Negativität in der Dichtung Paul Celans 9783110947434, 9783484180505


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German Pages 289 [292] Year 1977

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Table of contents :
EINLEITUNG
DAS SCHWEIGEN
I Einleitung
II Vorblick
III Schweigen und Ich-Du-Beziehung
IV »Unten« – Übergang zur Thematisierung von Sprache und Schweigen
V Sprache und Schweigen
DAS NICHTS
I Einleitung
II Vorblick
III Die Negationen
IV Utopie
V Der Begriff »Wirklichkeit«
›ZUR NACHTORDNUNG ÜBERGERITTEN‹
Negativität in der späten Lyrik Celans
I Einleitung
II Veränderte Sprechweise
III Gestalten der Opposition
SCHLUSS
LITERATURVERZEICHNIS
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Negativität in der Dichtung Paul Celans
 9783110947434, 9783484180505

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STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR

Herausgegeben von Wilfried Barner, Richard Brinkmann und Friedrich Sengle

Band

54

Georg-Michael Schulz

Negativität in der Dichtung Paul Celans

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1977

Schulz, Georg-Michael Negativität in der Dichtung Paul Celans.- i. Aufl.-Tübingen : Niemeyer, 1977. (Studien zur deutschen Literatur ; Bd. 54) ISBN 3-484-18050-1)

ISBN 3-484-1 l 8 o j O - I

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1977 Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Printed in Germany.

Inhaltsverzeichnis

EINLEITUNG

i

DAS SCHWEIGEN I Einleitung 1

II

III

»Neigung zum Verstummen«

ro lO

2 Allgemeine Aspekte

12

3

22

Schweigen als poetischer Gegenstand

Vorblick

27

»Edgar Jen£ und der Traum vom Traume«

28

Schweigen und Ich-Du-Beziehung

36

IV »Unten« - Übergang zur Thematisierung von Sprache und Schweigen V Sprache und Schweigen Vorblick 1 Das Verschwiegene 2 Schweigen - utopische Sprache - das Unsagbare - der Tod . 3 »Blume« - sinnliche Erfahrbarkeit von Sprache 4 »Anabasis« - gestische Momente der Sprache

42 50 jo 52 j6 69 84

DAS NICHTS I

Einleitung r 2

II

Philosophische Aspekte des Begriffes »Nichts« Der Begriff »Nichts« in der jüdischen Mystik

97 97 103

Vorblick

109

»Mandorla« und »Psalm« 1 »Mandorla« 2 »Psalm«

no in 119

3 Das 3.1 3.2 3.3

Nichts in »Mandorla« und »Psalm« Befremdlichkeit des Begriffes »Nichts« Abstraktheit Nichtigkeit - »Kreatürlichkeit« - sprachlich nicht faßbare Erfahrung 3.4 Das Nichts und die poetische Selbstreflexion . . . .

III

IV

129 129 133 138 146

Die Negationen

150

1 Allgemein 2 Negation und Paradoxie 3 »Schuttkahn« - das notwendige als das zugleich gesetzte »Nein«

ijo 159 169

Utopie

175

i Die Büchner-Rede z Utopie und Negation - Utopie als Denk- und Anschauungsform 3 Utopisches als Inhalt - »An niemand geschmiegt« . . . .

175 185 191

V Der Begriff »Wirklichkeit«

204

>ZuR NACHTORDNUNG ÜBERGERITTEN< Negativität in der späten Lyrik Celans I

II

III

Einleitung

215

1 Die Sonderstellung des Spätwerks. Vorblick 2 Voswinckels Deutung des Spätwerks 3 Erste Leseerfahrungen

215 216 219

Veränderte Sprechweise

223

1 2 3 4

223 227 235 240

Vokabular Umkehrungen und Verschiebungen Direktheit und Konkretheit Zitate

Gestalten der Opposition

244

1 »Die fleißigen / Bodenschätze« 2 Momente von Opposition in der früheren Lyrik 3 »Enthöhung« und Entgrenzung 3.1 »Enthöhung« 3.2 Entgrenzung 3.3 Ambivalenz SCHLUSS

244 250 254 254 263 267 272

LITERATURVERZEICHNIS

278

VI

Einleitung

In Erich Frieds Gedichtsammlung »Die Freiheit den Mund aufzumachen« findet sich das folgende Gedicht:1 Beim Wiederlesen eines Gedichtes von Paul Celan >es sind noch Lieder zu singen jenseits der Menschen< Lesend von deinem Tod her die trächtigen Zeilen wieder verknüpft in deine deutlichen Knoten trinkend die bitteren Bilder anstoßend schmerzhaft wie damals an den furchtbaren Irrtum in deinem Gedicht das sie lobten den weithin ausladenden einladenden ins Nichts Lieder gewiß auch jenseits unseres Sterbens Lieder der Zukunft jenseits der Unzeit in die wir alle verstrickt sind Ein Singen jenseits des für uns Denkbaren Weit Doch nicht ein einziges Lied jenseits der Menschen 1

Erich Fried: Die Freiheit den Mund aufzumachen. Berlin 1972, S. 33.

Stimmt das?, so möchte man spontan fragen. Stellt Celans Dichtung wirklich eine >Einladung ins Nichts< dar, und beginnt das wie immer auch zu bestimmende Nichts »jenseits / der Menschen«? Die Verse, auf die Fried sich bezieht, entstammen einem Gedicht des Bandes »Atemwende« : Fadensonnen über der grauschwarzen ödnis. Ein baumhoher Gedanke greift sich den Lichtton: es sind noch Lieder zu singen jenseits der Menschen.

Als sinnlich-reales Substrat mag man sich hier eine öde Landschaft denken, in der ein einzelner Baum steht, und Sonnenstrahlen, die nur verdünnt und vereinzelt durch die Wolken dringen und die auf die Zweige jenes Baumes fallen, so daß es scheint, als greife der Baum nach dem Licht. Dieses Bild geht verwandelt, nicht entrealisiert in das Gedicht ein: die scheinbar ausgreifende Bewegung des Baums wird zum Repräsentanten einer Bewegung des Denkens, das Sichtbare wird wahrgenommen als ein zugleich Hörbares - »Lichtton« -: dies beides ist Bedingung für die Einsicht, der das Gedicht am Schluß Ausdruck verleiht. >Jenseits< der Menschen liegt nicht das Nichts, sondern ein Bereich, der diesen hiesigen transzendiert, diese Welt der Menschen, und das heißt: diese unsere Welt >jenseits von Edenfurchtbaren Irrtums< nicht im ganzen dahin, zumal der Begriff des »Nichts« ja aus Celans Gedichten selbst übernommen ist und zumal Fried auch wesentliche Züge der Celanschen Lyrik erfaßt hat, wenn er von den »deutlichen Knoten« spricht und die »bitteren Bilder« nennt und einen schmerzhaften AnstoßWelt< konstituiert [...]. Negativität kennzeichnet das Kunstwerk aber auch im ge3 4 5

8

Harald Weinrich (Hg.): Positionen der Negativität. München 1975 (Poetik und Hermeneutik VI). Reinhart Koselleck: Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe, a.a.O., S. 65-104. Günther Bück: »Die Freudigkeit jenes Sprungs...«. Negativität, Diskontinuität und die Stetigkeit des Bios, a.a.O., S. 155-76. Hans Robert Jauß: Negativität und Identifikation. Versuch zur Theorie der ästhetischen Erfahrung, a.a.O., S. 263-339; hier: S. 304.

schichtlichen Prozeß seiner Produktion und Rezeption, sofern es den vertrauten Horizont einer Tradition überschreitet, ein eingespieltes Weltverhältnis verändert oder bestehende gesellschaftliche Normen durchbricht. Negativität kennzeichnet schließlich sowohl die subjektive wie die objektive Seite der ästhetischen Erfahrung. Sie steckt in Kants Interesselosigkeit des ästhetischen Wohlgefallens, einer Formel der Negation, mit der die »Fernstellung von Ich und Gegenstand« getroffen ist, »[...] ästhetische Distanz [.. .]«.7 Sie erscheint andererseits im Verhältnis von Kunst und Gesellschaft, sofern das Kunstwerk, obschon Produkt gesellschaftlicher Arbeit, immer schon »der Empirie durchs Moment der Form opponiert« und gerade nach erlangter Autonomie, wenn sich Kunst den Normen des gesellschaftlich Nützlichen versagt, aus der Gegenposition zur Gesellschaft wieder eine eminent gesellschaftliche Funktion gewinnt.8 Somit meint Negativität hier dreierlei: einmal die Irrealität des literarischen Gegenstandes, also das Fiktionale (um das sich auch andere Beiträge des genannten Sammelbandes bemühen9), weiterhin die Überschreitung traditioneller Horizonte, also Innovation, und schließlich Distanz zwischen Kunstwerk und Rezipient, begründet seitens des einen im Moment der Autonomie, seitens des anderen in der Interesselosigkeit.10 Jauß' eigener Entwurf versucht, die zu »ästhetischer Negativität« komplementäre Bedeutung von »ästhetischer Identifikation« darzulegen; indessen berührt dieser Zusammenhang die vorliegende Fragestellung nicht. Im Sinne der letzteren ist jedoch festzustellen, daß die allgemeine Erörterung von Negativität hinsichtlich des Kunstwerks schlechthin oder der Beziehung von Kunstwerk und Rezipient nicht von sich aus hinüberführt zu der Frage nach konkreten Spuren von Negativität inhaltlicher wie formaler Art im jeweils individuell künstlerisch Gestalteten, im einzelnen Gedicht.11 Daher versucht die vorliegende Arbeit nicht, die

7 8 9 10

11

Zitiert wird L. Giesz: Phänomenologie des Kitsches. München ^1971, S. 30. Jauß, a.a.O., S. 263 f. Zitiert wird Th. W. Adorno: Ästhetische Theorie (Gesammelte Schriften 7). Frankfurt/M. 1970, S. 15. Vgl. vor allem Karlheinz Stierle: Der Gebrauch der Negation in fiktionalen Texten, aa.O., S. 235-62, sowie die Diskussion, a.a.O., S. 519-40. Man könnte beide Seiten im Hinblick auf die ihnen gemeinsame Nähe zum Begriff der Freiheit erörtern. Mit Bezug auf den Rezipienten thematisiert Jauß »Freiheit« bzw. »Freisetzung« a.a.O., S. 302-305, 337 und passim. Der Zusammenhang von »Autonomie« und »Freiheit« ist bei Adorno vielfach reflektiert (vgl. etwa: »Die Idee der Freiheit, ästhetischer Autonomie verschwistert. [...]«, a.a.O., S. 34 und passim). Dieser Übergang scheint im ganzen bis heute nicht recht gelungen. Beispielhaft sei verwiesen auf die Einleitung von Wolf gang Isers Aufsatz: Die Figur J

Frage nach Negativität in Celans Dichtung in einer solchen allgemeinen Erörterung zu »fundieren«, ebensowenig wie auf der anderen Seite in einer linguistischen Diskussion des Phänomens »Negation«. Abgesehen davon, daß gerade in dieser letzteren Hinsicht der genannte Sammelband vor allem die Unvereinbarkeit konkurrierender Ansätze demonstriert, kann Negativität zwar Ausdruck finden mittels der Negation, ist indessen keineswegs an die tatsächliche Verwendung von Negationen gebunden. Vielmehr ist zu zeigen, daß Negativität in der Dichtung Celans eine konkret-inhaltliche Seite hat, die weder der Erörterung einer Negativität des Fiktionalen überhaupt noch der Diskussion linguistisch erfaßbarer Phänomene sich erschließt. Wenn somit die vorliegende Arbeit den Begriff »Negativität« einerseits nicht als Sammeltitel gelten lassen will, ihn aber andererseits nicht theoretisch-systematisch so zu entwickeln vermag, daß er zugleich unmittelbar dem tatsächlichen Verständnis des jeweils einzelnen Gedichts dient - mit anderen Worten: wenn Negativität eine Perspektive darstellt, die Beziehungen innerhalb des Werks, Korrespondenzen, Zusammenhänge sichtbar macht, ohne im eigentlichen Sinne ein Prinzip zu sein, so hat dies seinen Grund zuletzt in Celans Dichtung selbst, nämlich in deren Entwicklung. Jeder Versuch einer Deutung des Celanschen Gesamtwerks aus einem Prinzip heraus fände eine Grenze in dem tiefgreifenden (Sprechweise wie Themen betreffenden) Wandel dieser Lyrik in den mehr als 20 Jahren ihres Entstehens. Von daher begründet sich der Versuch der vorliegenden Darstellung, systematische und chronologische Perspektiven miteinander zu verbinden und im Hinblick auf die letzteder Negativität in Becketts Prosa. In: Das Werk von Samuel Beckett. Berliner Colloquium. Hg. v. Hans Mayer und Uwe Johnson. Frankfurt/M. 1975 (suhrkamp taschenb. 225), S. 54-68. Negativität wird dort bestimmt als »Ermöglichungsstruktur« (wenn eine negierte Position nicht durch eine neue ersetzt wird, so eröffnet sich eine Mehrzahl möglicher Positionen) und dann als Sammelbegriff für die »Deformationen« in Becketts Werk: »Faßt man unter Negativität einmal die vielen Deformationen zusammen [...]« (der Begriff »Deformation« selbst ist indessen allgemein genug für die gemeinten Erscheinungen). Dann legt Iser dar, daß diese Deformationen für den Leser sichtbar sind, nicht aber deren Herkunft, Grund, Ursache; also fragt der Leser danach - ein schlichter Tatbestand in aufwendiger Formulierung: »Negativität vermittelt daher zwischen Darstellung und Rezeption: sie initiiert diejenigen Vorstellungsakte, die notwendig sind, um die Virtualität des sprachlich nicht mehr manifestierten Bedingungshorizontes der vielgestaltigen Deformationen in den Blick zu bringen. Damit wäre Negativität als ein zentrales Konstituens der Kommunikation verstanden [...]« - indessen, hat nicht der Leser immer nach dem zu fragen, was Dichtung verschweigt? Wirklich interessant ist dann die eigentliche Beckett-Interpretation, die freilich ohne den Begriff »Negativität« auskommt.

ren die Dichtung Celans gar nicht als einheitlichen Block zu behandeln, sondern frühe, mittlere und späte Gedichte zu unterscheiden.12 Dieser wenn schon nicht zwingend sich ergebenden, so doch vertretbaren Dreiteilung13 folgt die Gliederung der Arbeit in drei Hauptkapitel. Daß dabei das Kapitel über das »Nichts« sich 4 an das über das »Schweigen« anschließt und nicht umgekehrt, begründet sich in chronologischer Hinsicht mit dem einfachen Umstand, daß das »Schweigen« ein wichtiges Thema vor allem in der frühen Lyrik ist, insbesondere in dem Band »Von Schwelle zu Schwelle«, während der Begriff »Nichts« erstmals in »Sprachgitter« verwendet wird und wirkliche Bedeutung erst in der »Niemandsrose« erlangt; und es begründet sich in systematischer Hinsicht damit, daß die im ersten Kapitel entwickelte Sprachproblematik eine wesentliche Voraussetzung darstellt für das im zweiten zu Erörternde und dort, etwa bei der Diskussion des (im Begriff »Nichts« sichtbar fraglichen) Gegenstandsbezugs, ständig mitzuberücksichtigen ist. Der Ansatz jeweils bei einem zentralen Begriff soll in beiden Kapiteln zwar den Zugang erleichtern, Richtungen weisen, nicht aber einen streng begrenzenden Rahmen darstellen. D. h. jene Begriffe »Schweigen« und »Nichts« werden nicht im Sinne starrer Leitbegriffe verstanden; vielmehr erlaubt sich das erste Kapitel, das Thema »Sprache« in seiner weiteren Entwicklung zu verfolgen anhand jeweils eines Gedichts aus »Sprachgitter« und »Die Niemandsrose«, wie andererseits das zweite Kapitel, über den Begriff »Nichts« hinausgehend, die Negationen überhaupt behandelt und dabei auch auf die frühere Lyrik zurückgreift sowie nach der Bedeutung von »Utopie« fragt und dabei auch späte Gedichte mit einbezieht. Trotz dieses Vorgriffs räumt die Arbeit dem Spätwerk Celans eine Sonderstellung ein. Es ist ein merkwürdiger Umstand, daß ohne einen sichtbaren Einschnitt, einen Bruch zwischen den mittleren und den späten 12

13

Die Gedichte werden unter folgenden Siglen zitiert: SU = Der Sand aus den Urnen. Wien 1948. MG = Mohn und Gedächtnis. Stuttgart 1952. VS = Von Schwelle zu Schwelle. Stuttgart 1955. SG = Sprachgitter. Frankfurt/M. 1959. NR = Die Niemandsrose. Frankfurt/M. 1963. A W = Atemwende. Frankfurt/M. 1967. FS = Fadensonnen. Frankfurt/M. 1968. LZ = Lichtzwang. Frankfurt/M. 1970. SP = Schneepart. Frankfurt/M. 1971. Es sind mit den »frühen« Gedichten die in »Mohn und Gedächtnis« und »Von Schwelle zu Schwelle« gemeint, mit den »mittleren« die der Bände »Sprachgitter« bis »Atemwende«, mit den »späten« die der letzten drei Bände. Vgl. dazu auch unten, S. 21 j f.

Gedichten Celans dennoch die letzteren von jenen sich tiefgreifend unterscheiden. Der Wandel läßt sich in vielerlei Hinsicht genauer nachzeichnen; was indessen im Sinne des hier erörterten Themas besonderes Gewicht besitzt, das ist die wesentlich veränderte Erscheinungsweise von Negativität und darüber hinaus der Umstand, daß die auf dem Weg von den frühen zu den mittleren Gedichten sich herausbildende »poetische Poetologie«,14 behelfsweise und etwas schlagwortartig faßbar als »Selbstreflexion des Gedichts«, wenn schon nicht eigentlich überholt wird in Celans Spätwerk, so doch dort in den Hintergrund tritt, an Bedeutung verliert. Das wird sichtbar in der gewandelten Einschätzung der Sprache selbst: wenn - um zwei Celansche Bilder zu zitieren - noch in der »Atemwende« die Sprache den Menschen begleitet, ja, ihn ernährt, nämlich als »Wüstenbrot [...] / aus mitgewanderter Sprache« (AW 81), so verschwindet dieses Lebenserhaltende in »Schneepart« hinter der aggressiven Erscheinung des >beißenden Wortsnahen< und inmitten der Verluste allein >unverlorenen< Sprache, sie zeugen zugleich von einer in ihrer Radikalität offenbar kaum bedachten Abwertung der Sprache, einer Abwertung, die zwar der entgegengesetzt positiven Beurteilung des Schweigens entspricht, die aber dessen durchaus komplexen Charakter eher zu übergehen bereit scheint.

4

Christoph Perels: Das Gedicht im Exil. Abgedr. in: Über Celan, S. 210-13; hier: 8.213. ~ Die oben zitierte Bemerkung folgt, wie aus dem Zusammenhang eindeutig hervorgeht, einer durchaus positiven Beurteilung der Dichtung Celans. - Wesentlich differenzierter, soweit das Thema »Sprache« berührt wird, ist die spätere Interpretation: Christoph Perels: Zu Paul Celans Gedicht »Frankfurt, September«. In: GRM. NF 23 (1973), S. 56-67. 11

2 Allgemeine Aspekte Vor daher ist der Begriff »Schweigen« selbst in allgemeinerer Weise einzuführen, ohne daß die im folgenden genannten systematischen Aspekte den Anspruch erheben, wirklich ein System darzustellen (zumal die herangezogenen Beispiele überwiegend poetischer Natur sind oder dem Bereich der Mystik entstammen). Schweigen als bestimmte Negation. - »Das Schweigen«, dies ist eine vom konkreten Zusammenhang abgelöste, hypostasierte Abstraktion. Geht man dahinter zurück, so meint jener Begriff zunächst nichts anderes als eine menschliche Verhaltensweise: jemand hört auf zu sprechen und schweigt. Darin liegt mehrerlei beschlossen: Wie das Sprechen bedarf das Schweigen eines Subjekts, und wie jenes erhält es seinen Sinn aus einer konkreten Situation; anders jedoch als dem Sprechen kommt dem Schweigen keine Unmittelbarkeit zu. Die Reihenfolge der Prädikate in dem Satz »jemand hört auf zu sprechen und schweigt« ist unumkehrbar: Schweigen ist durch Sprache vermittelt, mit ihr mitgesetzt und gleichursprünglich, aber doch erst durch sie ermöglicht. Es ist der positive Ausdruck für einen negativen Vorgang, eine Privation, auch dann, wenn diese Privation ins Positive umgewertet wird. Damit ist bereits über die Art des Zugangs zu diesem Phänomen entschieden: wie alle Begriffe, die eine Negation ausdrücken, ist das Schweigen nur über die Position, die es negiert, erreichbar, es ist zugänglich nur über die Sprache. Solcherart stellt es das Denken vor mannigfaltige Probleme, die gleichen - das wird sich später noch zeigen -, die der Begriff des »Nichts« bereitet. Das Denken ist aufgefordert, mit dem Schweigen einen negativen Gegenstand zu denken, der die Negation von Sprache, d. h. die Negation desjenigen Mediums darstellt, in dem sich das Denken vollzieht. Freilich ist die Bestimmung »Negation von Sprache« in ihrer Abstraktheit unzureichend; solcherart wäre das Schweigen schlechthin leer. Demgegenüber begegnet jedoch die Sprache selbst ja bereits in einer jeweils konkreten Gestalt, und es ist seit Hegel ein Gemeinplatz, daß die Negation einer bestimmten Position nicht eine blanke Leere hinterläßt, sondern daß aus ihr die bestimmte Negation hervorgeht. Das Negieren überführt ein bestimmtes Positives in ein entsprechendes Negatives, wobei in der Negation die Bestimmtheit erhalten bleibt. Für das Schweigen bedeutet dies: es geht als bestimmte Negation aus einem jeweiligen Modus von Sprache hervor, dem es korrespondiert, es entfaltet sich in verschiedene Weisen des Schweigens, individuiert sich zum konkreten Schweigen als der Negation eines bestimmten Sprechens in einer be12

stimmten Situation.5 Wenn eine linguistische Erörterung unter syntaktischen Gesichtspunkten zu der Auffassung gelangt, daß ein positiver Satz nicht nur dann negiert ist, wenn das Verb negiert wird, sondern immer auch dann, »wenn sich das Negationselement auf wenigstens eine semantische Elementarproposition bezieht, die für die Gesamtbedeutung des positiven Satzes konstitutiv ist«," so gilt darüber hinaus hinsichtlich der Opposition von Sprache und Schweigen, daß Schweigen als bestimmte Negation das Resultat immer auch schon der Negierung eines einzelnen für die konkrete sprachliche Äußerung konstitutiven Moments ist, ja, daß gerade eine totale Negation von Sprache wegen der fehlenden Bestimmtheit in gleicher Weise »undenkbar« ist wie das Nichts. Allgemein: Die Struktur der Dreidimensionalität von Sprache, die dialektische Vermittlung von Sprechendem und Angesprochenem und von Sprechendem und sprachlich gefaßtem Gegenstand, bleibt vor dem Hintergrund einer konkreten Sprachsituation gültig auch für die Negation: Schweigen tritt hervor als subjektiv motiviert oder als begründet in der Beziehung zu einem Du oder als Eigentümlichkeit eines besonderen Bezugs zu Gegenständlichem, ohne daß alle drei Dimensionen zugleich negiert wären. Unter den allgemeinen Bedingungen für die Konstitution sprachlicher Äußerungen — Bedingungen, an denen das Schweigen als bestimmte Negation teil hat — ist ein Moment besonders hervorzuheben, nämlich die zumeist implizite, nicht eigens reflektierte Bewertung von Sprache überhaupt. Hier sind sehr unterschiedliche Standpunkte möglich. So kann Sprache in bezug auf den Sprechenden als Medium der Selbstvermittlung, im Hinblick auf den Bezug zu einem Du als Medium der Kommunikation und, was das Gegenständliche betrifft, als Medium der Aneignung von Wirklichkeit gelten. Aber auch die entgegengesetzte Einschätzung ist möglich; aus ihr folgt wiederum die entsprechende Bewertung des Schweigens. Der Sprache kann Entäußerung, Selbstentfremdung 5

9

Diese Situation ist natürlich von einer Vielzahl von Faktoren bestimmt, von individualpsychologischen Momenten ebenso wie von historischen und gesellschaftlichen Bedingungen, von sachlichen Intentionen bzw. durch den Rahmen, den unterschiedliche Weisen des Sprechens, z. B. religiöses, dichterisches, alltägliches, abgeben, usw. Im Bereich der Linguistik versucht man, solche Momente unter dem Gesichtspunkt der Pragmatik zu erfassen, vgl. etwa Dieter Wunderlich: Die Rolle der Pragmatik in der Linguistik. In: Der Deutschunterricht 22 (1970). H. 4, 8.5-41, dort besonders die Aufzählung a.a.O. S. 20 f. Gerhard Stickel: Syntaktische und pragmatische Aspekte der Negation. In: Positionen der Negativität, S. 17-38; hier: S. 27. Das hat zur Folge, daß es (wiederum unter syntaktischem Aspekt) keine »Symmetrie von Affirmation und Negation« gibt: einem positiven Satz korrespondiert eine Mehrzahl negativer Sätze (a.a.O., S. 34). 13

angelastet werden, wohingegen das Schweigen das Bewahrende wäre: »Spricht die Seele, so spricht ach! schon die Seele nicht mehr« (Schiller). Sprache kann als distanzierend erlebt werden, wo das Schweigen die Intimität des Ich-Du-Bezugs erhielte: »Wenn ich, von deinem Anschaun tief gestillt, / Mich stumm an deinem heiigen Wert vergnüge« (Mörike). Und die sprachliche Aneignung von Wirklichkeit kann als deren Vernichtung beurteilt werden, während ihr das Schweigen Eigenrecht und Integrität beließe: »Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort. / Sie sprechen alles so deutlich aus / [...] Die Dinge singen hör ich so gern. / Ihr rührt sie an: Sie sind starr und stumm« (Rilke). In allen drei Richtungen einer negativen Bewertung wird Sprache als etwas Fremdes erlebt, das aufgrund der unaufhebbaren Besonderheit seiner Eigengestalt in den Bezug des Ich zu sich selbst wie zum Du und zu den Gegenständen sich hineindrängt und das als das Vermittelnde dem Vermittelten seine eigene Form dauerhaft einprägt. Die Erfahrung der Fremdheit kann sich nun aber in einem solchen Maße steigern, daß das Verhältnis der Sprache zu dem zu Vermittelnden als Inkongruenz schlechthin erlebt wird: der Gegenstand - das Ich, der Bezug zum Du oder das als Objekt Erfahrene - wird dann zum »Unsagbaren«. Wo der Sprache die Fähigkeit aberkannt wird, Gegenständliches überhaupt zu fassen, ergibt sich das Schweigen als objektiver Zwang; es demonstriert dann die Begrenztheit des Sprechens, die Überlegenheit des Gegenstands über alles sprachliche Ausdrucksvermögen. Schweigen als Bedeutungsträger. — Mit diesen Überlegungen tritt indessen ein neuer Aspekt in den Vordergrund. Es war vorher die Rede vom Schweigen als einer bestimmten Negation und von seiner Bindung an die die Kommunikation konstituierenden allgemeinen Bedingungen. Der Begriff des »Unsagbaren« jedoch verweist nunmehr auf die Relation von Sprechen bzw. Schweigen zu Gegenständlichem. Weil Schweigen eben nicht nur eine »Lücke« darstellt, sondern in einen Bedeutungszusammenhang eingefügt ist, deshalb kommt ihm aus seiner jeweiligen Konkretion auch inhaltliche Bedeutung zu, indem es als Negation bestimmten Sprechens dessen intentionalen Bezug zu Gegenständlichem bewahrt. Als Bedeutungsträger besitzt es freilich nur eine relative Selbständigkeit, da seine Bedeutung ja letztlich immer entlehnt ist; dennoch ist dies überhaupt die Voraussetzung dafür, daß das Schweigen nicht einfach als »leer« gelten kann. In diesen Zusammenhang gehört die Frage nach der Sagbarkeit bzw. Unsagbarkeit von Gegenständen. Da die Kategorie des Unsagbaren für die vorliegende Arbeit von großer Bedeutung ist, ist hier etwas weiter auszuholen. Historisch gesehen ist es vor allem die Mystik, die dieses M

Moment in den Vordergrund gerückt hat. Eine Grunderfahrung aller Mystik ist die unauflösliche Spannung zwischen dem Drang, die mystischen Erlebnisse mitzuteilen, und dem Unvermögen, dafür eine adäquate Sprache zu finden, der Erfahrung also, daß die Sprache dort versagt, wo ein die empirische Realität schlechthin Transzendierendes, das Göttliche und die unio mystica, ausgedrückt werden soll. Diese Erfahrung der Begrenztheit von Sprache provoziert zwar eine, sprachgeschichtlich gesehen, außerordentlich fruchtbare Suche nach neuen Sprechmöglichkeiten man denke an die Erweiterung des Wortschatzes durch Begriffe wie »Gemüt«, »Vernunft«, »Grund« usw., auch an die besondere Bedeutung von Negation und Paradoxon -, gleichwohl muß jene Erfahrung sich ständig wiederholen, da sie in der Struktur der Sprache selbst begründet ist, in deren Vermittlungscharakter, der alle ungebrochene Unmittelbarkeit aufhebt. So erfolgt nun eine Neubestimmung des Schweigens, das zwar zunächst lediglich den Abbruch eines versagenden Sprechens anzeigt, das aber zugleich eine darüber hinausgehende Deutung erfährt. Das Schweigen bereitet gewissermaßen den Raum, in den das Göttliche eintritt eine allgemeine, nicht an die Mystik gebundene Auffassung, die sich als Moment der Liturgie bis heute erhalten hat7 -; mehr noch: das Schweigen wird nun auch verstanden als Manifestation des Göttlichen selbst, es ist dessen Erscheinungsweise — ein Gedanke, der außerhalb der Mystik alles andere als selbstverständlich ist, man denke etwa an den Beginn des Johannes-Evangeliums -; und schließlich: das Schweigen übernimmt von der Sprache die Funktion, Ausdruck zu sein: dort, wo die Sprache versagt, vermag das »beredte Schweigen« das Göttliche und das mystische Erlebnis, beides als ein Unaussprechliches, dennoch auszudrücken.8 Das nehmen die bekannten Verse des Angelus Silesius auf: Mit Schweigen wirds gesprochen Mensch, so du willst das Sein der Ewigkeit aussprechen, So mußt du dich zuvor des Redens ganz entbrechen.9 7 8

9

Vgl. Religion in Geschichte und Gegenwart. 3. Aufl. 1957 ff. Bd. 5, Sp. 1605 f. Vgl. Grete Liier s: Die Sprache der deutschen Mystik des Mittelalters im Werke der Mechthild von Magdeburg. München 1926, S. i: »erhabenstes Ausdrucksmittel zum Künden des Göttlichen ist [...] das stumme, wortelose Schweigen.« »Gott, das Göttliche, ist das , das Ineffabile, das Wortelose, das Unaussprechliche«, das auszudrücken die Sprache, so »höchst geistiger, ja immaterieller, fast ganz esoterischer Art« sie sein mag, »nur sekundäres Mittel« ist. »Das wertere, weil immateriellere Mittel ist dem Mystiker Schweigen.« Angelus Silesius: Cherubinischer Wandersmann. z. Buch. Nr. 68. In: A.S.: Sämtliche poetische Werke Hg. v. Hans Ludwig Held. Bd. 3. 2., erw. u. verb. Aufl. München 1924, S. 66.

Dieser letztere Punkt bereitet dem Nachvollzug einige Schwierigkeiten, denn die Bedeutung, die das Schweigen trägt, also auch vermittelt, ist ja, wie oben schon festgestellt, jeweils dem negierten Sprechen und der Sprachsituation entlehnt. Schweigen hat teil am Gegenstandsbezug des Sprechens, und dort, wo ein Gegenstand als unaussprechbar gilt, hat es teil an der Intention auf diesen Gegenstand, die im Modus der Andeutung immerhin noch sprachlich vermittelt ist. Das aber heißt: das Schweigen als bedeutungsvermittelndes, »beredtes« hat im strengen Sinne keinen eigenen, ihm zugehörigen Gegenstand. Wenn ihm nun in Gestalt des Unsagbaren doch ein eigener Gegenstand zuerkannt wird, den es »ausspricht« - und »Aussprechen« ist für die Mystiker in dieser Hinsicht keine Metapher -, so ist es zwar noch nach dem Vorbild der Sprache gedacht - wie diese auf Aussprechbares so ist Schweigen auf Unsagbares bezogen -, gleichwohl wird es in einer solchen Auffassung von der Sprache gelöst, ist es mehr als nur deren Negation, nämlich ein Modus sui generis. Der selbständige Bezug des Schweigens zum Unsagbaren als seinem eigenen Gegenstand bleibt paradox, denn die Kategorie des Gegenständlichen ist nicht auf das Unsagbare, also Ungegenständliche, anwendbar, und die Vorstellung, bestimmtes Schweigen beziehe sich auf bestimmtes Unsagbares, würde mit dem letzteren eine contradictio in adiecto liefern: um »bestimmt« sein zu können, muß das Unsagbare doch irgendwie sagbar sein. Zwar kann es als via negationis aus dem Sagbaren hervorgegangen gedacht werden, aber zum einen ist es darum nicht weniger ungegenständlich, und zum ändern widerspricht diese Ableitung gerade der Intention, es, vom Aussprechbaren abgelöst, diesem gleich- und sogar überzuordnen.10 Verläßt man den Bereich der Mystik und nimmt man das »Aussprechen des Unsagbaren« im metaphorischen Sinne, so kommt man auf den allgemeineren Charakter des Schweigens als eines Bedeutungsträgers und Ausdrucksmittels zurück sowie auf den Umstand, daß das Unsagbare ja zunächst eine Sonderform des Ungesagten überhaupt darstellt. Damit ist man zugleich auf die fundamentale Tatsache verwiesen, daß Sprache nie 10

16

Übrigens erinnert dieser Zusammenhang an Wittgensteins »Tractatus«: »Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische. [...] Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.« (Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. Frankfurt/M. 1963 [ed. suhrkamp 12], S. 115.) Anstoß bei den Vertretern des logischen Positivismus erregte die Anweisung, >über< das Unaussprechliche zu schweigen, ebenso wie der Umstand, daß jenes Unaussprechliche nicht nur negativ ausgegrenzt, sondern ihm eine selbständige Existenz unterstellt und im Sich-Zeigen ein eigener, zwar sprachlich nicht einholbarer, gleichwohl positiv erfahrbarer Modus der Präsentation zugesprochen wurde.

explizit alles das ausspricht, was sie »meint«, daß sie somit interpretierbar und der Interpretation bedürftig ist. Das gilt selbst für die Wissenschaften, deren Grundbegriffe »offen«, nicht zu Ende definierbar sind man denke an Begriffe wie »Atom« und »Leben« -, es gilt für das alltägliche Sprechen, bei dem ein Großteil der Bedeutung durch die Situation vermittelt wird, und es gilt schließlich in besonderem Maße für die Sprache der Dichtung. Dichterisches Sprechen lebt von der Andeutung und der Vieldeutigkeit: der vermittelte Sinn ist allemal weiter als der Bereich des ausdrücklich Gesagten. Die Präsenz des Nicht-Gesagten, also Verschwiegenen, gleichwohl mit dem Gesagten Mitgegebenen verweist auf das Schweigen als in Wechselwirkung mit dem Ausgesprochenen konstitutiv für den »Sinn«, unabhängig davon, ob jenes Nicht-Gesagte willentlich ausgespart bleibt oder ob es als etwas nicht eigentlich Aussprechbares gilt. Auf die Rolle der Andeutung und des Nicht-Gesagten weist schon Klopstock hin, indem er, ausgehend von der Überlegung, daß für manche Empfindungen oder auch nur deren Nuancen die Worte fehlen könnten, zum Phänomen der Konnotation gelangt. In seiner Schrift »Von der Darstellung« läßt er im Rahmen eines Gesprächs einen Sprecher sagen: »Der Dichter kann diejenigen Empfindungen, für welche die Sprache keine Worte hat, oder vielmehr nur (ich sage dies in Beziehung auf den Reichtum unserer Sprache) die Nebenausbildungen solcher Empfindungen, er kann sie, durch die Stärke und die Stellung der völlig ausgedrückten ähnlichen, mit ausdrücken.« Ein Gesprächspartner entgegnet: »Oder auch wohl nur darauf deuten«, worauf der erste Sprecher fortfährt: »Freilich, wenn die ähnlichen nicht stark genug sind, und nicht an der rechten Stelle stehn; wenn beides nicht so beschaffen ist, daß es das Feuer in der Seele weiter ausbreitet. / Mich deucht, daß auch das Silbenmaß hier und da etwas mitausdrücken könne. / Überhaupt wandelt das Wortlose in einem guten Gedicht umher, wie in Homers Schlachten die nur von wenigen gesehnen Götter.«11 Man darf dieses willentlich oder aufgrund sprachlicher Begrenztheit mit Notwendigkeit Verschwiegene nicht vermengen mit dem bloßen Faktum von Pausen im Sprachfluß. Freilich läßt auch die Pause sich als »Schweigen« apostrophieren, aber sie wirkt, wie Storz12 gezeigt hat, vor allem auf die Betonung und auf die Beschleunigung und Verlangsamung des Sprechtempos, auf Mehrung oder Minderung der Sprechintensität; ihre Ausdruckswirkung liegt in der akzentuierenden Profilierung des Ge11 12

Friedrich Gottlieb Klopstock: Ausgewählte Werke. München 1962, S. 1036 f. Gerhard Storz: Sprache und Dichtung. München 1957, S. 63-85. 17

sagten. Das Verschwiegene dagegen, das als Andeutung oder in der Mehrdeutigkeit mit dem Gesagten mitgegebene »Wortlose« konturiert nicht nur Gesagtes, sondern trägt seinerseits zum nicht ausgesprochenen, aber gemeinten Sinn bei, ja, Klopstock erkennt diesem Wortlosen, wie der Vergleich mit den Göttern in Homers Schlachten zeigt, sogar Überlegenheit über das ausdrücklich Gesagte zu. In dieser Wertung deutet sich ein überaus schwieriges Problem an, auf das in anderem Zusammenhang Allemann eingegangen ist: »Die WortSequenz, wie der künstlerische Satzbau sie hervorbringt, ist mehr als die Summe der einzelnen Wörter. Ihre spezifische Gestalt-Qualität aber ist, was wir gemeinhin >Sinn< nennen, jener jähe Sinn, der nach Benn aus den Chiffren aufsteigt«13 und »der eines der geheimnisvollsten Phänomene ist, die wir überhaupt kennen. Dieser >Sinn< hat im lyrischen Gedicht wenig zu tun mit der logischen Mitteilung eines Aussagesatzes. Zugleich ist er aber sehr viel mehr als die bloße Klangmagie, die vom sinnlichen Substrat der Verlautbarung ausgeht. [...] Die Lautlehre [...] vermag keinen Kausal verband herzustellen zwischen Laut und Sinn [...]. Aber auch die Bedeutungslehre [...] bietet keinen Raum für den hier entscheidenden >Sinn< der Wörter und Sätze, denn sie ist auf die >Bedeutung< der Wörter als Zeichen innerhalb eines geschlossenen Zeichensystems gerichtet, nicht auf jene viel schwerer greifbare >Bedeutsamkeit< der dichterischen Chiffren. Die Syntax schließlich [...] setzt den Sinn der von ihr analysierten Sätze immer schon voraus«.14 Dieser so schwer definierbare »Sinn« aber eigentlich ist es, der im Umkreis dichterischen Sprechens offenbar vom jeweils Nicht-Gesagten in höherem Maße konstituiert wird als vom Ausgesprochenen - daher wohl Klopstocks höhere Bewertung des Wortlosen - und der, obwohl er wie das Nicht-Gesagte vom Gesagten abhängig bleibt, beider Ebene transzendiert und so ein selbst Unausgesprochenes, ja, im Rahmen der Dichtung ein Unaussprechliches darstellt. Dies sollte hier nur gestreift werden. Festzuhalten bleibt, daß der Begriff »Schweigen« ein unselbständiges Phänomen nennt, das als bestimmte Negation des Sprechens immer auf dieses letztere zurückverweist, und daß dort, wo das Schweigen zum Ausdrucksmittel wird, die konkreten Gestalten des Gesagten und des Nicht-Gesagten einander wechselseitig in der Weise bedingen, daß die Sprache sich eben als die 13

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18

Beda Allemann: Gibt es abstrakte Dichtung? In: Adolf Frise* (Hg.): Definitionen. Essays zur Literatur. Frankfurt/M. 1963, S. 175 f. - Das Benn-Zitat stammt aus dem Gedicht »Ein Wort«: »Ein Wort, ein Satz -: aus Chiffren steigen / erkanntes Leben, jäher Sinn [...]«. Allemann, a.a.O., S. 173 f.

dialektische Vermittlung eines jeweils Gesagten und Nicht-Gesagten und so als das »Sinne-Konstituierende darstellt.15 Hypostasierung des Schweigens. — Die Reflexion über das Schweigen hat dessen negativen Charakter hinzunehmen. Gleichwohl weist die theoretische Beschäftigung mit diesem Phänomen seit jeher eine deutlich bemerkbare Tendenz auf, ihren Gegenstand von vornherein als einen positiven anzusetzen. Das Schweigen gilt dann häufig als ein substantiell unabhängiger Semsbereich und hinsichtlich der Sprache als deren Ursprung. Als Belege mögen einige Feststellungen aus dem Buch »Die Welt des Schweigens« von Max Picard16 dienen, das diese Tendenz repräsentativ dokumentiert: Wo das Wort aufhört, fängt zwar das Schweigen an. Aber es fängt nicht an, weil das Wort aufhört. Es wird nur dann deutlich. Das Schweigen ist nichts Negatives, es ist kein bloßes Nicht-Reden, es ist ein Positives, es ist eine volle Welt für sich. Das Wort kam aus dem Schweigen, aus der Fülle des Schweigens. Das Schweigen kann sein ohne das Wort, jedoch nicht das Wort ohne das Schweigen. Die Dichtung kommt aus dem Schweigen und hat Sehnsucht nach dem Schweigen. Sie ist, wie der Mensch selbst, unterwegs von einem Schweigen zum anderen.17

Wenn in dieser Weise das Schweigen als Ursprung der Sprache angesetzt wird, so ist die Konsequenz, nunmehr die Sprache als einen Abfall vom Ursprung zu verstehen, durchaus noch nicht zwingend, und Picard zieht sie in der Tat nicht; vielmehr erkennt er der Sprache ausdrücklich »die Suprematie über das Schweigen«18 zu, und zwar weil »die Welt des Schweigens ohne das Wort« etwas »Vorschöpfungshaftes« sei, »Schöp15

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Zu dieser Dialektik vgl. Erich Heintel: Einführung in die Sprachphilosophie. Darmstadt 1972, S. 90: »in der dialektischen Aufhebung ist ein Moment ursprünglich so beschaffen, daß man es überhaupt nicht [...] als Gegenstand fixieren kann. Es ist [...] nur >pseudogegenständlich< gegeben.« In diesem Sinne pseudogegenständlich, also fiktiv, wäre ein Sprechen, das keinerlei Bezug zum Schweigen besäße, das daher schlechthin alles direkt ausspräche. »Die dialektische Aufhebung aber denkt es« - jenes erste Moment - »aus dieser Pseudogegenständlichkeit heraus auf seine Wirklichkeit hin und gewinnt damit das in Frage stehende Ganze [...]> so daß über den dialektischen Begriff diese Wirklichkeit, und zwar als vermittelte Wirklichkeit, erreicht wird.« Das Ganze wäre demnach die sinnkonstituierende Sprache als Vermittlung von Gesagtem und Nicht-Gesagtem: konkretes Sprechen ist immer schon die Vermittlung von Sprache und Schweigen in jeweils konkreter Gestalt. Max Picard: Die Welt des Schweigens. Erlenbach/Zürich 1948. A.a.O., S. 9, ii, 18,23, M7·

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fung, die nicht fertig ist« und die durch die Entstehung des Wortes aus ihr sich vollende, und vor allem »weil nur im Wort die Wahrheit Gestalt wird,«19 die Wahrheit, die im Schweigen nur ein passives Dasein besitze. Von diesem Ansatz her liegt es gleichwohl nicht allzu fern, nunmehr alles Sprachlose in die Nähe des Schweigens als des Ursprungs und Urgrunds zu rücken: die stummen Dinge gelten dann als im Schweigen verwurzelt,20 die Natur, etwa »im lautlosen Aufgehen des Morgens, im lautlosen Hinhalten der Bäume an den Himmel«, wird zur »Naturwelt des Schweigens«;21 das Sprachlose ist nicht mehr einfach das, was keine Sprache besitzt, sondern es ist das Schweigende, dasjenige, das im Schweigen als seinem Ursprung geborgen ist. Damit entsteht die Gefahr, daß die vorherige Wertung sich unmerklich umkehrt: das Schweigen ist nun gegenüber der Sprache nicht nur das Ursprünglichere, sondern auch das »Eigentliche«, Sprache selbst wird etwas Negatives — eine Umwertung, die Picard keineswegs vollzieht, die aber im Ansatz des Schweigens als des Ursprungs von Sprache angelegt ist und die schließlich die Voraussetzung für eine Deutung der Sprache als Hybris bildet. Diese Deutung legt George Steiner in seinem Essay »Der Dichter und das Schweigen«22 vor: Menschliches Sprechen, der Ausbruch »aus dem großen Schweigen der Materie«, bedeutet nicht nur die »deutliche Abtrennung von der Welt des Tieres, dem Vorgänger des Menschen und seinem zeitweiligen Nächsten«, sondern auch - aufgrund des angemaßten Schöpfertums — »eine Rivalität gegenüber Gott«.23 Freilich hat Steiner mit dieser Darstellung durchaus keine Verurteilung der Sprache im Sinn; worum es ihm geht, das ist die Gefährdung des Menschen. Eben in diese Richtung zielt die Auslegung der den Menschen auszeichnenden Sprache im Sinne eines Zeichens für die Ungeborgenheit seiner Existenz, wohingegen dann die Sprachlosigkeit des dinglich Seienden als dessen Schweigen gilt und dies wiederum als eine besondere Art des Sprechens und, wie es in Hofmannsthals Chandos-Brief heißt, als »eine Sprache, von deren Worten mir auch nicht eines bekannt ist, eine Sprache, in welcher die stummen Dinge zu mir sprechen«.24 Die Deutung 18 19 20 21 22

23 24

A.a.O., S. 9. A.a.O., S. 23. Vgl. a.a.O., S. 75 ff. A.a.O., S. 20 f. George Steiner: Der Dichter und das Schweigen. In: G. S.: Sprache und Schweigen. Essays über Sprache, Literatur und das Unmenschliche. Frankfurt/M. 1969. Auch: Frankfurt/M. 1973 (suhrkamp tb. 123), S. 90-117. A.a.O., S. 90-92. Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief. In: H. v. H.: Prosa II. Frankfurt/M. 1951, S. 20.

