soziale Unbarmherzigkeit« vor, in: SZ, 6.12.1984. N. N., Glotz, Lafontaine und die Arbeitslosigkeit als »Ausgrenzung in die Neue Armut«. Ein SPD Forum in Bonn. Heftige Angriffe gegen die Bundesregierung, in: FAZ, 6.12.1984. Vgl. die Referate von Peter Glotz und Oskar Lafontaine, SPD, Forum »Neue Armut«, 5.12.1984, AdsD, 2/PVAX721.

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tels der Gesellschaft umschreiben sollte11 . Die nachfolgenden Redner griffen den Begriff jedoch nicht auf, sondern sprachen weiter von neuer Armut. Als Gründe dafür kann vermutet werden, dass dieser Begriff einerseits zu diesem Zeitpunkt dank des DGB schon in der Öffentlichkeit verbreitet war und dass er andererseits auch das Anliegen der SPD, nämlich die Regierungskritik, besser transportierte als der neue Begriff der Zwei-Drittel-Gesellschaft. Denn wenn die Sozialdemokraten von einer neuen Armut sprachen, war bereits im Begriff ihre Idee enthalten, diese Not sei erst kürzlich entstanden. Ihre Entstehung konnte damit noch deutlicher der neuen CDU-geführten Regierung angelastet werden. In jedem Fall nutzte die SPD in den folgenden Jahren vor allem den Begriff der neuen Armut, während das Konzept der Zwei-Drittel-Gesellschaft sich nicht durchsetzte. Nicht nur im Bundestag, sondern auch jenseits davon hatte die SPD also das Thema der neuen Armut für sich entdeckt, um damit die Regierung anzugreifen. Im vorausgehenden Kapitel wurde gezeigt, dass die neue Armut – so wie Winfried Süß dies bereits beschrieben hat12 – für den DGB ein Thema war, mit dem er sich in der neuen Rolle der Opposition zurechtfinden und seine sozialpolitische Kampagnefähigkeit zurückerobern wollte. Das gleiche Urteil kann für die SPD gefällt werden: Auch sie griff das Thema nach ihrem Wechsel in die Reihen der Opposition auf und nutzte es, um darüber die Sozialpolitik der neuen Regierung zu attackieren. Das Armutsthema wechselt damit 1984 ganz klar die politische Seite: Nachdem es in den 1970er Jahren mit der neuen sozialen Frage ein Anliegen der CDU dargestellt hatte, wandelte es sich 1984 unter dem Schlagwort der neuen Armut zu einem sozialdemokratischen und grünen Anliegen. War mit diesem politischen Seitenwechsel des Themas aber auch eine neue Lesart der Armut verbunden? Die CDU hatte unter dem Begriff der neuen sozialen Frage traditionelle Problemgruppen des Sozialstaats subsumiert. Was verstand dagegen die SPD unter der von ihr vorgebrachten neuen Armut? Einen Hinweis auf ihre Ausdeutung gibt schon die Rednerliste des SPD-Forums zur neuen Armut. Neben Parteivertretern wie dem SPD-Bundesgeschäftsführer Peter Glotz und dem Saarbrücker Oberbürgermeister Oskar Lafontaine sprachen dort auch eine Vertreterin der Bundesanstalt für Arbeit und der Präsident eines Landesarbeitsamtes13 . Im Zentrum des Forums stand damit ganz klar das Problem der Arbeitslosigkeit. Dies wird auch an den einzelnen Redebeiträgen des Forums deutlich, wo beispielsweise Peter Glotz von »einer neuen Armut in Deutschland, verursacht durch Arbeitslosigkeit«14 , sprach. Die Dokumentation

11

12 13 14

Glotz erklärte den Begriff auf dem Forum wie folgt: »Eine Gesellschaft, die so organisiert wird, daß die oberen Schichten die Kernbelegschaften mitnehmen, aber ein Drittel der Gesellschaft hinunterdrücken –, nicht ins absolute Elend, aber doch an die Grenze der Armut«, vgl. ibid. S, Vom Rand in die Mitte der Gesellschaft, S. 137. SPD, Forum »Neue Armut«, 5.12.1984, AdsD, 2/PVAX721 Ibid.

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zur Sammlung der Ergebnisse des Forums hielt als dessen erstes Ergebnis fest: »Bei diesem Forum ist von nahezu allen Diskussionsrednern an die SPD die Aufforderung herangetragen worden, die Lage der Arbeitslosen endlich auch generell als Gegenstand der Politik zu begreifen«15 . Auf dem Forum wurde neue Armut also ausschließlich als Konsequenz von Arbeitslosigkeit ausgedeutet. Dieser Lesart folgten die Forderungen, die die Teilnehmer des Forums abschließend formulierten und an die SPD richteten und die sich entsprechend alle auf das Problem der Arbeitslosigkeit bezogen. Eine Mindestsicherung für Arbeitslose, die Novellierung des Arbeitsförderungsgesetzes sowie die Abschaffung der Zwangsbeschäftigung von Arbeitslosen standen auf der Liste der Forderungen. Außerdem gehörte die Forderung dazu, die SPD möge auf die Gewerkschaften einwirken, damit sie sich zu Vertretern der Arbeitslosen machten16 – eine überflüssige Forderung, denn schließlich hatte der DGB diese Rolle schon aufgegriffen, auch ohne die Aufforderung der Sozialdemokraten. Nachdem die SPD im Dezember 1984 ihre Position zur neuen Armut ausgearbeitet hatte, blieb das Thema in den folgenden Jahren ein wichtiger Punkt auf der Agenda der Partei. So brachte die SPD es beispielsweise bei den Kommunalwahlen in Hessen 1985 als eines ihrer großen Wahlkampfthemen ein, ebenso bei den Landtagswahlen in Bayern 198617 . Auch im Bundestag griff die SPD es wieder auf, insbesondere durch eine Große Anfrage mit dem Titel »Armut in der Bundesrepublik Deutschland«, die die SPD-Fraktion im August 1986 an die Regierung richtete18 . Die Anfrage liest sich prinzipiell als Umsetzung der Beschlüsse des Forums von 1984. Auch die SPD-Fraktion stellte »arbeitslosigkeitsbedingte Verarmungsprozesse«19 ins Zentrum ihres Interesses. Sie befragte die Bundesregierung zur Entwicklung der Arbeitslosigkeit, zu ihrer Dauer und zur Situation der Arbeitslosen im Hinblick auf materielle Versorgung, Gesundheit und Familie20 . Wie schon 1984 wurden auch jetzt zur Bekämpfung des Problems eine Reform des Arbeitsförderungsgesetzes, der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und darüber hinaus verstärkte Bemühungen um die Eingliederung von Langzeitarbeitslosen gefordert. Den einzigen Vorschlag, der nicht in direktem Zusammenhang mit Arbeitslosigkeit stand, stellte die Forderung nach einer Reform des Bundessozialhilfegesetzes dar21 . Dabei handelte es sich jedoch weder um eine neue Idee noch um eine ausschließliche Forderung der SPD, denn wie gezeigt hatten unter anderem Wohlfahrtsverbände, Gewerkschaften und Wissenschaftler dieses Anliegen schon seit Beginn der 1980er Jahre vorgebracht. Jenseits dieser breit geteilten Forderung machen

15 16 17 18 19 20 21

Ibid. Ibid. L, Armut im geteilten Deutschland, S. 320. BT-Drucksache 10/5948. Ibid., S. 1. Ibid., S. 2–8. Ibid., S. 9.

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sowohl das Forum der SPD als auch die Anfrage im Bundestag deutlich, dass die Partei die neue Armut ausschließlich als Folge von Arbeitslosigkeit deutete und daher in den Debatten ausschließlich die Situation der Arbeitslosen vorbrachte und Vorschläge zur Verbesserung ihrer Situation machte. Prinzipiell entdeckte die SPD damit ein Phänomen, das mit Blick auf die Statistik eindeutig als neu identifiziert werden kann. Zwar stellte Arbeitslosigkeit an sich natürlich keine neue Entwicklung dar, war aber seit 1984 zur Hauptursache für den Sozialhilfebezug geworden. Im Unterschied zur CDU mit der neuen sozialen Frage lenkt die SPD mit der neuen Armut den Blick auf eine Problemlage, die tatsächlich ein neues gesellschaftliches Phänomen abbildet. Allerdings war es nicht die einzige neue Problemlage in diesem Zusammenhang. So wie der DGB interessierte sich aber auch die SPD wenig für das steigende Armutsrisiko von Alleinerziehenden, Kindern oder ausländischen Arbeitnehmern. Mit ihren Überlegungen zur neuen Armut griff die SPD diese Gruppen nicht auf, sondern nahm nur eine der neuen Risikogruppen in den Blick. Die bisherige Forschung hat das Verhalten der SPD in der Armutsdebatte der 1980er Jahre ähnlich eingeordnet. Armut habe in dieser Zeit nicht zu den Kernanliegen der Sozialdemokratie gehört22 , die SPD habe sich nicht zum Anwalt der Armen gemacht23 und habe sich dem Thema nur zögerlich geöffnet24 . An den hier analysierten Aktivitäten der SPD für die neue Armut zwischen 1984 und 1986 ist deutlich geworden, dass Letzteres nicht zutrifft: Keineswegs hat sich die Sozialdemokratie dieser Frage zögerlich genähert, sondern unter den Parteien war sie die Erste, die sich den vom DGB aufgebrachten Begriff der neuen Armut aneignete, ihn in die parlamentarische Debatte und in Wahlkämpfe auf kommunaler und Länderebene einbrachte und sich eine Position zu diesem Thema ausarbeitete. Wie schon gezeigt, stellte die neue Armut für die Sozialdemokratie aber auch eine willkommene Gelegenheit dar, mit der sie sich in ihrer neuen Oppositionsrolle profilieren konnte. Abgesehen davon aber können hier die Thesen der bisherigen Forschung bestätigt werden. Auch hier ist deutlich geworden, dass die Sozialdemokraten nicht die Rolle des Anwalts der Armen einnahmen – worauf Buhr u. a. schon hingewiesen haben. Obwohl die SPD diese Rolle selbst für sich eingefordert hat25 , erscheint sie ihren Äußerungen und Forderungen nach eher als Anwalt der Arbeitslosen denn als Anwalt der neuen Armen. Jenseits der Arbeitslosen interessierte die SPD sich nicht für neue Risikogruppen. Diese Ausrichtung der Sozialdemokraten weist darauf hin, dass sie das Phänomen der neuen Armut zu 22 23 24 25

L, Zwischen Verdrängung und Dramatisierung, S. 496. B u. a., Armutspolitik und Sozialhilfe, S. 533. S, Armut im Wohlfahrtsstaat, S. 35. Die Forderung wird in einer Materialsammlung der SPD zum Thema Arbeitslosigkeit formuliert, vgl. Ideen- und Arbeitsheft: Solidarität mit Arbeitslosen. Wie Sozialdemokraten helfen können, hg. v. SPD-Vorstand, Bonn 1984, S. 16.

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diesem Zeitpunkt entweder nur partiell verstanden hatten – oder sich vielleicht auch bewusst dafür entschieden hatten, nur einen Teil davon zu ihrer Aufgabe zu machen. Wie kann diese Konzentration der SPD auf einen Aspekt und die damit einhergehende Vernachlässigung anderer neuer Armutsgruppen erklärt werden? Zunächst natürlich dadurch, dass die SPD mit der neuen Armut offensichtlich die Vorlage des DGB aufgriff, wie es die Verweise in den Debatten deutlich machen26 . Warum der Gewerkschaftsbund sich vor allem als Lobby der Arbeitslosen und weniger als Vertreter von Alleinerziehenden oder Kindern stark machte, wurde bereits dargestellt. Die SPD übernahm also diese gewerkschaftliche Lesart der Armutsfrage des DGB. Offensichtlich fiel es ihr auch deutlich leichter, die Arbeitslosenfrage in die Liste ihrer Themen aufzunehmen und nicht die Armut an sich. Dies steht deutlich im Zusammenhang mit ihrem Selbstverständnis als Arbeiterpartei, von dem aus das Interesse für die Arbeitslosenfrage keinen weiten Schritt darstellt. »Die SPD als eine Partei der Arbeit muß auch Interessenvertretung der Arbeitslosen sein«27 . So hatte Peter Glotz es auf dem Forum seiner Partei zur neuen Armut formuliert. Ausgehend von ihrem Selbstverständnis als Arbeiterpartei öffnete die SPD sich also für das Anliegen der Arbeitslosen. Die neue Armut stellte jedoch nur dann ein Kernanliegen der Sozialdemokratie dar, wenn sie als Problem der Arbeitslosigkeit interpretiert wurde. Die SPD machte sich damit zum Anwalt der Arbeitslosen, nicht aber generell zum Anwalt der Armen. Wer aber vertrat deren Interessen im Bundestag? Oder blieben sie, jenseits der Frage der Arbeitslosigkeit, ohne Lobby unter den politischen Parteien? Die bisherige Forschung schreibt diese Rolle den Grünen zu. »Durch die Grünen haben die Armen in den 80er Jahren erstmals eine Art Lobby im Bundestag erhalten«28 , stellen Petra Buhr u. a. fest. Bernhard Schäfers greift dieses Urteil auf und bestätigt es: »Erst durch die Grünen wurde das Thema Armut [. . . ] wieder ein Thema der politischen Landschaft«29 . Schäfers weist außerdem darauf hin, dass die Grünen mit der Armutsfrage auch die Diskussion um eine bedarfsorientierte Grundsicherung und ein Grundeinkommen auf die sozialpolitische Agenda gebracht hätten30 . Lutz Leisering schließlich kommt beim Vergleich der Einstellung der verschiedenen in den 1980er Jahren im Bundestag vertretenen Parteien zur Armut zum Ergebnis: »Nur bei den Grünen gehörte in dem Jahrzehnt ihres bundespolitischen Wirkens die Armutsproblematik zum Kernbestand ihres gesellschaftspolitischen Anliegens«31 .

26 27 28 29 30 31

Vgl. bspw. Herta Däubler-Gmelin, BT-Plenardebatte, 10. Wahlperiode, 103. Sitzung, 27.11.1984, S. 7545. Peter G, Vorwort, in: SPD-Parteivorstand, Solidarität mit Arbeitslosen, S. 3. B u. a., Armutspolitik und Sozialhilfe, S. 522. S, Zum öffentlichen Stellenwert von Armut, S. 117. Ibid. L, Zwischen Verdrängung und Dramatisierung, S. 497.

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Diese Arbeit bestätigt diese Thesen insgesamt: Es war hauptsächlich dem Engagement der Grünen zu verdanken, dass die neue Armut im parlamentarischen Raum thematisiert wurde. Armut gehörte jedoch keineswegs von Anfang an zu den Anliegen der 1980 in Karlsruhe gegründeten Partei, sondern auch die Grünen entdeckten das Thema erst im Laufe der 1980er Jahre für sich und setzten es auf ihre Agenda. Das erste Bundesprogramm sowie die Wahlaufrufe zu den Bundestagswahlen 1980 und 1983 illustrieren dies, denn dort finden sich weder Ausführungen zur Armut in Deutschland noch Vorschläge zu deren Bekämpfung. Zwar waren in das Bundesprogramm der Partei von 1980 ganz unterschiedliche Forderungen eingeflossen, um so die Anliegen der verschiedenen Gruppen, aus denen die Grünen entstanden waren, zufriedenzustellen32 . Armut stellte aber anscheinend für keine dieser Gruppen ein Anliegen dar. Ins Programm nahm die Partei beispielsweise unter der Überschrift »Soziale Randgruppen« lediglich ihre Forderungen gegen rassistische und sexuelle Diskriminierung auf, während von materiellen Notlagen nur bei den Ausführungen zur Entwicklungspolitik die Rede war33 . Der materielle Mangel der Einwohner der Bundesrepublik schien die Partei dagegen noch nicht zu beschäftigen. Auch die Forderungen, mit denen die Grünen in ihre ersten beiden Bundestagswahlkämpfe zogen, spiegeln diese Haltung wider34 . »Sozial« mag neben »ökologisch«, »basisdemokratisch« und »gewaltfrei« eines der vier programmatischen Prinzipien im ersten Parteiprogramm gewesen sein35 und Sozialpolitik ein wichtiges Anliegen der Grünen seit ihrer Gründung36 – die Armutsfrage war es aber nicht. Der Wandel zeichnete sich aber nach dem Einzug der Grünen in den Bundestag im März 1983 ab. Wie gezeigt, hatten die Grünen kurz nach der SPD im Herbst 1984 an verschiedenen Stellen der parlamentarischen Debatte die neue Armut zur Sprache gebracht. Auch sie hatten sich den Vorwurf der produzierten Armut angeeignet. Prinzipiell können den Grünen dabei ähnliche handlungsleitende Motive unterstellt werden wie der SPD. Auch für sie ging es darum, sich in der Oppositionsrolle einzufinden. Im Unterschied zur SPD ging es bei den Grünen darüber hinaus darum, sich generell in die neue Rolle einer Fraktion im Bundestag einzufinden und zu diesem Zweck ihr Programm auszubauen und sich neue Themen zu erschließen. 32

33 34

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Klein und Falter sprechen von dem Programm als »eine Art programmatischer Wunschzettel, auf dem inhaltlich sehr heterogene und teilweise auch konfligierende Forderungen aufgelöst wurden«, vgl. Markus K, Jürgen W. F, Der lange Weg der Grünen, München 2003, S. 72. Das Bundesprogramm, hg. v. den Grünen, Bonn 1980, S. 17, 38 f. Vgl. dazu die Aufrufe und Wahlplattformen zu den jeweiligen Wahlen: Wahlplattform zur Bundestagswahl 1980, hg. v. den Grünen, Bonn 1980; Diesmal die Grünen, warum? Ein Aufruf zur Bundestagswahl 1983, hg. v. den Grünen, Bonn 1983. K, F, Der lange Weg der Grünen, S. 73. Antonia G, Grüne Sozialpolitik in den 80er Jahren – eine Herausforderung für die SPD, ZeS-Arbeitspapier 5 (2002), S. 5–9.

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IV. Die Debatte um die neue Armut in der Bundesrepublik, 1983–1987

Kurz nach der SPD griffen die Grünen damit das Thema der neuen Armut auf, besetzten es anschließend aber deutlich schneller und engagierter als jene. Erste eigene Vorschläge zur Armutsbekämpfung präsentierte die Fraktion der Grünen bereits im November 1984 im Bundestag, als sie mit einem Entschließungsantrag zum Haushaltsgesetz für 1985 ein »Sonderprogramm zur Eindämmung der Armut« einforderte37 . Nach dessen Ablehnung lenkte die Fraktion vor allem mit zwei Großen Anfragen den Blick der Regierung und der Parlamentarier auf die materiellen Notlagen im Land. Unter den Titeln »Armut und Sozialhilfe in der Bundesrepublik Deutschland«38 , und »Arbeit und Armut in der Bundesrepublik Deutschland«39 stellte die Fraktion im Dezember 1985 und im Mai 1986 ihre Anfragen. Sie kam damit der SPD zuvor, deren Fraktion erst im August 1986 ihre erste und für den Untersuchungszeitraum einzige Anfrage zu Armut im Bundestag stellte. Auch mit der Ausarbeitung eines Grundsicherungskonzepts kamen die Grünen der SPD zuvor40 . Während die SPD sich weder in ihrem sozialpolitischen Programm von 198841 noch in ihrem Regierungsprogramm, mit dem sie 1987 in die Bundestagswahl zogen, zu Armut äußerte42 , wiesen die Grünen in ihrem Wahlprogramm dem Thema bereits einen wichtigen Platz zu43 . Vor diesem Hintergrund leuchtet ein, wie die Grünen zu ihrer Selbstbezeichnung als Lobby der Armen im Bundestag kamen. Auch wenn Armutsbekämpfung nicht zu den Gründungsanliegen der Partei gehörte, besetzte sie dieses Thema kurz nach ihrem Einzug in den Bundestag mit großem Elan, brachte es im Parlament und im Wahlkampf ein und arbeitete eigene Vorschläge zur Armutsbekämpfung aus. In vielerlei Hinsicht kam sie damit der SPD zuvor. Vor allem aber unterschieden die Grünen sich in ihrer Lesart der Armutsfrage fundamental von den Sozialdemokraten. Erstens in der Verortung der Ursachen: Wie die SPD betonten selbstverständlich auch die Grünen den Faktor Arbeitslosigkeit als Auslöser der Armut44 . Darüber hinaus bemühten sie sich aber, Armut als strukturelle Folge eines fehlerhaft konstruierten Sozialstaats darzustellen. Das soziale Sicherungssystem der Bundesrepublik sei »ein grob-

37 38 39 40 41 42 43 44

BT-Drucksachen 10/2444–10/2449, 10/2452, 10/2454, 10/2458; vgl. auch Pressemitteilung Nr. 591: Sofortprogramm zur Eindämmung der Armut, 7.11.1984, AGG, B II 1, 4753. Große Anfrage der Abgeordneten Bueb, Frau Wagner und der Fraktion Die Grünen, BT-Drucksache 10/4503 und 10/4504. Große Anfrage der Abgeordneten Frau Zeitler, Bueb und der Fraktion Die Grünen, BT-Drucksache 10/5524. Vgl. dazu das folgende Teilkapitel. Die Zukunft sozial gestalten – Sozialpolitisches Programm der SPD. Antrag für den Parteitag in Münster, hg. v. SPD, Bonn 1988. Zukunft für alle – arbeiten für soziale Gerechtigkeit und Frieden. Regierungsprogramm 1987–1990 der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, hg. v. SPD, Bonn 1987. Bundestagswahl. Programm 1987, hg. v. den Grünen, Bonn 1987. Vgl. Große Anfragen der Abgeordneten Bueb, Zeitler u. a., BT-Drucksache 10/4503–10/4504 und 10/5524.

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3. Die parteipolitische Diskussion

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maschiges Netz mit vielen Löchern«45 und Armut ein »Strukturproblem des bundesdeutschen Sozialstaats«46 . Den Konstruktionsfehler des Sozialstaats sahen die Grünen vor allem in seiner Lohnarbeitszentrierung, die zur Folge habe, dass unbezahlte Arbeit wie Kindererziehung, Pflege und Haushalt zu keinerlei Ansprüchen in der Sozialversicherung führe und damit ein Teil der Bevölkerung ohne Absicherung und Schutz vor Armut bleibe47 . In dieser Deutung unterschieden die Grünen sich von der SPD: Zwar hatte auch diese mit ihren Angriffen auf die Sparmaßnahmen der Regierung die Ursache für die Armut in der Sozialpolitik selbst verortet, jedoch war es ihr dabei immer um einzelne Gesetze gegangen. Nie dagegen hatte sie den Sozialstaat selbst in Frage gestellt. Mit dieser anderen Verortung der Ursachen von Armut rücken auch andere Risikogruppen in den Fokus der Grünen; das weist auf den zweiten wichtigen Unterschied in der Deutung der neuen Armut durch die beiden Oppositionsparteien hin. Wie gesagt diskutierten auch die Grünen unter anderem die Situation der Arbeitslosen unter dem Stichwort der neuen Armut. Jedoch betraf das Problem, das sie mit der Lohnarbeitszentrierung des Sozialstaats ansprachen, vor allem Frauen, wenn sie als Hausfrauen und Mütter keine eigenen Sozialversicherungsansprüche aufbauen konnten. Entsprechend rückten die Grünen die Situation der Frauen in den Fokus der Armutsdebatte48 . Als dritte wichtige Gruppe spielten auch alte Menschen eine wichtige Rolle für die Grünen. Ihr Antrag »Grundrente statt Altersarmut«49 verweist darauf, dass unter den alten Menschen wieder insbesondere die Frauen im Zentrum standen und dass die Grünen damit wieder ein strukturelles Problem des Sozialstaats anvisierten, nämlich die nicht vorhandenen Rentenansprüche von Hausfrauen und Müttern. Nach dieser anfänglichen Konzentration auf Frauen, alte Menschen und Arbeitslose erweiterte die Partei ihren Fokus und sprach im Kontext der neuen Armut auch die Situation von Alleinerziehenden50 , Jugendlichen51 und Migranten52 an. Dritter wichtiger Unterschied in der Lesart der Armutsfrage der Grünen: Ihre Vorschläge zur Armutsbekämpfung beschränkten sich im Unterschied zur SPD nicht ausschließlich auf den Arbeitsmarkt. Zwar zählten auch hier Forderungen nach einer Mindestabsicherung für Arbeitslose und nach Beschäftigungsinitiativen hinzu, ebenso aber nach einer generellen Erhöhung 45 46 47 48 49 50

51 52

Freiheit von Armut, AGG, B II 1, 4753. Ibid. Ibid. Vgl. dazu insbes. die zweite Große Anfrage, BT-Drucksache 10/5524. Vgl. BT-Drucksache 10/3496. Alleinerziehende standen insbes. bei den Debatten um des Grundsicherungsmodell der Grünen im Fokus, vgl. dazu das folgende Teilkapitel; vgl. auch Freiheit von Armut, AGG, B II 1, 4753 Ibid.; Verheyen, BT-Plenardebatte, 10. Wahlperiode, 103. Sitzung, 27.11.1984, S. 7524. In den parlamentarischen Anfragen, vgl. BT-Drucksache 10/4503–10/4504 und 10/5524.

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IV. Die Debatte um die neue Armut in der Bundesrepublik, 1983–1987

der Sozialhilfesätze um 30 Prozent, der Erhöhung der Bundeszuschüsse an die Rentenversicherung sowie der Wiedereinführung des Schüler-BAföGs und der Wohngeldberechtigung für Schüler, Studierende und Auszubildende53 . Auch die Analyse des grünen Konzepts der Mindestsicherung im nächsten Kapitel wird diese Tendenz noch hervorheben. An dieser Stelle kann jedoch schon bilanziert werden, dass das besondere Verdienst der Grünen nicht nur in ihrer engagierten Thematisierung der Armut besteht – so wie die Forschung dies bereits unterstrichen hat. Die besondere Leistung der Grünen bestand vor allem in ihrem Versuch der Loslösung der Armutsfrage von der von DGB und SPD vorgeschlagenen Deutung als Arbeitslosenfrage. Warum waren die Grünen im Unterschied zu den Sozialdemokraten offen für die Situation neuer Armutsgruppen jenseits von Arbeitslosen? Immerhin handelt es sich bei alten Menschen oder Alleinerziehenden um Gruppen mit einer kaum ausgeprägten Lobby. Im Falle der SPD hatten deren ideelle und personelle Verbindungen zum DGB einen Erklärungsansatz geboten. Und auch bei den Grünen waren die Organisationen, die der Partei nahestanden oder auch ihre Gründung mit beeinflusst haben, wichtige Erklärungsfaktoren. Denn zum einen standen die Grünen in Verbindung mit dem 1975 gegründeten Seniorenschutzbund Graue Panther, mit dem die Partei zunächst einen Sprachrohrvertrag und anschließend ein Listenbündnis abgeschlossen hatte. Nach Antonia Gohr gelangte das Thema Altersarmut, insbesondere die Armut von alten Frauen, über diesen Verband auf die sozialpolitische Agenda der Grünen54 . Die Betonung der Situation der Frauen kann zum anderen dadurch erklärt werden, dass die Gründung der Grünen maßgeblich durch die neuen sozialen Bewegungen geprägt worden war55 und damit auch durch die Frauenbewegung. Feminismus spielte also von Anfang an eine wichtige Rolle für die Identität der Partei und kennzeichnete auch generell ihre sozialpolitischen Ideen56 . Mit Frauen und alten Menschen rückten die Grünen zunächst Gruppen in den Fokus, die in der Bundesrepublik eindeutig traditionelle Risikogruppen für Armut darstellen. Insofern kann auch ihnen unterstellt werden, dass sie die neuen Herausforderungen der Armut der 1980er Jahre nur partiell erfasst haben. Allerdings näherte sich die Partei über diese traditionellen Problemgruppen auch langsam den neuen an und thematisierte dann auch die Situation von Migranten, Alleinerziehenden oder Jugendlichen. Eben weil sich die Grünen für diese verschiedenen Problemlagen öffneten, blieben auch ihre Vorschläge zur Lösung der Armutsfrage nicht auf den Arbeitsmarkt begrenzt, wie das 53 54 55 56

Entschließungsantrag des Abgeordneten Verheyen und der Fraktion Die Grünen, 26.11.1984, BT-Drucksachen 10/2444–10/2458. G, Grüne Sozialpolitik, S. 11. Silke M, »Nicht rechts, nicht links, sondern vorn«. Eine Geschichte der Gründungsgrünen, München 2011, S. 37–71. G, Grüne Sozialpolitik, S. 12 f.

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3. Die parteipolitische Diskussion

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nächste Kapitel zeigt. Hier kann jedoch schon bilanziert werden, dass die Grünen nicht nur die Armutsfrage besonders engagiert im parlamentarischen Raum vertraten, sondern dass sie auch als einzige politische Partei unter dem Begriff der neuen Armut auch wirklich die empirisch neuen Armutsrisiken verhandelten. Nachdem das Armutsthema mit der neuen sozialen Frage 1976 aus der parteipolitischen Debatte der Bundesrepublik verschwunden war, kehrte es 1984 dorthin zurück. Die Debatte unterschied sich jedoch in den 1980er Jahren deutlich von der vorausgehenden: zunächst in ihrer Dauer und Dimension, denn während die neue soziale Frage im Jahr nach ihrem Aufkommen schon wieder verschwunden war, beschäftigte die neue Armut die Parteien in den 1980er Jahren für mehr als drei Jahre. Darauf verweisen die parlamentarischen Diskussionen und Anfragen, die ebenfalls einen Unterschied zu den 1970er Jahren aufweisen, denn die neue soziale Frage war im Bundestag nicht diskutiert worden. Wie Geißler in den 1970er Jahren diagnostizierten auch SPD und Grüne in den 1980er Jahren die Neuheit der Armut, fokussierten allerdings auf andere Gruppen. Im Unterschied zu Geißler, der ausschließlich traditionelle Risikogruppen darunter gefasst hatte, rückten sie aber zumindest einen Teil der empirisch neuen Armutsgruppen ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Vor allem aber hatte die Armutsfrage die politische Seite gewechselt: Nachdem sie 1975 von der CDU vorgebracht worden war, waren es jetzt SPD und Grüne. Der Wechsel kann vor allem durch den politischen Machtwechsel erklärt werden. Wie vorher für die CDU war Armut jetzt ein willkommenes Thema für die neuen Oppositionsparteien. Deutlich wird aber, dass keine der beiden Parteien es zu ihren ursprünglichen Anliegen zählte. Die SPD nähert sich aus ihrem Verständnis als Arbeiterpartei der Frage der Arbeitslosigkeit an. Sie entdeckte dabei auch das Armutsthema für sich, interessierte sich aber nur für dieses, solange sie es als Arbeitslosenfrage ausdeuten konnte. Nur die Grünen interessierten sich für Armutsrisiken jenseits der Arbeitslosigkeit. Dabei gehörten diese auch nicht zu den ursprünglichen Anliegen der Partei; vielmehr entdeckten die Grünen Armut als ein Anliegen, das 1983 bereits von verschiedenen zivilgesellschaftlichen Akteuren vorgebracht wurde, im Parlament aber keinen Vertreter hatte. Daraufhin machten die Grünen es sich zu eigen.

3.2. Alternativen zur Sozialhilfe: die Grundsicherungsmodelle Auch in der Bundesrepublik war also, ebenso wie in Frankreich, die Armutsfrage im Zuge der Diskussion einer neuen Armut bis in die parlamentarische Debatte vorgedrungen. Im Unterschied zu Frankreich existierte in der Bundesrepublik allerdings zu diesem Zeitpunkt schon seit über zwei Jahrzehnten eine

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IV. Die Debatte um die neue Armut in der Bundesrepublik, 1983–1987

Mindestsicherung, die die Bevölkerung vor materieller Not schützen sollte. Denn das BSHG hatte 1961 das Anrecht auf ein Existenzminimum im Gesetz verankert. Der Anspruch auf ein Mindestmaß an Unterstützung war damit rechtlich abgesichert – was natürlich nicht bedeutet, dass dieser Rechtsanspruch auch praktisch verwirklicht wurde. Die Debatte weist im Gegenteil darauf hin, dass es mit der Umsetzung dieses Anspruchs massive Probleme gab. Seit Beginn der 1980er Jahre sah sich die Sozialhilfe zunehmend dem Vorwurf ausgesetzt, eben nicht die Grundbedürfnisse ihrer Empfänger abzudecken und ihre Aufgabe somit nicht mehr zu erfüllen. Zudem verdeutlichten die steigenden Empfängerzahlen, insbesondere unter Arbeitslosen, dass sich die Sozialhilfe immer weiter von ihrer ursprünglichen Aufgabe eines letzten Auffangnetzes entfernt hatte und immer größere Bevölkerungsgruppen absichern musste57 . Die ansteigenden Klagen der Kommunen über die immense Finanzlast durch die Sozialhilfe weisen außerdem darauf hin, dass das System in dieser Form auch an die Grenzen seiner Umsetz- und Finanzierbarkeit geraten war58 . Insofern überrascht es nicht, dass auch in der Bundesrepublik, trotz der existierenden Mindestsicherung, im Kontext der neuen Armut die Frage nach alternativen Konzepten der Existenzsicherung aufgeworfen wurde. Erste Vorschläge dazu wurden in der Mitte der 1980er Jahre gemacht und drangen 1986 auch erstmals in den Bundestag vor. Sie wurden im Zuge der Debatte um die neue Armut gemacht und als Lösungen für eben dieses Problem vorgestellt. Nach einem kurzen Blick auf die Vorschläge der Verbände sollen hier die Konzepte der Parteien im Fokus stehen. Von den hier untersuchten Akteuren war es als erstes die Arbeitsgruppe Armut und Unterversorgung, die ein neues Konzept für eine Mindestsicherung ausarbeitete und veröffentlichte. Dass sie damit den Parteien und Wohlfahrtsverbänden zuvorkam, überrascht letztlich nicht, denn der Zusammenschluss von Armutsforschern verschiedener Universitäten hatte schon zu den Ersten gehört, die auf die Missstände im Sozialhilfesystem öffentlich hingewiesen hatte. Aus dieser Kritik am bestehenden Sozialhilfesystem heraus erarbeitete die Gruppe ein alternatives Konzept zur Sozialhilfe, das sie im Dezember 1985 der Öffentlichkeit vorstellte59 . Ihr Entwurf für eine »bedarfsbezogene 57

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59

Der Anteil der Bevölkerung, die die im BSHG vorgesehene Hilfe zum Lebensunterhalt in Anspruch nahm, stieg in den alten Bundesländern zwischen 1963 und 1992 von 1,3 auf 4,7 % an, vgl. H, Das empirische Bild der Armut, S. 7. Die Kommunen artikulierten ihren Protest und ihre Forderungen nach Kürzungen der Sozialhilfeleistungen vor allem über die Spitzenorganisationen der Städte und Kreise, den Deutschen Städtetag und den Deutschen Landkreistag. Sie argumentierten, dass die Sozialhilfekosten so schwer auf manchen Gemeinden lasteten, dass die Erfüllung anderer kommunaler Aufgaben wie Verkehr und Gesundheitsfürsorge nicht mehr möglich sei, vgl. B, Die »neue soziale Frage« und die »neue Armut«, S. 140. Bedarfsbezogene integrierte Grundsicherung – ein tragfähiges Fundament für die Sozialund Gesellschaftspolitik, Dezember 1985, in: Armut und Unterversorgung, S. 79–122. Ausschnitte des Entwurfs wurden am 19. Dezember 1985 in der FR veröffentlicht.

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3. Die parteipolitische Diskussion

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integrierte Grundsicherung« sah vor, alle Teilbereiche der Sozialversicherung bestehen zu lassen, in diese aber ein Grundniveau einzuziehen, unter das die Empfänger nicht absinken konnten. Wenn also beispielsweise ein Bezieher von Arbeitslosengeld nachweisen könnte, dass die Leistungen der Arbeitslosenversicherungen seinen Bedarf nicht abdeckten, würde er einen Zuschlag erhalten, der seine Leistungen in Höhe der Sozialhilfe aufstockte. Dieser Zuschlag sollte eine Leistung der Arbeitslosenversicherung und nicht des Sozialamts sein60 . Auf diese Art hoffte die Arbeitsgruppe, die Sozialhilfe, die in ihrem Modell erhalten bleiben sollte, auf ihre ursprüngliche Aufgabe zurückzuführen, nämlich die Hilfe in sogenannten atypischen Fällen jenseits der Versicherungszweige und die immaterielle Unterstützung61 . Bis zu diesem Punkt erscheint der Vorschlag noch mit nur wenigen konkreten Verbesserungen für die Betroffenen verbunden. Sicher hätten sich die Kommunen über die Umsetzung des Modells gefreut, weil die Leistungen der Sozialversicherungszweige aus Bundesmitteln bezahlt werden sollten und dies eine Entlastung der kommunalen Haushalte bedeutet hätte. Den Empfängern hätte das Modell außerdem den Gang zum Sozialamt und damit verbundene eventuelle Demütigungen erspart. Ihre Einkünfte wären indes weiterhin auf Höhe der Sozialhilfe geblieben – allerdings forderte die Arbeitsgruppe gleichzeitig deren deutliche Erhöhung ein. Um 28 Prozent sollten die Eckregelsätze angehoben werden; außerdem sollte die sozialhilferechtliche Unterhaltspflicht sowie die Arbeitspflicht für Sozialhilfeempfänger abgeschafft werden62 . Insofern hätte sich die Umsetzung des Modells im Geldbeutel der Betroffenen doch deutlich bemerkbar machen können. Die Verfügung, dass auch Berufsanfänger und Wiedereinsteiger im Beruf wie Alleinerziehende Anspruch auf die Mindestleistung der Arbeitslosenversicherung haben sollten63 , hätte außerdem eine wichtige Verbesserung für zwei in den 1980er Jahren besonders von Armut bedrohte Gruppen des Arbeitsmarktes bedeutet. Von den hier untersuchten Akteuren legte die Arbeitsgruppe damit als Erste einen Entwurf eines Mindestsicherungskonzepts vor. Berthold Dietz verweist darauf, dass in den 1980er Jahren die Grünen, aber auch der DGB und die Verbände eine Vorreiterrolle bei der Ausarbeitung von Mindestsicherungskonzepten eingenommen haben64 . Letzteres kann für die hier untersuchten Akteure nicht bestätigt werden, denn keiner von ihnen trat mit dem Entwurf einer Mindestsicherung an die Öffentlichkeit. Der Caritasverband der Diözese Münster hatte in seinem Armutsbericht zwar darauf hingewiesen, dass er die Einführung einer »neue(n) Form der Grundsicherung für Einkom60 61 62 63 64

Ibid., S. 95–101. Ibid., S. 102 f. Ibid., S. 111–114. Ibid., S. 96. Berthold D, Soziologie der Armut. Eine Einführung, Frankfurt a. M., New York 1997, S. 184–186.

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IV. Die Debatte um die neue Armut in der Bundesrepublik, 1983–1987

mensschwache«65 für nötig halte, jedoch zu diesem Zeitpunkt keine weiteren Ausführungen zu deren Ausgestaltung gemacht. Der DPWV sollte zwar eine Ausarbeitung präsentieren – jedoch erst in den 1990er Jahren. In den 1980er Jahren war der DGB der Zweite, der einen weiteren Entwurf für eine Mindestsicherung vorstellte. Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut des Gewerkschaftsbundes hatte diesen ausgearbeitet und auf einer Tagung im Frühjahr 1987 diskutiert66 . Dabei ähnelte der Vorschlag des Instituts dem der Arbeitsgruppe Armut und Unterversorgung. Auch das Institut forderte das Einziehen eines Sockels in allen Zweigen der Sozialversicherung, bei gleichzeitigem deutlichem Anheben des Sozialhilfeniveaus67 . Bevor das gewerkschaftsnahe Institut diese Vorschläge einbrachte, hatte das Thema Mindestsicherung allerdings schon die parlamentarische Debatte erreicht. Dass auch dies den Grünen zu verdanken war, überrascht wenig, denn schließlich hatten diese im Bundestag auch am nachdrücklichsten die Armutsfrage eingebracht. Auch die Grünen arbeiteten einen eigenen Entwurf für eine Mindestsicherung aus, den sie im April 1986 erstmals ankündigten68 und im November des gleichen Jahres als Entschließungsantrag zum Haushaltsgesetz in den Bundestag trugen69 . Im folgenden Jahr wiederholte die Fraktion den Antrag, als sie die Regierung erneut zur Einführung einer Mindestsicherung aufforderte70 , und machte die Forderung auch zum Teil ihres Wahlprogramms für die Bundestagswahlen71 . Sie kam damit der SPD zuvor, die erst im Laufe des Jahres 1987 ein Konzept für eine Mindestsicherung ausarbeitete, dies aber im Untersuchungszeitraum nie vor den Bundestag brachte. Die Grünen stellten ihr Konzept unter dem Titel »integrierte, bedarfsorientierte Grundsicherung«72 vor. Schon der Name lässt auf Parallelen zum Entwurf der Arbeitsgruppe Armut und Unterversorgung schließen. Effektiv lehnten sich die Grünen auch in der inhaltlichen Ausgestaltung ihres Grundsicherungsmodells stark daran an. Die inhaltlichen Parallelen sind leicht zu erklären, denn es waren zwei Mitglieder eben dieser Arbeitsgruppe, die von der Fraktion der Grünen mit der Abfassung eines wissenschaftlichen Gutachtens zum Thema

65 66

67 68 69 70 71 72

Arme haben keine Lobby, S. 25. Bedarfsorientierte Grundsicherung. Ergebnisse der Arbeitstagung des WSI vom 29./30.4.1987, hg. v. Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut des DGB, Düsseldorf 1987. Ibid., S. 8–10. Pressemitteilung 225/86: Grüne legen Konzept zum Umbau des Sozialstaats vor. Eine integrierte soziale Grundsicherung für alle Lebenslagen, 21.4.1986, AGG, B II 1, 4753. Entschließungsantrag des Abgeordneten Bueb und der Fraktion Die Grünen, 27.11.1986, BT-Drucksache 10/6582. Entschließungsantrag der Abgeordneten Frau Beck-Oberdorf u. a. und der Fraktion Die Grünen, 19.11.1987, BT-Drucksache 11/1264. Bundestagswahl. Programm 1987, S. 48. Entschließungsantrag des Abgeordneten Bueb und der Fraktion Die Grünen, 27.11.1986, BT-Drucksache 10/6582.

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3. Die parteipolitische Diskussion

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Mindestsicherung beauftragt worden waren73 . Auf diesem Weg waren die Vorschläge der Wissenschaftler in die parlamentarische Debatte gelangt. Wie der Entwurf der Arbeitsgruppe beruhte auch das Konzept der Grünen auf der grundsätzlichen Idee, das bisherige System der Sozialversicherung und Sozialhilfe bestehen zu lassen, aber durch den Einzug von Mindestniveaus zu ergänzen. Allerdings wollten die Grünen diese Mindestniveaus im Unterschied zur Arbeitsgruppe nur in der Sozialhilfe und der Arbeitslosenunterstützung einbauen. Auch die Mindestsicherung der Grünen sollte eine bedarfsorientierte Leistung sein, die erst ausgezahlt wurde, wenn der Antragssteller seine Bedürftigkeit nachgewiesen hatte74 . Die Mindestsicherung der Grünen war als vom Bund getragene, steuerfinanzierte Leistung geplant und hätte damit eine Entlastung für die Kommunen von den Sozialhilfekosten bedeutet. Wie das Konzept der Arbeitsgruppe hätte sie außerdem konkrete Verbesserungen für die Empfänger mit sich gebracht, da auch sie die Unterstützungspflicht in der Sozialhilfe lockern und die Arbeitspflicht für Sozialhilfeempfänger abschaffen wollte75 . Vor allem aber hätte sie eine deutlich bessere finanzielle Versorgung der Betroffenen mit sich gebracht, da auch die Grünen eine monatliche Mindestunterstützung forderten, die das bisherige Niveau der Hilfe zum Lebensunterhalt um 30 Prozent überstieg76 . Nach wie vor sollte die Höhe des Existenzminimums übrigens anhand eines Warenkorbs bestimmt werden, für dessen Zusammenstellung allerdings ein Gremium aus Parlamentariern, Gewerkschaften, Betroffenenorganisationen und Armutsforschern zuständig sein sollte77 . Der Vorschlag zur Einrichtung dieses neuen Gremiums kann als Reaktion auf die Proteste der Sozialhilfeempfänger gegen den Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge verstanden werden, der bisher für den Warenkorb verantwortlich gewesen und dafür in die Kritik geraten war. Die Umsetzung des Modells der Grünen hätte also einzelne Verbesserungen der Situation der Empfänger bewirkt. Insbesondere machte die Partei mit dem Vorschlag der Abschaffung der Arbeitspflicht für Sozialhilfeempfänger einen Schritt hin zur »Entflechtung von Arbeit und Essen«78 , die eines ihrer sozialpolitischen Anliegen darstellte. Allerdings hielten sie an der zentralen Größe der Bedarfsprüfung fest: Nur wer seine Bedürftigkeit nachwies, sollte 73

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78

Es handelt sich um Walter Hanesch und Thomas Klein, vgl. Michael O, Margherita Z, Freiheit von Armut. Das grüne Modell einer bedarfsorientierten Grundsicherung im sozialpolitischen Kontext, in: D. (Hg.), Freiheit von Armut. Das grüne Grundsicherungsmodell in der Diskussion, Essen 1988, S. 7–34. Entschließungsantrag des Abgeordneten Bueb und der Fraktion Die Grünen, 27.11.1986, BT-Drucksache 10/6582. Ibid. Ibid. Arbeitskreis Sozialpolitik der Grünen im Bundestag, Das grüne Modell einer bedarfsorientierten Grundsicherung in allen Lebenslagen, in: O, Z (Hg.), Freiheit von Armut, S. 35–42. Georg Vobruba, zit. nach G, Grüne Sozialpolitik, S. 23.

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IV. Die Debatte um die neue Armut in der Bundesrepublik, 1983–1987

auch Anrecht auf das Existenzminimum haben. Für die Einführung eines allgemeinen Grundeinkommens, das allen Bürgern unabhängig von ihrem Einkommen und Vermögen zustehen sollte, machten die Grünen sich im Bundestag nicht stark. Eine solche Idee hätte einen Bruch mit der Logik eines Prinzips des deutschen Sozialstaats bedeutet – den die Grünen aber letztendlich nicht wollten. Parteiintern hatten die Grünen die Idee des Grundeinkommens aber sehr wohl diskutiert – übrigens zu diesem Zeitpunkt als einzige der im Bundestag vertretenen Parteien. Die Grünen griffen damit eine Idee auf, die insbesondere im Lauf der 1980er Jahre in verschiedenen europäischen Ländern Verfechter gefunden hatte und mit steigender Intensität diskutiert wurde79 . Auch in der Bundesrepublik fand das Grundeinkommen in dieser Zeit prominente Fürsprecher80 . Im Unterschied zu den Niederlanden, wo sogar eine im Parlament vertretene Partei das Grundeinkommen in ihr Wahlprogramm aufnahm81 , sucht man das Grundeinkommen in der Bundesrepublik in den 1980er Jahren jedoch vergeblich als Forderung in Partei- oder Wahlprogrammen. Dass auch die Grünen das Grundeinkommen nicht in die Liste ihrer Forderungen aufnahmen, kann vor allem durch parteiinterne Widerstände gegen diese Idee erklärt werden. Der sozialpolitische Arbeitskreis der Fraktion, der sich mit diesem Thema beschäftigt hatte, verweist in seinen Publikationen nur vage darauf, dass ein Teil der Parteimitglieder die Einführung eines Grundeinkommens nicht für wünschenswert halte82 . Genauere Auskunft über diese parteiinternen Widerstände geben die Protokolle der Treffen des Arbeitskreises. Vor allem aus frauenpolitischer Perspektive wurde dort gegen das Grundeinkommen argumentiert. Mitglieder des Arbeitskreises führten ins Feld, es könne zur Verdrängung der Frauen aus dem Arbeitsmarkt führen. Ein solcher »verkappter Hausfrauenlohn«83 könne nicht im Interesse der Partei sein. Der frauenpolitische Arbeitskreis der Fraktion hatte schon zuvor auf seinen Sitzungen über Mindestsicherung und Grundeinkom79

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81 82 83

In Frankreich warb in den 1980er Jahren der Intellektuelle André Gorz für diese Idee. In Belgien hatte sich das Collectif Charles Fourier die Idee zu eigen gemacht, in Großbritannien seit 1984 die Basic Income Research Group. Seit 1986 koordinierte sogar eine länderübergreifende Organisation den Austausch zwischen diesen Gruppen: das Basic Income European Network, vgl. V, V P, Ein Grundeinkommen für alle?, S. 31–36. In Deutschland wurde die Debatte 1984 von einem Sammelband des Ökolibertären Thomas Schmid unter dem Titel »Befreiung von falscher Arbeit« angestoßen; 1985 mischte sich außerdem der Frankfurter Professor für Volkswirtschaftslehre Joachim Mitschke mit Forderungen nach einem Bürgergeld in Form einer Negativsteuer in die Debatte ein, vgl. ibid. Es war dort die Politieke Partij Radicalen, die im Jahr 1977 die Idee des basisinkomen offiziell in ihr Wahlprogramm aufgenommen hatte, vgl. ibid. O, Z, Freiheit von Armut. Michael Opielka, Protokoll AK II: Beratungstreffen garantiertes Mindesteinkommen, Bonn, 19.1.1984, AGG, B II 1, 5335.

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men diskutiert und sich dort ebenfalls deutlich gegen das Grundeinkommen sowie gegen die Entkopplung von Arbeit und Einkommen insgesamt ausgesprochen84 . Konsens fand in der Partei also nur das Konzept einer Mindestsicherung, das das bestehende Sozialhilfesystem nicht abgeschafft, sondern nur ausgebaut hätte. Noch deutlicher trifft dieses Urteil für die SPD zu: Auch deren Vorschläge zur Änderung des Sozialhilfesystems orientierten sich an der bisherigen sozialstaatlichen Logik und verließen die Bahnen des Sozialstaats sogar noch weniger, als die Grünen es vorgehabt hätten. Radikale Änderungen des sozialen Sicherungssystems, so wie sie bei den Grünen mit dem garantierten Grundeinkommen zumindest innerhalb der Partei intensiv diskutiert wurden, standen bei der SPD nicht einmal intern zur Debatte. Ihr damaliger Bundesgeschäftsführer Glotz wies sich sogar als dezidierter Gegner des Grundeinkommens aus, als er von der »systemsprengende[n] Idee des garantierten Grundeinkommens«85 sprach und deren Nachteile wie folgt hervorhob: »Mit dem Mindesteinkommen werden die Arbeitslosen etwas besser alimentiert, aber gleichzeitig wird ihre Lage in einen offiziell befriedigenden sozialen Status umgewertet [. . . ] Wir dürfen das Recht auf Arbeit nicht aufgeben. Wir dürfen es uns durch ein Recht auf Grundeinkommen nicht abkaufen lassen«86 . Das Zitat verdeutlicht, dass die Sozialdemokratie von der für sie zentralen Größe Arbeit nicht abrücken wollte und daher das Grundeinkommen ablehnte. Vorschläge für eine Mindestsicherung machte die SPD auch, wenn auch erst nach den Grünen. Einen entsprechenden Antrag im Bundestag dazu brachten die Sozialdemokraten allerdings nicht ein. Erste Hinweise darauf, dass die Mindestsicherung es auch auf die Agenda der Sozialdemokraten geschafft hatte, gaben der SPD-Parteitag in Nürnberg im August 1986, auf dem ein Beschluss die Einführung einer Mindestsicherung zu den Zielen der Partei erklärte87 , sowie ihr Regierungsprogramm 1987–199088 . Ein fertiges Konzept legten die Sozialdemokraten indes erst 1987 vor, nachdem der Arbeitskreis Sozialpolitik der SPD-Bundestagsfraktion sich dessen Ausarbeitung zur Aufgabe gemacht hatte. Sein Entwurf sah vor, dass eine Mindestsicherung nur in den Fällen von Arbeitslosigkeit, Alter, Berufs- und Erwerbsunfähigkeit sowie dem Hinterbliebenenfall ausgezahlt werden sollte. Für alle übrigen Fälle sollte nach wie vor die Hilfe zum Lebensunterhalt zuständig sein, von deren Höhe sich die Mindestsicherung aber nicht unterscheiden sollte89 . Die Umsetzung dieses Konzepts hätte für die vier antragsberechtigten Personengruppen lediglich 84 85 86 87 88 89

Protokoll AK VI: Mindesteinkommen, Bonn, 24.10.1984, AGG, B II 1, 3830. Zit. nach G, Grüne Sozialpolitik, S. 25. Ibid. Protokoll vom Parteitag der SPD in Nürnberg, 25.–29.8.1986, hg. v. SPD, Bonn 1986, S. 937. Zukunft für alle, S. 25. Arbeitskreis Sozialpolitik, Diskussionspapier: Soziale Grundsicherung, hg. v. SPDBundestagsfraktion Oktober 1987, Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung, C 93–957.