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von natürlichen als sprachlichen, jedoch unverständlichen Vorgängen ist zwar als literarisches Motiv häufig anzutreffen - man denke an die Auffassung des Vogelflugs als eines unentzifferbaren Schriftzeichens -, eine solche Deutung hat aber, wenn sie nicht metaphorisch zu begreifen ist, zur unausdrücklichen Voraussetzung die Annahme einer allumfassenden Sprachlichkeit, innerhalb derer menschliches Sprechen mit allen anderen Modi des Erscheinens, der Selbstdarstellung, vereint ist. Akzeptiert man diese Annahme nicht, dann kann das Sprachlose nur als ein Vorsprachliches gelten, das anders als das wirklich Schweigende die Sprache nicht voraussetzt, um begriffen werden zu könnnen. Ein Letztes sei schließlich zum Begriff der »Grenze« erwähnt; die Grenze zwischen Sprache und Schweigen ist keine äußere Abgrenzung, sondern gehört ihnen, da sie einander wechselseitig begrenzen, als Moment ihrer Struktur selbst zu. Ein anderes ist es, wenn im weiten Bereich der Ausdrucksmittel die Sprache abgegrenzt wird von den Formen des »nichtssprachlichen Ausdrucks«, die, wie Plessner registriert, »in ihrem Bezug auf Sprache deren Unvermögen erkennen lassen, sie mit ihren Mitteln mitzuteilen und zu verstehen«.25 Plessner nennt hier Lachen und Weinen und die Musik; hinzufügen ließen sich aus dem Bereich des Theaters die Gebärde und die »stummen« Vorgänge auf der Bühne29 allesamt Formen, die strenggenommen nicht als »schweigend« zu apostrophieren wären, sondern als Formen, denen Sprechen und Schweigen gemeinsam gegenüberstehen, die allerdings das Schweigen begleiten können. Ein weiteres, ganz anderes Ausdrucksmittel nennt Steiner, wenn er feststellt, daß die Sprache »an drei weitere Arten und Weisen der Bekundung grenzt - Licht, Musik und Schweigen«, und wenn er den Begriff »Licht« erläutert: »Wo das Wort des Dichters aufhört, setzt ein großes Leuchten ein«;27 Steiner legt dies an Dantes »Paradiso« dar. Gleichwohl ist Licht als Ausdrucksform von den anderen »Weisen der Bekundung« zu unterscheiden: an die Stelle menschlichen Ausdrucks, der Sprache, tritt mit dem Leuchten nämlich die Selbstdarstellung eines gerade nicht mehr Menschlichen, denn das »Licht« ist in aller Mystik bekanntlich das Zeichen für die Präsenz des Göttlichen.

25 26 27

Helmuth Plessner: Zur Hermeneutik nichtsprachlichen Ausdrucks. In: HansGeorg Gadamer (Hg.): Das Problem der Sprache. München 1967, S. Vgl. Paul Böckmann: Formensprache. Darmstadt 1966, S. 493-511. Steiner, a.a.O., S. 95. 21

3

Schweigen als poetischer Gegenstand

In poetischen Texten gewinnt eine bestimmte Verwendung des Wortes »Schweigen« besondere Bedeutung: die metaphorische, d. h. die Übertragung auf den Bereich der »stummen« Dinge: »Der Wald steht schwarz und schweiget« (Claudius: »Abendlied«), und auf den Bereich der Abstrakta: »Bedingung und Gesetz; und aller Wille / Ist nur ein Wollen, weil wir eben sollten / Und vor dem Willen schweigt die Willkür stille« (Goethe: »Urworte. Orphisch«). Dem Begriff »Schweigen« einerseits als der Bezeichnung für die menschliche Verhaltensweise, die als Möglichkeit mit der Sprachfähigkeit des Menschen von Anfang an mitgegeben ist, und andererseits in der erwähnten metaphorischen Verwendung eignet - auch im poetischen Text - die Selbstverständlichkeit des Uralten. Hinzu tritt nun aber eine dritte Verwendungsweise jenes Worts, die sich etwa in dem Gedicht »Traum im Tellereisen« von Peter Huchel28 andeutet, in einem Gedicht, das hier - mit einiger Beliebigkeit - statt zahlreicher anderer als Beispiel genannt ist; dort lautet die mittlere Strophe: Wind blättert Ein Stück Rinde auf. Eröffnet ist Das Testament gestürzter Tannen, Geschrieben In regengrauer Geduld Unauslöschlich Ihr letztes Vermächtnis Das Schweigen.

Übersetzbar in eine direkte »Aussage« scheinen diese Bilder durchaus: die Frage nach der Natur erfährt einzig in deren Vernichtung eine Antwort. Gleichwohl scheint eine solche »Übersetzung« unangemessen dadurch, daß sie dem Bildkomplex lediglich eine dienende Funktion gegenüber der direkten Aussage zugesteht. Mag schon hinsichtlich der herkömmlichen Metapher die Differenzierung zwischen »Eigentlich« und »Uneigentlich« problematisch sein angesichts des Eigencharakters lyrischen Sprechens, im Falle des hier zitierten Gedichts versagt derartiges Unterscheiden vollends: die Wörter >aufblätternSterblichen< Gottes Schweigen sieht, ein »Furchtbares Schweigen«, dem aber vielleicht - dies bleibt als Hoffnung - eine erzieherische Wirkung zukommen könnte. »Schweigen« ist hier, als Negation der göttlichen Sprache, durchaus negativ bewertet. Anders verhält sich dies bei Eberhard Friedrich von Gemmingen, einem Lyriker und Verfasser fingierter Briefe ebenfalls des 18. Jahrhunderts. In seinem Gedicht »Das Schweigen«, wohl einem der frühesten lyrischen 29

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Klopstock, a.a.O., S. 131 f.

A.a.O., S. 167 f.

Beispiele für die umgekehrte Wertung, wird das Schweigen als eine mythische Gottheit angesprochen, die, »Zeus gleich, an Alter und an Macht« und bezeugt vom »Chaos« und >der alten NachtMetapoesie< verkennt das der Poesie seit jeher Mögliche.«37 Das heißt: der Unterschied poetischer Gegenstände Sprache oder »Sachen« — begründet nicht einen Unterschied zweier Modi dichterischen Sprechens: die Sprache des Gedichts ist keine andere, ob es nun von sich selbst oder von »Sachen« spricht. Gleichwohl wird auf diese Unterscheidung zurückzukommen sein, denn wenn Weinrich mit Bezug auf das Werk Celans feststellt, »daß diese Gedichte von Band zu Band weniger welthaltig werden«, und wenn er dies folgendermaßen begründet: »Sie können nicht welthaltig sein, weil sie worthaltig sein wollen«,38 so ist damit über die Frage nach inhaltlicher Unterscheidung hinaus diejenige nach der dichterischen »Wirklichkeit« betroffen. Weinrich geht von einer strikten Alternative aus: »Die Abwesenheit der Dinge ist nämlich die Voraussetzung für die Anwesenheit der Worte«39 - einer Alternative, deren Recht noch zu erörtern sein wird. Der thematische Rückbezug hat Konsequenzen auch in anderer Richtung, so etwa für die Frage nach der Einheit des Gedichts. Es wird in literaturwissenschaftlichen Interpretationen immer wieder mit vollem Recht betont, daß Begriffspaare wie »Form und Inhalt«, »Gehalt und Gestalt« die verkehrte Ansicht suggerierten, das Gedicht sei ein »Kom33 34

35 38 37

38

30

A.a.O., S. 128 Der Rückbezug ist gleichfalls Ausgangspunkt in der Arbeit von Silvio Vietta: Sprache und Sprachreflexion in der modernen Lyrik. Bad Homburg v.d.H. 1970 (Lit. u. Reflexion 3). Kap. III: Paul Celan. Harald Weinrich: Kontraktionen. Paul Celans Lyrik und ihre Atemwende. Abgedr. in: Über Celan, S. 214-25, hier: S. 217. A.a.O., S. 225. Peter Horst Neumann: Zur Lyrik Paul Celans. Göttingcn 1968 (Kl. Vandenhoeck-Reihe 286/7), S. 98, Anm. 2. - Zur sprachphilosophischen Kritik an dem Begriff »Metasprache« vgl. etwa Heintel, a.a.O., S. 112 f. Harald Weinrich: Linguistische Bemerkungen zur modernen Lyrik. In: Akzente 15 (1968), S. 29-47, hier: S. 39.

Aa.O., S. 34. 25

positum aus isoliert faßbaren Bestandteilen«,40 wohingegen es ja doch nur als Einheit angemessen zu verstehen sei. Aber auch wenn ein >Aspektpaar< wie »Struktur« und »Sprachmagie« »nur Ansichten der Einheit eines Kunstwerkes«41 bieten will, so setzt es doch die Unterscheidbarkeit beider Aspekte erst einmal voraus, damit die Interpretation deren Einheit im Kunstwerk oder gegebenenfalls das Fehlen einer solchen Einheit sichtbar machen kann. Und diese Einheit kann nun dort zum Problem werden, wo ein dichterisches Sprechen sich selbst zum Gegenstand macht und als solchen dann negativ beurteilt. Bekanntestes Beispiel hierfür ist Hofmannsthals Chandos-Brief, in dem Lord Chandos sein Unvermögen, zusammenhängend zu sprechen, in überaus eloquenter Weise schildert. Der behauptete Sprachverlust und die sprachliche Gestalt, in der diese Behauptung vorgebracht wird, scheinen in einem Widerspruch zueinander zu stehen, der freilich nicht nur hier begegnet: seit Mallarme handelt das poetische Sprechen über Sprache immer wieder von deren Begrenztheit und Unzulänglichkeit - ein Urteil, das um seiner Mitteilbarkeit willen eben wiederum einer intakten Sprache bedarf. Man denke etwa — um ein neueres Beispiel zu wählen - an Bobrowskis Gedicht »Sprache«,42 das in der sinnlichen Erscheinungsweise der Natur eine als Artikulation deutbare Selbstdarstellung sieht, die, um vollständig zu sein, keines Adressaten bedarf, während die menschliche Sprache unterwegs ist, »abgehetzt / mit dem müden Mund / auf dem endlosen Weg / zum Hause des Nachbarn«. Die Behauptung eines >endlosen WegsNachbarnIdentität< problematisch (»Identitätskrämer«), offenbar ist die Innenwelt keine jeweils individuelle. Das Ich, bis in die Sehgewohnheiten hinein geprägt von der äußeren Wirklichkeit, steht der inneren »befangen« und hilflos gegenüber, »allein und von niemandem geführt«: da zwischen Innen und Außen keinerlei Verbindung besteht, kein Übergang, bedeutet die Hinwendung zum Inneren als »der anderen, tieferen Seite des Seins«3 den Verlust aller Orientierung; das Innere ist das schlechthin Fremde. Der Gedankengang bricht ab und setzt neu an: Nun bin ich aber einer, der schlichte Worte liebt. Zwar hatte ich, ehe ich diese Reise angetreten, eingesehen, daß es arg und falsch zuging in jener Welt, die ich verlassen, aber ich hatte geglaubt an ihren Grundfesten rütteln zu können, wenn ich die Dinge bei ihrem richtigen Namen nannte. Ich wußte, daß ein solches Unternehmen die Rückkehr zu einer unbedingten Naivität voraussetzte. Ich sah diese Naivität als eine von der Schlacke der Jahrhunderte alter Lügen von dieser Welt gereinigte und ursprüngliche Schau an. (22)

Es folgt die Erinnerung an ein Gespräch mit einem Freund, der von der Möglichkeit »einer vernunftsmäßigen Läuterung unseres unbewußten Seelenlebens« (22) überzeugt ist, von der reinigenden Kraft, die »dem Königswasser des Verstandes« (23) zukomme. Das Ich setzt dagegen die Erkenntnis, daß Geschehenes mehr war als Zusätzliches zu Gegebenem, mehr als ein mehr oder minder schwer entfernbares Attribut des Eigentlichen, sondern ein dieses Eigentliche in seinem Wesen Veränderndes, ein starker Wegbereiter unausgesetzter Verwandlung. (23)

2

3

Die Reserve gegenüber der Auffassung, Bilder könnten das Innere unverstellt sichtbar machen, läßt sich übrigens als Vorbehalt gegenüber einem zentralen Theorem des Surrealismus deuten, Diese Wendung mutet etwas unbeholfen an, sie verweist so gerade auf die Schwierigkeit einer Benennung des Inneren - davon unten. Im übrigen fügt sich die Qualität der >Tiefe< auch dem Bildzusammenhang ein, da ja die Zuwendung zur Innenwelt als vertikale Bewegung dargestellt wird (»unter« die Bilder Jenes). Celans Gedichte stellen bisweilen hohe Ansprüche an die Vorstellungskraft des Lesers, indem sie vertikale Bewegungen streng durchhalten, häufig gegen gewohnte Anschauungsweisen (vgl. etwa »Dein vom Wachen [...]«, AW 20). 29

Das Ich bekennt sich zu einer Haltung [...]> die, weil sie die Welt mit ihren Einrichtungen als ein Gefängnis des Menschen und seines Geistes erkannte, alles unternehmen wollte, um die Mauern dieses Gefängnisses niederzureißen. Gleichzeitig aber erkannte ich auch, welchen Weg mir diese Erkenntnis vorschrieb. Ich war mir klar geworden, daß der Mensch nicht nur in den Ketten des äußeren Lebens schmachtete, sondern auch geknebelt war und nicht sprechen durfte - und wenn ich von der Sprache rede, so ist damit die ganze Sphäre menschlicher Ausdrucksmittel gemeint - weil seine Worte (Gebärden und Bewegungen) unter der tausendjährigen Last falscher und entstellter Aufrichtigkeit stöhnten - was war unaufrichtiger als die Behauptung, diese Worte seien irgendwo im Grunde noch dieselben! So mußte ich auch erkennen, daß sich zu dem, was zutiefst in seinem Innern seit unvordenklichen Zeiten nach Ausdruck rang, auch noch die Asche ausgebrannter Sinngebung gesellt hatte und nicht nur diese! (23)

Der zweite Ansatz versucht, die >Befangenheit< des Ich zu erklären, die diesem aus der Begegnung mit der Innenwelt entstanden war. Gegen die Annahme des Freundes, es gebe eine »Konstante des Seelenlebens«, erkennbare, feststehende »Grenzen des Unbewußten« (23), wird der Hinweis auf die auch das Innere substantiell bestimmende Geschichtlichkeit vorgebracht. Das Problem hat sich damit verschärft: Hatte der erste Abschnitt vorgeführt, wie das Ich scheitert bei dem mehr oder minder gewaltsamen Versuch (»Ich schlug eine Bresche [...]«), aus der äußeren Welt einfach in die innere hinunterzusteigen, und zwar scheitert, indem es sich im Konflikt zwischen Innen und Außen, im Widerstreit von Mund und Augen gewissermaßen zerspaltet, so wird nun in einer eher theoretischen Einstellung bewußt, daß es eine reine und in sich abgeschlossene, aber unversehrte Innenwelt als ein der Geschichte enthobenes >Eigentliches< gar nicht gibt, daß vielmehr auch das menschliche Innere »seit unvordenklichen Zeiten« von »unausgesetzter Verwandlung« betroffen, der >tausendjährigen< Entstellung ausgeliefert ist. Die Frage nach dem Inneren ist nunmehr mit der nach einem jenseits der Geschichte liegenden Ursprünglichen verknüpft, beide Fragen scheinen eine einzige zu sein - diese Wendung überrascht nicht, sie entspringt der Optik der Psychoanalyse, vor allem in der Richtung, die ihr C. G. Jung gegeben hat. Freilich wird man aus dem vorliegenden Text keine psychoanalytischen Theoreme herauslösen können; manches allerdings gemahnt an Ansichten Gustav Landauers, zu dem Celan offenbar eine gewisse Affinität empfunden hat4 und der, seinerseits sicher nicht 4

Celan erwähnt Landauer in der Büchner-Rede (Bü 135) und zitiert ihn handschriftlich in einem Widmungs-Exemplar dieser Rede (vgl. Die Pestsäule.

unbeeinflußt von der Psychoanalyse und im Gleichklang mit etlichen unter dem Begriff der »Lebensphilosophie« zusammengefaßten Anschauungen, die Meinung vertrat, es gelte, die eigentliche Welt, »die da draußen in den Dingen ganz gewiß nicht ist, nicht in den Gebilden unserer Sinne und nicht in den Wörtern unserer Sprache, im innersten Kern unseres verborgensten Wesens, im Individuum zu entdecken«, und so wolle er »in die Bergwerksschächte meines Innern hineinsteigen [...], um die paläontologischen Schätze des Universums in mir zu heben.«6 Daß das Innerste verschüttet und verstellt sei, diese Auffassung verbindet Landauer und Celan. Unterschiedlich ist jedoch die Bewertung der Wirkung von Geschichte. Nach Celan hat die Geschichte das Innerste nicht nur verschüttet, sondern sie ist »ein dieses Eigentliche in seinem Wesen Veränderndes«, so daß das von »unausgesetzter Verwandlung« betroffene Innere 6 nicht mehr als ein Ursprüngliches zu erreichen ist. Diese Antinomie scheint ausweglos. Dennoch fährt der Text fort: »Wie sollte nun das Neue also auch Reine entstehen?« Hier ist somit eine Umdeutung vollzo-

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H. i [Sept. 1972], S. 91). Auf die Möglichkeit einer Beziehung zu Landauer in anderer Hinsicht weist Hans-Peter Bayerdörfer hin in: »Landnahme-Zeit«. Geschichte und Sprachbewegung in Paul Celans Niemandsrose. In: Bernd Hüppauf/Dolf Sternberger (Hg.): Über Literatur und Geschichte. FS Gerhard Storz. Frankfurt/M. 1973, S. 340, Anm. 15. Gustav Landauer: Skepsis und Mystik. Versuche im Anschluß an Mauthners Sprachkritik. Köln 2 i923, S. 7. - Auch aus anderen Schriften Landauers lassen sich entsprechende Passagen zitieren, die von der Aufgabe handeln, »die Lockerung der Verhärtung in den Gemütern vorzubereiten; auf daß Verschüttetes wieder nach oben komme; auf daß wahrhaft Lebendiges, das jetzt völlig tot scheint, wieder hervorbreche oder emporwachse« (G. L.: Der werdende Mensch. Hg. v. Martin Buber. Potsdam 1921, S. 32). Das »Allgemeine und gebietend Zusammenhaltende« (dies vielleicht eine »Faust«-Anspielung) dürfe nicht als abstraktes »Gedankengebilde«, sondern müsse als »der zutiefst in verborgenem Schacht unseres Innern gewachsene Kern unseres Wesens« aufgefaßt werden (G. L.: Zwang und Befreiung. Eine Auswahl aus seinem Werk. Hg. v. Heinz-Joachim Heydorn. Köln 1968, S. 165). Dieses Umdenken einzuleiten — in der Hoffung, daß vielleicht schon »der nächste Moment das Tiefste, Begrabenste und Ungeahnteste heraufbringt« (Skepsis und Mystik, S. 60) -, war für Landauer eine zentrale Aufgabe des Sozialismus. Der These der geschichtlichen Veränderung des Inneren entspricht sachlich Blochs Einwand gegen die Psychoanalyse, daß sie den »geschichtlichen Wechsel der Leidenschaften«, den »Wandel der Triebe« mit Berufung auf eine »angebliche >Natur des Menschenseit unvordenklichen Zeiten nach Ausdruck ringtentstehtSeher< gleichsam -; was dort, wo Fragen gestellt werden, >möglich< ist, ist hier wirklich, die Antwort ist auch nicht eigentlich eine Antwort, die Erfahrung des Neuen als einer Welt autonomer Bewegungen, als der Welt des Geistes, der Freiheit, der Wahrheit - diese Erfahrung geht über die Dimension von Frage und Antwort hinaus. Den eher theoretischen Kern des hier Geschilderten bildet somit die Auffassung vom menschlichen Inneren als einem, offenbar unbeschadet der Geschichtlichkeit, unter eigenen Gesetzen stehenden Reservat, als einer Wirklichkeit, die die >draußen< versagte Freiheit und Wahrheit gewährt. Bemerkenswert daran scheint, daß das Innere wohl nicht als Ziel einer Flucht aus der als negativ erfahrenen äußeren Wirklichkeit vorzustellen ist. Das seit jeher nach Ausdruck Ringende, das noch nie Gestaltete, noch nie Besessene, wird ja ausdrücklich nicht >wiedererkannterstmalig< >erkannt< — in einer Erkenntnis freilich, die wohl nur erreichbar ist im Modus der Antizipation. Wahrheit und Freiheit sind nicht Ergebnis von Flucht und Regression; später und in anderem Rahmen betont Celan gerade das willentliche Moment, die bewußt zu leistende Aufgabe: »geh mit der Kunst in deine allereigenste Enge. Und setze dich frei.« (Bü 146). Daß allerdings die Hinwendung zum Inneren in Celans Dichtung bisweilen denn doch auch den Aspekt der Wiedergewinnung eines Uralten aufweist, bezeugen Verse wie: Aus fernem, aus traumgeschwärztem Hain weht uns an das Verhauchte, und das Versäumte geht um, groß wie die Schemen der Zukunft. Was sich nun senkt und hebt, gilt dem zuinnerst Vergrabnen [...] (MG 55)

Was aus dem Dunkel des Unbewußten (>traumgeschwärztVerhauchtes< und >VersäumtesVersäumtes< die nicht ergriffene Möglichkeit, so meint >Verhauchtes< (denkt man an >Hauch< als Atem, als das die Sprache Begleitende) vielleicht (außer dem Bezug zum Tod) eine Artikulation, Gestaltung, die leblos geworden ist, eine entschwundene Ausprägung des Ich, die nun jedoch wiederkehrt - »weht uns an das Verhauchte« -, so wiederkehrt wie bei Hofmannsthal das »Selbst«: »von außen weht es uns an, es flieht uns für lange und kehrt uns in einem Hauch zurück.« (Hugo von Hofmannsthal: Das Gespräch über Gedichte. In: H. v. H.: Prosa II. Frankfurt/M. 1951, S. 83.) Vietta, a.a.O., S. 93 f.

ersten beiden Bände ausgehend, darauf hingewiesen, daß der solcherart eröffnete Innenraum in enger Beziehung zum Raum der Nacht und des Todes stehe;10 Vietta hat dies dann zusammenfassend als »traumtransparente Nacht-Todeswirklichkeit«11 gekennzeichnet. In dem Jene-Text zeigt sich die Bedeutung von Traum und Schlaf (der Titel »der Traum vom Traume« stammt allerdings von Jene") etwa darin, daß der Mund dem Ich auf dem Weg in die Innenwelt vorauseilt, denn er ist »kühner«, »weil er oft aus dem Schlaf gesprochen«; und gegen Schluß ist die Rede von den früheren Schwüren »am Hochaltar unserer heiliggesprochenen Vernunft. Und wir haben unsere Schwüre auch gehalten, um den Preis unseres heimlichen Lebens«. Nun aber soll versucht werden, »im Schlafe zu schwören«, und zwar zu schwören, »was auch morgen gilt«, ein »Gelübde, das wir noch nicht kennen!« (25) Blindheit und Schlaf als Zugang zum >heimlichen Leben< gehören zusammen; und hier bestätigt sich noch einmal, was oben schon hervorgehoben wurde, nämlich daß der eröffnete Innenraum das Neue nicht als ein Uraltes heraufkommen läßt, sondern als ein Unbekanntes und noch Bevorstehendes, daß er den Blick ins Morgen richtet, in Zukünftiges. Auf anderes, das sich hier bereits findet und seine Bedeutung für die Dichtung Celans bewahrt, sei nur kurz hingewiesen, so auf die Umkehrung der Raumverhältnisse: »Mein Mund aber, der höher lag als meine Augen«: das Ich steht auf dem Kopf;12 die Vertauschbarkeit und damit Einheit der Sinne ebenso wie die Einheit von Denken und Empfinden: »mein Herz, nun, da es meine Stirn bewohnt«; die Betonung des Begriffs »Freiheit«, der jedoch eigentlich zentral erst von dem Band »Die Niemandsrose« an wird, und der (zu erschließende) Bezug auf die Wahrheit (»wie arg ich drüben belogen wurde«), der ebenfalls von der »Niemandsrose« an deutlicher in den Vordergrund rückt; schließlich das Motiv der Sprache. Der Sprache kommt indessen im vorliegenden Text noch keine exklusive Stellung zu, vielmehr scheint sie in mehrfacher Hinsicht eingeschränkt. Zu Beginn des Textes wird nicht dem Benennen eine wirklichkeitserschließende Funktion zuerkannt, nicht dem Qualifizieren des Begegnenden als »Auch-Baum oder Beinah-Baum« - nomina propria für das Neue fehlen eben —, sondern dem Sehen mit den »Augen aus dem Grund« der »Seele«: die Sprache ist hier mit ihrem Latein, dem Latein des »alten Linnaeus«, 10 11

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Peter Paul Schwarz: Totengedächtnis und dialogische Polarität in der Lyrik Paul Celans. Düsseldorf 1966 (Beih. z. Zs. Wirk. Wort 18), Kap. II. Vietta, a.a.O., S. 92.

»Welcher Aufstieg in das Untere!«, heißt es, vermutlich mit Bezug auf ein Bild Jenes, gegen Ende des Textes (25). 35

am Ende, bereits der erste Satz läßt ahnen, daß die dort, »wo so viel geschwiegen wird und so viel geschieht«, gehörten Worte nichts zu sagen haben: nicht in Worten, sondern schweigend teilt das Geschehen sich dort mit. Immerhin haftet der Sprache und dem menschlichen Ausdruck überhaupt diese Defizienz nicht grundsätzlich an, sie ist Ergebnis der Entstellung durch die als negativ erfahrene Geschichte - eine Geschichte von »hundert Kriegen« (23), und mit dieser Einstellung mag es zusammenhängen, daß die Sprache auch als Medium für die Lüge dienen muß: »wie arg ich drüben belegen wurde«. Eine zusätzliche Einschränkung liegt darin, daß Sprache nur eines von mehreren Ausdrucksmitteln ist, neben den >Worten< stehen »Gebärden und Bewegungen«, »Gestalten« und »Bilder«. Eine letzte und vielleicht die entscheidende Grenze erfährt die Sprache in der Darstellung des Neuen, nämlich in »der neuen Helligkeit«. Man erinnere sich des erwähnten Aufsatzes von George Steiner: »Wo das Wort [...] aufhört, setzt ein großes Leuchten ein.« Die »Helligkeit« ist nicht lediglich Objekt des Sehens, sondern vielmehr die Artikulation ihrer selbst, die dann, freilich nur metaphorisch, im Modus von Sprachlichem faßbar ist: »ihre Farbe redet zu einem neuen Augenpaar, mit dem meine geschlossenen Lider einander beschenkt haben«. Subjekt und Objekt ihrer >Sprache< zugleich, erwählt sie das Ich zum Gesprächspartner. III

Schweigen und Ich-Du-Beziehung

Wie in dem Jene-Text so findet sich auch in manchen frühen Gedichten Celans der Begriff »Schweigen« wie beiläufig und mit einer gewissen Selbstverständlichkeit. Es sind dies Gedichte, die vom Verhältnis des Ich zu einem Du1 sprechen und in denen das Schweigen zu einem Moment der Kommunikation wird. In »Auf hoher See« (MG 52) wird Kurs genommen [...] auf den fernen Schleier, der uns die Welt verhüllt, wo jedes Du ein Ast ist, an dem ich hänge als ein Blatt, das schweigt und schwebt.

Es ist eine noch verborgene, nur erst erhoffte Welt, in der offenbar »Schweigen« kennzeichnet im Umkreis dieser Gedichte die Intimität einer Beziehung zwischen Ich und Du, die der Sprache nicht bedarf, den Zustand einer sprachlosen Kommunikation. In aller Behutsamkeit und 1

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Diesem Aspekt haben Schwarz und Gadamer besondere Beachtung gewidmet. Vgl. Schwarz, a.a.O. - Hans-Georg Gadamer: Wer bin ich und wer bist Du? Abgedr. in: Über Celan, S. 258-64. - Ders.: Wer bin Ich und wer

fernab jeder ausdrücklichen sprachtheoretischen »Aussage« ist damit alle Beziehungen personalen Charakter besitzen. Das Bild von Ast und Blatt verdeutlicht eine Art der Zusammengehörigkeit, die in ihrer reinen Natürlichkeit nicht weiter begründbar ist. »Schweigen« meint hier keine Thematisierung von Sprachverlust oder ähnlich Gewichtigem; in der alliterierenden Verbindung strahlt die Wortbedeutung von >schweben< noch in das Wort »schweigen« hinüber, beides evoziert den Gleichmut des Geborgenen. Andere Gedichte zielen nicht auf Du-Beziehung schlechthin, sondern im Sinne des Liebesgedichts auf ein bestimmtes Du: Blicklos schweigt nun dein Äug in mein Äug sich, wandernd heb ich dein Herz an die Lippen, hebst du mein Herz an die deinen [...]. (MG 68)

Und im gleichen Gedicht heißt es weiter unten mit Bezug auf die Zeit: Munden wir ihr? Kein Laut und kein Licht schlüpft zwischen uns, es zu sagen.

immerhin indirekt eine Wertung vollzogen: Sprache ist wohl geeignet, die Beziehung zwischen Ich und Du herzustellen, die Vermittlung zu vollziehen; dort aber, wo diese Vermittlung bereits vollzogen ist, ist zugleich die Sprache als Medium überschritten, dort könnte sie, aufgrund des ihr eben auch innewohnenden Moments der Distanzierung, nur noch als Trennendes wirksam werden, indem sie die erreichte Einheit von Ich und Du wieder aufspaltete in eine Relation zwischen Ich und Du: dem Schweigen kommt in dieser Hinsicht ein höherer Rang zu. 2 Auch das Gedicht »Leuchten« (VS n) tritt in diesen Zusammenhang ein; zugleich wird aber hier das Schweigen als das Verbindende übertroffen von einem weiterreichenden bezugstiftenden Geschehen. Das Gedicht lautet: Schweigenden Leibes liegst du im Sand neben mir, Ubersternte.

2

bist Du? Kommentar zu Celans »Atemkristall«. Frankfurt/M. 1973 (Bibl. Suhrkamp 352). (U. d. T. »Atemkristall« erschien der erste Zyklus des Bandes »Atemwende« als bibliophiler Druck. Paris 1965.) Vgl. das oben zur impliziten Wertung von Sprache Gesagte.

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Brach sich ein Strahl herüber zu mir? Oder war es der Stab, den man brach über uns, der so leuchtet?

Auch hier hat die Ich-Du-Beziehung die Sprache als Modus der Kommunikation hinter sich gelassen. Das Zueinandergehören von Ich und Du ist aber erst eigentlich ermöglicht von einem anderen Bezug her. Das Gedicht führt eine Entwicklung vor von der auf Zuständliches hinweisenden Beschreibung über die Leerzeile und das anschließende Rückfragen nach dem in der Sprechpause Geschehenen zur Einkehr in eine neue Gegenwart - eine Entwicklung, die Ich und Du als zunächst auch sprachlich Dissoziierte3 in die Gemeinsamkeit des >wirzwischen den 2eilen< müssen hier als sprachlich prinzipiell nicht faßbare »Gegenstände«, also als unsagbar gelten, weil Sprache auf das Aussprechen des dem Absoluten entgegenstehenden Konkreten und des diesseits des Todes realiter Erfahrbaren festgelegt ist. Indem bei Mallarme der gegenständliche Vorgang sich abschließt und die Sprachbewegung in betonter Art endet und indem bei Hofmannnsthal das Ausgesprochene eine Lücke freiläßt, in beiden Fällen also per negationem, wird die Präsenz des NichtGesagten demonstriert, das - somit anders als Klopstocks (immerhin auch positiv als ein Phänomen der Fülle, als ein »Mehr« deutbares) >Wortloses< - nunmehr negativ vermittelt wird dadurch, daß die Sprache sich selbst als unzureichend zum Aussprechen jenes Nicht-Gesagten darstellt. Daß Sprache über das Gesagte hinaus >wortlos< mehr meinen kann und daß sie dieses Mehr nicht sagen kann, dies sind unterschiedliche Beschreibungen des gleichen Sachverhalts, Beschreibungen, in denen freilich eine gewandelte Einschätzung der Sprache sich bekundet.10 7 8 9 10

A.a.O., S. 282. A.a.O., S. 296 f. A.a.O., S. 295. Von sekundärer Bedeutung für diesen Zusammenhang, gleichwohl bemerkenswert ist, daß das Unaussprechliche bei Mallarmi und Hofmannsthal gegenüber Klopstocks Wortlosem nun auch seine »Wertigkeit« geändert hat,

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Auch die Leerzeile ist zunächst zu denken als motiviert aus der Einsicht in den Entzugscharakter eines Unaussprechlichen. Freilich ist hier das Unaussprechliche nicht nur implizit mitgegeben mit dem sich selbst begrenzenden, also negierenden Sprechen: das Ungesagte wird nicht vom Leser zum Gesagten »hinzugelesen«, sondern es wird »mitgelesen« als Pause; d.h. das Ungesagte ist nicht nur mitvermittelt mit dem Ausgesprochenen, sondern es steht zugleich neben ihm: die Leerzeile wird zu einer eigenständigen, freilich sprachlosen »Notierung« des Unaussprechlichen, indem sie, ohne eben tatsächlich sprachliche Manifestation zu sein, der Ebene des »Bezeichnenden« - der Sprache analog - zugehört und sich auf ein allein ihr korrespondierendes »Bezeichnetes«, das Unsagbare, bezieht, dem sie im Gang des Gedichts als eines diskursiven sprachlichen Gebildes einen bestimmten Ort genau zuweist. Bei Mailand und Hofmannsthal ist es schließlich dann doch die Sprache, die, betont endend oder eine Lücke freilassend, dem Unsagbaren eine Präsenz ermöglicht, und so folgt der Leser letzten Endes einer impliziten Anweisung des Gedichts selbst, wenn er das Absolute und den Tod als Unausgesprochenes ahnt. Anders im Falle der Leerzeile, die ja den Verzicht auf ein Sprechen ausdrücklich dokumentiert und so die zwischen Sagbarem und Unsagbarem bestehende Differenz scharf akzentuiert. In dieser Differenz demonstriert sich zugleich die »Sprachlichkeit« als Charakter des Gedichts und von Dichtung überhaupt. Mit anderen Worten: Wo dem Sprechen mit der Leerzeile ein eigener Modus von »Bedeutung« konfrontiert wird, die nicht in das Sprechen integrierbar ist, dort ist man genötigt, dem Gedicht als der Instanz, die beides umfaßt, den Charakter eines gleichsam naiven Sprechens abzuerkennen und ihm ein Bewußtsein seiner Sprachlichkeit zu unterstellen. Indem das Gedicht nachdrücklich auf jene Differenz hinweist, setzt es eine Sprachreflexion voraus, die hier freilich noch nicht zum Gegenstand seines Sprechens selbst wird. Gleichwohl deutet sich gerade in dieser Hinsicht schon hier die weitere Entwicklung an. Für den vorliegenden Zusammenhang war das Gedicht »Leuchten« bedeutsam, weil es in der Ebene des Gegenständlichen (»Schweigenden Leibes / liegst du [...]*) Schweigen als gleichsam natürliche Qualität der Kommunikation zwischen Ich und Du nannte und weil es zugleich über die vorher genannten Gedichte hinauswies, indem es nämlich nicht im Schweigen selbst, sondern in einem gegenständlichen Vorgang das eigentlich bezugstiftende Element herausstellte, in einem Vorgang - dem nämlich ein Negatives geworden ist: das nur negativ, nur als Verweigerung erfahrene Absolute bzw. »die bevorstehende Vernichtung« (Pestalozzi, a.a.O., S. 295).

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Augenblick des Aufleuchtens -, der selbst nicht vergegenständlicht werden konnte, der - als ein Augenblick - aus aller zeitlichen Ordnung herausfiel und so auch aller Begründbarkeit entzogen war und dem gerade deshalb das Gedicht selbst schweigend begegnen mußte. In den späteren Gedichten tritt Schweigen als Moment der Ich-DuBeziehung sehr in den Hintergrund. Schon das Titelgedicht des Bandes »Sprachgitter«11 entdeckt für den Begriff »Schweigen« die Möglichkeit, nicht nur die Intimität einer Kommunikation auszudrücken, sondern im Gegenteil auch gerade die Dissoziation:

[·.·] (War ich wie du. Wärst du wie ich. Standen wir nicht unter einem Passat? Wir sind Fremde.) Die Fliesen. Darauf, dicht beieinander, die beiden herzgrauen Lachen: zwei Mundvoll Schweigen. (SG 28)

Wie die Sprache als Gitter Verbindung und Trennnung zugleich ist, so ist Schweigen nun ebensosehr Ausdruck der Verbundenheit - »dicht beieinander« - wie der Entfremdung - »Wir sind Fremde« -. Freilich ist das Gedicht nicht auf diese letztere Möglichkeit festzulegen; daß es jedoch die ambivalente Bewertung des Schweigens gleichsam erst entdeckt, ist gegenüber den vorher genannten Gedichten neu und erhellt noch einmal den im Grunde doch auffälligen Umstand, daß Schweigen zunächst eben nicht den Abbruch einer zwischenmenschlichen Beziehung meinte, sondern gerade deren Bekräftigung. Einmal noch an späterer Stelle ist Schweigen auf das Ich-Du-Verhältnis bezogen; dort wird das Du als »Herbeigeschwiegene« angesprochen (AW 44). Nimmt man dies wörtlich, so ist Schweigen hier ein Mittel, auf nahezu magische Art über ein Du zu verfügen; als Instrument, als Werkzeug aber wird Schweigen auf eine unerwartete Weise der Sprache ähnlich und erlangt in letzter Konsequenz die gleiche Wirkung, die die Sprache dort besitzt, wo sie als »Beilwort« (»ad- / jektivisch, so gehn / sie dem Menschen zuleibe«, NR 74) bezeichnet werden kann: man bedenke etwa die Nähe von »todbringender Rede« (Bri28) zum >Totschweigen< (AW 87). Davon wird unten zu handeln sein. 11

Das Gedicht wurde ausführlich interpretiert von Alfred Kelletat in seinem Aufsatz »Accessus zu Celans >Sprachgitterstrengste Verdichtung< sieht Anderle hinsichtlich der ersten drei Gedichtbände in »Sprachgitter« verwirklicht.52 Die Reihe der Belege ließe sich fortsetzen.53 Nun scheint es allerdings, als führe der Befund der Verknappung und Konzentration etwa in »Sprachgitter« allzu leicht zu einer überscharfen Kontrastierung mit den frühen Gedichten; Qualifikationen wie »trunkene Bilderfülle«, >Uppig-Blühendes und Wucherndes< muten doch leicht überzeichnet an und können daher nur mit Einschränkung akzeptiert werden (in ihnen wird z. B. auch der Anteil der Stilisierung in Celans früher Lyrik verkannt).54 Hinsichtlich der Veränderung der Sprechweise von Celans Gedichten ist der Befund freilich durchaus richtig: die Konzentration ist in der Tat ein entscheidendes Kennzeichen, und es ist sicher

48 49 50 51 52

53 54

Horst Bienek: Narben unserer Zeit. Zit. nach: Über Celan, S. 43. Karl Krolow: Das Wort als konkrete Materie. Zit. nach: Über Celan, S. 56. A.a.O., S. 55. Marie Luise Kaschnitz: Rede auf den Preisträger. Zit. nach: Über Celan, S. 70 f. Martin Anderle: Strukturlinien in der Lyrik Paul Celans. Zit. nach: Über Celan, S. 66. Vgl. besonders noch die ausführlichere Untersuchung von Schwarz, a.a.O. Offenbar geht die Vorstellung des »Wuchernden« zu einem Teil darauf zurück, daß die Metaphern sich häufig nicht recht auflösen lassen (vgl. zu diesem Aspekt: Adelheid Rexheuser: Sinnsuche und Zeichen-Setzung in der Lyrik des frühen Celan. Linguistische und literaturwissenschaftliche Untersuchungen zu dem Gedichtband »Mohn und Gedächtnis«. Bonn 1974). Die Annahme der selbstgenügsamen Üppigkeit eines bilderreichen Stils scheint daher eine Folge des Unvermögens, die - doch immer wieder zu vermutende - Konkretheit des Gegenständlichen dingfest zu machen. Es fragt sich daher, in welchem Maße eine Beurteilung der Dichtung auch auf die Scheu des Interpreten, mangelndes Verständnis einzuräumen, zurückgeht. Auf diese Frage wird im Zusammenhang mit der späten Lyrik Celans zurückzukommen sein, die sehr viel direkter zu der Überlegung nötigt, daß der Interpret möglicherweise (und vielleicht sogar mit einer gewissen Notwendigkeit) seine eigene Befangenheit (entsprechend umgedeutet) der Dichtung als Wesenszug unterstellt.

auch zutreffend, wenn Weinrich diese Entwicklung im Zusammenhang mit der Entdeckung der Sprache als eines lyrischen Themas sieht. Obwohl es nur eine begrenzte Anzahl von Gedichten ist, die Sprache direkt thematisieren, so verweisen diese doch auf einen Stand der lyrischen Selbstreflexion, der unausdrücklich auch den Hintergrund der anderen Gedichte bildet, und es scheint nahezu zwangsläufig, daß das durch die Selbstreflexion gleichsam in seiner »Naivität« gebrochene lyrische Sprechen immer mehr zur Verknappung, zur Reduktion, zu einer dem Willen zur Präzision verpflichteten Kargheit tendiert. Wenn jedoch die Veränderung der lyrischen Sprechweise an die Selbstreflexion von Lyrik geknüpft scheint und wenn nicht anzunehmen ist, Celans Dichtung könne die Einsicht in ihre Sprachlichkeit einfach wieder überspringen, so bedeutet dies, daß dieser Dichtung durchgehend ein Bewußtsein dessen zuzumuten ist, daß die von ihr hervorgebrachte »Wirklichkeit« eben sprachlich verfaßt ist. Selbstreflexion des Sprechens bedeutet ja zunächst nichts anderes, als daß der Autor über Dichtung reflektiert und diese Reflexion dichterisch gestaltet. Eine solche Reflexion kann sich jedoch nicht mit der Wahrnehmung begnügen, daß das Gedicht eben sprachlicher Natur ist. Reflexion ist sie erst, wenn sie, ausgehend von dieser Wahrnehmung, das Verhältnis des Sprechens zu der dichterischen »Wirklichkeit« bedenkt. Das aber heißt: das sich selbst reflektierende Gedicht spricht nicht über sich selbst statt von Gegenständen, wie Weinrich meint, sondern es spricht über sein Verhältnis zu den Gegenständen. Die Struktur der Reflexivität wird verkannt, wenn man annimmt, der Selbstbezug trete an die Stelle des Sachbezugs, Sprache als Gegenstand des Gedichts ersetze die Dinge, von denen sonst Gedichte sprachen. Vielmehr bedeutet Reflexivität, daß eben gerade das Sprechen über Sachen begriffen wird als ein Sprechen über Sachen; sie bedeutet keinesfalls den Verzicht der Gedichte auf >WelthaltigkeitWorts< ein Unaussprechliches in den Blick, das nun aber nicht mehr ausdrücklich in einen Bezug zum Schweigen gestellt wird, das vielmehr als ein Jenseitiges vor allem in seiner Relation zu Hiesigem, zu menschlicher Existenz gesehen wird: die frei schwingenden Hämmer meinen nicht nur Freiheit schlechthin, sondern, indem sie Unhörbares erklingen lassen, zugleich ein Ultimum, ein höchstes Maß, das den Umschlag in eine neue Qualität vollzieht; und im Hinblick auf menschliche Existenz kann dies in einem allgemeinen Sinne als Erlösung begriffen werden, die aber, als vom Gedicht her sichtbar werdende, wiederum den Gewinn einer anderen, einer unerreichbaren Sprache zu ihrer Voraussetzung hat. Gerät in dieser Perspektive das Gedicht »Blume« in eine Reihe mit früher zitierten Gedichten, so hat sich gegenüber jenen doch zugleich mehrerlei entscheidend gewandelt. Verändert erscheint die Sprechweise und ebenso die Konzeption von Sprache: Thema des Gedichts ist nunmehr die Versöhnung von Sprache und Existenz. Und das heißt: thematisch wie formal zeigt das Gedicht »Blume« einen neuen Stand in der Entwicklung der Lyrik Celans an. Hat es auch etwa mit dem früheren Gedicht »Strähne« dies gemein, von einem sprechbaren Wort her auf Unaussprechliches zu verweisen, so ist doch auffallend, in welch anderer Weise das spätere Gedicht zu der verfügbaren Sprache steht. Im Zentrum des früheren hieß es: 58

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Die Verbindung von Stern und Blindheit findet sich bei Celan öfters - vgl. »Der blinde Stern« (VS 51), »Eine Blindenhand, sternhart« (A W 31), »Planetenstaub in den gehöhlten / Augen, // nachtblind, tagblind, / weltblind« (LZ 77). Freilich besagt das noch nichts über eine wirkliche Vergleichbarkeit der jeweiligen Kontexte.

Strähne [... ...]-: dies ist ein Wort, das sich regt Firnen zulieb, ein Wort, das schneewärts geäugt, [·..], ein Wort, das mich mied, als die Lippe mir blutet' vor Sprache. Dies ist ein Wort, das neben den Worten einherging, ein Wort nach dem Bilde des Schweigens, [...].

Die Intensität des Sprechens ist hier das Ergebnis einer Reihung von Versuchen, das »Wort« zu ergreifen, wobei gerade die Wiederholbarkeit der Versuche demonstriert, daß das »Wort« entzogen und nur von seinen Relationen zu anderem, von seinen Wirkungen her umschreibbar ist, so daß der Abschluß, den diese Reihung in dem Begriff »Schweigen« findet, nicht den in einem stetigen Aufstieg erreichten Gipfel darstellt, sondern als vom Gedicht gesetztes Ende erscheint. Mit der Bestimmung »ein Wort nach dem Bilde des Schweigens« ist wohl die größtmögliche Nähe zu dem »Wort« verwirklicht (ohne daß dies darum verfügbar würde), zugleich weist das Gedicht hier am deutlichsten über sein eigenes Sprechen hinaus, wie es ja überhaupt ganz offensichtlich von dem Impuls lebt, über sich und sein Sprechen hinauszutreiben. Anders »Blume«: auch hier beginnt das Gedicht mit einer Setzung: »Der Stein. / [...]«, auch hier geht es über diesen Anfang hinaus, aber es staut gleichsam alles Vorwärtstreibende zurück, es schlägt einen Kreis: Wiederholung und Erweiterung - »Der Stein in der Luft, dem ich folgte« - setzen das gleiche als das zugleich andere (der »Stein in der Luft« ist ja der Stern)59 und kehren über ein Neues, das Auge, wieder zum Ausgangspunkt zurück: »Dein Äug, so blind wie der Stein.« Hier ist der ganze, von den früheren Gedichten in unterschiedlich direkter Weise ausgesprochene Kontext von Leid, Schmerz, Nacht, Tod - freilich äußerst gedämpft - präsent: dieser Vers resümiert Ausgesetztsein, HilfsAus den (auf einer 1972 in Paris abgehaltenen Celan-Tagung) von Rolf Bücher vorgelegten früheren Fassungen des Gedichts »Blume« geht hervor daß es ursprünglich mit »Stern« einsetzte. »Stein« betont demgegenüber das Diesseitige und auch das Verschlossene (chiffriert daher das Sprachlose, wie es auch den Bezug zu Tod enthält), meint aber als »Stein in der Luft« zugleich den Stern; wenn der seit alters Orientierung gewährenden Sternenkonstellation hier Blindheit attestiert wird, so klingt darin eine Art Absage an eine Transzendenz an, die den Menschen nicht (mehr) führt.

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bedürftigkeit, Hoffnung auf Führung, Einsicht in die Vergeblichkeit.60 Der Kreis als Sprachbewegung kann im formalen Sinne ein Höchstmaß an Konzentration bedeuten, er suggeriert hier aber inhaltlich eine Art Ausweglosigkeit: das Gedicht fällt gleichsam auf seinen Ausgangspunkt zurück, der Abtrennung der Verse voneinander korrespondiert die Abschließung der ganzen Strophe nach außen hin, wobei selbst ein inhaltlich Neues: »Dein Äug« ausdrücklich dem schon Vorhandenen angeglichen: »so blind wie der Stein« und so seiner progressiven Kraft beraubt wird: diese Strophe führt ein Sprechen vor, das über die nominale Setzung nicht hinausgelangt; das Gedicht muß, um weitersprechen zu können, völlig neu einsetzen. Der Vorbereitung dieses Neueinsatzes dient die Sprechpause zwischen erster und zweiter Strophe. Blickt man von der zweiten auf die erste zurück, so geht aus der offensichtlichen Differenz der Sprechweisen hervor, daß die Pause zwischen den beiden Strophen den Ort des Gewinns einer neuen Sprache darstellt, deren Neuheit nicht nur aus der rhythmischen und der syntaktischen Andersartigkeit resultiert oder aus dem Umstand, daß zweite und erste Strophe schlechthin kein einziges Wort gemein haben, sondern schließlich inhaltlich noch daraus, daß der neuen Sprache mit der letzten Strophe die Fähigkeit zuerkannt wird, eine Art Spiegelbild für Unaussprechliches abzugeben. »Der Stein« war Setzung und zugleich Abschluß, »Wir waren / [...]« eröffnet eine weiterlaufende Sprachbewegung, drängt auf Fortsetzung, die - zunächst - ausbleibt; das Enjambement erzwingt eine Pause, erzeugt so eine Spannung, das hinausgezögerte Wort »Hände« erlangt den Charakter von Erfüllung. Ein gleiches wiederholt sich am Schluß dieser Strophe: »das Wort, das den Sommer heraufkam: / Blume.« War es vorher der grammatikalische Charakter von »Wir waren«, der ein Prädikatsnomen als Ergänzung verlangte, so ist hier nunmehr der Doppelpunkt gewissermaßen eine freie und bewußte Veranstaltung des Gedichts, d. h. deutlicher noch als mit dem Wort »Hände« bestätigt mit dem Wort »Blume« das Gedicht sich selbst als Setzendes. Für beide gilt, ebenso wie für das spätere Wort »Wachstum« (das übrigens zusammen mit »Blume« und »Hände« nicht nur in der Betonung des Organischen, sondern auch in der rhythmischen Umkehrung eine Art Entgegnung zu dem Eingangsvers »Der Stein« bildet), daß das für sich gesetzte Wort nicht nur einen besonders starken Nachdruck erhält, sondern daß in ihm sich das Gedicht als Nennendes selbst in den Vordergrund bringt. 80

Dies läßt sich als Beleg für Gadamers These sehen, daß das Gedicht seinen biographischen Ausgangspunkt immer hinter sich lasse. Der Ausgangspunkt des vorliegenden Gedichts, nämlich der Umstand, daß Celans kleiner Sohn

Freilich, auch »Der Stein« war ein betont Genanntes, aber er war eben nur Nennung, diese blieb isoliert;81 erst jetzt mit dem Gewinn des Verbums zeigt sich das jeweils Gesetzte als ein zugleich aus einer Sprachbewegung Gewonnenes, erst jetzt erreicht das Gedicht gewissermaßen eine volle Sprache, in der das Erworbene den Charakter der willkürlichen Setzung abgestreift hat.62 Während das Gedicht »Strähne« mit dem Vers »ein Wort nach dem Bilde des Schweigens« am deutlichsten über sich und sein Sprechen hinauswies, ist das Gedicht »Blume« in dem Vers »Blume - ein Blindenwort« gleichsam ganz bei sich, hier kommen die Sprachbewegung des gesamten Gedichts, die sich nie im einzelnen Wort erfüllt, und ein solches einzeln Genanntes einander am nächsten. Der Daktylus »Blindenwort« wiederholt bekräftigend den zögernden Daktylus »Blume - ein«, der Gedankenstrich signalisiert eine kurze Sprechpause, die wiederum den Charakter der Vorbereitung trägt, über die nun der Rhythmus, sie solcherart integrierend, hinwegführt; hier scheint in der Einheit des Verses die neue Sprechweise der vorhergehenden Strophe am konzentriertesten gespiegelt: ein leichtes Zurückhalten, ein Anstauen des Sprachflusses, das eine spannungsvolle Pause entstehen läßt, die dem nun Folgenden die Qualität eines Befreienden, einer Erfüllung vermittelt: beides, das Sprechen wie die ihm korrespondierende Pause, ist als aufgehoben zu denken in dem Wort »Blindenwort«, in dem nun überhaupt alles zusammenläuft: durch Alliteration die Beziehung zu »Blume«, die rhythmische Entsprechung zu »Finsternis« und zugleich inhaltlich deren Überwindung, die wörtliche Wiederaufnahme nicht nur von »Wort« aus der zweiten, sondern auch von »blind« aus der ersten Strophe und eben vor allem das Thema Sprache, in deren Thematisierung das Gedicht sich selbst mit einbegreift. Der Vers »Blume - ein Blindenwort« steht genau in der Mitte des Gedichts, diese Position spiegelt das Sprechen des Gedichts selbst, nämlich dessen Mittelstellung zwischen dem letzten, aber unaussprechbaren Wort: »Ein Wort noch, wie dies« und dem in sich verschlossenen,

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eines Tages das Wort »Blume« lernte, ist in diesem Vers am deutlichsten überschritten. Man kann vielleicht annehmen, daß das letzte Wort »im Freien« den Eingang in der Assonanz repetiert, ihm aber hinsichtlich der Bedeutung streng widerspricht, indem es dem begrenzten Verschlossenen des Steins nun das unbestimmte und d. h. unbegrenzte Offene des Freien entgegenhält. Bei dem Wort »Wachstum« ist es nicht die syntaktische Einbindung, sondern die Reihe der Alliterationen Wort, Wasser, (Herz-)wand wie auch die rhythmische Parallelität mit »Hände« und »Blume«, die es in die Bewegung des Gedichts integriert.

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alle Versuche der Orientierung abwehrenden Stein, der gestaltgewordenen Sprachlosigkeit selbst. Zugleich ist dieser Vers im Sinne Gadamers als Gegenwort aufzufassen: »Auch das Gedicht hat - wie jedes Wort des Gesprächs — den Charakter des Gegenworts, das mithören läßt, was gerade nicht gesagt wird, was aber als Sinnerwartung vorausgesetzt ist, ja, durch das Gedicht geweckt wird - vielleicht nur, um als Erwartung gebrochen zu werden.«93 Eine solche gebrochene Erwartung ist wohl in »dem gegen wörtlichen Bezug«64 des Gedichts »Blume« zu Mallarme zu sehen, wobei nicht nur an die auch andernorts zu findende Bedeutung der Blume und besonders der Rose als eines Symbols für die Dichtung65 zu denken ist, sondern vor allem an Mailands berühmtes Wort: Je dis: une fleur! et, hors de l'oubli oü ma voix reUgue aucun contour, en tant que quelque chose d'autre que les calices sus, musicalement se leve, id£e et suave, l'absente de tous bouquets.88

Dem Aussprechen des Worts kommt hier die Kraft zu, jeden konkreten >UmrißBlumenkelche< abzuweisen, vergessen zu lassen, so daß allein noch im akustischen Charakter des Aussprechens ein letzter Rest von Sinnlichkeit verbleibt, der nun aber aufgeht in dem >tönenden< Hervortreten (»musicalement«) der Idee selbst, derjenigen Blume, die - als Idee - in keinem Strauß mehr vorkommen kann. Anders bei Celan: Nicht nur verbürgt hier das Wort gerade den Gewinn eines Dings, sondern das Wort selbst ist eben nicht mehr einfach verfügbar. Daß die Sprache den Ausdruck des Absoluten nicht zu leisten vermag, dies ist Mallarme's Einsicht; es bleibt ihm indessen die Sprache, es bleibt auch die Aufgabe, und im Bewußtsein der Unerreichbarkeit des Ziels kann Mallarm£ die Tätigkeit des Dichters dennoch als >Arbeit< bezeichnen. Zwischen Mallarme und Celan steht, so kann man sicher vergröbernd - sagen, die Erfahrung, die Hofmannsthals ChandosBrief beschreibt, nämlich die Bedrohung durch den Verlust der Sprache, hinter der nun die blanke, undeutbare Existenz sichtbar wird. Zwar gelangen bei Celan das Wort und das durch das Wort verbürgte Ding in eine neue Einheit, aber das Wort ist eben das nicht mehr verfügbare, sondern das zu suchende. Daß das gefundene zum »Blindenwort« wird, darin liegt der strengste Gegensatz zu Mallarm^: das »Blindenwort« be83 65

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e4 Gadamer, a.a.O., S. 115. A.a.O., S. 118. Vgl. Hugo Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik. Von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Erw. Neuausg. Hamburg 1967 (rde 25/26/26 a), S. 106, in, 127 f., 158 f. Stephane Mallarme: CEuvres completes. Hg. v. Henri Mondor, G. JeanAubry. Paris 1945. 1970, S. 368.

zeichnet eine Auffassung von Sprache, nach der diese ihre Erfüllung aus der Relation zu menschlicher Existenz bezieht, das »Blindenwort« führt nicht nur den Blinden, sondern es hebt zugleich - als direkte Negation der »Finsternis« - die Blindheit auf, es vermittelt den »Sommer«: »Lichtgewinn« (SG 54). Und dies besagt: im »Blindenwort« realisiert sich zugleich eine andere Auffassung von Wirklichkeit. Celan hat die oben zitierte Feststellung der Bremer Rede, es gehe darum, mittels der Dichtung »Wirklichkeit zu entwerfen«, auch andernorts bekräftigt: »Wirklichkeit ist nicht, Wirklichkeit will gesucht und gewonnen sein.«97 Daß Dichtung dies zu leisten vermag, scheint hier - im Gedicht »Blume« - unbezweifelt zu sein: indem das »Blindenwort« Blume das Naturding Blume zugänglich macht, repräsentiert es das wirklichkeitsvermittelnde Sprechen des Gedichts. Für das Ich und das Du, von denen das Gedicht spricht, ist »Blume« nicht bloß das Wort, wie Weinrich meint, sondern die mittels der Sprache gewonnene Wirklichkeit, die Blume in ihrer erfahrbaren Konkretheit: Dein Äug und mein Äug: sie sorgen für Wasser.

Bemerkenswert hinsichtlich der Sprechweise ist, daß die mittlere Strophe den Umschlag von dem Abstraktum >Wort< zu den Konkreta »Äug« und »Wasser« deutlich überspielt; dem kommt entgegen, daß das Gedicht ja überhaupt von dem »Wort« wie von einem dinglich Seienden spricht und daß das »Blindenwort« als Analogie zu >Blindenstab< diesen als ein konkret Gegenständliches zum Hintergrund hat. Realisiert die Sprechweise somit gerade die thematische Verbindung von Wort und Ding, so ist nun der - diesmal durch Strophentrennung unterstrichene Übergang von »Wasser« zu »Wachstum« um so auffälliger. Zwar wird »Wachstum« aufgrund seiner sinnlichen Qualitäten in das Gedicht integriert - nämlich mittels der rhythmischen Entsprechung zu »Hände« und »Blume« und als Glied in der Reihe der alliterierenden Wörter »Wort«, »Wasser«, »(Herz-)wand« —, aber es ist doch durch seinen abstrakten Charakter deutlich herausgehoben; solcherart bildet es eine Mitte zwischen der Blume und dem unaussprechbaren Wort der letzten Strophe und zeigt zugleich wohl auch den Gewinn einer neuen Perspektive an: es vermittelt die Dimensionen von Innen und Außen. Die Tränen lassen die Blume wachsen, das Wachsen ermöglicht aber, daß sich nun Inneres, »Herzwand«, der Blume anlagert als Blütenblatt, d. h. das im Wort gewonnene Ding nimmt Inneres auf, in der sprachlich vermittelten äußeren Wirklichkeit kommt zugleich die innere mit zur Sprache: Wirklichkeit 87

Umfrage 1958, a.a.O.

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als sprachlich gewonnene ist die Einheit von Innen und Außen. Eigentümlich bleibt freilich, daß das Gedicht gerade an dieser Stelle mit dem Wort »Wachstum« einen abstrakten Begriff einsetzt und auf diese Weise offenbar auch den nunmehr erreichten Stand einer objektiven Sprache unterstreicht, die bereits vorher an die Stelle von »wir« »Dein Äug und mein Äug: / sie [ ..]« gesetzt hat und in der Folge auch über diese bereits reduzierte Weise der Personalisierung noch hinausgeht, indem sie das Innerste, »Herzwand«, nunmehr ganz unbezogen-neutral nennt und mit der letzten Strophe schließlich ausdrücklich auf die Andersartigkeit einer Sprache verweist, die nur noch im Bild einer reinen Selbstbezogenheit (frei schwingende Hämmer) faßbar wird. Für die dem Gedicht verfügbare Sprache, die in dem »Blindenwort« repräsentiert wird, ist jene andere Sprache eine unerreichbare Erfüllung, in der Wirklichkeit als schlechthin aufgehoben zu denken ist und zu der die hiesige Sprache nur im Verhältnis der Analogie steht. Gerade dies freilich ist ihre Auszeichnung: indem die dem Gedicht verfügbare Sprache bis an die Schwelle zu jener anderen heran gelangt, realisiert das Gedicht »Blume« eine neue Einschätzung von dichterischer Sprache überhaupt, die Akzente haben sich verschoben: nicht mehr steht das Unaussprechliche im Zentrum des Gedichts, als »leere [...] Mitte« (NR 17), sondern es wird nun gleichsam am Horizont eines Sprechens sichtbar, das seine ihm mögliche Erfüllung in der Versöhnung mit Wirklichkeit gewinnt; nicht die Kluft zum Unaussprechlichen hin, sondern gerade eine neu erlangte Nähe zu ihm tritt hervor (man beachte in dieser Hinsicht das Präsens als einheitliches Tempus der letzten drei Strophen). Das eine menschliche Wirklichkeit vermittelnde »Blindenwort« stellt einen Vorgriff auf die utopische Sprache dar und hebt sich zugleich von jener anderen Gestalt von Wirklichkeit ab, die sich im »Stein« manifestiert hat, nämlich einer nicht nur selbst sprachlosen, sondern auch jedes Sprechen abweisenden Wirklichkeit. Freilich nennt das Gedicht den »Stein«, aber es nennt ihn nur, um sein, des Gedichts eigenes Scheitern an ihm als Scheitern des sprechenden Menschen vorzuführen. Der Stein chiffriert Sprachlosigkeit, aber mehr noch repräsentiert er eine Qualität von Wirklichkeit, die das Sprechen gleichsam abprallen läßt, die sich vor ihm verschließt: Das Gedicht wird - unter welchen Bedingungen! - zum Gedicht eines immer noch - Wahrnehmenden, dem Erscheinenden Zugewandten, dieses Erscheinende Befragenden und Ansprechenden; es wird Gespräch - oft ist es verzweifeltes Gespräch. (Bü 144)

Benennt die erste Strophe des Gedichts »Blume« den vom Gegenüber her verweigerten Dialog, so zeigt das Gedicht im ganzen mit der erlang80

ten Einheit von Sprechen und Wirklichkeit im »Blindenwort« zugleich, wie eingeschränkt der Bereich ist, der solches ermöglicht. Bemerkenswert ist das Gedicht »Blume« nicht nur durch die neue Einschätzung der Sprache, sondern auch in einer anderen Hinsicht: »das Wort, das den Sommer heraufkam« und das von den >Händen< gefunden wird, besitzt selbst die Erscheinungsweise eines sinnlich Erfahrbaren. Hier setzt sich eine besondere Art der Anschauung von Sprache durch, die bereits in früheren Gedichten anklingt, die dann aber vor allem in »Sprachgitter« hervortritt. Allemann sagt dazu: Der Wortbestand des im Gedicht Gesprochenen wird sozusagen unmittelbar verdinglicht, das heißt die Worte werden nicht mehr nur als Bezeichnungen der Dinge aufgefaßt, sondern erscheinen als selbständige Wesen gleichrangig und ohne kategoriale Differenz neben und zwischen den Erscheinungen der im Gedicht ausgesprochenen Welt. [. . .] Wenn man die Metapher traditionellerweise als verkürzten Vergleich definiert, so könnte man hier von einer verkürzten Metapher sprechen. Die Verkürzung beseitigt den üblichen Abstand zwischen den Worten und den mit Worten bezeichneten Sachen.68

Als Beispiel zitiert Allemann: Das Geschriebene höhlt sich, das Gesprochene, meergrün, brennt in den Buchten, in den verflüssigten Namen schnellen die Tümmler,

In diesen Zusammenhang läßt sich das Gedicht »Blume« einordnen, und man könnte die entsprechende (mit dem Begriff >Verdinglichung< noch nicht zureichend erfaßte) Anschauungsweise von Sprache in den weiteren Rahmen der Verknüpfung von Abstraktem und Konkretem bei Celan stellen: Du[...] stürzt mit mir durch Bilder, Felsen, Zahlen. (FS 21)

Es scheint sich hier aber doch um mehr zu handeln als nur »eine Sprechweise, die sich ihrer eigenen Sprachlichkeit bewußt ist, die ihr Gesprochensein immer wieder thematisiert»."0 Und man darf wohl - si88 69

Beda Allemann: Nachwort zu: Paul Celan: Ausgewählte Gedichte. Hg. v. Beda Allemann, S. i 59 f. Allemann, a.a.O., S. 160. 81

eher auch im Sinne Allemanns - die Besonderheit des >BlindenwortsAussagen< abforderte. Was aber in diesem Gedicht sich andeutet und was Allemann als Wegfall der Differenz zwischen Wort und Sache bestimmt, scheint erst in zweiter Linie sprachtheoretisch begründbar, vielmehr tritt hier zunächst eine gleichsam ursprünglichere Erfahrung von Sprache hervor. Celan hat dies in der Büchner-Rede beschrieben, er bezieht sich dort auf das Kunstgespräch zwischen Camille und Danton: Aber es gibt, wenn von der Kunst die Rede ist, auch immer wieder jemand, der zugegen ist und ... nicht richtig hinhört. Genauer: jemand, der hört und lauscht und schaut ... und dann nicht weiß, wovon die Rede war. Der aber den Sprechenden hört, der ihn »sprechen sieht«, der Sprache wahrgenommen hat und Gestalt, und zugleich auch - wer vermöchte hier, im Bereich dieser Dichtung, daran zu zweifeln? -, und zugleich auch Atem, das heißt Richtung und Schicksal. Das ist [...] Lucile. (Bü 134)

Und kurz darauf nennt Celan sie noch einmal, »Lucile, die Kunstblinde, dieselbe Lucile, für die Sprache etwas Personenhaftes und Wahrnehmbares hat« (Bü i3j). Fast unmerklich taucht hier ein Gegensatz auf, wenn es gerade die »Kunstblinde« ist, die »sprechen sieht« und >Sprache wahrnimmt^ Diese Stelle ist nun aber ein Vorklang jener späteren, an der es, im Zusammenhang mit der Dichtung als der »Atemwende«, heißt, das Gedicht könne »nun, auf diese kunst-lose, kunst-freie Weise, seine anderen Wege, also auch Wege der Kunst gehen« (Bü 14). Das heißt: Dichtung und mit ihr Sprache haben in einer bestimmten Hinsicht eine >Überwindung< der Kunst zu leisten; von der »In-Frage-Stellung« der Kunst, »zu der alle heutige Dichtung zurück muß, wenn sie weiterfragen will«, ist denn auch bereits vorher die Rede (Bü 138).™ Mit aller Vorläufigkeit ist hier festzuhalten, daß Celan eine Differenz zwischen Dichtung und Sprache auf der einen und Kunst auf der anderen Seite sieht, daß es also, wenn die >kunstblinde< Lucile Sprache als »Gestalt« wahrnimmt, nach Celan eine gewissermaßen ursprüngliche Erfahrung von Sprache als eines unmittelbar Wirklichen gibt, eine Erfahrung, die nicht an Kunst geknüpft ist. 70

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Man vergleiche dazu die Feststellung Günter Eichs: »Als die eigentliche Sprache erscheint mir die, in der das Wort und das Ding zusammenfallen.« Zit. nach: Hans Bender (Hg.): Mein Gedicht ist mein Messer. Lyriker zu ihren Gedichten. München 1961 (List 187), S. 23. Vgl. unten, S. 175 ff.

Die sinnliche Erfahrbarkeit von Sprache bildet den Hintergrund für etliche Gedichte aus »Sprachgitter« und aus den späteren Bänden: Sprache begegnet hinsichtlich der Erfahrung nicht anders als das dinglich Seiende: Wieder Begegnungen mit vereinzelten Worten wie: Steinschlag, Hartgräser, Zeit. (SG $2)

Was ein reflektierendes Bewußtsein als Aufhebung der kategorialen Differenz zwischen Wort und Sache bestimmt, ist für die unmittelbare Wahrnehmung die Ununterschiedenheit des sinnlich Erfahrenen, ob dies nun Wort oder Ding ist. Obwohl dann letztlich doch nicht von der gegenständlichen Bedeutung eines jeweiligen Worts zu abstrahieren ist wobei diese Bedeutung nicht notwendigerweise ein Ding meinen muß, man vergleiche: »das Wort / Nimmer« (NR 31), das »Zeltwort: / Mitsammen« (NR 5j) -, so stellt dennoch die Akzentuierung von Sprache als eines sinnlich Wahrnehmbaren eine entschiedene Gegenposition zu jeder instrumentalen Auffassung der Sprache dar, und zwar in dem Maße, daß die Begegnung mit Sprache und das Finden des - wirklichkeitsvermittelnden - Worts nun nicht mehr als ein Selbstverständliches erscheint;72 im Gegenzug gegen die Instrumentalisierung wie auch gegen die Ansicht einer immer schon vorgängigen Vermittlung von Sprache und Wirklichkeit ist diejenige Sprache, die als »etwas Personhaftes und Wahrnehmbares« begegnet, nicht mehr einfach verfügbar, sondern ein Gegenstand der Suche, eine Aufgabe, und zwar eine sich immer erneut stellende. Daher betont Celan so intensiv die >Einmaligkeit< von Dichtung: »Denn das Gedicht ist nicht zeitlos«, heißt es bereits in der Bremer Rede, »es sucht, durch die Zeit hindurchzugreifen - [...] nicht über sie hinweg« (Br 128); und in der Büchner-Rede sagt Celan: »das Gedicht selbst hat ja immer nur diese eine, einmalige, punktuelle Gegenwart« (Bü 145), es ist »gestaltgewordene Sprache eines Einzelnen, - und seinem innersten Wesen nach Gegenwart und Präsenz« (Bü 144); und in der Antwort auf eine Umfrage: »Dichtung - das ist das schicksalhaft Einmalige der Spra72

Vgl. auch die spätere Ansprache vor dem hebräischen Schriftstellverband (1969), in der Celan von der »Freude« spricht »über jedes neuerworbene, selbsterfühlte, erfüllte Wort, das herbeieilt, den ihm Zugewandten zu stärken - [...] in diesen Zeiten der allenthalben wachsenden Selbstentfremdung und Vermassung.« (Abgedr. in: Die Welt. 21. 11. 1970; auch in: die hören 16 [1971]. H. 83, S. 102.) Der gleichsam dialogische Umgang mit der Sprache selbst steht hier ganz offensichtlich im Zusammenhang mit einem zeitkritischen Blick auf die Gegenwart. Auf das Moment der Zeitkritik wird unten noch zu kommen sein. 83

ehe.«73 Hier wird nicht in fatalistischer Ergebenheit der Inspiration geharrt; gleichwohl geht dieser Satz, im Bewußtsein der UnVerfügbarkeit von Sprache, gegen die Behauptung der >Machbarkeit< von Dichtung. Es ist Celans Verdacht, daß »das Herumexperimentieren mit dem sogenannten Wortmaterial«74 die Sprache und gerade auch die dichterische als fungibel für beliebige Zwecke ansieht, und zwar in der Weise, wie einmal schon »das >Machen< über die Mache allmählich zur Machenschaft« 75 geführt hat, nämlich zur Machenschaft von Dichtung und Nationalsozialismus: als ungehemmt verwendbare ist Sprache >einsetzbar< nicht nur in der Dichtung, sondern auch für »die tausend Finsternisse todbringender Rede« (Br 128). Und das heißt schließlich: »das schicksalhaft Einmalige« dichterischer Sprache, eben ihre Unverfügbarkeit, steht in genauem Gegensatz zu der Verwendung der Sprache als »Beilwort«, das zum »Fallbeil« wird (NR. 74 f.). Es gilt zu sehen, daß dieser weitere Horizont den existentiellen Anteil mitbestimmt, den der Sprechende und nach Sprache Suchende am Finden des Worts, des >Blindenwortshinauf< aufs >hohe Meer< und zeichnet so den Weg einer Rückkehr vor (»Zurück«), die noch bevorsteht (»Zukunft«). Eine derartig übersetzende Betrachtung droht jedoch, verführt von der Anspielung der Überschrift,77 dem Gedicht den epischen Zusammenhang einer Erzählung zu unterstellen, indem sie die allgemeine Dimension »Zukunft« zu einem bestimmten Zukünftigen verengt und das Ungewöhnliche der Kombination von »Hinauf« und »Zurück« (statt >VorwärtsVergangenheit< erwarten ließe) als selbstverständlich hinnimmt. Immerhin, die Einsicht in diese Gefahr bringt ein deutlicheres Bewußtsein von der Abstraktheit jener komplexen Bewegung hervor. Weniger ungewöhnlich ist demgegenüber die Bestimmung der Zukunft als >herzhellunwegsam-wahrgeschriebnen< Bewegung auch den Beiklang einer >vorgeschriebnen< Richtung: der Gang durch >Unwegsam-Wahres< in die Zukunft wird zu einer Aufgabe. All dies faßt nun das Gedicht in einem einzigen Wort zusammen: »Dort.« Zwar steht dieses Wort in einer Parallelität zum Gedichtanfang »Dieses / [.. .]« und zu dem späteren »Dann: / [. ..]«, aber die beiden anderen Einzelwörter eröffnen — wie es ähnlich bereits in dem Gedicht »Blume« begegnete - eine Sprachbewegung, deren eigentlicher Einsatz 77

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»Anabasis« (wörtlich >das Aufsteigern) ist Xenophons Bericht von der Rückkehr des griechischen Söldnerheeres aus Kleinasien.

mittels des Enjambements zurückgehalten wird, so daß das gleichsam angestaute Sprechen eine Intensivierung erfährt. Auf dem Wort »schmal« im zweiten Vers lastet - vorbereitet durch die in die Sprachbewegung hereingenommene Pause nach »Dieses« - eine besondere Schwere, die erst allmählich ins Gleiten kommt (auch »zwischen«, aufgefaßt als doppelte Senkung eines Daktylus, besitzt ja noch einiges Gewicht) und so gleichsam flüssig wird: die durch die Pause erzeugte Spannung wird aufgelöst. Anders bei »Dann«: hier wird die erwartete Lösung durch das Wort »Bojen-« nun noch einmal aufgeschoben, »Kummerbojen-Spalier« erhält dadurch nicht nur besonderen Nachdruck, sondern das Neue in diesem Vers, nämlich »Kummer«, 78 gerät in eine eigentümliche Beleuchtung: Warum, so kann man fragen, nennt das Gedicht dieses Wort erst nachträglich? Es mag müßig erscheinen, über Gründe dafür zu spekulieren; sei es, daß es dem Gedicht nur um Präzisierung geht, sei es, daß das Gedicht dem zunächst nur genannten Gegenständlichen nun in der Wiederholung eine interpretierende Beziehung auf Menschliches nachschickt, sei es schließlich, daß der subjektive Charakter der Deutung des Gegenständlichen eigens hervorgehoben werden soll - jedenfalls hat es den Anschein, als werde etwas zuerst Verschwiegenes hier jetzt dennoch zur Sprache gebracht, als gewinne die Sprache mit dem Wort »Kummer« etwas eigentlich Unaussprechliches. Wie dem auch sei - »Dann« und eingangs auch »Dieses« vermitteln jeweils auf ihre Art der Sprache eine besondere Intensität und bestätigen so gleichsam ihre Kraft. Ihnen beiden parallel und zugleich doch in seiner Wirkung radikal von ihnen unterschieden ist das »Dort«. Nicht nur, daß es völlig isoliert steht und so alles Diskursive der Sprache zu verleugnen scheint, macht seine Eigenart aus, sondern noch ein anderes: mit »Dort« hebt tendenziell die Sprache sich selbst auf - sie wird zur Geste. Oben wurde erwähnt, daß in einigen frühen Gedichten Celans da vom Schweigen die Rede ist, wo es um die Intimität einer Kommunikation geht, die durch Sprache — aufgrund des dieser mit dem Vermitteln eben zugleich auch innewohnenden Moments der Distanzierung - nur wieder relativiert werden könnte. Es ist nun zu sehen, daß hier, in dem Gedicht »Anabasis«, in der Tat der Versuch unternommen wird, an die Stelle des Vermitteins ein unmittelbares Zeigen treten zu lassen. Es ist aber auch zu sehen, daß in der Intention, sich selbst aufzuheben, die Sprache als ein Unüberholbares sichtbar wird. Auf das Moment des Gestischen ist näher einzugehen. Das Schlußgedicht der »Niemandsrose« beginnt folgendermaßen: 78

»Spalier« ist ja durch den Bindestrich von >Bojen-« im vorhergehenden Vers vorbereitet. 87

In der Luft, da bleibt deine Wurzel, da, in der Luft. (NR 88)

Nimmt das erste »da« die Ortsangabe verkürzend wieder auf, so eignet dem zweiten deutlich eine Geste des Hinweisens, die aber, obwohl für sich gesetzt: »[. . .], da, / [. . .]«, nicht einfach irgendwohin ins Unbestimmte zielt, sondern durch die verzögert nachkommende Wiederholung der Ortsangabe in ihrer Richtung festgelegt wird (wobei die Wiederholung nicht lediglich den Eingang repetiert, sondern zugleich den diskursiv nennenden Charakter der Sprache gegenüber dem gestischen Moment wieder durchsetzt). Nennen und Zeigen gehen in die gleiche Richtung, sie stützen sich wechselseitig. Wenn die Richtung gleichwohl vage bleibt, so ist das hier nicht etwa dem Zeigen als ein Mangel an Präzision anzulasten, sondern dem Nennen, das genau diese Unbestimmtheit will, um sie erst im Laufe des Gedichts aufzuheben. Auch in anderen Gedichten wirken das Benennen und die Hinweisgeste einsinnig; die Verse: Und es steigt eine Erde herauf, die unsre, diese. (NR 70)

verbringen ein Gegenständliches - »Erde« - in eine besondere Nähe, in der das Bewußtsein seiner Präsenz den intensiveren Ausdruck durch den gestischen Hinweis - »diese« - erfährt. Die Nähe des Gegenständlichen zum Sprechenden ist eine Leistung des Zeigens, das seinerseits freilich auf die Sprache angewiesen bleibt. Diese Abhängigkeit wird vor allem dort deutlich, wo der Gegenstand eben kein sinnlicher mehr ist: [. . .] etwas - ein Atem? ein Name? geht im Verwaisten umher, [...] geht zu Aleph und Jud und geht weiter, baut ihn, den Davidsschild, läßt ihn aufflammen, einmal, läßt ihn erlöschen - da steht er, unsichtbar, steht bei Alpha und Aleph, bei Jud,

Als eine selbständige Weise des Bezeichnens bedarf die Geste des unmittelbar anwesenden Gegenstands, und über dessen bloße Präsenz hinaus vermag sie, auf sich allein gestellt, nichts mitzuteilen. Erst in der Verbindung mit Sprache erlangt sie Differenzierung, wobei die Sprachsituation jeweils über den Anteil bestimmt, den das Gestische am Zu88

Standekommen einer Mitteilung haben kann. So kann etwa in einem Gespräch über etwas sinnlich Wahrnehmbares das Gestische sehr große Bedeutung besitzen, indem es, vergleichsweise selbständig, zu der sprachlich transportierten Information komplementär hinzutritt, im Unterschied zu Texten und hier vor allem zu »expositorischen«, die aus der Distanz zum Gegenstand sprechen. Bei Texten überhaupt muß das Gestische sprachlich vermittelt sein, und wenn literarische Texte dadurch ausgezeichnet sind, daß sie den Gegenstand, von dem sie sprechen, erst hervorbringen, so bedeutet dies, daß das Gestische nun ganz in die Sprache aufgehoben ist, daß es ein Moment der Sprache selbst ist. Das heißt: prinzipiell fallen hier Bezeichnen und Zeigen zusammen, dichterisches Sprechen ist in diesem Sinne durchweg gestisch, und die weitere Bedeutung des Begriffs »Evokation« meint eben dies, daß das im Bezeichnen Hervorgebrachte zugleich vorgezeigt wird. Während sonst freilich die Geste ihre Legitimation jeweils aus der unmittelbaren Präsenz des Gegenstands bezieht, bringt sie hier diese Unmittelbarkeit erst hervor: erst das eigens akzentuierte gestische Moment vermag die sinnliche Präsenz und Erfahrbarkeit eines Gegenstands augenfällig darzutun, auch und gerade wenn dieses gestische Moment sprachlich vermittelt ist. Die zitierten Verse: »Und es steigt eine Erde herauf, die unsre, / diese« teilen mit dem letzten Wort inhaltlich mit, daß die heraufsteigende Erde keine erhoffte, zukünftige, sondern eben die hiesige und jetzige ist, während gerade das gestische Moment des Wortes »diese« die Distanz zwischen einem - für »uns« - Sprechenden hier und der besprochenen heraufsteigenden Erde dort unmittelbar aufhebt und so die Einheit von Mensch und Erde als der menschlichen Wohnstätte zeigend sinnfälliger macht, als dies das Sprechen vermöchte. Im Zusammenwirken mit dem Nennen bedeutet das Zeigen für das Gedicht den Gewinn der Möglichkeit, sich zugleich anders als diskursiv-sprachlich mitzuteilen. So geht etwa das »da steht er« auf den >unsichtbaren< Davidsschild und hat somit als Geste die gewisse Selbständigkeit, die dieser zukommt, wieder aufgegeben, um zurückzukehren in die Sprache, eben als ein Moment der Sprache selbst; gleichwohl bekundet das Gedicht gerade mit diesem »da« sein dem Davidsschild Dauer verleihendes Bewußtsein von dessen Präsenz: auch die gleichsam ganz entsinnlichte Geste (als die ja eine ins Unsichtbare gehende aufgefaßte werden muß) vermittelt immer noch die Qualität der Unmittelbarkeit. Wenn nun freilich wie in den zitierten Gedichten das der Sprache innewohnende gestische Moment eigens heraustritt, so macht damit zugleich die Sprache indirekt sich selbst als diskursiv benennende anschaulich, es wird sichtbar, daß ihr die Unmittelbarkeit eines wortlosen Zei89

gens fehlt; die Geste kann somit das Bewußtsein der Begrenztheit von Sprache aktualisieren, und dies vor allem dort, wo Nennen und Zeigen divergieren, wo geradezu einem Mangel der Sprache mittels des Gestischen abgeholfen werden soll. Was der Sprache immer wieder davonzulaufen scheint, dies versuchen, nahezu ungestüm, die folgenden Verse im Zeigen festzuhalten:

[...] ihn, den Kieselstein aus der Mährischen Senke, [·..], längst ist er fort, [... ...], wieder mußt du ihn suchen, da ist er, klein ist er, weiß, um die Ecke, da liegt er, bei Normandie-Njemen - in Böhmen, da, da, da,

hinterm Haus, vor dem Haus, [...].(NR8 3 f.) Das Gedicht macht, wie es scheint, den Versuch, die einander ständig widersprechenden Ortsangaben zu überbieten mit der Unmittelbarkeit des »da, da, da«; dies gelingt nicht: da, da, da, hinterm Haus, vor dem Haus, weiß ist er, weiß, er sagt: Heute - es gilt. [...].