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IV. Die Debatte um die neue Armut in der Bundesrepublik, 1983–1987

insofern eine Veränderung bedeutet, als ihr monatliches Existenzminimum nicht mehr vom Sozialamt ausgezahlt worden wäre, sondern von den jeweiligen Trägern der Versicherung90 . Begrüßt hätten das Modell wahrscheinlich nur die Kommunen, weil die vom Bund getragene, steuerfinanzierte Mindestsicherung91 eine Entlastung der Sozialhilfe und damit der kommunalen Haushalte bedeutet hätte. Die Ausrichtung bestätigt, was im vorausgehenden Kapitel über das sozialdemokratische Verständnis der neuen Armut behauptet wurde, nämlich dass die SPD das Neue an der Armut nur partiell begriffen hatte – oder auch nur partiell begreifen wollte. Mit ihrer Mindestsicherung wollte sie vor allem Problemlagen absichern, die nicht nur seit langem bekannt, sondern auch seit langem sozialstaatlich abgesichert waren. Zwar deutete der Arbeitskreis der Fraktion an, dass weitere Gruppen wie Alleinerziehende oder Pflegebedürftige eventuell später in die Mindestsicherung integriert werden könnten, machte dazu aber keine weiteren Aussagen92 . Die Umsetzung des Modells hätte nur eine geringfügige Änderung des sozialen Sicherungssystems bedeutet. Dass genau dies ein zentrales Anliegen der deutschen Sozialdemokratie war, geht aus dem Text des Entwurfs deutlich hervor. Immer wieder betonten die Verfasser dort, welche zentrale Rolle das Festhalten an sozialstaatlichen Prinzipien für die Partei spielte. So kommentierten sie beispielsweise das Prinzip der Sozialversicherung und den Grundsatz der einkommensproportionalen Lebensstandardsicherung mit den Worten: »Diese Regelung hat sich insgesamt bewährt und sollte nicht in Frage gestellt werden«93 . An anderer Stelle wiederholten sie: »Die soziale Grundsicherung soll das System der lohnbezogenen Sozialversicherung nicht beeinträchtigen, sondern lediglich ergänzen. Es ist nicht beabsichtigt, Arbeit und Einkommen oder Arbeit und soziale Sicherung zu entkoppeln«94 . Die Aufgabe sozialstaatlicher Prinzipien stand für die SPD insofern a priori nicht zur Diskussion, sondern sie beharrte auf dem Versicherungsprinzip und der Lohnabhängigkeit der Leistungen. Diese Traditionsfixierung charakterisierte die Haltung der SPD übrigens nicht nur gegenüber dem Grundeinkommen, sondern ihre sozialpolitische Einstellung in den 1980er Jahren generell95 . Warum trauten die Sozialdemokraten sich im Unterschied zu den Grünen nicht, Änderungen des Sozialstaats zumindest zu diskutieren? Antonia Gohr erklärt dies unter anderem über den Parteientypus und die Wählerbasis: Struk-

90 91 92 93 94 95

Ibid., S. 21. Ibid., S. 10. Ibid., S. 9. Ibid., S. 6. Ibid., S. 3. Antonia G, Was tun, wenn man die Regierungsmacht verloren hat? Die SPDSozialpolitik in den 80er Jahren, ZeS-Arbeitspapier 5 (2000), S. 2.

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turelle Neuansätze, so Gohr, seien den Grünen prinzipiell leichter gefallen, da sie im Gegensatz zur Volkspartei SPD eine verhältnismäßig homogene mittlere Gesellschaftsschicht vertraten. Dadurch sei es für sie leichter gewesen als für die SPD, radikalere Positionen zu vertreten96 . Ein weiterer Erklärungsansatz ist aus den hier untersuchten Quellen deutlich geworden und akzentuiert das Selbstverständnis der SPD als Sozialstaatspartei. Mit dem Beharren auf dem Versicherungsprinzip und der Lohnabhängigkeit sozialer Leistungen verteidigte die SPD nicht nur Grundsätze, die sie schon seit dem vorigen Jahrhundert vertrat, sondern die sie im Hinblick auf ihre Entstehung als Arbeiterpartei auch als ihre eigene Errungenschaft begriff. Ein fundamentaler Unterschied zwischen beiden Parteien lag also darin, dass die SPD sich als Verfechterin eines historischen Erbes dazu herausgefordert fühlte, den von der Sozialdemokratie im Laufe des letzten Jahrhunderts mitgestalteten und mitgetragenen Sozialstaat zu erhalten. Änderungsvorschläge für die Absicherung der Armen musste die SPD trotzdem machen, denn schließlich hatte auch sie mit dem Begriff der neuen Armut die Dysfunktionalität der sozialen Sicherung angeklagt. An einer Verbesserung der Situation der Arbeitslosen war ihr außerdem explizit gelegen. Zudem fühlte sie sich sicher von den Grünen herausgefordert, die ihr mit dem Entwurf für eine bedarfsorientierte Mindestsicherung zuvorgekommen waren. Aus diesen Gründen wandte sich auch die deutsche Sozialdemokratie der Idee der Mindestsicherung zu – ohne dabei aber eine tiefgreifende Änderung des Sicherungssystems anzustreben. An dieser Stelle muss aber daran erinnert werden, dass keines der hier vorgestellten Konzepte der Mindestsicherung einen grundlegenden Bruch mit der sozialstaatlichen Logik bedeutet hätte. Dies trifft übrigens auch für die weiteren Vorschläge für Mindestsicherungen zu, die im Laufe der 1990er Jahre von FDP und PDS vorgestellt wurden, sowie für die Weiterentwicklungen der Modelle von SPD und Grünen. Berthold Dietz beschreibt diese Konzepte als durchgehend »realpolitisch gefärbt«97 und eher als reformerische Ergänzungen des bestehenden Sicherungssystems98 . Unabhängig von der Struktur ihrer Wählerschaft oder Tradition als Sozialstaatspartei wollten alle Parteien das soziale Sicherungssystem beibehalten, was als eindrückliches Beispiel für die Pfadabhängigkeit des deutschen Sozialstaats bewertet werden kann. Vor allem aber folgte der Sozialstaat weiter seinen Pfaden, weil die Modelle Modelle blieben. Zwar hatten die Grünen auf eine Umsetzung ihres Konzepts gemeinsam

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97 98

Gohr vertritt die These, dass die Grünen sich in den 1980er Jahren aus diesem Grund insgesamt auf dem Feld der Sozialpolitik innovativer gezeigt hätten als die SPD, vgl. D., Grüne Sozialpolitik, S. 6. D, Soziologie der Armut, S. 196. Ibid.

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mit der SPD nach den Bundestagswahlen 1987 gehofft99 ; jedoch war der Plan an den Wahlergebnissen gescheitert, die eine neue Amtszeit der christlichliberalen Regierung einläuteten. Keines der hier vorgestellten Modelle für eine Mindestsicherung wurde daher umgesetzt. Auch bemühte die Regierung sich nicht um ein eigenes Mindestsicherungskonzept. Während die FDP in den 1990er Jahren immerhin einen eigenen Entwurf ausarbeiten würde, tat die CDU dies nie100 . Die Fortführung der christlich-liberalen Koalition verhinderte somit die Umsetzung der verschiedenen Mindestsicherungsmodelle. Auch ein Regierungswechsel hin zu einer rot-grünen Koalition hätte jedoch nur kleine Verbesserungen für die Armen gebracht und vor allem: keine grundlegende Neustrukturierung des sozialen Sicherungssystems zur Schaffung eines ausreichenden Existenzminimums.

3.3. Reaktionen der christlich-liberalen Regierung Über die Oppositionsparteien war – ebenso wie in Frankreich – auch in der Bundesrepublik die Frage der neuen Armut ins Parlament gelangt. Fester Bestandteil der dort geführten Debatte waren zum einen der Vorwurf an die Regierung, mit ihren Sparmaßnahmen die Entstehung von Armut verursacht oder zumindest begünstigt zu haben, zum anderen diverse Vorschläge zur besseren Absicherung der Armen, die bis hin zur Forderung der Einführung einer Mindestsicherung reichten. Wie reagierte die von CDU und FDP geführte Regierung auf diese Forderungen, und welche Haltung nahm sie im Hinblick auf die neue Armut ein? An verschiedenen Stellen dieses Kapitels hat sich die Antwort bereits angedeutet. Die Regierung hatte die öffentlichkeitswirksamen Kampagnen von Arbeiterwohlfahrt und Diakonie zum Armutsthema scharf zurückgewiesen. An der Diskussion um eine bessere sozialstaatliche Absicherung durch neue Modelle der Mindestsicherung hatte sie nicht teilgenommen, kein eigenes Konzept entworfen und keinen Schritt zur Umsetzung der Ideen unternommen. Diese Beispiele illustrieren die Haltung der Regierung insgesamt, die sich als kontinuierliche Zurückweisung des Themas und Relativierung des Problems beschreiben lässt. Bis zum Ende des Jahrzehnts bemühte sich die Regierung darum, die Existenz von Armut zwar nicht generell zu widerlegen, aber doch den Thesen der Opposition über Ausmaß, Ursachen und Folgen der Mangellagen sowie generell der Idee einer neuen Armut zu widersprechen. Um diese Position zu verteidigen, bediente sich die Regierung verschiedener argumentativer Strategien. Eine erste Reaktion bestand zu Beginn der Debatte im Herunterspielen des Themas. Dabei tat die Regierung die neue Armut als 99 100

G, Grüne Sozialpolitik, S. 30. D, Soziologie der Armut, S. 184–197.

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»Pauschalbegriff«101 und die darüber entfachte Diskussion als »Gerede«102 und sogar als »Weihnachtsmärchen«103 ab. Zweitens bediente sich die Regierung eines Arguments, das schon in den 1970er Jahren dazu geführt hatte, der Frage nach der Armut in Deutschland die Aufmerksamkeit zu entziehen. Und zwar versuchte sie durch den Verweis auf die Situation in Entwicklungsländern die Probleme in Deutschland zu relativieren. »Gott sei Dank haben wir einen Sozialstaat, der das Elend, das in der Dritten Welt herrscht, bei uns vermeidet. Deshalb sollten Sie mit dem Wort sparsam umgehen. Wer das so inflationär verwendet, der handelt zynisch gegenüber denjenigen, denen es in der Dritten Welt wirklich elend geht«104 . Die Armut in Deutschland beschrieb die Regierung vor diesem Hintergrund als psychische Notlagen, so wie dies schon in den 1970er Jahren häufig geschehen war. »Weniger ein Defizit an materiellen Mitteln, sondern eher ein Mangel an Geborgenheit, an Integration«105 . In den 1970er Jahren hatte diese Argumentation tatsächlich funktioniert und die Aufmerksamkeit von materiellen Problemlagen abgezogen. Es ist aber auch deutlich geworden, dass dieses Argument in den 1980er Jahren an Schlagkraft verloren hatte und dass sich immer mehr die Überzeugung durchgesetzt hatte, dass die Existenz der Armut in der sogenannten Dritten Welt der Beschäftigung mit diesem Phänomen in reichen Ländern nicht ihre Legitimität entzog. Über die schwindende Überzeugungskraft dieses Argumentes anscheinend informiert, brachte die Regierung es tatsächlich nur noch selten vor. Stattdessen setzte sie vor allem auf die beiden folgenden Argumentationen. Insbesondere die CDU versuchte drittens – so wie es auch die SPD zuvor bei der neuen sozialen Frage und bei der CDU versucht hatte –, die neue Armut als Strategie der Oppositionspartei und damit als Lüge zu enttarnen. »Offensichtlich ist die Sensibilität von Sozialdemokraten und Gewerkschaften für die Armen erst mit dem Wechsel der SPD von der Regierung in die Opposition erwacht«106 , warf Geißler den Sozialdemokraten bei einer Podiums101 102 103

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So der Vorsitzende der FDP-Fraktion im Bundestag, Wolfgang Mischnick, BTPlenardebatte, 10. Wahlperiode, 153. Sitzung, 5.9.1985, S. 11471. Bernhard Jagoda, ibid., 10. Wahlperiode, 104. Sitzung, 28.11.1984, S. 7696. Mit diesem Begriff reagierte eine Pressemitteilung der CDU auf eine Pressekonferenz von Peter Glotz, vgl. CDU-Pressemitteilung, 20.12.1984, ACDP, Sozialpolitik, 0/060/2–8: Armut. Norbert Blüm, BT-Plenardebatte, 10. Wahlperiode, 108. Sitzung, 6.12.1984, S. 8112; diese Aussage Blüms wird anschließend auch in einem Text zitiert, mit dem der parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Wolfgang Vogt, im Namen des Ministeriums auf die ersten Diskussionen über die neue Armut reagiert, vgl. Arbeitslosigkeit und »neue Armut«, Bonn, 11.12.1984, ACDP, Sozialpolitik, 0/060/2–8: Armut. Blüm äußerte dies in einem Gespräch mit dem Spiegel, vgl. Dirk K, Klaus W, Ich bin nicht der liebe Gott. CDU-Arbeitsminister Norbert Blüm über die Sozialpolitik der Kohl-Regierung, Der Spiegel, 14.1.1985. So formulierte es Geißler bei einem von der CDU im Konrad-Adenauer-Haus organisierten Gespräch zum Thema neue Armut. Zuvor hatte er auf dem Parteitag der CDU im März

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diskussion zur neuen Armut vor. Zuvor schon hatte der CDU-Generalsekretär und Bundesfamilienminister auf dem Parteitag der CDU die neue Armut als »sozialdemagogischen Schwindel der SPD«107 bezeichnet. Auch sein Parteikollege, Arbeitsminister Norbert Blüm, bemühte sich darum, diese Sichtweise vorzubringen: Die Diskussionen um die neue Armut seien »aus der Luft gegriffen«108 und »dienen lediglich der politischen Agitation«109 , erklärte eine Stellungnahme seines Ministeriums. Als Strategie der Opposition enttarnt, konnte die empirische Grundlage des Phänomens angezweifelt werden. Die vierte und hauptsächliche Argumentation der Regierung bestand aber darin, die Errungenschaften des deutschen Sozialstaats hervorzuheben und damit Armut als ein sozialpolitisch bereits erkanntes und bekämpftes Problem darzustellen. »Unser Sozialstaat [. . . ] gehört zu den leistungsfähigsten und stabilsten der Welt«110 . Solche und ähnliche Bekräftigungen gehörten zum Repertoire, mit denen die Regierung die Vorwürfe der Oppositionsparteien zurückweisen wollte. Sie unterstrich häufig auch die sozialpolitischen Maßnahmen und Gesetze, die auf ihre eigene Initiative zurückgingen. So erinnerten Abgeordnete der Regierungsparteien und Mitglieder der Regierung beispielsweise an die Erhöhung der Mittel für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die längere Auszahlung des Arbeitslosengeldes an ältere Arbeitslose, die Reform der Hinterbliebenenrente, die Einführung des Erziehungsgeldes, die Anerkennung eines Erziehungsjahres bei der Rente und andere Maßnahmen, die alle nach 1982 von der christlich-liberalen Regierung beschlossen worden waren111 . Indem die Regierung so ihr eigenes sozialpolitisches Engagement hervorhob, wies sie den Vorwurf der Opposition zurück, untätig

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1985 die gleiche Idee vorgebracht, als er im Hinblick auf die neue Armut behauptet hatte: »Nichts ist kürzer als das Gedächtnis der SPD, sobald sie aus der Regierungsverantwortung ausgeschieden ist«, Protokoll. 33. Bundesparteitag der Christlich Demokratischen Union Deutschlands, Essen, 19.–22. März 1985, hg. v. CDU-Bundesgeschäftsstelle, Bonn 1985, S. 55; vgl. auch: Stellt sich die Neue Soziale Frage neu? »Neue Armut«, organisierte Interessen, neue Arbeit. Protokoll des 8. Konrad-Adenauer-Gespräches am 12. Dezember 1985 in Bonn, hg. v. CDU-Bundesgeschäftsstelle, Bonn 1986. Protokoll. 33. Bundesparteitag, S. 55. N. N., CDU-Dokumentation, »Neue Armut« durch Arbeitslosigkeit? Fakten gegen Sozialdemagogie, in: Union in Deutschland. Informationsdienst der CDU, 31.1.1985, S. 1. Ibid. Antwort der Bundesregierung auf die Großen Anfragen der Abgeordneten Bueb, Wagner und der Fraktion Die Grünen, 24.9.1986, BT-Drucksache 10/6055. Diese Argumentation verfolgt die Regierung auch in ihren Antworten auf die Großen Anfragen der Oppositionsparteien zu Armut, vgl. BT-Drucksache 10/6623 und 10/5524. Für die Bundestagsdebatte vgl. Bernhard Jagoda, BT-Plenardebatte, 10. Wahlperiode, 104. Sitzung, 28.11.1984, S. 7696–7698; Heiner Geißler, ibid., S. 7720 f. Der Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit betonte dort seinem Amt entsprechend vor allem die Maßnahmen für alte Menschen und Kinder. Vertreter des Bundesarbeitsministeriums akzentuierten an anderer Stelle den Einsatz der Regierung für Arbeitslose, vgl. Arbeitslosigkeit und »neue Armut«, Bonn, 11.12.1984, ACDP, Sozialpolitik, 0/060/2–8: Armut.

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gegen Armut zu sein oder diese gar mitverschuldet zu haben. Aber nicht nur das eigene sozialpolitische Verdienst, sondern auch der Anteil der Sozialdemokraten am Aufbau des Sozialstaates wurde in den Debatten vorgebracht. Schon im September 1984, als erstmals die neue Armut im Plenum des Bundestags diskutiert wurde, wandte Blüm sich bei seiner Gegenrede direkt an die SPD: »Im übrigen will ich auch im Respekt vor Ihrer Leistung folgendes sagen: Wir haben einen Sozialstaat aufgebaut, auch mit Gewerkschaften und Sozialdemokraten, der verhindert, daß in unserem Staat Massenelend entsteht«112 . Die gleiche Idee führte der Arbeitsminister einige Monate später wieder im Bundestag aus: »Ein Horrorgemälde vom Elend zu entwerfen, das Katastrophenbild einer Massenarmut zu zeigen, das läßt Ihre eigenen Früchte, nämlich am Ausbau des Sozialstaates mitgewirkt zu haben, verfaulen. Damit demontieren Sie sich selber«113 . Geschickt versuchte Blüm damit, den Sozialdemokraten ihre eigene Argumentation auszureden, indem er den Gedanken weiterführte und aussagte: Mit dem Anprangern der Existenz von Armut im deutschen Sozialstaat kritisiert die SPD nicht nur die neue Regierung, sondern letztendlich auch sich selbst, weil sie den Aufbau des Sozialstaats mitgetragen hatte. Insgesamt prägten also Versuche der Relativierung des Themas und die Zurückweisung der Vorwürfe die Aussagen der Regierung zur neuen Armut. Ihr Interesse an der Armutsfrage erscheint damit als gering. Hatten die umfassenden Aktivitäten verschiedener Gruppen, die Artikel, Podiumsdiskussionen, Arbeitsgruppen, Aktionswochen und selbst die parlamentarischen Anfragen und Gesetzesanträge es nicht geschafft, das Thema auf die Agenda der Regierung zu bringen? Und waren selbst die Vorwürfe, in Deutschland herrschten erneut ›»Weimarer Verhältnisse«, an der Regierung abgeprallt? Letzteres würde dafür sprechen, dass sich der Weimar-Vergleich in dieser Zeit wirklich von seinem historischen Gegenstand gelöst hatte, so wie Ullrich es dargestellt hatte114 . Jedoch können beide Fragen nicht einfach mit Ja beantwortet werden. Einerseits akzeptierte die Regierung das von der Opposition aufgebrachte Armutsthema nicht, sondern war bis zum Ende der 1980er Jahre nur um die Widerlegung der Aussagen von SPD, Grünen, Gewerkschaften und Verbänden bemüht. Andererseits verweist die Intensität der Beschäftigung mit diesem Gegenstand, auch wenn es nur um Widerspruch und Widerlegungen ging, darauf, wie ernst die Regierung die Armutsfrage nahm. Eine intensive Pressebeobachtung zu dem Thema setzte im Ministerium für Arbeit und Sozialordnung bereits kurz nach der ersten Veröffentlichung der Studie des rheinischen Journalistenbüros zur neuen Armut am Ende des Jahres 1983 ein115 . Das Ministerium bezog erstmals im Dezember 1984 ausführlich 112 113 114 115

BT-Plenardebatte, 10. Wahlperiode, 82. Sitzung, 13.9.1984, S. 6034. Ibid., 108. Sitzung, 6.12.1984, S. 8112. U, Der Weimar-Komplex, S. 13. L, Armut im geteilten Deutschland, S. 331.

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IV. Die Debatte um die neue Armut in der Bundesrepublik, 1983–1987

Stellung zur Debatte um die neue Armut, als der parlamentarische Staatssekretär des Ministeriums, Wolfgang Vogt, den Mitgliedern der Fraktionen von CDU/CSU und FDP einen Text mit dem Titel »Arbeitslosigkeit und ›neue Armut‹« vorlegte. Der Text, der auf 16 Seiten ausführlich auf die von SPD und DGB vorgebrachten Vorwürfe eingeht und zahlreiche Argumente zu ihrer Widerlegung vorbringt, wurde einen Monat später auch veröffentlicht116 . Am Ende des gleichen Jahres organisierte die CDU außerdem eine öffentliche Diskussion117 . Als einen der beiden Hauptredner hatte sie dazu, gemeinsam mit Heiner Geißler, den stellvertretenden DGB-Vorsitzenden Gerd Muhr und damit einen der Initiatoren der Debatte um die neue Armut eingeladen. Die Regierung hatte ausführlich auf die von der Diakonie vorgetragene Kritik am sozialen Sicherungssystem geantwortet118 . Ebenso ausführlich beantwortete sie die Großen Anfragen der Oppositionspartei im Bundestag119 – nur eben ohne auf die Forderungen einzugehen. Insofern wird deutlich, dass die Regierung die Vorwürfe nicht einfach an sich abperlen ließ, sondern im Gegenteil sensibel darauf reagierte und eifrig um die Widerlegung der Aussagen zur neuen Armut bemüht war. Sie war dabei insbesondere darauf bedacht, dem Vergleich mit Weimar den Boden zu entziehen. Darauf verweisen beispielsweise ihre verschiedenen Aussagen, dass es in der Bundesrepublik »kein Massenelend«120 gebe. Ohne es explizit auszusprechen, nahm sie damit doch deutlich Bezug auf die vom DGB erstmals hergestellte Parallele zwischen der Situation der Bundesrepublik in den 1980er Jahren und der krisenhaften Spätphase der ersten deutschen Republik. An anderer Stelle machte sie den Bezug auch explizit: »Vergleiche mit der Weimarer Republik sind unzulässig und maßlos«121 , erklärte Staatssekretär Vogt für das Arbeitsministerium. Bevor hier weiter der in der Debatte überraschend präsente Weimar-Bezug analysiert wird, soll noch auf einen Aspekt aufmerksam gemacht werden, der 116

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N. N., CDU-Dokumentation, »Neue Armut« durch Arbeitslosigkeit?; vgl. auch N. N., Blüm: Die »neue Armut« gibt es nicht. Dokumentation widerlegt Behauptung der Opposition – 600 000 ohne Finanzhilfe, in: Münchner Merkur, 30.1.1985. Stellt sich die Neue Soziale Frage neu? CDU-Bundesgeschäftsstelle, Abteilung Sozialpolitik, Analyse der Schrift des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche von Westfalen »Zur gegenwärtigen sozialpolitischen Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland«, 9.7.1985, ADE, PB 1245; vgl. Wolfgang Vogt, Brief an den ersten Vorsitzenden des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche von Westfalen, 15.8.1985, ibid. Vgl. BT-Drucksache 10/6055 und 10/5524 So hatte Blüm dies ausgedrückt. Eine ähnliche Formulierung findet sich auch in der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Grünen zu Armut und Sozialhilfe; dort entgegnet die Regierung: »In der Bundesrepublik Deutschland gibt es aber kein Massenelend«, vgl. BT-Drucksache 10/6055, S. 2; Norbert Blüm, BT-Plenardebatte, 10. Wahlperiode, 82. Sitzung, 13.9.1984, S. 6034. Arbeitslosigkeit und »neue Armut«, Bonn, 11.12.1984, ACDP, Sozialpolitik, 0/060/2–8: Armut.

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3. Die parteipolitische Diskussion

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erstaunlicherweise fehlte, nämlich der Bezug auf andere Länder. Auch für den französischen Fall konnte schon festgestellt werden, dass die neue Armut vor allem in einem nationalen Bezugsrahmen diskutiert wurde. Obwohl in der gleichen Zeit auch andere Länder die gleichen Problemlagen diskutierten, teilweise sogar unter ähnlichen Begriffen, hatten die hier untersuchten Akteure keinen Bezug darauf genommen. Das gleiche Urteil kann für die Bundesrepublik getroffen werden, wo weder Verbände noch Parteien auf die Verhandlung einer neuen Armut in anderen Ländern verwiesen. Zumindest in den hier analysierten Quellen spielten die anderen europäischen Länder keine Rolle als Argument in der Debatte. Statt auf andere Länder nahmen sowohl Parteien als auch Verbände deutlich häufiger Bezug auf die Vergangenheit des eigenen Landes. Die Weimar-Bezüge des Gewerkschaftsbundes waren jedenfalls nicht an der Regierung abgeprallt, sondern hatten im Gegenteil deutliche Reaktionen hervorgerufen. Laut Winfried Süß verweist die empfindliche Reaktion der Regierung auf die DGB-Kampagne darauf, wie sehr ein intakter Sozialstaat zum Selbstverständnis der Bundesrepublik gehörte122 . Süß erklärt außerdem, der Bezug auf die politischen und sozialen Verwerfungen in der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre habe in den 1980er Jahren parteiübergreifend die Tendenz zum sozialstaatlichen Rückbau gebremst und den sozialstaatlichen Konsens gestärkt123 . Sicher war es nicht ausschließlich der Bezug auf Weimar gewesen, der den Abbau des deutschen Sozialstaats verhindert hatte. Dennoch kann hier bestätigt werden, was oben als Vermutung geäußert wurde, nämlich dass zum einen der Bezug auf Weimar in den 1980er Jahren keine leere Hülse war, die sich von ihrem historischen Gegenstand gelöst hatte. Die empfindliche Reaktion der Regierung verweist im Gegenteil darauf, dass die Erinnerung an Weimar einen wichtigen Bezugspunkt in der sozialpolitischen Debatte und außerdem einen Katalysator für die Beschäftigung der Regierung mit der Armutsfrage darstellte. Zum anderen bestätigt sich die Vermutung, dass die Weimar-Bezüge auf die Verhandlung der Rolle des Sozialstaats für die Bundesrepublik schließen lassen. Mit dem Verweis auf Weimar hatte der DGB der Regierung die Frage gestellt, welchen Stellenwert sie dem Sozialstaat beimaß, und diese hatte nicht gezögert, zu bekräftigen, dass sie einen intakten Sozialstaat als Teil der Bundesrepublik ansah. In ihrer Sozialpolitik setzte die Regierung diese Haltung jedoch nur teilweise um. Sicher waren die »sozialpolitisch rauhen Jahre«124 mit den Kürzungen von 1983 und 1984 weitgehend abgeschlossen. 1985 wurden erstmals seit einer Dekade keine sozialpolitischen Kürzungen mehr vorgenommen, sondern einzelne Sozialleistungen wurden verbessert125 . Jedoch zeigte die Regierung dabei 122 123 124 125

S, Massenarbeitslosigkeit. D., Armut im Wohlfahrtsstaat. S, Sozialpolitik in Deutschland, S. 104. Ibid.

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IV. Die Debatte um die neue Armut in der Bundesrepublik, 1983–1987

keinerlei Bemühungen um die Umsetzung einer Armutspolitik. Sie setzte keine der von der Opposition vorgeschlagenen Maßnahmen zur Armutsbekämpfung um. Anträge wie das Sofortprogramm zur Armutsbekämpfung, die Grundrente oder die Mindestsicherung der Grünen blieben daher folgenlos. Ebenso wenig kam sie der Forderung nach der Reform der Sozialhilfe nach, die im Laufe des Jahrzehnts sowohl Verbände als auch Gewerkschaften und Oppositionsparteien auf die Liste ihrer Forderungen aufgenommen hatten126 . Eigene Ideen zur Armutsbekämpfung brachte die Regierung nicht ein; entsprechend verabschiedete sie im gesamten Untersuchungszeitraum kein einziges Programm, das spezifisch die Reduktion von Armut anvisierte. Letztlich überrascht dies nicht, denn ein Programm zur Armutsbekämpfung hätte auch ein Eingeständnis bedeutet: Die Regierung hätte damit zugegeben, dass das Phänomen, das sie seit 1984 konstant zu relativieren versuchte, doch so umfassend war, dass es sozialpolitisch bekämpft werden musste. Damit hätte sie ihre eigene Argumentation, nach der Armut bereits sozialstaatlich erkannt und bekämpft sei, unglaubwürdig gemacht. An dieser Stelle kann mit Recht eingewandt werden, dass die Regierung auch ohne das explizite Etikett der Armutsbekämpfung Maßnahmen zugunsten der untersten Einkommensschichten hätte verabschieden und damit zur Reduktion von Armut beitragen können. Tatsächlich weist die Sozialpolitik nach 1985 einige neue Akzente auf, die auch als Reaktionen auf die neue Armutsdebatte gelesen werden könnten. Neben dem schon erwähnten generellen Ende der Sparmaßnahmen fallen einige sozialpolitische Leistungsverbesserungen zugunsten von Frauen und Familien ins Auge, beispielsweise die Einführung des Erziehungsgeldes und des Erziehungsurlaubs, die Erhöhung des Kindergeldes sowie die Anrechenbarkeit von Kindererziehungszeiten als Beitragszeiten in der Rente127 . Manfred G. Schmidt hebt insbesondere den letzten Aspekt als Durchbruch in der Sozialpolitik hervor, da mit dieser Regelung erstmals in der Geschichte der bundesrepublikanischen Sozialversicherung die Tätigkeit in der Familie der außerhäuslichen Erwerbsarbeit gleichgestellt wurde128 . Profitieren würden von diesen Maßnahmen einerseits Frauen, andererseits auch Kinder und Jugendliche – und damit eine der Gruppen, deren Armutsrisiko in den 1980er Jahren steil angestiegen war. Aus diesem Grund wurden die neuen sozialpolitischen Akzente der christlich-liberalen Regierung schon als policy learning interpretiert. Diese These vertritt beispielsweise Jens Alber, der behauptet, die Regierung habe die Ergebnisse der neuesten Armutsforschung zur Kenntnis genommen, in der die Verschiebung des Armutsrisikos auf Kinder beschrieben

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Matthias Willing bezeichnet die Ablösung des Warenkorb-Modells durch ein StatistikModell für die Bedarfsberechnung am Ende der 1980er Jahre als einzige nennenswerte Reform der Sozialhilfe zwischen 1982 und 1989, vgl. W, Sozialhilfe. O, S, Vom Ausbau zur Konsolidierung, S. 169 f. S, Sozialpolitik in Deutschland, S. 104 f.

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wurde. Die familienpolitischen Maßnahmen seien somit als Reaktion auf diese seinerzeit neuesten Forschungserkenntnisse zu verstehen129 . Obwohl der familienpolitische Fokus in der Sozialpolitik der Regierung klar hervortritt, können Einwände gegen diese Thesen erhoben werden. Denn diese Regierung hatte nicht nur das Thema seit 1982 durchgehend relativiert, sondern nicht einmal die Erstellung eines Armutsberichts für nötig gehalten. Auf eine entsprechende Anfrage eines SPD-Abgeordneten hatte eine parlamentarische Staatssekretärin geantwortet, dass die Regierung keinen Armutsbericht in Auftrag geben würde, »weil kein Bedürfnis besteht«130 . Unwahrscheinlich, dass dieselbe Regierung die neuesten Entwicklungen der Armutsforschung verfolgte und deren Empfehlungen sofort in ihrer Politik umsetzte. Wie lassen sich dann aber die sozialpolitischen Maßnahmen zugunsten neuer Armutsgruppen erklären? Diese Arbeit stellt die These auf, dass die Regierung sich hier nicht an den Erkenntnissen der neuen Armutsforschung, sondern an ihren Positionen zur neuen sozialen Frage in den 1970er Jahren orientiert. Jens Alber hat bereits eingeräumt, dass dies neben dem policy learning einen weiteren möglichen Erklärungsansatz biete131 . Denn zunächst lassen Ähnlichkeiten diese These als wahrscheinlich erscheinen: Mit der neuen sozialen Frage hatte die CDU die bessere Versorgung von Frauen, Familien, Kindern und alten Menschen angemahnt – eben diese strebten die sozialpolitischen Maßnahmen nach 1986 an. Die Quellen erhärten diese Überlegung und machen deutlich, dass es sich nicht um zufällige Ähnlichkeiten handelt, sondern dass die CDU tatsächlich 1986 auf ihre Forderungen von 1975 zurückgriff und sie zu ihrer sozialpolitischen Leitlinie machte. Der Initiator der neuen sozialen Frage selbst war es, der im Juli 1986 auf einer Pressekonferenz erklärte: »Die neue soziale Frage ist Fahrplan für die CDU-Sozialpolitik«132 . Geißlers weitere Ausführungen über die seiner Meinung nach neuen Konfliktlinien, die jenseits des Gegensatzes von Kapital und Arbeit »zwischen organisierten und nichtorganisierten Interessen«133 verliefen, verdeutlichen, dass sich an der Lesart der CDU der Armutsfrage seit 1975 auch wenig geändert hatte. Lediglich bei den Personengruppen, die Geißler in den Fokus rückt, werden einige Neuerungen deutlich, als Geißler zu den traditionellen Risikogruppen noch »alleinstehende

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Jens A, Der deutsche Sozialstaat in der Ära Kohl: Diagnosen und Daten, in: Stephan L, Uwe W (Hg.), Der deutsche Sozialstaat. Bilanzen – Reformen – Perspektiven, Frankfurt a. M. 2000, S. 235–275. So formulierte es die parlamentarische Staatssekretärin für Jugend, Familie und Gesundheit, Irmgard Karwatzki, als Antwort auf die Frage des Abgeordneten Reimann, vgl. BT-Plenardebatte, 10. Wahlperiode, 215. Sitzung, 14.5.1986, S. 16506. A, Der deutsche Sozialstaat. Hilfe für sozial Schwache und nicht Organisierte: Die Neue Soziale Frage ist Fahrplan für die CDU-Sozialpolitik, CDU-Pressemitteilung, 8.7.1986, ACDP, Sozialpolitik, 0/060/2–8: Armut. Ibid.

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IV. Die Debatte um die neue Armut in der Bundesrepublik, 1983–1987

Mütter«134 und »Dauerarbeitslose«135 hinzufügte. Insofern hatte die CDU auf einige neuere Entwicklungen der Armutsstatistik reagiert, prinzipiell jedoch beruhten ihre Lösungsvorschläge für die neue Armut auf alten Konzepten, nämlich auf der neuen sozialen Frage und damit auch auf der traditionellen katholischen Soziallehre. Dabei muss der Partei zugestanden werden, dass ihre alten Konzepte nicht völlig unpassend für die neuen Herausforderungen der 1980er Jahre waren. Die CDU erfasste mit ihrer familienzentrierten Sozialpolitik zwar nur einen Teil der neuen Armutsrisiken, unterschied sich damit aber nicht von den Sozialdemokraten, die ebenfalls an ihrem traditionellen sozialpolitischen Kurs orientiert blieben und auf diesem Weg die neuen Armutsrisiken auch nur partiell erfassten. Mit Kindern und Jugendlichen erfasste die CDU außerdem eine Problemgruppe, die von den hier untersuchten Akteuren insgesamt vernachlässigt wurde, obgleich ihr Armutsrisiko in den 1980er Jahren steil angestiegen war. Die Frage nach der sozialpolitischen Reaktion auf die neue Armut kann also für beide Länder ähnlich beantwortet werden. Für Frankreich wurde schon festgestellt, dass die Regierung dort auf die neue Armut nicht mit neuen, sondern zunächst mit traditionellen armutspolitischen Maßnahmen reagierte. Auch für die Bundesregierung traf dies zu. Teilweise können ähnliche Gründe für diese Entwicklung geltend gemacht werden. Zwar handelte die deutsche Regierung im Unterschied zur französischen nicht unter großem Zeitdruck; jedoch verweist die deutsche Debatte um die neue Armut darauf, dass auch hier die neuen Entwicklungen der Armutsstatistik nur partiell erfasst und verstanden worden waren. Das in den 1980er Jahren deutlich ansteigende Armutsrisiko von Alleinerziehenden oder Migranten hatte in der Diskussion nur eine periphere Rolle gespielt. Das Ausmaß des Armutsrisikos dieser Gruppen hatten die politischen Entscheidungsträger zum einen nicht völlig erkannt, sich zum anderen aber auch selten als Lobby für diese Gruppen gefühlt. Entsprechend richteten sie die Programme nicht auf diese Problemlagen aus. Neben dieser Gemeinsamkeit liegt der fundamentale Unterschied zwischen beiden Ländern aber darin, dass die französische Regierung die neue Armut als Thema generell anerkannte und sich dafür zuständig sah. Nicht so die Bundesregierung, die bis zum Ende des Untersuchungszeitraums mit der Abwehr dieser Frage beschäftigt war. Dieser Unterschied kann auch den in der Einleitung skizzierten Dissens der deutschen und französischen Forschung über die Armutsdebatte der Bundesrepublik vor 1990 erklären. Dass Serge Paugam mit seiner Aussage, in der Bundesrepublik habe es vor der Wiedervereinigung keine politische Debatte um Armut gegeben, im Unrecht war, ist hier deutlich geworden. Auch in der Bundesrepublik gab es eine Debatte um die neue Armut, und wie in Frankreich rückte in diesem Zuge das Thema auch auf die Agenda der 134 135

Ibid. Ibid.

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3. Die parteipolitische Diskussion

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politischen Parteien. Indes akzeptierte die deutsche Regierung – im Unterschied zur französischen – die neue Armut nicht als Thema und leitete daher auch keine Maßnahmen zu deren Bekämpfung ein. Für die programmes contre la pauvreté et la précarité gab es in der Bundesrepublik keine Entsprechung. Insofern ist für beide Länder eine Politisierung der Armutsfrage festzustellen, allerdings reichte dieser Prozess in Frankreich deutlich weiter.

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Die Entdeckung einer neuen Armut zu Beginn der 1980er Jahre Wichtige Parallelen zwischen den Debatten beider Länder sind deutlich geworden. Zunächst im Hinblick auf die Zeitlichkeit: In beiden Ländern liegt die Zäsur, die in den 1970er Jahren vergeblich gesucht wurde, am Beginn der 1980er Jahre. Die Armutsdiskurse beider hier untersuchter Länder unterstützt also das Ansetzen einer Zäsur 1979/80136 . Beide Debatten, die in dieser Zeit entstehen und um den Begriff der neuen Armut kreisen, illustrieren außerdem in beiden Ländern ein gewandeltes Armutsbild der Akteure. So wie in Frankreich diskutierten auch in der Bundesrepublik die untersuchten Akteure unter dem Schlagwort der neuen Armut nicht psychologische Phänomene – wie es in der Randgruppendebatte der 1970er Jahre teilweise der Fall gewesen war –, sondern materielle Notlagen. Ebenso rückten sie unter diesem Begriff nun andere Risikogruppen für Armut ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit als vorher. Wie in Frankreich stellte auch in der Bundesrepublik die Debatte um die neue Armut in erster Linie eine Diskussion der ungenügenden sozialstaatlichen Absicherung der Arbeitslosen dar. Room und Henningsen verweisen darauf, dass dies insgesamt ein zentraler Aspekt der Verhandlung der neuen Armut in den Mitgliedsstaaten der EG ist137 . Ob das nächste Element ebenfalls ein typisch westeuropäisches Charakteristikum der Kommunikation um die neue Armut darstellt, hat die Forschung bisher noch nicht nachgewiesen. Für Frankreich und die Bundesrepublik kann jedenfalls bilanziert werden, dass die Debatte um die neue Armut auch eine Verhandlung der Unsicherheiten darstellt. Zwar etabliert sich in der Bundesrepublik nicht der Begriff der Prekarität, der in Frankreich diese Idee der Unsicherheit hauptsächlich ausdrückte. Auch diskutierten die Akteure beider Länder nicht den gleichen Sachverhalt, denn während sie in der Bundesrepublik ein fehlerhaftes unterstes Sicherungssystem besprachen, debattierten sie in Frankreich das völlige Fehlen eines solchen. Jedoch brachte in beiden Ländern diese Entdeckung der Lücken des sozialen Sicherungssystems einen Vertrauensverlust der Akteure in den Sozialstaat mit sich. Nach und nach setzte sich die Erkenntnis durch, dass der Sozialstaat nicht die gesamte Bevölkerung absicherte und dass der Ausbau bestehender Sozialleistungen keine Lösung für die diskutierten Probleme bringen würde. In beiden Ländern begann daraufhin eine intensive Suche nach Vorschlägen für die Änderung des sozialen Sicherungssystems. Für Frankreich wird diese im folgenden Kapitel noch weiterverfolgt; für die Bundesrepublik ist sie mit den Debatten um die 136 137

B, Umbrüche in die Gegenwart. Graham R, Bernd H, Neue Armut in der Europäischen Gemeinschaft, Frankfurt a. M. 1990, S. 30–33.

https://doi.org/10.1515/9783110613087-012

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alternativen Sozialhilfemodelle und um Grund- und Mindestsicherungssystem schon deutlich geworden. Jedoch blieb es in der Bundesrepublik bei der Diskussion dieser alternativen Modelle, der keine Umsetzung folgte. An der Tatsache, dass die Armutspolitik der Bundesregierung sich bis zum Ende der 1980er Jahre an traditionellen Vorstellungen von Armut orientierte, wird deutlich, dass so wie in Frankreich auch in der Bundesrepublik das Armutsbild nicht vollständig aktualisiert wurde. Auch für den Verlauf der Debatte können die gleichen Prozesse für beide Länder festgestellt werden – obwohl deren Intensität sich unterscheidet. Die diskursive Öffnung wird sowohl für Frankreich als auch für Westdeutschland deutlich, denn in beiden Ländern entwickelten sich die Armutsdebatten in der ersten Hälfte der 1980er Jahre von Expertendiskursen zu breiten öffentlichen Diskussionen. Indes fallen Unterschiede in der Akteurskonstellation beider Länder ins Auge. In Frankreich lenkten lokal agierende Verbände als erstes den Blick auf die neue Armut, indem sie auf ihre Überforderung durch den Anstieg der Hilfsanfragen aufmerksam machen. In der Bundesrepublik dagegen wurde die Debatte um die neue Armut durch eine gewerkschaftliche Kampagne losgetreten.138 Als mögliche Gründe für die Zurückhaltung der deutschen Verbände wurde angeführt, dass die Probleme auf lokaler Ebene für sie später fühlbar wurden als in Frankreich. Denn der Secours catholique und die kommunalen Sozialhilfebüros hatten den massiven Zulauf von Arbeitslosen skandalisiert – in der Bundesrepublik lag die Arbeitslosenquote jedoch bis zum Ende der 1970er Jahre noch nahe an der Vollbeschäftigung. Hingewiesen wurde aber auch auf das unterschiedliche Verhältnis der Verbände zum Staat in beiden Ländern. Erst als sich dieses in der Bundesrepublik ein Stück von der üblichen Partnerschaftlichkeit weg entwickelte, skandalisierten auch die hier untersuchten Verbände die Armutsfrage. Zuvor waren es in der Bundesrepublik neben den Gewerkschaften auch Selbsthilfegruppen und Zusammenschlüsse von Armutsforschern gewesen, die diese Aufgabe übernommen hatten. Gemeinsam wiederum ist beiden Ländern die Rolle der christlich geprägten Akteure in der Debatte um die neue Armut. In der Bundesrepublik zeigt sie sich an den frühen Aktivitäten des Diakonischen Werks zur Armutsfrage und am Engagement der Caritas für den ersten Armutsbericht des Verbands. Da die freie Wohlfahrtspflege in der Bundesrepublik traditionell sehr stark religiös geprägt ist, verwundert diese Feststellung nicht sehr. Überraschen kann allerdings, dass sich in Frankreich die christlichen Organisationen noch stärker in der Debatte um die neue Armut engagierten als im Nachbarland. Dort prägte nicht nur der französische Caritasverband als erster der hier untersuchten Akteure den Begriff der neuen Armut, sondern die französischen Bischöfe trugen ihn in die Öffentlichkeit. Diese stark religiöse Komponente im laizistischen Frankreich konnte dadurch erklärt werden, dass die Kirche 138

Die Frage, warum sich die französischen Gewerkschaften bisher nicht an der Debatte um die neue Armut beteiligt haben, wird im folgenden Kapitel noch genauer betrachtet.

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Neue Armut zu Beginn der 1980er Jahre

dort, gerade weil sie keine offiziellen Bindungen zum Staat unterhält, stärker als zivilgesellschaftlicher Akteur handelt. Auch im Hinblick auf die Diskussion der neuen Armut im parlamentarischen Raum lässt sich ein weiteres gemeinsames Charakteristikum ausmachen: In beiden Ländern erscheint die neue Armut als klassisches Oppositionsthema und weniger als ein Anliegen des politisch linken oder rechten Spektrums. Der Prozess der Verwissenschaftlichung charakterisiert wiederum die Debatten beider Länder, in denen sich der große Bedarf der Akteure an Wissen über Armut herauskristallisiert. In der Bundesrepublik hatte Heiner Geißler diese Leerstelle bereits in seiner programmatischen Schrift zur neuen sozialen Frage im Jahr 1975 aufgedeckt und damit auch einen ersten Schub der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Armut angeregt. Erst in den 1980er Jahren entfaltete sich dieser Prozess voll. Wie in Frankreich entstanden auch in der Bundesrepublik die ersten nationalen Armutsberichte. Das Erscheinen des ersten Berichts ist in beiden Ländern der Initiative der EG zu verdanken. Anschließend griffen aber nationale Akteure das Thema auf und verfassten weitere Berichte. Bei der Erstellung dieser ersten Berichte spielten in beiden Ländern die Verbände eine wichtige Rolle. Diese nutzten den steigenden Bedarf an Wissen über Armut, um sich als Experten stärker in die Debatte einzubringen. Auch der Prozess der Politisierung des Armutsthemas ist beiden Ländern gemeinsam – wenn auch in unterschiedlicher Dimension. In beiden Ländern rief die Entdeckung einer neuen Armut das Interesse der politischen Parteien hervor, das bis zum Ende der 1970er Jahre noch gering gewesen war. Die Diskussion der neuen Armut drang in beiden Ländern auch in die jeweiligen nationalen Parlamente vor – und das fast zum gleichen Zeitpunkt, nämlich in Deutschland im September 1984, in Frankreich einen Monat später. Erstes parteipolitisches Interesse hatte das Armutsthema zwar in der Bundesrepublik schon 1975 mit der neuen sozialen Frage erlangt. Wie gezeigt, war dieses Interesse jedoch einerseits von kurzer Dauer und andererseits nicht sehr tief. Die Abgeordneten des Bundestags hatten die neue soziale Frage beispielsweise nicht diskutiert. Zur neuen Armut dagegen stellten sie mehrere Große Anfragen und diskutierten das Thema in verschiedenen Sitzungen des Parlaments. Auch in Frankreich war die neue Armut zum Gegenstand parlamentarischer Anfragen geworden sowie anschließend Thema in der Haushaltsdebatte in der Nationalversammlung. In Frankreich hatte die neue Armut aber sozialpolitische Interventionen hervorgerufen. Zunächst waren es zwar – genau wie in der Bundesrepublik – die Oppositionsparteien gewesen, die als Erste das Thema auf ihre Agenda gesetzt, in die parlamentarische Debatte eingebracht und die Regierung zum Handeln aufgefordert hatten. Die französische Regierung war dieser Aufforderung jedoch schon nach wenigen Tagen nachgekommen und hatte mit dem programme contre la pauvreté et la précarité eine Maßnahme zu Bekämpfung der neuen Armut verabschiedet. Nach einem entsprechenden Schritt sucht man in der Bundesrepublik vergebens. Überhaupt akzeptierte die Regierung Kohl die Frage

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der neuen Armut nicht als Thema der Debatte, sondern wies das Phänomen als solches zurück. Nicht so in Frankreich, wo die Regierung Fabius zwar den Begriff der neuen Armut ablehnte, um damit auch den Schuldvorwurf der von der Regierung verursachten Bedürftigkeit abzuwehren, insgesamt aber das Thema trotzdem akzeptierte. Entsprechend ist ein unterschiedliches Urteil für die Institutionalisierung der Armutsfrage zu treffen, die für Frankreich schon festgestellt wurde. In Frankreich institutionalisierte sich Armut sowohl als Kategorie der Debatte als auch als Kategorie sozialstaatlichen Handelns, was unter anderem das Armutsbekämpfungsprogramm illustriert. Auch für die Bundesrepublik kann bilanziert werden, dass sich das Sprechen über Armut im Laufe der 1980er Jahre institutionalisiert. Deutlich wird dies an verschiedenen Stellen: zunächst an der schon erwähnten Entwicklung der parlamentarischen Debatte, in der die Armutsfrage seit 1984 regelmäßig auftaucht. Dass sich zumindest eine der im Bundestag vertretenen Parteien auch jenseits der parlamentarischen Verhandlung intensiv mit Armut beschäftigte, verdeutlichen die Gründung der Arbeitsgruppe Existenzsicherung der grünen Bundestagsfraktion sowie die Aktivitäten ihres sozialpolitischen Arbeitskreises. Solche Arbeitsgruppen, die die Diskussion der Armutsfrage zu ihrem Hauptanliegen machten, bildeten sich nicht nur bei den Parteien. Weit vorher schon hatte das Diakonische Werk eine Arbeitsgruppe Armut gegründet. Wissenschaftler hatten sich zur Arbeitsgruppe Armut und Unterversorgung zusammengeschlossen. Auch in der Bundesrepublik wurde durch den ersten Armutsbericht für die EG-Kommission die Verfassung einer Reihe von Armutsberichten angestoßen – auch wenn die Situation in den 1980er Jahren noch weit entfernt von der institutionalisierten Armuts- und Reichtumsberichterstattung war, die wir heute kennen. Trotzdem wird deutlich, dass die Armutsfrage auch in Deutschland in dieser Zeit eine institutionelle Basis erhielt; es wurden Zeitpunkte und Räume zu ihrer Diskussion geschaffen. Eine Entdeckung bei den Archivrecherchen für diese Arbeit bestätigt diese Feststellung ebenfalls für beide Länder: Viele der Archive begannen ungefähr in der Mitte der 1980er Jahre, mit Armut als Schlagwort zu arbeiten. Für die 1970er Jahre war dies noch in keinem der hier konsultierten Archive der Fall gewesen. Sowohl die Institutionalisierung als auch die Politisierung der Armutsfrage schritten in Frankreich im Untersuchungszeitraum deutlich weiter voran. Welche Faktoren können diesen Unterschied erklären? Ein erster und offensichtlicher Erklärungsfaktor liegt in den unterschiedlichen politischen Ausrichtungen der jeweiligen Regierungen. In Frankreich bemühte sich eine sozialistische Regierung um die Armutsfrage, in der Bundesrepublik wehrte eine christlich-liberale Koalition sie ab. Die Vermutung liegt nahe, dass eine politisch linke Regierung grundsätzlich offener für die Interessen der Bedürftigen war; der Vorwurf der Oppositionsparteien, sich nicht um die Schwächsten zu kümmern, musste eine sozialistische Regierung

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Neue Armut zu Beginn der 1980er Jahre

besonders hart treffen – insbesondere, weil die sozialistische Partei seit 1981 die Reduktion der Ungleichheiten zu einem ihrer wichtigen Anliegen erklärt hatte. Allerdings hat sich schon an vielen Stellen die unter anderem von Lutz Leisering139 eingebrachte These bestätigt, dass Armut sich als Thema schwer in die politischen Kategorien von rechts und links einordnen lässt. Es hat sich insbesondere gezeigt, dass es in Frankreich nicht die sozialistische Partei war, die 1981 nach ihrem Wahlsieg die Armutsfrage in die politische Debatte einbrachte. Und die CDU, die das Armutsthema in den 1980er Jahren abwehrte, hatte sich ihm mit der neuen sozialen Frage in den 1970er Jahren angenähert. Insofern kann die Erklärung über parteipolitische Linien alleine nicht genügen. Einen zweiten Hinweis kann die unterschiedliche Formulierung der Frage der neuen Armut in beiden Ländern geben. Zwar wiesen diese einige Parallelen in beiden Ländern auf; vor allem konnte aufgezeigt werden, dass die Oppositionsparteien die neue Armut als Thema aufgriffen, um darin ihre Regierungskritik zu formulieren. Im Unterschied zur Bundesrepublik war dieses Element des Schuldvorwurfs in Frankreich nicht von Anfang an in der Debatte präsent. Ursprünglich war die neue Armut ein Begriff, mit dem lokal agierende Verbände auf ihre Überforderung durch die steigenden Hilfsanfragen hinweisen wollten. Es musste einer Regierung schwerer fallen, diese Überforderung abzuweisen, als die Kampagne der deutschen Gewerkschaften zur neuen Armut, aus der die Regierungskritik von Anfang an deutlich hervortrat. Als dritter Erklärungsfaktor können die insgesamt unterschiedlichen Handlungsspielräume beider Regierungen herangezogen werden. In Frankreich erscheinen diese als deutlich begrenzter. Nachdem zunächst beide Länder nach dem zweiten Ölpreisschock 1979/80 eine erneute Rezession erlebt hatten, erholte sich die Bundesrepublik schneller und trat nach 1982 in eine erneute Phase des kontinuierlichen Wirtschaftswachstums ein. Andreas Wirsching weist zwar zu Recht auf den Januskopf dieses Wirtschaftswachstums hin, denn es lag auf deutlich niedrigerem Niveau als zuvor und reichte nicht dazu aus, die hohen Arbeitslosenzahlen zu reduzieren140 . Trotzdem kann vermutet werden, dass es vor diesem Hintergrund den politischen Entscheidungsträgern leichter fiel, Armut als temporäres Phänomen darzustellen, das sich mit der Rückkehr zum Wirtschaftswachstum von selbst erledigen würde. Nicht so in Frankreich, wo sich die Konjunktur weniger schnell erholte und die Arbeitslosenquote gerade in der ersten Hälfte der 1980er Jahre einen spektakulären Anstieg aufwies141 . Nicht nur die wirtschaftliche Entwicklung, sondern auch die Beschaffenheit des sozialen Sicherungssystems schränkte die Handlungsspielräume der französischen Regierung ein. In beiden Ländern drehte sich die Verhandlung der neuen Armut vor allem um die Arbeitslosen ohne Arbeitslosenunterstützung. 139 140 141

L, Armutsbilder im Wandel. W, Abschied vom Provisorium, S. 228. 40 ans de politique de l’emploi, S. 363.