Gültigkeit ist hier eine Qualität weder der Sprache des Gedichts noch des Zeigens, sondern der Unmittelbarkeit des unverhofft anwesenden Gegenstands und dessen, was dieser sagt.79 Die Selbst-Präsentation des Kieselsteins beendet eine Suche, die von sich aus zu vollenden der orientierungslosen Sprache - »hinterm Haus, vor dem Haus« - ebensowenig 79

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Man muß sich der Härte und Unerbittlichkeit bewußt sein, die in Celans Lyrik dem Motiv des Steins und der versteinerten Sprache eignet - vgl. »der Mund, / versteint und verbissen in Steine« (VS 38), »mein Mund / spie seinen Schotter« (SG 32), »mit deinem / weißen Kiesel im Mund« (NR 45), »Den verkieselten Spruch« (AW 75), »Weißkies- / Stotterer« (SP 31) -; man muß sich dies bewußt halten, um ermessen zu können, welche außerordentliche Bedeutung der sprechende Kieselstein hat: er stellt die Umkehrung der Versteinerung von Sprache dar - Zeichen für eine utopische Einkehr in ein gültiges »Heute«, eine dauernde Gegenwart.

möglich ist wie dem in ein Stammeln übersetzten Zeigen - »da, da, da« -. In diesem negativen Sinne freilich kommen zerfahrenes Sprechen und hektische Gestik wieder überein. Zurück zu »Anabasis«. Gerade in Abhebung von dem gleichsam unkontrolliert in alle möglichen Richtungen deutenden »da, da, da« eignet dem »Dort« in »Anabasis« Entschiedenheit und Präzision. Das Sprechen des Gedichts konzentriert sich in eine Geste, der eine dem diskursiven Sprechen unmögliche Eindeutigkeit und Unmittelbarkeit zukommen soll. Was als das »Hinauf und Zurück / in die herzhelle Zukunft« bestimmt wird, stellt sich in der diskursiven sprachlichen Vermittlung als eine höchst komplexe Bewegung dar, wohingegen die Geste des »Dort« einzig auf einen Punkt zeigt.80 Das heißt: genaugenommen ist das Gezeigte ein anderes als das vorher Genannte, und da die Geste offenbar den Anspruch auf größere Präzision erhebt, scheint nicht das Genannte, sondern das Gezeigte das eigentlich Gemeinte, nämlich etwas, dessen Einheit und Einfachheit im Versuch sprachlicher Vermittlung verlorengeht. Auch hier treten somit Zeigen und Nennen auseinander; die Überlegenheit des Gestischen ist augenfällig in dem gewollt scharfen Kontrast zwischen der Schlichtheit des einen isolierten Worts und dem sprachlichen Aufwand der gesamten ersten Strophe.81 Indessen, wenn zwar der Intention nach das Gedicht offenbar den Versuch unternimmt, die ihm mit seiner Sprachlichkeit gesetzten Grenzen zu überschreiten (indem die Sprache, tendenziell sich selbst aufhebend, das Gestische aus sich heraussetzt), so ist dies doch zuletzt immer noch eine Veranstaltung der Sprache selbst: auch das »Dort« ist eben ein Wort, und das Gezeigte ist für den Leser nur realisierbar, soweit dieser auf das bereits (in der ersten Strophe) Genannte rekurrieren kann. Vermag somit die Sprache sich doch schließlich nicht selbst aufzuheben, so vermittelt sie immerhin solcherart ein genaueres Bewußtsein von ihrer Begrenztheit. Wenn in dieser Deutung eine Selbstreflexion des Sprechens vorausgesetzt wird, so begründet sich das mit einem Hinweis des Gedichtes selbst: die erste Strophe führt ein Sprechen vor, das seinen Gegenstand als 80 81

>Dorthin< wäre die genaue Entsprechung zur ersten Strophe. Freilich setzt die erste Strophe bereits ähnlich hinweisend (»Dieses«) ein, sie vermag jedoch dem Gemeinten nur die Gestalt auseinanderstrebender räumlicher und zeitlicher Beziehungen zu geben, die ihrerseits wiederum (auch in der Zusammenfassung zu einer komplexen Bewegung) den intendierten Zielpunkt nicht feststellen können, sondern ihn zu ihrer eigenen Orientierung voraussetzen müssen. - Die Differenz von Zeigen und Nennen bleibt im übrigen auch dann erhalten, wenn man dem »Dort« nicht die erste Strophe im ganzen konfrontiert sieht (wie es die vorliegende Deutung tut), sondern wenn man es nur auf das letzte Wort »Zukunft« bezieht. 91

Komplex divergierender Bestimmungen faßt und das, indem es diesen Komplex als >geschriebnen< apostrophiert, sich selbst als Subjekt der von ihm gesetzten Beziehungen begreift. Das Konkret-Reale, von dem dort die Rede ist, erscheint als völlig aufgehoben in die Dynamik sprachlicher Vermittlung, das Gegenständliche, zudem (abgesehen wohl von dem Wort »Mauern«) eigentümlich immateriell, tritt primär als Genanntes, als gleichsam der Sprache Einverleibtes hervor. Der Kontrast, den das Gestische dazu bildet, unterstreicht, daß sprachlich vermittelte zugleich sprachlich geformte und geprägte Wirklichkeit ist. Ja, es ist jener Kontrast, der diesen Vermittlungscharakter nun geradezu als die Verfügungsgewalt eines das Dingliche absorbierenden und damit sich selbst bestätigenden Sprechens erscheinen läßt — eine Wertung, die freilich von der unterstellten Überlegenheit des Gestischen über die Diskursivität der Sprache abhängig ist. Im Rahmen des gesamten Gedichts indessen bezieht sich die Geste des »Dort« nicht nur auf das Vorhergehende, sondern sie verweist ebenso auf das Folgende, sie stellt einen Wendepunkt dar, der eine Selbstbegegnung von Sprache vorbereitet. Um eine solche handelt es sich nämlich, wenn nunmehr in Gestalt der »Silben- / mole« die Sprache ihrer selbst ansichtig wird. Hob die erste Strophe Gegenständliches in sein Genannt-Sein auf, so wird jetzt das Medium des Nennens selbst zum Gegenstand, auch im Sinne eines dinglich Erfahrbaren: Silbenmole, meerfarben, weit ins Unbefahrne hinaus. Sprache ist hier thematisiert in einer engen Verflechtung des sprachlichen Bereichs mit einem gegenständlichen, so daß Züge der einen Dimension zugleich solche der anderen sind. Die Verflechtung stellt keinen Vergleich dar, sondern eine Gleichsetzung; die Landschaft von Meer, Mole und Bojen wird wahrgenommen als Sprachlandschaft, das Gedicht macht keine »Aussagen« über die Relation von Sprache und Wirklichkeit, sondern folgt einer Konzeption, in der beide zusammenfallen. In der Gleichsetzung von Landschaft und Sprache ist das »Unbefahrne« zugleich das Meer und das Schweigen. Es ist nicht das Unbefahrbare, als solches wäre es vielleicht in den früheren Gedichten genannt worden; als Unbefahrnes ist es in seiner Präsenz erfahrbar, aber es bleibt unberührt - hierin liegt ein Moment von Bescheidung -, es bleibt ein für sich Bestehendes. Das Sprechen, das - in Umkehrung zur ersten Strophe Sprache als in Gegenständliches eingegangen erfährt, besitzt nun die

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Freiheit, das Schweigen es selbst sein zu lassen, d. h. die Freiheit, Schweigen als ein selbständiges anderes zu erfahren. Der Verflechtung von sinnlich wahrnehmbarer Sprache und sprachlich vermitteltem Sinnlichem korrespondiert die eigentümliche Rhythmik, die, obwohl über sich häufende, spannungsvolle Pausen hinweg, nur leicht akzentuiert und sich völlig der Qualität des Gegenständlichen anpaßt, eher schwingend in dem Vers »ins Unbefahrne hinaus« (gleichwohl mit Unterstreichung des Abschlusses: hinaus), beweglicher aktentuierend in >^kundenschön hüpfenden / Atemreflexen» und gewichtiger in »Leucht- / glockentöne«. In diesen Versen ist Zeitliches (»sekundenschön«) mit Bewegung (»hüpfenden«) und Sprachlichem (»Atemreflexen« - vom Zusammenhang Atem-Sprache ist unten noch die Rede) verknüpft ebenso wie mit Optischem und Akustischem (»Leuchtglockentöne«). Und in der Klammer, also auf einer anderen Ebene des Sprechens, gehen die »Leuchtglockentöne«, der Sprache als »dum-, / dun-, un-« anverwandelt, in gleichsam echohaft verklingende Musik über, ein Übergang, den das durch die andere Schreibweise hervorgehobene Zitat ausdrücklich macht: »unde suspirat / cor« entstammt nach Celans eigener Auskunft dem Text des »Exsultate, Jubilate« (KV 165) von Mozart.82 Wie die als »Leuchtglockentöne« aufgefaßten (Leucht-)Bojen83 in der Ferne immer kleiner erscheinen, so nimmt »dum, dun, un« stetig an Umfang ab: in dieser Hinsicht und mittels des Rhythmus nähert sich Sprache wie vorher dem Gestischen so nunmehr dem Mimetischen. Vielleicht stellt der angedeutete Übergang in das andere, sprachlose Medium der Musik eine Analogie zur Annäherung an das Schweigen dar; und daß in der Ferne die Bojen immer weniger deutlich sichtbar sind und schließlich nicht mehr vom Meer unterscheidbar, läßt sich vielleicht auch auf das Verhältnis von Sprache und Schweigen übertragen. Zwar ist dieser Übergang durch die Klammer vom übrigen Gedicht abgesetzt - er gehört damit gewissermaßen einer anderen Schicht der Sprache an -, aber man wird dennoch auch die Abfolge von Silbenmole, Atemreflexen und Leuchtglockentönen hinsichtlich ihrer zunehmenden Immaterialität in dieser Richtung deuten können. Die Leuchtglockentöne sind freigesetzt — »ausgelöst« - als eine Art Erfüllung eines Versprechens — »eingelöst« -; »aus- / gelöst« und »ein- / gelöst« ergeben wie Plus und Minus zusammen ein Ganzes; die Töne sind nunmehr Gewinn und Besitz - »unser«. Dies ist ein Sich-Vergewissern im Bereich des Zugänglichen; in der Konvergenz von Sprache und Wirk82 83

Vgl. Meinecke, a.a.O., S. 277. Ein Bezug der Leuchtglockentöne auf die hüpfenden Atemreflexe ist schon wegen des ganz anderen Rhythmus unwahrscheinlich. 93

lichkeit wird >unser< Standort sichtbar; er liegt nicht im >UnbefahrnenHimmelszelt< auch über das »Unbefahrne« hinwegreicht, es meint Versöhnung schlechthin; seine unbeschränkte Gültigkeit tritt noch darin hervor, daß es auf keine Einzelheit des Gedichts streng beziehbar ist. Bemerkenswert scheint, daß das Gemeinschaft besiegelnde Wort offenbar dem realen Sichtbaren und Hörbaren zu verdanken ist, daß es somit einen Modus von Sprache vertritt, der seinen Grund in der Wirklichkeit selbst hat, wobei das Sicht- und Hörbare sich direkt zwar auf die Leuchtglockentöne bezieht, zugleich aber den ganzen Bezirk dieser aus Sprache und Schweigen zusammengesetzten Landschaft einbegreift. Bemerkenswert scheint andererseits aber auch, daß das besondere Wort eben in seiner Beziehungslosigkeit hinsichtlich des im Gedicht genannten Konkreten zu einer Leerstelle wird, die präzise zu füllen dem Sprechen des Gedichts nicht möglich ist. Von daher mag es nicht ausgeschlossen sein, daß das inchoative Moment des Partizips >freiwerdend< dieses Zeltwort im Sinne der ersten Strophe als ein zukünftiges, hier nur antizipiertes ausweisen soll. Und offen bleibt schließlich, ob die Richtung in >Unwegsam-Wahres< nun dennoch beschritten und sogar vollendet ist oder ob vielleicht gerade dort, wo für den Menschen kein Weg ist, das Zeltwort als das unverfügbar-freiwerdende gleichsam von der anderen Seite her auf ihn zukommt — wie schon erwähnt, hat Celan des öfteren die Unverfügbarkeit der (in einem bisweilen nahezu selbst dialogischen Verhältnis als Gegenüber aufgefaßten) Sprache hervorgehoben.84 Ein eigentliches Resümee des bisher Dargestellten hinsichtlich des Themas »Negativität« scheint an dieser Stelle nicht sehr sinnvoll, einmal aus methodischen Gründen, da die verhältnismäßig geringe Zahl ausführlicher interpretierter Gedichte allzu weitreichende Verallgemeinerungen noch nicht erlaubt, zum anderen aus inhaltlich-thematischen Gründen, denn auch im Hinblick auf den Begriff des »Nichts« läßt sich Celans Dichtung nicht erörtern, ohne daß nicht ständig das Problem des »Unsagbaren« wiederum in den Blick kommt. Was sich hier geben läßt, ist allerdings der Hinweis auf eine weiterhin offene zentrale Frage. 84

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Erinnert sei an die oben zitierte Stelle, an der Celan von der »Freude« spricht »über jedes neuerworbene, selbsterfühlte, erfüllte Wort, das herbeieilt, den ihm Zugewandten zu stärken«: hier sind miteinander verknüpft Macht und Ohnmacht im Umgang mit der Sprache, Verfügungsgewalt (>erworbenselbsterfühltherbeieilt zur Stärkung bei Christi Verklärung [...] und bei der Himmelfahrt Christi, im MA. besonders bei der Majestas Domini. Sie kommt auch bei Darstellungen der Gottesmutter mit dem Kind [...] und der Himmelfahrt Maria vor.3

In der ersten Strophe, so stellt Schulze mit Berufung auf Scholem fest, »macht Celan also aller Wahrscheinlichkeit nach eine mystische Aussage».4 Der provozierend-revolutionären Formulierung der ersten Strophe stehe die orthodoxe der zweiten gegenüber: die alttestamentliche Bezeichnung Gottes als eines Königs, was seine Entsprechung darin habe, daß, nach Scholem, revolutionäre und orthodoxe Aussagen in der jüdischen Mystik häufig nebeneinander begegnen. Die mystische Erfahrung bestehe wesentlich im »Schauen«, daher faßt Schulze das Auge in der dritten Strophe als das »geistige Auge« des Mystikers auf. Er macht auf die »Starre sowohl auf der Seite des Geschauten wie des Schauenden«5 aufmerksam und sieht sie in einem gewissen Widerspruch zu sonstigen mystischen Aussagen, wenn auch nicht ganz ohne Parallele (Dante: »Paradiso«. 33. Gesang, V. 97-99). Die Leere der Mandel im letzten Vers entspricht nach Schulze dem Nichts, »königsblau« ist das alttestamentliche »Königsblau« als Gottesfarbe. Schulze betont, es gehe ihm darum, »das Gedicht in denjenigen gedanklichen oder Erfahrungszusammenhang zu stellen, aus dem es aller Wahrscheinlichkeit nach erwachsen ist und aus dem heraus es möglicherweise verstanden werden kann.«8 Demgegenüber wird bei dem Versuch einer eingehenderen Interpretation zu fragen sein, wie weit die von Schulze überzeugend dargelegte Rezeption mystischer Motive im Gedicht dazu berechtigt, das Gedicht als ein mystisches zu qualifizieren, und wie weit andererseits gerade hier eine prinzipielle Differenz zwischen Gedicht und mystischer Erfahrung anzusetzen ist. Im Vergleich mit anderen Gedichten Celans zeichnet sich »Mandorla« durch eine gewisse formale Einheitlichkeit aus: annähernd gleichlange Strophen, jeder Vers ist eine syntaktische Einheit (was bei Celan in der Tat selten ist), die Versschlüsse lassen sich als identische Reime auffassen, der extensive kehrreimartige Parallelismus von Versteilen und ganzen Versen und entsprechend die Gleichheit oder Ähnlichkeit des Rhythmus, weiterhin der begrenzte und, wie es scheint, genau abgemessene,7 vor 8

Lexikon für Theologie und Kirche. Stichwort »Mandorla«. Schulze, a.a.O., S. 476. 5 A.a.O., S. 481« A.a.O., S. 484. 7 Vom Schlußvers abgesehen, begegnen die Wörter »Mandel«, »Nichts«, »König«, »Äug« jeweils genau viermal. 4

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allem so auffällig schlichte Wortschatz8 und schließlich die Verwendung des Verbs entgegen dem nominalen Stil vieler anderer Gedichte Celans alles dies weist auf eine Traditionalität der Form hin, die geradezu im Gegensatz zur Ungewöhnlichkeit des Inhaltlichen zu stehen scheint (dessen Außerordentliches ja nicht durch seine Einordnung in den Zusammenhang der Mystik beseitigt wird). Man könnte annehmen, daß vielleicht eben dieser formalen Einfachheit und Geschlossenheit zugetraut wird, die Radikalität des Dargestellten aufzufangen, das alle Form Sprengende eben doch mit Hilfe einer in ihren konventionellen Zügen gefestigten Form zu fassen. Eine solche Ansicht könnte sich wiederum auf Scholem berufen: Die Gestaltlosigkeit der ursprünglichen Erfahrung kann ja sogar zur Auflösung aller Gestalt auch in der Deutung führen. Es ist diese Perspektive, zerstörerisch, aber doch dem ursprünglichen Antrieb des Mystikers nicht unverwandt, die uns den Grenzfall des nihilistischen Mystikers als den eines nur allzu legitimen, wenn auch von jedermann mit Schaudern abgelehnten Erben mystischer Erschütterungen verstehen läßt. Alle anderen Mystiker suchen den Weg in die Form zurück, der auch der Weg in die Gemeinschaft ist; er allein, der den Abbau aller Gestalt als höchsten Wert erfahren hat, sucht ihn in undialektischem Geiste zu bewahren, statt ihn wie die anderen Mystiker als Antrieb zum Aufbau neuer Gestalt zu nehmen. Hier erscheint dann die Vernichtung aller religiösen Autorität im Namen der Autorität selbst als die reinste Darstellung des revolutionären Aspekts der Mystik.9

Von diesem Zitat ausgehend, sieht Schulze in der ersten Strophe die Position des nihilistischen Mystikers verwirklicht, die erst in der zweiten mit der Rückkehr zur traditionellen Bezeichnung Gottes als Königs überwunden werde.10 Abgesehen davon, daß der Umgang mit dem Begriff des Nichts allgemein mystisch ist und gerade nicht den Extremfall einer nihilistischen Mystik auszeichnet, ist es eben auch die Form des Gedichts im ganzen, die bereits der »Gestaltlosigkeit« entgegenwirkt, ebenso wie der besondere Umstand, daß das Nichts »in der Mandel« erscheint, also in einem es begrenzenden Rahmen. Auf der anderen Seite bedeutet dies nicht, daß die Form als feste Gestalt dem Inhalt wie ein bloßes Gefäß fremd gegenüberstünde. Vielmehr 8

9

10

Es fehlt hier auch die gewisse Gewaltsamkeit in der Wortbildung, wie sie bei Celan als Auflösung der Worteinheit (Wortenjambement) und als Zusammensetzung dreier Wörter begegnet. Vgl. dazu: Neumann, a.a.O., Kap. »> Wortauf schüttung< und Wortzerfall«. Gershom Scholem: Zur Kabbala und ihrer Symbolik. Zürich 1960. Frankfurt/M. 1973 (suhrkamp taschenb. wiss. 13), dort: S. 20 f. Schulze, a.a.O., S. 477. "3

fällt auf, daß etwa die intensive Verwendung des Verbs, die eine Abkehr vom nominalen Stil zu sein scheint, nun durchaus nicht den Eindruck von Bewegtheit vermittelt, daß somit die von Schulze bemerkte »Starre« als ein inhaltliches Moment sich gegen die dem Verb mögliche Dynamik durchsetzt, indem gerade dessen unablässige Wiederholung die Vorstellung von Unbewegtheit und Starre erzeugt. Vor allem der Wechsel der Nomina und damit zugleich der der Perspektiven trägt hier die Dynamik; d. h. diese ist kein Produkt eines äußeren Vorgangs und der direkten »Aussage«, sie bleibt gänzlich innere Bewegtheit des Geschehens. Das Verb scheint demgegenüber eher auf Statik hinzuwirken, indem es in seiner Gleichförmigkeit nicht nur den Umschlag von »Nichts« zu »König« und zu »Äug« gleichsam überspielt, sondern ebenso seine eigene unterschiedliche Verwendung mehr verhüllt als preisgibt (als eine Art HilfsbegrifF in der ersten Strophe mit einer gewissen personalisierenden Wirkung, als Vollverb in der zweiten und in übertragener Bedeutung in der dritten Strophe). Das besagt also, daß die Form einerseits aufgrund einer gewissen Konventionalität eine Art ausgleichender Gegenbewegung gegen die »Gestaltlosigkeit« des Inhalts realisiert, daß sie aber andererseits flexibel genug ist, um vom Inhaltlichen her profiliert zu werden. Letzteres wird ersichtlich auch aus der unterschiedlichen Integration der Antworten »Das Nichts« und »Der König«. Während die beiden Wörter »Das Nichts« - isoliert — eine ganze Zeile einnehmen, Frage und Antwort somit durch Zeilensprung getrennt sind, begegnen diese letzteren einander in der zweiten Strophe gewissermaßen auf derselben Ebene, sind sie dort rhythmisch in eins integriert. Der König scheint — als Negation der Negation - an die Stelle des Nichts zu treten; in der Formulierung - »Da steht der König, der König« - klingt eine Art stammelnden Sprechens an, psychologisch ausgedeutet, vielleicht ein Moment von Überraschung. Indes, der König steht »Im Nichts«: er ist nicht eigentlich greifbar, die Wiederholung »der König, der König« bedeutet in diesem Sinne, daß der König nicht durch anderes näher zu bestimmen ist, vielmehr nur definiert durch sich selbst, mit anderem als ihm selbst nicht vergleichbar. »Im Nichts« und »Da steht er« ergeben eine unauflösbare Ambivalenz von Ortlosigkeit und bestimmtem Ort. Die Intensität seiner Präsenz »Da steht er und steht« - hat der König nicht vor dem Nichts voraus. Der Übergang vom Gesehenen zum Sehenden wird vorbereitet durch den Vers: »Judenlocke, wirst nicht grau« - eine Art Gegenstimme, die ohne offenkundigen Bezug zum Vorhergehenden einsetzt. Hier ist nun zum ersten Mal Menschliches direkt angesprochen, und solcherart angekündigt, erfolgt mit der dritten Strophe die Wendung zum Du: »Und 114

dein Äug — wohin steht dein Auge?« Der Wechsel der Perspektive, der den Sprechenden selbst in den Blick bringt - wohl als ein ins Du transponiertes Ich —, besitzt die Radikalität eines Umschlags vom Überirdischen zum Menschen und vom Objekt zum Subjekt, wobei die syndetische Anknüpfung einerseits diesen Übergang verwischt, ihn aber andererseits aufgrund ihrer Einzigartigkeit im ganzen Gedicht erst eigens heraushebt und akzentuiert: mit der Anknüpfung »Und dein Äug« schlägt ein Moment von Bewußtheit und Selbstreflexion durch; der Wahrnehmende fragt nach sich selbst. Freilich macht die Frage nach der eigenen Stellung im Grunde nur die gewisse Distanz ausdrücklich, die schon die beiden ersten Strophen bestimmte, und zwar in eigentlich sehr wenig mystischer Weise, wenn man etwa bedenkt, daß Martin Buber seiner Sammlung von Mystikertexten den Titel »Ekstatische Konfessionen« gab und daß hier bei Celan eine persönliche Betroffenheit allenfalls in der Wiederholung »der König, der König« zu erkennen war. Neumann ist den verschiedenen Verwendungen des Wortes »Mandel« in Celans Gedichten - es findet sich auch »Mandelaug« (AW 84) - nachgegangen und folgert: »Das Mandelauge ist das Auge des Juden.«11 Die Kenntnis dieses Zusammenhangs darf nun zwar nicht dazu verleiten, Mandel und Auge des vorliegenden Gedichts miteinander zu identifizieren, sie läßt aber die Brücke deutlicher werden, die zu der Gegenstimme hinüberführt. Zunächst durchläuft die dritte Strophe noch einmal dieselbe Abfolge von »Mandel«, »Nichts« und »König«. Die Distanz zwischen Wahrgenommenem und Wahrnehmendem freilich bleibt erhalten; das Erscheinende wird nicht einbezogen in eine Dialektik zwischen Subjekt und Objekt, es bleibt unverfügbar: Dein Äug steht der Mandel entgegen. Dein Äug, dem Nichts stehts entgegen. Es steht zum König.

In diesem Gedicht voll verhaltener Bewegtheit bedeutet die Wendung von den Versen 10 und n zu Vers 12 ein Moment von enormer Dynamik. Das Wort »entgegen« trägt in unentschiedener Schwebe die beiden Bedeutungen von Hinwendung und Abkehr zugleich: »gebrochene Affirmation«12 kommt in ihm zum Ausdruck. Indem Vers 11 die syntaktische Geradlinigkeit des vorhergehenden Verses nicht wiederholt, unterstreicht er zwar - zweimal ansetzend — die ambivalente Haltung des Subjekts 11 12

Neumann, a.a.O., S. 31. Oppens - mit Bezug auf Enzensberger und Celan -: »die reine Negation ist uns verwehrt. Unser Los ist die gebrochene Affirmation.« In: Über Celan, S. 106.

gegenüber dem Nichts, dennoch bilden diese beiden Verse, durch Anapher und Epipher in sich geschlossen und miteinander parallelisiert, eine Einheit, die mit Vers 12 kontrastiert. Nicht nur daß dort der formale Parallelismus ausbleibt - in der Kürze ähnelt dieser Vers dem zweiten, und wie jener bleibt auch er ohne rhythmische Entsprechung -, sondern vor allem der Wechsel von »der Mandel entgegen«, »dem Nichts entgegen« zu »zum König« kennzeichnet den Umschlag: gebrochene Affirmation wird überholt durch vorbehaltlose Zuwendung. Warum steht der Schauende »zum König« und nicht zum Nichts? Daß beide Begriffe einen Bezug zum Göttlichen haben, scheint offenkundig, wenn man sich die oben referierten Gedanken der jüdischen Mystik vergegenwärtigt. Eine genauere Zuordnung ist freilich problematisch. Manchen Kabbalisten, so legt Scholem dar, galt die erste Sefira als derart verborgen, daß sie »das Ur-Nichts« genannt wurde, von dem Gott »in seinem reinen transzendenten Wesen« als En-Sof unterschieden blieb,13 somit als »etwas, das über dem Nichts der Mystiker [...] steht«.14 Andere identifizierten dann erste Sefira und En-Sof, das Nichts und das Unendliche, miteinander und sahen das Nichts »nicht als eine Bestimmtheit an Gott, sondern als die Gottheit selbst«.15 Auch der Begriff des Königs dient nicht nur als traditionelle alttestamentliche Bezeichnung für Gott, als die ihn Schulze auffaßt, sondern begegnet in unterschiedlichen Ausdeutungen auch in der Kabbala. So werden im Buch Bahir die Sefiroth »als >die Könige< bezeichnet, in denen der eine verborgene König sich äußert«.19 Später wird diese Bezeichnung der Schechina zuteil und dann, im Zuge der Unterscheidung zwischen oberer und unterer Schechina, vor allem der oberen, also der dritten Sefira, daneben aber auch der sechsten, mit der sich die zehnte, nunmehr als »Königin« angesprochen, im hieros gamos vereinigt.17 Es ist wohl offensichtlich, daß die Begriffe »Nichts« und »König« des Gedichts »Mandorla« sich nicht auf eine bestimmte der überlieferten Bedeutungen festlegen lassen, sondern sie in einem allgemeineren Sinne als zwei verschiedene Aspekte des erscheinenden Göttlichen meinen. Der Raum, in dem der Schauende der Mandorla gegenübersteht, ist der der äußeren Wirklichkeit. In dieser Wirklichkeit grenzt nun die Mandorla gleichsam einen Innenraum ab, in dem das Göttliche erscheint — als Nichts und im Nichts als König, als dieser somit in einem doppelt be13 14 15 18 17

Scholem: Grundbegriffe, S. 76. A.a.O., S. 27. A.a.O., S. 77. Scholem: Von der mystischen Gestalt der Gottheit, S. 155. A.a.O., S. 159, 170, 178, 293 Anm. 59.

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grenzten Innenraum. Auch der König jedoch als sichtbare Gestalt ist nicht einfach Gott selbst, sondern als dessen Darstellung noch einmal von ihm abhebbar, d. h. das Göttliche steht zu dieser Gestalt wiederum im Verhältnis von Innen zu Außen. Diese mehrfach gebrochene Stufung von Innen und Außen zeigt zugleich die Weite des Wegs an, den das Subjekt - schauend - zu überwinden hat. Im Durchgang durch die zwiefache Ambivalenz, also auch Negation, des der Mandel und dem Nichts »entgegen«-Stehens bekennt sich der Schauende zu dem König, der seinerseits in der Bewegung einer doppelten Negation - der Negation des Nichts — zu seiner positiven Gestalt gelangt. Das heißt: das Bekenntnis des Schauenden gilt dem König nicht nur, weil dieser im Unterschied zum Nichts eben positiv und gestalthaft ist, sondern auch weil er offenbar die Negativität überwunden hat. Zugleich besitzt der Begriff »König« in Celans Gedichten eine besondere Nähe zum Menschlichen, er begegnet gerade dort, wo das Menschliche der Zerstörung ausgesetzt ist: in gebrochener Weise als »König- / liehe« wird die »Schwestergestalt«, die »Verlorene«, angesprochen (NR 25 f.), und an anderer Stelle ist die Rede von »deinem / Königsblut, Mensch«, das die »Kelche der großen / Ghetto-Rose« füllt (NR 69 f.). Freilich, als Darstellung des Göttlichen bleibt der König fern und entzogen, die Bewegung, durch die er hier zu seiner Gestalt kommt, ist nach mystischer Auffassung eine Bewegung im Göttlichen selbst, nicht die Uberbrückung der Distanz zum Menschen - eine mystische Vereinigung hat nicht statt, das Bekenntnis bleibt in dieser Hinsicht ein Akt, der ohne Antwort der Transzendenz sich vollzieht. Indem das Gedicht dem Nichts allenfalls eine ganz vage Personalität zuteil werden läßt, entgeht es den Paradoxien, in die sich ein - notwendigerweise positiv-konkretes — Sprechen über das Nichts verstrickt. Es entgeht ihnen jedoch zugunsten der provozierenden Behauptung, daß das Nichts erscheine; der Leser hat dies hinzunehmen, ohne die Radikalität dieser Behauptung zu schmälern. In welcher Weise hier an die Tradition der Mystik angeknüpft wird, dies wird weiter unten noch eingehender zu behandeln sein. Wie verhalten sich nun die drei Gegenverse zu dem übrigen? Von welcher Position aus wird hier gesprochen? Es ist deutlich, daß die beiden Verse 8 und 14 keinen direkten Bezug auf die Situation der Hauptstrophen nehmen; überhaupt scheint hier ganz anderes zur Sprache zu kommen. Formal zeigt sich die Besonderheit in dem regelmäßigen trochäischen Metrum, im Reim (dem einzigen echten des ganzen Gedichts), in der Verwendung von Adjektiven (Vers 15). Neu ist die Qualität der Farbe und vor allem die Dimension der Zeit. Der Vorgang in der Mandel und das Verhalten des Auges waren ja in primär räumlichen Beziehungen "7

dargestellt. Der Vers »Judenlocke, wirst nicht grau« bringt nun die Dimension der Zeit hinzu in zweierlei Gestalt: als jüngste historische Vergangenheit und — in der Negation - als Ewigkeit. Peter Mayer, der in dem Erlebnis der Ermordung der Juden den Ursprung und in dem Versuch, die »Entfremdung vom verlorenen Judentum [...] zu überwinden«,18 das Ziel der Dichtung Celans sieht, verweist auf die erste Strophe eines frühen Gedichts: Espenbaum, dein Laub blickt weiß ins Dunkel. Meiner Mutter Haar ward nimmer weiß. (MG 15)

und interpretiert Vers 8 von »Mandorla« »als das Zeichen der Ewigkeit des Volkes. Der Tod ist, wie im Gedicht auf die Mutter, schneller als das Alter. Zugleich ist die Locke [...] das Zeichen ewiger Jugend [...]«. Das Gedicht gebe »ein Bild der Erlösung, um das Noch-nicht der Erlösung darzustellen. Die Erlösung wird damit in der Ewigkeit ihres Kommens verstanden, und das ewige Volk ist ihre Gewähr«. Zu den Schlußzeilen heißt es bei Mayer: »Die Ewigkeit der Erlösung, welche im ewigen Volk ihr Sinnbild hat, wird auf alle Menschen ausgeweitet, d. h. es hat hier eine >Selbstverwandlung des auserwählten Volkes in die messianische Menschheit statt.«19 Es ist die Negation - »wirst nicht grau« -, die die Gleichzeitigkeit der Bedeutungen von Tod und Ewigkeit ermöglicht. Der Bezug zur Zeit und die Auffassung der Zeit im Modus der Vergänglichkeit (der implizit auch in der Ausdeutung dieser Verse auf die Ewigkeit enthalten ist) signalisieren eine andere Haltung des Sprechenden. Die Vorgänge in den Hauptstrophen beziehen sich auf ein individuelles Erlebnis, das freilich in einer Form ausgesprochen wird, die ihm alles Zufällig-Private nimmt. Dem antwortet in den Gegenversen ein Sprechen, das wenn auch nicht geradezu reflektierend, so doch mit einem höheren Grad an Allgemeinheit, aus einem Überblick heraus, auf menschliche Existenz Bezug nimmt. Eine eigentümlich gedämpfte Sprechweise ist beiden Perspektiven zu eigen, als Leistung einer Überlegenheit erscheint sie nur in den Gegenversen. Und wenn der letzte Vers die leere Mandel nennt, so ist dies wohl nicht als »Variation« zum Nichts aufzufassen, wie Schulze meint20 - denn das »zum Könige-Stehen ist unüberholbar, ein Akt, den das Nichts nicht wiederum aufhebt -, es ist, auch wenn man es nicht mit 18 18

20

Mayer, a.a.O., S. 7. A.a.O., S. 156 f. Mayer zitiert hier Hermann Cohen: Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums. Frankfurt/M. *i5>29, S. 488. Schulze, a.a.O., S. 482.

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dem hier wohl zu präzisen Begriff der Erlösung fassen will, den Mayer vorschlägt, ein Ausdruck der Hoffnung und mehr noch: das Bewußtsein der auch das Ende der Theophanie überdauernden Präsenz des Göttlichen. Und wenn dem gleichsam gedehnten Augenblick, den die Hauptstrophen darstellen, in den Gegenversen der Überblick über die zeitliche Existenz des Menschen gegenübersteht, so antwortet der eigentümlichen Gebanntheit des angesprochenen Du dort nunmehr die Bewußtheit einer Haltung, die den Bezug von Menschlichem zu Göttlichem nicht nur vollzieht, sondern ihn als ein selbst Menschliches auch weiß. 2

»Psalm« Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm, niemand bespricht unsern Staub. Niemand. Gelobt seist du, Niemand. Dir zulieb wollen wir blühn. Dir entgegen. Ein Nichts waren wir, sind wir, werden wir bleiben, blühend: die Nichts-, die Niemandsrose.

Mit dem Griffel seelenhell, dem Staubfaden himmelswüst, der Krone rot vom Purpurwort, das wir sangen über, o über dem Dorn. Auch für dieses Gedicht sucht Schulze nach Motivparallelen aus der jüdischen Mystik. Der Vergleich mit den biblischen Psalmen und den Benediktionsformeln der jüdischen Liturgie zeige, daß »der Ausdruck Niemand genau an derjenigen Stelle steht, wo sonst Gott genannt wird«, er sei daher »mit einiger Wahrscheinlichkeit als der Gott des Mystikers identifiziert«.21 Es ist später darauf zurückzukommen, daß mit dieser Festlegung eine mögliche negative Wertung, die sich dem Gedicht entnehmen ließe, bereits ausgeschlossen wird. 21

Schulze, a.a.O., S. 485.