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In der Bundesrepublik stand diesen mit der im BSHG vorgesehenen Hilfe zum Lebensunterhalt immerhin ein letztes Sicherungsnetz zur Verfügung. Auch wenn es, wie die Gewerkschaften und Verbände nachdrücklich betont haben, seine Funktion nicht vollständig erfüllte, existierte es. Die Regierung hatte die Existenz dieses Systems häufig als Argument zur Abwehr der Armutsfrage genutzt. In Frankreich gab es jedoch noch keinen gesetzlichen Anspruch auf eine monatliche Mindestsicherung; entsprechend schwerer musste es der Regierung fallen, die Debatte über die Situation der Menschen jenseits des sozialen Sicherungssystems abzuweisen. Viertens kann ein unterschiedliches Verständnis beider Staaten im Hinblick auf die Zuständigkeit für wirtschaftliche und gesellschaftliche Fragen zur Erklärung der unterschiedlichen Entwicklungen beitragen. Die politische Kultur Frankreichs ist generell vom Glauben an die umfassende Zuständigkeit des Zentralstaats für soziale und politische Probleme geprägt. Die französische Bevölkerung stellt für die Lösung dieser Aufgaben hohe Erwartungen an den Staat; ebenso ist bei den Parteien die Idee verbreitet, gesellschaftliche Veränderungen »von oben«, also mit Hilfe eines starken Staates durchsetzen zu können142 . Es ist daher anzunehmen, dass die französische Bevölkerung in den 1980er Jahren deutlich mehr vom Staat erwartete, dass dieser sich auch der Armut annehmen würde. Entsprechend fühlte der französische Staat sich wahrscheinlich deutlich mehr dazu aufgerufen, die Armutsfrage zu regeln und damit sein Bild als Lösungsinstanz für gesellschaftliche Probleme zu bestätigen. Außerdem sah sich der französische Staat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch für eine staatliche Planung der Wirtschaft zuständig. Im vorausgehenden Kapitel ist deutlich geworden, dass sich genau das auch auf seinen Umgang mit der Armutsfrage auswirkte. Denn erstmals im Untersuchungszeitraum hatte sich die französische Regierung im Rahmen der Vorbereitung der Wirtschaftspläne mit Armut beschäftigt. Der zweite Armutsbericht für die Regierung war außerdem als Teil der Vorbereitung des neunten Wirtschaftsplans entstanden. Die Entdeckung von Armut als wirtschaftlichem Problem und das grundsätzliche Verständnis von Wirtschaftsplanung als staatlicher Aufgabe erlaubten der französischen Regierung also, dieses neue Thema relativ leicht in ihren Zuständigkeitsbereich aufzunehmen. In der Bundesrepublik dagegen fehlte mit der Wirtschaftsplanung auch der Punkt, an dem die Beschäftigung mit Armut hätte anknüpfen können. Der Föderalismus, aber auch die höhere Bedeutung kollektiver sozialer Akteure wie Gewerkschaften, Verbände und Interessengruppen führen in der Bundesrepublik außerdem dazu, dass der Zentralstaat als Lösungsinstanz für politische und gesellschaftliche Probleme weniger im Fokus steht als in Frankreich. Entsprechend kann daher vermutet werden, dass sich der deutsche Staat weniger zum Handeln herausgefordert sah als der französische.

142

S, U, Frankreich, S. 23 f.

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Der insgesamt größte Unterschied der Diskussion der neuen Armut in beiden Ländern liegt jedoch in deren Folgen: In der Bundesrepublik lief die Debatte um die neue Armut am Ende der 1980er Jahre langsam aus. Die daran beteiligten Akteure blieben sicher mit größerem Wissen über Armut und vor allem einer deutlich höheren Sensibilisierung für die Problemlagen der Bevölkerung zurück. Nach sozialpolitischen Folgen sucht man jedoch vergebens. Anders in Frankreich, wo die Diskussion der neuen Armut zwar auch schnell beendet war, sich aber kurz danach unter dem neuen Schlagwort der Exklusion eine erneute Debatte um Armut entzündete, die auch umfassende armutspolitische Konsequenzen mit sich zog. Ein Äquivalent für diese Debatte gibt es in der Bundesrepublik nicht.

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V. Der Beginn der Exklusionsdebatte und die Einführung der garantierten Mindestsicherung in Frankreich, 1985–1988

In der Bundesrepublik war bis zum Ende der 1980er Jahre der Begriff der neuen Armut das hauptsächliche Schlagwort der Debatte geblieben. Signifikante politische Reaktionen darauf hatten sich in dieser Zeit jedoch nicht abgezeichnet. Ganz anders in Frankreich. Dort zeigt sich erstens ein Umbruch in den Begrifflichkeiten: Der Begriff der neuen Armut verschwand in Frankreich schon in der Mitte der 1980er Jahre weitgehend aus der Debatte und machte dem neuen Begriff der Exklusion Platz, der seitdem zum »sozialen Paradigma«1 wurde. Zweitens wird auch ein Umbruch in der französischen Armutspolitik deutlich, als im November 1988 die Einführung einer garantierten Mindestsicherung2 per Gesetz beschlossen wurde. Zunächst wäre es naheliegend, die Erklärung für die so unterschiedlichen Entwicklungen in Frankreich und der Bundesrepublik in einem eventuellen Wandel des wirtschaftlichen und politischen Kontextes in Frankreich zu vermuten. Teilweise müssen auch Unterschiede beider Länder in dieser Hinsicht berücksichtigt werden. Zwar tauchten in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre keine neuen Problemlagen auf, jedoch verschärften sich die altbekannten in dieser Zeit deutlich. 1985 überschritt die Arbeitslosenquote in Frankreich erstmals die 10-Prozent-Grenze3 ; die Arbeitslosenquote der Jugendlichen wuchs in der gleichen Zeit sogar auf über 25 Prozent an4 . Die Langzeitarbeitslosigkeit 1 2

3 4

P, Von der Armut zur Ausgrenzung, S. 339. Einige Anmerkungen zu den Begriffen Mindestsicherung, Mindesteinkommen und Grundeinkommen sind hier nötig. Die beiden ersten, Mindestsicherung und Mindesteinkommen, werden meist synonym gebraucht. Sie beschreiben eine steuerfinanzierte Transferleistung zur Armutsvermeidung. Der Staat zahlt damit den Armen eine regelmäßige Geldleistung, die unabhängig von vorausgehenden Beitragsleistungen ist. Sie ist allerdings mit der Prüfung der Bedürftigkeit verbunden und häufig auch an die Arbeitsbereitschaft der Betroffenen gekoppelt. Beide Begriffe müssen unbedingt von dem des Grundeinkommens (allocation universelle oder revenu d’existence) unterschieden werden. Dieses richtet sich an alle Bürger, unabhängig von deren Bedürftigkeit, und ist nicht an eine Gegenleistung gebunden. Bei dem hier untersuchten französischen RMI geht es also um eine Mindestsicherung, kein Grundeinkommen. In den französischen Quellen ist meist die Rede von einem revenu minimum, also einem Mindesteinkommen. Diese Arbeit bevorzugt den Begriff Mindestsicherung, um jeglicher Verwechslung mit dem Grundeinkommen vorzubeugen. Zur Unterscheidung beider Konzepte vgl. V, V P, Ein Grundeinkommen für alle? 40 ans de politique de l’emploi, S. 363. R, Jugendarbeitslosigkeit.

https://doi.org/10.1515/9783110613087-part05

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V. Exklusionsdebatte und Mindestsicherung in Frankreich, 1985–1988

erreichte 1987 einen Höchststand von einer Million Betroffenen5 . Die Probleme des Arbeitsmarkts waren insofern sicher nicht neu, verschärften sich aber in der Mitte der 1980er Jahre deutlich. Obwohl auch in der Bundesrepublik die Arbeitslosenzahlen in dieser Zeit hoch waren, lagen sie immer noch deutlich unter den französischen. Auch der politische Kontext beider Länder unterscheidet sich. Denn während in der Bundesrepublik die christlich-liberale Regierung bis zum Ende des Untersuchungszeitraum im Amt blieb, brachte die zweite Hälfte der 1980er Jahre für Frankreich schnelle politische Umbrüche mit sich: Bei den Parlamentswahlen im März 1986 konnte die sozialistische Partei ihre Mehrheit nicht mehr behaupten. Mit dem Amtsantritt der neuen, von RPR und UDF gestellten Regierung unter Premierminister Chirac wurde die erste Kohabitation eingeläutet, bei der dem Präsidenten eine gegnerische Parlamentsmehrheit gegenüberstand. Allerdings dauerte sie nur etwas mehr als zwei Jahre, denn nach Mitterrands Wiederwahl im Mai 1988 löste wieder eine sozialistische Regierung die konservative ab6 . Tatsächlich konzentriert sich die bisherige Forschungsliteratur bei der Analyse der beginnenden Exklusionsdebatte und der Einführung der Mindestsicherung auch auf die parteipolitische Diskussion7 . In diesem Kontext tritt die Rolle der sozialistischen Partei bei der Verabschiedung des Gesetzes hervor, denn sie war es, die nach dem Ende der ersten Kohabitation und der Wiederwahl Mitterrands zum Präsidenten die Mindestsicherung als eines ihrer ersten Gesetze nach dem Amtsantritt auf den Weg brachte8 . Ohne Zweifel spielt die sozialistische Partei damit eine wichtige Rolle auf Frankreichs Weg zur Mindestsicherung. Allerdings ist hier schon an vielen Stellen deutlich geworden, dass politische Wechsel nur selten auch einen Wechsel in der Thematisierung von Armut und einen Wandel der Armutspolitik bedeuteten. In Frankreich waren es auch nicht die Wahl Mitterrands und der Amtsantritt einer neuen sozialistischen Regierung im Jahr 1981 gewesen, die die Debatte um die neue Armut ausgelöst hatten, sondern Verbände, Kirchen und Kommunalpolitiker hatten das Thema auf die Agenda gesetzt. Deswegen soll im folgenden Kapitel diesen möglichen Impulsen von Akteuren jenseits der Parteipolitik ebenfalls verstärkte Aufmerksamkeit gelten. 5 6 7

8

P, S, La perception de la pauvreté, S. 305. Stefan M, Frankreich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, in: Ernst H (Hg.), Kleine Geschichte Frankreichs, Bonn 2005, S. 417–485, hier S. 441–454. So z. B. Laurent C, Cécile D, Les grandes étapes de l’histoire du RMI, in: Michèle L, Emmanuelle N-F, RMI, l’état des lieux 1988–2008, Paris 2008, S. 23–49; Isabelle B, Isidor W, Armut: Eingliederung als neue Herausforderung für die Sozialhilfe. Das garantierte Mindesteinkommen (RMI) in Frankreich: Potentiale und Erfahrungen, Bern 1999; P, La société française et ses pauvres. Laurent G, Garantir le revenu. Histoire et actualité d’une utopie concrète, Paris 2002, S. 57.

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1. Impulse durch Kommunen, Verbände und Gewerkschaften 1.1. Die Entstehung der Mindestsicherungen auf kommunaler Ebene Bei der Diskussion der neuen Armut waren es in Frankreich vor allem Impulse von der kommunalen Ebene gewesen, die das Thema aufgebracht hatten. Die Rolle kommunaler Akteure begrenzte sich aber nicht nur auf das nachdrückliche Erinnern an ein in der nationalen Politik vernachlässigtes Anliegen, sondern umfasste auch das konkrete Ausprobieren neuer armutspolitischer Maßnahmen – so zum Beispiel auch der garantierten Mindestsicherung. Denn lange bevor das französische Parlament das Gesetz über das garantierte Mindesteinkommen verabschiedete, hatte eine Reihe von französischen Kommunen schon Mindestsicherungen auf lokaler Ebene eingeführt. Wie gezeigt, wurde in den Trente Glorieuses und bis zum Ende der 1970er Jahre in Frankreich Armut hauptsächlich als Altersarmut diskutiert. Auch die französischen Kommunen hatten in dieser Zeit großes Engagement in der Bekämpfung von Altersarmut gezeigt. Einige Kommunen hatten sich in diesem Kontext für die Einführung einer Mindestsicherung für alte Menschen entschieden, zuerst Neuilly-sur-Seine im Jahr 19661 . Andere waren dem Beispiel gefolgt, so auch die in der ostfranzösischen Region Franche-Comté gelegene Stadt Besançon im Jahr 1968. Als erste Gemeinde entschied diese, den Kreis der Hilfsberechtigten auf alleinstehende Frauen zu erweitern. Ab 1975 konnten generell bedürftige Haushalte die Mindestsicherung beantragen2 . Die Stadt Besançon erhebt seitdem Anspruch auf die »paternité du minimum social garanti«3 und beschreibt sich selbst als »ville pionnière de politique sociale«4 . Jedoch hatten drei französische Kommunen schon lange vor 1975 eine generelle Mindestsicherung eingeführt, was aber auf eine Besonderheit im Rechtsstatus dieser Kommunen zurückgeht, denn Mulhouse, Saverne und Straßburg hatten die Mindestsicherungen im Rahmen eines lokalen, nur in

1 2 3 4

Jérôme L, Les expériences locales. La mesure introuvable?, in: Revue française des affaires sociales 4 (1988), S. 35–54, hier S. 39. G, Garantir le revenu, S. 43. Chantal G, Le minimum social vu de Besançon, in: Esprit 144 (1988), S. 36–43, hier S. 36. Ibid.

https://doi.org/10.1515/9783110613087-013

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V. Exklusionsdebatte und Mindestsicherung in Frankreich, 1985–1988

den Regionen Elsass und Lothringen gültigen Gesetzes umgesetzt5 . Genau genommen richtete 1975 mit Besançon also nicht die erste Stadt Frankreichs, sondern nur die erste französische Stadt außerhalb von Elsass und Lothringen eine allgemeine Mindestsicherung auf kommunaler Ebene ein. Das Beispiel aus der Franche-Comté machte aber schnell Schule, denn zahlreiche Kommunen führten in den folgenden Jahren Mindestsicherungen für ihre Einwohner ein. Noch in den 1970er Jahren zogen die Gemeinden Montbéliard und Chenôve nach und insbesondere im Laufe der 1980er Jahre folgten viele weitere Gemeinden6 . Eine Studie des Forschungsinstituts CERC, die im Herbst 1986 durchgeführt wurde, um die verschiedenen kommunalen Mindestsicherungen systematisch zu erfassen, kam zu dem Ergebnis, dass zu diesem Zeitpunkt in Frankreich 25 Gebietskörperschaften eine Mindestsicherung eingeführt hatten, 23 Kommunen und zwei Departements7 . Zwar trugen die dort umgesetzten neuen Sozialleistungen ganz unterschiedliche Namen: »minimum social garanti«8 , »indemnité différentielle«9 oder »contrat de ressources personnalisé«10 . Alle 25 verfolgten jedoch die gleiche Zielsetzung, nämlich die monatliche Auszahlung eines Existenzminimums an die mittellosen Einwohner im Rahmen der kommunalen Sozialhilfe.11 Warum entschieden sich gerade diese 25 Gebietskörperschaften für die Einführung einer Mindestsicherung? Lassen sich Gemeinsamkeiten zwischen ihnen ausmachen, die vielleicht auf die gleichen Motive zur Einführung der Mindestsicherung schließen lassen? Weder die Studie des CERC noch die anderen hier zitierten Arbeiten zu den kommunalen Mindestsicherungen stellen sich diese Frage. Um eine zufriedenstellende Antwort darauf zu finden, wäre eine vertiefte Analyse der jeweiligen kommunalen Entscheidungsprozesse notwendig, die an dieser Stelle aber zu weit von der eigentlichen Fragestellung wegführen würde. Einige Vermutungen für die Beweggründe zur Einführung der Mindestsicherung können trotzdem anhand der geografischen Verteilung 5

6 7 8 9 10 11

Dieses Gesetz war im Jahr 1908, also in der Zeit, in der beide Regionen zum deutschen Reich gehörten, durch die deutschen Autoritäten erlassen worden und auch in Kraft geblieben, nachdem beide Regionen wieder in französischen Besitz zurückgekehrt waren. Es verpflichtete die Kommunen zur Unterstützung der Armen auf ihrem Gebiet und legte fest, dass jede Kommune selbst eine Einkommensgrenze bestimmen sollte, unterhalb derer das Anrecht auf Unterstützung bestand. Lediglich die drei genannten Kommunen waren aber dieser Aufforderung zur Festlegung einer Unterstützungsgrenze nachgekommen und hatten sich zur Garantie einer Mindestsicherung für alle Personen mit Einkommen unterhalb dieser Grenze verpflichtet, vgl. G, Garantir le revenu, S. 41–43. Ibid. Protection sociale et pauvreté. Protection légale et expériences locales de revenu minimum garanti, hg. v. CERC, Paris 1988, S. 75 f. Maryse B, Le droit social à l’épreuve du revenu minimum d’insertion, Bordeaux 1996, S. 102. Ibid. Ibid. Ibid.

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1. Impulse durch Kommunen, Verbände und Gewerkschaften

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und der politischen Ausrichtung der Verwaltung 25 Gebietskörperschaften angestellt werden. Eine erste naheliegende Erklärung könnte in den jeweiligen lokalen politischen Mehrheiten gesucht werden: Waren es vielleicht gerade Städte mit sozialistischen oder kommunistischen Bürgermeistern, die sich aufgrund ihrer parteipolitischen Ausrichtung der Armutsbekämpfung besonders verpflichtet fühlten und daher den Weg der Mindestsicherung wählten? Tatsächlich wurde ein großer Teil der 23 kommunalen Mindestsicherungen in Städten unter kommunistischen oder sozialistischen Bürgermeistern eingeführt. Gegenbeispiele wie die von liberalen bzw. konservativen Bürgermeistern regierten Städte Nîmes und Paris zeigen jedoch, dass diese These keine ausreichenden Erklärungen liefern kann – vor allem auch, weil der Vorstand des PS die Mindestsicherung zu diesem Zeitpunkt noch offiziell ablehnte12 . Weitere Gründe für die Einführung der Mindestsicherungen könnten aus der geografischen Verteilung der Gebietskörperschaften abgeleitet werden. Der Blick auf die Landkarte macht deutlich, dass die Gemeinden mit Mindestsicherung sich bis auf die Ausnahme der südfranzösischen Stadt Nîmes allesamt im Norden des Landes befinden. Dort wiederum waren sie vor allem in den östlichen, an die Nachbarländer grenzenden Regionen Franche-Comté, Elsass, Lothringen und Nord-Pas-de-Calais zu finden13 , wo in Folge der Strukturprobleme der dort angesiedelten Industrie hohe Arbeitslosigkeit herrschte. Zu überlegen wäre also, ob es vielleicht gerade die mit hoher Arbeitslosigkeit konfrontierten Regionen waren, die mit der Mindestsicherung diese Probleme auffangen wollten14 . Eine weitere mögliche Erklärung wäre, dass die in Nachbarländern Belgien und der Bundesrepublik existierenden Mindestsicherungen als Vorbild dienten und die Idee der Mindestsicherung sich von den Grenzregionen aus nach Frankreich hinein verbreitete. Sicher bietet aber keine dieser Überlegungen einen allein ausreichenden Erklärungsansatz, sondern es ist eher davon auszugehen, dass die Entstehung der kommunalen Mindestsicherungen dem Zusammentreffen verschiedener Faktoren zu verdanken ist. Während die Frage nach den Beweggründen und Umständen für die Einrichtung der Mindestsicherung in der Forschungsliteratur weitgehend vernachlässigt wird, behandeln zahlreiche Studien ausführlich die Frage nach

12 13 14

Vgl. Kap. V.2. Vgl. dazu die Karte »Les expériences locales de revenu garanti«, in: Protection sociale et pauvreté, S. 71. Geffroy weist darauf hin, dass in Besançon die entlassenen Arbeiter des Uhrenherstellers Lip zu den Hauptempfängern der Mindestsicherung gehörten. Tatsächlich erfolgte die Ausweitung der Mindestsicherung dort auch genau in der Zeit, in der Lip massenhafte Entlassungen seiner Belegschaft vornehmen musste. Es ist zu vermuten, dass die Mindestsicherung in der Region Nord-Pas-de-Calais, die ebenfalls aufgrund der Strukturprobleme der dort angesiedelten Industrie einen enormen Anstieg der Arbeitslosigkeit erlebte, eine ähnliche Funktion erfüllte, vgl. G, Garantir le revenu, S. 43.

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der Ausgestaltung der kommunalen Mindestsicherungen15 . In dieser Hinsicht zeichnet sich ein sehr heterogenes Bild der lokalen Mindestsicherungen ab, das verdeutlicht, dass die 25 Gebietskörperschaften insbesondere die Dauer der Auszahlung der Mindestsicherung, deren Höhe, den potentiellen Empfängerkreis und die Verpflichtungen der Empfänger ganz unterschiedlich geregelt haben. Während die Mindestsicherung beispielsweise in Belfort, Gravelines oder Sézanne eine unbegrenzte Dauer hatte, war die Auszahlung in Saint-Dizier auf zwei Jahre beschränkt, in Grande-Synthe auf sechs Monate16 . In Besançon und Nîmes betrug die monatliche Mindestsicherung über 70 Prozent des gesetzlich festgelegten Mindestlohns, in Auxerre dagegen nur 15 Prozent17 . Die Stadt Charleville-Mézières hatte die Mindestsicherung explizit für Alleinstehende und kinderlose Paare eingerichtet und ermöglichte nur diesen den Bezug der monatlichen Leistung, in Nîmes dagegen stand der Zugang zur Mindestsicherung prinzipiell bedürftigen Haushalten zu, während die Mindestsicherungen in Bourg-en-Bresse oder Clichy nur für Arbeitslose konzipiert waren18 . Große Übereinstimmung findet sich lediglich in einem Punkt, nämlich in der Frage nach den Verpflichtungen der Empfänger der Mindestsicherung. Fast alle Gebietskörperschaften hatten sich dazu entschieden, die Mindestsicherung nicht bedingungslos auszuzahlen, sondern dafür eine Gegenleistung des Empfängers zu verlangen und diese Verpflichtung vertraglich festzuhalten. Diese Gegenleistungen variierten; sie reichten von der Verpflichtung zu gemeinnütziger Arbeit bis zum reinen Nachweis der aktiven Arbeitssuche19 . Wie reagierte die nationale Politik auf diese kommunalen Entwicklungen? Ein generelles Interesse auf nationaler Ebene lässt sich schon daran erkennen, dass die oben zitierte Studie zur Erfassung der lokalen Mindestsicherungen

15

16 17 18 19

Insbes. die Arbeiten, die noch im Laufe der 1980er Jahre und vor der Einführung des nationalen Mindesteinkommens entstehen, versuchten sich an der Systematisierung der verschiedenen kommunalen Mindestsicherungen. So z. B. Serge Milano, der die kommunalen Mindestsicherungen in drei Typen aufteilte, die er nach den Städten benennt, in denen diese geprägt wurden. Nach Milano zeichnet sich das »Modell Nîmes« dadurch aus, dass die Mindestsicherung nur einer bestimmten Kategorie von Personen zugänglich ist und außerdem die monatliche Zahlung nur eine sehr geringe Höhe erreicht. Dagegen stehe das »Modell Besançon« für eine relativ hohe monatliche Zahlung, deren Auszahlungsdauer aber sehr kurz sei. Deutlich restriktiver als diese beiden sei wiederum das »Modell Nantes«, das nur den Personen ohne jegliches Einkommen zustand und in dem außerdem die Möglichkeit der Rückzahlung der Mindestsicherung eingeplant war, vgl. Serge M, La pauvreté absolue, Paris 1988, S. 109–111. Andere versuchten die Systematisierung gar nicht erst und urteilten: »Les critères d’attribution des allocations n’obéissent à aucune logique propre. D’une ville à l’autre les catégories des bénéficiaires, les montants alloués, la durée et les conditions de ressources ainsi que les contreparties exigées varient«, G, Garantir le revenu, S. 42. L, Les expériences locales, S. 39. G, Garantir le revenu, S. 42 f. L, Les expériences locales, S. 39. B, Le droit social à l’épreuve du revenu minimum d’insertion, S. 106.

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mit der maßgeblichen Unterstützung des Sozialministeriums durchgeführt worden war20 . Die Reaktionen der Regierung waren dabei nicht auf die Analyse der kommunalen Maßnahmen begrenzt, sondern umfassten auch konkrete armutspolitische Maßnahmen, die ganz eindeutig von den lokalen Mindestsicherungen inspiriert waren. Im Oktober 1986 präsentierte Adrien Zeller, mittlerweile Staatssekretär im von Philippe Seguin geleiteten Arbeits- und Sozialministerium, im Rahmen der seit Herbst 1984 jährlich fortgesetzten Armutsbekämpfungskampagnen mit den compléments locaux de ressources (CLR) ein neues Programm. Mit diesem wurde den französischen Gemeinden die Einführung von Mindestsicherungen – immer noch auf kommunaler Ebene – vorgeschlagen, für deren Ausgestaltung eine monatliche Zahlung von 2000 Franc festgelegt wurde, die prinzipiell allen Einwohnern über 25 Jahren offenstehen sollte, die sich im Gegenzug zur Verrichtung gemeinnütziger Arbeit oder der Teilnahme an Aus- und Weiterbildungen verpflichteten. Die Zahlung sollte den Empfängern zunächst für sechs Monate zugesprochen werden, nach denen eine Evaluierung und eine eventuelle Verlängerung vorgesehen waren21 . An diesen offensichtlichen Ähnlichkeiten mit den zu diesem Zeitpunkt schon existierenden kommunalen Mindestsicherungen wird deutlich, dass das Programm eindeutig als »prolongement des dispositifs déjà existants«22 verstanden werden kann. Es erscheint damit zunächst als eine Systematisierung der bisher in sehr unterschiedlichen Formen nebeneinander existierenden Mindestsicherungen. Die wichtigste Änderung, die das Programm mit sich brachte, bestand in der finanziellen Unterstützung der kommunalen Mindestsicherungen durch den Staat23 . Die Reichweite der neuen Maßnahme blieb begrenzt24 . Auch änderte die staatliche Systematisierung und finanzielle Unterstützung nichts an der Tatsache, dass auch mit den CLR immer noch keine zeitlich unbegrenzte und bedingungslose Mindestsicherung eingeführt wurde. Insgesamt hatte auch 1986 noch keine einzige Gemeinde eine Mindestsicherung eingeführt, deren Erhalt potentiell allen Bevölkerungsgruppen offenstand und dabei für eine unbegrenzte Dauer und ohne die Einforderung einer Gegenleistung gewährt wurde25 . Trotzdem ist hervorzuheben, dass mit diesen 25 Modellen die Idee der Mindestsicherung vor dem nationalen Gesetz und auch vor der Hinwendung 20 21 22 23

24

25

Protection sociale et pauvreté, S. 6. Circulaire du 29 octobre 1986 relative au plan d’action contre la pauvreté et la précarité, in: Bulletin officiel du ministère des Affaires sociales et de l’Emploi 8 (1987), S. 1–8. G, Garantir le revenu, S. 48. Der Staat versprach den Kommunen oder Departements, die mit ihm zum Zweck der Einrichtung von Mindestsicherungen eine Vereinbarung abschlossen, 40 % der Kosten zu tragen, vgl. M, J, Les programmes gouvernementaux, S. 30–32. Zwar hatten bis Ende 1987 schon 71 Departements ein solches Abkommen mit dem Staat unterzeichnet, jedoch profitierten zu diesem Zeitpunkt effektiv nur 12 700 Personen in ganz Frankreich von der neuen Unterstützungsleistung, vgl. ibid. Protection sociale et pauvreté, S. 75 f.

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V. Exklusionsdebatte und Mindestsicherung in Frankreich, 1985–1988

der meisten politischen Parteien zu dieser Idee auf kommunaler Ebene schon ganz konkret Gestalt angenommen hatte.

1.2. Der Beitrag von ATD Quart Monde zur Exklusionsdebatte ATD Quart Monde war von den hier untersuchten Akteuren der erste, der den Exklusionsbegriff nutzte und schon in den 1960er Jahren erstmals von Armut als Exklusion sprach. In den 1970er Jahren hatte der Exklusionsbegriff sich für den Verbandsvorsitzenden Joseph Wresinski entwickelt zu einem zentralen Begriff26 . Und auch die Einführung einer garantierten Mindestsicherung gehörte schon seit dem Ende der 1970er Jahre zu den Anliegen des Verbandes. Bei verschiedenen Anlässen hatte ATD Quart Monde sich dafür ausgesprochen. Eines seiner ersten Plädoyers dafür findet sich in der Dokumentation seiner Feldstudie zur Situation armer Familien in Reims. Dort beschrieben die Verfasser die Lösungsansätze für die Situation dieser Familien wie folgt: La conclusion semble s’imposer. Si l’on veut vraiment que ces familles (et toutes celles qui leur ressemblent) puissent entrer dans une dynamique où l’espoir d’un changement de situation puisse se profiler pour elles à l’horizon, il apparaît nécessaire de mettre en œuvre une politique qui garantisse régulièrement chaque mois aux familles les plus pauvres un revenu suffisant pour vivre27 .

Wie gezeigt, war außerhalb von ATD Quart Monde in dieser Zeit noch keine Rede von Armut als Exklusion, sondern die Verwendung des Begriffs blieb bis zur Mitte der 1980er Jahre auf den Verband begrenzt. Weder andere Verbände noch politische Parteien oder Medien griffen den Begriff in dieser Zeit auf. Auch die Einführung der Mindestsicherung tauchte vor 1985 nur an wenigen Stellen der öffentlichen Diskussion auf. Erst in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre änderte sich dies. Mit dem Exklusionsbegriff und der Idee der Mindestsicherung drangen zwei Konzepte in die Debatte vor, die ATD Quart Monde schon seit dem Ende der 1970er Jahre aktiv diskutierte. Aber erst in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre griffen andere Akteure, insbesondere politische Parteien, diese Konzepte auf. Inwiefern kann dieses Vordringen mit ATD Quart Monde in Verbindung gebracht werden? War es der Verband gewesen, der jetzt die politischen Entscheidungsträger von seinen Vorstellungen von Armut und deren Bekämpfung überzeugt hatte? Intensiv versucht hatte er dies schon im Laufe der 1970er Jahre. Sein Erfolg indes war damals noch begrenzt geblieben, was auf die geringen Handlungs26 27

Vgl. dazu Kap. I. Familles pauvres de Reims: de l’argent pour vivre. Étude, janvier 1980, Archiv und Bibliothek von ATD Quart-Monde.

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spielräume des jungen und nur über eine geringe finanzielle und personelle Basis verfügenden Verbandes zurückgeführt wurde. Jedoch erschloss er sich im Lauf der 1980er neue Möglichkeiten, um seine Ideen zu verbreiten. Erstens konnte er sich seit 1984 auf eine breitere finanzielle Basis stützen. Zuvor hatte ATD Quart Monde sich seit seiner Gründung 1957 vor allem durch Spenden finanziert und kaum von staatlicher Unterstützung profitiert. Das änderte sich im Herbst 1984, als die Regierung mit den programmes contre la pauvreté et la précarité auf die Debatte um die neue Armut reagierte. Von den insgesamt 500 Millionen Franc, die die Regierung bereitstellte, verteilte sie einen Großteil direkt an ausgewählte Verbände – was deren finanzielle Handlungsspielräume insgesamt deutlich ausweitete28 . Auch ATD Quart Monde gehörte dazu und erhielt für die erste Laufzeit des Programms zwischen Oktober 1984 und März 1985 fünf Millionen Franc. Die Regierung hatte dem Verband das Geld zur Armutsbekämpfung bereitgestellt, ohne spezifische Vorschriften zur Verwendung zu machen. ATD Quart Monde nutzte daher einen Großteil des von der Regierung für den Winter 1984/85 erhaltenen Geldes, um die Idee der monatlichen Mindestsicherung in der Praxis auszuprobieren. Mit drei Millionen Franc29 finanzierte er ein Projekt, das zwischen Frühjahr 1985 und Frühjahr 1986 in der bretonischen Stadt Rennes durchgeführt wurde. In dieser Zeit zahlte der Verband für die Dauer von 14 Monaten an 127 Familien, die im Voraus vor allem nach dem Kriterium der Bedürftigkeit ausgewählt worden waren, jeden Monat einen festgelegten Betrag aus30 . Die monatliche Zahlung stockte die Einkünfte der Familien, sofern vorhanden, auf, bei Paaren mit einem Kind oder Alleinstehenden mit einem Kind bis zur Höhe von 93 Prozent des gesetzlichen Mindestlohns31 . Die Umsetzung dieses Projekts fand in einem Zeitraum statt, in dem schon in zahlreichen anderen Städten Mindestsicherungen existierten. Insofern führt ATD Quart Monde mit der Mindestsicherung in Rennes weder ein einzigartiges noch ein neues Programm ein. Was brachte den Verband dazu, trotz der bereits existierenden lokalen Mindestsicherung Arbeit und Geld in dieses Projekt zu investieren? Und wodurch unterschied sich die Mindestsicherung in Rennes von den Mindestsicherungen in Besançon, Nîmes oder Nantes? Der Verband erläutert seine Motivation mit explizitem Bezug auf diese bereits existierenden Mindestsicherungen: »En effet, si d’autres projets de revenus minima existent 28 29

30 31

B-D, Penser et panser la vulnérabilité sociale au XXe siècle, S. 136 f. Nach Angaben des Verbandes investierte dieser 3/5 der ihm zugewiesenen Mittel, also drei Millionen Franc, in dieses Projekt, das wiederum von anderen Institutionen wie dem Conseil général, den kommunalen Sozialhilfebüros und der Familienkasse finanziell unterstützt wurde, sodass insgesamt 5 080 000 Franc für dessen Umsetzung bereitstanden, vgl. Jean Pierre P, James J, Un an sans retourner chiner. . . Expérimentation d’un revenu familial minimum garanti, Paris 1987, S. 3. Ibid., S. 23–25. Für jedes weitere Kind wurden je 5 % mehr gezahlt, vgl. ibid., S. 26.

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en France, aucun, à notre connaissance, ne se fonde sur l’hypothèse d’offrir aux bénéficiaires une plage de sécurité importante et durable, une garantie de ressources«32 . ATD Quart Monde konzipierte die Mindestsicherung in Rennes also ganz bewusst als Weiterentwicklung der bereits bestehenden kommunalen Mindestsicherungen, von denen keine einzige ein zeitlich unbegrenztes und bedingungsloses Existenzminimum gewährte und die außerdem in der Höhe der Zahlungen stark variierten. Genau diese Aspekte hatte der Verband im Auge, als er versuchte, mit der Einrichtung einer bedingungslosen Mindestsicherung die bestehenden kommunalen Modelle weiterzuentwickeln. Entsprechend wurde von den 127 für das Projekt ausgewählten Familien keinerlei Gegenleistung für den Erhalt der monatlichen Zahlung verlangt, weder in Form von Engagement in der Arbeitssuche noch in gemeinnütziger Arbeit, anders als bei den meisten kommunalen Modellen. Die Kommunen hatten diese Verpflichtungen der Empfänger meistens in einem Vertrag festgehalten und für den Fall des Vertragsbruchs den Abbruch der Zahlungen vorgesehen33 . Da es in Rennes keine verpflichtenden Gegenleistungen und keine Verträge mit den Empfängern gab, war auch der Abbruch der Zahlungen nicht vorgesehen34 . Ausdrücklich betont der Verband, dass dies nicht nur der Kürze der Zeit seines durchgeführten Projekts geschuldet sei, sondern dass diese Philosophie der Gegenleistung und des Abbruchs der Zahlungen seiner Auffassung einer dauerhaften Existenzsicherung widerspreche: »La rupture est en contradiction [. . . ] avec la garantie et la régularité«35 . Vor allem durch diesen Aspekt unterschied sich die Mindestsicherung in Rennes von denen anderer Städte. In anderen Punkten zeichnen sich Ähnlichkeiten mit den bestehenden lokalen Mindestsicherungen ab: Auch in Rennes stand der Bezug der Mindestsicherung beispielsweise nicht allen Einwohnern offen, sondern war nur für Familien, also Paare oder Alleinerziehende mit einem oder mehreren Kindern, konzipiert36 . Was die Höhe der Mindestsicherung betrifft, lagen die von ATD Quart Monde ausgezahlten 93 Prozent des Mindestlohns – zur Zeit der Durchführung des Projekts waren dies 3252 Franc – für Haushalte mit einem Kind im Vergleich mit den anderen Städten ungefähr im Mittelfeld37 . Der Verband unterstrich dabei, dass eine Mindestsicherung unterhalb dieser Summe in seinen Augen wenig sinnvoll sei: »L’instauration d’une garantie de ressources à un niveau élevé (le SMIC) est une condition nécessaire, nous semble-t-il, pour pouvoir s’attendre et observer des effets sur la 32 33 34 35 36 37

Ibid., S. 3. B, Le droit social à l’épreuve du revenu minimum d’insertion, S. 106. P, J, Un an sans retourner chiner, S. 275 f. Ibid., S. 276. Ibid., S. 26. Ibid., S. 26; die Mindestsicherungen für Alleinerziehende mit einem Kind lagen in den anderen Städten zwischen 2490 und 3851 Franc, während sie für Paare mit einem Kind minimal 2100 Franc betrugen und maximal 4600 Franc erreichen konnten, vgl. Protection sociale et pauvreté, S. 89–92.

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vie des bénéficiaires qui vont au-delà de la survie«38 . Mit dem Projekt in Rennes setzte ATD Quart Monde also die Mindestsicherung nach seinen Vorstellungen um, die der Verband zuvor in verschiedenen Studien theoretisch ausgearbeitet hatte. Die von ihm eingeforderte Schaffung einer »plage de sécurité importante et durable«39 wollte er vor allem mit Hilfe einer ausreichend hohen monatlichen Zahlung sowie einer dauerhaften Unterstützung erreichen. Die Erfahrungen der 14 Monate in Rennes dokumentierte das Forschungsinstitut des Verbandes anschließend in einer Studie, die es 1987 veröffentlichte. Ausführlich erörterten die Autoren darin die Effekte der Mindestsicherung auf das Leben der ausgewählten Familien40 . Im Vorwort der Studie erläuterten sie, dass diese sorgfältige Evaluierung das Ziel verfolge, die Erfahrungen aus Rennes an politische Entscheidungsträger weiterzugeben41 . Dass ATD Quart Monde mit seinem Projekt ganz klar auch den Weg für ein nationales Gesetz über eine garantierte Mindestsicherung bereiten wollte, machten die Autoren an dieser Stelle ebenfalls deutlich: Le mouvement ATD Quart Monde souhaite évidemment que l’impact de cette expérimentation ne s’arrête pas là, mais qu’avec les différents partenaires locaux et départementaux engagés et, plus généralement, avec l’ensemble des partenaires du pays, cette opération soit porteuse de leçons, de façon à ce que le droit des plus pauvres à un minimum de ressources garanties soit effectivement pris en compte et passe dans la loi42 .

Mit dem lokal durchgeführten Projekt wollte der Verband also auf die nationale Gesetzgebung einwirken. Er lenkte damit 1985 die Aufmerksamkeit auf einen Vorschlag zur Armutsbekämpfung, den er schon seit dem Ende der 1970er Jahre propagierte. Aber erst nachdem die finanziellen Zuweisungen aus den Armutsbekämpfungsprogrammen der Regierung sein Budget erheblich aufgestockt hatten, konnte der Verband seinen Vorschlag in die Tat umsetzen und damit die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Indes waren es nicht nur neue finanzielle Spielräume, die ATD Quart Monde sich in dieser Zeit eroberte, sondern der Verband konnte sich auch zunehmend als Experte und Berater der politischen Gremien in Armutsfragen in die Debatte einbringen. Dies ermöglichten ihm vor allem die verschiedenen Armutsberichte, die seit 1980 entstanden. Wie gezeigt, hatte die Regierung am Anfang der 1980er Jahre ihre ersten Berichte in Auftrag gegeben. Mit Gabriel Oheix und Dominique Charvet hatte sie in den ersten beiden Fällen zwei hohe Verwaltungsbeamte mit den Berichten beauftragt. Auch Verbände waren an der Entstehung des ersten Berichts schon beteiligt gewesen, schließlich hatte Gabriel Oheix sowohl 38 39 40 41

42

P, J, Un an sans retourner chiner, S. 274. Ibid., S. 3. Ibid., S. 275. »L’accord des multiples partenaires concernés donnait également la possibilité de construire une évaluation rigoureuse des effets du dispositif, de façon à ce que les leçons à tirer de cette opérations puissent avoir la rigueur et la force nécessaires et être répercutées sur l’ensemble des décideurs nationaux et internationaux«, vgl. ibid., S. 4. Ibid.

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den Secours catholique als auch ATD Quart Monde zur Teilnahme an den Arbeitsgruppen eingeladen, die die einzelnen Teile des Berichts verfassten. Ebenso wurde schon gezeigt, dass die französische Regierung ihren dritten Armutsbericht in dieser Zeit direkt bei ATD Quart Monde in Auftrag gab. Es war der Minister für Wirtschaftsplanung, Michel Rocard, gewesen, der im Rahmen der Vorbereitung des neunten Wirtschaftsplans den Auftrag zur Abfassung eines Armutsberichts an Joseph Wresinski erteilte. Den Auftrag erteilte Rocard im Oktober 1982 und damit zu einer Zeit, als der Secours catholique bereits öffentlich auf die Entstehung einer sogenannten neuen Armut hinwies und die Medien dies bereits aufgriffen. Den in dieser Zeit also schon verbreiteten Begriff lehnte Wresinski jedoch ab. Entsprechend nutzte er ihn nicht in seinem Bericht, den er im Januar 1983 dem Minister übergab, sondern erklärte darin nur seine Vorbehalte dagegen: »Parmi les nombreux Français que la crise met en détresse, tout l’éclairage est porté sur les ›nouveaux pauvres‹, comme si on ignorait que parmi ces ›nouveaux pauvres‹, nombreux sont ceux qui ont déjà connu la misère avant d’accéder, en période de prospérité, à cette maigre sécurité que le chômage leur a fait perdre«43 . Stattdessen sprach Wresinski im Bericht ganz einfach von Armut, an einigen Stellen aber auch schon von »exclusion sociale«44 . Nicht nur in den Begrifflichkeiten, sondern auch in der Ausdeutung der Armut unterschieden sich Wresinskis Ausführungen im Bericht deutlich von dem, was der Secours catholique und die Kommunalpolitiker in der gleichen Zeit als neue Armut vorbrachten. Letztere hatten Armut in erster Linie als physische Bedürftigkeit diskutiert. Hunger, Kälte und Obdachlosigkeit hatten sie als zentrale Kennzeichen der neuen Notlagen verhandelt. Sicher spielten diese materiellen Nöte auch in Wresinskis Überlegungen eine Rolle, aber nicht ausschließlich. Seine Ausführungen blieben aber nicht bei diesen stehen, sondern umfassten darüber hinaus die Frage nach der politischen und sozialen Teilhabe der Betroffenen. Das zeigt sich insbesondere in seinen Vorschlägen zur Armutsbekämpfung, die er im Bericht für Rocard macht. Als deren drei Eckpfeiler stellt Wresinski dort »sécurité économique«, »savoir« und »prise de parole« auf45 . Seine Idee von Armutsbekämpfung ging damit über die materielle Versorgung hinaus und umfasste auch Schul- und Ausbildung sowie die politische Teilhabe und die Vertretung der eigenen Rechte. Auch die Einführung einer Mindestsicherung brachte Wresinski im Bericht als Vorschlag ein und passte sie diesen Ideen von Armutsbekämpfung an. Er führte aus, dass diese auf einem ausreichend hohen Niveau liegen solle, sodass sie auch die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung des Empfängers garantieren könne46 . 43 44 45 46

W, Enrayer la reproduction de la grande pauvreté, S. 97. Ibid., S. 93. Ibid., S. 94 f. »Un tel plancher n’est pas un minimum vital, culturel ou social garanti, mais comme un niveau au-dessous duquel aucun citoyen ne puisse descendre sans provoquer l’indignation

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Weder unter den Forderungen des Secours catholique noch denen der Kommunalpolitiker hatten Aspekte wie die politische Teilhabe der Bedürftigen oder ihre Einbindung ins gesellschaftliche Leben eine Rolle gespielt. ATD Quart Monde unterschied sich damit deutlich von den Forderungen zur Armutsbekämpfung, die in dieser Zeit öffentlichkeitswirksam unter dem Schlagwort der neuen Armut artikuliert wurden. Für ATD Quart Monde selbst stellten diese Ideen wiederum keine Neuerung dar, denn sie hatten schon zu den Gründungsanliegen des Verbandes gehört. Neu war lediglich, dass sein Vorsitzender diese Ideen mit Hilfe des Armutsberichts 1983 erstmals direkt an einen Minister adressieren konnte. Zwei Jahre später erhielt der Verband eine weitere Gelegenheit, um seine Konzepte von Armut und deren Bekämpfung an einem prominenten Ort zu veröffentlichen und direkt an ein politisches Gremium zu richten. Denn wieder erhielt Wresinski den Auftrag für einen Armutsbericht; diesmal war es aber nicht die Regierung, sondern der Wirtschafts- und Sozialrat, der den Auftrag dafür erteilte und in dem er selbst Mitglied war. Der Rat war schon als eine der ersten Institutionen in der Thematisierung und Erforschung von Armut aktiv geworden, als er 1978 den ersten französischen Armutsbericht hatte erstellen lassen. Wie der Armutsbericht für Rocard zuvor bot auch dieser Bericht wieder ein exzellentes Podium, auf dem ATD Quart Monde seine Sicht auf materielle Notlagen darstellen konnte. Die Idee von Armut als sozialer Exklusion, die im Bericht für Rocard schon an verschiedenen Stellen aufgetaucht war, bildete in diesem Bericht nun den roten Faden. »La lutte contre l’exclusion sociale«47 erscheint als eine Hauptforderung des Berichts. Wresinski widmet sich nun auch ausführlich der Definition von sozialer Exklusion. Er erläutert: »La dimension culturelle constitue un élément central de compréhension de l’exclusion sociale qui caractérise les situations de pauvreté«48 . Soziale Exklusion wird seiner Meinung nach also über den Aspekt der Lebensweise begreiflich. Wresinski selbst erklärt im Bericht: »La culture est à entendre dans son sens le plus large: ›les moyens donnés à un homme pour comprendre la société qui l’entoure et pour jouer un rôle dans son fonctionnement‹«49 . Exklusion bedeutet für ihn also zunächst den Ausschluss der Individuen von den Möglichkeiten, die Gesellschaft zu verstehen und eine Rolle darin zu spielen – und damit auch den Ausschluss aus der Gesellschaft selbst. Wresinski beschreibt weiter ausführlich die Ebenen, auf denen sich dieser Ausschluss manifestieren kann, etwa im

47 48 49

de la conscience nationale; un niveau aussi qui dépasse celui de la seule subsistance, fournissant au citoyen une base de départ pour un développement social, économique et culturel«, ibid., S. 94. Grande pauvreté et précarité économique et sociale, AN, JO. Avis et rapports du Conseil économique et social, 28.2.1987, S. 9. Ibid., S. 56. Ibid., S. 57.

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Hinblick auf Wohnung, Recht, Familie, Gesundheit, Arbeit und Bildung50 . Auch hier wird wieder deutlich, wie sehr sich Wresinskis Ausdeutung der Armut von der des Caritasverbandes und der Kommunalpolitiker unterscheidet. Letztere hatten mit dem Begriff der neuen Armut die Aufmerksamkeit hauptsächlich auf materielle Mangellagen gelenkt; Wresinski versuchte, darüber hinaus auch die Konsequenzen der materiellen Nöte für das soziale Leben der Betroffenen zu erfassen. Neben diesen Unterschieden weist der Exklusionsbegriff, so wie Wresinski ihn hier definiert, aber eine wichtige Parallele zum Begriff der neuen Armut auf. Denn genau wie für diesen ist das Konzept der Prekarität grundlegend für seine Definition. Zu Beginn des Berichts definiert sein Verfasser: La précarité est l’absence d’une ou plusieurs des sécurités, notamment celle de l’emploi, permettant aux personnes et familles d’assumer leurs obligations professionnelles, familiales et sociales, et de jouir de leurs droits fondamentaux. L’insécurité qui en résulte peut être plus ou moins étendue et avoir des conséquences plus ou moins graves et définitives. Elle conduit à la grande pauvreté, quand elle affecte plusieurs domaines de l’existence, qu’elle devienne persistante, qu’elle compromet les chances de réassumer ses responsabilités de reconquérir ses droits par soi-même, dans un avenir prévisible«51 .

Wresinski beschrieb Exklusion als Problem der Unsicherheit und nicht der Ungleichheit. Auch für die Beschreibung der neuen Armut am Beginn der 1980er Jahre war dieser Aspekt zentral gewesen. Allerdings zog Wresinski aus dieser Ausdeutung andere Schlüsse, als der Secours catholique und die Bürgermeister es zuvor getan hatten. Er schlug die Einrichtung eines »plancher de ressources«52 , also einer Mindestsicherung vor. Nach dem Bericht für den Minister für Wirtschaftsplanung stellte nun also auch der Bericht für den Wirtschafts- und Sozialrat ein Medium für ATD Quart Monde dar, mit dessen Hilfe der Verband seine Ideen von Armut an die Öffentlichkeit bringen und an die Regierung adressieren konnte. Dabei war es insbesondere der Bericht für den Wirtschafts- und Sozialrat, der den Ideen Wresinskis Nachdruck verlieh und sie auch mit einer konkreten Handlungsaufforderung an die Regierung verband. Denn für den ersten Bericht hatte zwar ein Minister den Auftrag gegeben; wie die Regierung mit den Handlungsempfehlungen des Berichts umging, war anschließend aber ihr selbst überlassen. Tatsächlich weist auch nichts in den auf den Bericht von 1983 folgenden sozialpolitischen Maßnahmen darauf hin, dass die Regierung Wresinskis Empfehlungen umgesetzt hatte. Auf den Bericht des Wirtschafts- und Sozialrats musste die Regierung aber reagieren. Denn das Plenum des Rats hatte 1987 über den Bericht abgestimmt und eine Stellungnahme dazu verabschiedet. Das Abstimmungsergebnis verdeutlicht die große Zustimmung des Rats und den Handlungsbedarf, den 50 51 52

Ibid. Ibid., S. 6. Ibid., S. 11.

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seine Mitglieder im Hinblick auf Armut sahen: Der Bericht erhielt keine Gegenstimme, 40 Ratsmitglieder enthielten sich, 154 Mitglieder stimmten zu53 . Das Ergebnis macht außerdem die Politisierung der Armutsfrage deutlich, die in den vorausgehenden zehn Jahren stattgefunden hatte. Denn der von Pequignot verfasste Bericht war 1978 nicht einmal im Rat zur Abstimmung gestellt worden und blieb damit ohne konkrete politische Auswirkungen. Die Abstimmung des Berichts 1987 implizierte nun auch konkrete politische Folgen. Denn auch wenn der Wirtschafts- und Sozialrat im Gesetzgebungsverfahren nur über eine rein konsultative Funktion verfügte, so war die Regierung doch per Verfassung dazu verpflichtet, innerhalb einer Frist auf die von ihm verabschiedeten Stellungnahmen zu reagieren54 . Entsprechend groß fiel auch das Interesse der Medien aus, anders als bei den bisher erschienenen Armutsberichten55 . Das Interesse an dem Bericht ebbte auch in den folgenden Jahren nicht ab, sondern blieb so groß, dass er mehrmals neu aufgelegt und sogar in verschiedene Sprachen übersetzt wurde56 . Insofern hatte der Bericht ATD Quart Monde nicht nur zu medialer Aufmerksamkeit verholfen, sondern auch seine Empfehlungen in direkte Handlungsempfehlungen an die Regierung transformiert. Auf den steigenden Bedarf der Politik an Wissen über Armut und den zunehmenden Rückgriff auf Experten in Armutsfragen wurde hier bereits hingewiesen. Diese Experten mussten nicht unbedingt Sozialwissenschaftler sein, sondern vor allem Kenner des Terrains, also auch karitative Verbände. An dieser Stelle wird deutlich, wie sich diese Entwicklung auf die Verbände auswirkte. Der steigende Bedarf der Politik an Expertise zu Armut hatte ATD Quart Monde hier die Gelegenheit geboten, als Berater zu fungieren, erst für ein Ministerium und schließlich für den Wirtschafts- und Sozialrat57 . Diese neue Funktion als politischer Berater nutzte der Verband in jedem Fall dazu, den politischen Entscheidungsträgern seine Vorstellungen von Armutsbekämpfung nahezubringen. Damit wird auch deutlich, dass die Berichte viel 53 54 55

56 57

Ibid., S. 16. Für die Enthaltung hatten sich die Mitglieder des Gewerkschaftsbundes CGT entschieden, der im Folgenden noch genauer betrachtet wird. F, Il y a vingt ans. Laut ATD Quart Monde erwähnten über 300 Zeitungsartikel die Veröffentlichung des Berichts, vgl. Claude G, Les réactions de la presse française, in: Quart Monde 126 (1988), S. 34 f.; inwiefern diese Zahl zutrifft, ist unklar. Die Zeitung »Le Monde« widmet dem Bericht und den Reaktionen der Regierung darauf fünf Artikel, vgl. N. N., Un rapport au Conseil économique et social. Un programme expérimental de lutte contre la pauvreté, in: Le Monde, 11.2.1987; N. N., La violation des droits de l’homme en France, ibid., 13.2.1987; N. N., M. Mitterrand reçoit le père Wresinski, ibid., 30.4.1987; N. N., À l’automne, »action pilote« contre la pauvreté dans dix départements, ibid., 10.6.1987; Guy H, Le »programme pauvreté« du gouvernement, ibid, 15.10.1987. F, Il y a vingt ans. Warum sich beide mit ihrem Anliegen jeweils an Wresinski wandten und nicht an einen anderen Verband, kann nur vermutet werden: Sicher spielten dabei die intensiven Bemühungen von ATD Quart Monde um Kontakte zu Wissenschaft und Politik eine Rolle.

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mehr als nur neutrale Dokumentationen der Mangellagen darstellten, sondern auch Teil der Aushandlung über den besten Weg der Armutsbekämpfung waren. Vor allem aber zeichnet sich im Hinblick auf das Verhältnis von ATD Quart Monde zum Sozialstaat die Herausbildung einer Art von kooperativem Verhältnis ab. Auf die ursprünglich große Distanz zwischen Sozialstaat und privaten Trägern der Wohlfahrt in Frankreich wurde schon hingewiesen. Am Beispiel von ATD Quart Monde wird indes deutlich, dass sich diese Distanz in den 1980er Jahren anscheinend verringerte. Als Berater des Staates in Armutsfragen rückt ATD Quart Monde nämlich ein Stück weiter an diesen heran. Dass der Verband außerdem seit 1984 erstmals hohe finanzielle Zuwendungen des Staates erhielt, legt die Vermutung nahe, dass er damit auch in eine stärkere ideelle Abhängigkeit vom Staat geriet. Tatsächlich hat die bisherige Forschung das Verhältnis der Verbände zum Sozialstaat für die Zeit nach 1945 als »prison dorée«58 beschrieben. Die französischen Verbände seien in dieser Zeit in ein immer stärkeres Abhängigkeitsverhältnis geraten, das bis zu ihrer Instrumentalisierung reichte59 . Am Beispiel von ATD Quart Monde wird aber deutlich, dass dies zumindest zu diesem Zeitpunkt nicht der Fall war. Die staatlichen Mittel hatten den Handlungsspielraum von ATD Quart Monde sicher beachtlich erweitert. Allerdings setzte der Verband die ihm von der Regierung zugewiesenen Mittel dafür ein, das System der Mindestsicherung zu erproben – ein Konzept, dem zu diesem Zeitpunkt sowohl die Regierung als auch generell die sozialistische Partei noch ablehnend gegenüberstanden60 . ATD Quart Monde nutzte also das Geld der Regierung, um ein Programm auszuprobieren, das die Regierung nicht befürwortete, und verstand dieses Experiment auch ganz explizit als Impuls und Wegbereiter für eine zukünftige staatliche Sozialpolitik. Auf eine ideelle Abhängigkeit vom Staat deutet dieses Verhalten nicht hin. Auch die Tatsache, dass der Verband mit seinen Berichten der Regierung seine Ideen von Armutsbekämpfung darlegte, verweist nicht auf eine solche Abhängigkeit. Viel eher suggerieren diese Entwicklungen, dass gerade die 1980er Jahre und die Herausbildung neuer Problemlagen wie der neuen Armutsrisiken den Verbänden auch neue Handlungsspielräume eröffneten61 . Für ATD Quart Monde lässt sich dies hier jedenfalls konstatieren. Insgesamt diskutierte der Verband die Idee von Armut als sozialer Exklusion und der Mindestsicherung als Mittel der zu deren Bekämpfung schon seit den 1970er Jahren. Erst im Lauf der 1980er Jahre erhielt er jedoch die Gelegenheit

58

59 60 61

So resümiert Axelle Brodiez-Dolino die bisher dominierende Forschungsmeinung zu diesem Thema, vgl. Axelle B-D, La lutte contre la pauvreté-précarité. Une histoire occidentale, in: D., Bruno D (Hg.), La protection sociale en Europe au XXe siècle, Rennes 2014, S. 165–182, hier S. 173. Ibid. Die Haltung der Parteien und Regierungen thematisiert Kap. V.2. Siehe auch H, Armutsberichterstattung.

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1. Impulse durch Kommunen, Verbände und Gewerkschaften

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dazu, diese Ideen auch in die öffentliche und politische Debatte einzubringen. Die Voraussetzung dafür hatte einerseits der steigende Beratungsbedarf der Politik in Armutsfragen geschaffen, der ATD Quart Monde zur neuen Rolle des Beraters der Politik verholfen hatte. Andererseits hatten die von der Regierung 1984 als Reaktion auf die Debatte um die neue Armut an die Verbände verteilten Geldsummen dem Verband neue finanzielle Spielräume eröffnet, mit denen er seine Ideen auch praktisch erproben konnte.

1.3. Gewerkschaftliche Vorschläge für eine Mindestsicherung: die CFDT und das »revenu minimum de réinsertion« Mit den Kommunen und dem Verband ATD Quart Monde standen bisher Akteure im Fokus, die schon im vorausgehenden Jahrzehnt an der Debatte um Armut beteiligt gewesen waren. Zusätzlich zu diesen schaltete sich aber in der Mitte der 1980er Jahre auch ein gänzlich neuer Akteur ein, der bisher in der Thematisierung von Armut nicht in Erscheinung getreten war. Es war die Confédération française démocratique du travail (CFDT), einer der drei großen französischen Gewerkschaftsbünde62 . Die Quellen illustrieren, dass sie seit Ende 1984 an der Armutsfrage interessiert war. Im Juni 1985 hatte sie bei ihrem nationalen Kongress erstmals die Mindestsicherung auf ihre Tagesordnung gesetzt und dort die weitere Beschäftigung mit diesem Thema beschlossen. Eine Arbeitsgruppe des Gewerkschaftsbundes arbeitete anschließend ein Konzept für eine Mindestsicherung nach Vorstellungen der CFDT aus63 . 62

63

Die französische Gewerkschaftsbewegung unterscheidet sich von der deutschen u. a. durch ihre geringere Mitgliederbasis und ihre starke Zersplitterung. Acht Dachverbände existieren nebeneinander; dabei dominierten in den 1980er Jahren – wie heute noch – die drei größten Dachverbände das gewerkschaftliche Aktionsfeld. Bei der Confédération générale du travail (CGT) handelt es sich um den ältesten und mitgliederstärksten Verband, der historisch in enger Anbindung an die kommunistische Partei entstanden war. Aus dieser hat sich 1947 eine antikommunistische Minderheit abgespalten und die Confédération générale du travail-Force ouvrière (CGT-FO) gegründet, die den drittgrößten Gewerkschaftsbund darstellt. Die hier betrachtete CFDT, der zweitgrößte Gewerkschaftsbund, entstand 1964 durch eine Umbenennung und Umorientierung eines ursprünglich der christlichen Soziallehre verpflichteten Gewerkschaftsbundes, der Confédération française des travailleurs chrétiens. Die Mitglieder entschlossen sich zu diesem Zeitpunkt für eine stärkere Säkularisierung und Hinwendung zu sozialistischen Ideen, vgl. S, U, Frankreich, S. 244–255; Jean-Marie P, Die Gewerkschaften in Frankreich. Geschichte, Organisation, Herausforderungen, in: Internationale Politikanalyse, hg. v. Friedrich-Ebert-Stiftung, Oktober 2010, http://library.fes.de/pdf-files/id/ipa/07495.pdf (22.1.2019). Michel M, Pour un minimum social de réinsertion, in: CFDT aujourd’hui, 83 (1987), S. 55–62, hier S. 55; Ingo B, Französische Armutspolitik im Spannungsfeld organisierter Interessen, in: ZSR 37 (1991), S. 229–253.

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Erstmals im Untersuchungszeitraum engagierte sich damit in Frankreich ein Gewerkschaftsbund für die Armutsfrage. Dass sich vor dem Hintergrund der Verschlechterung der Arbeitsmarktsituation und dem steigenden Zusammenhang zwischen Armut und Arbeitslosigkeit gerade in den 1980er Jahren auch eine Interessenvertretung der Arbeiter für die Armutsfrage stark machte, überrascht zunächst nicht. Die CFDT selbst verdeutlicht auch, dass es ihr vor allem um die Absicherung der Arbeitslosen – nicht der Bedürftigen insgesamt – ging64 . Sie beschrieb außerdem die Zielgruppe der Mindestsicherung als »des actifs potentiels en difficulté grave pour lesquels nous ne possédons pas d’instruments très précis«65 . Mit diesen potentiell Erwerbstätigen, für die keine Maßnahmen zur Verfügung standen, umschrieb der Gewerkschaftsbund das Problem der Langzeitarbeitslosigkeit, auf das der französische Sozialstaat nicht ausgerichtet war. Indes bleibt damit zunächst offen, warum dieses Interesse der CFDT sich erst so spät entfachte und warum es nur auf sie begrenzt blieb und beispielsweise nicht auf die anderen großen Gewerkschaftsbünde CGT und FO übergriff. Die erste Frage drängt sich insbesondere mit dem Blick auf die Bundesrepublik auf. Der Deutsche Gewerkschaftsbund hatte dort seit dem Beginn der 1980er Jahre auf materielle Nöte der Arbeitslosen hingewiesen und in dieser Zeit den Begriff der neuen Armut geprägt. Ganz anders in Frankreich, wo zwar die neue Armut auch als die Not der Arbeitslosen diskutiert wurde – zunächst allerdings ohne das Zutun der Gewerkschaften. Erst als diese Debatte schon jahrelang im Gang und ins Parlament vorgedrungen war, mischte sich die CFDT ein. Dabei hatte sich der Anstieg der Arbeitslosigkeit in Frankreich sogar deutlich früher abgezeichnet als in der Bundesrepublik, nämlich schon seit dem Beginn der 1970er Jahre. Die Arbeitslosenstatistik gibt aber auch eine mögliche Erklärung dafür, warum das gewerkschaftliche Interesse an der Armutsfrage gerade seit 1985 anstieg, denn wie gezeigt erhöhte sich die Arbeitslosigkeit in dieser Zeit in besorgniserregend. Noch bevor einer der großen Gewerkschaftsbünde sich dem Thema annäherte, hatten sich zu Beginn des Jahrzehnts jedoch schon andere Organisationen aus genau dieser Problematik heraus gegründet. 1982 war in Frankreich erstmals eine Gewerkschaft für Arbeitslose entstanden – die indes schon wenige Jahre nach ihrer Gründung wieder zerfiel. Größeren Erfolg konnte die aus ihr hervorgehenede Organisation MNCP (Mouvement national des chômeurs et précaires) verzeichnen, die bis heute besteht und sich ebenfalls die Vertretung der Arbeitslosen zur Aufgabe gemacht hat66 . Teilweise trat sie damit in Kon64 65 66

CFDT, Note de réflexion pour le débat sur le minimum social, Juli 1986, Archives CFDT, CDAR/36/19. Ibid. Die Entstehung und Entwicklung sowohl der Arbeitslosengewerkschaft als auch des MNCP wurden bisher kaum erforscht.

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1. Impulse durch Kommunen, Verbände und Gewerkschaften

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kurrenz zu den Gewerkschaften. Möglicherweise hat auch diese institutionelle Konkurrenz das Interesse der großen Gewerkschaftsbünde an der Armutsfrage geschürt. Vor allem aber illustrieren die Quellen, dass die Einmischung der CFDT gerade durch die Verdichtung der Debatte im Herbst 1984 ausgelöst wurde. Denn genau im Oktober 1984, als das Schlagwort der neuen Armut in der Öffentlichkeit breit diskutiert wurde und auch ins Parlament vordrang, nahm der Gewerkschaftsbund sich der Armutsfrage an. In einer ersten Presseerklärung, die er dazu herausgab, nahm er explizit Bezug auf die Aussagen von Politikern und Verbänden zur neuen Armut67 . In der gleichen Presseerklärung erläuterte die CFDT außerdem, dass sie in Zukunft ihre Kenntnisse über Armut vertiefen und zu diesem Zweck in Dialog mit den in diesem Bereich engagierten Verbänden treten wolle68 . Quellen im Archiv des Gewerkschaftsbundes zeigen, dass sich Vertreter der CFDT tatsächlich im November 1984 zuerst mit Vertretern des Secours catholique und anschließend mit ATD Quart Monde trafen. Mit beiden diskutierten sie verschiedene Maßnahmen zur Armutsbekämpfung. ATD Quart Monde brachte dabei auch das Thema Mindestsicherung ein – dem die Vertreter der CFDT im Herbst 1984 interessanterweise zuerst noch ablehnend gegenüberstanden69 . ATD Quart Monde plädierte im Gespräch aber deutlich zugunsten dieser Option70 . Die CFDT ließ sich auch langsam auf diese Idee ein und präsentierte zwei Jahre später sogar ihr eigenes Konzept für eine Mindestsicherung. Wie sah dieses Konzept aus? In vielen Punkten ähnelten die Vorschläge der CFDT den CLR, den Mindestsicherungen auf lokaler Ebene, deren Einführung die Regierung in einigen Städten seit 1986 unterstützte. So wie diese sollte auch die von der CFDT vorgeschlagene Mindestsicherung anteilig vom Staat finanziert werden. Sie sah analog zu ihnen auch eine eine monatliche Zahlung von 2000 Franc für eine alleinstehende Person vor beziehungsweise eine entsprechend höhere Summe bei Mehrpersonenhaushalten. Auch richtete sich die Mindestsicherung nach Vorstellungen der CFDT nicht an bestimmte Kategorien von Personen, sondern ihr Bezug sollte prinzipiell allen offen stehen. Ebenso sollte die Auszahlung des monatlichen Existenzminimums an eine Gegenleistung des Empfängers gebunden sein, die vertraglich festgehalten würde71 . In der Ausgestaltung dieser Gegenleistung werden aber zwei wich67 68 69

70 71

CFDT service de presse, Pauvreté: s’attaquer aux causes, 10.10.1984, Archives CFDT, CP/15/79. Ibid. Die CFDT selbst erklärt diese Position wie folgt: »La CFDT, réticente sur le ›minimum social‹, car dans l’état actuel de la société, caractérisé par de profondes inégalités, on cristalliserait la société duale: une population qui a un travail et des ressources, une autre partie vivante d’assistance«, vgl. CFDT, Précarité-pauvreté: Rencontre avec ATD Quart Monde, 27.11.1984, Archives CFDT, CH/8/1533. Ibid. M, Pour un minimum social de réinsertion.

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tige Unterschiede zu den kommunalen Mindestsicherungen deutlich. Denn während diese auch gemeinnützige Arbeit als Gegenleistung vorsahen, wollte die CFDT die Empfänger zu einem »cursus de réinsertion personnalisé«72 verpflichten, der explizit keine gemeinnützigen Aufgaben, sondern Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen oder Praktika umfassen sollte. Außerdem sah das Konzept der CFDT – ebenfalls im Unterschied zu den kommunalen Mindestsicherungen – neben diesen vertraglich festgehaltenen beruflichen Maßnahmen auch ein soziales Begleitprogramm vor, das zum Beispiel Unterstützung der Empfänger im Bereich Bildung oder Wohnung beinhalten sollte73 . Deutlich tritt in dieser Ausgestaltung der Mindestsicherung die multidimensionale Analyse der Armutsfrage des Gewerkschaftsbundes hervor. Obwohl seine Beschäftigung mit dem Thema vor allem aus seinem Interesse für Arbeitslose hervorgegangen war, ging sein Lösungsansatz über bloße Versuche zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit hinaus. Der feste Platz eines sozialen Begleitprogramms für die Betroffenen illustriert dies. Die Anstrengungen im beruflichen und sozialen Bereich, die die Empfänger der Mindestsicherung als Gegenleistung für die finanzielle Unterstützung leisten sollten, fasste die CFDT als Maßnahmen zur »réinsertion« (Wiedereingliederung) zusammen. Welchen zentralen Stellenwert diese für den Gewerkschaftsbund einnahm, lässt sich daran ablesen, dass er sie in den Titel des Konzepts aufnahm und sein Mindesteinkommen als ein »minimum social de réinsertion« präsentierte74 . Ingo Bode erklärt diese multidimensionale Analyse der Armut der CFDT vor allem durch deren Austausch mit den Verbänden. Dass diese 1984 eingesetzt hatte, konnte hier gezeigt werden. Bode erklärt weiter, dass die CFDT sich in dieser Hinsicht, aber auch in der Ausdeutung der Armutsfrage grundsätzlich von den anderen beiden großen Gewerkschaftsbünden unterschied. Denn sowohl CGT als auch FO interpretierten Armut in dieser Zeit als reines Arbeitsmarktproblem, das entsprechend mit Instrumenten der Arbeitsmarktpolitik wie der Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns, der Ausweitung der Arbeitslosenversicherung und der Eindämmung prekärer Beschäftigungsverhältnisse bekämpft werden sollte. Für die Einführung einer Mindestsicherung machte sich in dieser Zeit keiner von beiden stark; die CGT lehnte diese sogar explizit ab75 . Der Verweis auf diese Lesart der Armutsfrage der anderen Gewerkschaftsbünde gibt auch eine Antwort auf die Frage, warum die CFDT als einziger der großen Gewerkschaftsbünde in die Armutsdebatte einsteigt. Eine weitere Erklärung dafür kann auch die ideologische Ausrichtung des Gewerkschaftsbundes liefern. Denn der ursprünglich christliche Gewerkschaftsbund hatte 72 73 74 75

Ibid. Ibid. Ibid. B, Französische Armutspolitik, S. 240–243.

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1. Impulse durch Kommunen, Verbände und Gewerkschaften

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zwar 1964 das Adjektiv chrétien aus seinem Namen gestrichen und seine Säkularisierung verkündet. Trotzdem handelt es sich bei der CFDT um die direkte Nachfolgeorganisation der Confédération française des travailleurs chrétiens76 . Schon für die Diskussion der neuen Armut in Frankreich ist deutlich geworden, dass sie in hohem Maß von christlichen Akteuren mitgetragen wurde. Mit der CFDT tritt auch hier ein weiterer christlich geprägter Akteur in die Debatte ein – was die hier geäußerte Annahme stärkt, dass eine christliche Motivation einen wesentlichen Beweggrund der Akteure der Armutsdebatte darstellt. Im Vergleich mit dem DGB, der seit 1983 mit einer Art Kampagne über Jahre hinweg die neue Armut skandalisierte, blieben die Aktivitäten der CFDT in diesem Bereich sicher gering. An die Öffentlichkeit trat sie nicht wie der DGB mit Flugblättern, Konferenzen, Armutsberichten und Unterschriftenaktionen, sondern vor allem mit ihrem Konzept der Mindestsicherung. Dieses trug sie aber offensiv in die politische Arena hinein. Eine Delegation des Gewerkschaftsbundes überreichte es am 8. Dezember 1986 dem Staatssekretär im Sozialministerium, Adrien Zeller77 . Schon an dieser Stelle zeichnen sich Antworten auf die Frage nach den Gründen für die Weiterentwicklung der Armutsfrage in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre ab. Zunächst gewannen die Betroffenen mit der CFDT eine neue Lobby. Die diskursive Öffnung der Armutsdebatte setzte sich damit weiter fort. Vor allem aber beteiligten sich traditionelle Akteure wie ATD Quart Monde und die Kommunen weiter intensiv daran. Schon in der Zeit, als die politischen Entscheidungsträger noch unter dem Schlagwort der neuen Armut die Versorgung der Betroffenen mit Essen und Schlafplätzen diskutierten, dachten sie über diese Aspekte hinaus. Der Verband ATD Quart Monde nutzte und verbreitete in dieser Zeit intensiv den Exklusionsbegriff sowie seine damit verbundenen Vorstellungen von Armut als Problem sozialer und politischer Teilhabe. Neue finanzielle Spielräume sowie seine neue Funktion als Armutsexperte für politische Institutionen ermöglichten ihm, diese Idee auch in die politische Debatte einzubringen. Die Mindestsicherung gehörte ebenfalls zu seinen Anliegen; mit seinem Modellversuch in Rennes konnte er sie bereits konkret in die Tat umsetzen, wenn auch nur für einen begrenzten Zeitraum. Aber nicht nur in Rennes, sondern auch in vielen anderen französischen Städten war zu diesem Zeitpunkt die Mindestsicherung schon konkrete Realität geworden. Das Gesetz von 1988 führte damit keine völlig neue Maßnahme ein, sondern eine, die in vielen Städten bereits existierte.

76 77

P, Die Gewerkschaften in Frankreich, S. 15. Contribution de la CFDT annexée au rapport des sages pour les états généraux de la Sécurité sociale, avec annexe sur le minimum social de réinsertion, Paris le 12 novembre 1987, http://discours.vie-publique.fr/notices/883037800.html (22.1.2019).

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2. Exklusion und Mindestsicherung: die Aufnahme der Ideen durch die politischen Parteien 2.1. Die Weiterentwicklung der parteipolitischen Diskussion zur Exklusionsdebatte Im Herbst 1984 war die Armutsfrage bis in die französische Nationalversammlung vorgedrungen. Unter dem Schlagwort der neuen Armut hatten die Abgeordneten erstmals nach einer langen Phase der Dethematisierung wieder über materielle Notlagen im eigenen Land debattiert. Nach diesem ersten Moment großer Aufmerksamkeit verschwand Armut nicht aus der parlamentarischen Debatte, sondern sie blieb auch in den folgenden Jahren präsent. Auch in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre tauchte die Frage nach Armut und deren Bekämpfung wieder im Parlament auf, insbesondere in der Haushaltsdebatte. Allerdings zeichnen sich sowohl in der Semantik als auch in der Akteurskonstellation Änderungen ab. Die neue Armut hatte im Parlament eindeutig ein Anliegen der Opposition dargestellt. Die beiden Oppositionsparteien RPR und UDF hatten sie als Erste auf die Tagesordnung der Nationalversammlung gesetzt und mit dem Verweis auf die Existenz der materiellen Not in einem reichen Land ihre Kritik an der Regierung artikuliert. In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre wiederholte sich dieses Schema, denn nun waren es hauptsächlich PS und PCF, die in der Plenardebatte die Armutsfrage ansprachen. Die kommunistische Partei war 1984 aus der Regierungskoalition ausgeschieden, und die Regierungszeit der Sozialisten endete im März 1986 mit dem Beginn der Kohabitation. Das Thema hatte damit im Parlament die politische Seite gewechselt, blieb aber ein Anliegen der Opposition. Auch diese Feststellung bestätigt die schon wiedergegebene These Lutz Leiserings, dass Armut sich nur schwer in das politische RechtsLinks-Schema einordnen lässt1 . Auch hier erscheint sie vor allem als klassisches Anliegen der Opposition und weniger als ein typisch rechtes oder linkes Thema. Neben dieser Änderung der Akteurskonstellation zeichnet sich ein semantischer Wandel ab. Nachdem der Begriff der neuen Armut im Herbst 1984 noch das zentrale Schlagwort dargestellt hatte, tauchte er in den folgenden Jahren nur noch sehr selten in der parlamentarischen Debatte und in den Äußerungen der Parteien insgesamt auf. Stattdessen begannen die Abgeordneten seit 1985, den Begriff der Exklusion zu nutzen, für den sich insbesondere der Verband ATD Quart Monde so stark gemacht hatte. 1

L, Armutsbilder im Wandel.

https://doi.org/10.1515/9783110613087-014

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V. Exklusionsdebatte und Mindestsicherung in Frankreich, 1985–1988

Zu Beginn waren es vor allem Abgeordnete von PS und PCF, die den Begriff einbrachten – was nicht überrascht, denn schließlich waren auch sie es, die in dieser Zeit die Armutsdebatte im Parlament anstießen. »Il n’est pas acceptable de voir chaque jour d’avantage de gens exclus de la société française et, de ce fait, incapables d’exercer leurs droits fondamentaux«2 , erklärte die sozialistische Abgeordnete Martine Frachon im Dezember 1985 in der Nationalversammlung. Sie war damit eine der Ersten, die den Begriff in der parlamentarischen Debatte nutzte. Die sozialistische Partei diskutierte aber nicht nur in der Nationalversammlung über Exklusion. Auch auf ihrem Parteitag in Lille im Jahr 1987 war Exklusion ein Thema3 . Mitterrand nutzte den Begriff außerdem im Präsidentschaftswahlkampf 1988, wo er seine Vorschläge zur Armutsbekämpfung unter dem Titel »Le refus de l’exclusion«4 präsentierte. Den Kampf gegen Exklusion erhob er darin sogar zur Pflicht eines Politikers: »Un responsable politique en mesure de peser sur le sort de chacun a le devoir de refuser l’exclusion«5 . Die Sozialisten waren in der Diskussion der Exklusion also besonders engagiert. Indes illustriert die parlamentarische Debatte, dass auch die Regierungsparteien sich den Begriff aneigneten. Dies überrascht insofern, als der Begriff der neuen Armut ausschließlich von der Opposition gebraucht wurde, die ihn auch aufgebracht hatte. Die Regierungsparteien waren indes um die Abwehr des Begriffs bemüht, den sie selbst nicht oder nur selten nutzten. Dies gilt nicht für den Exklusionsbegriff. Beispielsweise befragte im Oktober 1987 die kommunistische Abgeordnete Muguette Jacquaint die Regierung nach ihren Plänen zur Unterstützung der »exclus de la société«6 . Staatssekretär Adrien Zeller (UDF) widersprach in seiner Antwort Jacquaints Behauptung von der Existenz des gesellschaftlichen Ausschlusses nicht. Im Gegenteil: Er räumte sogar ein, er teile Jacquaints Sicht auf das »problème réel, et bien difficile, de ceux qui sont aujourd’hui démunis et exclus de la société«7 . Auch Sozialminister Philippe Seguin (RPR) erklärte vor der Nationalversammlung seine Sorge über das »phénomène d’exclusion«8 . Als eine Priorität seines Ministeriums nannte er in diesem Zug: »la lutte contre l’exclusion«9 . Im Unterschied zum Begriff der neuen Armut war der Exklusionsbegriff in seiner Verwendung nicht auf politisch rechte oder linke, auf Oppositions2 3

4 5 6 7 8 9

AN, JO. Débats parlementaires, 3.12.1985, S. 5218. Vgl. Protokoll des Parteitags des PS in Lille, 3.–5. April 1987, http://www.archives-socialist es.fr/themes/archives/static/pdfviewer/?src=http%3A%2F%2Fwww.archives-socialistes .fr%2Fapp%2Fcdn.sk%3Fa%3Dm%26d%3D88650 (22.1.2019). François Mitterrand, Lettre à tous les Français, CAS, Présidentielles 1988, François Mitterrand, 1er tour jusque 6/4/88. Ibid. AN, JO. Débats parlementaires, 14.10.1987, S. 4288. Ibid. AN, JO. Débats parlementaires, 2.11.1987, S. 5211. Ibid., 3.11.1987, S. 5282.

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2. Die Aufnahme der Ideen durch die politischen Parteien

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oder Regierungsparteien beschränkt, sondern alle Parteien nutzten ihn. Für Serge Paugam ist dieser Konsens der Akteure über den Begriff ein Grund für dessen erfolgreiche Verbreitung10 . Warum hatte der Begriff der neuen Armut dies nicht leisten können? Wie gezeigt, hatten die Regierungsparteien diesen zurückgewiesen, weil die Oppositionsparteien ihn mit einem Schuldvorwurf an die Regierung verbunden hatten. Sie bezeichneten die Armut als neu, weil sie mit der neuen sozialistischen Regierung gekommen sei. Sicher ist der Hinweis auf die Existenz von materiellen Mangellagen der Bevölkerung immer implizit mit einem Vorwurf an die Regierung verbunden, die doch eigentlich die Bürger genau davor schützen sollte. Im Exklusionsbegriff war dieser Schuldvorwurf jedoch deutlich weniger offensichtlich als im Begriff der neuen Armut. Den neuen Begriff konnten daher sowohl Opposition als Regierung problemlos nutzen. Hatten die Parteien mit Exklusion nur einen neuen Begriff zur Beschreibung der Armut gefunden, oder legt dieser semantische Wandel auch eine neue Perspektive auf das Thema offen? Mit dem Begriff der neuen Armut hatten die Parteien, wie zuvor auch die Verbände, vor allem auf materielle Problemlagen der Betroffenen hingewiesen. Ihre Beschreibungen des von ihnen als Exklusion bezeichneten Phänomens weisen indes darauf hin, dass sich dieser Fokus verschoben hatte. Denn unter Exklusion diskutierten sie nicht nur die materiellen Mängel der Betroffenen, sondern auch deren gesellschaftliche Teilhabe. Das zeigt zum Beispiel der Parteitag des PS 1987 in Lille, für den die ehemalige Sozialministerin Georgina Dufoix einen Redebeitrag zur Armut vorbereitet hatte. Bewusst entschied sie sich, diesen nicht vor der sozialpolitischen Arbeitsgruppe des Parteitags zu halten, sondern vor der Gruppe »Problèmes de société et vie quotidienne«. Eine der Zuhörerinnen erklärt die Begründung für Dufoix’ Entscheidung wie folgt: »Il lui paraît essentiel de rappeler à tous que le problème de la pauvreté ne relevait pas seulement de la politique sociale mais était aussi un problème de société et des droits de l’homme, que la pauvreté se posait en terme d’exclusion et en terme culturel«11 . Dufoix sah Armut also nicht nur als Herausforderung für die Sozialpolitik, sondern für die Gesellschaft insgesamt. Sie beschrieb sie als Frage der Menschenrechte. Von all diesen Aspekten hatte Dufoix noch nicht gesprochen, als sie im Herbst 1984 als Sozialministerin auf die Debatte um die neue Armut antworten musste. Auch kein anderer Politiker hatte 1984 bei der neuen Armut auf die gesellschaftliche Teilhabe der Betroffenen verwiesen oder diese als Problem für die Gesellschaft insgesamt bezeichnet. Diese Elemente waren in der Debatte zuvor noch nicht aufgetaucht. Das Zitat illustriert insofern eine gewandelte Perspektive auf Armut. 10 11

P, La constitution d’un paradigme, S. 15. Marie-Paule Vayssade, in: Parti socialiste, 10e congrès national, Lille, 3, 4 et 5 avril 1987, http://www.archives-socialistes.fr/themes/archives/static/pdfviewer/?src=http%3A% 2F%2Fwww.archives-socialistes.fr%2Fapp%2Fcdn.sk%3Fa%3Dm%26d%3D88650 (8.5.2019).

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V. Exklusionsdebatte und Mindestsicherung in Frankreich, 1985–1988

Die weitere parlamentarische Diskussion zeigt, dass Dufoix kein Einzelfall war und dass es nicht nur die Sozialisten waren, die Armut als Thema mit gesamtgesellschaftlicher Relevanz entdeckten. Verschiedene Abgeordnete drückten in den folgenden Jahren in der Plenardebatte die Sorge aus, dass Armut negative Folgen für den Zusammenhalt der Gesellschaft mit sich bringe. Sie nutzten dazu teilweise den Exklusionsbegriff, sprachen aber auch von Armut als einem »risque de décomposition du pays«12 . Auch der Begriff der sozialen Kohäsion tauchte dabei auf. So begründete eine Abgeordnete die Notwendigkeit der Armutsbekämpfung mit den Worten: »Il y va de la cohésion sociale du pays«13 . Andere Abgeordnete drückten die gleiche Idee von materieller Not als Bedrohung für die soziale Kohäsion aus, wenn sie von der möglichen Entstehung einer »société duale«14 oder einer »France duale«15 sprachen. Armut beinhaltete für sie das Risiko, die Gesellschaft in zwei Teile zu spalten. Der semantische Wandel legt also auch einen Blick auf einen Wandel der Definition von Armut offen. Zwei Aspekte erscheinen dabei neu: erstens die soziale Teilhabe der Betroffenen, die noch kein Teil der Debatte um die neue Armut gewesen war. Zweitens diskutierten die Abgeordneten Exklusion nicht nur im Hinblick auf deren Folgen für die Betroffenen selbst, sondern auch für die Gesellschaft insgesamt. Materielle Not wurde jetzt als Bedrohung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt angesehen – auch das war in der Debatte um die neue Armut noch nicht der Fall gewesen. Damit wird auch ein wichtiger Unterschied zum Armutsbild der 1970er Jahre deutlich. Wie gezeigt, lenkte damals der Begriff der inadaptation die Aufmerksamkeit eindeutig auf das Individuum, das sich nicht an die gesellschaftlichen Bedingungen anpassen konnte. Der Exklusionsbegriff dagegen verschiebt die Aufmerksamkeit weg vom Individuum. Armut erscheint in dieser Perspektive nicht mehr als Aufgabe der Individuen, sich besser anzupassen, sondern als Aufgabe der Gesellschaft, die sich um die Integration aller Mitglieder bemühen muss. Die verschiedenen Lesungen des Gesetzes über die Mindestsicherung boten im Jahr 1988 weitere Gelegenheiten für die Abgeordneten, ihre Auffassung von Exklusion weiter zu diskutieren. An dieser Stelle kann aber schon bilanziert werden, dass der Exklusionsbegriff bereits seit der Mitte der 1980er Jahre in der parteipolitischen Debatte präsent war und dass seine inhaltliche Füllung darauf hinweist, dass die Parteien sich mehr für die Auswirkungen von Armut auf die Gesellschaft zu interessieren begannen. Diese Ergebnisse widersprechen dem Vorschlag Serge Paugams, den Beginn der politischen Exklusionsdebatte in den 1990er Jahren zu verorten.16 Tatsächlich würde der Exklusionsbegriff zwar in dieser Zeit seine Karriere im politischen Diskurs weiter fortsetzen. Einen 12 13 14 15 16

Adrien Zeller, AN, JO. Débats parlementaires, 4.11.1985, S. 3870. Gisèle Stievenard, ibid., 2.11.1987, S. 5245. Adrien Zeller, ibid., 10.10.1988, S. 721. Jean Bonhomme, ibid., 19.11.1986, S. 6526. P, La constitution d’un paradigme, S. 14.

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2. Die Aufnahme der Ideen durch die politischen Parteien

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wichtigen Höhepunkt stellte dabei der Präsidentschaftswahlkampf von Jacques Chirac im Jahr 1995 dar, den dieser unter das Schlagwort der »fracture sociale« stellte und damit auch den Exklusionsbegriff wieder ins Zentrum brachte17 . Hier ist aber deutlich geworden, dass der Begriff schon in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre eine wichtige Rolle in der politischen Armutsdebatte einnahm. Auch nutzte Mitterrand ihn schon 1988 – wenn auch an weniger prominenter Stelle, als Chirac dies 1995 tun würde. Woher kam der Begriff? Paugam warnt davor, die Urheberschaft für den Exklusionsbegriff bei einem einzelnen Akteur suchen zu wollen18 . ATD Quart Monde war aber einer der Ersten gewesen, der schon in den 1960er Jahren von Armut als Exklusion gesprochen hatte. Als der Verband in den 1980er Jahren seine Überlegungen zur Exklusion vertiefte und auch Gelegenheit erhielt, diese in Armutsberichten für politische Institutionen zu formulieren, drang der Begriff auch in die parteipolitische Debatte vor. Explizite Bezüge zwischen ATD Quart Monde und dem neuen Begriff stellten die Politiker nicht her; allerdings suggeriert die zeitliche Parallelität einen Zusammenhang. Im parlamentarischen Diskurs war der Begriff mit keiner bestimmten Partei verbunden, sondern Parteien aus dem rechten und linken Spektrum sowie aus Opposition und Regierung nutzten ihn. Die Auffassung von Armut als Exklusion war zu diesem Zeitpunkt noch auf Frankreich begrenzt. Dass in der Bundesrepublik in der gleichen Zeit niemand von Exklusion sprach, hat das vorausgehende Kapitel gezeigt. Aber auch in anderen Ländern war zu diesem frühen Zeitpunkt noch keine Rede von Exklusion, sondern der Begriff wurde in Frankreich geprägt und verbreitete sich erst danach auch außerhalb der französischen Grenzen19 . Frankreich formuliert also am Ende der 1980er Jahre die Armutsfrage grundsätzlich anders als die übrigen europäischen Länder. Erklären lässt sich diese spezifisch französische Formulierung der Armutsfrage vor allem durch die französischen Vorstellungen von gesellschaftlichen Beziehungen. Frankreich ist in der durkheimschen Tradition organischer Solidarität verankert. Nach dieser sind es nicht die einzelnen Individuen, die zueinander in Beziehung treten, sondern die Beziehungen der Individuen müssen schon gesellschaftlich vorgeformt sein. In diesem Verständnis existiert die Gesellschaft vor den Individuen und muss reguliert werden, um den Zusammenhalt des Ganzen zu ermöglichen20 . In der Formulierung von Armut als Frage der Exklusion wird diese Auffassung von Gesellschaft deutlich: Armut wird als Ausschluss der Individuen aus der gesellschaftlichen Teilhabe verstanden, und es wird die Aufgabe für die Gesellschaft formuliert, diese Teilhabe wieder zu ermöglichen. 17 18 19 20

Xavier E, Clémentine F, La fracture sociale, Paris 2002, S. 5–8. Ibid. Martin K, Exklusion. Die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapitalismus. Frankfurt a. M. 2010, S. 40–52. P, Les formes élémentaires de la pauvreté, S. 186.

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2.2. Die Vorschläge der Parteien für die Einführung einer Mindestsicherung Substantielle Veränderungen der Armutspolitik brachten die politischen Wechsel in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre zunächst nicht mit sich. Stattdessen zeigt sich eine erstaunlich hohe armutspolitische Kontinuität, auch jenseits der politischen Zäsuren. Im Herbst 1985 erneuerte die sozialistische Regierung das Armutsbekämpfungsprogramm, das sie ein Jahr zuvor als Reaktion auf die Debatte um die neue Armut beschlossen hatte. Unter dem gleichen Namen, dem gleichen Budget-Kapitel und mit sehr ähnlicher Ausgestaltung führte sie damit ein Programm weiter, das ursprünglich nur für die Laufzeit von sechs Monaten geplant war21 . Nach dem Beginn der Kohabitation kündigte die neue konservative Regierung einen substantiellen Kurswechsel in der Armutspolitik an22 . Tatsächlich aber imitierte sie nur ihre Vorgänger, denn auch sie erneuerte für den Winter 1986/87 sowie 1987/88 das gleiche Armutsbekämpfungsprogramm. Abgesehen von leichten Änderungen – insbesondere Budgetkürzungen – blieb dieses Programm entlang der drei Hauptsachsen Wohnungsbeihilfe, Bereitstellung von Unterkünften und Lebensmittelverteilung strukturiert23 . Armutsbekämpfung bestand damit in Frankreich vor 1988 immer noch hauptsächlich in der kurzfristigen Abwendung von Hunger und Obdachlosigkeit. Die politischen Wechsel waren ohne Auswirkung auf die Armutspolitik geblieben. Dass Armutspolitik oft ein Anliegen der Verwaltung und weniger der politischen Parteien darstellte, wurde schon aufgezeigt. Auch hier kann vermutet werden, dass es die Verwaltung war, die über die politischen Zäsuren hinweg die Armutspolitik gestaltete. In dieser Zeit der faktischen armutspolitischen Kontinuität gewann allerdings eine neue armutspolitische Idee eine breite Unterstützerbasis bei den Parteien, nämlich die Mindestsicherung24 . Vorschläge zur Einführung einer Mindestsicherung hatten verschiedene Parteien bereits an einzelnen Stellen gemacht. Für die 1970er Jahre wurde bereits gezeigt, dass der gaullistische Kandidat für die Präsidentschaftswahlen 1974, Jacques Chaban-Delmas, im Wahlkampf eine Mindestsicherung für kinderreiche Familien versprochen hatte. 1978 war die gleiche Idee dann im gemeinsamen Wahlprogramm der gaullistischen und liberalen Partei wieder aufgetaucht. Beide Forderungen

21 22 23 24

D, L’»urgence sociale«, S. 21. Adrien Zeller, AN, JO. Débats parlementaires, 15.10.1986, S. 4756, und 6.11.1986, S. 5933. D, L’»urgence sociale«, S. 21. Die Idee der Mindestsicherung insgesamt lässt sich natürlich viel weiter zurückverfolgen. Im 16. Jahrhundert tauchte sie schon in Thomas Morus’ »Utopia« auf. Hier soll es aber um die parteipolitische Debatte in Frankreich um diese Idee gehen. Eine ausführliche Darstellung der Geschichte der Idee Mindestsicherung in Europa insgesamt findet sich bei: V, V P, Ein Grundeinkommen für alle?

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waren indes ohne Folge geblieben und ohne große Diskussion wieder von der Agenda der Parteien verschwunden25 . In der ersten Hälfte der 1980er Jahre tauchte der Vorschlag auch in der parlamentarischen Debatte auf. Im Mai 1983 schlug der Sozialist Robert Chapuis die Einführung einer allocation de précarité26 zur Unterstützung der Armen vor. Auch als im Herbst 1984 die Parlamentarier die neue Armut diskutierten, brachte wieder einer von ihnen die Mindestsicherung ein. Diesmal war es Loïc Bouvard von der liberal-konservativen UDF, der für die Schaffung eines »revenu minimum d’existence«27 plädierte. Beide Abgeordnete erwähnten die Mindestsicherung lediglich in ihren Redebeiträgen, ohne dass sie damit konkrete Gesetzesinitiativen verbunden hätten. Auch ihre Vorschläge blieben zunächst folgenlos, denn die sozialistische Regierung stand der Mindestsicherung zu diesem Zeitpunkt noch ablehnend gegenüber. Auf ihrem Parteitag in Bourg-en-Bresse 1983 hatte der PS sich auch offiziell gegen die Mindestsicherung ausgesprochen, die er dort als Ausweitung der paternalistischen Fürsorge bezeichnete28 . Vereinzelt war die Idee der Mindestsicherung also in der parteipolitischen Debatte bereits vor 1985 präsent. Verschiedene Parteien hatten sie unter unterschiedlichen Bezeichnungen eingebracht. Die Idee war damit in der parteipolitischen Diskussion nicht neu; neu war aber die breite Unterstützerbasis, die die Mindestsicherung sich in der Zeit zwischen 1985 und 1988 eroberte. Diese zeigt sich vor allem daran, dass Abgeordnete in dieser Zeit die ersten Gesetzesanträge29 für eine Mindestsicherung einbrachten. Die bisherige Forschung hat diese als Quellen noch nicht berücksichtigt. Da sie aber wichtige Auskünfte über den Prozess der Annäherung der Parteien an die Mindestsicherung geben können, stehen sie im Folgenden im Fokus der Analyse30 . 25 26 27 28 29

30

Vgl. Kap. I. AN, JO. Débats parlementaires, 6.5.1983, S. 941. Ibid., 12.10.1984, S. 4674. G, Garantir le revenu, S. 45 f. In Frankreich wird zwischen propositions de loi und projets de loi unterschieden. Erstere gehen auf parlamentarische Initiative zurück, Letztere auf Regierungsvorlagen. Um den Unterschied deutlich zu machen, der sich mit den deutschen Begriffen nicht ganz erfassen lässt, werden im Folgenden die propositions de loi als Gesetzesanträge bezeichnet, die projets de loi als Gesetzesentwürfe oder Regierungsentwürfe. Da zwischen 1985 und 1987 nur verschiedene Abgeordnete oder Fraktionen, aber nicht die Regierung selbst die Initiative für eine Mindestsicherung ergriffen, geht es in diesem Teilkapitel ausschließlich um propositions de loi. Die Regierung präsentierte ihren ersten Gesetzesentwurf erst im Juli 1988. Vertieften Einblick in die parlamentarische Debatte um die Mindestsicherung gibt auch mein Aufsatz: Sarah H, »Allocation de précarité« et »minimum social garanti«. L’idée d’un revenu minimal d’insertion lors des débats parlementaires en France dans les années 1980, in: Hypothèses 2013. Travaux de l’école doctorale d’histoire 17 (2014), S. 295–304.

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Die ersten beiden Gesetzesanträge zur Einführung einer Mindestsicherung gingen schon im Jahr 1985 in der Nationalversammlung ein. Den ersten reichte der UDF-Abgeordnete Adrien Zeller im Juni 1985 unter dem Titel »Revenu minimum d’existence«31 ein; 18 Mitglieder seiner Fraktion unterstützten ihn. Im Dezember des gleichen Jahres folgte, ebenfalls aus den Reihen der UDF heraus, der Antrag für eine allocation de minimum d’existence32 durch den Abgeordneten Emile Koehl, der diesen Antrag allein stellte. Die nächsten Anträge kamen aus einer ganz anderen Ecke der Nationalversammlung. Im Februar 1986 war es André Lajoinie mit 43 weiteren Abgeordneten des PCF, der einen Gesetzesantrag mit dem Titel »Mesures urgentes pour lutter contre la pauvreté«33 einbrachte. Unter den verschiedenen Maßnahmen zur Armutsbekämpfung, welche die kommunistischen Abgeordneten vorschlugen, nahm die Mindestsicherung einen wichtigen Platz ein. Für die sozialistische Partei brachte dann im Dezember 1987 erstmals Pierre Joxe einen Gesetzesantrag für eine Mindestsicherung ein. 212 PS-Abgeordnete, die gesamte Fraktion, unterstützten den Antrag34 . Schon an dieser Stelle wird zweierlei deutlich: Zum einen, dass die Mindestsicherung eine immer größere Anzahl von Unterstützern fand, und zum anderen, dass sich diese Unterstützer nicht einem bestimmten politischen Lager zuordnen lassen, sondern sich auf verschiedene politische Parteien verteilten. Warum wandten sich die Parteien in dieser Zeit alle verstärkt der Mindestsicherung zu? Zunächst fällt auf, dass alle Gesetzesanträge aus den Reihen der Opposition kamen. Dass Armutsbekämpfung im Untersuchungszeitraum häufig ein Anliegen von Oppositionsparteien darstellte, wurde schon an vielen Stellen aufgezeigt. Auch hier scheint die Oppositionsrolle der Parteien ein wichtiger Faktor für deren Hinwendung zur Mindestsicherung gewesen zu sein. Außerdem wir hier ein wichtiger Unterschied zur Bundesrepublik deutlich: Auch dort waren es mit SPD und Grünen die Oppositionsparteien, die Vorschläge für Mindestsicherungsmodelle ausgearbeitet und in die Debatte eingebracht hatten. Da sie bis zum Ende der 1980er Jahre in der Opposition blieben, waren sie auch die einzigen Parteien im Bundestag, die sich mit der Ausarbeitung solcher alternativen Modelle zur Sozialhilfe beschäftigten. In Frankreich wären vielleicht die UDF und PCF die einzigen beiden Parteien mit einem solchen Konzept geblieben – wenn nicht die Wahlen im März 1986 den PS auf die Oppositionsbank zurückgebracht hätte. Die Sozialisten hatten sich auf ihrem Parteitag 1983 noch offiziell gegen die Mindestsicherung ausgesprochen35 . Seitdem mehrten sich zwar innerhalb der 31 32 33 34 35

AN, Impressions, 7. Legislatur, Nr. 2782. Ibid, Nr. 3324. Koehl brachte diesen Gesetzesvorschlag mit fast identischem Wortlaut ein Jahr später wieder ein, vgl. AN, Impressions, 8. Legislatur, Nr. 448. AN, Impressions, 7. Legislatur, Nr. 3344. AN, Impressions, 8. Legislatur, Nr. 1212, S. 5. In seiner Eröffnungsrede hatte sich der Parteivorsitzende Lionel Jospin explizit gegen die Einführung einer Mindestsicherung ausgesprochen, die er als Ausdruck der überkomme-

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Partei die Stimmen, die gegen diese strikte Ablehnung protestierten. Schon auf dem selben Parteitag hatte sich eine Gruppe von Sozialisten zusammengeschlossen, um das Thema weiter zu diskutieren36 . Es handelte sich dabei um Vertreter des courant rocardien, einer innerparteilichen Strömung um den damaligen Landwirtschaftsminister Michel Rocard37 . Schon wenige Monate nach dem Parteitag in Bourg-en-Bresse traten sie mit Plädoyers zugunsten der Mindestsicherung an die Öffentlichkeit38 . Außerdem brachten sie das Thema auch auf dem folgenden sozialistischen Parteitag 1985 in Toulouse ein. Rocard selbst stellte dort einen Orientierungsantrag; die Mindestsicherung stand auf der Liste seiner Forderungen39 . Allerdings erhielt Rocards Orientierungsantrag weniger als ein Drittel der Stimmen der Parteitmitglieder und damit deutlich deutlich weniger als der von Jospin präsentierte Antrag, der wiederum keine Mindestsicherung einforderte40 . Laurent Geffroy weist darauf hin, dass sich gerade nach 1985 die positiven Stellungnahmen zur Mindestsicherung innerhalb der sozialistischen Partei vermehrten. Insbesondere viele Intellektuelle innerhalb der Partei hätten sich in dieser Zeit dafür ausgesprochen und diese Idee unter anderem im Rahmen von Veranstaltungen des der Partei verbundenen Forschungszentrums Office universitaire de recherche socialiste41 diskutiert. Innerhalb der sozialistischen Partei war also schon lange vor 1986 und damit schon während der Zeit ihrer Regierungsverantwortung eine intensive Auseinandersetzung um die Mindestsicherung im Gange. Eine Mehrheit innerhalb der Partei fand sich in dieser Zeit indes noch nicht. Ebensowenig arbeitete der PS in dieser Zeit ein Modell für eine Mindestsicherung aus. Vor allem machte die von ihm gestellte Regierung noch am Anfang des Jahres 1986 deutlich, dass sie die Einführung einer Mindestsicherung nicht als Option in Betracht zog.