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Schulze zitiert verschiedene Darstellungen22 des »Gedankens einer Neuerschaffung des Menschen«, und zwar als »Neuerschaffung aus dem Geist« (die freilich den »himmlischen Leib« betrifft) und als »Neuerschaffung und Wiedergeburt in irdischem Stoff«23 - letzteres ein Gedanke, der im Zusammenhang mit dem kultischen »Thronbesteigungsfest« Jahwes begegne; dazu Sigmund Mowinckel: Die Neuschöpfung im Kulte bedeutet eine Neubelebung durch eine Einflößung neuer Kräfte, die durch den Kult in irgend einer Weise hergestellt oder herbeigebracht werden. Sie ist eine wunderbare, schöpferische Verwandlung des Altgewordenen, Heruntergekommenen. - Eine Analogie bildet die Vorstellung von dem Jungwerden des Altgewordenen; das Alte, Abgenutzte wird durch ein schöpferisches Wunder Gottes verwandelt und wieder jung [...] ,24

Für die blühende Rose findet Schulze zwei alttestamentliche Parallelstellen.25 Während dort freilich Gott den Menschen entgegenkommt, handle es sich bei Celan »um ein Entgegenkommen der Menschen, die aus offenbar freiem Entschluß und geradezu etwas gönnerhaft dem Niemand-Gott >entgegenblühen< w o l l e n « . Diese »Verkehrung« des Verhältnisses Gott - Mensch erkläre sich daraus, »daß hier eben offensichtlich ein Mystiker spricht. Der Mystiker hat Gott nicht ohne weiteres«, vielmehr setzt das Streben zu Gott hin »eine starke Aktivität auf Seiten des Menschen voraus, so daß sich leicht der Eindruck einstellt, nicht Gott komme dem Menschen entgegen, sondern zu allererst müsse der Mensch einmal Gott entgegenkommen«.26 Nach Scholem begegne im Buch Sohar »als allgemeines Prinzip« der Gedanke, »daß alles Obere der Anregung durch den Impetus des Unteren, der menschlichen Handlung, bedürfe [...], daß die Gottheit nur dann nach unten wirkt, wenn ihre Kräfte durch die von den menschlichen Aktionen ausgehenden Anregungen zum Erwachen und zur Aktivierung gebracht werden«.27 Da Schulze die sprechenden »wir« des Gedichts als »Gemeinde der mystischen Gottsucher«28 auffaßt, kann er sie auf die Schechina - die »Gemeinde Israel« - beziehen, die als ein Moment des Göttlichen selbst die Übertragung der Mystikerbezeichnung für Gott, nämlich Nichts, auf die »wir« erkläre. Schulze 22 23 24 25

26 27 28

Joh. 3, 3-7; Rom. 8, 11-14; i. Kor. 15, 36-47. Schulze, a.a.O., S. 486. Sigmund Mowinckel: Psalmenstudien. 4 Bde. Oslo 1921-24. Neudr. 2 Bde. Amsterdam 1961, hier: Bd. 2, S. 162. Hos. 14, 6; Sir. 39, 13. Schulze, a.a.O., S. 488. Scholem: Von der mystischen Gestalt der Gottheit, S. 182. Schulze, a.a.O., S. 490.

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bezieht sich weiterhin darauf, daß die Schechina häufig durch die »Rose«29 symbolisiert und auch als »Krone«30 bezeichnet wird, daß sie (wie oben bereits zitiert) den finsteren Kräften der »anderen Seite« verfallen, von deren »Dornen« gefangengehalten werden kann und daß schließlich bereits das Buch Sohar »gleich mit einer ausgesprochenen Sexualsymbolik über die Befruchtung der Rose«31 beginnt, und er folgert: »Die kabbalistische Konzeption und Symbolik der Schechinah enthält also alle wesentlichen Elemente, aus denen die beiden letzten Strophen von Celans Gedicht bestehen: die Rose; die Sexualmetaphorik [...], dargestellt durch den (weiblichen) Griffel, der offenbar das Weibliche der von Gott durchdrungenen und befruchteten Seele repräsentiert [...], und durch den (männlichen) Staubfaden, der offenbar das befruchtend eindringende Göttliche vertritt [...]; die Krone, vielleicht nochmals das Roseng a n z e bedeutend [...]; und endlich den Dorn [.. .].«32 Wenn Schulzes Darstellung auch für manche Einzelzüge des Gedichts »Psalm« in überzeugender Weise den Hintergrund der jüdischen Mystik belegt, so bleiben doch etliche Fragen offen, vor allem hinsichtlich der letzten Strophe, die, wie die vorliegenden Interpretationen zeigen, dem Verständnis offenbar am meisten Schwierigkeiten bereitet. Zudem folgt ja eigentlich aus Schulzes Darlegungen, daß das Göttliche, obwohl zunächst positiv aufgefaßt, sich schließlich auf einen negativen Aspekt einschränkt (die von dämonischen Kräften gefangengehaltene Rose, der >himmelswüste< Staubfaden) - eine Einschränkung, die ohne Begründung bleibt. Wenn der erste Vers feststellt: es gibt für uns keine Wiedergeburt, und der zweite: unsere Vergänglichkeit ist unaufhebbar, so ist zunächst einmal zu fragen, auf wen sich diese Feststellungen beziehen. Schwarz war der Meinung, es sprächen hier die »jüdischen Toten«: »aus der Klage um die Toten« werde »eine Klage, die die Toten selbst führen«.33 Neumann widerspricht: »Ein Nichts / waren wir, sind wir, werden / wir bleiben« beziehe sich eher auf die Lebenden; »wir«, das seien die Lebenden und die Toten zusammfen.34 Nach Mayer meint »wir« die Juden allgemein;35 29

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35

Scholem, a.a.O., S. 179. - Mayer, a.a.O., sieht überhaupt an allen Stellen der Dichtung Celans, an denen das Wort »Rose« begegnet, den Bezug zur Schechina. A.a.O., S. 166. A.a.O., S. 179. Schulze, a.a.O., S. 494. Schwarz, a.a.O., S. 51. Neumann, a.a.O., S. 53 f. Mayer, a.a.O., S. 38. 121

Schulze spricht, wie schon erwähnt, von einer »Gemeinde der mystischen Gottsucher«. Folgt man dem Titel, so ist der Sprechende ein Psalmist;38 und der Psalmist klagt »nicht das eigene Weh, feiert nicht die eigene Rettung, er ist ein Organ der Nation« - des jüdischen Volkes -, »wie der Prophet« auf den, historisch gesehen, der Psalmist folgt - »ein Organ Gottes war. Beide reden zur gesamten Menschheit, welcher dieser das Licht, jener die Hoffnung zeigt«.37 Bezieht sich somit das vorliegende Gedicht ausdrücklich auf diese Tradition, so bekundet es gleichzeitig das Bewußtsein seiner Distanz zu ihr: die Tradition ist primär nicht als fortdauernde, sondern in der Qualität des Zitats präsent.38 Dem entspricht, daß auch die »Hoffnung« von anderer Art ist, als sie in den biblischen Psalmen Ausdruck findet. Das auffälligste und in der Celan-Literatur immer wieder beachtete Moment in diesem Gedicht ist die Verwandlung des Indefinitpronomens »niemand« in das Nomen »Niemand«. Es gibt vor allem in den späteren Gedichten Celans öfters die Neuschaffung von Begriffen und Namen durch den Übergang in eine andere grammatische Kategorie, besonders als Substantivierung von Adverbien: »im / Großen Dazwischen« (AW 94), »das hohe Herbei« (FS 27), »mit deinem blanken / Hiedrüben« (SP 48),*' oder von Satzteilen: »mein starkes / Du- / weißt-wie« (FS 27), wobei die Substantivierung wie bei »Niemand« auch eine Personifizierung einschließen kann, etwa wenn Celan den Vers »sieben Rosen später rauscht der Brunnen« (MG 50) in dem Gedicht » . . . rauscht der Brunnen« (NR 35) wieder aufnimmt als »du, du, du / mein täglich wahr- und wahrer- / geschundenes Später / der Rosen«.40 Die Besonderheit des »Niemand« liegt darin, daß es, wie Schulze und andere festgestellt haben, in einen formelhaften Zusammenhang eintritt, 36

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In diesem Sinne faßt Schwarz, a.a.O., S. ji, den »Psalm« als Rollengedicht auf. Leopold Zunz: Die synagogale Poesie des Mittelalters. In: Kurt Wilhelm (Hg.): Jüdischer Glaube. Eine Auswahl aus zwei Jahrtausenden. Bremen 1961, S. 3ji. Man kann nicht davon absehen, daß Celans »Psalm« in einem Gedichtband neben anderen Gedichten steht. Auch versucht das Gedicht ja noch weniger als z.B. Brechts »Psalmen«, sich formal den biblischen Psalmen anzunähern. Vgl. auch: AW 59, FS 6}, SP 13, 26, 48, 52, 60, 80. Vgl. auch: »Hörst du, sagt er ... Und Hörstdu, gewiß, Hörstdu, der sagt nichts, der antwortet nicht, [...].« An gleicher Stelle begegnet auch bereits die Substantivierung des »niemand«: »und wer spricht, [...], der redet zu niemand, der spricht, weil niemand ihn hört, niemand und Niemand«. Paul Celan: Gespräch im Gebirg. In: P. C.: Ausgewählte Gedichte. Hg. v. Klaus Reichert, S. 181-86, hier: S. 184.

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der an dieser Stelle einen bestimmten Inhalt verlangt, weiterhin daß es die Substantivierung gerade eines negativen Pronomens ist und schließlich daß es nicht willkürlich gesetzt ist, sondern im Gedicht selbst seine Genese hat. Vergänglichkeit, so scheint es zunächst, ist das Thema der ersten Strophe, >unsere< Unwiederholbarkeit und Hinfälligkeit. Der Akzent jedoch verschiebt sich, die anaphorische Gestaltung läßt das zunächst so unscheinbare grammatische Subjekt in den Vordergrund treten; damit ändert sich die Perspektive: nicht um »uns« geht es primär, sondern um den - freilich fehlenden - Schöpfer. Rückblickend von der zweiten Strophe aus erweist sich das zuletzt genannte »Niemand« der ersten als bereits auf der Schwelle zwischen beiden grammatischen Kategorien stehend; gleichwohl bewahrt seine Hypostasierung die Abruptheit des Umschlags in eine neue Qualität, wobei die eigentliche Paradoxie nicht aus der bloßen Substantivierung, sondern aus der Substantivierung eben eines Negativen entspringt. Der »Niemand« ist eine Schöpfung aus Sprache, die einem inhaltlichen Moment, der »uns« versagten Wiedererschaffung »aus Erde und Lehm«, antwortet und die gemeinsam mit dem >Loben< (Vers 4), dem nicht >besprochenen< Staub (Vers 2) und dem >gesungenen Purpurwort< (Strophe 4) Sprachliches vielleicht nicht geradezu thematisiert, aber doch in seinen unterschiedlichen Modi als Moment jeweiligen Wirklichkeitsbezugs nennt. So naheliegend es sein mag, in der Genese des Niemand die produktive, Wirklichkeit hervorbringende Kraft dichterischer Sprache gespiegelt zu sehen, so wäre dies doch zu einseitig. Nicht nur seine Genese aus der Sprache vermittelt dem Niemand den Anspruch, nunmehr für real gelten zu können, sondern, sofern überhaupt, vor allem seine Stellung als Adressat des Lobens, das seinerseits wiederum nicht so sehr den sprachlichen Vollzug als vielmehr den Ausdruck der religiösen Bezogenheit meint. Wenn man nun aber bedenkt, daß in der jüdischen Mystik für die Anbetung eines »Niemand« eben kein eigentliches Vorbild zu finden ist und daß der Hervorgang des Niemand aus der Sprache hier gerade akzentuiert wird, so muß man annehmen, daß Celans »Psalm« nun nicht mehr ohne weiteres in die Tradition der Mystik einzuordnen ist, sondern daß in ihm selbst die »leere Transzendenz« 41 noch der ungeborgenen Existenz zum Bezugspunkt wird. Die Benennung des Göttlichen mittels negativer Bezeichnungen folgt in der Mystik eben nicht aus der Hilfsbedürftigkeit, der Verlassenheit und Ungesichertheit des menschlichen Daseins; und das heißt: dem Loben des Niemand bleibt in Celans »Psalm« das Moment unauflösbarer Absurdität, einer Absurdität freilich, die nicht das Ergebnis eines willkürlich pa41

Hugo Friedrich, a.a.O., passim. 123

radoxen Akts ist, sondern menschliche Existenz im ganzen bestimmt. Mit einer Feststellung der Büchner-Rede kann man sagen: »Gehuldigt wird hier« - wie in Büchners »Danton« so auch im »Psalm« — »der für die Gegenwart des Menschlichen zeugenden Majestät des Absurden« (Bü 136). Und man kann sich jener anderen Stelle der Büchner-Rede erinnern, die von der heute der Dichtung vorgeworfenen Dunkelheit spricht und diese bestimmt als »die der Dichtung um einer Begegnung willen aus einer vielleicht selbstentworfenen - Ferne oder Fremde zugeordnete Dunkelheit« (Bü 141). Dunkelheit, das Hermetische moderner Lyrik, ist somit nach Celan ein Ergebnis der Situation des Gedichts, das ohne die Absicherung durch ein Gegenüber spricht, ob dieses Gegenüber nun der Leser42 wäre oder die gegenständliche Wirklichkeit, die gesuchte und vielleicht gewonnene,43 d. h. die Dinge, von denen und, nach Celans Auffassung, »zu« und »mit« denen das Gedicht spricht (Bü 144 f.), also das andere und vielleicht das oder der >ganz Andere< (Bü 142). Ohne eine solche Absicherung zielt das Gedicht ins Ungewisse, in eine »Ferne oder Fremde«, von der es nicht einmal weiß, ob sie nur von ihm selbst entworfen ist oder doch einen realen, nämlich ihm als ein anderes entgegenstehenden Adressaten darstellt; es spricht in dieser nahezu solipsistischen Vereinsamung »um einer Begegnung willen«, aus der Hoffnung auf ein Gegenüber heraus.44 Blickt man von hier aus auf den »Psalm« zurück, so läßt sich die existentielle Situation der sprechenden »wir« analog zu jener des Ge^ dichts sehen: die preisende Hinwendung zu dem »Niemand« geschieht 42

43 44

Das Gedicht als »Flaschenpost«, die »vielleicht« an »Herzland« (Br 128) gespült wird: Isolierung und das Leiden daran läßt sich kaum radikaler ausdrücken als mit diesem Bild, das auf Mandelstam verweist (vgl. Gerhard Neumann: Die »absolute« Metapher. Ein Abgrenzungsversuch am Beispiel Stephane Mallarmes und Paul Celans. In: Poetica 3 [1970], S. 213) und das, wie Hans Mayer mitteilt, die Poesie-Diskussion auf einer Schriftstellertagung 1957 bestimmte, an der Celan teilnahm (vgl. H. M.: Erinnerung an Paul Celan. In: H. M.: Der Repräsentant und der Märtyrer. Konstellationen der Literatur. Frankfurt/M. 1971 [ed. suhrkamp 463], S. 169-88; hier: S. 171 f.). Vgl. Umfrage 1958, a.a.O. Dies ist eine keineswegs esoterische, vielmehr höchst präzise Deutung hermetischer Lyrik. Die Abgeschlossenheit des Gedichts in sich selbst, die es >dunkel< erscheinen läßt, als Ergebnis der fehlenden sozialen Korrespondenz, der verlorenen Verfügung über gesichert zugängliche Wirklichkeit und der verlorenen Beziehung zur Transzendenz, dies konstituiert ja in der Tat moderne Lyrik. Freilich geht Celan bemerkenswerterweise über die Standortbestimmung hinaus, indem er diese Situation nicht als Faktum hinnimmt, sondern sie mit der Hoffnung auf ein korrespondierendes Gegenüber als prinzipiell aufhebbar denkt. Dem kommt dann auch seine Bestimmung von Lyrik als einer ausgezeichneten Weise der Selbstvermittlung entgegen (Bü 147).

124

wohl auch hier »um einer Begegnung willen«, in der Bemühung um Antwort eines unverfügbaren Gegenüber. Wie aus der Vereinsamung des Gedichts die Dunkelheit, so entspringt aus der Verlassenheit menschlicher Existenz die Absurdität einer Hypostasierung der leeren Transzendenz auf der Suche nach einem Sicherheit gewährenden Du. Freilich ist der »Niemand« eine menschliche Setzung, aber eben eine solche, der nicht Beliebigkeit anhaftet, sondern die den Charakter der Notwendigkeit besitzt. Das aktive Moment dieser ganzen Strophe scheint von daher durchaus nicht so befremdlich, wie Schulze meint. Und im Grunde steht ja die Aktivität im Dienste des eigentlich bedeutsamen Moments, nämlich der Selbstbestimmung des Menschen, der, obwohl nicht gesichert durch die Transzendenz, dennoch den Bezug zu ihr bewahrt und sich gegen die Erfahrung der Nichtigkeit aus diesem Bezug bestimmt. Der Begriff des »Nichts« meint hier nicht die auf den Menschen übertragene Mystikerbezeichnung für Gott (Schulze), sondern sehr viel schlichter eben die menschliche Nichtigkeit und greift, in Korrespondenz mit der ersten Strophe, auf Wendungen zurück, die in großer Zahl im Alten Testament und im jüdischen Gebet zu finden sind: Wie gar nichts sind doch alle Menschen.45 Ist doch der Mensch gleichwie nichts; seine Zeit fährt dahin wie ein Schatten.46 Mein Gott! Bevor ich geworden, war ich ein Nichts, und nun ich geworden, bin ich, als wäre ich nie geworden: ein Stäubchen in meinem Leben, wie erst nach meinem Tode.47 Sieh, all die Helden sind wie ein Nichts vor Dir und die Männer des Ruhms, als wären sie nie gewesen. Und die Weisen wie ohne Kenntnis und die Verständigen wie ohne Verstand. Denn die Masse ihrer Werke ist Nichtigkeit und ihre Lebenstage wie ein Hauch vor Dir, und des Menschen Vorzug vor dem Tier ist ein Nichts, denn alles ist vergänglich. Aber wir sind Dein Volk, Kinder Deines Bundes, [.. .].48

Die Erfahrung der Nichtigkeit überdauert, nicht jedoch die Sicherung durch die Transzendenz; gleichwohl bleibt die Spannung erhalten, dem geschichtslos-statischen - »waren wir, sind wir, werden / wir bleiben« antwortet das dynamische Moment: Setzung von Transzendenz und zugleich Selbstbestimmung. Die Antithetik der alten Formeln - »denn alles ist vergänglich. Aber wir sind Dein Volk« - kehrt wieder im »Psalm«: »Ein Nichts [. . .] werden / wir bleiben«, aber: »blühend«, und zusam45 48 47 48

PS. 39, 12. PS. 144, 4. Aus dem Gebetbuch. In: Jüdischer Glaube, S. 71. A.a.O., S. 61. 125

mengezogen: »die Nichts-, die / Niemandsrose«. Die Parallelität der Genitive überspielt nicht nur den Unterschied zwischen gen. qualitatis und gen. possessivus - darauf macht Schulze aufmerksam -,49 sondern auch einen inhaltlichen: beide Begriffe enthalten die Spannung von Negation und Position; während jedoch >Nichtsrose< sich nur auf den Menschen bezieht und somit im Bereich des Diesseits verharrt, meint »Niemandsrose« die spannungsvolle Bezogenheit von Diesseits und Transzendenz und setzt an die Stelle des harten Gegensatzes, der zwischen Nichts und Rose besteht, eine Vermittlungsbewegung (die freilich nicht in dem Begriff allein liegt, sondern ihm aus dem Gedichtzusammenhang zukommt). Die Interpretation der vierten Strophe bereitet die meisten Schwierigkeiten, vor allem dann, wenn man die Entwicklung des Rosen-Bildes nicht weiterverfolgt, sondern »Krone rot«, »Purpur(wort)« und »Dorn« für sich nimmt und in ihnen - als Dornenkrone, Blut und Purpurmantel - vorwiegend eine Anspielung auf die Passion Christi sieht.50 Obwohl dieser Anklang nicht zu leugnen ist — und das Präteritum »sangen« scheint ja in der Tat auf ein einmaliges Ereignis hinzuweisen -, läßt er sich schwer in den Zusammenhang des Gedichts einfügen, besonders wenn man ihn nicht als allgemeinen Beiklang versteht - Jesus gilt ja auch im Judentum als Leidensgestalt, darauf nimmt Mayer Bezug -,51 sondern als präzisen Sinn dieser vierten Strophe behauptet; wenn nämlich Krone, Purpurwort und Dorn der Rose zugehören, die »wir« alle sind, und zugleich genau auf Christus deuten sollen, so wird eine Beziehung hergestellt, nach der wir alle Christus sind und leidend das Leiden selbst überwinden. Die »Krone« jedenfalls ist zunächst einfach ein Teil der Blüte,52 sie umgreift Griffel und Staubfaden, die, als »seelenhell« und »himmelswüst« antinomisch aufeinander bezogen, Hell und Dunkel eindeutig verteilt erscheinen lassen: im Menschen, der Seele, sammelt sich das Licht, und in Umkehrung des Genesis-Verses »die Erde war wüst und leer« gilt nunmehr der Himmel selbst als wüst - beides Wertungen, für die sich

49 50

51 52

Schulze, a.a.O., S. 490. Peter Mayer, a.a.O., 8.40; Klaus Weissenberger: Die Elegie bei Paul Celan. Bern/München 1969, 8.57; Kurt Oppens, a.a.O., S. nof.; beiläufig bei William H. Rey: Paul Celan: Das blühende Nichts. In: The German Quarterly 43 (1970), S. 767. Mayer, a.a.O., S. 40, 134. »Blütenkrone« ist in der Botanik die Gesamtheit der Blütenblätter ohne die Kelchblätter.

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immerhin ungefähre Entsprechungen53 in der Tradition finden lassen: in der jüdischen Mystik etwa wird die Seele als »ein Funke aus dem göttlichen Licht« gesehen, das bei dem »Bruch der Gefäße«, einer Art UrKatastrophe, über die ganze Welt verstreut wurde;54 und Darstellungen des Zorns Gottes finden sich häufig im Alten Testament, z.B.: Der HERR kommt »samt den Werkzeugen seines Zorns, um zu verderben die ganze Erde. Heulet, denn des HERRN Tag ist nahe; er kommt wie eine Verwüstung vom Allmächtigen.«55 Die nun den Himmel selbst charakterisierende Verwüstung - »Wir leben unter finsteren Himmeln« -5e und andererseits die Helligkeit der Seele sind als die zwei Momente des Überirdischen und des Irdischen umschlossen von der Krone, d. h. die Rose besitzt nun die Antinomie in ihr selbst.57 Der Schluß des »Psalm« ist mit einer Strophe des Gedichts »Hinausgekrönt« (NR 69 f.) in Beziehung gesetzt worden:

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Entsprechungen können hier nur ungefähr sein, weil natürlich der Gedanke der »leeren Transzendenz« in der Tradition keine Korrespondenzen findet und daher alle Rezeption von Tradiertem unter seine eigenen Gesetze stellt. Scholem: Jüdische Mystik, S. 262 f., 291 ff. u. ö. Vgl. auch: Ders.: Seelenwanderung und Sympathie der Seelen. In: G. Seh.: Von der mystischen Gestalt der Gottheit, S. 193-247. Jes. 13, 5-6Brief an Hans Bender, a.a.O. - Vgl. weiterhin: »Ein Lied in der Wüste«: »[...] den Trümmern der Himmel entgegen« (MG 7). Andererseits: »Am Lichtsinn / errätst du die Seele« (SG 28), »eine Sonne [...], hell / standen ihr Seele und Seele entgegen« (NR 19). Damit stellt sich in der Tat eine gewisse Nähe zu dem >reinen Widerspruch« in Rilkes Grabspruch ein, auf den in der Celan-Literatur wiederholt hingewiesen worden ist. Gleichwohl sollte dies wie der Umstand, daß in dem Grabspruch ebenfalls das Wort >niemand< begegnet, nicht dazu verleiten, die Unterschiede der jeweiligen gedanklichen Zusammenhänge zu übersehen (der Bezug der Rose zum Menschen etwa ist bei Celan sehr viel direkter als bei Rilke). Auf die Assoziation anderer Bereiche ist ebenfalls in der Sekundärliteratur verwiesen worden. Der Griffel als Schreibgerät evoziere die Dimension von Sprache und Dichtung und damit Erinnern und Gedächtnis, der Staubfaden verweise auf Öde und Zerfall und damit auf das Vergessen - so Weissenberger, a.a.O., S. 56 f., in Anlehnung an die Arbeit von Johann Firgcs: Die Gestaltungsschichten in der Lyrik Paul Celans ausgehend vom Wortmaterial. Diss. Köln 1959, die, bereits veröffentlicht, nachdem erst zwei Gedichtbände Celans vorlagen, sich ganz an dem Komplex Erinnern - Vergessen orientiert, wie er in dem Titel »Mohn und Gedächtnis« thematisiert ist. Bei Mayer, a.a.O., S. 39, wird ein anderer Zusammenhang erwähnt, freilich ohne daß dessen Bezug zum »Psalm« besonders deutlich würde, nämlich »der metaphorische Beisinn des Fadens als >Faden der Erinnerung«, wie er den Schaufäden am jüdischen Gebetsmantel unterlegt ist.«

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Mit Namen, getränkt von jedem Exil. Mit Namen und Samen, mit Namen, getaucht in alle Kelche, die vollstehn mit deinem Königsblut, Mensch, - in alle Kelche der großen Ghetto-Rose, aus der du uns ansiehst, unsterblich von soviel auf Morgenwegen gestorbenen Toden. Jüdisches Leid als allgemein-menschliches, aber in überdimensionaler Steigerung - »die Menschen-und-Juden« (NR 76), »die, zu deren Mensch-sein das Jude-sein hinzukommt« -:58 Exil, Ghetto und Tod, zusammengezogen im Bild der Rose. Daß hier das Königliche erscheint, ist kaum noch ein Paradox: die Tode stellen in ihrer Summe selbst die eigentliche Kontinuität dar und werden so zu Bürgen für die Unsterblichkeit; die »auf Morgenwegen« Sterbenden sind die ständig Beginnenden, im Aufbruch Begriffenen und in diesem Sinne unsterblich: »Judenlocke, wirst nicht grau.«59 Die letzte Strophe dieses Gedichts lautet: Und es steigt eine Erde herauf, die unsre, diese. Und wir schicken keinen der Unsern hinunter zu dir, Babel. Babel - der Ort, von dem die Zerstreuung in alle Welt und in alle Sprachen ausging, und der Ort der Gefangenschaft und des Exils — wird überwunden sein; im Heraufsteigen der Erde liegt die Verheißung von Heimat, Wohnstatt, Aufhebung des Exils - in der Imagination ist bereits präsent, was im Grunde über die Zukunft und die Geschichte hinausliegt: [...] Erde: du kommst, du kommst, wohnen werden wir, wohnen [...] (NR 76) Ähnliches, etwas anders akzentuiert, findet Ausdruck am Schluß des »Psalm«. In der »Krone« besitzt die Rose das Zeichen ihres Königtums; »rot«, als Farbe des Bluts, ist nicht nur die Farbe des Todes, sondern ge58 89

Meinecke, a.a.O., S. 135. Hermann Cohen (a.a.O., S. 3 50): »Die Unsterblichkeit gewinnt die Bedeutung des geschichtlichen Fortlebens des Individuums im geschichtlichen Fortbestande seines Volkes.« Zit. nach Mayer, a.a.O., 8.41.

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rade hier auch die des Lebens. »Purpur« evoziert wiederum die Majestät, das »Purpurwort« ist das Königswort: der Mensch scheint sich die Königswürde selbst verliehen zu haben - ein Akt lebensspendender Freiheit offenbar, der, als einmaliges, vergangenes Ereignis, jetzt das Blühen ermöglicht. Es ist ein Akt der Überwindung. Emphatischen Charakters ist die Interjektion — »über, o über / dem Dorn« -, eingefügt in die Reihe der o-Assonanzen der letzten vier Verse, die, zusammen mit >loben< und »wollen« (Strophe 2), eine einheitliche Melodie konstituieren. Das überwindende Purpurwort wiederum läßt an die Büchner-Rede denken, die Luciles Ausruf »Es lebe der König« in Büchners »Danton« deutet als »das Wort, das den >Draht< zerreißt, das Wort, das sich nicht mehr vor den >Eckstehern und Paradegäulen der Geschichte< bückt, es ist ein Akt der Freiheit. [...] Gehuldigt wird hier der für die Gegenwart des Menschlichen zeugenden Majestät des Absurden«. (Bü 135 f.)

3

Das Nichts in »Mandorla« und »Psalm«

3.1 Befremdlichkeit des Begriffes »Nichts« Oben wurden bereits Zweifel an der Identifikation des »Niemand« mit dem Gott der Mystiker angemeldet. Auch der bemerkenswerte Umstand, daß das Gedicht in den letzten beiden Strophen im Grunde nur noch vom Menschen spricht, scheint nur unzureichend mit der dem Mystiker zugemuteten besonderen Aktivität begründet. So ist denn genauer zu fragen, in welchem Verhältnis der »Psalm« wie auch »Mandorla« zu jener Tradition stehen. Es ist dabei anzuknüpfen an die oben referierten Darlegungen Scholems. Nach Scholem ist, wie bereits zitiert, das »Nichts« der Mystiker keineswegs eine bloße Negation; nur von uns aus entzieht es sich allen Bestimmungen, weil es der intellektuellen Erkenntnis entrückt ist. In Wirklichkeit aber hat dieses Nichts [. ..] ein unendlich höheres Sein als alles andere Sein in der Welt.« Es ist »ein Nichts voll mystischer Fülle, wenn es auch in keine menschliche Bestimmung gefaßt werden kann.60

Das heißt: zwischen Nichts und Sein besteht keinerlei Opposition, das Nichts ist absolut und zugleich absolute Positivität in der Beziehung auf »Gottes Ubersein«, sei es als dessen Hervorbringung, sei es in der Gleichsetzung mit diesem selbst.81 Bekanntlich erscheint auch der sogenannten »negativen Theologie« eine positive Erkenntnis Gottes nicht möglich; diese versucht daher, eine 80 81

Scholem: Jüdische Mystik, S. 27. Scholem: Grundbegriffe, S. 77. 129

Annäherung an die Transzendenz mittels fortschreitender Privation aller positiven Prädikate zu erreichen.62 Während somit dort die Negation mit der vollen Kraft ihrer Negativität eingesetzt wird,63 gelangt die Mystik dagegen schließlich dazu, gerade die letzte Negation, nämlich das Nichts, als das Positive schlechthin zu denken - eine Umdeutung, die von Scholem erklärt wird mit dem »Horror vor dem Nichts in seinem Wortverstande in der Auffassung der überlieferten Formel von der Schöpfung aus Nichts«.64

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64

Gegen dieses Verfahren ist eingewendet worden, daß es methodisch unreflektiert sei und mit Beliebigkeit endlos fortgesetzt oder eben auch, wo man will, abgebrochen werden könne. Letztlich könne sich nur der Begriff einer vom Diesseits schlechthin abgelösten, einer nicht mehr auf die Schöpfung bezogenen Transzendenz ergeben, da das Problem der bestimmten Negation nicht durchdacht sei. Wenn demgegenüber der Vermittlungscharakter positiver Prädikation beachtet werde, so entstehe aus der Negation nicht beliebiger, sondern in ihrer Bestimmtheit gedachter und somit von ihrem Bezug zum Diesseits her entworfener Prädikate eine freilich ebenfalls negative Gotteserkenntnis, die aber die Transzendenz als die dialektisch zugleich auf die Schöpfung bezogene zu denken erlaubt und so göttliches Heilshandeln und Offenbarung bereits im Ansatz impliziert (vgl. Erich Heintel: Transzendenz und Analogie. Ein Beitrag zur Frage der bestimmten Negation bei Thomas von Aquin. In: "Wirklichkeit und Reflexion. FS Walter Schulz. Hg. v. Helmut Fahrenbach. Pfullingen 1973, S. 267-90). Dieser Einwand läßt sich zum Teil auch gegenüber der Mystik erheben, die zwar in ihrer überaus differenzierten Gottesvorstellung die beiden Momente der unbezogenen Absolutheit und des Schöpfertums Gottes (als En-Sof und Sefiroth) zusammendenkt, aber im Hinblick auf die Einordnung des Nichts in diese Gottesvorstellung sich vor gedankliche Probleme gestellt sieht, deren Lösung unbefriedigend bleibt, solange der »Ruck zur Schöpfung« (Scholem: Grundbegriffe, S. 76), der Schritt vom Nichts zum Sein, nicht erklärt ist, da die immer erneuten Entwürfe lediglich eine kontinuierliche Stufenreihe ergeben von einem »höchsten Urpunkt bis zum letzten materiellen Sein. Nirgends tritt da ein echtes Nichts, die Kontinuität der Kette unterbrechend, auf.« (A.a.O., S. 80), so daß schließlich der Zusammenhang von Nichts und Sein, eben weil er in Gott gründe, für unfaßbar erklärt wird (a.a.O., S. 78 f.). Erst die (oben referierte) Idee des »Zimzum« kann diesen Zusammenhang deuten, wobei sie das Nichts einerseits im Hinblick auf das Göttliche in die schlechthin positive Fülle umdeutet, es aber andererseits zugleich auch als das allem Seienden zuteilgewordene Moment der Hinfälligkeit, als das dessen Gebrochenheit Ausmachende auffassen kann (A.a.O., S. 86 ff.). Die Sprach- und Erkenntnisskepsis der negativen Theologie bildet übrigens auch den Hintergrund für jenes theologische Denken, das sich vorwiegend superlativischer Wendungen bedient; der Superlativ transzendiert ja ebenso wie die Negation den Bereich konkret-realer Erkenntnis und hilft daher, das Jenseits in jeweiliger Hinsicht vom Diesseits abzusetzen. Scholem: Grundbegriffe, S. 77.

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Das ist bemerkenswert: die Suche nach adäquatem Ausdruck für dasjenige, »das vor der Spaltung der Uridee in das Denkende und das Gedachte liegt«, das also »kein wirkliches Subjekt«65 ist und somit auch kein wirkliches Objekt, diese Suche gewinnt den Begriff des Nichts; vor der Ungeheuerlichkeit dieses Begriffs jedoch schaudert das Denken zurück. Und wenn sich nun der Umgang mit dem »Nichts« dennoch in der Tradition mystischen Denkens etabliert, so aufgrund jener Umdeutung und aufgrund der Auffassung dieses Begriffs als eines Symbols.68 Insofern demonstriert jener Begriff (obwohl noch am ehesten adäquat einer Erfahrung, in der die Differenz zwischen Subjekt und Objekt aufgehoben ist) einerseits die Unübersetzbarkeit mystischer Erfahrung in Sprache," andererseits dient er (obwohl auf dem Wege der Spekulation gewonnen und im Grunde alles Sinnliche abweisend) dann dennoch, als Symbol, auch der sinnlichen Ausdeutung des erfahrenen Göttlichen. So finden sich des öfteren Mystiker-Worte, die Gott nicht nur als das Nichts denken, sondern auch das sichtbar erfahrene Göttliche als das Nichts sehen. Buber überliefert von Rabbi Schneur Salman von Ladi: In den Tagen vor dem Sterben fragte der Raw seinen Enkel: »Siehst du etwas?« Der blickte ihn erstaunt an. »Ich«, sagte der Raw, »sehe nur noch das göttliche Nichts, das die Welt belebt.«88

Es ist nicht auszumachen, wieweit in derartiger Überlieferung in der Tat noch die Gestaltlosigkeit des Erlebten in einem strikten Sinne gemeint ist und wieweit darin das Nichts einfach zu einer traditionellen mystischen Gottesbezeichnung geworden ist. Die traditionelle Qualifikation - das >göttliche< und >die Welt belebende< Nichts — ermöglicht Orientierung am vertrauten Bezugsrahmen, der das Befremdliche wenn nicht aufhebt, so doch mindert. Freilich mag andererseits der Hinweis auf den nahen Tod darauf abzielen, daß der Rabbi in der Tat ein eigentlich Unerfahrbares erfahre, als Summe und Uberbietung aller menschlichen Erfahrungen. Von hier aus ist nach dem »Nichts« in »Mandorla« zu fragen. Und da ist denn entschieden zu betonen: die ursprüngliche Befremdlichkeit 65 66

67

Scholem: Jüdische Mystik, S. 241. Vgl. Scholem: Grundbegriffe, S. 68. - Im Hinblick auf die Gestaltlosigkeit der mystischen Erfahrung betont Scholem, »daß auch Licht und Laut, ja selbst der Name Gottes nur symbolische Repräsentationen jener letzten Realität sind, die in ihrem Urgrund immer wieder als gestaltlos, amorph, erscheint.« Scholem: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, S. 17. Von »Übersetzung« spricht Scholem in: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, S. 20. Dem solcherart Unübersetzbaren müßte man übrigens den Begriff der »Erfahrung« absprechen, wenn man den letzteren mit der prinzipiellen Möglichkeit von Objektivierung verknüpft sieht. Martin Buber: Die Erzählungen der Chassidim. Zürich 1949, S. 421.

jenes Begriffs, das Sperrige an ihm, seine Nicht-Assimilierbarkeit, dies ist eine Qualität, die, gerade im lyrischen Kontext eines modernen Gedichts, mit erneuter Heftigkeit hervortritt. Der »Horror vor dem Nichts in seinem Wortverstande« darf nicht gleichsam gegen das Gedicht gewendet werden. Das besagt: der Leser hat sich die Erfahrung jener ersten Qualität bewußt zu halten, die den Begriff »Nichts« auszeichnet, nämlich der Kraft der Provokation. Insofern darf die Einsicht in die Bedeutung der Mystik für Celans Dichtung keinesfalls zur »Neutralisierung« jenes provokatorischen Moments führen, das Gedichten wie »Mandorla« zweifellos zukommt. Das im Grunde höchst Befremdliche einzelner Momente kann nicht für selbstverständlich gelten, indem man diese einer heute ohnehin im ganzen nurmehr wenig vertrauten Tradition zuordnet. In Wirklichkeit hat die historische Distanz zur Mystik gerade umgekehrt die Aufhebung der Gewöhnung an das Außerordentliche mystischer Begriffe zur Folge; und das heißt: im lyrischen Kontext gewinnt der Begriff die ganze Schärfe der Paradoxie zurück, die im Lauf der Jahrhunderte sich abgeschwächt hat, je mehr jener Begriff zu einer selber Tradition stiftenden Gottesbezeichnung wurde. Ja, das Gedicht »Mandorla« selbst stellt sich gegen diese Gewöhnung durch den entschiedenen Verzicht auf irgendeine Qualifikation des Nichts. Damit scheint von Anfang an alle Tendenz zur Stiftung von Beziehungen wie auch zur metaphorischen Deutung des Nichts abgewehrt. Solche Abwehr findet Ausdruck in der von Schulze hervorgehobenen Starre; ja, ein Vers wie »Es steht das Nichts in der Mandel« vermeidet selbst noch dasjenige Moment von Hypostasierung, das dem Nichts aus der Rolle des grammatischen Subjekts zukommen könnte.69 Die Mandorla läßt zwar den Bereich des Religiösen als Hintergrund der Erscheinung erkennen, sie stellt aber zugleich den Rahmen dar, der einen eigenen Bezirk absondert, sie hebt damit das Erscheinende von allem Gegenständlich-Räumlichen ab, entzieht es der Verfügbarkeit.70 All diese distanzierenden Momente steigern die Paradoxie, die darin liegt, daß das eben auch vom Gedicht her als gestaltlos vorgestellte Nichts dennoch sichtbar erscheint. Indem nun aber das Gedicht alle Annäherung an dieses Nichts - und damit auch dessen Umdeutung - nicht nur vermeidet, sondern offenbar bewußt abweist, nimmt es das paradoxe Moment der begrifflichen 88

70

Das Verb wirkt diesem Abweis von Hypostasierung nur scheinbar entgegen; in der zweiten Strophe enthüllt es sich rückblickend als dem >Stehen< des Königs entlehnt. Gerade wenn das schlechthin Unbegrenzte als in der bestimmten Eingrenzung erscheinend vorzustellen ist, dann wird es in dieser Konstellation zum dialektisch genau anderen zu jedwedem Begrenzten überhaupt.

132

Darstellung mystischer Erfahrung auf und wendet es als Provokation gegen den Leser. Dieser kann sich aufgefordert fühlen, die dem Begriff des Nichts entsprechenden gedanklichen Hintergründe aufzusuchen, nicht jedoch im Sinne einer Neutralisierung des Begriffs selbst. Es bleibt die Zumutung, die in der Behauptung der sichtbaren Erscheinung des schlechthin Gestaltlosen liegt. Der Leser hat dies zu akzeptieren. Nun bewahrt der Verzicht auf eine Qualifikation, eine Ausdeutung des Nichts diesem Begriff nicht nur eine gewisse Härte und Unvermitteltheit, er ist auch als Angemessenheit an die Eigenart des Erscheinenden aufzufassen, das sich der Besprechbarkeit entzieht. Insofern begegnet hier ein Moment von Sprachlosigkeit, das nicht zum Verstummen führt, sondern im Bewußtsein einer Sprachgrenze sichtbar wird.71 Die Demonstration dieses Bewußtseins gelingt einem Sprechen, das nicht sein Versagen, sondern den Verzicht vorführt und das so das ihm nicht Darstellbare in deutlicher, aber anderer Weise aus dem Bezirk des ihm Zugänglichen ausgrenzt, als dies der Abbruch eines Sprechens tut, das aus seinem Versagen immer noch die Möglichkeit der Suggestion von Inhalten statt deren Artikulation - gewinnt. 3.2

Abstraktheit

Diese Überlegungen galten der Erscheinung des Nichts im Gedicht unabhängig von und vor seiner Identifikation als eines mystischen Nichts. Ebenfalls einer solchen Identifikation voraus ist als Moment des Anstoßes seine rein begriffliche Qualität zu werten: auch diese, nicht nur die negative Wertigkeit, erzeugt Befremdung; daher würde eine Wendung wie >Es steht das Sein in der Mandel· nur um ein geringes vertrauter anmuten. Der Frage nach der Rolle des Begriffs in modernen lyrischen Sprechweisen ist in der Forschungsliteratur noch wenig Aufmerksamkeit gewidmet worden. Gemeinhin wird unter »Abstraktion« als einem wesentlichen Zug moderner Lyrik weniger das Begriffliche in seiner Spannung zu der Benennung von konkret Gegenständlichem gefaßt als vielmehr die Absage an die Verbindlichkeit der durch alltägliche Sprache vorgegebenen Erfahrungs- und Denkmuster. »Abstraktheit« ist demnach nicht einfach eine bestimmte Qualität lyrischen Sprechens, die im Verein mit anderen Qualitäten eine wechselnde Beziehung zur (außerdichterischen) Wirklichkeit inhaltlich zum Ausdruck bringt, sondern, als Ablehnung 71

Derartiges findet sich auch in anderen Gedichten Celans; man vergleiche etwa: »[...] es ist / die Wahrheit selbst / unter die Menschen / getreten« (AW 85): jedes qualifizierende Adjektiv wäre hier unangemessen, diese »Wahrheit« ist nicht beschreibbar.

von »>Mimesis< im Sinne einer wie auch immer erweiterten Naturnachahmung«,72 gilt sie hinsichtlich der dichterischen Inhalte zugleich als Rückzug des lyrischen Sprechens aus der Bindung an vorgegebene Wirklichkeit überhaupt. Dort, wo »das Gleichgewicht zwischen Aussageinhalt und Aussageweise durch das Übergewicht der letzteren beseitigt ist«,73 wo, wie es scheint, tendenziell von aller über die Sprache selbst hinausführenden Intentionalität abstrahiert wird, verliert die Frage nach der Rolle des Begriffs notwendigerweise an Bedeutung, da der Begriff die Intention auf das Gegenständliche gerade bewußt festhält. Nun scheint jedoch das Ziel solcher Abstraktion noch nicht zureichend erfaßt, wenn der sich selbst zum Inhalt werdenden Sprache aller Bezug auf Wirklichkeit abgesprochen wird. Hugo Friedrich allerdings zieht offenbar diese Folgerung, indem er das (negativ bestimmte) »Freisein von der gewöhnlichen Welt«74 als Leistung »einer unbeschränkten Phantasie«75 ins Zentrum stellt und mit der Behauptung, Dichtung ziele auf die »Herstellung des Irrealen«,76 der (außerdichterischen) Realität nur die Funktion der negierten Norm einräumt. Allemann77 und Brinkmann dagegen sehen in der »Abstraktion« den (der Entwicklung der Malerei analogen) Rekurs auf das »Material«, der Wirklichkeit nicht einfach abwehrt, sondern eine »tiefere Schicht der Wirklichkeit« sichtbar werden laßt: hier »fallen angeschaute Wirklichkeit und sprachliche Beschreibung nicht auseinander wie Subjekt und Objekt«78. Dieser Rekurs 72

73 7i

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77 78

Richard Brinkmann: »Abstrakte« Lyrik im Expressionismus und die Möglichkeit symbolischer Aussage. In: Hans Steifen (Hg.): Der deutsche Expressionismus. Formen und Gestalten. Göttingen 1965 (Kl. Vandenhoeck-Reihe 208 S), S. 88-114; hier: S. 90. Friedrich, a.a.O., S. 149. A.a.O., S. 29. A.a.O., S. 57. Vgl. auch a.a.O., S. 81-83. A.a.O., S. 57. Ausgehend von Novalis sieht Friedrich die Annäherung an die »Abstraktionen der Algebra« (S. 29) als Ziel, dem die Phantasie, nämlich »die Fähigkeit zur Erzeugung des Irrealen«, »das Vermögen abstrakter, d. h. sachentbundener Bewegungen des freien Geistes« (S. 57 f.), dient. Ergebnis sind »die gegenstandsfreien Linien und Bewegungen« (»Arabesken«) (S. 57), »reine Sprachdynamismen«, die »eine mögliche Realitätsbindung der Inhalte bis zur Unverständlichkeit zerstören oder gar nicht aufkommen lassen« (S- 75)· Beda Allemann: Gibt es abstrakte Dichtung? In: Adolf Prise* (Hg.): Definitionen. Essays zur Literatur. Frankfurt/M. 1963, S. 157-184. A.a.O., S. 184. Als eigentliches »Material« von Dichtung versteht Allemann nicht so sehr »das sinnliche, optische oder akustische Substrat der Sprachäußerung« (S. 172) als vielmehr das, »was wir gemeinhin >Sinn< nennen«, die »spezifische Gestalt-Qualität« der »Wort-Sequenz, wie der künstlerische Satzbau sie hervorbringt« (S. 175), die »semantisch-syntaktischen Bezüge

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ist aufzufassen als Suche »nach einer Sprache, die noch einmal und von neuem ihre ursprüngliche Leistung, Wirklichkeit zu erfassen, ja zu konstituieren, zu begründen und zu deuten, vollzieht, auf einer neuen Stufe des Verhältnisses von Mensch und Wirklichkeit«.79 Wenn aber hinsichtlich moderner Lyrik »Abstraktion« konstitutives Moment eines Prozesses ist, der die Abkehr von vorgegebener Wirklichkeit als Rückzug der Sprache auf sich selbst zur Voraussetzung für den Gewinn einer neuen, nunmehr aus der Sprache erlangten und in ihr verbürgten Wirklichkeit macht, so läßt sich diese Bewegung als eine (hinsichtlich der In-Frage-Stellung des Gegenständlichen radikalisierte) Wiederholung der allgemeinen Bewegung vom Wort zum Begriff sehen: der im Wort enthaltene gedankliche Impuls< »in Richtung auf das Ding« »macht das Wort zum Begriff, indem er die Dynamik der sprachlichen Bedeutung, die in Intention und Rezeption auf ihren Inhalt bezogen ist, ausdrücklich vollzieht. Die Bewegung vom Wort zum Begriff ist der seiner selbst bewußte Vollzug der in der Sprache angelegten Relation zum Gegenstand. In der Dynamik dieser Bewegung verwandeln sich das Verständnis des Wortes, wie das des Gegenstandes«, und zwar »wird jenes zum Begriff« und dieser »zum Begriffenen«.80 Als Korrespondenz zu der (im dialektischen »Wechselprozeß der Divergenz und der Annäherung von Wort und Sache«)81 wirklichkeitskonstituierenden Funktion des Begriffs läßt sich nun die Gesamtbewegung des in der Abstraktion ja nicht verharrenden, sondern von dort aus nach neuer, eigener Wirklichkeit suchenden Gedichts sehen; das dialektische

79

80 81

selbst, die Spannungen, die sich in der Wortsequenz eröffnen« (S. 181): der Versuch, diese »Artikulationsspur« (a.a.O.) hervortreten zu lassen, kennzeichnet abstrakte Dichtung. Brinkmann, a.a.O., S. 98. Auch Brinkmann erkennt Abstraktheit prinzipiell bereits der spezifisch künstlerischen »Gestalt« zu, der »Aussagefähigkeit« jenes »Mehr«, durch das sich künstlerische von alltäglicher Sprache unterscheidet (S. 91). Jedoch begreift er als abstrakt diejenige Dichtung, die »den allgemeinen grammatisch-syntaktisch-begrifflichen Zusammenhang der Sprache« und damit »die Aufbauformen, die Zusammenhänge und bildhaften Ganzheiten der Erfahrung« gerade aufgibt, um - entgegen »der bereits in dieser Sprache vollzogenen Ausdeutung der Welt« - »ein eigenes Gefüge der Verknüpfung und Trennung, der Auswahl und Gliederung« hervorzubringen, »Kompositionsformen eigener, künstlerischer, nicht aus der Erfahrung bekannter Art«, die »anderes und mehr ausdrücken, als es das konventionelle System der Sprache vermag« (S. 90 f.). Hans-Peter Bayerdörfer: Poetik als sprachtheoretisches Problem. Tübingen 1967 (Studien zur deutschen Literatur 8), S. 248 f. A.a.O., S. 249. 135

Moment dabei findet - zumindest bei Celan - eine Entsprechung in der prinzipiellen »Widerruflichkeit« des Gedichts.82 Im dichterischen Kontext führt der Begriff die Bedeutungsmomente des Worts zu einer »Totalität«, »in der die Komplexität des Gemeinten in gestraffter Form enthalten ist«;83 er leistet eine »Verdichtung der sprachlichen Bedeutsamkeit«, indem er gerade »nicht unvermittelt im Zusammenhang steht«, sondern »im sprachlichen Kontext vielfachen Widerhall findet«.84 »Sinnverdeutlichung« erbringt er, wenn er »der Sprache und dem Gesamtduktus ihrer semantischen Intensivierung so eingegliedert« ist, »daß der Eigenwert des Begrifflichen zugleich als Sprachwert in Erscheinung tritt.«85 Das besagt: im Begriff kommt in eins mit ihrer Gegenstandsrelation die Sprache selbst zum Vorschein. Dies muß nun aber prinzipiell auch dort möglich sein, wo die Sprache nicht auf vorgegebenes Gegenständliches zielt, sondern als (in der Abstraktion von vorfindlicher Wirklichkeit vollzogener) Rückzug auf sich selbst Wirklichkeit als sprachlich konstituiert sichtbar macht. D.h.: Abstraktion als wesentlicher Zug moderner Lyrik führt zwar nicht direkt zum Begriff, muß aber in diesem eine ausgezeichnete Möglichkeit ihrer Darstellung finden können, da dieser im dichterischen Kontext immer schon den Verweis auf die Sprache mitenthält. Sinnmitte etwa des Gedichts kann der Begriff somit auch dort sein, wo der Sinn sich nicht über das Gegenständlich-Konkrete vermitteln, sondern in der auf ihre eigene Wirklichkeit verweisenden Sprache beschlossen liegen soll. Dann aber gewinnt der Begriff seine Prägnanz gerade aus der Spannung zur Benennung des Konkreten, er leistet »Sinnverdichtung« als das dieses Konkrete Distanzierende und in der Distanz dennoch präsent Haltende, und zwar so, daß in dieser Spannung die Sprache selbst in den Vordergrund kommt.86 In exemplarischer Weise kann hierfür der Begriff des Nichts stehen: es geht darum, deutlich zu machen, daß, unabhängig von seiner inhalt82 83 84 85 89

Zur »Widerruflichkeit« vgl. Meinecke, a.a.O., passim. Bayerdörfer, a.a.O., S. 250. A.a.O., S. 252. A.a.O., S. 257. Vom Begriff im lyrischen Kontext wird unten noch zu sprechen sein, vor allem im Hinblick darauf, daß in der (in Celans Dichtung wachsenden) Spannung zum Konkreten der Begriff sich notwendigerweise selbst verändert. Im übrigen vermittelt die poetische Selbstreflexion dem Gedicht ein Moment von Abstraktheit, das einerseits das ganze Sprechen des Gedichts grundiert, das aber andererseits im hervorgehobenen einzelnen Wort in eigentümlicher Weise der Konkretheit gleichsam verschwistert wird: »Blume ein Blindenwort«.

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liehen Ausdeutung, dieser Begriff einen wesentlichen Zug der Celanschen wie moderner Lyrik überhaupt sichtbar macht. Indem er nämlich hinsichtlich der Abstraktion von Gegenständlichem eine unüberholbare Grenze darstellt, verweist er als solche auf die Sprache selbst: deren Intentionalität wird im Sinne reiner Rückbezüglichkeit im Begriff des Nichts konzentriert, die Sprache wird, indem sie die »Leerstelle« dieses Begriffs setzt, sichtbar als das keinem anderen, ihr Fremden verpflichtete Setzende selbst. Das Nichts ist zu solchem Verweis geeignet, weil es nicht nur als Begriff im Kontext nicht untergeht, sondern als dieser besondere Begriff zu jeglichem Kontext in unauflösbarer Spannung steht, die Sprache, auf die er verweist, ist die vom Gegenständlichen nicht absorbierbare, die Gegenständliches überhaupt erst konstituierende. Bezieht man dies auf »Mandorla«, so ist das Nichts dem Gedicht eine ausgezeichnete Möglichkeit, sich selbst als sprechendes zu demonstrieren. Da dieser Selbst-Verweis das ganze Gedicht betrifft, zeigt er zugleich alle Momente des Geschehens als sprachlich konstituiert, und das heißt konkret: der »König«, der im Nichts erscheint, stellt, soweit er als »Überwindung« des Nichts gelten darf, diese Überwindung als Leistung wirklichkeitskonstituierender Sprache dar: er ist positives Zeichen nicht nur gegen die Negativität des Nichts, sondern auch dafür, daß »Selbsterfahrung« von Sprache sinnlos ist, wenn Sprache sich damit nicht als wirklichkeitssetzend und wirklichkeitsbegreifend erfährt. Insofern ist es bedeutsam, daß von einem menschlichen Subjekt - »dein Äug« — erst vergleichsweise spät die Rede ist: wie unter inhaltlichen Gesichtspunkten die Epiphanie des Nichts nicht als Veranstaltung des >Du< zu begreifen ist, so ist die Objektivität des Vorgangs auf die zum Subjekt gewordene Sprache selbst zu beziehen, die selbst die Fragen stellt und die Antworten gibt.87 Freilich läßt sich das »lyrische Du« in herkömmlichem Sinne als ins Du transportiertes Ich auffassen - und so wurde es oben ja auch aufgefaßt -, zugleich kann jedoch die normalerweise nicht aktualisierte Spaltung des Ich in ein sprechendes und ein angesprochenes hier begriffen werden als Eingang des sprechenden Ich in die Sprache als die umgreifende Instanz selbst; die Behauptung der Sprache als des Subjekts meint allerdings nicht deren Hypostasierung zu einer dem Ich fremden Macht, also »nicht Sprache schlechthin« (Bü 143), sondern individualisierte, »gestaltgewordene Sprache eines Einzelnen«, die als solche nun selbst »unterwegs« ist und der das Subjekt, das sich ihr überlassen hat, »mitgegeben« (Bü 144) bleibt in dem Sinne, wie Adorno von der »Selbst87

Daß die Fragen, ohne rhetorische zu sein, und die Antworten dieselbe Instanz zum Subjekt haben, ist wohl offenkundig. 137

Vergessenheit des Subjekts« redet, »das der Sprache als einem Objektiven sich anheimgibt«.88 3.3

Nichtigkeit - »Kreatürlichkeit« - sprachlich nicht faßbare Erfahrung Die Hauptlinie des Gedichts endet mit dem Bezug auf das Du - »dein Äug« — in einer Art Summe, indem hier einzelne Momente wieder aufgenommen und verwandelt werden, vor allem die räumlichen Beziehungen, die nun zu qualitativen werden.89 Darin läßt sich eine Gegenbewegung gegen das Nichts sehen. Dessen eigentliches Gegenüber jedoch liegt in den »Gegenversen«, die die individuelle Stellungnahme des Du übertreffen, indem sie mit Bezug auf jüdisches Schicksal sich gleichsam zum Sprecher für das Menschliche schlechthin machen: der Trost, den sie durch die Ambivalenz des »wirst nicht grau« hindurch ausdrücken, kann nicht als individueller Zuspruch verstanden werden, die Stimme eines einzelnen hat nicht die Tragweite, die hier vorzustellen ist: man möchte meinen, der hier spricht, müsse ein Überindividuelles sein, vielleicht die Stimme des Gedichts selbst, die zum Gedicht gewordene Sprache. Der deutlich andere Sprechton, die (oben hervorgehobene) formale Andersartigkeit dieser Gegenverse verweisen auf eine andere Qualität von Sprache: derjenigen, die im Setzen des Nichts sich auf sich selbst bezieht, antwortet hier die, die in der Ambivalenz von Tod und Ewigkeit das Menschliche schlechthin zum Inhalt hat.90 Ganz anderer Art als das Nichts dieses Gedichts ist jenes, von dem der »Psalm« spricht. Es ist oben schon betont worden, daß hier kaum eine Übertragung der mystischen Gottesbezeichnung auf den Menschen 88

89

90

Theodor W. Adorno: Rede über Lyrik und Gesellschaft. In: Th. W. A.: Noten zur Literatur I. Frankfurt/M. 1958 (Bibl. Suhrkamp 47), S. 85. »Es« (das Auge) »steht zum König« repetiert »Es steht das Nichts [...]« und setzt an die Stelle des grammatischen ein echtes Subjekt; »steht« wandelt die räumliche Beziehung zur inneren: statt des bloßen Gegenüber das Bekenntnis; »zum König« macht aus der eine Abwehr einschließenden Hinwendung des »entgegen«-Stehens die vorbehaltlose Zuwendung; »So« ersetzt den räumlichen Hinweis »Da« durch den auf eine bestimmte Qualität. Mit aller nötigen Vorsicht sei hier noch eine mögliche andere Interpretation angedeutet: In der Mandorla werden nacheinander das Nichts und der König sichtbar, bildliche Darstellungen, deren Auffassung als Theophanien naheliegt, aber nicht eindeutig ist. Ließe sich nicht vorstellen, daß die vielleicht nicht nur zum Schluß, sondern auch eingangs »Leere Mandel« für den Menschen, der sie anschaut, der etwas in ihr sucht, zum Spiegel wird? Das Nichts (»Ein Nichts / [...] sind wir«, NR 23) und der König (»mit deinem / Königsblut, Mensch«, NR 69) - könnten sie nicht Spiegelbilder des Men-

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gemeint sein kann. Vielmehr steht der höchsten Seinsfülle des mystischen Nichts der Mensch in nahezu absoluter Defizienz gegenüber; ihn trifft der Begriff des Nichts mit der vollen Kraft der Negativität. Daß dennoch gegen die Nichtigkeit ein Gegengewicht vorhanden ist im >Blühen der RoseJemandJemandbei solchen Gedanken VerhofTen< sich auf die Hoffnung des Gedichts bezieht, es spreche »vielleicht in eines ganz Anderen Sache« (Bü 142). Zwischen diesem »ganz Anderen«, der nicht benennbar ist — Celan vermerkt wiederum die Besonderheit des Ausdrucks: »ich gebrauche hier ein bekanntes Hilfswort« (Bü 142) -, und der Kreatur besteht in ähnlicher Weise der ungesicherte Bezug wie zwischen den »wir« des »Psalm« und dem Niemand; allerdings, was in der Büchner-Rede als »Hoffnung« bekannt wird, ist im »Psalm« auseinander gelegt in die zwei Momente des Wissens um die Abwesenheit des Schöpfers und der in der Anrede zum Du erhobenen Abwesenheit selbst: dennoch wurde dies oben als Ausdruck einer Hoffnung verstanden. Die Büchner-Rede überträgt an dieser Stelle »ein auf die Kreatur zu beziehendes Wort« auf das Gedicht, sie parallelisiert später Mensch und Kreatur: »Und der Mensch? Und die Kreatur? / In diesem Licht«, nämlich »im Lichte der Utopie« (Bü 145) (wobei offenbleibt, ob »Kreatur« den Menschen qualifiziert oder den Oberbegriff darstellt), und sie schließt beides bei der letzten Erwähnung dieses Begriffs zusammen, indem sie die »Wege« des Gedichts als »kreatürliche Wege« (Bü 147) bestimmt. Die »Kreatürlichkeit«, die als Daseinsweise des Menschen gemäß der Rede derart unmittelbar ins Gedicht eingeht, schließt die Erfahrung der Hinfälligkeit ein: eben dies vermittelt der »Psalm«, indem er von »Erde und Lehm« und »Staub« spricht. Gerade diese zuletzt genannten Wörter muten indessen eigentümlich formelhaft an. Solches Formelhafte sticht deutlich von der realen zeitgeschichtlichen Erfahrung ab, von dem nicht rationalisierbaren, sprachlich nicht faßbaren Erlebten (wie denn auch angesichts der millionenfachen Ermordnung von Menschen Ausdrücke wie »Hinfälligkeit des Menschen«, »Kreatürlichkeit« als völlig hilflos erscheinen müssen). Im »Psalm« kommt den tradierten Formeln offenbar die Funktion zu, Ausdruck dort zu verleihen, wo es sich im Grunde um Unausdrückbares handelt, wo das Erlebte gar nicht anders als in der durch Tradition gefestigten Formel wiederzugeben ist. Indem jedoch diese Wörter ihre formelhafte Qualität in keiner Weise verbergen, bekunden sie ein Bewußtsein ihrer Distanz zur konkreten zeitgeschichtlichen Erfahrung und bezeugen die Distanz als Leistung des Gedichts: dieses versucht nicht, mimetisch sich dem Unausdrückbaren anzunähern, sondern vermittelt mit 143

der im Anschluß an das uralt Tradierte gewonnenen Sicherung zugleich den Hinweis auf die Unausdrücklichkeit des Ausgesparten. Die Gespanntheit, die dem Gedicht daraus entsteht, findet sich inhaltlich in den antinomischen Zügen, so etwa in der Gegenüberstellung von »seelenhell« und »himmelswüst«, vor allem aber in dem zentralen Begriff »Niemandsrose«, sie geht darüber hinaus aber auch in die Form ein: die Intensität des dreimaligen anaphorischen »Niemand« in der ersten Strophe bezieht sich zwar inhaltlich primär auf die Abwesenheit des Schöpfers, sie teilt sich aber als das entscheidende spannunggebende Ausdrucksmoment dieser Strophe auch der genannten Erfahrung menschlicher Vergänglichkeit mit: hintergründig wird in solcher Gespanntheit ein Moment von Unaufgelöstem, mit Adornos Ausdruck: Unversöhntem und Unversöhnlichem, sichtbar. Ein gleiches gilt vom Schluß des Gedichts: »über, o über / dem Dorn«: mit dem letzten Wort wird eine Dissonanz bewußt gesetzt, die zwar, folgt man der »Aussage« dieser Worte, als beseitigt anzusehen ist (oben wurden diese Verse denn auch als Ausdruck von Überwindung verstanden), eine Dissonanz, die aber durch die zweimalige Nennung des »über« in eins mit der Interjektion hintergründig wiederum ins Recht gesetzt wird: das emphatische Moment weckt den Zweifel daran, daß hier in befreiter Gelöstheit dem einstmals gesungenen »Purpurwort« die endgültige Überwindung zugesprochen wird, die Gespanntheit läßt vielmehr ahnen, daß Überwindung immer noch aussteht, nur antizipiert ist und vielleicht nie endgültig zu erringen. Wenn das Gedicht in der Rezeption von Formelhaftem und in seiner eigentümlichen Gespanntheit zugleich seine Distanz zu einer unaussprechlichen Wirklichkeit bekundet, so muß solches auch in dem zentralen Begriff des Niemand wiederzufinden sein. Und hier ist denn offensichtlich, daß deutlicher noch als in dem »Nichts« von »Mandorla« die Sprache im Begriff »Niemand« auf sich selbst verweist. In der durch das >Loben< vollzogenen Real-Setzung der hypostasierten Abwesenheit des Schöpfers bekundet das Gedicht zugleich die Unzugänglichkeit von Transzendenz, die nicht ein Gesetztes, sondern selbst Bedingung alles Setzens wäre. Nun ist aber die Erfahrung der »leeren Transzendenz« im Gedicht verknüpft mit der Erfahrung der menschlichen Hinfälligkeit; insofern geht in den Begriff des Niemand auch der Hinweis auf diese (unaussprechliche) Erfahrung mit ein: indem das Gedicht die Paradoxie, die den Niemand bestimmt, nicht wieder aufgibt, sondern durchhält, bezeugt es in diesem Begriff das Bewußtsein der Differenz zwischen seinem eigenen Sprechen und einer positiv ergreifbaren Transzendenz wie der positiv ausgesprochenen Erfahrung realer Negativität. Die Abstraktheit, die dem Niemand auch als zum Du Gewordenem verbleibt, begründet 144

sich von der Unzugänglichkeit der Transzendenz und von der Unsagbarkeit des konkret Erlebten her. In einem allgemeinen Sinne mag Adornos Bemerkung zutreffend sein: »Neue Kunst ist so abstrakt, wie die Beziehungen der Menschen in Wahrheit es geworden sind«,100 mit Bezug auf »Mandorla« und »Psalm« wird man sagen müssen: es ist »die unverstellte Imagination des Grauens«, die unaussprechlich bleibt und die die Sprache nötigt, abstrakte, nicht vom Gegenständlichen absorbierbarc Begriffe zu setzen, in denen zugleich ihre, der Sprache Differenz zu dem - verwehrten - Ausdruck jener Erfahrungen sichtbar wird. Darin liegt für das Gedicht die Notwendigkeit, sich selbst, sein eigenes Sprechen zu reflektieren — eine Selbstreflexion, die dann in zweiter Linie auch als Koinzidenz mit einem allgemeinen Zug moderner Lyrik zu sehen ist. Für das Nichts in Celans Dichtung (wie auch für den Niemand) bedeutet dies, daß es nicht geradlinig auf reale Negativität bezogen werden, nicht als deren direkter Ausdruck verstanden werden kann. Sonst ließe sich nämlich kaum eine Verbindung zwischen dem Nichts in »Mandorla« und dem des »Psalm« finden, und sonst wäre das Nichts lediglich eine - freilich radikale — Metapher; und vor allem: die Interpretation dieser Gedichte im Sinne der Rezeption von Mystik und ihre Interpretation im Hinblick auf den unaussprechlichen Hintergrund realer Erfahrung ließen sich nicht miteinander verbinden, sie wären unterschiedliche Perspektiven, in denen die Einheit des Gedichts zerfiele: die Mystik stellte sich von der anderen Perspektive her als Wirklichkeitsflucht dar, umgekehrt könnte jene andere Perspektive der Mystik als peripher und in Richtung auf ein »Eigentliches« überwunden gelten. Demgegenüber ist darauf zu beharren, daß der Begriff des Nichts, unabhängig von seiner inhaltlichen Füllung, für den Sprachvollzug des Gedichts einen ausgezeichneten Ort darstellt, auf sich selbst zu verweisen, solcherart das sprachlich konstituierte Gegenständliche als sein eigenes zu beglaubigen. Das Selbstbewußtsein bezeugt sich nicht abstrakt als »Sprache schlechthin«, sondern in der Konkretheit des Gedichts, als »aktualisierte Sprache, freigesetzt unter dem Zeichen einer zwar radikalen, aber gleichzeitig auch der ihr von der Sprache gezogenen Grenzen, der ihr von der Sprache erschlossenen Möglichkeiten eingedenk bleibenden Individuation« (Bü 143). Das solcherart seiner Konkretheit bewußte Sprechen stellt die Einheit des Gedichts dar.101 Und von dieser Einheit her begründet sich seinerseits 100 101

Adorno, a.a.O., S. 53. Auf das >Gesprochen-Sein< als Einheit wird vor allem auch bei der Betrachtung der späten Gedichte zurückzukommen sein, deren Einheit hinsichtlich des material Konkreten häufig völlig im Dunkeln bleibt. 145

wiederum der innere Zusammenhang von Mystik und konkreter Erfahrung: beide begegnen sich im Begriff des Nichts nicht als einander fremd und äußerlich, sondern sie kommen als entgegengesetzte Momente eines gleichermaßen Unaussprechlichen in diesem Begriff darin miteinander überein, daß angesichts ihrer die Sprache selbst ihre Begrenztheit erfährt. Wiewohl inhaltlich, in ihrer Wertigkeit, radikal unterschieden, stellen sie beide, darin einander entsprechend, Weisen von Erfahrung dar, die in ihrer Konkretheit, ihrer Unmittelbarkeit sprachlich nicht mehr faßbar sind: daher geht in beiden Hinsichten der Begriff des Nichts nicht direkt auf das nicht objektivierbare Erfahrene, sondern verweist zurück auf die Sprache und deren Bewußtsein ihrer Unzulänglichkeit.102 In diesem Zusammenhang ist an das Wort vom »Verstummen« in der Büchner-Rede zu erinnern. Dies wird gemeinhin im Sinne von Bedrohung aufgefaßt. Bezeichnenderweise steht dort aber, das Gedicht zeige »eine starke Neigung zum Verstummen« (Bü 143). Und der Begriff »Neigung« zwingt, das Verstummen in komplexerer Weise zu deuten: das Verstummen des Gedichts wäre nicht nur dessen Selbstaufhebung, sondern zugleich die mimetische Annäherung an sprachlich nicht artikulierbare Erfahrung, an die Unmittelbarkeit.103 Das Gedicht »behauptet sich« gegen diese seine Neigung, »am Rande seiner selbst«, um seines Sprechens willen. Solche Selbstbehauptung vermittelt ihm eine innere Gespanntheit, die ihrerseits deutbar ist als Bewußtsein der Präsenz des Unaussprechlichen. Die Selbstbehauptung, indem sie gelingt, bezeugt, daß das Gedicht wie überhaupt »Kunst und ein richtiges Bewußtsein von ihr Glück einzig noch in der Fähigkeit des Standhaltens finden«.104 3.4 Das Nichts und die poetische Selbstreflexion In den Gedichten »Psalm« und »Mandorla« spielt der Begriff des Nichts zweifellos nicht die Rolle einer - wenngleich extremen - Metapher für ein bestimmtes, auch anders benennbares Negatives. Vielmehr verweist er auf das Gedicht und dessen Sprachvollzug selbst, indem er den unmittelbaren Bezug zu Gegenständlichem abwehrt. Soweit aber die Sprache, die in diesem Begriff in den Vordergrund kommt, sich selbst als zurückgestoßen von einem Bestimmten, jedoch nicht zu Vergegenständlichenden

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104

Wie aus den oben zitierten Äußerungen Scholems hervorgeht, gilt das auch für das mystische Nichts als Gottesbezeichnung. Dieser Gedanke ist natürlich nicht schlechthin neu; schon Hofmannsthals Chandos-Brief stellt ja dar, wie der >Zerfall< der Allgemein-BegrifFe die Unmittelbarkeit konkreter Erfahrung hervortreten läßt. Adorno, a.a.O., S. 66.

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erfährt, soweit sie also an einem solchen ihre Konkretheit als Begrenztheit erfährt, soweit kann in dieser vermittelten Weise dem Begriff des Nichts selbst die Eigenschaft des Verweisens auf Bestimmtes zuerkannt werden. Die Vermitteltheit des Verweises freilich verhindert, daß das Nichts mit diesem endgültig identifiziert werde, der Begriff bleibt vieldeutig, da ihm Bedeutung immer nur aus dem konkreten Kontext zukommt. Von daher scheint das »Nichts« signifikant für eine bestimmte Art des Gedichts und damit zugleich für einen bestimmten Stand in der Entwicklung der Celanschen Lyrik. Darauf sei zusammenfassend noch einmal hingewiesen. Das Gedicht entfaltet sich in Bewegungen, die dialektisch zu begreifen sind: Es bezeugt im Rückbezug auf sich selbst Wirklichkeit als die seine, deren es andererseits bedarf um seiner Selbsterfahrung willen. Indem es gleichsam den Bereich des ihm Zugänglichen ausmißt, erfährt es ebenso seine Begrenztheit: daß es sprachlich nicht Faßbares gebe, ist eine uralte Erfahrung, die das Gedicht solcherart ständig wiederholt. Die Auffassung, das Unsagbare wachse mit jedem Wort, bezieht sich auf ebendiese Erfahrung, daß das Sprechen, je genauer es ist, desto genauer seine Grenzen erfährt und in gleichem Maße die Präsenz des Unausgesprochenen. Was jeweils inhaltlich als ein Unausgesprochenes und zugleich Unaussprechliches gelten kann, dies bestimmt sich geschichtlich in unterschiedlicher Weise; darin spiegelt sich der geschichtliche Status des Sprechens selbst, das sich in der Auseinandersetzung mit jenem vollzieht. Die Ansicht, Dichtung gewinne jeweils neue Bereiche des Sagbaren hinzu, zeugt von der Veränderlichkeit der Grenzen; diese Ansicht steht nicht im Widerspruch zu der eben genannten vom Anwachsen des Unsagbaren - man darf allerdings nicht der verführerischen Kraft der räumlichen Bildlichkeit solcher Feststellungen verfallen -. Das Unaussprechliche wird dem Gedicht als einer Vermittlungsbewegung zum Unmittelbaren. Wiewohl sich das Gedicht als geschieden von diesem Unmittelbaren weiß, stellt allein dessen Präsenz eine fortdauernde Provokation dar. Daraus entsteht die Hoffnung auf den Gewinn einer Sprache, die dieses unsagbare Unmittelbare dennoch aussprechen, dennoch es vermitteln könnte. Indem das Gedicht solche Versöhnung von Differenz schlechthin als utopischen Stand von Sprache entwirft, beharrt es zugleich auf seinem Status als eines Gedichts, und es tut dies auch in einer anderen Hinsicht, indem es nämlich in seinem konkreten Sprachvollzug seine Wirklichkeit als sprachlich konstituiert zeigt und eben dadurch mittelbar auf eine Sprache verweist, die Wirklichkeit schlechthin in sich aufgenommen hätte. Es ist wichtig zu sehen, daß das Neue gegenüber den früheren Gedichten eben dieses Letztere ist, der vermittelte Hinweis auf

das Utopische durch die Vollendung des Sprechens in seiner Konkretheit, wodurch es gleichsam zum Modell wird für das noch unerreichte Utopische. Dies läßt sich auch dem Schluß von »Mandorla« entnehmen: Menschenlocke, wirst nicht grau. Leere Mandel, königsblau.

Es ist offensichtlich, daß diese beiden Verse das ganze Gedicht zusammenfassen. Aber nicht nur hinsichtlich der inhaltlichen Momente stellen sie eine Konzentration dar. Vielmehr kommt hier, am Ende des Gedichts, der konkrete Sprachvollzug ganz auf sich selbst zurück; der letzte Vers bezeugt dies: er zeigt ein Nennen, das - vorangedeutet in den beiden Nennungen »Das Nichts« und »Der König« (Vers 2 und 5) und ähnlich wie der Vers »Blume - ein Blindenwort« des Gedichts »Blume« sprachliches Setzen und sprachlich Gesetztes zusammenfallen läßt, in solcher Einheit die Vermittlung von Sprechen und seinem Gegenständlichen vollendet und zugleich die Gegenverse 8 und 14, wie diese abgesetzt, mit den Hauptstrophen zusammenführt - ein Nennen, das ebenso ganz in sein Gegenständliches eingeht, wie dieses umgekehrt nurmehr ein Genanntes ist: objektive Einheit, die nicht mehr relativ auf etwas Subjektives ist, sondern dieses in sich aufgenommen hat. Andererseits wurde oben bereits hervorgehoben, die Gegenverse ließen an keinen individuellen Sprecher mehr denken: »Judenlocke, wirst nicht grau« - wer vermag das zu sagen, und wer vermag von dort aus, mit dem genauen zeitgeschichtlichen Bezug und diesen zugleich transzendierend, überzugehen zu dem anderen Vers: »Menschenlocke, wirst nicht grau«? Dieser Vers wendet sich an keinen einzelnen mehr, aber ihn spricht auch kein einzelner. Der Adressat ist das Menschliche schlechthin, menschliches Dasein in seiner ganzen Weite: so zum Menschen zu sprechen, Ewigkeit und Tod in eines fassend, Trost und Zusage, dies hat im Grunde etwas nicht Geheures, auf einen einzelnen Sprechenden fiele es zurück als maßlose Hybris oder als Hohn. Der hier Sprechende, so scheint es, müsse zu allem Individuierten das Andere sein, das Allgemeine: die Sprache. Und es hat den Anschein, als könne im Grunde überhaupt kein wie immer individuiertes Sprechen, auch nicht das eines einzelnen Gedichts, für diesen Vers einstehen, als müsse es die Sprache schlechthin sein, die hier spricht und die, als das Allgemeine und d. h. als das dialektisch Andere zu einem in sich zur Einheit vollendeten konkreten Sprechen, augenblickshaft, für die Dauer dieses Verses, in utopischer Weise vorweggenommen ist, bestimmbar nur dahingehend, daß sie dem Menschlichen schlechthin verbunden ist. 148

Freilich, diese Sprache »gibt es gewiß nicht«, sowenig wie das »absolute Gedicht«, aber es gibt »diesen unerhörten Anspruch« (Bü 14$) und wohl auch dessen Erfüllung: als antizipierte. Wäre derartiges hier präsent, so würde zugleich deutlich, warum das Gedicht an dieser Stelle, mit dem zweitletzten Vers, nicht abbrechen kann: es bedarf der Rückkehr, es muß sich zurücknehmen ins Konkrete. Es wäre auch deutlich, warum das Gedicht nun noch, im letzten Vers, vom >Leeren< spricht. Leer ist die Mandel, weil ihr Inhalt aus ihr herausgetreten ist, die >Leereredenden Hufen< 150

Sprachliches thematisiert ist (wie auch in dem die »Seele« bedeckenden »Schnee«, wenn man diesen als Chiffre des das Innere verbergenden Schweigens verstehen will), abgesehen auch davon, daß das »Nein« bereits auf der inhaltlichen Ebene den dialogischen Charakter des Gesagten akzentuiert, somit den Charakter der Aufforderungen an das Du als den von Sprechakten bezeugt - abgesehen davon also, gibt das »Nein« zugleich den Blick auf den Sprachvorgang frei, den das Gedicht selbst darstellt, und indem es - im inhaltlichen Bereich - das Du auffordert, ein »anderes« >sein zu lassem, macht es mit Bezug auf den Sprachvorgang des Gedichts sichtbar, daß ein einmal Ausgesprochenes nicht mehr zurückzunehmen ist: Jedes im Gedicht einmal gesetzte Wort wird zu etwas Unwiderruflichem, das vorliegende Gedicht wird dem gerecht, indem es in seinem Titel ausdrücklich auch das von dem »Nein« Verworfene bekräftigt. Das Nein wie jede andere bestimmte Negation muß dasjenige, das negiert werden soll, zunächst als ein gesetztes hinnehmen, und gerade der Widerspruch bestätigt erst eigentlich dessen Dasein. Im Bereich der Logik kann eine Behauptung durch die entsprechende Gegenbehauptung restlos negiert werden. Wo es aber wie im Bereich der Dichtung nicht um logische Verhältnisse, sondern um den Ausdruckswert einer Sprachbewegung geht, behält das Ausgesprochene den Vorsprung vor jedem nachlaufenden Widerruf. Je nach dem Grad der Exponiertheit eines Negierten kann dieses entgegen der - dadurch zum Schein werdenden - Intention der Negation sogar erst eigentlich als ein Positives heraustreten. So kommentiert Gadamer den Schluß des Gedichts »Stehen, [...]« (AW 19), nämlich die Worte »auch ohne / Sprache«, folgendermaßen: Ja, wenn der letzte Vers das eine Wort >Sprache< ist, so wird damit >Sprache< nicht nur nachdrücklich betont, sondern >gesetztauch ohne Sprache< noch ein Weiteres. Noch bevor es Sprache ist, noch im stummen Stehen [...] ist es doch schon Sprache. Worin das Zeugnis des Stehens sich ganz kundtun wird und kundtun soll, soll sein. Es soll Sprache sein.1

Mit anderen Worten: das »Stehen [...] auch ohne / Sprache« nennt nicht ein Verhalten, das ohne den Bezug zur Sprache auskommt, sondern eines, dem die Sprache noch fehlt, und d.h. ein Verhalten, das gerade der Sprache harrt, sie fordert. Oben wurde hinsichtlich des Begriffes »Nichts« versucht zu zeigen, daß dieser nicht aus dem Sprachvollzug des Gedichts herauszulösen ist, daß er vielmehr den allgemeinen poetologischen Rückbezug aufgrund seiner Sonderstellung in genauerer Weise sichtbar macht. Es gilt nun 1

Gadamer: Wer bin Ich und wer bist Du?, S. 75.

aber in weiterem Sinne für die Negation überhaupt, daß sie nicht etwa ein von allen übrigen abtrennbares Stilmittel darstellt und vor allem daß sie keineswegs separate Ausdruckswerte vermittelt, sondern daß in ihr gerade sich die Sprechweise und die Struktur des Gedichts in profilierter Weise zeigen. Wenig sinnvoll wäre daher der Versuch einer mehr oder minder ausführlichen statistischen Registrierung ihrer Frequenz, zumal ein solches Verfahren die unbelegte Voraussetzung einschlösse, die Negationswörter hätten immer die gleiche Bedeutung. Sowenig freilich die Frage nach der Negativität in Celans Lyrik an der Negation vorbeigehen kann, so sehr muß sie andererseits dem Rechnung tragen, daß etwa die Negativität sprachlich hervorgebrachter Wirklichkeit nicht an die Verwendung von Negationswörtern gebunden ist: Denn tot sind Engel und blind ward der Herr in der Gegend von Akra, und keiner ist, der mir betreue im Schlaf die zur Ruhe hier gingen. Zuschanden gehaun ward der Mond, das Blümlein der Gegend von Akra: so blühn, die den Dornen es gleichtun, die Hände mit rostigen Ringen. (MG 7) Und vom Inhaltlichen abgesehen, gilt auch für die sprachliche Gestaltung selbst, daß Negativität der Negationspartikel nicht schlechthin bedarf; die Leerzeile etwa als Ausfall der Sprache überhaupt besitzt eine Radikalität, die von keiner Negation eingeholt wird. Daß die Negation dort, wo ein Negatives unverhüllt genannt wird, keinerlei Exklusivität besitzt, zeigt die zitierte Strophe: die Wendung »und keiner ist, der [. ..]« benennt zwar auf indirekte Weise den fehlenden Hüter2 der euphemistisch als der >Schlafenden< angesprochenen Toten, reiht sich aber den direkten Nennungen von >TodBlindheit< und Zerstörung unauffällig ein. Ebensowenig muß der andere Fall besonders hervorgehoben werden, wo Negation und Position einander komplementär ergänzen: Nachts, wenn das Pendel der Liebe schwingt zwischen Immer und Nie (MG 55) Die extreme Spannung zwischen Immer und Nie ist hier nicht nur Ergebnis der Zusammenstellung beider Begriffe, sondern extrem sind beide schon je für sich als die einander entgegengesetzten Endpunkte einer Skala, Endpunkte, die bereits außerhalb des Meßbaren liegen. Diese genaue Ergänzung von Position und Negation im Sinne der Zusammenfügung von Bewegung und Gegenbewegung zu einem Ganzen begegnet noch öfters auch in den späteren Gedichten, dort vor allem mittels der Negationspartikel »un-«: 2

In diesem Sinne wird Franz von Assisi genannt in VS 32.