36 37

38 39 40

41

nen Armenfürsorge abqualifizierte, und damit die weitere Auseinandersetzung mit diesem Thema im Keim erstickt. In den folgenden Debatten des Parteitags tauchte die Mindestsicherung nicht mehr auf. Vgl. Parti socialiste, Congrès national de Bourg-en-Bresse, 28, 29 et 30 octobre1983, S. 72, http://62.210.214.184/cg-ps/documents/pdf/cong-1983-10-28.pdf (22.1.2019). G, Garantir le revenu, S. 46. Rocard galt als innerparteilicher Rivale Mitterrands; er kritisierte dessen Wirtschaftspolitik und insbes. die Nationalisierungen, was ihn in frontalen Gegensatz zum PCF und zum gemeinsamen Regierungsprogramm von PS und PCF brachte, vgl. Wilfried L, Von der IV. zur V. Republik, in: Adolf K, Henrik U (Hg.), Länderbericht Frankreich. Geschichte, Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Bonn 2005, S. 63–84, hier S. 78 f. Als Erster veröffentlichte Jean-Claude Boulard im Dezember 1983 sein Plädoyer für eine Mindestsicherung, vgl. Jean-Claude B, Les deux France, in: Le Monde, 28.12.1983. Michel R, Convaincre. Motion d’orientation, in: Le Poing et la Rose 113 (1985), S. 20–26, hier S. 23. Der Orientierungsantrag von Jospin erhielt 71,4 %, der von Rocard nur 28,6 % der Stimmen, vgl. die Abstimmungsergebnisse der Anträge, http://www.france-politique.fr/congres-ps. htm#1987lille (22.1.2019). G, Garantir le revenu, S. 49.

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Das illustriert die schriftliche Antwort der Sozialministerin auf die Anfrage eines Abgeordneten. Dufoix führt darin aus: La situation des personnes en difficulté et notamment celles des familles frappées par le chômage est au centre des préoccupations du gouvernement. Parmi les actions qui lui ont été consacrées, la mise en place d’un revenu familial n’a pas été envisagée. Cette formule, appliquée de manière générale et automatique, ne paraît pas souhaitable pour des raisons qui ont été souvent invoquées, notamment le risque de fraude vis-à-vis d’un travail non déclaré, l’aspect d’assistance pure sans contrepartie en travail et en formation et le coût financier élevé42 .

Zur Armutsbekämpfung war die Regierung also bereit, nicht aber zur Einführung einer Mindestsicherung. Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass die Mindestsicherung, die oft als großes Projekt der sozialistischen Partei gilt, nicht von Anfang an mit dieser verbunden war. Der PS hatte nicht die ersten Gesetzesanträge dafür eingebracht, sondern es war im Gegenteil die von ihm gestellte Regierung, die diese Anträge abblockte. Nach dem Wechsel der Sozialisten in die Opposition änderte sich dies jedoch. Das illustriert zum einen der Parteitag in Lille im April 1987, auf dem die Mindestsicherung ein großes Thema darstellte und zahlreiche Fürsprecher fand43 , und zum anderen der erste sozialistische Gesetzesantrag für eine Mindestsicherung im Dezember 1987, den die ganze Fraktion unterstützte. Dabei war es nicht nur die Abgrenzung der neuen Oppositionspartei zu den neuen Regierungsparteien UDF und RPR, die die Sozialisten dazu brachte, sich verstärkt mit der Armutsfrage auseinanderzusetzen. Anscheinend trieb sie auch die Abgrenzung zu einer anderen Oppositionspartei dazu an, nämlich zum rechtsextremen Front national. Das illustriert beispielsweise der Redebeitrag eines Sozialisten auf dem Parteitag in Lille, der dort ausführte: Nous devrions être capables de remplir la fonction tribunitienne, c’est-à-dire la défense de pauvres gens, des plus pauvres, mieux que nous le faisons. Pour ces électeurs déboussolés qui ont rejoint le Front national, pour que ces électeurs reviennent vers nous, il faut qu’ils pensent que nous les représentons efficacement, que nous nous interposons entre eux et leurs propriétaires, entre eux et leurs patrons. Il nous faut, dans ce cadre, avancer sur la question de la grande pauvreté au niveau national bien sûr, et sur ce point j’estime que nos propositions du minimum social garanti devraient être dans les propositions de notre futur candidat à la présidence de la République44 .

Martin Bellechy appellierte an seine Parteikollegen, mehr Engagement für die Armen zu zeigen, um diese als Wähler von der rechtsextremen Partei zurückzugewinnen. Der Front national war im März 1986 erstmals seit der

42 43

44

So die Antwort der Sozialministerin Georgina Dufoix auf eine Anfrage des Abgeordneten Pierre Bas, vgl. AN, JO. Débats parlementaires, 27.1.1986, S. 302 f. Parti socialiste, 10e congrès national, Lille. 3, 4 et 5 avril 1987, http://www.archives-sociali stes.fr/themes/archives/static/pdfviewer/?src=http%3A%2F%2Fwww.archives-socialist es.fr%2Fapp%2Fcdn.sk%3Fa%3Dm%26d%3D88650 (8.5.2019). Martin Bellechy, ibid.

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Gründung im Jahr 1972 in die Nationalversammlung eingezogen, und zwar mit 35 Abgeordneten45 . Bellechys Aussage lässt vermuten, dass der Front national im Wahlkampf die Armutsfrage effektiv genutzt hatte. Allerdings war dies gar nicht der Fall gewesen, denn 1986 hatte die Partei vor allem Themen wie Migration, Sicherheit und nationale Identität besetzt. Zwar würde die Partei auch die Armutsfrage noch als Thema entdecken, jedoch erst in den 1990er Jahren46 . Außerdem rekrutierte sie ihre Wähler 1986 noch vor allem aus Gruppen von enttäuschten RPR- und UDF-Wählern. Ebenfalls erst in den 1990ern liefen auch in hohem Maße Arbeiter – und damit traditionelle PS-Wähler – zum FN über47 . Der Front national hatte also weder die Armutsfrage besetzt noch den Sozialisten massiv Wählerstimmen abgezogen. Auf dem Parteitag in Lille stellte der Wahlerfolg des FN jedoch ein großes Thema dar; die Sozialisten suchten intensiv nach Erklärungen für den Erfolg dieser rechtsextremen Partei sowie nach Möglichkeiten zur Rückgewinnung der Wählerstimmen. Wie an dem Zitat oben deutlich wird, schien auch die Mindestsicherung einen möglichen Weg zu diesem Ziel darzustellen. Insofern wirkte nicht nur der Wechsel in die Opposition, sondern auch die Ankunft einer neuen Partei als Katalysator für die Beschäftigung der Sozialisten mit der Mindestsicherung. Laurent Geffroy warnt davor, die Hinwendung der Sozialisten zur Mindestsicherung nur aus den politischen Verhältnissen heraus zu erklären: L’inscription sur son agenda d’un revenu minimum par le PS n’est pas le résultat d’un simple retournement de circonstance. La constante montée du chômage, la médiatisation de la pauvreté et des difficultés rencontrées par les politiques de retour à l’emploi expliquent, en grande partie, le ralliement au RMI de nombre de spécialistes, proches ou membres du PS, qui étaient opposés au revenu minimum dans les années soixante-dix48 .

Die stetig ansteigende Arbeitslosenquote, die Misserfolge der Beschäftigungspolitik sowie die Medialisierung der Armut hätten auch eine Rolle gespielt. Auf diese Faktoren wurde einleitend schon hingewiesen. Ebenso wurde das große Engagement der französischen Kommunen sowie des Verbandes ATD Quart Monde für die Mindestsicherung offengelegt. Dass diese Faktoren auch Einfluss auf die Haltung der Parteien zur Armutsfrage ausübten, liegt nahe. Ein Blick auf die Begründungstexte der Gesetzesanträge illustriert, dass die Antragssteller diese Faktoren auch als ihre Motive darlegten und als Argumente für die Begründung der Notwendigkeit des Gesetzes nutzten. Die Antragssteller identifizierten dort die Situation des Arbeitsmarktes als dringliches und dauerhaftes Problem sowie die gesamtwirtschaftliche Situation als Krise. Der Kommunist André Lajoinie sprach von einer »crise profonde,

45 46 47 48

M, Frankreich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, S. 449. Y, Les partis politiques, S. 122. A, Les partis politiques en France, S. 120. Ibid.

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globale et durable«49 . Die Bezeichnung des »problème durable«50 fällt auch bei Zeller, der den Antrag aus der UDF-Fraktion herausstellte. Letzterer präsentierte die Mindestsicherung sogar als »un droit nouveau pour temps de crises«51 . Die Probleme des Arbeitsmarkts belegte er ausführlich in Zahlen. Er rechnete vor, dass es, selbst wenn sich die Entwicklung des französischen Arbeitsmarktes umkehren ließe und in Zukunft 300 000 Arbeitslose pro Jahr wegfielen statt neu hinzukämen, trotzdem Jahre dauern würde, bis das Niveau der Arbeitslosigkeit von 1970 wieder erreicht sei. Das Hoffen auf die Verbesserung der Arbeitsmarktsituation sei also keine Lösung, folgert Zeller, und unterstreicht: »Le problème est à l’évidence posé pour les prochains décades«52 . Ähnliche Überlegungen über den Arbeitsmarkt finden sich auch in der Argumentation der Sozialisten53 . Deutlich zeigt sich hier das Krisenbewusstsein der Zeitgenossen, das in den Quellen bisher vergebens gesucht wurde. Die vorausgehenden Kapitel haben stattdessen gezeigt, wie zählebig die Meistererzählung der Trente Glorieuses in Frankreich gewesen war. Sie hatte sich die gesamten 1970er Jahre über gehalten. Zu Beginn der 1980er Jahre hatte die Entdeckung einer neuen Armut sie in Frage gestellt. Die 1984 beschlossenen kurzfristigen Armutsbekämpfungsprogramme verweisen aber darauf, dass sich in den Köpfen der politischen Entscheidungsträger immer noch die Hoffnung von der Rückkehr zum Wachstum hielt, die das Armutsproblem lösen würde. Vollständig kam das Ende der Trente Glorieuses im Bewusstsein der hier untersuchten Politiker also erst in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre an. Und gerade weil die politischen Entscheidungsträger die Probleme des Arbeitsmarkts als dauerhaft entdeckten, suchten sie nach neuen Lösungen und öffneten sich auf dieser Suche auch für die Mindestsicherung. Angetrieben wurde diese Suche auch durch die Vorstellung von Armut als Frage der politischen und gesellschaftlichen Teilhabe der Betroffenen, die sich in dieser Zeit auch in politischen Kreisen verbreitete. Die Mindestsicherung präsentierten die Antragssteller als Lösung für ein Problem, das sie als soziale Exklusion beschrieben. Dies zeigt sich beispielsweise im Gesetzesantrag der Sozialisten von 1987, in dem Joxe die Mindestsicherung als Möglichkeit präsentierte, den Betroffenen nicht nur wirtschaftliche, sondern auch soziale und kulturelle Rechte zu gewähren54 . Auch Zeller unterstrich in seinem Antrag die gesamtgesellschaftliche Dimension von Armut. Kurzfristige Hilfen, so wie die Regierung sie mit den Armutsbekämpfungsprogrammen von 1984

49 50 51 52 53 54

AN, Impressions, 7. Legislatur, Nr. 3344, S. 3. Ibid, Nr. 2782, S. 3. Ibid. Ibid. Pierre Joxe, AN, Impressions, 8. Legislatur, Nr. 1212, S. 5. Ibid., S. 6

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unternommen hatte, seien laut Zeller nur eine unzureichende Antwort auf diese dauerhafte und gesamtgesellschaftliche Aufgabe55 . Die Entdeckung von Armut als einem strukturellen gesellschaftlichen Problem war es also, die die Politiker zur Suche nach neuen Lösungen antrieb. Warum rückte bei dieser Suche aber gerade die Mindestsicherung ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit? Émile Koehl von der UDF begründet dies in seinem Antrag wie folgt: Une telle aide est recommandée par des mouvements et associations caritatives de notre pays et par des rapports officiels qui ont été établis au sujet de la pauvreté en France. D’ailleurs, un »revenu minimum garanti« a été récemment instauré aux Pays-Bas. De plus, dans les départements du Bas-Rhin, du Haut-Rhin et de la Moselle, des aides financières sont accordées aux personnes nécessiteuses par les communes sur la base de la loi locale du 30 mai 1908 sur les domiciles de secours. Cette loi, toujours en vigueur dans ces départements, garantit un »minimum d’existence« à hauteur d’un plafond fixé par chaque conseil municipal56 .

Koehl nannte drei Argumente für eine Mindestsicherung – tatsächlich würden genau diese drei auch in den folgenden Anträgen auftauchen. Mit seinem ersten Satz wies er auf die Fürsprache der Verbände und der Armutsberichte für die Mindestsicherung hin. Auch bei Koehls Fraktionskollegen Zeller findet sich diese Argumentation wieder, der über die Mindestsicherung schreibt: »Elle est demandé par la quasi-totalité des mouvements et des associations qui se font l’interprète de ces problèmes dans notre pays«57 . Eine eindeutige Übertreibung, denn zwar hatte sich insbesondere der Verband ATD Quart Monde für die Mindestsicherung eingesetzt, andere Verbände wie zum Beispiel der Secours catholique äußerten sich jedoch zurückhaltend zu dieser Idee. Ebenfalls als Übertreibung kann Zellers nächstes Argument bewertet werden, denn wie Koehl hob er hervor, die Mindestsicherung sei »recommandée par tous les rapports officiels, sans exception, qui sont établis au sujet de la pauvreté en France«58 . Von den Verfassern der verschiedenen seit 1978 erstellten Armutsberichte hatten nur zwei die Einführung einer Mindestsicherung empfohlen, nämlich Gabriel Oheix und Joseph Wresinski, auf die Zeller und Koehl hier wohl Bezug nehmen. Diese Berichte waren von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt verfasst und publiziert worden. Hier wird jedoch deutlich, dass die Parlamentarier – zumindest die am Armutsthema interessierten – die Berichte sehr wohl rezipiert hatten. Auch aus dem Gesetzesantrag der Sozialisten geht deutlich hervor, dass diese den Bericht des Wirtschafts- und Sozialrats intensiv studiert hatten. Denn sie zitieren den Bericht nicht nur an mehreren Stellen, sondern greifen auch für ihr Konzept der Mindestsicherung eindeutig das vom

55 56 57 58

AN, Impressions, 7. Legislatur, Nr. 2782, S. 2 f. Ibid, Nr. 3324, S. 3. Ibid, Nr. 2782, S. 4. Ibid.

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Wirtschafts- und Sozialrat vorgeschlagene Modell auf59 . Insgesamt hatten die Parteien die Impulse von ATD Quart Monde zugunsten der Mindestsicherung also sehr wohl aufgenommen. Koehl verwies zweitens auf die Niederlande, die erst kürzlich eine Mindestsicherung eingeführt hätten. Auch diese Verweise auf andere Länder mit Mindestsicherungssystemen, nicht nur die Niederlande, tauchten in den Argumentationen der anderen Parteien auf. Zeller etwa nutzte dieses Argument und listete auf: »Ce droit existe déjà dans de nombreux pays (Allemagne, Belgique, Pays-Bas, pays nordiques, Autriche, etc.)«60 . Der sozialistische Entwurf nannte keine Länder explizit, verwies aber ebenfalls darauf, dass in zahlreichen europäischen Sozialstaaten eine Mindestsicherung vorgesehen war61 . Der Bezug auf andere europäische Länder in der Debatte war bisher äußerst gering geblieben. Bei der Diskussion der Mindestsicherung spielt er aber, wie hier deutlich wird, eine Rolle. Darüber hinaus tragen diese Quellen zur Beantwortung der Frage nach der gegenseitigen Wahrnehmung Frankreichs und der Bundesrepublik im Hinblick auf ihre Armutspolitik bei. Denn die Anträge illustrieren einerseits, dass die politischen Entscheidungsträger in Frankreich das deutsche Modell der Hilfe zum Lebensunterhalt wahrgenommen hatten und auch als Argument zugunsten der Mindestsicherung einbrachten. Andererseits zeigt sich hier, dass das deutsche Modell in der Argumentation keinen privilegierten Platz einnahm, sondern gleichrangig mit anderen europäischen Ländern auftauchte. Koehl hatte indes nicht nur auf die Niederlande verwiesen, sondern auch auf drei Departements im Elsass, in denen eine Mindestsicherung bereits existierte. Über die Mindestsicherung in dem von ihm genannten Departement Bas-Rhin wusste der Abgeordnete nicht nur theoretisch Bescheid, sondern er musste mit dieser Maßnahme bestens vertraut gewesen sein – sein eigener Wahlkreis lag dort. Gleiches gilt übrigens auch für Adrien Zeller: Auch er hatte seinen Wahlkreis im Bas-Rhin, und auch er rekurrierte in seinem Antrag auf die Existenz lokaler Mindestsicherungen und führte dabei neben Nîmes und Besançon auch seine eigene elsässische Geburtsstadt Saverne an62 . Zwei Abgeordnete aus den Gebieten mit kommunaler Mindestsicherung waren also die ersten, die in der Nationalversammlung Gesetzesanträge für eine nationale Mindestsicherung einbrachten. Als Argument in den Gesetzesanträgen spielten diese kommunalen Modelle eine ebenso wichtige Rolle wie die der europäischen Länder. 59 60 61

62

Ibid., S. 6; auch bei der Schätzung der Anzahl der Armen wird auf den Bericht des CES rekurriert, vgl. ibid., S. 5. Ibid., S. 3. »Cette situation intolérable n’est pas propre à la France. De nombreux pays européens ont choisi d’y répondre en introduisant dans leur système de protection sociale des mécanismes que l’on peut qualifier de revenu minimum«, Pierre Joxe, AN, Impressions, 8. Legislatur, Nr. 1212, S. 5. AN, Impressions, 7. Législatur, Nr. 2782, S. 4.

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Insgesamt gewann die Mindestsicherung zwischen 1985 und 1988 eine immer breitere Unterstützerbasis bei den Parteien. Verschiedene Gründe dafür sind hier deutlich geworden: Der Wechsel der politischen Mehrheitsverhältnisse und die Ankunft einer neuen Partei im Parlament brachten die Parteien dazu, sich intensiver mit der Armutsfrage zu beschäftigen. Dabei entdeckten sie Armut erstmals im Untersuchungszeitraum als strukturelles und dauerhaftes Problem sowie als Bedrohung für die soziale Kohäsion. Auf der Suche nach Lösungen rückte die Mindestsicherung ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit, da diese in anderen Ländern und auch in einigen Kommunen in Frankreich schon existierte. Auch die nachdrückliche Fürsprache von Verbänden und Armutsberichten hatte die Parteien für diese Option der Armutsbekämpfung geöffnet. So bildete sich über die Idee der Mindestsicherung ein Konsens heraus, der insbesondere im Präsidentschaftswahlkampf im Frühjahr 1988 deutlich hervortritt. Denn in den Wahlkampfthemen der Kandidaten aller im Parlament vertretenen Parteien tauchte die Mindestsicherung auf. François Mitterrand setzte die Forderung sogar auf der Liste der Hauptziele für eine eventuelle zweite Präsidentschaftszeit an die vierte Stelle: »Créer un revenu minimum d’insertion. En faire un droit pour les plus démunis«63 . Nicht nur Mitterrand, sondern auch seine Konkurrenten zogen mit der Forderung einer Mindestsicherung in den Wahlkampf – auch wenn sie dieser Idee nicht die gleiche »dimension emblématique«64 wie Mitterrand verliehen, wie Laurent Geffroy betont. Aber auch die Kandidaten der anderen großen Parteien, André Lajoinie, Jacques Chirac und Raymond Barre, hatten die Mindestsicherung zu ihren Forderungen hinzugefügt65 . Einzig Jean-Marie Le Pen vom Front national stritt zunächst jegliche Pläne zur Einführung einer Mindestsicherung ab66 , änderte seine Meinung dann aber im Laufe des Wahlkampfs67 . Dieser Konsens über die Notwendigkeit einer Mindestsicherung darf aber keineswegs als Konsens über die Ausgestaltung der Mindestsicherung verstanden werden. Serge Paugam unterstreicht dies: »Le consensus sur le principe d’un revenu minimum pour combattre la ›nouvelle pauvreté‹ ne signifie pas

63 64 65

66 67

Flugschrift »Gagner«, April 1988, CAS, Présidentielles 1988, lettres du PS, argumentaire PS info, tracts entreprises, argumentaires thématiques, tracts. G, Garantir le revenu, S. 54. N. N., La littérature comparée des trois prétendants, in: La Croix L’Événement, 8.4.1988; vgl. N. N., Les programmes au banc d’essai, in: Le Point, 11.4.1988; N. N., Les projets des »trois grands«. Consensus sur le principe, divergences sur les modalités, in: La Tribune de l’expansion, 21.4.1988. N. N., Demandez le programme! Demandez le projet!, in: L’Événement du jeudi, 21.–28.4.1988. Allerdings konkretisierte der Kandidat des FN die Ausgestaltung der Mindestsicherung nicht, sondern präzisierte lediglich, dass dieses nur französischen Staatsbürgern ausgezahlt werden sollte, vgl. Pierre-Yves L P, Vers un revenu minimum, in: La Croix L’Événement, 7.4.1988, S. 11.

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V. Exklusionsdebatte und Mindestsicherung in Frankreich, 1985–1988

forcément convergence des conceptions. [. . . ] S’il est admis qu’une nation moderne se doit d’aider les plus démunis, la question du montant de cette aide et de ses modalités fait toujours l’objet des discussions«68 . Zu diesem Urteil kam Paugam bei der Analyse der parlamentarischen Debatte um das Gesetz über das revenu minimum d’insertion (RMI)69 . Ein großer Dissens über die Ausgestaltung der Mindestsicherungen geht schon aus den hier analysierten ersten Gesetzesanträgen hervor. Abschließend soll daher hier noch ein Blick auf die Gestaltung der Vorschläge gehen. Vor allem vier deutliche Unterschiede treten hervor. Erstens die unterschiedliche Finanzierung: Nach Meinung des PCF sollte der Staat allein die Kosten für die Mindestsicherung tragen. UDF und PS dagegen sprachen sich für eine gemeinsame Finanzierung durch Staat, Departements und Kommunen aus. Zweitens vertraten die Parteien unterschiedliche Vorstellungen von der monatlichen Höhe der Unterstützungsleistung. Die Abgeordneten der UDF schlugen eine Orientierung am Mindestlohn vor: Ein alleinstehender Empfänger der Mindestsicherung sollte 40 Prozent des SMIC erhalten, ein Paar oder eine Familie mit Kindern entsprechend mehr. PS und PCF brachten dagegen konkrete Zahlen ins Spiel: Nach Meinung der Sozialisten sollten die Einkünfte der Betroffenen bis auf 2000 Franc pro Monat aufgestockt werden, die Kommunisten schlugen sogar 2500 Franc vor. Nach den beiden letzten Vorschlägen wäre die Kaufkraft der Empfänger damit deutlich mehr erhöht worden als nach dem der UDF. Drittens waren die Parteien sich nicht über die Gegenleistung der Empfänger einig. Der Vorschlag der UDF sah deren Verpflichtung zu gemeinnütziger Arbeit vor. Auch der PS wollte die Empfänger der Mindestsicherung zu einer Gegenleistung verpflichten, allerdings sprach er – ganz ähnlich wie die CFDT es schon getan hatte – von Eingliederungsaktivitäten, die nicht unbedingt die Verpflichtung zur Arbeit bedeuten mussten. Der PCF sah dagegen von jeglicher Verpflichtung der Empfänger ab. Viertens wollte die UDF die Mindestsicherung ausschließlich französischen Staatsbürgern zugänglich machen, während die anderen beiden Parteien sie auch für Ausländer mit regulärem Aufenthalt in Frankreich öffnen wollten70 . Abgesehen von diesen Unterschieden war allen Vorschlägen gemeinsam, dass sie auf die Einführung einer bedarfsorientierten Mindestsicherung zielten. Keine Partei dagegen sprach sich für die Einführung eines bedarfsunabhänigen Grundeinkommens aus. Wie gezeigt, hatte diese radikalere Version der staatlichen Unterstützung der Armen auch in der Bundesrepublik keine Fürsprecher im Parlament. In beiden Ländern erschien er den Parteien als zu krasser Bruch mit der Logik ihrer Sozialstaaten. Am weitesten von dieser 68 69 70

P, La société française et ses pauvres, S. 81 f. Ibid., S. 81–147. Adrien Zeller, AN, Impressions, 7. Legislatur, Nr. 2782, S. 9; Pierre Joxe, AN, Impressions, 8. Legislatur, Nr. 1212, S. 9; Émile Koehl, AN, Impressions, 7. Législatur, Nr. 3324, S. 5; André Lajoinie, ibid., Nr. 3344, S. 5.

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2. Die Aufnahme der Ideen durch die politischen Parteien

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Logik entfernt hatte sich in Frankreich der Vorschlag des PCF. Zwar hielt er an der Bedarfsorientierung fest, sah aber im Unterschied zu allen anderen Vorschlägen keine Gegenleistung der Leistungsempfänger vor. Insgesamt konnte die Mindestsicherung zwischen 1985 und 1987 die Basis ihrer Unterstützer in der Nationalversammlung substantiell erweitern. Mit der ansteigenden Zustimmung zu der Idee war aber auch eine immer größere Heterogenität an Vorstellungen über die Ausgestaltung der Mindestsicherung verbunden.

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3. Historischer Konsens? Die Verabschiedung des Gesetzes über die garantierte Mindestsicherung im Jahr 1988 Über die generelle Notwendigkeit der Einführung einer Mindestsicherung waren sich die Parteien im Frühjahr 1988 also einig – keineswegs aber über die Ausgestaltung dieser neuen Maßnahme. Anscheinend konnten sie sich aber im Laufe des Jahres 1988 auf eine gemeinsame Version einigen, denn im November 1988 verabschiedete die Nationalversammlung das RMI-Gesetz – mit den Stimmen nicht nur der Regierungsparteien, sondern auch der Opposition. Laurent Cytermann und Cécile Dindar bewerten diesen parteiübergreifenden Konsens über das Gesetz als »consensus historique«1 und »l’un des rares moments de consensus de la vie politique française de l’après-guerre«2 . Sie betonen damit, dass nicht nur die Einigkeit der Parteien über Armutsbekämpfung bemerkenswert sei, sondern dass allgemein auch diese Übereinstimmung der Parteien für Frankreich eine Seltenheit sei – und daher ein historischer Konsens. Warum bildete sich dieser insgesamt so seltene parteiübergreifende Konsens gerade in der Frage der Armutsbekämpfung heraus? Schließlich war die Bekämpfung von Armut in den beiden dem Gesetz vorausgehenden Jahrzehnten in Frankreich keineswegs ein konsensfähiges Thema. Im Gegenteil: Zahlreiche und tiefe Gräben verliefen in dieser Frage zwischen politischen Parteien und Verbänden, zwischen den verschiedenen Parteien und sogar innerhalb der Parteigrenzen. Über die Notwendigkeit der Mindestsicherung hatte sich zwar ein Konsens zwischen den hier untersuchten Akteuren herausgebildet; jedoch versteckten sich dahinter enorm unterschiedliche Vorstellungen von dessen Ausgestaltung. Auch der Jurist Robert Lafore weist auf diesen Dissens hin. Deshalb erscheint ihm die Einstimmigkeit der Nationalversammlung über das RMI-Gesetz nicht als »historisch«, sondern eher als »merkwürdig«: »Étrange consensus en effet, car, sans remonter aux débats de l’assemblée constituante en 1790 où se dessinent déjà des conceptions promises à un long avenir, il faut rappeler qu’il y a peu ce sont plutôt les controverses et les discordes d’opinions qui commandaient en matière de revenu garanti«3 . Im Hinblick auf die zahlreichen Kontroversen erscheint die parteiübergreifende Zustimmung zum neuen Gesetz tatsächlich als 1 2 3

C, D, Les grandes étapes de l’histoire du RMI, S. 27. Ibid. Robert L, Les trois défis du RMI. À propos de la loi du 1er décembre 1988, in: L’actualité juridique 45 (1989), S. 563–585.

https://doi.org/10.1515/9783110613087-015

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V. Exklusionsdebatte und Mindestsicherung in Frankreich, 1985–1988

überraschend. Das folgende Teilkapitel stellt die Frage, wie dieser Konsens über ein vormals so kontrovers diskutiertes Thema bei den Lesungen des Gesetzes hergestellt werden konnte. Auch wird gefragt, welche Modelle der Mindestsicherung die Abgeordneten letztlich auswählten und welche Vorstellungen von Armut und Armutsbekämpfung sich damit durchsetzten. Zur Beantwortung dieser Fragen werden die Lesungen des Gesetzes in den beiden Kammern des französischen Parlaments analysiert. Verschiedene Forscher haben diese bisher schon analysiert, beispielsweise Serge Paugam4 , Laurent Geffroy5 , Isidor Wallimann und Isabelle Bohrer6 . Als Quellen legen sie jedoch nur die Plenarprotokolle von Senat und Nationalversammlung zugrunde, ohne dabei die Arbeit der jeweiligen Ausschüsse der Kammern zu berücksichtigen – die aber von besonders großem Interesse sein können, weil dort ein Großteil der Arbeit am Gesetzestext stattfand. Außerdem können diese Diskussionen, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfanden, Einblick in Kontroversen geben, die nicht vor dem Plenum ausgetragen wurden. Die folgende Analyse stützt sich daher als Quellen auf die Debatten der Plenen und der Ausschüsse7 . Ergänzt werden diese Hauptquellen um Bestände aus dem sozialistischen Parteiarchiv, insbesondere um den Nachlass des damaligen Parteivorsitzenden Pierre Mauroy, der zusätzlichen Einblick in die parteiinterne Debatte um die Mindestsicherung bietet.

3.1. Grundzüge des ersten Gesetzesentwurfs und der Beginn der Lesungen Im Wahlkampf hatten alle Kandidaten der im Parlament vertretenen Parteien die Einführung einer Mindestsicherung angekündigt. Insbesondere Mitterrand hatte dieser Forderung einen hohen Stellenwert in seinem Wahlprogramm eingeräumt. Im Mai 1988 wurde der Sozialist erneut zum Präsidenten der Republik gewählt und kam seinem Versprechen zügig nach. Nach seiner Wiederwahl löste Mitterrand zunächst die Nationalversammlung auf. Aus den anschließenden Neuwahlen ging der PS als klarer Sieger hervor, auch wenn er die absolute Mehrheit knapp verfehlte. Mit der Unterstützung seiner Koalitionspartner, dem MRG und der Union du centre, konnte er allerdings Ende Juni 1988 die neue Regierung unter Premierminister Michel Rocard in ihr 4 5 6 7

P, La société française et ses pauvres. G, Garantir le revenu B, W, Armut. Die Protokolle der Plenardebatten sind auf den Webseiten der Nationalversammlung und des Senats zugänglich, http://archives.assemblee-nationale.fr/ (12.7.2018). Einblick in die Ausschussdebatten geben die von den Ausschüssen erstellten Berichte sowie die vom Ausschuss modifizierten Gesetzestexte. Vgl AN, Impressions, 9. Legislatur und Annales du Sénat, Première session ordinaire de 1988–1989.

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3. Die Verabschiedung des Gesetzes über die garantierte Mindestsicherung

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Amt wählen und damit die Kohabitation beenden8 . Schon am 20. Juli 1988 und damit weniger als einen Monat nach dem Amtsantritt der Regierung präsentierte der neue Sozialminister Claude Évin den Gesetzesentwurf9 der Regierung für die Einrichtung eines RMI. Explizit nahm er darin auch auf das Wahlkampfversprechen Mitterrands Bezug10 . Der Entwurf ähnelte prinzipiell dem Gesetzesantrag der PS-Fraktion von 1987, unterschied sich aber in einigen Details. Wie der Antrag der Fraktion sah auch der Regierungsentwurf eine monatliche Unterstützung von 2000 Franc für eine alleinstehende Person vor, entsprechend mehr für jede weitere Person im Haushalt. Die finanzielle Unterstützung sollte den Empfängern für die Dauer von sechs Monaten zugesprochen werden; nach Ablauf dieser Frist bestand aber die Möglichkeit eines Neuantrags und einer erneuten Unterstützung. Für die Finanzierung dieses neuen Gesetzes sollten nicht, wie noch 1987 vorgesehen, Staat und Gebietskörperschaften gemeinsam zuständig sein, sondern allein der Staat11 . Die Frage nach den Zugangsvoraussetzungen zur Mindestsicherung hatten die Parteien sehr unterschiedlich beantwortet. Der Regierungsentwurf griff in dieser Hinsicht die Vorschläge des Gesetzesantrags der Fraktion auf. Erste Bedingung für den Erhalt der Mindestsicherung sollte die Bedürftigkeit sein12 , weitere Einschränkungen bezogen sich auf das Alter und die Staatsangehörigkeit beziehungsweise die Dauer des Aufenthalts der Antragssteller in Frankreich. Die Empfänger mussten mindestens 25 Jahre alt sein; Schüler, Studierende und Auszubildende waren jedoch unabhängig von ihrem Alter a priori vom Bezug der Mindestsicherung ausgeschlossen13 . Weniger restriktiv zeigte sich der Entwurf im Hinblick auf den Zugang ausländischer Staatsbürger zum RMI. Neben den in Frankreich lebenden Franzosen wurde auch Ausländern mit offiziellem Wohnsitz in Frankreich, die ihren regulären zehn- oder mehrjährigen Aufenthalt im Land durch eine carte de résident nachweisen konnten, der Empfang des RMI in Aussicht gestellt. Auch in Frankreich offiziell anerkannte Flüchtlinge sollten zum Berechtigtenkreis gehören14 . Dabei wurde Frankreich und damit der Geltungsbereich des RMI explizit nicht nur als das europäische Staatsgebiet verstanden, sondern 8 9

10 11 12

13 14

M, Frankreich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, S. 450. Nachdem die bisher untersuchten Gesetzesanträge alle auf parlamentarische Initiative zurückgingen, handelt es sich jetzt den ersten Regierungsentwurf für ein Gesetz über die Mindestsicherung. AN, Impressions, 9. Legislatur, Nr. 146, S. 2. Ibid., S. 4. »La condition première est celle des ressources«, heißt es in der vom Sozialministerium verfassten Argumentationshilfe zum Gesetzesentwurf, vgl. Ministère de la Solidarité, Projet de loi relatif au revenu minimum d’insertion. Fiches argumentaires, 13.7.1988, CAS, Nachlass Pierre Mauroy. Claude Évin, AN, Impressions, 9. Legislatur, Nr. 146, S. 8. Ibid., Art. 7.

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V. Exklusionsdebatte und Mindestsicherung in Frankreich, 1985–1988

der Anspruch auf die Mindestsicherung wurde auch den Einwohnern der französischen Überseedepartements zuerkannt. Damit wurden Gouadeloupe, Französisch-Guyana, Martinique und Réunion zum Geltungsbereich des neuen Gesetzes – wenn auch schon zu diesem Zeitpunkt angekündigt wurde, dass die Höhe der Mindestsicherung in diesen Gebieten »en cohérence avec la situation économique et sociale de ces départements«15 festgelegt werden solle und damit also niedriger als im Mutterland sein würde. Wie der Gesetzesantrag der Fraktion plante auch der Regierungsentwurf den Abschluss eines Eingliederungsvertrags mit dem RMI-Empfänger. Im Unterschied zur Fraktion arbeitete die Regierung aber ganz klar den restriktiven Charakter dieses Vertrags heraus. Denn sobald die Betroffenen nicht an den Eingliederungsaktivitäten teilnahmen, zu denen sie sich in diesem Vertrag verpflichtet hatten, sollte die Zahlung sofort ausgesetzt werden. Ein neuer Unterstützungsantrag könnte erst nach Ablauf einer bestimmen Frist wieder Aussicht auf Erfolg haben16 . Letzteres konnte die Regierung in den Konflikt mit ihrer eigenen Partei bringen, die sich bisher nicht klar für Sanktionsmechanismen ausgesprochen hatte. Andere Aspekte wie beispielsweise die Öffnung des RMI für Ausländer zeichneten die Kontroverse mit anderen Parteien vor, die sich in diesen Fragen anders positioniert hatten. Der erste Entwurf für die Mindestsicherung las sich also keineswegs wie ein Konsensprojekt, sondern vielfältiges Konfliktpotential war darin bereits angelegt. Auch der Ablauf der Lesung des Gesetzes lässt erkennen, dass es zwischen den Abgeordneten viel Bedarf zur Diskussion gab. Das Hin- und Herpendeln des Gesetzes zwischen den beiden Kammern und die Einsetzung eines Vermittlungsausschusses, der die Einigkeit zwischen Senat und Nationalversammlung herstellen sollte, illustrieren dies. Die erste Lesung des Gesetzes hatte nach der Präsentation des Regierungsentwurfs am 20. Juli 1988 begonnen. Das Plenum der Nationalversammlung hatte den Entwurf an ihren zuständigen Ausschuss, die Commission des affaires culturelles, familiales et sociales, weitergeleitet. Dieser diskutierte ihn unter dem Vorsitz des sozialistischen Abgeordneten Jean-Michel Belorgey in vier Sitzungen im September. Der Ausschuss führte im Laufe dieser Sitzungen auch Experten-Hearings durch und hörte in diesem Rahmen unter anderen Vertreter von ATD Quart Monde und Secours catholique an17 . Nach Abschluss seiner Arbeit leitete der Ausschuss einen 15 16 17

Ministère de la Solidarité, Projet de loi relatif au revenu minimum d’insertion. Fiches argumentaires 13.7.1988, CAS, Nachlass Pierre Mauroy. Claude Évin, AN, Impressions, 9. Legislatur, Nr. 146, S. 11. Der Ausschuss führte insgesamt sieben Hearings durch. Als Erstes hörte er Sozialminister Évin an, anschließend die Union nationale interfédérale des œuvres et organismes privés, sanitaires et sociaux, unter deren Delegierten sich auch die Vertreter von ATD Quart Monde und Secours catholique fanden. Es folgten Anhörungen mit Delegierten der Association professionnelle des directeurs régionaux et départementaux des affaires sanitaires et sociales, der Union nationale des associations familiales, der Union nationale

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3. Die Verabschiedung des Gesetzes über die garantierte Mindestsicherung

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umfassenden Bericht sowie eine modifizierte Version des Gesetzesentwurfs an das Plenum der Nationalversammlung weiter, das diesen Entwurf zwischen dem 4. und dem 12. Oktober diskutierte. Anschließend nahm im Rahmen der ersten Lesung des Gesetzes im Senat die entsprechende Senatskommission unter dem Vorsitz des liberalen Senators Pierre Louvot ihre Arbeit auf und legte mit ihren Empfehlungen wiederum die Grundlage für die Plenardebatten im Senat, die vom 2. bis zum 4. November stattfanden. Beide Kammern konnten sich aber auf keinen gemeinsamen Gesetzestext einigen, deswegen nahm am 10. November 1988 eine commission mixte paritaire, also ein aus Mitgliedern beider Kammern paritätisch besetzter Vermittlungsausschuss, seine Arbeit auf. Es folgten zwei weitere Lesungen in beiden Kammern, die wieder von entsprechender Ausschussarbeit begleitet wurden. Erst in dritter Lesung konnte das Gesetz am 30. November 1988 in der Nationalversammlung beschlossen werden und am 1. Dezember in Kraft treten18 . Eine lange und umfassende Diskussion folgte also auf einen potentiell konfliktträchtigen Gesetzesentwurf. Die Inhalte dieser Debatte sollen im Folgenden beleuchtet werden.

3.2. Elemente des Konsenses: die Grundstruktur der garantierten Mindestsicherung Viele der Artikel, die bereits im Regierungsentwurf enthalten waren, hatten zwischen Juli und November 1988 wenig Anlass zur Debatte gegeben und standen unverändert im endgültigen Gesetzestext, wie er am 1. Dezember 1988 im Journal officiel (JO) publiziert wurde. Jenseits der einzelnen Artikel lassen sich außerdem Elemente des Konsenses schon über Titel und Positionierung des Gesetzes ermitteln. Beispielsweise hatten alle Gesetzesentwürfe, die seit 1985 in der Nationalversammlung eingebracht worden waren, vorgesehen, aus den Bestimmungen über die Mindestsicherung kein eigenes Gesetz zu machen, sondern sie in das bestehende Sozialhilfegesetzbuch aufzunehmen19 . Auch die Sozialisten hatten dies vor 1987 noch befürwortet, danach aber ihre Meinung geändert. Der Regierungsentwurf von Juli 1988 strebte keine Änderung einer Sektion des Sozialhilfegesetzbuchs

18

19

des centres communaux d’action sociale de France et d’outre-mer und der Association nationale des directeurs des actions sociales et de santé des départements, vgl. Rapport fait au nom de la Commission des affaires culturelles, familiales et sociales (1) sur le projet de loi (no 146) relatif au revenu minimum d’insertion, 3.10.1988, Jean-Michel Belorgey, AN, Impressions, 9. Legislatur, Nr. 161, S. 96–144. Vgl. dazu das Schema zum Gesetzgebungsverfahren für das RMI-Gesetz auf der Seite der französischen Nationalversammlung http://www.assemblee-nationale.fr/9/dossiers /880146.asp (22.1.2019). Dies war für alle im vorausgehenden Kapitel zitierten Gesetzesanträge der Fall.

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V. Exklusionsdebatte und Mindestsicherung in Frankreich, 1985–1988

an, sondern forderte ein eigenständiges Gesetz ein, eine »loi relative au revenu minimum d’insertion«20 . Auch wenn dies für die Empfänger der Mindestsicherung wenig änderte, so zeigt es doch den Willen der Regierung, mit dem Gesetz über die bisherige Sozialhilfe hinauszugehen und eine gänzlich neue Leistung zu schaffen. Keiner der Abgeordneten äußerte im Lauf der Lesungen Kritik an dieser Absicht, sodass das Gesetz im November 1988 letztlich auch in dieser selbständigen Form verabschiedet werden konnte. Ebenso wenig wurde der Name des Gesetzes, für den der Sozialminister sich im Juli 1988 entschieden hatte, in den verschiedenen Lesungen in Frage gestellt. Die ersten Gesetzesanträge für eine Mindestsicherung waren noch unter sehr unterschiedlichen Bezeichnungen eingebracht worden. Von einem revenu minimum d’existence21 und einer allocation de précarité22 war in der Nationalversammlung die Rede gewesen. Mit ihrem Gesetzesantrag von Dezember 1987 hatte der PS erstmals den Begriff des revenu minimum d’insertion23 eingebracht, der seitdem häufig fiel, sich aber nicht sofort durchsetzte. Noch im Wahlkampf hatten die Kandidaten konkurrierende Termini wie beispielsweise revenu social garanti24 eingebracht. Im Juli 1988 entschied sich die Regierung für den Vorschlag eines revenu minimum d’insertion25 . Der PS hatte schon seinen ersten Gesetzesantrag als Oppositionspartei unter diesem Titel gestellt. Auch ein im Frühjahr 1988 parteiintern ausgearbeitetes Konzept trug bereits den Titel »Minimum social d’insertion«26 . Der Eingliederungsbegriff27 bildete in der Begründung des Regierungsentwurfs den roten Faden, und zwar zusammen mit dem Exklusionsbegriff, dem er als Antonym gegenübergestellt wurde. Schon im zweiten Satz des Entwurfs betonen seine Unterzeichner die Notwendigkeit und Dringlichkeit der »mise en œuvre de nouvelles mesures énergiques contre l’exclusion sociale«28 und stellen das RMI als eine solche Maßnahme zur Bekämpfung von Exklusion dar. 20 21 22 23 24 25 26 27

28

Claude Évin, AN, Impressions, 9. Legislatur, Nr. 146, S. 1. Adrien Zeller, AN, Impressions, 7. Legislatur, Nr. 2782, S. 1. Robert Chapuis, in: AN, JO. Débats parlementaires, 6.5.1983, S. 941. Pierre Joxe, AN, Impressions, 8. Legislatur, Nr. 1212, S. 1. So der Vorschlag von Raymond Barre, vgl. N. N., Les programmes au banc d’essai. Claude Évin, AN, Impressions, 9. Legislatur, Nr. 146, S. 1. Parti socialiste, Délégation nationale aux affaires sociales et à l’emploi: Le minimum social d’insertion, CAS, Nachlass Pierre Mauroy, S. 17. Der Begriff der Eingliederung war zu diesem Zeitpunkt nicht insgesamt neu, sondern nur seine Nutzung im Kontext der Armutsbekämpfung. Schon in den 1970er Jahren war er in zwei Gesetzen aufgetaucht, jedoch nicht im Zusammenhang mit Armut. Seit 1972 sollte ein sogenanntes Eingliederungsgeld (allocation d’insertion) die Mobilität junger Arbeitnehmer fördern; 1975 beschäftigte sich ein Gesetz mit der beruflichen Eingliederung von behinderten Menschen. Robert Castel bewertet diese Verwendungen des Begriffs aber als punktuell und nicht mit spezifischen Techniken verbunden. Zu Beginn der 1980er Jahre wurde Eingliederung als Mittel gegen die hohe Jugendarbeitslosigkeit diskutiert. Vgl. C, Die Metamorphosen der sozialen Frage, S. 368. Claude Évin, AN, Impressions, 9. Legislatur, Nr. 146, S. 2.

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3. Die Verabschiedung des Gesetzes über die garantierte Mindestsicherung

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Entsprechend präsentieren sie die Mindestsicherung als die Umsetzung einer »nouvelle politique d’insertion«29 . Die Streitereien um die Begrifflichkeiten wurden damit tatsächlich beigelegt: Nach der Präsentation des Entwurfs des PS für ein RMI wurden keine konkurrierenden Titel für die neue Mindestsicherung mehr eingebracht. Kein weiterer Streit entbrannte um die Bezeichnung, sondern die Vorstellung der Mindestsicherung als Maßnahme im Zeichen der Eingliederungspolitik wurde einhellig akzeptiert. Mit Fug und Recht kann eingewandt werden, dass hinter dieser gemeinsamen Akzeptanz des Begriffs noch keine einstimmige Antwort auf die Frage nach Ausgestaltung, Zielen und Umsetzungen dieser Eingliederungspolitik stehen musste. In der Tat sollte die Definition der Eingliederungsaktivitäten die Abgeordneten in den folgenden vier Monaten noch ausführlich beschäftigen. Trotzdem gibt diese Einigkeit über Namen und Zielformulierung des Gesetzes wichtige Hinweise darauf, dass die Wahrnehmung von Armut als Exklusion und die Notwendigkeit ihrer Bekämpfung durch – wie auch immer geartete – Eingliederungsmaßnahmen sich zu dieser Zeit unter den Abgeordneten durchgesetzt hatten. Dass die Abgeordneten sich entschieden, die Bekämpfung der Exklusion in einem eigenen Gesetz zu verankern und nicht in die bestehenden Bestimmungen zur Sozialhilfe einzuflechten, verdeutlicht außerdem, dass sie die neuen Bestimmungen bewusst als Abgrenzung oder Weiterentwicklung oder zumindest als etwas Neues im Hinblick auf die bestehenden Sozialhilferegelungen konzipieren wollten. Größere Kontroversen als die Suche nach dem Namen des neuen Gesetzes hatte schon im Vorfeld der Lesung die Frage nach der Höhe der monatlichen Unterstützung ausgelöst. Zwar hatte sich keine der Parteien im Vorfeld des Gesetzes für ein bedarfsunabhängiges Grundeinkommen ausgesprochen, sondern alle befürworteten eine Leistung, die sich am Bedarf der Empfänger orientierte. Auch die Regierung forderte in ihrem Entwurf die Einführung einer allocation différentielle30 , einer bedarfsabhängigen Zahlung. »Elle complétera les prestations déjà existantes afin que chacun atteigne un minimum de ressources«31 . Da diese Überlegung schon vor Beginn der Lesung Konsens unter den Parteien gewesen war, rief sie auch während der Lesungen keine Probleme hervor. Es entspann sich zwar eine lange Debatte darum, welche Einkünfte der Empfänger für die Berechnung des RMI einbezogen werden sollten und welche Einkünfte eventuell von der Anrechnung ausgeschlossen werden könnten32 . Dass die Mindestsicherung aber am Bedarf der Empfänger 29 30 31 32

Ibid., S. 3. Ministère de la Solidarité, Projet de loi relatif au revenu minimum d’insertion. Fiches argumentaires 13.7.1988, CAS, Nachlass Pierre Mauroy. Ibid. Insbes. die Anrechnung des Kindergelds und des Wohngelds stand zur Debatte; letztlich entschieden sich die Abgeordneten dafür, dass beide Leistungen von der Anrechnung ausgenommen werden konnten, vgl. AN, JO. Lois et décrets, loi no 88-1088 du 1er décembre 1988 relative au revenu minimum d’insertion, Art. 9; C, D, Les grandes étapes de l’histoire du RMI, S. 29.

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V. Exklusionsdebatte und Mindestsicherung in Frankreich, 1985–1988

orientiert sein sollte, zweifelte kein Abgeordneter an, sodass die Bestimmung des Regierungsentwurfs unverändert in den Gesetzestext übernommen werden konnte33 . Die Frage, bis zu welcher Summe die Einkünfte aufgestockt werden sollten, hatten die verschiedenen Parteien indes unterschiedlich beantwortet. Die Vorstellungen der Parteien variierten in dieser Hinsicht zwischen 1400 (UDF) und 3000 Franc (PCF). Der Regierungsentwurf schlug 2000 Franc vor34 . Welche Summe wurde letztlich ausgewählt, und wie wurde diese Entscheidung gerechtfertigt? Insbesondere bei diesem Aspekt scheint die Frage nach der Rezeption der Armutspolitik anderer europäischer Sozialstaaten und die Orientierung daran interessant. Dass die verschiedenen europäischen Mindestsicherungen in den Überlegungen der Abgeordneten eine Rolle spielten, geht klar aus dem Bericht des Sozialausschusses der Nationalversammlung hervor, denn darin finden sich umfangreiche Tabellen, die die Mindestsicherungen anderer europäischer Länder auflisten und darstellen35 . In die Diskussion um die Höhe der Summe flossen diese europäischen Beispiele ebenfalls ein. So erwähnt der Ausschussvorsitzende Belorgey in seinen einleitenden Ausführungen explizit die deutsche Antwort auf die Frage nach der Höhe der Mindestsicherung, nämlich die Orientierung an den tatsächlichen Lebens- und Konsumgewohnheiten der unteren Einkommensschichten in Form eines Warenkorbs. Allerdings attestierte er diesem »panier de la ménagère pauvre«36 eine willkürliche Komponente, hob als dessen Problem die Notwendigkeit der ständigen und aufwendigen Aktualisierung hervor und verwarf ihn aus diesen Gründen37 . In den anschließenden Debatten griffen die Abgeordneten dieses oder andere ausländische 33

34

35 36 37

Der Sozialausschuss der Nationalversammlung, der nach der Vorstellung des Gesetzesentwurfs als Erstes die einzelnen Artikel diskutierte, stimmte diesem Artikel zu, ohne inhaltliche Einwände zu machen. Beanstandet wurde dort lediglich seine Platzierung im Gesetzestext, während in den anschließenden Lesungen des Gesetzestextes gar keine Bemerkungen mehr zu diesem Artikel gemacht wurden, sodass die Bestimmung über die Aufstockung des Einkommens der RMI-Empfänger bis zu einer bestimmten Summe im endgültigen Gesetzestext zwar an anderer Stelle, aber in gleicher Formulierung wieder auftauchten, vgl. AN, Impressions, 9. Legislatur, Nr. 161, S. 150–160; AN, JO. Lois et décrets, loi no 88-1088 du 1er décembre 1988 relative au revenu minimum d’insertion, Art. 4: »Le bénéficiaire du revenu minimum d’insertion a droit à une allocation égale à la différence entre le montant du revenu minimum défini à l’article précédent et les ressources définies selon les modalités fixées aux articles 9 et 10«. Claude Évin hatte in seinem Regierungsentwurf zwar präzisiert, dass die Höhe der Mindestsicherung nicht im Gesetzestext, sondern anschließend per Dekret festgelegt werden solle. Entsprechend findet sich im Gesetzesentwurf von Juli 1988 kein Artikel, der sich mit dieser Frage befasst. Allerdings wird im den Artikeln vorangestellten Vorwort ganz klar Position in dieser Hinsicht bezogen: »Le revenu minimum d’insertion est la garantie qu’a toute personne de percevoir au moins 2000 F si elle vit seule, 1000 F de plus pour une autre personne du ménage, 600 F pour chacune des suivantes«. AN, Impressions, 9. Legislatur, Nr. 161, S. 18–22. Ibid., S. 33. Ibid., S. 33 f.