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Beides gilt: Berührt und Unberührt. Beides spricht mit der Schuld von der Liebe, beides will dasein und sterben.) (SG 40)

Ausdrücklich wird hier >Geltung< dem Ganzen zugesprochen, das die jeweils spannungsvoll aufeinander bezogenen einzelnen Momente umgreift, wobei ein solches Ganzes aber auch insgesamt verworfen - »Unfrist und Frist münzen einander zutode« (AW 57) — oder transzendiert werden kann - »jenseits von Zahl und Unzahl« (FS 42) -. Auffälliger sind diejenigen Stellen, an denen die Negation ein größeres Gewicht erlangt, indem sie weder sich der direkten Benennung eines Negativen eingliedert (wie in der oben zitierten Strophe »Denn tot sind [...]«) noch aber durch eine ihr entsprechende Position aufgefangen wird: Die Hand voller Stunden, so kamst du zu mir - ich sprach: Dein Haar ist nicht braun. So hobst du es leicht auf die Waage des Leids, da war es schwerer als ich ... (MG 12)

Die Bedeutung ist offensichtlich: das Leid hat das Haar weiß werden lassen; gleichwohl wählt das Gedicht die verneinende Aussage »nicht braun«, und es wählt sie offenbar wegen ihrer Vermitteltheit: zugunsten der indirekten Benennung vermeidet es die direkte, und das heißt: es spart etwas aus, es verschweigt. Nun erschöpft aber das Aussparen als ein stilistischer Zug noch nicht die Bedeutung der indirekten Aussage; denn gegenüber der möglichen Formulierung >Dein Haar ist weiß< spiegelt die tatsächliche ein Moment von Bestürzung, sie besagt: das Haar müßte eigentlich noch braun sein, sie drückt also zusammen mit dem Negativen zugleich dessen Unerwartetes aus, die subjektive Reaktion dessen, der da spricht, eine Reaktion, die als ein zusätzlich Mitgeteiltes nur im Umgehen der direkten Benennung präsent ist. Wurde oben gesagt, eine einmal gesetzte Position sei durch keine Negation restlos wieder aufhebbar, so läßt sich nun hinzufügen, daß selbst die für sich gesetzte Negation indirekt auf die Position mitverweist und daß sie als ein Aussparen der Position mit dem Negativen zugleich dessen Bewertung vermitteln kann; die Reaktion des Subjekts war in den vorgestellten Versen eine solche Bewertung, und in einem allgemeineren Sinne ist auch das Aussparen überhaupt nicht ein beliebig gewählter stilistischer Zug des Gedichts, sondern als von einer inneren Notwendigkeit diktierter zugleich eine indirekte Bewertung des Gesagten: das Gemeinte, der Zusammenhang von weißem Haar und Leid, ist dem Gedicht nicht 153

in direkter Weise aussprechbar, es wählt die Umschreibung mittels der Negation - »nicht braun« - und die Metapher - »Waage des Leids«. Es müßte als unsinnig erscheinen, wollte man dieses als ein subjektiv Unaussprechliches von objektiv Unaussprechlichem unterscheiden; indessen gibt es natürlich Nuancen in diesem Bereich, Abstufungen von rein willentlichem Verschweigen bis hin zu der blanken Unmöglichkeit, etwas sprachlich zu fassen, obgleich sich vielfach subjektiver und objektiver Anteil so wenig voneinander absondern lassen wie etwa bei der Bewertung der eigenartig verzauberten Wirklichkeit des folgenden Gedichts: So bist du denn geworden wie ich dich nie gekannt: dein Herz schlägt allerorten in einem Brunnenland, wo kein Mund trinkt und keine Gestalt die Schatten säumt, wo Wasser quillt zum Scheine und Schein wie Wasser schäumt. Du steigst in alle Brunnen, du schwebst durch jeden Schein. Du hast ein Spiel ersonnen, das will vergessen sein. (MG 57)

Noch der letzte Vers repetiert ausdrücklich den Gestus der Abwehr von Identifikation und Festlegung, den die zweite Strophe mittels der Negationen vorführt. Und es mag dementsprechend offenbleiben, ob diese negativen Feststellungen wirklich die Verzauberung eines Märchenhaften meinen oder mit diesem Anklang vielleicht ein Gegengewicht bieten gegen eine ganz andere Ausdeutung, die von der Gestaltlosigkeit des Schatten ausginge. Etwas ausführlicher sei das folgende Gedicht betrachtet: Der Tauben weißeste flog auf: ich darf dich lieben! Im leisen Fenster schwankt die leise Tür. Der stille Baum trat in die stille Stube. Du bist so nah, als weiltest du nicht hier. Aus meiner Hand nimmst du die große Blume: sie ist nicht weiß, nicht rot, nicht blau — doch nimmst du sie. Wo sie nie war, da wird sie immer bleiben. Wir waren nie, so bleiben wir bei ihr. (MG 59)

Den Elementen der evozierten Wirklichkeit ist mit ihrer Schlichtheit zugleich die eigentümliche Verschiebung aus den ihnen ursprünglich zu154

kommenden gegenständlichen Zusammenhängen gemeinsam, eine Verschiebung, die sie zu Zeichen werden läßt, die - im ersten Vers ausdrücklich - auf die Beziehung von Ich und Du und zugleich aufeinander selbst verweisen.8 Diese Beziehung ist bestimmt von zwar rational halbwegs auflösbaren Spannungen, deren wirkliche Auflösung jedoch das Gedicht offenbar nicht eigentlich intendiert. Es sind dies die Spannungen von Nähe und Ferne: »Du bist so nah, als weiltest du nicht hier«,4 zugleich die von Jetzt und Immer5 und diese als Vorausdeutung auf den Schluß des Gedichts mit dessen Spannung von Nie und Immer" und dem Hervorgang der Ständigkeit von »immer« und »bleiben«.7 Dies alles konzentriert sich in der >großen Blumebleiben sie bei ihrweilen< an und in dessen Betonung von Vorübergehendem, Vergänglichem. »Wir waren nie« könnte besagen: wir waren nie die Liebenden, die wir jetzt sind, es bewahrt aber gegenüber dieser rationalen Erklärung das Moment einer paradoxen Selbstaufhebung, aus der erst eigentlich in der Umkehrung die Endgültigkeit des Immer hervortritt. Dem geht ein Übergang voraus, den die Blume selbst vollzieht: »Wo sie nie war« bedeutet zunächst: sie war nie in der Hand des Du, meint aber über diese vergleichsweise platte Ausdeutung hinaus die Einkehr in einen zuvor unbetretenen und vielleicht gar nicht ohne weiteres zugänglichen Bereich. Meinecke, a.a.O., S. 267. Dies, die Blume, die nicht real existiert, klingt an Mallarme an: »Pabsente [fleur] de tous bouquets«.

ISS

Blume nicht farblos sein, vielleicht ist sie - wie in anderen Gedichten Celans — schwarz.9 Ein, wie freilich zuzugeben ist, nur indirekter Hinweis läßt sich vielleicht dem Umstand entnehmen, daß die Reihe »nicht weiß, nicht rot, nicht blau« nicht gänzlich homogen ist: Rot und Blau gehören als die häufigsten Farben zusammen, Weiß jedoch ist nicht eigentlich eine Farbe, es könnte daher in chiastischer Position auf das ebenfalls nicht eigentlich als Farbe zu bezeichnende Schwarz verweisen.10 Diese - zum Teil hypothetische — Deutung käme immerhin dem antithetischen Moment des »doch« - »doch nimmst du sie« - näher als das Verständnis der Blume als »einer vollkommenen Gabe«, und sie berücksichtigte auch stärker das Spannungshafte Element der letzten beiden Verse, wie sie zugleich begreifen ließe, daß sich der einigermaßen reale abgegrenzte Raum der ersten Strophe - »die stille Stube« - verwandelt in einen nicht mehr eigentlich beschreibbaren Bereich: nur noch >Ort überhaupt - »Wo« und »da«. In solcher Aufhebung der Konkretheit vollendet sich die Sprachbewegung des Gedichts hinsichtlich des Entwurfs eines eigenen, nur ihm, dem Gedicht, zugehörigen Raums,11 der sich weder auf die Außenwelt beziehen noch aber sich als Bereich der Innerlichkeit ansprechen läßt (denn er ist intersubjektiv und ein »Innenraum« höchstens des Gedichts, nicht der Subjekte).12 9

10

11

12

Vgl.: »das Reis« treibt »die schwarze, / die Knospe« (VS 30); »hier, wo die Kirschblüte schwärzer sein will als dort« (VS 37); »aus schwärzlichem Laub« (MG 7); »ein schwärzlich Blatt« (MG 8); »Aschenkraut« (MG 16); »ich stell die Aschenblume / ins Glas voll reifer Schwärze« (MG 53). Natürlich besitzen Parallelstellen nur begrenzten Demonstrationswert, auch wenn sie, wie hier, Gedichten entstammen, die chronologisch zusammengehören. Ware dem so, dann wäre wohl auch hier, wie P. P. Schwarz es für andere Gedichte gezeigt hat, der Liebesdialog einer, der über die Grenze zwischen Leben und Tod hinweggeht. Auch wenn man nicht Schwarz' Feststellung folgt, es sei, abgesehen vom »alter ego« des Dichters, jedes Du als das »Du der Toten« zu verstehen (a.a.O., S. 15), so zeigt seine Interpretation doch, daß Liebesgedicht und »Totengedächtnis« einander nicht ausschließen. Die eigentümliche Introversion der Bewegungen, die (vielleicht abgesehen von dem Auffliegen der Taube) die gegenständlichen Elemente der ersten Strophe vollziehen, trägt wesentlich zu der Geschlossenheit des Eigenraumes bei, dem dann auch die Momente der zweiten Strophe ganz immanent bleiben; in gleicher Richtung wirkt die außerordentliche Dichte der formalen Korrespondenzen. Wenn auch schon die frühe Lyrik Celans eine ihr durchaus eigene, nicht mit empirischen Daten ohne weiteres identifizierbare Wirklichkeit entwirft, so läßt sich das als eine entscheidende Voraussetzung für die spätere poetologische Selbstreflexion im Gedicht begreifen, jedoch nicht bereits als deren Vollzug. D. h. das Gedicht begreift hier noch nicht sein Sprechen als konstitutiv für den Aufbau von Wirklichkeit, ebensowenig wie umgekehrt diesen als Bedingung für die Selbsterfahrung; mit dem nach außen abgegrenzten

156

Bedeutsam für den vorliegenden Zusammenhang ist das Gedicht im Hinblick auf die negative Beschreibung des zentralen Elements, der »Blume«. Wie schon in den Paradoxien der Verse 4, 7 und 8 - die Paradoxie rückt ja als überraschende Kombination von Gegenständlichem die »Aussageform«, das Sprechen selbst, in den Vordergrund - wird in der Beschreibung der Blume die Sprache sichtbar, und zwar als das Verschweigende: »sie ist nicht weiß, nicht rot, nicht blau - doch nimmst du sie«: das Gedicht verschweigt die eigentliche Farbe der Blume oder auch deren Farblosigkeit. Indem es die genannten Farben zugleich ablehnt, bildet es aus diesen Nennungen eine negative Reihe, die das eigentliche und positive Wort vorbereitet.13 Dieses aber bleibt aus, die akkumulierte Spannung wird nicht gelöst, jedenfalls nicht in der zu erwartenden Weise. Der Gedankenstrich signalisiert das Moment von Hemmung, das aus der Ungelöstheit der Spannung entsteht. Anstelle des ausbleibenden Erwarteten wird eine Geste des angesprochenen Du genannt, diese besitzt die Qualität einer sprachlosen Antwort. Wo der Sprachvorgang, den das Gedicht darstellt, an eine Grenze gelangt, dort steht im Bereich des Inhaltlichen, also auf einer anderen Ebene, die reine Geste, die von jeher Sprachlosigkeit überbrückt. Der antithetische Charakter des »doch« verrät, daß diese Blume nicht eine beliebige andere Farbe besitzen kann, daß sie vielmehr etwas Außerordentliches sein muß, etwas nicht eigentlich Benennbares. Sichtbar wird hierin ein Sprechen, das in einer dreifachen Negation die Kraft zur Position sammelt und dennoch, da ihm diese versagt bleibt, nurmehr auf ein Ausgespartes und wohl Unaussprechliches verweisen kann. Diese Struktur der spannungerzeugenden Reihung von Negationen, denen auf derselben Ebene keine Position entspricht, begegnet mehrfach in Celans früher Lyrik; zitiert seien nur noch die beiden folgenden Verse:14

13

14

Raum als einem inhaltlichen Moment des vorliegenden Gedichts ist noch nicht dessen Abgrenzung selbst gegen die Erfahrungswirklichkeit (um der Konstitution einer eigenen Welt willen) mitreflektiert. Das bedeutet konkret: die Blume, von der hier die Rede ist, kann nicht wie in dem späteren Gedicht »Blume« auf das Gedicht selbst bezogen werden. Ein sehr eindrucksvolles Beispiel einer solchen negativen Reihe findet sich in Rilkes siebenter Elegie - »Nicht nur die Morgen alle des Sommers [. ..]«-; der schließlich erreichten Position als der Entspannung, Erfüllung und Summe zugleich wird hier eine Weite vermittelt, die sie anders nie besäße. Vgl. auch die schon zitierte zweite Strophe von MG 7 (die allerdings keine Negationswörter verwendet), von VS 31 ebenfalls die zweite Strophe und vor allem MG jo (hier antworten den negativen Feststellungen zwar korrelierende positive, diese sind jedoch ganz deutlich in eine andere Dimension verschoben). 157

Wir trinken, was einer gebraut, der nicht ich war, noch du, noch ein dritter: wir schlürfen ein Leeres und Letztes. (MG 28) Jenes Getränk scheint unbeschreibbar, das >Leere und Letzte< ist allem anderen schlechthin inkommensurabel. In der Reihung verschärft sich die Spannung, die schon in jeder einzelnen Negation liegt, wenn dieser keine Position antwortet. Es ist dies die Spannung zwischen dem Gegenstand und dem als unangemessen und schließlich als überhaupt unzureichend erfahrenen Sprechen. Diese Spannung macht das eigentlich dynamische Moment jeder Negation aus, sie treibt das Sprechen weiter, bis dieses sich im Gewinn des richtigen Worts abschließt oder aber bis der Bereich des Möglichen total ausgeschritten ist: >nicht ich, noch du, noch ein dritterFrage überhaupt und >Lebensbewegung schlechthin^ und dies wird eigentlich eher negativ herausprofiliert, indem jede Bestimmung durch die nächste als defizient entlarvt wird. Da aber die Reihe der Positionen prinzipiell unabschließbar, da eine positive Totalität unerreichbar ist, wird das eigentlich Gemeinte ins Unfaßbare entrückt; und das heißt: die Sprache, die gleichsam gegen ihre eigene Allgemeinheit ankämpft,15 verliert das Gegenständliche schließlich in völliger Unbestimmtheit. Genau das zeigt ein anderes Beispiel: 15

Die zum Teil geradezu hektisch-verkrampfte Sprechweise dieses Gedichts hat zweifellos ihren Grund in dem Gegenstand, von dem es spricht. Darauf wird zurückzukommen sein.

158

[...] ein Knoten (und Wider- und Gegen- und Aber- und Zwillings- und Tausendknoten), [...]· (NR 79)

In der Klammer, also auf einer separaten Ebene, gewissermaßen halblaut und weniger verbindlich, führt das Gedicht geradezu modellhaft das schließlich bis zum Zerbrechen der Sprache - »Tau- / sendknoten« - gehende Bemühen um Präzision vor, das letztlich doch nur der unbestimmten Allgemeinheit der großen Zahl verfällt. Indem freilich das Gedicht solches in die Klammer verbannt, bewahrt es sich selbst vor diesem Verfall.18

2

Negation und Paradoxie

Gegenüber der Reihung von Positionen demonstriert die von Negationen deutlicher das Bewußtsein der Unerreichbarkeit eines Gegenständlichen. Dessen Unzugänglichkeit vermittelt der Sprache die Qualität der Paradoxie. Das Paradoxon enthält ein Moment von Sprachskepsis, indem es auf die Differenz von Sprechen und Gegenstand hinweist und den Anspruch erhebt, »Wahrheit« dort zu vermitteln, wo ein Gegenstand sich der geradlinigen Aussprechbarkeit entzieht. Es ist daher kein Zufall, daß die »Blume«, von der oben die Rede war, ebenso wie jenes Getränk den Charakter des Paradoxen besitzen. Das Unaussprechliche ist prinzipiell paradox, weil es als das schlechthin nicht Objektivierbare dennoch nicht anders denn als ein Gegenständliches gedacht werden kann und weil es als das andere zum Ausgesprochenen dennoch nur von diesem her wahrnehmbar ist, also zwar nicht wirklich ausgesprochen werden kann und doch als präsent demonstriert werden muß. Daß das Paradoxon einer der wichtigsten Stilzüge der Dichtung Celans ist, steht außer Frage. Doch nicht allein deswegen muß ihm im vorliegenden Zusammenhang Beachtung geschenkt werden, sondern weil es gewissermaßen die Negation immer schon »verarbeitet« und weil sich als seine radikale Verschärfung jene Sprachfigur auffassen läßt, in der Position und Negation unvermittelt aufeinander prallen: Der Ort, wo sie lagen, er hat einen Namen - er hat keinen. [...]. (SG 58) 18

Bemerkenswert ist die Spannung zwischen zunehmender Verknappung und plötzlichem Ausbruch in wuchernde Vielfalt. 159

Freilich läßt sich diese Figur überhaupt nur zu den Paradoxien rechnen, wenn gezeigt werden kann, daß der Totalgegensatz nur scheinbar ist. Daß man dem Paradox in Celans Lyrik kaum Willkür unterstellen kann, scheint keiner ausführlicheren Begründung zu bedürfen. Gleichwohl ist der notwendige Zusammenhang des paradoxen Sprechens mit einem als »das Unaussprechliche« nur sehr allgemein Gefaßten genauer zu betrachten. Schwarz betont, die »Dunkelheit« der Celanschen Dichtung sei »Ausdruck einer totalen Reversion des konventionellen Weltverständnisses« als Antwort »auf die schicksalhafte Erfahrung des Todes«:17 »Fast immer sind [. . .] die Paradoxa Celans auf die Erfahrung des Todes zurückbezogen.«18 Man wird diesen Hintergrund erweitern müssen um die Erfahrung auch der jeweils aktuellen Realität; daß ebenso diese letztere die Sprache beeinflußt, betont Celan selbst, wenn er von moderner deutscher Lyrik sagt: »Düsterstes im Gedächtnis, Fragwürdigstes um sich her, kann sie [...] nicht mehr die Sprache sprechen, die manches geneigte Ohr immer noch von ihr zu erwarten scheint.«19 Bedeutsam ist jedenfalls, daß die Paradoxie angesichts der negativen Wirklichkeitserfahrung den Charakter der Notwendigkeit besitzt. Gleichwohl reicht diese letztere Feststellung noch nicht aus, denn sie scheint insgeheim der Dichtung alle Distanz zur Realität abzuerkennen, indem sie offenbar unterstellt, Dichtung steuere geradewegs auf diese Realität zu, deren Negativität von ihr gleichsam unwillkürlich reproduziert werde. Es ist in dieser Hinsicht wichtig zu sehen, daß die Dichtung in der Tat der Negativität der erfahrenen Wirklichkeit nicht entgehen kann, aber nicht, weil sie deren reines Abbild wäre, sondern weil sie über keine private Sprache verfügt, weil sie vielmehr sich der Sprache bedienen muß, in die jene Negativität selbst eingegangen ist. Diesen für Celans Sprachverständnis sehr wichtigen Punkt berührt die Bremer Rede. Celan geht hier weiter als in der anderen Äußerung des gleichen Jahres, in der es heißt: Die Sprache der gegenwärtigen deutschen Lyrik »ist nüchterner, faktischer geworden, sie mißtraut dem >Schönenpoetisiert< nicht, sie nennt und setzt [.. .].«20 Das besagt: »bei aller Vergegenwärtigung der Tradition« kann Sprache angesichts der gewandelten Wirklichkeit nicht mehr auf überkommene poetische Techniken und Qualitäten zurückgreifen, eben um der Angemessenheit an das >Faktische< willen. 17 18 10 20

Schwarz, a.a.O., S. 12. A.a.O., S. 25. Umfrage 19^8, a.a.O. Umfrage 1958, a.a.O.

160

Die Bremer Rede jedoch stellt darüber hinaus mit dem Blick auf die jüngste Vergangenheit fest: Die Sprache mußte hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede. Sie ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah; aber sie ging durch dieses Geschehen. Ging hindurch und durfte wieder zutage treten, »angereichert« von all dem. In dieser Sprache habe ich, in jenen Jahren und in den Jahren nachher, Gedichte zu schreiben versucht, [...]· (Bf I 2 ^)

»In dieser Sprache« - denn Dichtung hat keine andere. >Diese Sprache>, das meint zweierlei: zum einen die deutsche Sprache nach dem Nationalsozialismus, zum anderen offenbar auch die Auffassung, daß die lyrische Sprache sich von der allgemeinen, allen verfügbaren nicht prinzipiell unterscheide. Dieser letztere Punkt bedürfte einer eingehenderen Diskussion; es scheint, als betrachte Celan poetisches Sprechen nicht als eine von anderen Sprechweisen abgesonderte, qualitativ unterschiedene Gestalt von Sprache, sondern eher als eine besondere Aktualisierung von allgemeinen Sprechmöglichkeiten,21 wie er denn auch in der BüchnerRede der »Sprache schlechthin« nicht die poetische Sprache, sondern als »aktualisierte Sprache« die »unter dem Zeichen einer [. . .] radikalen [.. .] Individuation« freigesetzte konfrontiert, die »gestaltgewordene Sprache eines Einzelnen« (Bü 143 f.). Für den vorliegenden Zusammenhang freilich ist der erstere Punkt von größerer Bedeutung: die Auffassung, daß die Verwendung der Sprache zu »todbringender Rede« an ihr nicht spurlos vorbeigegangen sei, vielmehr sich ihr eingeprägt habe, eine Auffassung, die einen gewichtigen Aspekt in den Arbeiten u. a. von George Steiner22 bildet und die letzten Endes von dem Umstand ausgeht, daß die Bedeutung eines Wortes eben von seinem Gebrauch abhängt. Diese Auffassung indessen, daß jene >Anreicherung< eine Dimension der hier und heute verfügbaren Sprache bilde, stellt nun ihrerseits den tieferen Grund dar für eine weitreichende Gebrochenheit des Sprechens, die in manchen der Celanschen Gedichte selbst thematisch wird, etwa in den folgenden Versen: Welches der Worte du sprichst du dankst dem Verderben. (VS 53)

oder in den späteren: 21

22

Zugleich wohl mit dem Anspruch der Repräsentation des Allgemeinen. Dietlind Meinecke teilt eine Äußerung Celans in einem Gespräch vom Juli 1965 mit (a.a.O., S. 29): »Der Niederschlag, den das Gedicht darstelle, wolle den ganzen Raum, das System der Sprache aktualisieren, in diesem begrenzten Raum.« Vgl. insbesondere: Das hohle Wunder. In: Steiner, a.a.O., S. 155-76. 161

[...] Reichtümer an verloren-vergällter Sprache. (AW 43)

In solcher Gebrochenheit, und das heißt: noch über die Doppelgesichtigkeit der Gegenstände hinaus, ist auch die Unausweichlichkeit von Paradoxie zu sehen, und es ließe sich fragen, ob nicht gerade die in den späteren Gedichten bisweilen auffällige Willkür im Umgang mit der Sprache weniger die Verfügungsgewalt über Sprache demonstriert als vielmehr einen Reflex von jener Gebrochenheit darstellt. Die Paradoxie ist nicht an die Verwendung von Negationswörtern gebunden; dennoch läßt sich, wie oben schon gesagt, als ihre einfachste und zugleich strengste Form diejenige auffassen, bei der Position und Negation hart gegeneinander gesetzt sind: Der Ort, wo sie lagen, er hat einen Namen - er hat keinen. Sie lagen nicht dort. Etwas lag zwischen ihnen. Sie sahn nicht hindurch. (SG y8) O einer, o keiner, o niemand o du: [...]. (NR 9) ich weiß und du weißt, wir wußten, wir wußten nicht, [...]. (NR 15)

Die spezifische Spannung der Paradoxie liegt darin, daß die beiden Momente weder einander aufheben wie bei einer mathematischen Operation noch einander in der Art ausschließen, wie das die entsprechenden Urteile in der Logik täten. Wenn es aber nicht um die logische Qualität, sondern um den Ausdruckswert geht und wenn in diesem Sinne das Kontradiktorische nur scheinbar ist, so ist »Spannung« als Bestimmung unzureichend, das sie im Grunde Gleichzeitigkeit dort behauptet, wo es um den Ausdruckswert einer sprachlichen Figur geht, also um etwas an die Diskursivität der Sprache Gebundenes, den Ausdruckswert einer Bewegung. Und das besagt: aufgrund der Diskursivität des Sprechens gewinnt das zweite Moment - und dies ist zumeist das die Negation enthaltende — ein größeres Gewicht: die Negation überholt die Position und wird von ihr nicht wiederum in gleichem Maße relativiert, wie sie selbst das mit dieser tut;23 das zweite Moment rückt die Relationen zurecht, es kann den Anspruch erheben, die Wahrheit des ersten eigentlich erst zu 23

Es dreht sich hier um Relativierung, nicht um Aufhebung. Endgültig aufhebbar ist, wie oben festgestellt, die einmal gesetzte Position nicht mehr.

162

profilieren, indem es dieses einschränkt. Demnach halten die zwei Glieder etwa der oben zitierten Entgegensetzung »wir wußten, / wir wußten nicht« einander nicht völlig in der Schwebe, vielmehr sagt das zweite: unser damaliges Wissen war im Grunde ein Nicht-Wissen: die Spannung des Gegensatzes ist die einer Bewegung, nämlich einer Erkenntnisbewegung. Dies zeigt auch das andere Zitat: »Der Ort, wo sie lagen, er hat / einen Namen«, dies scheint eindeutig; »er hat / keinen«, also ist der Name des Ortes kein wirklicher Name: die negierende Gegenbehauptung hebt die Behauptung nicht schlechterdings auf, sondern modifiziert sie. Von dieser neuen Basis aus läuft die Bewegung weiter: »Sie lagen nicht dort«, an diesem im Grunde namenlosen Ort kann man wohl nicht liegen, denn er ist offenbar auch nicht wirklich ein »Ort«; jedoch: »Etwas / lag zwischen ihnen«, demnach lagen sie dennoch dort, wohl aber nicht in richtiger Weise, sondern getrennt voneinander, die von dem Pronomen »sie« suggerierte Gemeinsamkeit verdeckte offenbar nur die eigentliche Trennung, und zur wirklichen Vermittlung bedarf es nunmehr eines Dritten: Ich bins, ich, ich lag zwischen euch, ich war offen, war hörbar, ich tickte euch zu, euer Atem

gehorchte, [...]. (SG 58)

(Die Paradoxie wird nicht beseitigt, sondern nur genauer begründet, wenn man annimmt, daß diesem »Ort« manche Züge des Nicht-Orts schlechthin, der Utopie, zukommen: auch der Name Utopie ist kein wirklicher Name, und auch sie ist ein Bereich, in dem man sich nicht wirklich aufhalten kann und in dem man sich dennoch in der Antizipation befindet. Und jenes trennende »Etwas«, das dann als Ich spricht, wäre nicht nur »zugleich Zeit und Wort«,24 wie Szondi meint, sondern genauer jene Dimension der Zeit, die eigentlich »offen« ist, nämlich die Zukunft.) Noch ein Beispiel, diesmal ohne Negationspartikel, sei genannt: Ihr gebet-, ihr lästerungs-, ihr gebetscharfen Messer meines Schweigens. (NR 35)

Lautete der erste Vers: >Ihr gebet-, ihr lästerungsscharfen MesserFreisetzung< (Bü 141, 146), »Begegnung« (Bü 144), »Heimkehr« (Bü 147). Dies sind freilich Hilfsbegriffe für etwas, das sich in seiner Bindung an individuelle Existenz nicht allgemein aussprechen läßt und das sich vielleicht als das überhaupt Ausstehende nicht sprachlich fassen läßt, indem es in den Bereich der »Utopie« (Bü 145) verweist. Die Bedeutung von »Atem« als des unmittelbar Lebendigen, das der Sprache die Richtung weist, kehrt wieder auch im letzten Vers des Gedichts »Schuttkahn«: »[...] erreicht / das hellgeatmete Nein«. Das >Helle< ist Ausdruck für eine kaum umschreibbare Positivität, es meint wohl im weiteren Sinne auch Transparenz des Lebendigen für etwas wie »Sinn« überhaupt, also auch hierin: Richtung. Das Ziel dieser Richtung ist erreicht mit dem »Nein«. Das Nein im Schlußvers der zweiten Strophe bezieht sich auch als Antwort auf das »Warum« im Schlußvers der ersten. Jenes Warum steht für die Frage überhaupt, für die Offenheit der Frage, damit auch für eine bestimmte Haltung des Suchens, des Hinausgehens über das Faktische. Dies ist negiert in der Gestalt des >toten< Warum: Leblosigkeit und damit Sinnlosigkeit derartigen Fragens, allgemein: eine ehemals lebendige, nun aber abgestorbene Suche nach Begründung, nach Orientierung. In diesem Sinne ist der oben festgestellte Gleichmut das verlorene, abgestorbene Verlangen nach solcher Orientierung, wenn man so will: nach Wirklichkeitserkenntnis. Das passive Einverständnis mit dem Gegebenen bezeugt den Ruin von »Sinn« überhaupt. Dagegen setzt das Gedicht das »Nein«. Das Wort »Nein«, das ja inhaltliche Bedeutung nur erlangt aus der Beziehung zu jeweils Vorhergehendem, ist hier absolut gebraucht. Seine Beziehungslosigkeit läßt die Abwehr als total erscheinen, als Verweigerung schlechthin. Ebendies aber gilt jetzt als Erfüllung. Und wenn >hellgeatmet< bedeutet: dem Lebendigen unmittelbar verbunden, so eignet dem hellgeatmeten Nein die Entschiedenheit einer Antwort vom Lebendigen her, die die ganze Dimension des Fragens aufhebt, indem sie sie positiv erfüllt. Das »Nein« vereinigt mehrere Aspekte. Als »hellgeatmetes< repräsentiert es ein unmittelbar Lebendiges, das in seiner Unmittelbarkeit nicht artikulierbar ist und das den Abschluß einer Bewegung darstellt, die ihrerseits mit der unbegreiflichen Befreiung des >Leichterns< einsetzte. Dieses Ereignis war dem Gedicht diskursiv »darstellbar« nur im Modus auch Goethes »Im Atemholen sind zweierlei Gnaden«, in: Talismane. Westöstlicher Divan. Buch des Sängers. In: Werke. Hamb. Ausg. Bd. 2. München »1972, S. lo.)

der Leerzeile. Darüber hinaus geht nun das Nein als ein Wort des Gedichts, als sein letztes und endgültiges: in diesem Wort ist das unmittelbar Lebendige präsent, und zwar zugleich in sprachlicher Verfassung, aufgehoben in eine utopische Sprache, die freilich zugänglich nur ist in einem negativen Aspekt, in ihrer Abgehobenheit, übersetzbar nur in die sprachliche Geste einer reinen Verweigerung. Was das Gedicht vorführt, ist, wenn man es so abstrakt fassen will, der unbegreifliche Umschlag von Negativität in Positivität: die (freilich nicht aus eigener Kraft vollbrachte) Befreiung von erduldeter sinnentleerter, lebloser Wirklichkeit und - über paradoxe, die Grenzen zwischen Menschlichem und Nicht-Menschlichen, Materiellem und Immateriellem nichtachtende Veränderungen hinweg — das Erreichen eines schlechthin Positiven. In diesem Ziel werden Begrenztheit und Auszeichnung des dem Gedicht verfügbaren Sprechens zugleich sichtbar: die Gebrochenheit eines Sprechens, das ein Positives nicht geradlinig auszusprechen vermag, das vom totalen Ausfall der Sprache in der Leerzeile über die offenbar unumgängliche Verwendung von Paradoxien nur zu einer beziehungslosen Negation gelangt, und zugleich die Auszeichnung ebendieses Sprechens darin, daß in der Negation das schlechthin Positive dennoch als präsent zu denken ist. Paradox ist somit das hier und jetzt verfügbare Sprechen im ganzen, das Sprechen nämlich, dessen Bemühung um Positives sich in einer absolut gebrauchten Negation vollendet, paradox ist dann aber auch die Existenz der »wir« überhaupt, deren gleichlaufende Bemühung Abschluß findet in einer reinen Verweigerung. Das Nein als letztes Wort des Gedichts hat aber schließlich nicht nur die Richtung auf jenes Unaussprechbare, sondern auch die zum Leser: aufgrund seiner Bezugslosigkeit gibt es die an dem Unbegreiflichen erfahrene Verweigerung an den Leser weiter; d. h. es besitzt von dem entzogenen Gegenständlichen her Notwendigkeit, als Wort ist es aber zugleich auch ein vom Gedicht Gesetztes: das Gedicht vollzieht selbst dem Leser gegenüber die Geste der Verweigerung, es setzt ein ihm, dem Gedicht, eigenes Wort als sprachliches Pendant zu dem Unaussprechbaren der Leerzeile. Das als total beziehungslos gesetzte Nein zeigt an, daß das Gedicht sich seiner Differenz zu jenem Unaussprechbaren bewußt ist, und vermittelt ihm zugleich die Möglichkeit, in einem ihm eigenen Wort das Unsagbare zu spiegeln.

174

IV Utopie i

Die Büchner-Rede

Jede, auch die für sich gesetzte Negation bringt die Position mit, die sie negiert. Dies gilt zuerst in formaler Hinsicht. Es gilt in abgewandelter Gestalt auch dort, wo Inhaltliches, die poetische Wirklichkeit, unter dem Zeichen der Negativität erscheint, nur daß hier das Positive nicht einfach mit da ist, nicht einfach vorausgesetzt werden kann, sondern im Grunde utopische Qualitäten besitzt. Vom Utopischen war bislang des öfteren die Rede, vor allem im Hinblick auf die Sprachproblematik, auf eine - eben letztlich utopische - Sprache, die alles jetzt und hier der Sprache sich Verweigernde dennoch sprachlich zu fassen vermöchte. Wenn »utopisch« mehr meinen soll als nur »irreal«, dann schließt der Gedanke einer utopischen Sprache freilich zugleich den eines utopischen Standes menschlicher Existenz mit ein. Welchen Sinn könnte die Intention haben, etwas, das sich der Sprache entzieht, dennoch sprachlich zu gewinnen, wenn nicht den, daß in solchem Gewinn zugleich der einer menschlichen Wirklichkeit beschlossen liegt, die »Identität des zu sich gekommenen Menschen mit seiner für ihn gelungenen Welt« (Bloch). Solcherart inhaltlich aufgefaßt, als »Wunschbild«, begegnet Utopisches auch in Celans Dichtung, allerdings, wie zu zeigen sein wird, nicht nur in dieser Hinsicht allein. Schon der Begriff der Utopie, wie ihn die Büchner-Rede einführt, ist komplexer. Celan spricht dort von der »U-topie« und aktualisiert in dieser Schreibung bereits einen bestimmten Aspekt des Utopischen. Toposforschung? Gewiß! Aber im Lichte des zu Erforschenden: im Lichte der U-topie. Und der Mensch? Und die Kreatur? In diesem Licht. (Bü 145)

Es hat den Anschein, als tauche der Begriff hier ganz unvermittelt auf. Tatsächlich aber ist er schon des längeren vorbereitet. »Toposforschung« läßt sich auf die unmittelbar vorher genannten »Tropen und Metaphern« beziehen, meint aber zugleich mehr. »Toposforschung« ist Ortssuche; von »Orten«, von »Richtungen« und »Wegen« spricht die gesamte BüchnerRede, sie spricht davon »um des Ortes der Dichtung [...] willen« (Bü 140): Toposforschung ist in einem allgemeineren Sinne auch die Suche nach dem Ort der Dichtung überhaupt. Wiederum empfängt auch hier die Ausrichtung auf ein Allgemeines ihren Sinn aus dem Bezug auf das Individuelle: die Frage nach dem »Grund« der eigenen Dichtung weitet i/S

sich zu der nach Dichtung überhaupt, Toposforschung als Suche nach dem Ort der Dichtung empfängt letztlich ihren Sinn aus der Toposforschung als der Suche nach dem »Ort meiner eigenen Herkunft« (Bü 148). Von diesem letzteren »Ort«, nun vor allem in geographischer Bedeutung, hat bereits die Bremer Rede eine »topographische Skizze« (Br 127) zu geben versucht. Auch von dort her konnte schon deutlich werden, daß die Frage nach der Dichtung und die nach der individuellen Existenz eng zueinandergehören. Doch zurück zur Büchner-Rede. Eingangs spricht die Rede noch gar nicht von der Dichtung, sondern von der Kunst, und zwar anknüpfend an das Werk Büchners. Bei Büchner begegne Kunst als »Affengestalt« (»Woyzeck«), in Gestalt zweier »Automaten« (»Leonce und Lena«) und als »Medusenhaupt« (»Lenz«). Mit Bezug auf dieses letztere sagt Celan: »Das ist ein Hinaustreten aus dem Menschlichen, ein Sichhinausbegeben in einen dem Menschlichen zugewandten und unheimlichen Bereich«: bei der Kunst handelt es sich um »alte und älteste Unheimlichkeiten« (Bü 138), sie besitzt eine irritierende, ja, bestürzende Affinität zum Außermenschlichen, sie birgt die Gefahr, daß »das Natürliche« (Bü 138), um das es ihr geht, unter ihren Händen zu Stein wird. Wie bereits die Bremer Rede die der Sprache eingeprägte Negativität betont, so ist auch hier >das Unheimliche< der Kunst überhaupt zugehörig. Man muß dies im vollen Wortsinn nehmen, wenn Celan dem Natürlichen und Kreatürlichen< (Bü 137), dem Lebendigen die Kunst unter dem Aspekt des »Unheimlichen und Fremden« (Bü 139) konfrontiert und wenn er von daher fragt, ob man, »wie es jetzt vielerorts geschieht, von der Kunst als von einem Vorgegebenen und unbedingt Vorauszusetzenden ausgehen« (Bü 138 f.) dürfe und ob nicht Dichtung die solcherart aufgefaßte Kunst in Frage zu stellen habe (Bü 138), indem sie sie nicht als Faktum hinnehme, sondern als Aufgabe, als »Weg« (Bü 139) betrachte. Was jedoch geschieht mit der Dichtung, wenn sie diesen Weg zu beschreiten unternimmt? Verfällt sie dem Unheimlichen, oder kommt sie »— doch wo? doch an welchem Ort? doch womit? doch als was? - wieder frei?« (Bü 139). »Ort« meint nicht eine bestimmte Lokalität, nicht einen statisch festgelegten, umgrenzten Bezirk, sondern zielt auf die Frage nach Gestalt, Charakter, Wesen der Dichtung, auf die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit einer Dichtung, die einerseits dem individuell Menschlichen verbunden ist,1 die ihren Ursprung in einem existentiellen Moment 1

Nur scheinbar spricht die Büchner-Rede von Dichtung und Gedicht so, als seien diese die autonomen Subjekte der von ihnen vollzogenen Bewegungen.

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hat, dem je individuellen »20. Jänner« 2 eines jeden Gedichts (Bü 142; vgl. auch Bü I4/), 3 und die andererseits teilzuhaben hat an Kunst, d. h. der die Kunst auch als das Mechanisch-Künstliche (»Automaten«), das unheimlich Außermenschliche, Nicht-Natürliche (»Medusenhaupt«) konfrontiert ist, und zwar im Sinne einer Aufgabe. Zwischen diesen beiden Momenten sieht Celan eine enorme Spannung, durch die die Dichtung hindurchzugehen hat. »Gedichte seien nicht nur Kunstwerke«, sagte er in einem Gespräch. »Es gebe Artistik, und sie könne von höchstem Rang sein, aber es gebe auch eine andere Sprechweise, die das Artistische nicht umginge, sondern durch es hindurchginge.«4 Durch das Artistische, und das heißt in der Akzentuierung der Büchner-Rede, durch das Unlebendig-Außermenschliche, das Unheimliche der Kunst hindurchgehen bedeutet in gewisser Weise: Kunst »überwinden«, eine Art »Befreiung«. Gelingt dem Gedicht5 dies, gelingt es ihm, das Medusenhaupt >schrumpfenSelbstbegegnungLucilesches< Gegenwort« meint hier vielleicht nicht nur die Darlegungen der Büchner-Rede, sondern darüber hinaus seine Dichtung selbst, so wie bereits mit Luciles »Wort«, ihrem »Akt«, die Dichtung begegnet (Bü 136 und 140) - wiederum ein Hinweis darauf, daß Dichtung als Vorgang, Bewegung, Richtung gedacht wird, nicht so sehr als ein Faktisches und Fertiges.