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Beispiele nicht mehr auf. Generell äußerten sie aber auch keine substantielle Kritik mehr an den von der Regierung vorgeschlagenen 2000 Franc. Auch die Frage nach dem Verhältnis von Mindestsicherung und Mindestlohn wurde von einigen Abgeordneten zwar aufgeworfen, löste aber keine großen Debatten aus38 . Der Sozialausschuss, der sich als Erstes mit dem Regierungsentwurf befasste, schlug keine alternativen Zahlen vor, und auch in den folgenden Lesungen standen weder das Berechnungsverfahren für die Höhe der Zahlung noch die vom PS vorgeschlagene Zahl zur Diskussion. Lediglich zu Beginn der ersten Lesung des Gesetzes im Plenum der Nationalversammlung wurden noch zwei einzelne kritische Stimmen zu diesem Thema laut39 . In der folgenden Debatte wurden aber beide Vorschläge nicht mehr aufgegriffen, sodass sich letztendlich die von den Sozialisten vorgeschlagene Zahl von 2000 Franc durchsetzte40 . Wie war die Einigkeit über die von der Regierung vorgeschlagene Summe hergestellt worden? Und wie war die Regierung überhaupt auf diese Zahl gekommen? Die bisherigen Forschungsarbeiten zum RMI haben darauf noch keine Antwort gegeben, sondern nur beschrieben: »Le chiffre symbolique de 2000 francs s’est très vite imposé comme le montant du revenu garanti pour une personne isolée«41 . Allerdings geben weder der Gesetzesentwurf noch die Argumentationshilfe des Sozialministeriums noch der Bericht des Sozialausschusses eine viel aufschlussreichere Antwort auf diese Frage. Viel eher bestätigen sie den Eindruck, dass von Anfang des Gesetzgebungsprozesses an die Zahl von 2000 Franc ohne weitere Begründung im Raum stand. Die hier geäußerte Vermutung, dass die Orientierung an anderen europäischen Mindestsicherungen zu einem Konsens geführt hatte, trifft nicht zu. Zwar nahmen die Abgeordneten die verschiedenen europäischen Modelle wahr, jedoch diente beispielsweise der deutsche Warenkorb eher als Negativfolie denn als Vorbild in der Debatte. Eine mögliche Erklärung für den Konsens könnten die kommunalen Mindestsicherungen darstellen. Durch die CLR hatte das französische Sozialministerium den Gemeinden nicht nur finanzielle Unterstützung bei der Einführung von Mindestsicherungen zugesagt, sondern auch die Vereinheitlichung der verschiedenen, koexistierenden Modelle der Mindestsicherung 38 39

40 41

C, D, Les grandes étapes de l’histoire du RMI, S. 29. Als Erstes beklagte der liberale Abgeordnete Zeller den »caractère complexe, rigide et faussement égalitaire« der Mindestsicherung und wehrte sich gegen den Versuch, die Höhe der Zahlung flächendeckend auf 2000 Franc festzulegen. »Personne ne me fera croire que 3000 francs par mois pour un ménage sans ressources signifie la même chose à Paris et en Corrèze«. Kurz nach Zellers Plädoyer für eine regionale Differenzierung der Höhe der Mindestsicherung erinnerte der kommunistische Abgeordnete Jean-Claude Gayssot daran, dass seine Partei eine monatliche Mindestsicherung von 3000 Franc pro Person forderte; vgl. AN, JO. Débats parlementaires, 4.10.1988, S. 650, 653. C, D, Les grandes étapes de l’histoire du RMI, S. 29. Ibid.

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V. Exklusionsdebatte und Mindestsicherung in Frankreich, 1985–1988

eingeleitet. Für die in diesem Rahmen eingeführten Mindestsicherungen hatte das Sozialministerium die Höhe von 2000 Franc pro Monat vorgegeben. Nicht nur der PS griff anschließend diese Zahl auf, sondern vor ihm schon die CFDT für ihr revenu minimum de réinsertion sowie auch der Wirtschafts- und Sozialrat. Eine Tabelle mit der Auflistung der verschiedenen kommunalen Modelle der Mindestsicherung in Frankreich, die in den Ausschussbericht eingefügt ist – übrigens noch vor der Liste der europäischen Mindestsicherungen –, zeigt, dass der Ausschuss diese kommunalen Modelle als Orientierungspunkte herangezogen hat. Sie waren es auch, die in dieser Frage den Konsens hergestellt haben, nicht die europäischen Vorbilder. Weitgehender Konsens bestand außerdem über den Geltungsbereich des neuen Gesetzes. Der Gesetzesentwurf der Regierung sah die Einrichtung des RMI auch in den französischen Überseedepartements (départements d’outremer – DOM) vor, schloss seine Ausdehnung auf die Überseegebiete (territoires d’outre-mer – TOM) aber a priori aus42 . Dass diese Regelung in den Lesungen des Gesetzes an keiner Stelle in Frage gestellt wurde, verwundert nicht, da in den mit Metropolfrankreich eng verbundenen Überseedepartements die französische Gesetzgebung generell zur Anwendung kommt43 . Für die Umsetzung der Mindestsicherung in den Überseedepartements hatte der Vorsitzende Belorgey zu Beginn der ersten Ausschussdebatte der Nationalversammlung vorgeschlagen: Le projet de loi pose le principe de l’application du RMI aux départements d’outre-mer, mais renvoie à un décret en Conseil d’État le soin d’en fixer les modalités. L’objet de ce décret pourrait notamment être de prévoir que le montant du RMI DOM serait calculé de telle sorte qu’il existe entre lui et le RMI métropolitain un rapport identique à celui qui existe entre le SMIC DOM et le SMIC métropolitain (soit 1600 F pour un isolé, 800 F pour la deuxième personne du ménage et 480 F pour les suivantes)44 .

Im Zusammenhang mit seinem Vorschlag, die Höhe der Mindestsicherung in den Überseedepartements auf 80 Prozent des »RMI métropolitain« zu begrenzen, nahm Belorgey durch den Bezug auf die bestehende Regelung zum Mindestlohn jedem Protest den Wind aus den Segeln. Die von ihm eingebrachte Lösung wurde in den folgenden Debatten nicht mehr in Frage gestellt und fand Eingang in das Gesetz45 . Auch hier wurde eine Lösung durch die Orientierung 42 43

44 45

Ministère de la Solidarité, Projet de loi relatif au revenu minimum d’insertion. Fiches argumentaires 13.7.1988, CAS, Nachlass Pierre Mauroy. Frankreich unterhält unterschiedlich starke Verbindungen zu seinen ehemaligen Kolonien. Während die vier Überseedepartements verwaltet werden wie alle übrigen Departements und dort folglich auch französische Gesetze volle Anwendung finden, gilt dies für die weniger eng an Frankreich angebundenen Überseegebiete nur dann, wenn dies explizit vorgesehen ist, vgl. S, U, Frankreich, S. 111. AN, Impressions, 9. Legislatur, Nr. 161, S. 76. Da nicht das RMI-Gesetz, sondern ein Dekret die Höhe des Mindesteinkommens festlegt, findet die Regelung sich im Gesetzestext nicht wieder. Die von Belorgey vorgeschlagene

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3. Die Verabschiedung des Gesetzes über die garantierte Mindestsicherung

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an bestehende Regelungen innerhalb Frankreichs gefunden. Der Konsens wurde in diesem Fall über den Rückgriff auf in der Vergangenheit ausgehandelte Kompromisse hergestellt.

3.3. Kontroversen um die Ausgestaltung der Mindestsicherung Über zahlreiche Artikel des Gesetzes – und damit über die Elemente der Ausgestaltung der Mindestsicherung – bestand also von Anfang an Übereinstimmung zwischen den Parteien. Dagegen riefen manche Aspekte des Gesetzesentwurfs großen Widerstand hervor, und zwar nicht nur zwischen den verschiedenen Parteien, sondern auch parteiintern. Letzteres wird zum Beispiel daran deutlich, dass in der sozialistischen Partei schon vor Beginn der ersten Lesung des Gesetzes eine heftige Debatte um den Regierungsentwurf entstand, die insbesondere zwischen Regierung, parlamentarischer Fraktion und Parteivorstand geführt wurde. Verschiedene parteiinterne Briefe und Notizen, die im Nachlass des damaligen PS-Vorsitzenden Pierre Mauroy überliefert sind, machen dies deutlich. Der Gesetzesentwurf, der auf die Initiative der Regierung zurückging, entsprach anscheinend nicht den Ideen vieler sozialistischer Parteiund insbesondere Fraktionsmitglieder. Ein Schreiben vom 31. August 1988 informiert den Parteivorsitzenden darüber: »La grogne qui existe, parmi nos élus notamment, sur le projet de loi du gouvernement, doit être prise en compte par le Parti qui peut jouer l’apaisement«46 . Zur Überwindung dieser parteiinternen Differenzen schlug der Verfasser vor, im Sozialausschuss verschiedene Änderungen am Regierungsentwurf vorzunehmen47 . Weitere Parteimitglieder, unter anderem der secrétaire national aux affaires sociales des PS, Jean-Claude Boulard48 , sowie Sozialminister Claude Évin49 , nahmen zu diesem Thema Stellung und schlugen ihrerseits Aspekte des Gesetzes vor, die im Ausschuss debattiert und eventuell geändert werden müssten. Sechs Punkte kehrten in diesen Aufzählungen immer wieder. Es waren die Fragen nach der Altersbeschränkung für den Bezug der Mindestsicherung, die Regelungen für in Frankreich lebende Ausländer, nach der Rolle des Staates bei Finanzierung und Entscheidung über die Mindestsicherung, nach der Anrechnung der verschiedenen Sozialleistungen auf die Mindestsicherung

46 47 48 49

Lösung wurde aber umgesetzt, vgl. C, D, Les grandes étapes de l’histoire du RMI, S. 31. Note à Pierre Mauroy, Objet: projet de loi sur le revenu minimum, 31.8.1988, CAS, Nachlass Pierre Mauroy. Ibid. Jean-Claude Boulard, Note relative au minimum social d’insertion, undatiert, ibid. Claude Évin, Brief vom 15.9.1988, ibid.

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V. Exklusionsdebatte und Mindestsicherung in Frankreich, 1985–1988

sowie der Aspekt der Eingliederung und der Sanktionen50 . Das waren genau die Themen, die auch die Parlamentarier in den Plenar- und Ausschusssitzungen noch bis Ende November beschäftigen sollten. Zur erstgenannten Frage, nämlich der nach der Altersbeschränkung, fand sich im Regierungsentwurf gar keine explizite Regelung, sondern es wird lediglich erwähnt, dass die Erfüllung von »certaines conditions d’âge«51 eine Voraussetzung für den Bezug der Mindestsicherung sei. Die den Entwurf begleitende Argumentationshilfe präzisiert, dass die Regierung das Recht auf die Mindestsicherung nur Personen im Alter von über 25 Jahren zusprechen wollte. Als Begründung für dieses Mindestalter führte sie an, dass für Personen unter 25 Jahren bereits zahlreiche Maßnahmen zur Eingliederung existierten52 . Noch vor Beginn der offiziellen Lesungen des Gesetzes löste diese Regelung Widerspruch in den Reihen der sozialistischen Partei aus, denn das Mindestalter wurde als zu hoch angesehen. Seine Senkung auf 18 Jahre forderte unter anderem der Sozialexperte des PS, Jean-Claude Boulard, in einem Brief an den Parteivorsitzenden Mauroy ein53 . Während der Ausschussarbeit war es der Ausschussvorsitzende Belorgey selbst, der dafür plädierte, die Regierung von dieser Idee der Festsetzung des Mindestalters bei 25 Jahren abzubringen. Als Kompromisslösung schlug er vor, die Mindestsicherung auch für Personen zwischen 18 und 25 Jahren, die bereits Kinder hatten, zugänglich zu machen. Ein von ihm vorgebrachter entsprechender Änderungsantrag wurde im Ausschuss mehrheitlich angenommen54 . Diese Lösung, die für den Konflikt innerhalb des PS gefunden worden war, schien auch mit den Ansichten der übrigen Parteien vereinbar zu sein. Denn nachdem das Plenum der Nationalversammlung die vom Ausschuss vorgeschlagene Formulierung bestätigt hatte, brachte auch der Senat keine weitere Kritik dagegen vor55 , sodass in den definitiven Gesetzestext schließlich die Formulierung Eingang fand, die in der ersten Sitzung des Sozialausschusses abgestimmt worden war und das Recht auf die Mindestsicherung eröffnete für »toute personne [. . . ]

50

51 52

53 54 55

Ibid.; vgl. auch Boulard, Note relative au minimum social d’insertion; Note à Pierre Mauroy, Objet: projet de loi sur le revenu minimum; Gilles Johannet, Note à Pierre Mauroy, Objet: Examen au bureau exécutif du projet de loi sur le revenu minimum d’insertion, 5.9.1988, ibid. Claude Évin, AN, Impressions, 9. Legislatur, Nr. 146, S. 7. Die Verfasser nennen die travaux d’utilité collective und die stages d’initiation à la vie professionnelle. Beide Programme wurden 1984 eingeführt und richten sich an arbeitslose Jugendliche. Erstere sehen das Verrichten gemeinnütziger Aufgaben vor, Letztere sind staatlich bezuschusste Praktika in Betrieben, vgl. Ministère de la Solidarité, Projet de loi relatif au revenu minimum d’insertion. Fiches argumentaires 13.7.1988, CAS, Nachlass Pierre Mauroy; F, S, La lutte contre le chômage de longue durée. Boulard, Note relative au minimum social d’insertion, CAS, Nachlass Pierre Mauroy. AN, Impressions, 9. Legislatur, Nr. 161, S. 154 f. Annales du Sénat. Première session ordinaire de 1988–1989, Nr. 57, Teil II, S. 17–19.

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qui est âgée de plus de vingt-cinq ans ou assume la charge d’un ou plusieurs enfants«56 . Mit dieser Kompromisslösung war also relativ schnell ein parteiübergreifender Konsens im französischen Parlament hergestellt worden, der sich allerdings in den folgenden Jahren auf europäischer Ebene als hochproblematisch herausstellen sollte. Mehrfach kritisierte der Europarat diese Regelung, die er als Verstoß gegen die Europäische Sozialcharta interpretierte57 . Denn mit mit der Festlegung des Mindestalters für das RMI auf 25 Jahre hatte Frankreich eine Altersgrenze gewählt, die sich deutlich von den Regelungen anderer Länder unterschied. Die Bundesrepublik oder auch Belgien58 garantieren Mindestsicherungen auch für jüngere Personen. Interessant ist, dass die Regelungen anderer Länder für die Diskussion des RMI-Gesetzes keine Rolle spielten. Weder wurde dazu aufgefordert, die französische Gesetzgebung an den Vorbildern dieser europäischen Regelungen zu orientieren – was für den Teil der Sozialisten, die sich für die generelle Senkung des Mindestalters aussprachen, doch eine wichtige Argumentationshilfe hätte sein können –, noch wurde die hohe Altersgrenze als bewusste Abgrenzung von den Sozialgesetzen anderer europäischer Länder präsentiert. Beides legt die Vermutung nahe, dass den Abgeordneten diese Bestimmungen der Mindestsicherungen anderer europäischer Länder nicht genau bekannt waren. Das stellt ein weiteres Argument für die Vermutung dar, dass die Orientierung an europäischen Modellen der Mindestsicherung in Frankreich bei der Einrichtung des RMI keine so große Rolle spielte wie zunächst angenommen. Wie die Frage nach dem Mindestalter löste auch der Aspekt der Öffnung des Gesetzes für in Frankreich lebende Ausländer schon vor Beginn der ersten Lesung innerhalb der sozialistischen Partei eine Kontroverse aus. Im Unterschied zur Frage nach dem Mindestalter wurde dieser Konflikt aber nicht in der ersten Lesung gelöst, sondern seine Diskussion erstreckte sich über alle drei Lesungen. Mit ihrem Gesetzesentwurf hatte die Regierung in dieser Hinsicht eine sehr restriktive Regelung verankern wollen: Anrecht auf das RMI sollten danach nur Ausländer haben, die sich seit zehn oder mehr Jahren regulär in Frankreich aufhielten und über eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung verfügten59 . Welche Überlegungen der Regierung standen hinter dieser restriktiven Regelung? In seiner Eingangsrede zur Eröffnung der ersten Lesung des Gesetzes im Plenum der Nationalversammlung erklärte Jean-Michel Belorgey: »On voit bien la philosophie du dispositif: toute immigration a en principe pris fin, sauf dérogation exceptionnelle et immigration familiale maîtrisée; si l’on faisait plus, 56 57 58 59

AN, JO. Lois et décrets, loi no 88-1088 du 1er décembre 1988 relative au revenu minimum d’insertion, Art. 2. C, D, Les grandes étapes de l’histoire du RMI, S. 30. Jan V, Le minimex en mutation en Belgique, in: P (Hg.), L’Europe face à la pauvreté, S. 169–194, hier S. 175. Claude Évin, AN, Impressions, 9. Legislatur, Nr. 146, S. 8.

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V. Exklusionsdebatte und Mindestsicherung in Frankreich, 1985–1988

on risquerait de relancer l’immigration clandestine et la xénophobie«60 . Dass der Einzug des Front national ins Parlament zwei Jahre zuvor den Hintergrund für diese Entscheidung bildet, ist wahrscheinlich. Mit der vorgenommenen Einschränkung verkleinerte die Regierung jedenfalls im Voraus die Angriffsfläche für Kritik der extremen Rechten. Nebenbei bemerkt handelt es sich um keinen zu dieser Zeit unüblichen Weg der Sozialgesetzgebung, den die Regierung aus dieser Motivation heraus einschlug, denn andere Sozialleistungen wie beispielsweise die Mindestrente oder das Behindertengeld waren 1988 sogar noch ausschließlich französischen Staatsbürgern vorbehalten61 . Trotzdem stieß diese im Regierungsentwurf enthaltene Regelung schon in der ersten Lesung des Gesetzes auf harsche Kritik, auch und vor allem in den Reihen der sozialistischen Partei. Es wurde moniert, der Regierungsentwurf sei im Hinblick auf die Bestimmungen für Ausländer zu restriktiv und schließe zu viele von ihnen vom Bezug der Mindestsicherung aus. Zustimmung fand schon nach kurzer Debatte im Sozialausschuss der Nationalversammlung ein Änderungsantrag des Ausschussvorsitzenden Belorgey, der die Mindestsicherung auch für Flüchtlinge und für Ausländer mit einer temporären Aufenthaltsgenehmigung und Arbeitserlaubnis zugänglich machte62 . Das Plenum der Nationalversammlung stimmte dieser Regelung anschließend zu63 – aber im Unterschied zu der Diskussion über die Altersbeschränkung, die mit dem Votum der Nationalversammlung weitgehend beendet war, ging der Streit über den Zugang von Ausländern zur Mindestsicherung weiter. Denn der Senatsausschuss, dem anschließend der von der Nationalversammlung umgeänderte und abgestimmte Entwurf vorgelegt wurde, verweigerte seine Zustimmung zum neuen Gesetzestext und schlug stattdessen vor, wieder zur restriktiveren Version des Gesetzes zurückzukehren. Als Begründung führte der Vorsitzende des Senatsausschusses, der zur Fraktion der Républicains indépendants gehörende Senator Pierre Louvot, an: Il ne semble en effet pas raisonnable d’ouvrir plus largement les règles d’accès au RMI pour les étrangers, sinon l’effet attractif de ce système serait trop important. De plus, une durée de présence sur le territoire français d’au moins dix ans semble un critère fiable à retenir pour témoigner de la volonté d’insertion de la personne. Abaisser ce critère à trois années de présence n’apporte pas les mêmes garanties64 .

Der Konflikt, der innerhalb des PS seinen Anfang genommen hatte, setzte sich nun also zwischen den verschiedenen Parteien fort. Wie wurde dieser Uneinigkeit beigelegt? Cytermann und Dindar erläutern: »Un compromis est trouvé en ouvrant le RMI à tous les étrangers titulaires depuis trois ans d’un titre de séjour 60 61 62 63 64

Jean-Michel Belorgey, AN, JO. Débats parlementaires, 4.10.1988, S. 639. C, D, Les grandes étapes de l’histoire du RMI, S. 30; B, Solidarität im Vorsorgestaat, S. 94–100. AN, Impressions, 9. Legislatur, Nr. 161, S. 167–170. AN, JO. Débats parlementaires, 10.10.1988, S. 737. Annales du Sénat. Première session ordinaire de 1988–1989, Nr. 57, Teil II, S. 29.

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leur permettant d’exercer une activité professionnelle, ainsi qu’aux réfugiés«65 . Sie nahmen damit Bezug auf den letztlich verabschiedeten Gesetzestext, in dem allen Flüchtlingen sowie ausländischen Arbeitnehmern mit einem Aufenthalt von mindestens drei Jahren in Frankreich und einer gültigen Arbeitserlaubnis der RMI-Bezug ermöglicht wurde. Diesem Kompromiss hatte die Nationalversammlung zugestimmt – der Senat allerdings nie, denn nach Ablehnung des Gesetzes durch den Senat hatte ein paritätisch besetzter Vermittlungsausschuss seine Arbeit aufgenommen. Nachdem es aber weder im Vermittlungsverfahren noch in der darauffolgenden erneuten Lesung in beiden Kammern zu einer Einigung gekommen war, forderte die Regierung, so wie dies in der Verfassung vorgesehen war, die Nationalversammlung zur endgültigen Entscheidung auf66 . Diese entschied sich dazu, den in ihrem Ausschuss erarbeiteten Text zur Abstimmung zu stellen67 . Sämtliche Änderungen, die der Senat bis zuletzt gefordert hatte, wurden damit hinfällig. Dazu gehört die restriktive Regelung für den Zugang von Ausländern zum RMI, die der Senat eingefordert hatte, aber auch andere Punkte. Sowohl die Finanzierung als auch die Verwaltung der Mindestsicherung durch den Staat widerstrebte den Senatoren, die eine stärker dezentrale Organisation der neuen Maßnahme einforderten68 . Der Widerstand des Senats gegen das Gesetz, der übrigens in keiner der hier zitierten Forschungsarbeiten erwähnt wird, ist aufschlussreich, obwohl er sich im verabschiedeten Gesetzt nicht wiederfindet. Denn er trägt zur Relativierung der These des »consensus historique«69 bei, indem er verdeutlicht, dass lebhafte Widerstände gegen die Mindestsicherung bis in die letzte Lesung des Gesetzes und auch darüber hinaus existierten. Von einem gemeinsamen Bild von Armut und Armutsbekämpfung kann hier also nicht die Rede sein. Stattdessen manifestieren sich in der Debatte unterschiedliche Vorstellungen von Armutsbekämpfung, die am Ende teils einfach überstimmt wurden.

3.4. Die Definition von Eingliederung als zentrale Streitfrage der Gesetzesdebatte Die Persistenz der unterschiedlichen Armutsbilder zeigt sich auch in der Debatte um die Eingliederung, die die größte Kontroverse in der Lesung des Gesetzes 65 66

67 68 69

C, D, Les grandes étapes de l’histoire du RMI, S. 30. S, U, Frankreich, S. 102 f.; vgl. auch das Schema des französischen Gesetzgebungsverfahrens, http://www2.assemblee-nationale.fr/decouvrir-l-assemblee /role-et-pouvoirs-de-l-assemblee-nationale/les-fonctions-de-l-assemblee-nationale/lesfonctions-legislatives/la-procedure-legislative (22.1.2019). Jean-Michel Belorgey, AN, Impressions, 9. Legislatur, Nr. 416, S. 3. Ibid., Nr. 357. Diese beiden Aspekte werden hier nicht weiter analysiert, da sie zur Leitfrage dieser Arbeit nur wenig beitragen. C, D, Les grandes étapes de l’histoire du RMI, S. 27.

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bildete. Wie erwähnt, war die Regierung weder mit der Bezeichnung revenu minimum d’insertion noch mit ihrer Forderung nach einer »nouvelle politique d’insertion«70 auf Widerstand gestoßen. Trotzdem wurde gerade der Aspekt der Eingliederung zu dem Thema, das in den Diskussionen des Gesetzesentwurfs den meisten Raum einnehmen und die schärfsten Kontroversen auslösen sollte. Denn mit der generellen Befürwortung der Eingliederungspolitik war die Frage nach der Form der Eingliederungspolitik noch nicht gelöst. Michel Autès hebt hervor, dass die Eingliederung nicht nur zum Dreh- und Angelpunkt des neuen Gesetzes gemacht worden war, sondern gleichzeitig auch dessen blinden Fleck darstellte71 . Der Soziologe spielt damit auf die fehlende Definition der Eingliederung im Gesetzestext an und zeichnet einen ersten großen Streitpunkt der Debatte vor. Gerade diese Frage nach der Definition der Eingliederung kann interessant sein, denn sie ermöglicht es, die Auffassung der politischen Parteien von Exklusion freizulegen. Die Parteien hatten sich den Begriff nämlich angeeignet und als Antonym mit dem Eingliederungsbegriff verbunden, ohne ihn dabei klar zu definieren. Die im Gesetzgebungsverfahren geäußerten Vorstellungen der Abgeordneten von Eingliederung lassen jedoch Rückschlüsse auf ihre Ideen von Exklusion zu. Um die beiden Extreme zu nennen: Die Definition von Eingliederungsmaßnahmen als rein berufliche Maßnahmen legt nahe, dass Exklusion vor allem als Ausschluss aus dem Arbeitsmarkt verstanden wurde. Spielen bei der Definition der Eingliederung dagegen auch soziale Maßnahmen eine Rolle, so verweist dies auf ein Verständnis von Exklusion als gesellschaftlichem Ausschluss. Was schlugen die verschiedenen Parteien als Inhalt der Eingliederungspolitik vor? Schon der Regierungsentwurf blieb eine Definition der Eingliederung schuldig. Er nannte zwar die Verpflichtung zur Eingliederung als eine wichtige Bedingung für den Bezug des RMI, verlor aber kein Wort über deren Ausgestaltung72 . Lediglich in der Argumentationshilfe des Sozialministeriums wurde erläutert, dass die Verfasser unter Eingliederung vor allem die Eingliederung ins Erwerbsleben verstanden73 . Gleichzeitig beschränkten sie damit den Katalog der möglichen Eingliederungsaktivitäten nicht auf berufsvorbereitende Maßnahmen, sondern ließen explizit Raum für soziale Maßnahmen. »Aider une personne en difficulté à mieux gérer son budget, à davantage s’occuper de ses enfants, à suivre des cours d’alphabétisation, à passer son permis de conduire, etc.«74 – auch das verstanden die Verfasser als Eingliederungsmaß-

70 71 72 73

74

Projet de loi relatif au revenu minimum d’insertion, 20.7.1988, S. 3. Michel A, Les paradoxes de l’insertion, in: C, L (Hg.), Le revenu minimum d’insertion, S. 93–120, hier S. 97. Claude Évin, AN, Impressions, 9. Legislatur, Nr. 146, S. 7. »L’insertion professionnelle sera le plus souvent l’objectif poursuivi«, Ministère de la Solidarité, Projet de loi relatif au revenu minimum d’insertion. Fiches argumentaires 13.7.1988, CAS, Nachlass Pierre Mauroy. Ibid.

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nahmen. Exklusion deuteten sie also hauptsächlich, aber nicht ausschließlich, als Ausschluss aus dem Arbeitsmarkt. Der Sozialausschuss der Nationalversammlung, an den der Gesetzesentwurf als Erstes weitergeleitet wurde, befasste sich ausführlich mit der Frage nach der Definition der Eingliederung – und blieb die Antwort darauf ebenfalls schuldig. Der Ausschussvorsitzende Belorgey sprach sich zwar eindeutig dafür aus, Eingliederung nicht nur als berufliche, sondern auch als soziale Maßnahme zu verstehen. In diesem Sinne beschrieb er Eingliederungspolitik auch als »une politique [. . . ] de maintien et de restauration des liens sociaux«75 . Das lässt darauf schließen, dass Belorgey Exklusion vor allem als Bruch der sozialen Bindungen sah. Die Ausschussmitglieder nahmen diese Definition jedoch nicht in den Gesetzestext auf, sondern formulierten stattdessen: L’insertion proposée aux bénéficiaires du revenu minimum d’insertion et définie avec eux et peut notamment prendre la forme d’activité d’intérêt collectif dans une administration, un organisme d’accueil public, associatif, à but non-lucratif etc.; d’activité d’insertion dans le milieu professionnel, éventuellement par convention avec des entreprises ou des associations selon les modalités fixées par voie réglementaire; de stages de formation qualifiante; de soutien individualisé ou d’actions de groupe destinés à aider les bénéficiaires à retrouver ou à développer leur autonomie de vie, tant sur le plan personnel que familial76 .

Auch der Ausschuss nahm also keine Definition der Eingliederungspolitik vor, sondern zählte stattdessen nur Beispiele für soziale und berufliche Eingliederungsmaßnahmen auf. Durch den Einschub des Adverbs notamment (vor allem) ließ er diese Liste bewusst offen und glaubte, damit die präzise Definition der Eingliederung umgehen zu können. Doch schon in der ersten Lesung im Plenum der Nationalversammlung setzten Abgeordnete die Frage danach wieder auf die Tagesordnung. »Nous restons sur notre faim en ce qui concerne le processus d’insertion«77 , monierte der liberale Abgeordnete Jean-Paul Virapoullé. In der anschließenden Debatte treten die beiden konkurrierenden Konzepte von Eingliederung deutlich hervor. Zwei Blöcke standen sich in der Nationalversammlung gegenüber, von denen einer eindringlich für die Ausdeutung von Eingliederung als rein berufliche plädierte. So zum Beispiel der sozialistische Abgeordnete Jean-Pierre Sueur, der unumwunden zugab: »La véritable insertion – ne nous leurrons pas – c’est d’abord l’emploi«78 . Sein Parteikollege Jean-Claude Boulard schloss sich dieser Meinung an: »Enfin, soyons lucides. Ceux qui viennent nous voir, dans nos permanences, qui sont basculés de dispositif de réinsertion en dispositif de réinsertion, nous disent: ›Ce que nous voulons, à terme, c’est un emploi‹. Là est le véritable instrument de la réinsertion«79 . Nicht nur sozialistische 75 76 77 78 79

AN, Impressions, 9. Legislatur, Nr. 161, S. 74. Ibid., S. 266. Jean-Paul Virapoullé, AN, JO. Débats parlementaires, 11.10.1988, S. 822. AN, JO. Débats parlementaires, 5.10.1988, S. 693. Ibid., S. 692.

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V. Exklusionsdebatte und Mindestsicherung in Frankreich, 1985–1988

Abgeordnete vertraten diese Position, sondern auch konservative und liberale. Der RPR-Abgeordnete Jean-Pierre Delalande äußerte sich ausführlich zu diesem Thema, führte Beispiele aus seinem eigenen Wahlkreis an und forderte am Schluss seines Plädoyers für berufliche Eingliederungsmaßnahmen: »Au bout du compte, c’est par le travail que passe la solution de la pauvreté«80 . Der UDF-Abgeordnete Francisque Perrut schloss sich ihm an81 . Die Kontroverse lässt sich insofern nicht auf Parteidifferenzen reduzieren, sondern die Frage nach der Definition der Eingliederung spaltete die Nationalversammlung in zwei Blöcke, deren Grenzen nicht mit den Parteigrenzen identisch waren. Laut Serge Paugam dominierte die hier dargestellte Auffassung von Eingliederung als Eingliederung in den Arbeitsmarkt die parlamentarische Debatte82 . Michel Autès stimmt dieser Meinung zu, indem er über die Diskussion in der Nationalversammlung urteilt: »Tout se passe comme si la conception de l’insertion était tirée en avant par l’idée que la vraie insertion, la seule, c’est l’emploi«83 . In der Debatte kristallisiert sich aber deutlich auch eine zweite Position heraus, die Eingliederungspolitik nicht auf die berufliche Komponente reduzierte. Unter anderem war es Sozialminister Évin selbst, der behauptete: »L’insertion sociale est multiple: de la formation aux activités d’intérêt général sans oublier l’économie sociale. Le champ est large«84 . Die Aussage lässt auf eine vielschichtige Auffassung von Exklusion schließen, die der Sozialminister in seinen Ausführungen auch erklärte. Exklusion, so Évin, bedeute den Ausschluss vom Arbeitsmarkt, von Bildung, Wohnung und medizinischer Versorgung. Analog dazu müssten Eingliederungsaktivitäten sich auch auf diese Bereiche richten85 . Zahlreiche Abgeordnete unterstützten diese Auffassung. Der RPR-Abgeordnete Jean-Yves Chamard führte beispielsweise aus: Mais, au fait, qu’entendons-nous par insertion? Si l’on veut être au plus près des problèmes à traiter, il est indispensable de mettre en œuvre une très grande variété de solutions. Cela pourra aller de la cure de désintoxication ou du cours d’alphabétisation jusqu’à une occupation à temps partiel dans une collectivité locale, une association, voire – et ce sera une nouveauté – une entreprise agréée pour accueillir des personnes en voie de réinsertion86 .

Ähnlich argumentierte die Sozialistin Denise Cacheux: Ce peut être des contrats de formation, d’alphabétisation quelquefois, de travail. Il peut s’agir, même simplement, avant même une insertion professionnelle, d’une insertion sociale. Regardons la réalité sur le terrain. Certaines familles ont totalement perdu la notion des horaires, de l’obligation de vivre normalement, de se lever le matin, de faire sa toilette, etc. On pourrait exiger d’une famille qu’on réinsère qu’en contrepartie, elle reprenne l’habitude 80 81 82 83 84 85 86

Ibid., S. 695. Ibid., S. 705. P, La société française et ses pauvres, S. 101. A, Les paradoxes de l’insertion, S. 116. AN, JO. Débats parlementaires, 4.10.1988, S. 633. Ibid. AN, JO. Débats parlementaires, 5.10.1988, S. 689.

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3. Die Verabschiedung des Gesetzes über die garantierte Mindestsicherung

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d’envoyer les enfants régulièrement à l’école, d’aller à des réunions de parents d’élèves. Les formes peuvent être multiples87 .

Zwei konkurrierende Deutungen von Eingliederung – und damit auch von Exklusion – standen sich damit in der Debatte gegenüber. Während ein Teil der Abgeordneten Exklusion als reines Arbeitsmarktproblem sah und dementsprechend lösen wollte, plädierten die übrigen Abgeordneten für eine vielschichtige Definition von Exklusion und forderten entsprechend eine Eingliederungspolitik, die über berufsvorbereitende Maßnahmen hinausgeht. Vertreter der jeweiligen Positionen fanden sich in unterschiedlichen Parteien; der Streitpunkt lässt sich also nicht auf eine reine Parteikontroverse reduzieren. Wie wurde diese Streitfrage gelöst? Kurzgefasst: überhaupt nicht. Obwohl die Abgeordneten der Nationalversammlung explizit eine Definition der Eingliederung gefordert und diese kontrovers diskutiert hatten, stimmten sie am Ende dem Vorschlag ihres Ausschusses zu. Sie nahmen damit eine Liste mit Eingliederungsmaßnahmen – sowohl beruflicher als auch sozialer – an Stelle einer präzisen Definition in den Gesetzestext auf und ließen diese durch das Adverb »notamment« explizit offen88 . Auch die folgenden Lesungen änderten nichts mehr an diesem Artikel, sodass diese Formulierung Eingang in das Gesetz fand89 . Diese Lösung rückt das einleitend zitierte Urteil des »consensus historique«90 in ein neues Licht, denn sie verdeutlicht, dass hinter der parteiübergreifenden Zustimmung zum RMI-Gesetz keine einheitlichen Auffassungen von Armut und Armutsbekämpfung standen. Unterschiedliche Definitionen von Exklusion und Eingliederung prallten in der Debatte aufeinander. Die Diskussion brachte keine Einigung; das Fortbestehen der unterschiedlichen Meinungen wurde im Gesetzestext durch eine bewusst vage gewählte Formulierung verschleiert. Insofern lässt das einstimmige Abstimmungsergebnis nicht auf einen Konsens über Armut und Armutsbekämpfung schließen, sondern verdeckt nur den Blick auf die offensichtlich weiter bestehenden unterschiedlichen Deutungsansätze. Was trägt die Debatte um die Eingliederung darüber hinaus aber zur Frage nach den Brüchen im Armutsbild und der Armutspolitik bei? Viele Abgeordnete hatten die berufliche Komponente der Eingliederung betont; das Gesetz zählte außerdem vor allem Praktika, Ausbildungsprogramme und gemeinnützige Aktivitäten als Eingliederungsmaßnahmen auf. Einige Forscher hat dies dazu verleitet, die französische Eingliederungspolitik als eine Variante der Workfare-Politik zu betrachten, die staatliche Transferleistungen mit einer

87 88 89 90

Ibid., 11.10.1988, S. 822. Vgl. die Liste der verschiedenen Gesetzesänderungen in: Annales du Sénat. Première session ordinaire de 1988–1989, Nr. 57, Teil II, S. 133. AN, JO. Lois et décrets, loi no 88-1088 du 1er décembre 1988 relative au revenu minimum d’insertion, Art. 37. C, D, Les grandes étapes de l’histoire du RMI, S. 27.

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V. Exklusionsdebatte und Mindestsicherung in Frankreich, 1985–1988

Verpflichtung zur Arbeitsaufnahme verknüpft91 . So beispielsweise Sylvie Morel, die urteilt: »L’insertion est à la France ce que le workfare est aux États-Unis«92 . Andere, wie Jean-Claude Barbier, plädieren für eine differenziertere Betrachtung, insbesondere mit dem Hinweis darauf, dass die im RMI vorgesehenen Eingliederungsaktivitäten nicht ausschließlich auf den Arbeitsmarkt ausgerichtet seien93 . Die Bezeichnung »actions d’insertion sociale et professionnelle«94 , also berufliche und soziale Eingliederungsaktivitäten, im Gesetzestext, wie auch die Tatsache, dass die Liste der Eingliederungsmaßnahmen auch soziale Hilfen umfasste, unterstützen dieses letzte Argument. Die Eingliederung als französische Ausprägung des Workfare aufzufassen, greift damit zu kurz. Stattdessen kann man mit Buhr, Leisering und Traiser-Diop hervorheben, dass Frankreich sich mit dieser Definition von Eingliederung deutlich von anderen Ländern abhebt, die Eingliederung häufig auf ihre berufliche Komponente reduzieren95 . Wie die Analyse gezeigt hat, wäre dies auch im Sinne vieler französischer Abgeordneter gewesen. Jedoch hatten sie sich damit nicht durchgesetzt: Der letztlich verabschiedete Gesetzestext mochte unpräzise sein, aber er definierte eindeutig auch soziale Maßnahmen als Eingliederung und lässt durch die Offenheit der Liste weiteren Raum dafür. Ein weiterer Bruch mit den tradierten Armutsbildern wird an dieser Debatte also deutlich. Wie gezeigt, hatte schon die Diskussion der neuen Armut zu Beginn des Jahrzehnts den Abschied von einigen traditionellen Armutsbildern eingeläutet, zum Beispiel im Hinblick auf die Dimensionen, die Ursachen und den gesellschaftlichen Stellenwert von Armut. Die hier skizzierte parlamentarische Debatte um Exklusion und Eingliederung zeigt, dass materielle Not jetzt auch erstmals im Untersuchungszeitraum von den politischen Entscheidungsträgern als Problem der gesellschaftlichen Teilhabe der Betroffenen gesehen wurde. Armutsbekämpfung wurde entsprechend nicht nur auf dem Arbeitsmarkt verortet. Durch die Definition von Eingliederungsmaßnahmen als soziale Maßnahmen wurde diese Auffassung auch im Gesetz festgeschrieben. Insofern kann der Aussage André Gueslins zugestimmt werden: »Le revenu minimum d’insertion [. . . ] représente une avancée con-

91

92 93 94 95

Jean-Pierre T, Les nouvelles régulations politiques de la question sociale: Illustrations en Suisse d’un phénomène »global«, in: Déviance et société 2 (2002), S. 221–231, hier S. 224. Sylvie M, France et États-Unis. Les politiques d’»insertion« et de »workfare« en matière d’assistance sociale, in: Les cahiers du SET-METIS 1 (1996), S. 43–57, hier S. 48. Jean-Claude B, Comparer insertion et »workfare«?, in: Revue française des affaires sociales 4 (1996), S. 7–27, hier S. 19. AN, JO. Lois et décrets, loi no 88-1088 du 1er décembre 1988 relative au revenu minimum d’insertion, Art. 34. Lutz L, Petra B, Ute T-D, Soziale Grundsicherung in der Weltgesellschaft. Monetäre Mindestsicherungssysteme in den Ländern des Südens und des Nordens. Weltweiter Survey und theoretische Verortung, Bielefeld 2006, S. 59.

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3. Die Verabschiedung des Gesetzes über die garantierte Mindestsicherung

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sidérable en matière sociale et, au-delà, en matière de représentation de la pauvreté«96 . Eine zweite Kontroverse entfachte sich um den Aspekt der Eingliederung. Von Robert Lafore wurde diese gar als Hauptproblem der gesamten Gesetzesdiskussion bezeichnet, nämlich die Frage, inwiefern die Eingliederung eine Verpflichtung für die Empfänger der Mindestsicherung darstellen sollte97 . Laut Nicolas Duvoux zeigt sich in dieser Hinsicht in der Debatte: »l’opposition entre des vues de ›droite‹ (le RMI comme un engagement individuel à s’insérer) et des vues de ›gauche‹ (le RMI comme un droit inconditionnel)«98 . Dass auch hier die Meinungsverschiedenheiten aber nicht so einfach auf eine Streitfrage zwischen den beiden großen politischen Lagern reduziert werden können, fällt schon beim Lesen des ersten Gesetzesentwurfes auf. Denn hier war der Sozialminister – im Unterschied zur Definition der Eingliederung – keineswegs vage geblieben, sondern hatte klar herausgestellt: »L’intéressé doit souscrire l’engagement de participer aux activités d’insertion qui lui seront proposées en tenant compte de sa situation particulière. [. . . ] Si l’intéressé ne respecte pas l’engagement qu’il a pris, le versement de l’allocation est interrompu et une nouvelle demande ne peut être présentée qu’après l’expiration d’un délai fixé par décret«99 . Deutlich hob die Regierung also hervor, welche Rolle die Eingliederung spielen sollte, denn die Verpflichtung zur Teilnahme an Eingliederungsmaßnahmen machte sie hier ganz klar zu einer Voraussetzung für den Bezug der monatlichen Geldleistungen. Kam der Empfänger dieser Verpflichtung nicht nach, so konnten die Zahlungen eingestellt werden. Die Argumentationshilfe drückte die gleiche Idee noch eindeutiger aus: Dort wurden die Eingliederungsmaßnahmen als »contrepartie«100 , als Gegenleistung für den Erhalt der Zahlungen präsentiert. Auch die Auseinandersetzung über diesen Artikel war vorprogrammiert – diesmal aber nicht aufgrund eines vage formulierten Gesetzesentwurfs, denn hier drückte der Sozialminister seine Vorstellungen deutlich aus. Er lehnte er sich mit dieser Formulierung im Prinzip an die Bestimmungen der verschiedenen in französischen Gemeinden praktizierten Mindestsicherungssysteme an, von denen fast alle die Verpflichtung zur gemeinnützigen Arbeit oder zu Ausund Weiterbildungsmaßnahmen vorsahen. Mit dem RMI sollte diese seit über 20 Jahren auf kommunaler Ebene praktizierte Regelung also auch auf nationaler Ebene angewandt werden. Der Sozialminister entfernte sich damit jedoch von den Vorstellungen der Mindestsicherung, die seine Partei im vorausgehenden

96 97 98 99 100

G, Une histoire de la grande pauvreté, S. 165. L, Les trois défis du RMI, S. 569. Nicolas D, Le RMI. Retour sur un tournant des politiques d’insertion, in: Regards croisés sur l’économie 4 (2008), S. 182–191, hier S. 185. Claude Évin, AN, Impressions, 9. Legislatur, Nr. 146, S. 10. Ministère de la Solidarité, Projet de loi relatif au revenu minimum d’insertion. Fiches argumentaires, 13.7.1988, CAS, Nachlass Pierre Mauroy.

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V. Exklusionsdebatte und Mindestsicherung in Frankreich, 1985–1988

Jahr in der Öffentlichkeit vertreten hatte, zum Beispiel im Gesetzesantrag des PS für eine Mindestsicherung im Dezember 1987 oder in der Ausarbeitung der Délégation nationale aux affaires sociales et à l’emploi im Mai 1988, in denen weder von einem Abbruch der Zahlung noch von einer Verpflichtung zur Eingliederung als Voraussetzung für die finanzielle Unterstützung die Rede gewesen war101 . Noch bevor das Konzept des Sozialministers mit den Ideen anderer Parteien verglichen wird, kann an dieser Stelle schon gesagt werden, dass diese im Gesetzesentwurf der Regierung enthaltenen Formulierungen schon mit den Vorstellungen vieler seiner Parteikollegen nicht übereinstimmten und mit großer Wahrscheinlichkeit zu parteiinternen Streitigkeiten führen würden. Tatsächlich entfachte sich der erste Konflikt an dieser Frage schon in der ersten Lesung des Gesetzes im Sozialausschuss – unter anderem, weil gerade der Ausschussvorsitzende Belorgey anscheinend zu dem Teil der Sozialisten gehörte, die im Gegensatz zum Sozialminister für das bedingungslose Anrecht auf die Mindestsicherung eintraten. Schon in der Einleitung des Ausschussberichts umriss er seine Vorstellung wie folgt: »On sort complètement d’une logique de contrepartie, c’est-à-dire qu’on renonce à subordonner comme dans le cadre des compléments locaux de ressources, l’acquisition de la prestation à l’identification et à la mise en œuvre préalables d’actions d’insertion professionnelle ou sociale, même très largement conçues«102 . Der frontale Widerspruch zum Gesetzesentwurf des Sozialministers wird deutlich, denn nachdem Évin die Eingliederungsaktivitäten dort explizit als Gegenleistung für die finanzielle Leistung aufgebaut hatte, fordert Belorgey hier, das Prinzip von Leistung und Gegenleistung insgesamt aus dem Gesetz zu verbannen. Schon in dieser frühen Phase der Lesung entfachte sich also eine Kontroverse um die Frage nach den Sanktionen, und zwar nicht zwischen den verschiedenen Parteien, sondern zunächst innerhalb der sozialistischen Partei. Es war auch der mehrheitlich sozialistisch besetzte Sozialausschuss der Nationalversammlung, der den von der eigenen Regierung eingebrachten Gesetzesentwurf in dieser Hinsicht abänderte und die restriktiven Formulierungen teilweise aufweichte. Zwar hatte Sozialminister Évin in einem Brief an die sozialistische Fraktion nochmals seine Meinung deutlich gemacht. »Il n’est pas choquant de prévoir la suspension du RMI«103 , erklärte der Minister darin. Weiter plädierte er für die Einführung eines Eingliederungsvertrags, dessen Bruch die Einstellung der Zahlungen bedeuten sollte104 . Seine Position konnte Évin außerdem

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102 103 104

Pierre Joxe, AN, Impressions, 8. Legislatur, Nr. 1212, S. 1–11; Parti socialiste, Délégation nationale aux affaires sociales et à l’emploi: Le minimum social d’insertion, 3.5.1988, CAS, Nachlass Pierre Mauroy. AN, Impressions, 9. Legislatur, Nr. 161, S. 27. Claude Évin, Brief vom 15.9.1988, CAS, Nachlass Pierre Mauroy. »Tout contrat comporte une obligation«, argumentierte der Sozialminister in diesem Kontext u. a., vgl. ibid.

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3. Die Verabschiedung des Gesetzes über die garantierte Mindestsicherung

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beim Hearing des Sozialausschusses darlegen105 . Bei der anschließenden Anhörung der Verbände folgten allerdings energische Plädoyers gegen diesen Vorschlag. Auch wenn die Verbände die Einführung des Vertrags nicht grundsätzlich ablehnten, so forderten sie doch nachdrücklich, den Vertrag nicht als Mittel zur Festschreibung der Sanktionen zu nutzen: »Le contrat d’insertion [. . . ] ne doit pas être conçu comme une sanction ou une contrepartie au RMI«106 . Der Ausschuss neigte zu dieser weniger restriktiven Lösung, verbannte die Sanktionen aber nicht ganz aus dem Gesetzestext. Letztendlich weichte er den restriktiven Gesetzesentwurf in zweierlei Hinsicht auf. Erstens legte er fest, dass nicht die Verwaltung darüber entschied, welche Eingliederungsmaßnahmen dem RMI-Empfänger auferlegt werden sollten, sondern dass stattdessen die Empfänger selbst an dieser Entscheidung beteiligt werden sollten107 . Zweitens schrieb er vor, dass die Auszahlung des Existenzminimums direkt auf die Prüfung der Bedürftigkeit und der übrigen Kriterien (Alter, Aufenthaltsgenehmigung etc.) einsetzen sollte. Erst in den drei folgenden Monaten sollte der Eingliederungsvertrag mit dem Betroffenen ausgehandelt werden. Ein Abbruch der Zahlungen in dieser Zeit war nicht vorgesehen, sehr wohl aber danach. Denn der Sozialausschuss behielt die Regelung bei, dass der Bruch des Eingliederungsvertrags auch zum Abbruch der Zahlung führen sollte – auch wenn er den RMI-Empfängern die Möglichkeit einer sofortigen neuen Antragsstellung gab und dafür keine Karenzzeit verlangte108 . Auch das Plenum der Nationalversammlung stimmte dieser Lösung zu, die Laurent Geffroy als ein »conditionnement ex-post«109 bezeichnet110 . Zahlreiche Parlamentarier hatten allerdings schon während der Ausschusssitzungen Kritik an dieser Regelung geübt und entsprechende Änderungsanträge gestellt – beispielsweise Adrien Zeller (UDF) und Jean-Yves Chamard (RPR), die beide gerne die im Regierungsentwurf vorgesehene Frist zwischen dem Vertragsbruch und dem Neuantrag wiederhergestellt hätten, um so die Verpflichtung der Empfänger stärker zu betonen111 . Ihre Anträge weisen darauf hin, dass der Konflikt, der sich innerhalb des PS entfacht hatte, auch zwischen den Parteien 105

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107 108 109 110 111

Auch dort machte sich der Minister wieder für den Eingliederungsvertrag stark, u. a. mit den Worten: »La notion de contrat est essentielle [. . . ], il convient de conserver des garanties contre des éventuels effets pervers«, vgl. AN, Impressions, 9. Legislatur, Nr. 161, S. 109. Vertreter von ATD-Quart Monde, ibid., S. 115; auch die Vertreter der FNARS sprachen sich nachdrücklich für diese Lösung aus und beschrieben den Eingliederungsvertrag »comme la reconnaissance d’un droit en excluant tout caractère de sanction ou de contrepartie à un revenu«, ibid., S. 116. Als Formulierung schlägt der Ausschuss vor: »L’insertion proposée aux bénéficiaires du revenu d’insertion et définie avec eux«, vgl. ibid., S. 266. Ibid., S. 260. G, Garantir le revenu, S. 56. Vgl. die Plenardebatte zu diesem Artikel, AN, JO. Débats parlementaires, 11.10.1988, S. 777–781. AN, Impressions, 9. Legislatur, Nr. 161, S. 197–200.

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V. Exklusionsdebatte und Mindestsicherung in Frankreich, 1985–1988

schwelte. Dafür spricht auch, dass die Gesetzesversion des Ausschusses nur mit den Stimmen der PS-Abgeordneten verabschiedet wurde. Die Mitglieder der anderen Parteien enthielten sich; dabei begründeten die RPR-Abgeordneten ihre Enthaltung mit der Kritik: »Le lien prestation-insertion a été profondément dénaturé«112 . Auch der Senatsausschuss hob als einen der klärungsbedürftigen Aspekte die »liaison entre l’insertion et le versemente de l’allocation«113 hervor, änderte aber nichts an der grundsätzlichen Regelung, die die Nationalversammlung getroffen hatte114 . Das »conditionnement ex-post«115 fand daher Eingang in den letztlich verabschiedeten Gesetzestext116 . In der Forschung wurde diese Entscheidung der Parlamentarier enthusiastisch beurteilt. André Gueslin hebt hervor: »Pour la première fois de l’histoire de France, l’État accepte de verser régulièrement un revenu sans contrepartie de travail. L’adoption du RMI manifeste un déplacement de la perception qu’avaient les élites politiques de la pauvreté [. . . ]. L’antique taxonomie entre bon pauvre au travail et mauvais pauvre (le refusant) n’a plus de raison d’être«117 . Dem ersten Teil der Aussagen des Sozialhistorikers kann ohne Bedenken zugestimmt werden. Eine Gegenleistung in Form von Arbeit verlangte das neue RMI-Gesetz definitiv nicht, denn die Eingliederungsaktivitäten konnten auch in sozialen Maßnahmen bestehen und sahen nicht zwangsweise Arbeit vor. Dass dies als armutspolitische Neuheit zu bewerten ist und auf weitere Brüche im Armutsbild schließen lässt, wurde ebenfalls bereits erläutert. Wie steht es aber mit Gueslins Behauptung, dass mit dem neuen Gesetz die Unterscheidung zwischen würdigen und unwürdigen Armen aufgelöst wurde? Auch Robert Castel hatte zunächst dieses Urteil gefällt: Der Eingliederungsvertrag stellt eine Gegenleistung für die Unterstützungsvergabe dar, die den Leistungsempfänger an die Umsetzung eines Projekts bindet, die ebenso sehr aber auch die nationale Gemeinschaft mit einbindet, die ihm bei der Umsetzung helfen muss. Darin kommt das Bemühen zum Ausdruck, das jahrhundertealte Bild des »schlechten Armen«, der wie ein Schmarotzer lebt, obwohl er arbeiten müsste, zu zerschlagen118 .

Nur ein Jahr später revidierte der Soziologe jedoch seine Meinung und bewertete das Gesetz auf eine neue Art: Der Eingegliederte bezahlt seine Eingliederung mit einer Reihe von Gegenleistungen. Und da er nicht mit seiner Arbeit bezahlen kann, verlangt man von ihm den Beweis seines guten Willens, der Teilnahme, des Engagements für die gute Sache. So kann die Eingliederung 112 113 114 115 116 117

118

So Jean-Yves Chamard während der Ausschusssitzung, vgl. ibid., S. 252. Annales du Sénat. Première session ordinaire de 1988–1989, Nr. 57, Teil II, S. 60. Ibid., S. 50 f. G, Garantir le revenu, S. 56. AN, JO. Lois et décrets, loi no 88-1088 du 1er décembre 1988 relative au revenu minimum d’insertion, Art. 16. G, Une histoire de la grande pauvreté, S. 165; die gleiche Behauptung vom RMI als Abschied vom Bild des würdigen und unwürdigen Armen findet sich auch bei: B, W, Armut, S. 39. C, Die Metamorphosen der sozialen Frage, S. 374.

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3. Die Verabschiedung des Gesetzes über die garantierte Mindestsicherung

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die alte Dichotomie zwischen guten und schlechten Armen reaktivieren. – In mancher Hinsicht ähneln die Eingliederungspolitiken den Moralisierungsstrategien gegenüber der Arbeiterklasse im 19. Jahrhundert119 .

Die genaue Betrachtung des Gesetzestextes liefert mehr Argumente für dieses letzte Urteil Castels. Denn obwohl das Gesetz die RMI-Empfänger nicht zur Arbeit verpflichtete, so verpflichtete es sie doch zur Eingliederung. Der im Gesetz verankerte Eingliederungsvertrag, dessen Bruch zur Einstellung der Zahlungen führte, lässt diese Verpflichtung deutlich hervortreten. Durch die Definition von Eingliederungsaktivitäten als soziale und berufliche Maßnahmen wurde die traditionelle Unterscheidung von würdigen und unwürdigen, also arbeitswilligen und arbeitsunwilligen Armen, zwar tatsächlich hinfällig. Gleichzeitig wurde sie aber durch die neue Unterscheidung von eingliederungswilligen und eingliederungsunwilligen Armen ersetzt. Die hinter diesen Konzepten stehende Idee blieb die gleiche: Der Arme muss sich seine Unterstützung verdienen. Insofern kann in dieser Frage kein Abschied von einem tradierten Armutsbild festgestellt werden, sondern lediglich seine Anpassung an die aktuellen Umstände. Warum verabschiedeten sich die Abgeordneten vom Bild des arbeitsunwilligen Armen? Sicher ließ sich dieses Bild bei einer Arbeitslosenquote von über zehn Prozent nur schwer aufrechterhalten. Eine Gegenleistung in Form von Arbeit konnte nicht verlangt werden, wenn es nicht ausreichend Arbeit gab. Die Idee, dass der Arme sich seine Unterstützung verdienen muss, wollten die Abgeordneten aber trotzdem erhalten. Seinen guten Willen musste der Arme zukünftig in der Bereitschaft zur Eingliederung, nicht zur Arbeit zeigen. Insofern trifft die These vom Umbruch der Repräsentation der Armut in der Zeit nach dem Boom, die schon bestätigt wurde, hier nicht vollständig zu. Denn das Bild vom würdigen und unwürdigen Armen erwies sich als so zählebig, dass es auch die zahlreichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbrüche der 1970er und 1980er Jahre überlebte. Die französischen Politiker verabschiedeten sich hier nicht von diesem Bild, sondern passten es lediglich an die neuen Verhältnisse an. Das Kapitel hat die These vom historischen Konsens um die Mindestsicherung widerlegt. Armut und Armutsbekämpfung waren auch 1988 noch große Streitthemen im französischen Parlament, die nicht nur zwischen den Parteien Konflikte entfachten, sondern auch parteiintern. Das Abstimmungsergebnis des Gesetzes mag diese Differenzen verdecken und der Gesetzestext sie durch unpräzise oder bewusst offene Formulierungen kaschieren – in der Debatte traten sie aber klar zum Vorschein. Trotzdem kann die Verabschiedung des RMI als wichtiger Wendepunkt und als Kulminationspunkt der Armutsdebatte bezeichnet werden. Denn auch wenn einzelne Streitpunkte weiter bestanden, so trat doch klar der Konsens über die generelle Notwendigkeit der Armutsbe-

119

D., Nicht Exklusion, sondern Desaffiliation, in: Das Argument 217 (1996), S. 775–780, hier S. 779.

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V. Exklusionsdebatte und Mindestsicherung in Frankreich, 1985–1988

kämpfung hervor. Auch wenn die Abgeordneten sich lange über Details des Gesetzes stritten, zweifelte keiner von ihnen daran, dass Armut ein drängendes politisches Problem darstellte, auf das der französische Sozialstaat mit neuen Maßnahmen reagieren musste. Darüber hinaus zeigten sich in der Debatte auch – trotz einiger Kontinuitäten – verschiedene Umbrüche in der Repräsentation von Armut, die sich im neuen Gesetz niederschlagen. Im Gesetz zeigte sich erstens die volle Verantwortung, die der Staat mit der Einführung des RMI für die Armen übernahm. Zweitens zeigte sich die Anerkennung von Armut als Problem der Unsicherheit, die durch die Garantie eines monatlichen Existenzminimums bekämpft werden sollte. In der Kombination dieser monatlichen Zahlung mit Eingliederungsmaßnahmen zeigt sich drittens, dass der französische Staat es jetzt auch als seine Verantwortung ansah, nicht nur die materielle Subsistenz seiner Bürger zu garantieren, sondern auch ihre gesellschaftliche Teilhabe. Die Auffassung von Armut als gesellschaftlichem Ausschluss der Betroffenen und als Bedrohung der sozialen Kohäsion hatte sich damit auch in der politischen Sphäre durchgesetzt. Das neue Gesetz bedeutete außerdem einen Bruch mit der bisherigen Logik des französischen Systems der sozialen Sicherung. Einige Forscher haben dies bestritten, so beispielsweise Xavier Prétot, der das RMI als simple Erweiterung des französischen Systems der verschiedenen Kategorien von Mindestsicherungen für bestimmte Bevölkerungsgruppen interpretiert120 . Dieser Auffassung widersprechen Pierre Rosanvallon121 und Robert Lafore. Letzterer führt aus: »Le RMI rompt avec la logique prestataire antérieure [. . . ] qui découpait dans la population des catégories homogènes définies à partir d’un aléa, d’un risque ou d’un manque spécifique [. . . ] en s’adressant à une population composite et hétérogène uniquement regroupé sur le critère du niveau de ressources«122 . Genau das, was Lafore hier beschreibt, stellt einen Bruch mit der bisherigen Logik des Sicherungssystems dar. Mit dem RMI kam nicht eine weitere Mindestsicherung für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe hinzu, sondern das neue Gesetz sicherte erstmals alle Bedürftigen ab, unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe. Erstmals im Untersuchungszeitraum verabschiedete Frankreich ein Gesetz, das nicht die Behinderten, die alten Menschen, die Arbeitslosen oder die Alleinerziehenden absicherte, sondern die Armen insgesamt. In den vorausgehenden Kapiteln wurde schon gezeigt, dass Armut sich als Kategorie sozialpolitischen Handelns in Frankreich zu institutionalisieren begann. Das RMI-Gesetz stellt eine wichtige Wegmarke bei diesem Prozess dar, denn mit ihm richtete sich zum ersten Mal in der V. Republik ein Gesetz auf die Kategorie der Armen aus. 120 121 122

Eine Systematisierung dieser Forschungsmeinungen findet sich bei: G, L’insertion, S. 15–18. R, La nouvelle question sociale. Zit. nach G, L’insertion, S. 16.

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3. Die Verabschiedung des Gesetzes über die garantierte Mindestsicherung

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Die Einführung einer generellen Mindestsicherung für alle Bedürftigen stellt also einen Bruch mit der bisherigen sozialstaatlichen Logik dar. Indem er sich von der Logik der Kategorien von Mindestsicherungen für bestimmte Bevölkerungsgruppen abwandte, verließ der französische Sozialstaat seinen Pfad ein Stück weit. Auch dies geschah erstmals im Untersuchungszeitraum, denn die Pfadabhängigkeit war durchgehend hoch gewesen. Die Ursache für diese Umorientierung konnte ebenfalls aufgezeigt werden: Es war nicht die Entdeckung der Armut an sich gewesen; auf diese hatten die Regierungen nur mit kurzfristigen Programmen reagiert, mit denen sie die Lücken im sozialen Sicherungssystem notdürftig stopfen, aber grundsätzlich nichts am System ändern wollten. Erst die Entdeckung von Armut als dauerhaftem Problem vor dem Hintergrund einer strukturellen Verschlechterung der Wirtschaft hatte die politischen Entscheidungsträger dazu gebracht, Änderungen am Sozialstaat vorzunehmen. Mit der Einführung der Mindestsicherung näherte sich Frankreich prinzipiell den anderen westeuropäischen Ländern an, von denen die meisten schon vor 1988 ein solches Gesetz verabschiedet hatten. Insofern lässt sich die Verabschiedung des RMI als westeuropäische Konvergenz lesen. Durch die Komponente der Eingliederung setzte Frankreich aber deutlich eigene Akzente, die sich zu diesem Zeitpunkt in keinem anderen Land wiederfanden und die französische Mindestsicherung im Ländervergleich hervortreten ließen. Während die anderen Länder die Eingliederung meist auf ihre berufliche Komponente reduzierten123 , zählte Frankreich auch gesellschaftliche Eingliederungsmaßnahmen dazu. Diese unterschiedliche Gestaltung der Mindestsicherung kann auf eine unterschiedliche Formulierung der Armutsfrage zurückgeführt werden. Die hier untersuchten Akteure formulierten Armut seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre als Frage der Exklusion, des gesellschaftlichen Ausschlusses. Zu diesem Zeitpunkt war Frankreich in Westeuropa noch allein mit dieser Analyse124 – und daher auch als einziges Land allein mit den sozialen Eingliederungsmaßnahmen als Teil der Mindestsicherung. Die unterschiedliche Kommunikation der Armutsfrage erklärt insofern, warum sich der französische Sozialstaat in dieser Hinsicht von anderen westeuropäischen Sozialstaaten weg entwickelte. Der vergleichende Blick auf beide Länder am Ende der 1980er Jahre legt große Unterschiede der jeweiligen Armutsdebatte offen. Noch bis zur Mitte des Jahrzehnts hatten beide große Parallelen aufgewiesen, um sich dann aber in grundsätzlich andere Richtungen zu entwickeln. In der Bundesrepublik war die Debatte um die neue Armut zum Ende des Jahrzehnts verebbt und ohne sozialpolitische Folgen geblieben. In Frankreich dagegen haben sich die festgestellten Tendenzen in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre noch weiter fortgesetzt und gesteigert. Insbesondere die Politisierung der Armutsfrage und die Institutionalisierung von Armut als Kategorie der Debatte, aber auch 123 124

L, B, T-D, Soziale Grundsicherung in der Weltgesellschaft, S. 59. K, Exklusion, S. 40–52.

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V. Exklusionsdebatte und Mindestsicherung in Frankreich, 1985–1988

der sozialpolitischen Praxis, haben sich weiter fortgesetzt. Den Höhepunkt dieser Entwicklung im Untersuchungszeitraum markiert die Verabschiedung des Gesetzes über das garantierte Mindesteinkommen. Diese verdeutlicht vor allem dreierlei: Sie zeigt erstens, dass politische Entscheidungsträger Armutsbekämpfung als ihre Aufgabe anerkannt hatten. Zweitens illustriert sie deren Verständnis von Armut als Bedrohung für die Kohäsion der Gesellschaft. Drittens macht das Gesetz deutlich, dass Armut in Frankreich zur Kategorie sozialpolitischen Handelns geworden war. Keines dieser Urteile kann für die Bundesrepublik im gleichen Zeitraum getroffen werden. Verschiedene Ursachen für diese Entwicklung sind hier deutlich geworden. Teilweise stimmen sie mit den Erklärungsfaktoren überein, die für die unterschiedlichen Reaktionen beider Länder auf die Neuentdeckung der Armut hier schon angeführt wurden. Es wurde bereits darauf verwiesen, dass der französische Zentralstaat sich generell für die Lösung politischer und sozialer Probleme sowie für die Planung der Wirtschaft deutlich mehr zuständig sieht als der deutsche. Auch hier ist dies wieder deutlich geworden, denn mit dem nationalen Gesetz über die Mindestsicherung versuchte der französische Staat, die Armutsfrage auf nationaler Ebene zu regeln. Mit den temporären Armutsbekämpfungsprogrammen hatte die französische Regierung dies ebenfalls schon versucht. Dass sich die Armutsdebatte anschließend in Frankreich anders entwickelte als in der Bundesrepublik, ist unter anderem auch schon eine Folge davon. Denn in Frankreich hatte die Regierung im Zuge dieser Programme hohe Summen an die Verbände verteilt und deren Budget damit massiv erweitert. Am Beispiel ATD Quart Monde ist hier deutlich geworden, dass gerade diese neuen finanziellen Möglichkeiten in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre es dem Verband ermöglichten, sich aktiver in die Armutsdebatte einzubringen. Unterstrichen wurden außerdem schon die unterschiedlichen Handlungsspielräume beider Regierungen, die auf unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklungen beider Länder in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre zurückgehen, sowie die unterschiedliche Beschaffenheit des untersten Netzes in beiden Sozialstaaten. Hier ist deutlich geworden, dass auch die Verfestigung der wirtschaftlichen Probleme maßgeblich dazu beigetragen hat, dass die französischen Parteien ihre Beschäftigung mit der Armutsfrage intensivierten. Als Katalysator für die Beschäftigung hatten außerdem die schnellen politischen Machtwechsel in Frankreich gewirkt. Armut wurde in dieser Arbeit schon an vielen Stellen als Thema der Opposition identifiziert. In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre nahmen in Frankreich verschiedene Parteien in schnellem Wechsel diese Rolle ein; als Folge setzten sich auch verschiedene Parteien mit Armut auseinander. Die unterschiedliche Formulierung der Armutsfrage in beiden Ländern wurde ebenso als ein Faktor der unterschiedlichen Entwicklung identifiziert. In der französischen Debatte verschwand mit dem Begriff der neuen Armut auch der damit verbundene Schuldvorwurf an die Regierung. Der neue Begriff der Exklusion wurde von allen Parteien akzeptiert, ebenso wie die damit verbundene Auffassung von Armut als Bedrohung des gesellschaftlichen Zusammenhalts.

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Fazit

Diese Arbeit hat zwei Hauptanliegen verfolgt. Sie wollte erstens nachweisen, dass im Untersuchungszeitraum eine Zäsur der Armutsdebatte liegt, sowie zweitens nach deren Ursachen fragen. Nach dem chronologisch strukturierten Hauptteil werden die verschiedenen Ergebnisse hier abschließend systematisch betrachtet. Zunächst stehen die äußeren Kennzeichen der Diskussion im Fokus, dann die inhaltlichen Aspekte. Nach einem kurzen Blick auf die armutspolitische Praxis werden die Unterschiede zwischen den Debatten beider Länder fokussiert und die Ursachen dafür herausgearbeitet.

Entwicklung der Debatte Armut tauchte als Thema der Debatte im Untersuchungszeitraum nicht insgesamt neu auf, sondern war schon von Beginn an präsent – wenn auch nur in begrenztem Umfang. Allerdings ist in beiden Ländern ein Wandel der Debatte zu beobachten, der sich insbesondere seit dem Beginn der 1980er Jahre abzeichnet. Er drückt sich darin aus, dass die Diskussion sich für neue Akteure öffnete, an neuen Orten geführt wurde und ein größeres Ausmaß annahm. Auf vier Entwicklungsprozesse wurde hier hingewiesen, nämlich die diskursive Öffnung, die Verwissenschaftlichung der Debatte, die Politisierung der Armutsfrage sowie deren Institutionalisierung. Zunächst zur diskursiven Öffnung. Sowohl in Frankreich als auch in der Bundesrepublik entwickelte sich die Diskussion von Armut in der ersten Hälfte der 1980er Jahre vom Expertendiskurs zur breiten öffentlichen Debatte. Nachdem Armut zu Beginn des Untersuchungszeitraums hauptsächlich ein Anliegen von Wohlfahrtsverbänden, Sozialwissenschaftlern, Sozialarbeitern und Verwaltungsbeamten dargestellt hatte, schalteten sich nach und nach neue Akteure ein. In beiden Ländern waren dies politische Parteien, Gewerkschaften, kirchliche Institutionen und Medien. Auch die EG kann als neuer Akteur identifiziert werden, zumindest insofern, als sie mit ihrem ersten Armutsbekämpfungsprogramm auf die nationalen Debatten beider Länder einwirkte. In der Bundesrepublik beteiligten sich außerdem Armutsforscher und Selbsthilfegruppen von Sozialhilfeempfängern an der öffentlichen Diskussion. Zweitens ist in beiden Ländern eine Verwissenschaftlichung der Debatte zu beobachten. Zwar reicht der Basisprozess der »Verwissenschaftlichung des Sozialen«, wie Lutz Raphael ihn benennt, insgesamt deutlich weiter zurück als bis 1970. Raphael macht seine Anfänge schon am Beginn des 19. Jahrhunderts https://doi.org/10.1515/9783110613087-016

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aus1 . Trotzdem illustrieren die Quellen einen deutlich ansteigenden Bedarf der Akteure an Wissen über Armut. Noch 1975 hatte Geißler in seiner neuen sozialen Frage auf fehlende Kenntnisse über Armut in der Bundesrepublik hingewiesen. Nachdem dies einen ersten Schub der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Armut ausgelöst hatte, entfaltete sich dieser Prozess aber erst in den 1980er Jahren vollständig. In dieser Zeit trugen die Verbände ausführliche Informationen über ihre Klientel zusammen und stellten daraus Statistiken und Berichte zusammen. Die Aktivitäten des deutschen und des französischen Caritasverbandes illustrieren dies. Auch bei den politischen Entscheidungsträgern stieg das Interesse an Wissen über Armut. Gabriele Metzler und Lutz Raphael haben für die Bundesrepublik auf den steigenden Bedarf der Regierungen an wissenschaftlicher Beratung insgesamt2 sowie insbesondere in sozialpolitischen Fragen3 hingewiesen. Im Hinblick auf Armut hat sich dieser Bedarf an Expertise hier besonders für die französischen Regierungen gezeigt, was durch deren insgesamt andere Haltung zur Armutsfrage erklärt wurde. Die französischen Regierungen der 1980er Jahre gaben Armutsberichte in Auftrag und setzten armutspolitische Programme um. Für beides hörten sie im Vorfeld Armutsexperten an. Dass dies häufig Vertreter von Verbänden wie Secours catholique und ATD Quart Monde waren, illustriert, dass diese Experten nicht unbedingt Sozialwissenschaftler, sondern eher Kenner des Terrains waren. Jedenfalls hat sich der Untersuchungszeitraum als eine Zeit der verstärkten Suche nach Wissen über Armut herausgestellt. Drittens ist die Politisierung der Armutsfrage deutlich geworden. Zweifellos stellt Armut zwar prinzipiell ein politisches Anliegen dar, weil mit ihr auch die Zugehörigkeit zur Gesellschaft verhandelt wird. Indes haben die hier untersuchten parteipolitischen Akteure Armut nicht von Beginn des Untersuchungszeitraums an in ihrem Zuständigkeitsbereich gesehen. Verschiedene Aspekte illustrieren dies. Die ganzen 1970er Jahre hindurch war Armut in beiden Ländern kein Thema der parlamentarischen Debatte. Weder positionierten sich die Parteien in dieser Zeit in ihren Programmen zu Armut, noch nutzten sie das Thema im Wahlkampf. Eine Änderung zeichnet sich erst in der ersten Hälfte der 1980er Jahre ab. Im Herbst 1984 drang die Armutsfrage in die nationalen Parlamente beider Länder vor und wurde dort zum Gegenstand parlamentarischer Anfragen und umfangreicher Diskussionen. Abgeordnete forderten in diesem Kontext die Regierung nachdrücklich zum Handeln gegen die Armut auf. Armut wurde in dieser Zeit aber nicht nur ein Thema in der

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2 3

Lutz R, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: GG 22 (1996), S. 165–193. M, Konzeptionen politischen Handelns, S. 151–260. R, Experten im Sozialstaat, S. 251–253.

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Entwicklung der Debatte

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parlamentarischen Debatte, sondern auch im Wahlkampf; am deutlichsten illustriert das die große Rolle, welche die Mindestsicherung im französischen Präsidentschaftswahlkampf 1988 spielte. Armut war insofern generell eine politische Frage; aber erst in den 1980er Jahren entdeckten die Parteien sie auch als ihre politische Aufgabe. Indes war der Grad der Politisierung des Themas in beiden Ländern nicht der gleiche. Die französische Regierung kam der Aufforderung zum Handeln gegen die Armut sofort nach, was zeigt, wie hoch sie ihre eigene Zuständigkeit für die Armutsfrage einschätzte. In der gleichen Zeit war die deutsche Regierung vor allem mit der Relativierung der Armut und der Zurückweisung des Themas beschäftigt. Als vierter Prozess bei der Entwicklung der Debatte wurde in beiden Ländern eine Institutionalisierung der Armutsfrage festgestellt. Auch für diese gilt das gleiche Urteil wie zuvor schon für die Politisierung, nämlich dass sie in Frankreich deutlich ausgeprägter war. Zweifellos institutionalisierte sich in beiden Ländern Armut als Kategorie der Debatte. Das illustriert der parlamentarische Diskurs, in dem Armut seit 1984 immer wieder auf die Tagesordnung zurückkam. In Frankreich zeigen es die Armutsberichte, die seit 1980 in Auftrag gegeben wurden. In der Bundesrepublik gründeten sich außerdem im Lauf der 1980er Jahre verschiedene Arbeitsgruppen zum Thema Armut, zum Beispiel innerhalb der politischen Parteien, wie die Arbeitsgruppe Existenzsicherung der Bundestagsfraktion der Grünen verdeutlicht. Nicht nur bei den Parteien zeigt sich dies. Schon vor dieser Initiative der Grünen hatte das Diakonische Werk eine Arbeitsgruppe Armut gegründet, und Wissenschaftler hatten sich zur Arbeitsgruppe Armut und Unterversorgung zusammengeschlossen. Die Armutsfrage erhielt damit in beiden Ländern eine institutionelle Basis; Zeitpunkte und Räume zu ihrer Diskussion wurden geschaffen. Darüber hinaus institutionalisierte sich Armut auch als Kategorie sozialstaatlichen Handelns – dies jedoch nur in Frankreich. Frédéric Viguier zeigt auf, dass dieser Prozess in den 1980er Jahren nur seinen Anfang nahm und sich in den folgenden beiden Jahrzehnten noch intensivierte4 . Die seit 1984 jährlich erneuerten programmes contre la pauvreté et la précarité sowie das 1988 verabschiedete Gesetz über das RMI veranschaulichen jedoch, dass Armutsbekämpfung bereits in den 1980er Jahren eine wichtige Kategorie sozialpolitischen Handelns darstellte. Nach analogen sozialpolitischen Maßnahmen sucht man in der Bundesrepublik in dieser Zeit aber vergebens; Armutsbekämpfung tauchte dort als Kategorie der Sozialpolitik nicht auf.

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V, Pauvreté et exclusion.

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Fazit

Akteurskonstellation und Frage nach der Lobby der Armut Fast alle untersuchten Akteure haben – wenn auch mit unterschiedlicher Intensität und Häufigkeit – die Rolle der Lobby der Armen für sich eingefordert. Welche Akteure waren es aber, die diese Rolle in der Debatte tatsächlich einnahmen? Wer vertrat in den Diskussionen das Anliegen der Armen und machte sich damit zu deren Anwalt? Am schwierigsten zu beantworten ist diese Frage für die parteipolitische Debatte. Lutz Leisering hat schon darauf hingewiesen, dass sich die Armutsfrage in der Bundesrepublik nur schwerlich in das politische Links-Rechts-Schema einordnen lässt5 . Diese Arbeit bestätigt dieses Urteil für die Bundesrepublik und dehnt es auch auf Frankreich aus. In keinem der beiden Länder erscheint Armut – entgegen der Erwartung – als typisch linkes Thema. Kommunistische und sozialistische Parteien haben sich vor allem als Vertreter der Arbeiter herausgestellt. An den Stellen, an denen sich Probleme der Arbeitswelt mit der Armutsfrage überlappten, traten sie daher auch als Anwälte der Armen auf. Für Armutsrisiken jenseits der Arbeitswelt interessierten sie sich aber selten und können daher nicht insgesamt als Lobby der Armen bezeichnet werden. Winfried Süß hat die Bedeutung des Armutsthemas für Oppositionsparteien in der Bundesrepublik unterstrichen6 . Tatsächlich erscheinen in der Bundesrepublik vor allem die Oppositionsparteien als Vertreter der Armen. Das illustriert die 1975 von der CDU aufgebrachte neue soziale Frage, aber auch die von SPD und Grünen in den 1980er Jahren in die parlamentarische Debatte eingebrachte neue Armut. Allerdings hat die Analyse auch gezeigt, dass die SPD diese Rolle auch in der Opposition nur halbherzig einnahm, während vor allem die Grünen großes Engagement dafür zeigten. Als Gründe für den intensiven Einsatz der Grünen wurde hier aber nicht nur deren Oppositionsrolle diskutiert, sondern auch darauf hingewiesen, dass sie als neue Partei auf der Suche nach neuen Themen waren und die Armutsfrage als ein Anliegen entdeckten, das im parlamentarischen Raum noch nicht vertreten wurde. Außerdem wurde auf ihre starke Verbindung zu den neuen sozialen Bewegungen und zu zivilgesellschaftlichen Interessenvertretungen der Armen hingewiesen. Insofern spielt nicht nur die Oppositionsrolle der Grünen, sondern auch ein Wandel der politischen Kultur eine Rolle, der sich im Agieren dieser Partei besonders bemerkbar macht. Auch in Frankreich kam den Oppositionsparteien eine wichtige Rolle als Vertreter der Armen im parlamentarischen Raum zu. Denn mit UDF und RPR waren es zwei Oppositionsparteien, die die neue Armut als Erste in die parlamentarische Debatte einbrachten und die Regierung zum Handeln gegen 5 6

L, Armutsbilder im Wandel. S, Vom Rand in die Mitte der Gesellschaft, S. 137.

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Akteurskonstellation

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die Armut aufforderten. Aber auch in Frankreich ist die Situation mit dem Verweis auf die Rolle der Oppositionsparteien nicht ausreichend beschrieben. Die Debatte um die Einführung der garantierten Mindestsicherung hat nämlich illustriert, dass die Armutsfrage die Parteien in der Nationalversammlung nicht entlang der Fraktionsgrenzen spaltete, sondern dass die Konfliktlinien innerhalb der Fraktionen verliefen. Insgesamt kann also bestätigt werden, dass Armut in beiden Ländern kein typisch linkes oder rechtes Thema darstellte. Die Armutsfrage kann prinzipiell allen Parteien nützlich sein – und alle Parteien haben sie im Untersuchungszeitraum auch zu unterschiedlichen Zeitpunkten genutzt. Jedoch haben in beiden Ländern gerade die Oppositionsparteien eine wichtige Rolle für das Aufbringen der Debatte um die neue Armut gespielt. Insgesamt aber reichen die Dichotomien rechts-links oder Opposition-Regierung nicht aus, um die parteipolitische Annäherung an die Armutsfrage zu beschreiben und die politische Lobby der Armen zu identifizieren. Als zweite Akteursgruppe standen Wohlfahrtsverbände im Fokus der Analyse. Dass diese ohne Ausnahme die Rolle des Anwalts der Armen für sich einforderten, überrascht nicht, denn schließlich stellt der Einsatz für die Schwächsten in der Gesellschaft für sie ein Gründungsanliegen dar. Interessant ist dabei, dass die Verbände beider Länder dies zu unterschiedlichen Zeitpunkten und mit unterschiedlicher Intensität taten, und vor allem: dass ihr Verständnis von der Ausgestaltung dieser Rolle sich änderte und damit auch ihr Verhältnis zum Staat. In Frankreich erklärten sich der Secours catholique und ATD Quart Monde bereits in den 1970er Jahren zum Anwalt der Armen. Schon in dieser Zeit sahen sie ihre Funktion auch im aktiven Einwirken auf politische Entscheidungsträger. Unter anderem kamen sie dem durch eine intensive Öffentlichkeitsarbeit und direkte Appelle an die Politiker nach. Sie veröffentlichten beispielsweise Studien, mit denen sie die Armut ihrer Klientel dokumentierten, und stellten diese der Presse vor. Sie setzten Petitionen auf und sammelten Unterschriften für Armutsbekämpfung. Außerdem forderten sie Politiker in der Öffentlichkeit zum Handeln gegen die Armut auf. Keiner der hier untersuchten deutschen Verbände unternahm in der gleichen Zeit ähnliche Schritte. Erklärt wurde dies vor allem durch die unterschiedliche Anbindung der Verbände an den Staat, die in der Bundesrepublik deutlich stärker ist und daher öffentliche Kritik der Verbände an der staatlichen Sozialpolitik potentiell hemmt. Ein Wandel zeichnete sich jedoch in den 1980er Jahren ab, als sich auch die deutschen Verbände in die Debatte um die neue Armut einmischten und ebenfalls mit kritischen Äußerungen über die Sozialpolitik der Regierung an die Öffentlichkeit traten. Dieses Verhalten wurde als Teil einer generellen Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Staat und Verbänden in dieser Zeit eingeordnet7 . In Frankreich war in der gleichen Zeit eine umgekehrte

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O, Die Diakonie im westdeutschen Sozialstaat, S. 281–283.

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Fazit

Entwicklung zu beobachten. Dort näherten sich die Verbände dem Staat an, was unter anderem durch die unterschiedlichen Positionen der Regierungen beider Länder in der Armutsfrage erklärt werden kann. Die französische Regierung griff auf die Expertise der Verbände in Armutsfragen zurück, sodass die Verbände ihre Ideen von Armut und Armutsbekämpfung in der Rolle des Beraters der Regierung einbringen konnten. Die deutschen und französischen Verbände brachten sich insofern auf unterschiedlichen Wegen in die Diskussion von Armut ein. Sie erschlossen sich damit neue Handlungsspielräume – insofern ist ihr Verhältnis zum Staat nicht als steigende Abhängigkeit zu beschreiben, wie die Forschung dies teilweise getan hat8 . Insgesamt spielten die Verbände beider Länder sowohl am Beginn der Debatte um die neue Armut als auch bei deren Fortentwicklung eine wesentliche Rolle. Bei der Analyse haben sich weitere wichtige Akteure der Armutsdebatte herauskristallisiert. Obwohl diese nicht im Zentrum dieser Untersuchung standen, sollen sie hier kurz thematisiert werden. An vielen Stellen hat sich die Verwaltung als Akteur in der Armutsdebatte gezeigt, der durch sein Handeln politische Tatsachen schuf. In beiden Ländern kam armutspolitische Innovation unter anderem aus der Verwaltung, und zwar ohne dass eine Beschäftigung der Parteien mit der Armutsfrage vorausgegangen wäre. Das illustrieren in der Bundesrepublik die Aktivitäten des BMJFG für die Randgruppen und in Frankreich die Entstehung des ersten Armutsberichts für die Regierung. Diese Arbeit hat festgestellt, dass armutspolitische Zäsuren nicht immer mit den allgemeinen politischen Zäsuren übereinstimmten. Beispielsweise blieb die französische Armutspolitik über den wichtigen politischen Einschnitt von 1986 – den Beginn der ersten Kohabitation – hinweg die gleiche. Diese Kontinuität kann dadurch erklärt werden, dass Armutspolitik zu diesem Zeitpunkt vor allem von der Verwaltung gemacht wurde. Ein weiterer wichtiger Akteur, der sich in beiden Ländern im Laufe der 1980er Jahre in den Armutsdiskurs einschaltete, waren die Gewerkschaften. In der Bundesrepublik war dies stärker ausgeprägt: Am Anfang der Debatte um die neue Armut stand der Deutsche Gewerkschaftsbund. In Frankreich stand zwar keine Gewerkschaft am Ursprung der Diskussion der neuen Armut, mit der CFDT mischte sich aber eine von ihnen in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre noch ein und gestaltete mit ihren Entwürfen für eine garantierte Mindestsicherung die Debatte aktiv mit. Die Gründe für diese Beteiligung einer neuen Akteursgruppe in beiden Ländern liegen auf der Hand: Durch den wachsenden Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Armut fühlten sich die Gewerkschaften verstärkt auch zur Interessenvertretung der Armen herausgefordert. In der Bundesrepublik haben im Laufe der 1980er Jahre zwei weitere Gruppen von Akteuren die Armutsdebatte mit beeinflusst: Zum einen die Selbstorgani-

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Diese Frage vertieft H, Armutsberichterstattung.

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Neue Armutsrisiken

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sation der Sozialhilfeempfänger, die seit Beginn der 1980er Jahre ihre eigene Situation in die Öffentlichkeit trug, zum anderen Sozialwissenschaftler, die sich nicht mehr auf die Erforschung von Armut beschränkten, sondern aus ihren Analysen auch politische Folgerungen zogen und diese an die Öffentlichkeit brachten. Die Position dieser Akteure konnte in dieser Arbeit nur angerissen werden und müsste in weiteren Studien vertieft werden. Eine weitere Vertiefung verdient auch ein anderer Aspekt: Jenseits ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Partei oder einem Verband besaßen verschiedene hier untersuchte und in der Armutsdebatte besonders engagierte Akteure einen gemeinsamen christlichen Hintergrund. In der Bundesrepublik kam dem Diakonischen Werk und dem Caritasverband große Bedeutung bei der Verhandlung der neuen Armut zu. Die neue soziale Frage wurde von Heiner Geißler und damit nicht nur von einem CDU-Politiker, sondern auch von einem überzeugten Katholiken aufgebracht. Richard Hauser mischte sich als Armutsforscher in die Debatte ein, stand aber auch in enger Verbindung zum Caritasverband. Ähnliche Beispiele finden sich auch für das laizistische Frankreich. Am Beginn der Debatte um die neue Armut stand der französische Caritasverband, der mit seinem Anliegen Unterstützung bei der französischen Bischofskonferenz fand. Als einzige Gewerkschaft beteiligte sich im Untersuchungszeitraum die CFDT an der Armutsdebatte – und damit die direkte Nachfolgeorganisation eines ursprünglich christlichen Gewerkschaftsbundes. Die Befunde widersprechen der in der Forschung lange vertretenen modernisierungstheoretischen Annahme vom Bedeutungsverlust von Kirche und Religion im öffentlichen Raum. Stattdessen bestätigen sie eher Argumente für das, was Frank Bösch als »Rückkehr des Religiösen«9 beschreibt. Sicher mag die Religion in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus vielen Bereichen des Lebens zurückgedrängt worden sein – sie gewann in anderen Bereichen aber auch an Bedeutung. In der hier untersuchten Armutsdebatte zeichnet sich jedenfalls keine sinkende, sondern eine steigende Beteiligung der Kirchen beziehungsweise der den Kirchen verbundenen Personen oder Organisationen ab.

Neue Armutsrisiken als Thema und Anstoß der Debatte In beiden Ländern stieg nach 1970 das Armutsrisiko für bestimmte Bevölkerungsgruppen stark an. Arbeitslose, Kinder und Jugendliche, Alleinerziehende und Migranten gehörten in beiden Ländern zu diesen neuen Risikogruppen. Die Vermutung, dass die Ausdehnung der Armut auf neue Bevölkerungsgrup9

B, Umbrüche in die Gegenwart, S. 24–29.

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Fazit

pen auch neues politisches Interesse für die Armutsfrage hervorrief, konnte indes nur teilweise bestätigt werden. Tatsächlich ist das ansteigende Interesse für die Armutsfrage zu Beginn der 1980er Jahre in großen Teilen durch den empirischen Wandel des Armutsphänomens zu erklären. Allerdings tauchen in der Debatte nicht alle diese Gruppen gleichberechtigt auf, sondern einige ziehen deutlich mehr Aufmerksamkeit auf sich als andere. Denn mit dem Begriff der neuen Armut wird in beiden Ländern vor allem die Situation von Arbeitslosen thematisiert. Dass für beide Länder hier das gleiche Urteil gefällt werden kann, nämlich dass die Verhandlung der neuen Armut vor allem eine Diskussion der Problemlagen der Arbeitswelt darstellt, mag überraschen. Nahe gelegen hätte auch die Vermutung, dass sich beide Länder gerade wegen der unterschiedlichen Migrationssituation unterscheiden. Die Erwartung, dass Frankreich in der Debatte um Armut auch unterschwellig eine Debatte um Fremdheit führte, seine koloniale Vergangenheit und deren Folgen für die Bevölkerung thematisierte, hat sich jedoch nicht bestätigt. Auch in Frankreich kam die neue Armut als Diskussion um die Arbeitslosen auf. Im Verlauf der 1980er Jahre änderte sich daran wenig. Dies bestätigt auch das Vokabular der Exklusionsdebatte am Ende des Jahrzehnts: Diese kreiste um insertion, nicht um intégration. Beide Vokabeln mögen im Deutschen mit dem gleichen Begriff übersetzt werden, nämlich Integration, trotzdem sind im Französischen mit dem Begriff der insertion eindeutig Fragen des Arbeitsmarkts verbunden. Wie kann dieser Fokus auf einer von mehreren neuen Risikogruppen für Armut erklärt werden? Eine Erklärung stellt sicher die stärkere Lobby dar, die in der Debatte die Interessen der Arbeitslosen vertrat. Insbesondere für die Bundesrepublik ist dies deutlich geworden. Die Diskussion um die Armut der Arbeitslosen trat dort der Deutsche Gewerkschaftsbund los – unter dem Schlagwort der neuen Armut. Arme Arbeitslose standen von Anfang an im Zentrum dieser Diskussion, in der erst nach und nach auch weitere neue Armutsrisiken thematisiert wurden. Im Bundestag griffen Mitglieder der SPDFraktion als Erste die vom DGB entfachte Debatte auf und machten sich dabei auch eindeutig die Lesart des Gewerkschaftsbundes zu eigen. An den Ausführungen der Abgeordneten zeigt sich, dass auch diese sich als Vertreter der Arbeitslosen, nicht aber der Migranten oder Alleinerziehenden sahen. In der parlamentarischen Debatte waren es lediglich die Grünen, die sich für die Probleme der Armen öffneten, die nicht in direktem Zusammenhang mit dem Arbeitsmarkt standen. Für die untersuchten Verbände fällt das Bild etwas differenzierter aus. In der Bundesrepublik lenkte die Arbeiterwohlfahrt am Ende der 1980er Jahre den Blick auf Kinderarmut; in Frankreich hatte ATD Quart Monde dies schon am Anfang des Jahrzehnts getan. Doch insgesamt standen auch bei den Verbänden meistens die Arbeitslosen als die neuen Armen im Fokus. Einen wichtigen, wenn auch nicht ausreichenden Erklärungsfaktor stellt deren »Würde« dar. Meike Haunschild hat für die deutsche Armutsdebatte

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Neue Armutsrisiken

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der Wirtschaftswunderzeit gezeigt, dass Verbände mit Vorliebe die sogenannten würdigen Armen ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit rückten, beispielsweise alte Frauen. Mit diesem Hinweis auf diejenigen, die unverschuldet in Armut geraten waren, wollten sie ein positives Bild von ihrer Klientel zeichnen10 . Ähnliche Gründe können den hier untersuchten Verbänden in den 1980er Jahren unterstellt werden, die mit den Arbeitslosen ebenfalls auf unverschuldet in Armut geratene Gruppen hinweisen. Dass außerdem aufgrund ihrer katholischen Prägung gerade den Caritasverbänden nicht an der Diskussion der Lage der Alleinerziehenden gelegen war, kann ebenfalls angenommen werden. Um die Nichtthematisierung der Kinderarmut zu erklären, reicht der Verweis auf die Würde jedoch nicht aus, schließlich gelten Kinder als Inbegriff der würdigen Armen. Dass es bei der Diskussion um die Arbeitslosen trotzdem um mehr als eine Lobbyfrage ging, machen die Ausführungen des Secours catholique am deutlichsten. Wiederholt lenkte der Verband die Aufmerksamkeit auf die Armut französischer Staatsbürger mittleren Alters, die er als ohne Arbeit, aber sonst ohne sichtbares Handicap beschrieb. Die Armut dieser »Durchschnittsfranzosen«, wie der Secours catholique selbst sie nannte, passte nicht zu seiner, aber auch nicht zur gesellschaftlich bis dahin dominierenden Vorstellung von Armut als Problem sozialer Außenseiter. Mit der Verarmung der Arbeitslosen schien sich für den Verband das Armutsrisiko auf die Mittelschicht auszudehnen. Die Armut der Arbeitslosen stellte damit einen stärkeren Bruch mit der bisherigen Vorstellung von Armut dar als die Armut von Alleinerziehenden oder Migranten und rief unter anderem deshalb besonders großes Interesse hervor. Ein weiteres Urteil trifft für beide Länder zu, nämlich dass die neuen Armutsrisiken erst deutlich zeitversetzt ins Zentrum des Interesses rückten. Obwohl sie in der Statistik teilweise schon seit dem Beginn der 1970er Jahre hervortraten, wurden sie im Diskurs erst seit dem Beginn der 1980er Jahre aufgegriffen. Sicher kann eingewandt werden, dass es immer Zeit braucht, bis empirische Entwicklungen sich auch im Diskurs niederschlagen. Da hier die Debatte um die neuen Armutsrisiken auch als Verarbeitung des wirtschaftlichen und sozialen Wandels durch die Zeitgenossen interpretiert wurde, legen die Ergebnisse dieser Arbeit nahe, dass die Zeitgenossen in den 1970er Jahren diesen Wandel noch gar nicht wahrgenommen hatten. Zumindest die damit verbundenen Armutsrisiken waren ihnen nicht bewusst geworden. Das Narrativ der neuen Armutsrisiken entfaltete sich zu diesem Zeitpunkt erst später. Dieses Ergebnis bestätigt Sirinellis These über die Zählebigkeit der Meistererzählung der Trente Glorieuses in den Köpfen der Zeitgenossen11 und legt nahe, dass dieses Urteil auch für die Bundesrepublik zutrifft.

10 11

H, »Elend im Wunderland«. S, Les Vingt Décisives, S. 171.

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Fazit

Semantischer Wandel und die neuen Vorstellungen von Ursachen, Dimension und Ausdrucksformen der Armut In beiden Ländern haben sich neue Begriffe zur Bezeichnung von Armut etabliert. Die semantische Entwicklung weist dabei in beiden Ländern am Anfang große Parallelen auf, am Ende der 1980er Jahre aber länderspezifische Unterschiede. Erstaunlich selten fällt in der Debatte beider Länder die ganzen 1970er Jahre hindurch der Begriff Armut. Statt von Armut sprechen die hier untersuchten Akteure in Frankreich ausweichend von sozialer Unangepasstheit oder sozialen Ungleichheiten. In der Bundesrepublik werden die Betroffenen als Randgruppen umschrieben. Erst am Beginn der 1980er Jahre erlebt der Armutsbegriff in beiden Ländern seine Enttabuisierung. Seitdem dreht sich die Debatte beider Länder um die Schlagworte Armut und neue Armut. In Frankreich etabliert sich in dieser Zeit der Begriff der Prekarität, der in der Bundesrepublik dagegen keinen Quellenbegriff darstellt. Ab der zweiten Hälfte der 1980er Jahre wurde Armut in Frankreich außerdem unter dem Schlagwort der Exklusion diskutiert; in den deutschen Quellen taucht auch dieser Begriff im Untersuchungszeitraum nicht auf. Ein semantischer Wandel ist insofern für beide Länder festzustellen. Nicht zwangsweise müsste dieser auch mit einem Wandel der hinter den Begriffen stehenden Konzepte verbunden sein. Oft genug hat diese Arbeit die strategische Bedeutung der Begriffe unterstrichen und gezeigt, dass gerade der Begriff der neuen Armut auch dem Zweck diente, politische Aufmerksamkeit auf ein eigentlich altes Phänomen zu richten. Sie hat aber auch gezeigt, dass der semantische Wandel nicht nur politische Strategien, sondern tatsächlich auch ein in vieler Hinsicht gewandeltes Armutsbild der Akteure widerspiegelt. Der Wandel zeigt sich zunächst im Hinblick auf die Dimension der Armut. Die Vorstellung von Armut als marginalem Problem ließ sich in keinem der beiden Länder bis in die 1980er Jahre aufrechterhalten. Das wird in Frankreich beispielsweise daran deutlich, dass Begriffe wie »îlots de pauvreté« und »poches de pauvreté« aus der Debatte verschwanden. Die neue Armut wurde stattdessen in beiden Ländern als Massenphänomen beschrieben. Ausführlich wurde bereits auf die neuen Risikogruppen hingewiesen, die unter dem Begriff der neuen Armut verhandelt wurden. Die Verschiebung der Aufmerksamkeit von alten Menschen, Behinderten oder Strafentlassenen hin zu Arbeitslosen brachte es ebenfalls mit sich, dass viele mit diesen Problemgruppen verbundene Ideen über Armut nicht mehr aufrechtzuerhalten waren. Das trifft beispielsweise für die Ausdeutung von Armut als psychosozialer Frage zu, die am Anfang der 1970er Jahren in beiden Ländern gerade bei Verbänden und Sozialarbeitern dominierte. Diese Auffassung verschwand nach und nach und gab den Blick der Akteure für die materielle Dimension der Armut frei.

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Semantischer Wandel

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Die Entdeckung des neuen Armutsrisikos Arbeitslosigkeit änderte außerdem die Verortung der Ursachen von Armut. In den 1970er Jahren hatten die hier untersuchten Akteure Armut als sozialstrukturelles Phänomen begriffen. Sie sahen Armut hauptsächlich als gesellschaftlich verursacht an, was auch die Begriffe wie soziale Unangepasstheit oder gesellschaftliche Randgruppen deutlich widerspiegeln. In den 1980er Jahren wurde die Ursache für Armut weiterhin strukturell und nicht individuell verortet. Allerdings öffnete die Entdeckung der Armut der Arbeitslosen den Blick für wirtschaftliche Strukturen als Ursachen der Armut. Daneben geriet in beiden Ländern aber auch der Sozialstaat selbst als Verursacher der Armut in den Fokus. Lutz Leisering hat schon auf die überraschend häufige Präsenz dieses Arguments in den Armutsdebatten der Bundesrepublik hingewiesen12 . Eindeutig kann dies hier für beide Länder bestätigt werden. Die neue Armut hat sich in der Analyse auch als Debatte um den Sozialstaat und um enttäuschte Erwartungen an diesen herausgestellt. Der Sozialstaat wurde in beiden Ländern als Instanz diskutiert, die Armut nicht nur nicht verhindert, sondern auch verursacht. Dies stellte eindeutig einen Bruch mit vorausgehenden Ideen dar, denn das Vertrauen der Akteure in den Sozialstaaat war noch bis zum Ende der 1970er Jahre kontinuierlich hoch gewesen. Erst die Entdeckung der massenhaften Armut der Arbeitslosen hatte dieses Vertrauen erodiert. War mit der Entdeckung der armen Arbeitslosen ein struktureller Bruch des gesellschaftlichen Armutsbildes insgesamt verbunden? Petra Buhr u. a. äußern Zweifel daran13 . Hier ist aber deutlich geworden, dass sich im Untersuchungszeitraum die Vorstellung der Akteure von den Dimensionen und Ausdrucksformen der Armut sehr wohl änderte, so wie die Verortung ihrer Ursachen. Allerdings hat auch diese Analyse einige Vorstellungen von Armut freigelegt, die sich als extrem zählebig erwiesen und auch im Lauf der zwei hier untersuchten Jahrzehnte nicht erneuert wurden, etwa die Unterscheidung von würdigen und unwürdigen Armen, die in beiden Ländern fortexistierte. Die französische Debatte um das RMI-Gesetz zeigt zwar, wie schwer es den Abgeordneten fiel, die Idee des arbeitsunwilligen und damit unwürdigen Armen im Angesicht der Massenarbeitslosigkeit aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig illustriert der Gesetzestext aber, dass sie sich trotzdem nicht von dieser Dichotomie verabschiedeten, sondern sie lediglich durch die neue Unterscheidung in eingliederungswillige und -unwillige Arme ersetzten. Nicht immer stand am Ursprung eines geänderten Armutsbildes auch die Entdeckung neuer Risikogruppen für Armut. Für die neue Armut und die damit verbundene Aktualisierung des Armutsbildes war dies der Fall. Anders verhält es sich mit der französischen Debatte um Exklusion, bei der mit einem neuen Begriff noch die gleichen Gruppen und Problemlagen verhandelt wurden. Allerdings zeigte sich darin eine neue Perspektive der Akteure, die Armut 12 13

L, Zwischen Verdrängung und Dramatisierung, S. 494. B u. a., Armutspolitik und Sozialhilfe, S. 532.

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Fazit

nun unter dem Aspekt ihrer Auswirkung auf die gesellschaftliche Kohäsion verhandelten. Dass der Begriff in der deutschen Debatte keine Rolle spielte, legt offen, dass in beiden Ländern grundsätzlich unterschiedliche Vorstellungen von gesellschaftlichen Bindungen herrschten. Insgesamt bedeutete der Beginn der 1980er Jahre für beide Länder in vielfacher Hinsicht eine Erneuerung des gesellschaftlich dominierenden Armutsbildes, aber nicht in allen Aspekten. Bernhard Schäfers unterstreicht, dass die in dieser Zeit verhandelten Vorstellungen von Armut nicht alle der empirischen Prüfung standhalten. Auch an den hier untersuchten Quellen ist dies mehrfach deutlich geworden. Armut betraf weder in den 1980er Jahren ausschließlich die Arbeitslosen, noch stellte sie in den 1970er Jahren eine rein psychologische Frage dar. Die Analyse hat aber auch gezeigt, dass diese Armutsbilder als soziale Konstruktionen der Realität Rückschlüsse auf die Vorstellungen der Akteure vom Sozialstaat und von gesellschaftlicher Kohäsion erlauben.

Europäische, deutsch-französische und historische Bezüge in der Debatte Frankreich und die Bundesrepublik wurden für die Analyse ausgewählt, weil beide Länder im Untersuchungszeitraum mit ähnlichen Problemen konfrontiert waren. Die Herausbildung neuer Risikogruppen für Armut, die steigende Anzahl von Personen im Sozialhilfebezug, die Verbreitung materieller Notlagen – damit waren beide Länder beschäftigt. Indes betraf dies nicht nur diese beiden Länder, sondern alle westeuropäischen Länder sahen sich, wenn auch in unterschiedlichem Maße, von diesen Entwicklungen herausgefordert. Sie thematisierten diese Probleme seit den 1970er Jahren ebenfalls, teilweise auch unter dem Stichwort der neuen Armut14 . Die Analyse hat gezeigt, dass diese Debatten in Frankreich und der Bundesrepublik sogar zu einem ähnlichen Zeitpunkt aufkamen. Die Vermutung liegt nahe, dass Frankreich und die Bundesrepublik, aber auch die westeuropäischen Länder insgesamt, die Entwicklungen anderer Länder und deren Reaktionen auf die Armut rezipierten. Dies gilt insbesondere für die Mitgliedsstaaten der EG, denn der Untersuchungszeitraum stellt eine Zeit der fortschreitenden europäischen Integration dar. Außerdem hatte die Europäische Kommission selbst die Armutsfrage 1975 auf ihre Agenda gesetzt und mit dem ersten europäischen Armutsbekämpfungsprogramm eine Grundlage für den Austausch über Armut zwischen ihren Mitgliedsstaaten geschaffen. Der Untersuchungszeitraum gilt auch als Periode des intensiven 14

R, H, Neue Armut in der Europäischen Gemeinschaft.

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Europäische, deutsch-französische und historische Bezüge

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deutsch-französischen Austauschs. Allerdings haben die hier untersuchten Quellen deutlich weniger europäische Bezüge offengelegt als erwartet. Dies gilt sowohl für die Bezüge auf andere Mitgliedsstaaten der EG als auch auf die Länder des europäischen Kontinents insgesamt. Zum Teil mag dies auf ein Quellenproblem zurückgehen. Möglicherweise fand die Debatte über den jeweiligen Nachbarn oder die europäischen Länder an anderen Orten statt, eher in kleinen Expertengremien als in den hier untersuchten Plenen der Parlamente oder in publizierten Dokumenten. Für die hier untersuchten Quellen kann jedenfalls festgestellt werden, dass die Bezüge auf andere Länder dort nur eine untergeordnete Rolle spielten. Auch kam dem deutsch-französischen Tandem in der Argumentation keine besondere Rolle zu. Im Gegenteil: Bei der Diskussion der neuen Armut haben die hier untersuchten Akteure an keiner Stelle auf den jeweiligen Nachbarn verwiesen. Sporadisch zeigten sie stattdessen – interessanterweise in beiden Ländern – als Negativfolie auf die Situation der Armut in England oder den USA und rückten auf der Suche nach positiven Vorbildern die skandinavischen Länder in den Fokus. Aufschlussreich für die Frage nach der europäischen Dimension war die Analyse der französischen Debatte um die Einführung der garantierten Mindestsicherung am Ende der 1980er Jahre. Frankreich führte damit eine Leistung ein, die zu diesem Zeitpunkt in den meisten europäischen Ländern schon existierte. Dass die politischen Entscheidungsträger sich bei der Vorbereitung des Gesetzes diese europäischen Erfahrungen zu Nutze machten, war zu erwarten. Der zuständige parlamentarische Ausschuss erstellte auch die in diesem Verfahren übliche ländervergleichende Liste, die ausführliche Informationen über die existierenden Gesetze über Mindestsicherungen in Europa zusammentrug. Der Ausschuss diskutierte diese europäischen Modelle, wobei auch der deutsche Warenkorb zur Sprache kam. In der anschließenden Plenardebatte spielten diese europäischen Modelle aber keine Rolle mehr. Die Feststellung bestätigt die Vermutung, dass die europäische Dimension eher in internen Expertengremien als in öffentlichen Debatten zu finden ist. Weitere Untersuchungen wären zu dieser Frage nötig. Das letztlich 1988 verabschiedete französische Gesetz über die Mindestsicherung illustriert in jedem Fall, dass hier vor allem die kommunalen französischen Versionen der Mindestsicherung Modell gestanden haben und nicht die europäischen Varianten. Die EG spielt für die hier untersuchte Debatte insofern eine wichtige Rolle, als sie mit ihrem ersten Armutsbekämpfungsprogramm auch die nationalen Armutsdebatten in den jeweiligen Mitgliedsstaaten beeinflusste. Als Argument in der Diskussion spielen die europäischen Länder und deren Umgang mit der Armut jedoch eine geringere Rolle als erwartet. Versteht man Europäisierung nicht nur als soziale und politische Praxis, sondern auch unter ihrem diskursiven Aspekt, so wie beispielsweise Kiran Patel und Ulrike von Hirschhausen es vorschlagen15 , dann verweisen die hier untersuchten Quellen auf einen geringen 15

Ulrike  H, Kiran Klaus P, Europäisierung, Version: 1.0, in:

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Fazit

Grad der Europäisierung im Hinblick auf die Diskussion um Armut und den Sozialstaat. Das französische Beispiel hat gezeigt, dass für die hier untersuchten Akteure der Blick auf die Situation der französischen Kommunen wichtiger war als auf die europäischen Länder. Die deutschen Quellen legen einen weiteren Aspekt offen, der in der Debatte anscheinend ein schlagkräftigeres Argument als die europäischen Bezüge darstellte, nämlich der Verweis auf die eigene Vergangenheit. Häufiger als den Vergleich mit anderen Ländern bemühten die deutschen Akteure nämlich den Vergleich mit der Situation in der Weimarer Republik – anscheinend auch erfolgreich, denn die Analyse hat gezeigt, dass der Verweis auf Weimar nicht etwa seine Schlagkraft verloren hatte, sondern dass die Behauptung von »Weimarer Verhältnissen«, wie der DGB es beispielsweise nannte, in der Bundesrepublik auch in den 1980er Jahren noch auf großes Echo stieß. Im Vergleich dazu stießen die in Frankreich vereinzelt geäußerten Vergleiche mit der Kriegszeit auf weniger Interesse. Insgesamt kann aber aus den hier untersuchten Quellen für beide Länder bilanziert werden, dass die Debatten um Armut und den Sozialstaat dort vor allem in einem nationalen Bezugsrahmen geführt wurden. Der Verweis auf die eigene, nationale Vergangenheit sowie auf die kommunale Ebene spielte dabei eine bedeutendere Rolle als die europäischen Länder.

Armutspolitische Praxis Im Hinblick auf die Entwicklung der armutspolitischen Praxis haben sich zunächst mehr Kontinuitäten als Brüche herausgeschält. Es wurde festgestellt, dass beide Länder auf die Entdeckung einer sogenannten neuen Armut mit alter Armutspolitik reagiert haben. Für die Bundesrepublik kann dieses Urteil für beide hier untersuchte Jahrzehnte diagnostiziert werden. Die Debatte um die neue soziale Frage in der Mitte der 1970er Jahre blieb ohne sozialpolitische Konsequenzen. Auch weigerte sich die christlich-liberale Regierung bis zum Ende der 1980er Jahre, die neue Armut als Thema anzuerkennen. Entsprechend verabschiedete sie keine Maßnahmen, die explizit der Armutsbekämpfung gewidmet waren. In ihrer Sozialpolitik setzte die Regierung in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre zwar neue frauen- und familienpolitische Akzente. Diese Gruppen profitierten sicher von den Leistungsverbesserungen; allerdings erscheint diese sozialpolitische Linie eher als Rückgriff auf traditionelle Ideen der christlichen Soziallehre denn als neue Armutspolitik. Indes lag es nicht nur an der abwehrenden Haltung der Regierung gegenüber der Armutsfrage, dass die Debatte um die neue Armut in der Bundesrepublik Docupedia-Zeitgeschichte, 29.11.2010, http://docupedia.de/zg/Europ%C3%A4isierung (22.01.2019).

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Armutspolitische Praxis

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ohne sozialpolitische Folgen blieb. Denn die Arbeit hat auch aufgezeigt, dass die armutspolitischen Ideen der Opposition im Fall einer Umsetzung auch keine strukturellen Änderungen des sozialen Sicherungssystems eingeläutet hätten. Als einzige der im Bundestag vertretenen Parteien hatten die Grünen die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens diskutiert – eine Idee, die aber schon in den eigenen Reihen nicht mehrheitsfähig war. Ihr Konzept der bedarfsabhängigen Mindestsicherung, auf das die Partei sich schließlich einigte, hätte einige Verbesserungen für die Sozialhilfeempfänger bedeutet, aber insgesamt keinen Bruch mit den sozialstaatlichen Prinzipien. Denn ein Rechtsanspruch auf eine Mindestsicherung existierte in der Bundesrepublik schon seit 1961. Die Pläne der Grünen hätten dieses System lediglich leicht modifiziert. Noch geringere Änderungen sahen die Vorschläge der SPD vor. Auch diese hätten im Fall einer Umsetzung keine neue Armutspolitik eingeleitet, da die deutsche Sozialdemokratie auf dem Versicherungsprinzip und der Lohnabhängigkeit sozialer Leistungen beharrte. Die Bereitschaft, Änderungen am System der sozialen Sicherung vorzunehmen, war bei den deutschen Parteien also insgesamt gering. Das gleiche Urteil kann für Frankreich getroffen werden – allerdings nur bis zur Mitte der 1980er Jahre. Auch die französische Regierung griff als Reaktion auf die Debatte um die neue Armut zunächst auf traditionelle armutspolitische Maßnahmen zurück. Fast archaisch wirken die von ihr beschlossenen Lebensmittelverteilungen. Für die Regierung boten sie eine Möglichkeit, die akuten Notlagen zu lindern, ohne dabei Änderungen am Sicherungssystem vorzunehmen. Insofern war bei den Parteien beider Länder der Wille zur Abänderung des sozialen Sicherungssystems äußerst gering. Als Erklärung wurde hier auf die Pfadabhängigkeit der Sozialstaaten verwiesen, die für beide Länder sehr hoch erscheint. Gleichzeitig legt die Armutspolitik damit aber auch offen, dass Armut den politischen Entscheidungsträgern noch bis in die 1980er Jahre als temporäres Phänomen erschien, auf das der Sozialstaat nicht dauerhaft ausgerichtet werden musste. In Frankreich änderte sich dies jedoch in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre. Mit dem Gesetz über die garantierte Mindestsicherung richtete die Regierung eine neue und dauerhafte Absicherung gegen Armut ein. Vor 1988 hatte in Frankreich – im Unterschied zur Bundesrepublik und den meisten westeuropäischen Ländern – kein Rechtsanspruch auf eine Mindestsicherung existiert. Erst als Reaktion auf die hier analysierte Debatte wurde er eingeführt. Das Gesetz über die Mindestsicherung verweist darauf, dass die französische Regierung Armut als dauerhaftes Problem akzeptiert hatte – im Unterschied zur Bundesregierung. Mit dem RMI verließ der französische Sozialstaat seinen Pfad ein Stück weit. In der Diskussion des Gesetzes hatte sich zwar gezeigt, dass die Loslösung vom Lohnarbeitsbegriff für die französischen Parteien ähnlich problematisch war wie für die deutschen und dass sie mit dem RMI auch nur teilweise vollzogen wurde. Trotzdem brach das RMI mit einem

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Fazit

bisherigen Prinzip des französischen Sozialstaats. Denn nachdem vorher die Mindestsicherung immer nur bestimmten Kategorien der Bevölkerung wie Behinderten oder Alleinerziehenden zugestanden hatte, sicherte sie ab 1988 erstmals alle Bedürftigen insgesamt ab, unabhängig von deren Zugehörigkeit zu einer Kategorie. Diese Universalität stellt eine wichtige Neuerung des sozialen Sicherungssystems und einen Bruch mit dessen bisheriger Logik dar.

Deutsch-französische Gemeinsamkeiten und Unterschiede Frankreich und die Bundesrepublik waren im Untersuchungszeitraum mit dem gleichen Problem konfrontiert, nämlich der Herausbildung neuer Armutsrisiken. Die Frage nach dem Umgang beider Länder mit diesen gleichen Herausforderungen steht hier abschließend im Fokus. In groben Zügen würde sich die Entwicklung beider Länder in einer vergleichenden Perspektive wie folgt beschreiben lassen: Nachdem die Armutsdebatte in Frankreich und der Bundesrepublik bis in die Mitte der 1980er Jahre erstaunlich große Parallelen aufwies, entwickelte sich die Situation anschließend in beiden Ländern auseinander. Danach unterschieden sie sich insbesondere im Hinblick auf die Formulierung der Armutsfrage, den Grad ihrer Politisierung sowie die sozialpolitischen Reaktionen auf die Armut. Auffällig war zunächst die zeitlich parallele Entwicklung beider Debatten. In beiden Ländern wurde die 1970er Jahre hindurch vergeblich nach einer Zäsur gesucht und stattdessen Kontinuität offengelegt. Armut war in dieser Zeit in der Debatte beider Länder zwar präsent, nahm dort aber nur einen marginalen Stellenwert ein; vor allem Sozialarbeiter, Wohlfahrtsverbände und Verwaltungsbeamte diskutierten sie. Während der Begriff Armut tabuisiert wurde, verweisen die verwendeten Begriffe wie soziale Randgruppen oder soziale Unangepasstheit auf die gesellschaftsstrukturelle Verortung der Armut beider Länder. Die neuen Risikogruppen für Armut, die sich in beiden Ländern in dieser Zeit herausbildeten, tauchen in der Debatte der 1970er Jahre noch nicht auf. All das zeigt, dass die Vorstellung von den Trente Glorieuses auch nach deren effektivem Ende 1973/74 in beiden Ländern noch lange in den Köpfen der Zeitgenossen fortdauerte. Beiden Ländern gemeinsam ist auch die Zäsur der Armutsdebatte zu Beginn der 1980er Jahre. Die gleichen Prozesse, die hier mit den Begriffen diskursive Öffnung, Verwissenschaftlichung, Politisierung und Institutionalisierung belegt wurden, lassen sich für die deutsche und für die französische Debatte feststellen – auch wenn sie jeweils unterschiedlich stark ausgeprägt waren. In beiden Ländern stand dieser Bruch im Zusammenhang mit der Entdeckung neuer Armutsrisiken, und in beiden Ländern überdeckte das Interesse für die Armut der

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Gemeinsamkeiten und Unterschiede

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Arbeitslosen die neuen Armutsrisiken von Migranten oder Alleinerziehenden. Beiderseits des Rheins löste die Entdeckung der Armut der Arbeitslosen eine Erneuerung des Armutsbildes aus: Die Verhandlung materieller Problemlagen und die wirtschaftsstrukturelle Verortung von Armut begannen damit. Vor allem aber begann in beiden Ländern auch die Diskussion der Lücken des sozialen Sicherungssystems, die aufgezeigt hat, dass in Frankreich wie in der Bundesrepublik die Debatte um die neue Armut auch eine Diskussion um den Vertrauensverlust in den Sozialstaat darstellte. Trotz dieses Vertrauensverlusts weigerten sich aber beide Länder zu diesem Zeitpunkt noch, den Sozialstaat langfristig auf die Armutsfrage auszurichten. In der Akteurskonstellation der Debatte um die neue Armut haben sich einige Unterschiede zwischen beiden Ländern gezeigt. Hervorgetreten ist insbesondere, dass die Gewerkschaften in der westdeutschen Armutsdiskussion eine deutlich größere Rolle spielten als in Frankreich. In der französischen Armutsdebatte kam wiederum den karitativen Verbänden mehr Bedeutung zu als in der westdeutschen. Gemeinsam war beiden Ländern aber die wichtige Rolle von Oppositionsparteien bei der Verhandlung der neuen Armut; und sogar die christliche Prägung der Diskussion konnte für beide Länder festgestellt werden. Eindeutig erscheint damit die Debatte, die zu Beginn der 1980er Jahre unter dem Schlagwort der neuen Armut geführt wurde, als länderübergreifende Entwicklung. Sie fand nicht nur in beiden Ländern statt, sondern drehte sich auch in beiden Ländern um ähnliche Phänomene, wurde von ähnlichen Akteuren ähnlich formuliert. Dieses Urteil gilt aber nicht mehr für die Exklusionsdebatte am Ende der 1980er Jahre. Bei dieser handelt es sich um eine spezifisch französische Diskussion. Nur Frankreich begann im Untersuchungszeitraum, Armut mit dem Begriff der Exklusion und in der Perspektive ihrer Auswirkung auf die soziale Kohäsion zu diskutieren. Entsprechend verhandelte auch nur Frankreich als Armutsbekämpfung Maßnahmen, die auch die gesellschaftliche Teilhabe der Betroffenen garantieren sollten. Und vor allem: Nur Frankreich setzte überhaupt Maßnahmen zur Armutsbekämpfung um. Dass die französische Regierung insgesamt eine größere Bereitschaft zeigte, gegen Armut politisch zu intervenieren, hatte sich bereits 1984 angedeutet, als sie das Programm zur Bekämpfung der neuen Armut beschlossen hatte. Nachdem die Regierung diese Maßnahmen eher als kurzfristige Notlösungen konzipiert hatte, nahm sie 1988 mit dem Gesetz über die garantierte Mindestsicherung jedoch tiefgreifende und dauerhafte Änderungen am sozialen Sicherungssystem vor. Hinter dieser sozialpolitischen Wende stand eine Regierung, die im Unterschied zur deutschen die Armutsfrage als dauerhaftes Problem akzeptiert und sich als dafür zuständig begriffen hatte. Warum entwickelten sich beide Länder an dieser Stelle so stark auseinander? Beide Staaten waren nicht nur mit den gleichen Problemlagen konfrontiert, sondern der deutsche und der französische Sozialstaat ähneln sich auch vom Typus her. Eine ähnliche Entwicklung wäre insofern nicht unwahrscheinlich

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gewesen und konnte für einen Großteil des Untersuchungszeitraums ja auch nachgewiesen werden. Diese Arbeit hat verschiedene Faktoren als Ursachen diskutiert: Erstens die politische Konstellation in beiden Ländern: In der Bundesrepublik war es eine christlich-liberale Koalition, die das Armutsthema abwehrte, in Frankreich eine sozialistische, die es akzeptierte. Dass sich die Sozialisten, die im Wahlkampf sogar den Kampf gegen die Ungleichheiten versprochen hatten, durch die Existenz von Armut in ihrem Land besonders zum Handeln gegen die Armut aufgerufen fühlten, kann erwartet werden. Als Erklärung reicht dieser Hinweis jedoch nicht aus, da hier mehrfach deutlich wurde, dass Armut sich nur schwer in die politischen Kategorien von links und rechts einordnen lässt, und sich die Armutsfrage nicht als genuines Anliegen linker Parteien charakterisieren lässt. Darüber hinaus hat die Analyse auch gezeigt, dass Armut ein typisches Anliegen von Oppositionsparteien darstellt. Deutlich wurde, dass das mehrfache Wechseln der französischen Parteien zwischen Regierungsverantwortung und Oppositionsrolle in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre dem Armutsthema Auftrieb im politischen Raum gegeben hat. Auch damit unterscheidet sich Frankreich von der Bundesrepublik, wo bis zum Ende des Untersuchungszeitraums keine Regierungswechsel mehr stattfanden und Armut damit im Bundestag das alleinige Anliegen von SPD und Grünen blieb. Neben der politischen Ausrichtung der Regierungen wurden zweitens deren unterschiedliche Handlungsspielräume und damit die wirtschaftliche Entwicklung beider Länder in den 1980er Jahren als Erklärungsfaktor diskutiert. Obwohl beide Länder zunächst 1979/80 eine erneute Rezession erlebt hatten, erholte sich die Bundesrepublik schneller davon und trat 1982 in eine erneute Wachstumsphase ein. Auch wenn das Wachstum deutlich begrenzt war und nicht zur Reduktion der hohen Arbeitslosenzahlen ausreichte, stellte sich die Situation damit etwas besser dar als in Frankreich, wo die Wirtschaft sich nur langsam erholte und die Arbeitslosenquote am Ende des Jahrzehnts spektakuläre Höhen erreichte. Vor diesem Hintergrund fiel es den politischen Entscheidungsträgern der Bundesrepublik vermutlich leichter, Armut als temporäres Phänomen darzustellen, das sich mit der Rückkehr zum Wirtschaftswachstum wieder erledigen würde. Drittens schränkte nicht nur die wirtschaftliche Entwicklung, sondern auch die Beschaffenheit des sozialen Sicherungssystems die Handlungsspielräume der französischen Regierung ein. In der Forschung wird meist die Ähnlichkeit des deutschen und französischen Sozialstaats unterstrichen. Insgesamt sind diese Ähnlichkeiten nicht von der Hand zu weisen, allerdings war das unterste Sicherungsnetz in beiden Ländern sehr unterschiedlich aufgespannt, wie in dieser Arbeit deutlich geworden ist. Im Unterschied zur Bundesrepublik, wo mit dem BSHG 1961 der Rechtsanspruch auf eine bedarfsorientierte Mindestsicherung eingeführt wurde, fehlte diese Vorkehrung in Frankreich bis 1988. Und genau dieser Aspekt war es, der in der französischen Debatte der 1980er Jahre

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Gemeinsamkeiten und Unterschiede

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verhandelt wurde und auf den sich auch der Quellenbegriff der Prekarität bezog. In der Bundesrepublik war die Regierung mit dem Vorwurf eines lückenhaften untersten Sicherungsnetzes konfrontiert; in Frankreich musste sie das gänzliche Fehlen dieses untersten Netzes verteidigen, was entsprechend schwieriger war. Viertens kann insbesondere die unterschiedliche Formulierung der Armutsfrage – in Frankreich als Problem der Exklusion, in der Bundesrepublik nicht – auf unterschiedliche Vorstellungen von gesellschaftlicher Inklusion in beiden Ländern zurückgeführt werden, die wiederum auf unterschiedliche Vorstellungen von gesellschaftlichen Beziehungen zurückgeht. Frankreich ist in der durkheimschen Tradition organischer Solidarität verankert, nach der nicht die einzelnen Individuen zueinander in Beziehung treten, sondern in der die Beziehungen der Individuen bereits gesellschaftlich vorgeformt werden müssen. Die Gesellschaft existiert in diesem Verständnis vor den Individuen und muss reguliert werden, um den Zusammenhalt des Ganzen zu ermöglichen16 . Genau diese Vorstellungen schlugen sich auch in der französischen Ausdeutung von Armut als Frage der Exklusion nieder. Die französische Regierung reagierte auf die Formulierung der Exklusionsfrage mit einem Gesetz, das nicht nur die materielle Versorgung, sondern auch die gesellschaftliche Teilhabe der Armen garantieren sollte. Deutlich zeigt sich darin eben diese Idee, dass die Beziehungen von Individuen gesellschaftlich vorgeformt werden müssen. Fünftens lassen sich Unterschiede zwischen beiden Ländern auch unter dem Begriff der politischen Kultur subsumieren. Auf das unterschiedliche Verhältnis von Sozialstaat und privaten Akteuren ist in der Einleitung schon hingewiesen worden. Effektiv hat die Arbeit auch gezeigt, dass in Frankreich die geringere Anbindung der Verbände an die staatliche Sozialverwaltung dazu geführt hat, dass diese im öffentlichen Raum die Armutsfrage offensiver artikulierten als die deutschen Verbände. Darüber hinaus hat sich das unterschiedliche Zuständigkeitsverständis beider Staaten im Hinblick auf wirtschaftliche und gesellschaftliche Fragen deutlich herausgeschält. Der in der französischen Bevölkerung verbreitete Glaube an die umfassende Zuständigkeit des Staats für soziale, wirtschaftliche und politische Probleme und die bei den Parteien verbreitete Idee, gesellschaftliche Veränderungen mit Hilfe eines starken Staats durchsetzen zu können, wirkten sich auch auf den staatlichen Umgang mit der Armutsfrage aus. Insbesondere die staatliche Planung der Wirtschaft, für die der französische Staat sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entschieden hatte, spielte hier eine Rolle. Die Analyse hat gezeigt, dass die erste Annäherung der französischen Regierung an die Armutsfrage im Kontext der Wirtschaftsplanung erfolgte und dass es ihr relativ leicht gelang, Armut als wirtschaftliches Problem in die Wirtschaftsplanung und damit in ihren Zuständigkeitsbereich aufzunehmen. Mit dem Plankommissariat, der mit

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P, Les formes élémentaires de la pauvreté, S. 186.

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der Wirtschaftsplanung betrauten interministeriellen Behörde, existierte in Frankreich auch ein Akteur, der die Armutsfrage zu seinen Anliegen machte, für den es in der Bundesrepublik kein Pendant gab. Überhaupt fehlte mit der Wirtschaftsplanung dieser Anknüpfungspunkt in der Bundesrepublik. Außerdem stand dort der Zentralstaat als Lösungsinstanz für die Armutsfrage generell weniger im Fokus, weil aufgrund des Föderalismus und der größeren Bedeutung kollektiver sozialer Akteure hinsichtlich der Lösung sozialer Probleme geringere Erwartungen an ihn gerichtet werden als in Frankreich. Die politischen Entscheidungsträger in Frankreich sahen sich insgesamt mehr für die Regelung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Fragen zuständig – und damit auch für Armutsbekämpfung. Insgesamt hat der Ländervergleich es erlaubt, Parallelen zwischen den Ländern zu identifizieren. Inwiefern diese Tendenzen auch auf gesamteuropäische Phänomene verweisen, müsste weiter untersucht werden. Der Vergleich hat darüber hinaus auch einige länderspezifische Entwicklungen offengelegt, die auf wichtige Unterschiede beider Länder hinweisen: in ihrer Gestaltung des untersten sozialen Sicherungsnetzes, in ihren Vorstellungen von Inklusion und der Gestaltung sozialer Bindungen und vor allem in ihrer politischen Kultur.

Die Zäsur und ihre Ursachen Die verschiedenen Aspekte, die das Sprechen von einer Zäsur der Armutsdebatte rechtfertigen, sind schon an vielen Stellen deutlich geworden. Die neuen Entwicklungen, die hier mit den Begriffen diskursive Öffnung, Verwissenschaftlichung, Politisierung und Institutionalisierung beschrieben wurden, weisen darauf hin, ebenso wie die neue Akteurskonstellation. Nicht nur das Verfahren der Debatte, sondern auch deren Inhalte änderten sich. Hinter dem semantischen Bruch stand auch ein in vieler Hinsicht gewandeltes Armutsbild, in dem sich neue Vorstellungen der Akteure über die Dimension der Armut, ihre Ursachen und die von ihr betroffenen Gruppen zeigten. Für Frankreich liegt außerdem eine wichtige sozialpolitische Zäsur vor, da Armut sich als Kategorie sozialstaatlichen Handelns zu etablieren begann. Diese Entwicklungen zeichneten sich indes zu einem anderen Zeitpunkt ab als vermutet, nämlich nicht in der Mitte der 1970er Jahre, sondern erst an der Schwelle von den 1970er zu den 1980er Jahren. Aus diesem Grund wurde hier den Arbeiten Recht gegeben, die dem Ende der 1970er Jahre stärkere Aufmerksamkeit zukommen lassen, so wie es beispielsweise Frank Bösch vorschlägt17 . Obwohl der Bruch der Debatte sich damit später abzeichnete als

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B, Umbrüche in die Gegenwart.

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Die Zäsur und ihre Ursachen

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vermutet, war er doch da. Die genannten Entwicklungen erlauben es, für diesen Untersuchungsgegenstand und diese Untersuchungsländer von der Zeit nach 1970 als strukturellem Bruch zu sprechen, so wie Lutz Raphael und Anselm Doering-Manteuffel für die westeuropäischen Länder18 . Die Ursachen für diesen Bruch sind oben schon an verschiedenen Stellen aufgetaucht und sollen hier abschließend systematisiert werden. Die Vorannahme, dass die Herausbildung neuer Armutsrisiken das neue Interesse für die Armutsfrage mit ausgelöst hatte, trifft zu, da es insbesondere die Ausbreitung der materiellen Not unter den Arbeitslosen gewesen war, die für die Neuentdeckung, die Neuetikettierung und die Erneuerung des Armutsbildes verantwortlich war. Aber nicht nur diese empirische Entwicklung hatte den Bruch verursacht, sondern weitere wichtige Faktoren sind bei der Analyse hervorgetreten. Einer davon war der gewandelte wirtschaftliche Kontext. Insbesondere das französische Beispiel hat dies illustriert. Die Debatte um die neue Armut kam dort auf, als die krisenhafte Entwicklung der Wirtschaft den politischen Reformenthusiasmus abbremste und erste Austeritätsmaßnahmen erforderte. Nachdem so der Glaube an die Rückkehr zum Wachstum der Nachkriegszeit und damit auch der Glaube an das Verschwinden materieller Notlagen durch Wirtschaftswachstum nachdrücklich zerstört war, öffneten sich die politischen Entscheidungsträger für die Armutsfrage. Auch der Wandel der politischen Konstellation und der politischen Kultur stellt eine Ursache dar. Allerdings nicht in dem Sinne, dass die Ankunft linker Parteien in der Regierungsmacht Armut auf die politische Agenda gebracht hätte. Denn Mitterrands Wahlsieg 1981 etwa war zunächst weitgehend ohne Einfluss auf die Armutsdebatte geblieben. Allerdings konnte gezeigt werden, dass die in Frankreich anschließend folgenden schnellen politischen Wechsel – der Beginn und das Ende der ersten Kohabitation 1986 und 1988 – der Armutsfrage im politischen Raum zum Aufschwung verholfen hatten. Außerdem hatte die Ankunft einer neuen Partei im Parlament ebenfalls dazu beigetragen. Denn obwohl der Front national nicht selbst die Armutsfrage auf seine Agenda setzte, beschäftigten sich die anderen Parteien seitdem verstärkt mit dem Thema, weil sie dessen Besetzung von rechts fürchteten. Für die Bundesrepublik spielt ebenfalls die Ankunft einer neuen Partei im Parlament eine wichtige Rolle für die Entwicklung der Armutsdebatte. Hier waren es die Grünen, die sich zum Anwalt der Armen erklärten. Dies verdeutlicht, dass auch die Veränderung der politischen Kultur wichtigen Einfluss auf die Diskussion der Armut nahm. Denn die Grünen trugen etwa mit dem Thema Frauenarmut ein Anliegen der neuen sozialen Bewegungen in den parlamentarischen Raum hinein. Ein gewandeltes Verhältnis der hier untersuchten Verbände zum Sozialstaat hat ebenfalls Einfluss auf die Armutsdebatte genommen. Dies wurde für beide

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D-M, R, Nach dem Boom.

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Fazit

Länder festgestellt, obwohl dieses Verhältnis sich in beiden Ländern in unterschiedliche Richtungen entwickelte. In der Bundesrepublik mischten sich die Verbände verstärkt in die Armutsdebatte ein, nachdem die sozialpolitischen Sparmaßnahmen ihre Distanz zum Staat anwachsen ließen. Anders in Frankreich, wo die Verbände durch die steigende staatliche Finanzierung zwar in größere staatliche Abhängigkeit gerieten, sich mit den neuen finanziellen Mitteln aber auch neue Handlungsspielräume erschließen konnten. Auch das zunehmende Agieren der Kirche als zivilgesellschaftlicher Akteur hat die Debatte beeinflusst. Am deutlichsten ist es am französischen Beispiel geworden, wo das Thema der neuen Armut maßgeblich vom französischen Caritasverband und von der katholischen Kirche aufgebracht wurde. Aber auch in der Bundesrepublik haben gerade die konfessionellen Verbände die Debatte um die neue Armut maßgeblich mitgeprägt. Als gering hat sich in diesen Quellen indes der Einfluss der europäischen Nachbarländer auf die Debatte erwiesen. Die Tatsache, dass diese mit ähnlichen Problemen konfrontiert waren und darüber diskutierten, wurde in Frankreich und der Bundesrepublik wenig wahrgenommen. Allerdings kann ein Anstoß von oben, nämlich von der Ebene der EG als ein weiterer wichtiger Mitauslöser der Armutsdebatte festgehalten werden. Denn es wurde gezeigt, dass das erste Europäische Armutsbekämpfungsprogramm auf die jeweiligen nationalen Debatten einwirkte. Der Einfluss der internationalen Diskussion um Armut in der Welt hat sich dagegen nur an einer Stelle manifestiert, dort allerdings sehr deutlich. Es konnte gezeigt werden, dass die Mitarbeiter des Diakonischen Werks in der Bundesrepublik den Impuls zur Beschäftigung mit der Armutsfrage von ihren Kollegen aus der Entwicklungszusammenarbeit erhalten hatten. Die Weltmissionskonferenz 1980, die wiederum unter dem Einfluss der Befreiungstheologie stand, hatte diese Beschäftigung katalysiert. Weitere Querverbindungen zwischen der Debatte um die Armut in der Welt und der Diskussion der Armut im eigenen, wohlhabenden Land haben die hier untersuchten Quellen indes nicht offengelegt. Insgesamt lässt sich der Bruch der Armutsdebatte also in beiden Ländern auf ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Faktoren zurückführen. Interessant ist dabei, dass viele der plausiblen Erwartungen daran, was diese Faktoren hätten sein können, nicht zutreffen. Es waren nicht wie vermutet Parteien des linken politischen Spektrums, die die Debatte um Armut anstießen. Stattdessen kann diese Rolle vor allem den Oppositionsparteien zugeschrieben werden, unabhängig von deren politischer Ausrichtung. Außerdem hat sich die Diskussion als wenig europäisch herausgestellt, da die Entwicklung der Armut in anderen Ländern und deren Umgang damit nur eine geringe Rolle als Argument in den nationalen Debatten spielte. Obwohl die neue Armut ein westeuropäisches Phänomen darstellt, wurde sie in einem nationalen Bezugsrahmen diskutiert. Auch die naheliegende Annahme, dass die Debatte um Armut auch eine Debatte um Fremdheit darstellt, die auch durch die verstärkten Migrationsbewegungen der Zeit angestoßen wurde, kann hier nicht bestätigt

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werden. Zwar gehörten Migranten in beiden Ländern zu den Gruppen mit einem überdurchschnittlich hohen Armutsrisiko, jedoch wurde ihre Situation in der Debatte nur selten thematisiert. Auch Verweise auf andere Gruppen wie Alleinerziehende oder Jugendliche, deren Armutsrisiko wie das der Migranten im Untersuchungszeitraum überdurchschnittlich steil anstieg, waren selten. Die Diskussion der neuen Armut war weniger eine Verarbeitung der Mangellagen dieser Gruppen mit offensichtlichen Handicaps. Viel eher war sie eine Debatte um die – unter anderem durch Arbeitslosigkeit bedingte – Ausdehnung der Armut auf Menschen ohne sichtbare Handicaps. Die hier untersuchten Akteure deuteten dies als Vordringen der Bedürftigkeit in mittlere Schichten. Steigendes Interesse für die Armutsfrage und sinkendes Vertrauen in den Sozialstaat waren Folgen dieser Entdeckung. Die Armutsdebatte wandelte sich daraufhin in vielfacher Hinsicht. Dies zeigt sich an verschiedenen Entwicklungsprozessen, die beschrieben wurden. Vor allem konstruieren die hier untersuchten staatlichen und privaten Akteure dabei auch ein Bild von Armut, das die empirische Realität zwar sicher nicht treu abbildet, aber über eine tiefgreifende Erneuerung ihrer Vorstellungen von Armut Aufschluss gibt.

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Abkürzungen ACDP ADE AdsD AG AGG AK AMGVF AN ANF APuZ ATD AWO BA BAföG BMJFG BT BRD BSHG CAS CES CERC CDU CFDT CGT CLR CSU DARES DAS DCV ddp DGB dpa DPWV DV EDF EG FAZ FDP FN

Archiv für christlich-demokratische Politik Archiv für Diakonie und Entwicklung Archiv der sozialen Demokratie Arbeitsgruppe Archiv Grünes Gedächtnis Arbeitskreis Association des maires des grandes villes de France Assemblée nationale Archives nationales françaises Aus Politik und Zeitgeschichte aide à toute détresse Arbeiterwohlfahrt Bundesarchiv Bundesausbildungsförderungsgesetz Bundesministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit Bundestag Bundesrepublik Deutschland Bundessozialhilfegesetz Centre d’archives socialistes Conseil économique et social Centre d’études des revenus et des coûts Christlich-Demokratische Union Confédération française démocratique du travail Confédération générale du travail compléments locaux de ressources Christlich-Soziale Union Direction de l’animation de la recherche, des études et des statistiques Direction de l’action sociale Deutscher Caritasverband Deutscher Depeschendienst Deutscher Gewerkschaftsbund Deutsche Presseagentur Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge Électricité de France Europäische Gemeinschaft Frankfurter Allgemeine Zeitung Freie Demokratische Partei Front national

https://doi.org/10.1515/9783110613087-017

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358 FO FORS FR GDF GG HSR INSEE JO MRG OECD PCF PS RMI RPR SMIC SPD SZ UDF ZEP ZSR

Abkürzungen

Force ouvrière Fondation pour la recherche sociale Frankfurter Rundschau Gaz de France Geschichte und Gesellschaft Historical Social Research Institut national de la statistique et des études économiques Journal officiel Mouvement des radicaux de gauche Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Parti communiste français Parti socialiste revenu minimum d’insertion Rassemblement pour la République salaire minimum interprofessionnel de croissance Sozialdemokratische Partei Deutschlands Süddeutsche Zeitung Union pour la démocratie française zones d’éducation prioritaire Zeitschrift für Sozialreform

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Unveröffentlichte Quellen Archives nationales françaises (ANF), Pierrefitte-sur-Seine 19850293/53

19880020/10 19880351/32

Bureau du développement social et de l’insertion (direction de l’action sociale): Lutte contre la pauvreté: VIIe plan, rapport du sous-groupe Paupérisation et personnes isolées, 1980 Conseiller technique au cabinet du Premier ministre: Pauvreté, 1982–1985 Conseiller technique au cabinet du Premier ministre: Politique économique et sociale/pauvreté, 1984–1985

Archiv des Secours catholique, Paris Et chômeurs. . . (1980) Dettes EDF-GDF (1981) Pauvres d’aujourd’hui. Analyse de 580 situations de pauvreté (1982)

Archiv und Bibliothek von ATD Quart Monde: Centre international Joseph-Wresinski (CIJW), Baillet-en-France Rapport moral 1971, 1974, 1977 La spécificité du sous-prolétariat, 1978 Quart Monde, revenus et besoins essentiels, 1978 Lutte contre l’extrême pauvreté et l’exclusion. Rapport moral 1978, 1978 Familles pauvres de Reims: De l’argent pour vivre, Januar 1980

Archiv der CFDT, Paris CP/15/79 CH/8/1533

CDAR/36/19

Archives confédérales, Fonds personnel: Edmond Maire, 1971–1988 Archives confédérales, Secrétariat confédéral: Activité du groupe confédéral »Protection sociale« contre la pauvreté et la précarité et sur l’organisation des chômeurs, 1983–1986 Archives confédérales, Département action revendicative: Débat sur le minimum social face à la pauvreté et la précarité, 1984–1989

https://doi.org/10.1515/9783110613087-018

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Unveröffentlichte Quellen

Centre d’archives socialistes (CAS), Paris Schriftgutarchiv Nachlass Pierre Mauroy (zum Zeitpunkt der Recherche noch unverzeichnet)

Pressearchiv Législatives 1973, candidatures, éléments programmatiques, résultats et commentaires François Mitterrand, documents, analyses, résultats, présidentielles 1974 François Mitterrand, campagne présidentielle, avril 1974 Présidentielles 1988, lettres du PS, argumentaire PS Info, tracts entreprises, argumentaires thématiques, tracts Présidentielles 1988, François Mitterrand, 1er tour jusque 6.4.1988

Archiv für christlich demokratische Politik (ACDP), St. Augustin Schriftgutarchiv CDU-Bundesvorstand, Bundesgeschäftsführer Karl-Heinz Bilke 07–001 951 007–01 955 07–001 22134

Protokoll 24.2.1975 (Klausurtagung) Protokoll 12.5.1975 Bundesparteitag Mannheim 23.–25.06.1975; Anträge, Mannheimer Erklärung, Wahl CDU-Bundesvorstand; 24.02.1975–23.06.1975

CDU Bundesvorstand 07–001 22138

23. Bundesparteitag Mannheim 23.–25.6.1975 (6), Nachbereitung 3.6.1975–27.1.1976, Abt. II Politik Dorothee Wilms

CDU Bundesvorstand, Bundesfachausschuss Sozialpolitik 07–001 8715 07–001 8717 07–001 8718 07–001 8719 07–001 8720 07–001 8721 07–001 8722

Konstituierung 1970 und 1972 Protokolle, Materialien, Dokumente, Feb. 1971–Jan. 1972 Protokolle, Materialien, Dokumente, Dez.1971–Dez. 1973 Kommission Soziale Dienste, Juni 1973–Juni 1974 Kommission Soziale Dienste, Mai 1973–Juni 1974; Hearing Soziale Dienste Protokolle, Dokumente und Materialien, Jan.–Nov. 1974 Kommission Soziale Dienste, Nov. 1972–Okt. 1974

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Unveröffentlichte Quellen 07–001 8723

Sozialpolitik, Arbeitsgruppe Soziale Berufe, Mai–Dez. 1975

07–001 8724

Protokolle, Dokumente, Materialien, Aug. 1973–Nov. 1976

07–001 8725

Protokolle, Materialien, Anwesenheit, Feb. 1975–Nov. 1976

361

Pressearchiv Sozialpolitik, 0/060/2–8: Armut Sozialpolitik, 2/204/1–6–1

Archiv für Diakonie und Entwicklung (ADE), Berlin HGSt 5650

Hauptgeschäftsstelle des Diakonischen Werks der EKD: Arbeitsgruppe Armut, 1980–1982

PB 1245

Präsidialbüro in der Hauptgeschäftsstelle: Sozialpolitische Gespräche und Hearings, 1983–1985

Archiv der sozialen Demokratie (AdsD) und Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn Archiv 2/PVAX721

SPD Parteivorstand, Referat Frauen, Forum Neue Armut, 5.12.1984

Bibliothek Z9803/1983, 2.1

Arbeitsgruppe Armut und Unterversorgung, Armut und Unterversorgung. Fachpolitische Stellungnahme zur aktuellen Situation in der Sozialhilfe, Februar 1983

A12–2998

»Immer mehr werden an den Rand der Gesellschaft gedrängt«. Vortrag des stellvertretenden DGB-Vorsitzenden Gerd Muhr auf einer Fachtagung zum Thema »Neue Armut«, September 1985

C93–957

SPD-Bundestagsfraktion, Arbeitskreis Sozialpolitik, Diskussionspapier: Soziale Grundsicherung, Oktober 1987

C98–413

Uwe Kantelhardt, Einleitungsreferat für das Forum I der DGBFachtagung am 5.11.1986 in Köln

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Unveröffentlichte Quellen

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Bundestagsfraktion Die Grünen: Grundsicherung und Mindesteinkommen, 1983–1988 Bundestagsfraktion Die Grünen: Bedarfsorientierte Grundsicherung, 1984–1988 Bundestagsfraktion Die Grünen: Armut 1984–1988

B II 1, 3830 B II 1, 4753

Bundesarchiv (BA), Koblenz BA 189/21991 BA 189/22035

BMJFG: Aktionsprogramm der Bundesregierung zur Eingliederung sozialer Randgruppen BMJFG: EG-Armutsprogramm

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BT-Drucksachen 10/2444–10/2449; 10/2452; 10/2454; 10/2458 Entschließungsantrag des Abgeordneten Verheyen (Bielefeld) und der Fraktion Die Grünen zur dritten Beratung des Entwurfs des Haushaltsgesetzes 1985, 26.11.1984 10/3496 Antrag des Abgeordneten Bueb und der Fraktion Die Grünen: Grundrente statt Altersarmut, 18.6.1985 10/4503–10/4504 Große Anfrage der Abgeordneten Bueb, Frau Wagner und der Fraktion Die Grünen: Armut und Sozialhilfe in der Bundesrepublik Deutschland, 9.12.1985 10/5456 Fragen für die Fragestunden der Sitzung des Deutschen Bundestages am Mittwoch, dem 14. Mai 1986; am Donnerstag, dem 15. Mai 1986, 9.5.1986 10/5524 Große Anfrage der Abgeordneten Frau Zeitler, Bueb und der Fraktion Die Grünen: Arbeit und Armut in der Bundesrepublik, 20.5.1986 10/5948 Große Anfrage der Abgeordneten Müller u. a. und der Fraktion der SPD: Armut in der Bundesrepublik Deutschland, 21.8.1986 10/6055 Antwort der Bundesregierung auf die Großen Anfragen der Abgeordneten Bueb, Frau Wagner und der Fraktion Die Grünen: Armut und Sozialhilfe in der Bundesrepublik, 24.9.1986 10/5524 Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Frau Zeitler, Bueb und der Fraktion Die Grünen: Arbeit und Armut in der Bundesrepublik Deutschland, 3.12.1986 10/6623 Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Müller u. a.: Armut in der Bundesrepublik Deutschland, 3.12.1986 10/6582 Entschließungsantrag des Abgeordneten Bueb und der Fraktion Die Grünen zur dritten Beratung des Entwurfs des Haushaltsgesetzes 1987, 27.11.1986 https://doi.org/10.1515/9783110613087-019

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Veröffentlichte Quellen

11/1264 Entschließungsantrag der Abgeordneten Frau Beck-Oberdorf u. a. und der Fraktion Die Grünen zur dritten Beratung des Entwurfs des Haushaltsgesetzes 1988, 19.11.1987

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8. Legislatur Nr. 1212: Pierre Joxe, Proposition de loi tendant à instaurer un revenu minimum d’insertion, 23.12.1987

9. Legislatur Nr. 146: Claude Évin, Projet de loi relatif au revenu minimum d’insertion, 20.7.1988 Nr. 161: Jean-Michel Belorgey, Rapport fait au nom de la Commission des affaires culturelles, familiales et sociales (1) sur le projet de loi (no 146) relatif au revenu minimum d’insertion, 3.10.1988 Nr. 357: Jean-Michel Belorgey, Rapport fait au nom de la Commission des affaires culturelles, familiales et sociales sur le projet de loi, modifié par le Sénat, relatif au revenu minimum d’insertion, 16.11.1988 Nr. 416: Jean-Michel Belorgey, Rapport fait au nom de la Commission des affaires culturelles, familiales et sociales en vue de la lecture définitive du projet de loi relatif au revenu minimum d’insertion, 30.11.1988

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Veröffentlichte Quellen

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Register der Personen, Parteien und Verbände AMGVF 147f., 152–155, 166, 168, 177 Arbeiterwohlfahrt 25f., 28, 41, 217, 220f., 225, 248, 340 ATD Quart Monde 19, 25, 28, 40, 44, 54–56, 58, 60–66, 71, 84, 131, 159, 161, 174f., 272–275, 277–281, 283, 285, 287, 291, 297, 299, 308, 327, 332, 334, 337, 340 Barre, Raymond 77f., 156, 158, 160, 301, 310 Barrot, Jacques 65, 163 Bellechy, Martin 296 Belorgey, Jean-Michel 165, 179, 308, 312, 314, 316–318, 321, 326 Biedenkopf, Kurt 110f., 119–126 Blüm, Norbert 215, 229, 249–252 Boulard, Jean-Claude 295, 315f., 321 Bouvard, Loïc 166f., 293 Brandt, Willy 87, 99, 161 Buschfort, Hermann 220–222 Cacheux, Denise 322 Caritasverband 25, 41, 48, 50, 93f., 96f., 99, 144, 146, 149, 152, 159, 182, 197, 200, 202, 222, 224–227, 241, 259, 339, 354 CDU 27, 39, 87, 109–129, 131, 215, 219–221, 229, 231, 233, 239, 248–250, 252, 255f., 262, 336, 339 CFDT 281–285, 302, 314, 338f., 374 CGT 279, 281f., 284 Chaban-Delmas, Jacques 72, 74–77, 292 Chamard, Jean-Yves 322, 327f. Chapuis, Robert 293, 310 Charvet, Dominique 160, 275 Chirac, Jacques 12, 53, 81f., 135, 147f., 152–154, 176, 266, 291, 301 Courrière, Raymond 168–170 Crämer-Schäfer, Helga 91f., 194 CSU 119f., 122, 124, 252 DGB 207–221, 225f., 229, 231, 233f., 238, 241f., 252f., 285, 340, 346 Diakonie 25, 28, 41, 96, 197–200, 202f., 218–222, 224f., 228, 248, 252, 337 https://doi.org/10.1515/9783110613087-021

DPWV 25, 226f., 242 Dufoix, Georgina 169f., 173, 289, 296 DV 185–189, 194 Emmaüs 25, 45, 56, 144, 174, 176 Évin, Claude 307f., 310, 312, 315–317, 320, 322, 325f. Fabius, Laurent 169f., 261 FDP 39, 122–124, 126f., 184, 247–249, 252 FN 39, 297, 301 FO 281f., 284 Focke, Katharina 102 Frachon, Martine 175, 288 Fuchs, Anke 229 Gaben, Louis 47, 50f., 54, 137 Gaulle-Anthonioz, Geneviève, de 58 Geißler, Heiner 11, 87, 96, 111f., 114–120, 126, 215, 229f., 239, 249f., 252, 255, 260, 334, 339 Giscard d’Estaing, Valéry 44, 64, 71–73, 75, 80, 163 Glombig, Ernst 122–124, 126 Glotz, Peter 230f., 234, 245, 249 Grobecker, Claus 122–124 Die Grünen 11, 27, 39, 229, 234–239, 241–247, 250–252, 254, 294, 335f., 340, 347, 350, 353 Hauser, Richard 36–38, 91f., 116, 188, 190–192, 194, 211f., 225f., 240, 339 Hoffmann, Albert 186 Hutter, Andreas 201f. Jacquaint, Muguette 288 Joxe, Pierre 294, 298, 300, 302, 310, 326 Klanberg, Frank 192 Klanfer, Jules 63 Koehl, Émile 294, 299f., 302 Lafontaine, Oskar 230f. Lajoinie, André 294, 297, 301f. Leibfried, Stephan 20, 90, 186, 195, 255 Lenoir, René 48, 63, 65

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Register der Personen, Parteien und Verbände

Massé, Pierre 63 Mauroy, Pierre 160, 306f., 310, 315f., 326 Mitterrand, François 12, 31, 40, 64, 70–76, 133, 163f., 169, 178, 279, 288, 291, 301, 306 MRG 70, 133, 306 Muhr, Gerd 207f., 210, 213–216, 252 Nouvertné, Udo Oheix, Gabriel 275, 299

91f., 190–192, 194 156, 158–160, 162f., 173,

PCF 39, 70, 77f., 129, 133, 163, 287f., 294f., 302f., 312 Pequignot, Henri 157, 279 Pompidou, Georges 72, 75 Potthast, Gabriele 229f. Prigent, Robert 136, 140 PS 39, 70, 74, 77, 133, 154, 163f., 269, 287–289, 293–297, 301f., 306f., 310f., 313–316, 318, 326f. Questiaux, Nicole

160

Rocard, Michel 161, 276f., 295, 306 Rodhain, Jean 40, 46, 50f., 140, 143 RPR 39, 154, 168, 266, 287f., 296f., 322, 327, 336

Schmidt, Helmut 21, 87, 123 Schober, Theodor 198, 218 Secours catholique 25, 40, 42, 44–55, 76, 84, 92, 132, 135–144, 146–151, 153, 155, 158f., 165f., 169, 174, 176, 219, 259, 276–278, 283, 299, 308, 334, 337, 341 Seguin, Philippe 271, 288 SPD 27, 39, 112, 120, 122, 124–127, 131, 214f., 222, 225, 229–239, 242, 245–247, 249–252, 255, 294, 336, 340, 347, 350 Steinhilber, Horst 200 Stoiber, Edmund 121 Strauß, Franz Josef 121 UDF 39, 154, 167, 266, 287f., 293f., 296–299, 302, 312, 322, 327, 336 URP 72 Virapoullé, Jean 321 Vogt, Wolfgang 219, 221, 249, 252 Wresinski, Joseph 28, 40, 56–63, 65f., 156, 159, 161, 175, 272, 276–279, 299 Zeller, Adrien 68, 166f., 174, 271, 285, 288, 290, 292, 294, 298–300, 302, 313, 327

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