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(Bü 142), »es braucht dieses Andere, es braucht ein Gegenüber«, »es wird Gespräch« (Bü 144): Wir sind, wenn wir so mit den Dingen sprechen, immer auch bei der Frage nach ihrem Woher und Wohin: bei einer »offenbleibenden«, »zu keinem Ende kommenden«, ins Offene und Leere und Freie weisenden Frage - wir sind weit draußen. Das Gedicht sucht, glaube ich, auch diesen Ort. (Bü 145)

Hier hält Celan inne: Das Gedicht? Das Gedicht mit seinen Bildern und Tropen? [...], wovon spreche ich denn eigentlich, [·..]? Ich spreche ja von dem Gedicht, das es nicht gibt! Das absolute Gedicht - nein, das gibt es gewiß nicht, das kann es nicht geben! Aber es gibt wohl, mit jedem wirklichen Gedicht, es gibt, mit dem anspruchslosesten Gedicht, diese unabweisbare Frage, diesen unerhörten Anspruch. (Bü 145)

Hans Mayer hat dies als bewußten »Gegenentwurf« 8 gedeutet gegen Benns Position, wie sie in dessen Rede »Probleme der Lyrik« zum Ausdruck kommt: »das absolute Gedicht, das Gedicht ohne Glauben, das Gedicht ohne Hoffnung, das Gedicht an niemanden gerichtet, das Gedicht aus Worten, die Sie faszinierend montieren.«9 So sehr sich dieser Auffassung die Celansche in der Tat Zug um Zug entgegensetzen läßt — das absolute Gedicht besitzt dennoch »diesen unerhörten Anspruch«; und »diese unabweisbare Frage« scheint ausdrücklich der vorher genannten »ins Offene und Leere und Freie weisenden Frage« parallelisiert. Ja, dieser Anspruch bestimmt die Gestalt des Gedichts mit: Und was wären dann die Bilder? Das einmal, immer wieder einmal und nur jetzt und nur hier Wahrgenommene und Wahrzunehmende. Und das Gedicht wäre somit der Ort, wo alle Tropen und Metaphern ad absurdum geführt werden wollen. (Bü 145)

Der Begriff »Bild« erlangt hier eine erweiterte Bedeutung: als das »Wahrgenommene« ist »Bild« nicht nur literarisches Bild, sondern nun auch dasjenige, das dem »Wahrnehmenden, dem Erscheinenden Zugewandten, dieses Erscheinende Befragenden und Ansprechenden« (Bü 144) begegnet, es ist das »Andere«, das »Gegenüber« des »Gesprächs«, das sich 8

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Hans Mayer: Lenz, Büchner und Celan. Anmerkungen zu Paul Celans Georg-Büchner-Preis-Rede. In: H. M.: Vereinzelt Niederschläge. Kritik, Polemik. Pfullingen 1973, S. 160-171, hier: S. 162. Gottfried Benn: Gesammelte Werke. Hg. v. Dieter WellershofT. Bd. i. Wiesbaden 1959, S. 524. 179

»um das es ansprechende und nennende Ich« (Bü 144) »versammelt« als das »Wahrzunehmende«, und das heißt: als das in seiner >Wahrheit< zu Begreifende.10 »Tropen und Metaphern« werden in der Tat ad absurdum geführt, wenn ihnen, den rhetorischen Hilfsmitteln, die Wahrheit des Erscheinenden zugemutet wird von einem Gedicht, das nicht so sehr als kunstvolle Sprachgestalt zu begreifen ist, sondern vielmehr als das »kunst-lose« (Bü 142) Gespräch »mit den Dingen« selbst (Bü 145)." Wahrnehmung im Sinne der Apperzeption wie im Sinne der Zuerkennung eines Wahrheitsanspruchs gehören dort zusammen, wo »Wirklichkeit« nicht als vorgegeben gilt, sondern erst »gesucht und gewonnen sein« will.12 Hier setzt die Frage nach der Toposforschung ein: »Toposforschung? / Gewiß!« (Bü 145). Das »Gewiß!« ist ironisch, soweit Toposforschung jene Art von Literaturwissenschaft meint, die sich mit der Katalogisierung rhetorischer Fertigteile begnügt. Es ist gänzlich ohne Ironie, soweit Toposforschung die Suche nach dem Ort der Dichtung meint, dem Ort, an dem mit der Freisetzung der Person, des Ich, zugleich die der Dich10

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Erst diese Art der Wahr-Nehmung läßt das Erscheinende voll als das »Andere« in der Ich-Du-Beziehung des Gesprächs heraustreten, gesteht diesem anderen seine >Andersheit< zu. Ähnlich wurde oben »nicht der Künstler« Lenz und der »mit Fragen der Kunst Beschäftigte« als »der wahre« bestimmt, sondern »die Person«, Lenz »als ein Ich« (Bü 140), denn der Künstler »ist selbstvergessen. Kunst schafft Ich-Ferne« (Bü 139). (Diese Ich-Ferne wiederum - auch daher die Forderung an die Dichtung, durch die Kunst gleichsam hindurchzugehen - ist Voraussetzung für die Rückkehr zu sich selbst, die >SelbstbegegnungRhetorischenStilWohllauts es geht mir um Wahrheit.« (Zit. nach Firges, a.a.O., S. 153.) Und in der bereits zitierten Antwort auf eine Umfrage desselben Jahres heißt es von der Sprache der neueren deutschen Lyrik: »sie mißtraut dem >SchönenMusikalität< an einem Ort angesiedelt wissen will, wo sie nichts mehr mit jenem >WohIklang< gemein hat, der noch mit und neben dem Furchtbarsten mehr oder minder unbekümmert einhertönte«; diese Sprache »verklärt nicht, >poetisiert< nicht, sie nennt und setzt« (Umfrage 1958, a.a.O.). Tropen und Metaphern (vgl. »Metapherngestöber«, AW 85), Wohllaut, das Schöne, Musikalität geraten in den Verdacht der Lüge (>Lüge< der »bebilderten Sprachen«, NR n), indem sie nicht nur infolge ihrer Tendenz zur Verabsolutierung der ästhetischen Gestalt auf die reale Inhumanität nicht reagieren, sondern in einem tieferen Sinne überhaupt Sprache als fungibel erscheinen lassen und sie so der Lüge dienstbar machen. Umfrage 1958, a.a.O.

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tung erfolgt, dem Ort, an dem das Gegenüber >wahrgenommen< wird und sich die »Begegnung« mit dem Anderen vollzieht, dem Ort, in den die Frage nach dem »Woher und Wohin« der Dinge verweist und an dem Tropen und Metaphern »ad absurdum geführt werden wollen«. Dieser »Ort« ist nicht schlechthin auffindbar, er ist zu denken als ein Ziel, das Dichtung zur Bewegung werden läßt und das gerade in dieser Bewegung Präsenz gewinnt. Das Gedicht ist einsam. Es ist einsam und unterwegs. Wer es schreibt, bleibt ihm mitgegeben. Aber steht das Gedicht nicht gerade dadurch, also schon hier, in der Begegnung - im Geheimnis der Begegnung? (Bü 144)

Diese Beschreibung gilt dem Gedicht, nicht dem Dichter, sie zeigt, daß jenes die Existenzbedingungen mit diesem gemein hat. >Einsam< bedeutet: als »gestaltgewordene Sprache« (Bü 144), somit als Gestalt ist das Gedicht abgeschlossen, unveränderlich, unterliegt es den Bedingungen der Individuation, ist es für den Leser und Hörer selbst ein Fremdes, ein anderes.18 >Unterwegs< bedeutet: als »Erscheinungsform der Sprache« (Br 128) ist das Gedicht unabgeschlossen, offen für den Leser und Hörer, ja, dessen bedürftig, und zwar offen in der Weise, daß es in der Rezeption nicht untergeht, sondern immer erneut gehört werden, also niemals endgültig ankommen kann. Dennoch ist eine solche endgültige Ankunft, das immerfort ausstehende Ziel, immer auch schon vorweggenommen in der je aktuellen Begegnung; im »Unterwegssein« (Br 128) liegt die Ankunft schon beschlossen. Wovon Celan hier spricht, ist das logisch so merkwürdige Phänomen der Antizipation. Diese begründet, daß das Gedicht zwar ständig »unterwegs« ist, aber »gerade dadurch, also schon hier, in der Begegnung« steht; sie begründet ebenso, daß Zukünftiges, noch Ausstehendes vorwegnehmend vergegenwärtigt werden kann und dennoch ein Nicht-Wirkliches bleibt, »U-topie«. Mehrfach unterstreicht Celan die Priorität der Gegenwart. Dafür zwei Stellen: das Gedicht ist »seinem innersten Wesen 13

Man wird dem vollen Sinn des Gegensatzes (»aber steht das Gedicht nicht [...]«) hier wie an der entsprechenden früheren Stelle (»Aber das Gedicht spricht ja! Es bleibt seiner Daten eingedenk, aber - es spricht.«, Bü 142) nur gerecht, wenn man sich der Tendenz der Introvertiertheit (gemeinhin gewertet als Indiz für Hermetik) bewußt ist, die hier in der eigentümlich betonten >Einsamkeit< und dort im Selbstbezug des seiner Daten EingedenkBleibens liegt (übrigens wirft dies ein bedeutsames Licht auf die »Neigung« zum Verstummen). Nur dann ist die Spannung zu ermessen, die zwischen dem dem Gedicht notwendigen Bezug zu Anderem besteht und seinem ihm ebenso notwendigen Beharren auf seiner »radikalen [...] Individuation« (Bü 143). 181

nach Gegenwart und Präsenz« (Bü 144), und: »man kann verschiedene Akzente setzen: den Akut des Heutigen, den Gravis des Historischen auch Literarhistorischen -, den Zirkumflex — ein Dehnungszeichen — des Ewigen. / Ich setze - mir bleibt keine andere "Wahl -, ich setze den Akut« (Bü 136). Priorität der Gegenwart14 bestimmt das Verhältnis zur Zukunft, bedeutet nicht so sehr den das Gegenwärtig-Wirkliche entrealisierenden Entwurf auf Zukunft hin, sondern deren Antizipation um des Gegenwärtigen willen, die Frage nach dem hier und jetzt Wirklichen, nach Mensch und Kreatur, im Lichte des vergegenwärtigten Zukünftigen. In der Büchner-Rede, die über weite Strecken so zögernd und tastend vorwärts geht, fallen Passagen wie die vorherige, die den »Akut des Heutigen« herausstellte, und wie die jetzige, die von der Utopie als dem »zu Erforschenden« spricht, durch ihre Festigkeit und Entschiedenheit auf. Beide lassen sich aufeinander beziehen: Gegenwart ist zu denken als das Medium der Zukunft;15 d. h. Celan aktualisiert im Sinne der Priorität der Gegenwart nicht so sehr den futurischen Aspekt der Utopie als vielmehr denjenigen, unter dem sie der Gegenwart erscheint; in dieser Hinsicht aber ist Utopie das Ortlose schlechthin, das Ungegenständliche, das dennoch nicht von den Dingen, die jeweils ihren Ort besitzen, zu trennen ist. Ebenso notwendig wie das Gedicht als »Gespräch« »mit den Dingen« zur Frage nach deren »Woher und Wohin« gelangt und so »ins Offene und Freie« verwiesen wird, also ins Ortlose, ebenso notwendig ist diesen Dingen, ist Mensch und Kreatur das Licht der Utopie, um überhaupt sichtbar, >wahrnehmbar< zu sein. Die Forderung, Utopie >zu erforschennicht ganz furchtlose< Intention auf Kommendes, die zugleich eine Relativierung ihres, der Worte Geltungsanspruchs (die »unsichtbar zugelächelten Anführungszeichen«) darstellt, wobei diese Intention als etwas über »die Worte Hinauslauschendes« beschrieben wird, das Kommende also als etwas nicht recht Hörbares oder überhaupt Unhörbares, das aber wohl dem Hörbaren und somit Gegenwärtigen gesellt ist, vielleicht als eine Art Beiklang. Der Darstellung dieses Zusammenhangs kommt in eminenter Weise Celans Vorliebe für die Erläuterung zeitlicher Beziehungen im Sinne von räumlichen

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Utopie nicht als fernes Zukünftiges, sondern als das Licht, das Hiesiges und Heutiges zeigt, läßt sich verstehen als (noch) nicht realisierte Möglichkeit, in deren Licht die Wirklichkeit des Gegenwärtigen sichtbar wird, und das heißt: als dasjenige Offene, Leere und Freie, das dem jeweils Vorfindlichen, Gegebenen zugehört, ohne doch objektiviert werden zu können. Gilt es jedoch, Mensch und Kreatur in der geforderten vorbehaltlosen Weise im Licht der Utopie zu sehen, dann läßt sich von ihnen in letzter Konsequenz gar nicht mehr anders als paradox sprechen. Sprechen überhaupt hat mit der ihm immanenten Tendenz zur »Aussage« die Neigung, Gegenständliches zu fixieren, erstarren zu lassen. Und gerade dies hebt Celan ja als >Unheimlichkeit< der Kunst hervor, nämlich daß sie Lebendig-Bewegliches in der >Gestalt< fixiert, daß sie wie ein Medusenhaupt das Natürliche zu Stein werden läßt. Zwischen diesem Aspekt der Kunst auf der einen und der Utopie auf der anderen Seite besteht demnach ein radikaler Gegensatz, da kraft der letzteren dem Gegenständlichen gerade etwas Ortloses, Nicht-Fixierbares zugehört, etwas, das das Fixierbare als ein solches sichtbar macht und es damit zugleich auch schon relativiert, etwas, das Wirklichkeit nicht fest-stellt, sondern von ihren Möglichkeiten her denkt, Wirklichkeit sucht und entwirft. Ihre außerordentliche gedankliche Konsequenz und Einhelligkeit zeigt die Büchner-Rede darin, daß sie mit Bezug auf das Gedicht der Utopie als der Offenheit des Gegenwärtigen gerecht zu werden versucht, indem sie die dichterischen »Gegenstände« nicht als dasjenige vorstellt, das ausgesprochen und über das gesprochen wird, sondern als das »Gegenüber« des »Gesprächs«, als das angesprochene Andere, das sein »Anderssein«, und das heißt: seine Eigenständigkeit und Unverfügbarkeit bewahrt, gerade wenn es sich um das sprechende Ich »versammelt« (Bü entgegen. So sehr dies einer allgemeinen Tendenz des Denkens entsprechen mag, so fällt doch auf, daß (abgesehen davon, daß Raumbegriffe überhaupt im Vordergrund stehen, vgl. »Ort«, »Richtung«, »Weg«) bei Celan mehrfach zeitliche und räumliche Begriffe einander genau entgegengestellt werden. Schon die Bremer Rede legt dar, das Gedicht sei »nicht zeitlos«, erhebe aber einen »Unendlichkeitsanspruch« (Br 128; vgl. auch »Unendlichsprechung von lauter Sterblichkeit«, Bü 146); gegen die Bedrohung durch die Vergänglichkeit (»Immcr-noch« und »Schon-nicht-mehr«) behaupte sich das Gedicht »am Rande seiner selbst« (Bü 143); Kunst besitze als »ewiges« Problem (Bü 134) die »Gabe der Ubiquität« (Bü 136); das Gespräch sei der »Raum«, in dem das dem anderen Eigenste, dessen »Zeit« mitspreche (Bü 144 f.); und selbst eine weniger auffällige Wendung wie »Ich habe vorgegriffen, hinausgegriffen - nicht weit genug« (Bü 139) deutet das Spätere als das Fernere. Erwähnenswert ist dies alles, weil es einen Hintergrund abgibt für die Priorität der Gegenwart und so die Auffassung der Utopie als der U-topie mitträgt. 183

144 f·)·17 Darum ist die Begegnung zugleich das »Geheimnis« (Bü 144), das Rätselhafte, in dem das andere sich als Unverfügbares dauernd entzieht und als Entzogenes dennoch begegnet. Auch hier bleibt die >radikale Individuation< bewußt, der der Dichter wie das Gedicht unterliegen und die nicht nur Möglichkeiten erschließt, sondern auch Grenzen zieht (Bü 143). So schließt die Passage, die vom Licht der Utopie handelt folgendermaßen: Und der Mensch? Und die Kreatur? In diesem Licht. Welche Fragen! Welche Forderungen! Es ist Zeit, umzukehren. (Bü 145 f.)

Das Außerordentliche dieser Fragen und Forderungen liegt wohl darin, daß in ihnen das Gedicht an die Grenze seiner Kompetenz gelangt. Die Frage, die das Offene, Leere, Freie zu erschließen versucht, die Forderung, in der Ortssuche das Ortlose >zu erforschenselbstvergessene< Ich (Bü 139) zur — freilich immer erneut zu leistenden - Selbstbegegnung zu führen: »Ich bin ... mir selbst begegnet« (Bü 147). Denn Gedichte sind »Daseinsentwürfe vielleicht, ein Sichvorausschicken zu sich selbst, auf der Suche nach sich selbst... Eine Art Heimkehr« (Bü 147). Eine »Art« Heimkehr wohlgemerkt, also nur Vorwegnahme einer endgültigen, utopischen Heimkehr, Vorwegnahme »im Lichte der U-topie«, das in »die der Dichtung um einer Begegnung willen aus einer vielleicht selbstentworfenen - Ferne oder Fremde zugeordnete Dunkelheit« (Bü 141) fällt.18 17

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Wenn oben immer wieder von der vom Gedicht entworfenen Wirklichkeit die Rede war in dem Sinne, daß in diesem Entwurf das Gedicht sich als sprechend begreife (eben weil das Entworfene nicht einfach »Eigentum« des Gedichts ist, sondern ein dem Sprechen gegenüber anderes, an dem jenes sich erfährt), so wurde offensichtlich von den Gedichten her dasjenige Verhältnis von Sprechen und »Ausgesprochenem« konstatiert, auf das die BüchnerRede hier abzielt. Der >unerhörte Anspruch< macht in seiner Unerfüllbarkeit die »Widerruf-

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Utopie und Negation - Utopie als Denk- und Anschauungsform

Toposforschung im Lichte der Utopie und dabei diese letztere als das zu Erforschende, also Ortssuche im Lichte des Ortlosen, das selbst das zu Suchende ist, dies bedeutet konkret: das Vorfindliche und Faktische, Erscheinende und Wahrnehmbare so anschauen, daß dabei das an ihm jeweils nicht Fixierte, das Offene in den Blick kommt; es bedeutet: das Wirkliche auf seine Möglichkeiten hin denken. Das ist eine völlige Umkehrung der gewohnten Perspektive. Das Gedicht, das solcherart die Dinge gleichsam gegen den Strich sieht und denkt, das das Gegenständliche im Lichte des diesem selbst zugehörigen Nicht-Gegenständlichen zu betrachten versucht, dieses Gedicht wird im umfassenden Sinne zum »Gegenwort«, zum »Widerspruch« (Bü 146). Wenn berichtet wird: »Das Ursprungsmoment des Dichterischen bezeichnet Celan als ein sich querstellendes Aufbegehren gegen die historische Zeit«,19 so ist in diesem SichQuerstellen das Aufbegehren gegen die Hinnahme des Faktischen als eines Endgültigen überhaupt aktualisiert. Utopie als Beleuchtung, in die Mensch und Kreatur zu stellen sind, ist danach im strengen Sinne gar nicht inhaltlich aufzufassen, 20 nicht ein ausmalbares Bild erhoffter Zukunft, sie ist vielmehr eine Denk- und Anschauungsform, die das auf das Hiesige und Heutige bezogene Gedicht zugleich zum Widerspruch eben gegen dieses werden läßt. Ortssuche im Lichte des Ortlosen bedeutet - in einem nicht wertenden Sinne - das Positive im Lichte des Negativen: »Negativität« wird zum Prinzip. Insofern bedarf Utopie der Negation als eines sprachlichen Mittels und läßt sie die Paradoxie zu einer dem Gedicht notwendigen Sprechweise werden:

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lichkeit« des Gedichts aus, die Dietlind Meinecke in den Vordergrund stellt (a.a.O., passim). Voraussetzung hierfür ist freilich eine im Grunde rein negative Bewertung der Endlichkeit und Begrenztheit des Gedichts. Gleichwohl schließt das strenge Insistieren auf der Gegenwart auch eine andere Wertung ein: Dichtung als »Gegenwort« kann einen Wahrheitsanspruch nur erheben, soweit sie an der Präsenz des >Wahrgenommenen< festhält, soweit sie ihre >radikale Individuation< nicht nur passiv erduldet, sondern bewußt übernimmt. Endlichkeit ist nicht nur Begrenzung, sondern auch Erschließung von Möglichkeiten (Bü 143). Widerruflich angesichts des >AbsolutenAndersseinsdialogische< (Br 128) Ausrichtung menschlichen Daseins aufgehoben wäre. Die zitierten Gedichte und Passagen können als besonders prägnante Beispiele für die dem Faktischen entgegenlaufende, auf Offenheit zielende - >utopische< - Perspektive gelten. Indessen erschöpft sich diese letztere nicht in der Zuwendung zu einem »Nirgends« und »Niemals« und zu einem »Niemand«. Vielmehr wären hier im Grunde alle Formen der Paradoxie aufzuzählen, die, obgleich in moderner Lyrik häufig anzutreffen, hier eben, wie oben dargelegt, der Celanschen Konzeption von Dichtung mit innerer Notwendigkeit entspringen - nämlich all jene for189

malen und inhaltlichen Momente, die der Brechung von Erwartungen, dem Widerspruch gegen Vormeinungen dienen: vorab die so auffällige Bildkomposition aus heterogenen Elementen,28 ob diese nun verschiedenen Gegenstandsbereichen zugehören: »ein Kahn im Getreide dein Herz, [...]« (MG 10), oder verschiedenen Abstraktionsgraden: »Mohn und Gedächtnis«; weiterhin die vielfältigen Formen der Umkehrung kategorial gebundener Denkweisen, etwa räumlicher Vorstellungen: »und unter mir himmelts und sternts wie daheim um Johanni!« (MG 74), oder zeitlicher: »[...] ein Morgen / sprang ins Gestern hinauf [.. .]« (SG 39), der Vertauschung von Aktiv und Passiv: »im Nächtlichen schnitzt dort / die Flöte den Freund ihres Schweigens« (MG 69),2e der Entgrenzung des Ich: »[...] wie / du / mit meinen Händen dorthin / und ins Nichts greifst [...]« (NR 38), der Behauptung von logisch Widersprüchlichem: »[. . .] er hat / einen Namen — er hat / keinen [. ..]« (SG j8), oder sachlich Unvereinbarem: »Tübingen, Jänner«: »[.. .] Hölderlintürme, möwen- / umschwirrt« (NR 24); dann vor allem in den späteren Gedichten in zunehmendem Maße die Umkehrung vertrauter Begriffe und Redewendungen: »Ver- / freundung« (NR 81), und schließlich die komplexeren Formen der unerwarteten Kehrtwendung der Sprachbewegung im ganzen.27 All die genannten Züge lassen sich vor dem Hintergrund der Forderung sehen, das angesprochene Gegenständliche in das Licht der U-topie zu rücken. Daß diese Forderung aus der anderen folgt, nämlich dem Gegenständlichen das Recht auf sein Anderssein zu belassen, dies ging im Grunde schon aus den oben referierten Passagen der Büchner-Rede her25 2e

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Vgl. dazu die Darstellung bei Schwarz, a.a.O., S. 12 ff. Das ist zugleich eine Umkehrung der Beziehung von Subjekt und Objekt, •wie sie vor allem in der späten Lyrik Celans des öfteren begegnet; vgl. z.B. »Wenn dieser Steine einer / verlauten ließe, / was ihn verschweigt« (LZ z6)\ >was er verschweige entspräche gewohnter Vorstellungsweise, »was ihn verschweigt« dagegen läßt in der Umkehrung die Beziehungen außerordentlich komplex werden, es setzt ein schlechthin anonymes Subjekt voraus, das der Sprache mächtig ist, sich aber nicht artikuliert, ohne daß andererseits die Steine in der Rolle des Objekts aufgingen, da sie ja selbst potentiell Sprechende, Sich-Verlautbarende sind -: ein Beispiel dafür, daß jede derartige Umkehrung wesentlich komplexer ist als die ursprüngliche einfache Form. Eine solche Kehrtwendung führt z. B. das Schlußgedicht der »Niemandsrose« vor, das mit dem Vers »In der Luft, da bleibt deine Wurzel, da« beginnt, also mit der Feststellung eines Bleibenden und Dauernden, und das dann dennoch in einer Frage, also ins Offene weisend, endet: »[...] um / wessen / Sternzeit zu spät?« Diese Frage läuft dem Beginn des Gedichts entgegen, aber auch den vorhergehenden Gedichten, die jeweils mit der Betonung eines verbindlich Gültigen schlössen (NR 81, 84, 87); ja sie rückt die Gedichtsammlung im ganzen in eine andere Beleuchtung.

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vor. Über der erstaunlichen inneren Folgerichtigkeit und »Stimmigkeit« der poetologischen Auffassungen Celans darf indessen nicht vergessen werden, welche Schwierigkeiten Celans Gedichte dem Verständnis häufig bereiten und daß offenbar gerade jene poetologische Konzeption, wo sie von den Gedichten her verifizierbar scheint, diese Schwierigkeiten erheblich steigert. Denn es ist ja eben die Perspektive gegen fixierte Gestalten und Bedeutungen - und zugunsten eines jeweils Offenen, Unbestimmten, Nicht-Identifizierbaren -, es ist diese Perspektive, die von vornherein im Widerspruch steht zu den im Geläufigen orientierenden und gewohnten Denk- und Sichtweisen, zu der scheinbar verläßlichen Verfügbarkeit des vermeintlich Vertrauten. Und in dieser Hinsicht scheint es geraten, sich bewußt zu halten, daß die — auch hier grundlegende - Feststellung »Wirklichkeit ist nicht, Wirklichkeit will gesucht und gewonnen sein«28 keineswegs Neuerungssucht zum Ausdruck bringt oder Esoterik legitimieren soll, sondern die Entscheidung bedeutet, Mensch und Kreatur nicht als das feststehend Gegebene aufzufassen, sondern als dasjenige, dessen u-topische Offenheit zu suchen und zu gewinnen ist. Indirekt ist damit auch schon angedeutet, warum, wenn anders »Wirklichkeit« keine feste Basis mehr ist, diese Gedichte trotz aller Verständnisschwierigkeiten nun dennoch Ansatzpunkte für ein Begreifen bieten, den Durchblick auf das von ihnen evozierte Gegenständliche gewähren: nämlich aufgrund ihrer Konkretheit, aufgrund ihrer Bemühung, dem Hier und Heute, es gegen den Strich deutend, Geltung zu verschaffen. »Negativität« - alles andere als eine allgemeine Haltung der Distanz, der Abwehr - ist und bleibt dem Konkreten streng verpflichtet. 3

Utopisches als Inhalt - »An niemand geschmiegt«

Es wurde versucht zu zeigen, daß der Begriff der U-topie, wie ihn die Büchner-Rede einführt, nicht auf bestimmte Inhalte zielt und daß auch die Gedichte, soweit sie in diesem Sinne einer >utopischen< Perspektive folgen, nicht Bilder einer erträumten und erhofften Zukunft bieten. Gleichwohl ist einzuräumen: entgegen diesem ersten Begriff von Utopie finden sich in Celans Gedichten immer wieder auch Passagen, die in der Tat mit zu den eindrücklichsten gehören und die mittels der Negation keineswegs nur jeweilige Fixierungen aufzuheben trachten, sondern darüber hinausgreifen auf eine Art neuer Position — Passagen, in denen somit Utopisches dennoch auch zum Inhalt wird, im Bild eines antizipierUmfrage 1958, a.a.O. 191

ten Zukünftigen. Das mag durchaus ganz behutsam geschehen, so etwa wenn der Vers »O einer, o keiner, o niemand, o du« (NR 9) wiederum über die Negation hinausgeht und (statt zu einem möglichen und unbestimmten Jemand zu gelangen) den qualitativen Sprung wagt zu einem bestimmten Du, bestimmt jedenfalls in der Rolle des Gegenübers und Adressaten. Ebenso gewinnt Utopie inhaltliche Bedeutung, wenn in anderen Versen im Rückgang in die Geschichte der Ursprung des jüdischen und allgemeiner des menschlichen Geschlechts über die Anonymität hinaus als der eigene begriffen und so gleichsam in die Gegenwart eingeholt wird - eine Bewegung, die die vollendete Selbstvermittlung einschlösse und Geschichte als begriffen voraussetzte, somit nicht nur »Eine Art Heimkehr« (Bü 147), sondern wirkliche wäre: Antizipation eines nur als zukünftig Denkbaren: (Wurzel. Wurzel Abrahams. Wurzel Jesse. Niemandes Wurzel - o unser.) (NR 37)

Freilich, auch wenn das Utopische zum poetischen Inhalt wird, so übergeht das Gedicht dennoch nicht seine Bindung an die Gegenwart; was in den eben zitierten Versen die Klammer als Indiz für ein gleichsam halblautes Sprechen leistet, nämlich den Hinweis auf die Besonderheit des Gesprochenen, direkter: auf dessen Uneinlösbarkeit, dafür setzen andere Gedichte wiederum in anderer Weise Zeichen: O diese wandernde leere gastliche Mitte. Getrennt, fall ich dir zu, fällst du mir zu, einander entfallen, sehn wir hindurch:

Das Selbe hat uns verloren, das Selbe hat uns vergessen, das Selbe hat uns — (NR 17)

In der dialektischen Bewegung von Annäherung und Entfernung wird ein Drittes zum Vermittelnden: jene »Mitte«, die als Zentrum zugleich schlechthin offen ist und selbst in Bewegung und in ihrer Identität (>Sel192

bigkeithageläugig< die Rede ist, wobei die gewisse Härte eben jenem Klischee entgegensteht. Der solcherart Angesprochene >stottertWeißkiesvor die Irrenzelte gepflanzt< ist, läßt mehrere Deutungen zu: es meint einerseits die Stellung des Außenseiters, andererseits bedeutet >Gepflan/tZelten< zukommt. Weiterhin müßte der »vor« die Irrenzelte gepflanzte Außenseiter derjenige sein, der allein vom Wahn frei ist, während er doch zugleich der in die Nachtordnung Ubergeschlitterte ist. Von der Deutung des Wortes »Irrenzelte« hängt wohl die Rolle ab, die dem »Weißkies- / Stotterer« zufällt; vielleicht sind jene >Irren< zunächst nur die Irrenden, nämlich nomadenhaft mit ihren >Zelten< Umherirrenden, »Verstreuten« (NR 89) und >Verschlagenen< (NR 86), und in ihrer Orientierungslosigkeit dann auch >Irrengepflanzte< Weißkiesstotterer in seiner Zugehörigkeit zur Nachtordnung eine Identität17 gefunden hätte, die gerade die Differenz zu den >IrrenUmnachtetes< haftet hier der Sprache selbst an, und es ist nicht recht auszumachen, ob dies eher das Sprechen jener >Irren< kennzeichnet, die in eine nächtlich-ungeheure >Normalität< zurückgekehrt sind, oder ob es das >StotternSeelenbärtigen< meint, der vielleicht den nächtlichen Charakter des nur scheinbar Normalen als einziger wirklich erfährt und der ihn, wie die passivischen Formen zeigen, erdulden muß. Wie dem auch sei, das Manisch-Zwanghafte liegt nicht nur im Drängen der freigesetzten sprachlichen Energie, sondern bereits in der 16

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Einzelne Züge dieser Gestalt finden sich auch in anderen Gedichten. Bereits in »Sprachgitter« stehen die Worte: »mein Mund / spie seinen Schotter« (SG 32). In dem Hölderlin-Gedicht der »Niemandsrose« ist die Rede vom »Lichtbart der / Patriarchen«, den der trüge, der, wenn er heute zur Welt käme und von dieser Zeit spräche, »nur lallen und lallen« dürfte (NR 24). Ein Gedicht in »Lichtzwang« enthält die Verse: »mir wächst / das Fell zu überm / gewittrigen / Mund« (LZ 27). Den Aspekt der Identität greift in ähnlichem Zusammenhang ein anderes Gedicht auf: »Ihn ritt die Nacht, er war zu sich gekommen, / der Waisenkittel war die Fahn, // kein Irrlauf mehr, es ritt ihn grad —« (LZ 8). Die bewußte Übernahme (»Fahn«) des >WaisenOrdnungübertieft< ist im eigentlichen Sinne eine Umkehrung). Besitzt bei den Neuschöpfungen das Moment des Fremdartigen, der Abweichung von der »Normalsprache« ein großes Gewicht, so gewinnen die Umkehrungen ihre vielfach kritische Intention aus ihrem »dialektischen« Charakter, indem sie ihren genauen Gegensatz in negierter Gestalt mitenthalten;18 »ein Mensch [...] entstummt« (SP 60) heißt demnach nicht nur: er spricht, sondern: er beginnt zu sprechen, und dieser Beginn stellt etwas Besonderes dar, weil nicht Sprache, sondern Stummheit das Primäre ist, 18

Während sich bei den wirklichen Umkehrungcn die neue Bedeutung einigermaßen genau umschreiben läßt, steht in anderen Fällen häufig vor allem der Effekt der Verfremdung im Vordergrund, mehr jedenfalls als bei den Umkehrungen, freilich ohne daß das neue Wort schlechthin bedeutungslos wäre. Es sind dies Fälle, bei denen ein Wortteil, vielfach nur ein einziges Phonem, ausgetauscht wird in einer Richtung, die in keinem sinnvollen semantischen Zusammenhang mit dem ursprünglichen Wort steht, also etwa »Morgen-Lot« (AWii), »Bei Glüh- und Mühwein« (FS 66}. In anderen Fällen wiederum lassen Neubildungen geläufige Wörter anklingen, ohne sich genau auf sie zu beziehen, etwa »Verkenntnis« (SP 49), das an >Bekenntnis< erinnert, oder »Vergängnis« (SP 61), das wohl in der Mitte zwischen >Vergangenheit< und >Vergänglichkeit< liegt. Schwieriger einzuordnen wäre demgegenüber »Unverfenstertes« (SP 88; vgl. die »für immer entfensterten / Hütten« des Titelgedichts von »Schneepart«, SP 20, und zu diesem wiederum »Hüttenfenster«, NR76); »Unverfenstertes« verdankt seine Richtung ins >FensterloseUnverfinsterteeingewöhntentwöhntwohnenwohnen< und >Wohnung< und im weiteren Sinne, wenn man so will, >Heimatangereichert< von all dem«, wieder zutage zu treten (Br 128). >Diese< Sprache wurde oben aufgefaßt einmal als die deutsche Sprache nach dem Nationalsozialismus und zum anderen als die allgemeine und allgemein verfügbare Sprache, da Dichtung keine poetische Sondersprache besitze. Auf letzteres fällt übrigens ein neues Licht von der Aneignung der Alltagsund Umgangssprache und von der Rezeption des Zivilisationsvokabulars her.22 Wichtiger aber ist hier das erstere: die der Sprache selbst eingewirkte Negativität stellt wohl den Hintergrund dar auch noch für die sprachlichen Umkehrungen in der späten Lyrik Celans, für den Versuch, bis zu einem gewissen Grade gleichsam gegen die Sprache zu sprechen. Und in diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn Celan das Wort vorn »Verbrechen« aus Brechts berühmtem Gedicht »An die Nachgeborenen« übernimmt und als Verdacht gegen das Gespräch wendet, das »soviel Gesagtes / mit einschließt«: Ein Blau, baumlos, für Bertolt Brecht: Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch beinah ein Verbrechen ist, weil es soviel Gesagtes mit einschließt? (SP 59)

Der Einschluß von Gesagtem, also dessen Wiederholung könnte verdächtig erscheinen, vielleicht weil in der Verwendung des bereits Ausgedrückten und damit in der Verwendung der >fertigenTodbringendenEinmaligkeit< des Sprechenden wie der >gestaltgewordenen Sprache< unterdrückt. Wenn solcherart mit dem Einbezug von Gesagtem in das Gespräch und nicht mit dem »Schweigen über so viele Untaten« der Verdacht gegen das Gespräch begründet wird, so deshalb, weil Celan — entsprechend der 22

Die von Celan (in der Umfrage 1958 und in einem Interview in der »Welt« vom 27. i. 1958) bekundete Bemühung um ein nicht >verklärendespoetisierendes< Sprechen ist als Intention bedeutsam; sie hat jedoch nicht zur Folge, daß die Sprache des Gedichts nicht mehr (im kategorialen Sinne) poetische Sprache und als solche von anderen Arten des Sprechens unterscheidbar wäre.

234

Bremer Rede — die Sprache selbst als das Medium der Untaten begreift, mit der Folge, daß die politische Verantwortung, die Brecht meinte, als hereingenommen zu denken ist in die Problematik eines Sprechens, das zugleich seiner Ohnmacht sich bewußt ist. Der Doppelpunkt nämlich am Ende des zweiten Verses deutet an, daß das sich Anschließende, nämlich die Mitteilung eines >baumlosen BlattsGesagtem< in das Gespräch ja nicht als Gefahr und in diesem Sinne als abwendbar behauptet wird, sondern als reines Faktum; vor allem indessen bezeugt sich jener Ernst dadurch, daß der Vorwurf der Nähe zum Verbrechen nicht eine beliebige Sprechweise, Sprachgestalt trifft, sondern das »Gespräch«, somit die für Celan (man denke an die Büchner-Rede) zentrale Gestalt der Sprache, den Kern aller Dichtung. Bedenkt man den Weg von dem Gespräch, das »oft [. ..] verzweifeltes Gespräch« ist (Bü 144), zu dem, das »beinah ein Verbrechen« ist, so wird man erst der diesem Gedicht eigenen Radikalität voll gewahr und der Unerbittlichkeit, mit der es sich gegen diese unsere »Zeiten« stellt. Darin wiederum liegt ein letzter Grund für die sprachlichen Umkehrungen: die Opposition gegen erstarrte, fixierende Sprachformen steht in engster Verbindung mit der Opposition gegen die Zeit. Wo der Verdacht noch das »Gespräch« - Sprache und Dichtung - mit einbezieht, dort kehrt das poetische »Gegenwort« sich potentiell gegen sich selbst: aus Zeitnähe. 3

Direktheit und Konkretheit

Wie erwähnt, hat Voswinckel für die Herkunft eines Teils des neuen Vokabulars auf den »völlig unmetaphorischen, faktischen Bereich der mo23

24

Der Doppelsinn von »Blatt« und die Brecht-Anspielung des Wortes »baumlos« gehen über das rein Spielerische hinaus: der Bereich der Natur, bei Brecht wenigstens andeutungsweise ein eigenständiger Bereich (zu dem der Mensch nicht nur in praktischem, sondern auch in kontemplativem Bezug steht), hat solche Eigenständigkeit bei Celan verloren. Das hat wohl kaum etwas mit der (im »Gespräch im Gebirg« mitthematisierten) Fremdheit gegenüber der Natur zu tun. Es ist vielmehr damit zu begründen, daß, wie mehrfach hervorgehoben, Celans Wirklichkeitsverständnis die Abgrenzung einzelner Wirklichkeitsbereiche voneinander aufhebt. Dies - mehr als der »ParadigmenWechsel« von »Natur« zu »Zivilisation«, mehr also auch als die Auffassung der letzteren als einer Gegenwelt zur Natur oder als einer Art zweiter Natur -, dies also könnte als das eigentliche Ende von Naturlyrik gesehen werden - ein Thema, das freilich genauerer Untersuchung bedürfte. Voswinckel, a.a.O., S. 213.

dernen Zivilisation«24 hingewiesen. Da freilich das Metaphorische eine Qualität der Sprechweise und nicht eine Eigenschaft von. Gegenständen überhaupt ist, mag es eine Frage für sich sein, ob der genannte Bereich, ja, ob überhaupt ein bestimmter Gegenstandsbereich von vornherein als >völlig unmetaphorisch< angesehen werden kann. In der Tat muß man aber Voswinckel zustimmen, wenn er davon ausgeht, daß diese neuen Wörter nicht im Sinne von Metaphern verwendet werden. Das gilt für die wissenschaftlichen Termini ebensogut wie für das Vokabular der Zivilisation und der Technik oder das des Kriegs. Wörter wie »Dampfwalze« (LZ 88), »Bomber« (LZ 33) oder »Porphyr« (LZ 66) meinen, fern aller bildhaft übertragenen Bedeutung, genau das, was sie wortwörtlich nennen. Solche Direktheit des Gegenstandsbezugs indessen ist es gerade, die mit am meisten zur Desorientierung des Lesers beiträgt. Dem Anspruch auf wörtliche Geltung steht nämlich die begrenzte Vorstellungskraft des Lesers dort entgegen, wo Elemente höchst heterogener Herkunft unmittelbar miteinander verknüpft sind, ohne daß das Gedicht die Grenzen zwischen verschiedenen Sachbereichen beachtet oder eine Differenz zwischen Abstraktem und Konkretem zuläßt. Zur Verdeutlichung sei kurz auf das folgende Gedicht eingegangen: Zerr dir den Traum vom Stapel, pack deinen Schuh rein, Rauschelbeeräugige, komm, schnür zu. (SP 79)

Man möchte annehmen, das Wort »Stapel« sei metaphorisch verwendet, um mittels der mit ihm verbundenen Vorstellung eines Warenhauses und aufgestapelter Waren dem »Traum« bestimmte Eigenschaften zuzusprechen, Eigenschaften, die ihrerseits die in ihnen sich ausprägende Gestalt unserer Realität enthüllen: nämlich dieser unserer von kommerziellen Gesichtspunkten beherrschten Wirklichkeit, die alles und jedes zur »Ware« werden läßt, einer Wirklichkeit, die entlarvt wird durch die Vorstellung, gar noch das ganz Persönliche, das Privateste, der Traum, stehe, entindividualisiert, gleichsam ein anonymes Massenprodukt, in Mengen gestapelt, zur beliebigen Verfügung, nicht anders als jede Ware.25 Das Bild der (metaphorisch verdinglichten) aufgestapelten Träume< — eine groteske Hyperbel mit zeitkritischer Intention - stellt dabei möglicherweise eine Reaktion auf die Werbesprache dar, die ja ihrerseits 25

Daß dieser Deutungsversuch nicht sehr originell anmutet, besagt noch nichts über seine mögliche Geltung. Immerhin hat Celan sachlich Verwandtes auch andernorts thematisiert, vgl. »das / gedächtnisgierige rollende / Waren- / Zeichen« (SP 62).

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das Wort »Traum« gern im Sinne eines Superlativs verwendet (»Traumhaus«, »Traumauto« usw.) und die solcherart - beim Wort genommen in der Tat »Träume«, >stapelweiseentwerte< den Traum mutwillig, um einer Pointe willen; es reagiert vielmehr auf die (die Entwertung längst vollziehende) sprachliche Entstellung des Traums, die es in der Werbesprache vorfindet. In der Botanik sind wohl Rauschbeeren (Heidel-, Preiselbeeren), nicht aber Rauschelbeeren bekannt. Celans Prägung scheint sich jedoch an einen mundartlichen Ausdruck für schwarze und große Augen anzulehnen; in dieser Bedeutung findet sich jedenfalls der Ausdruck »Rauschbeerenaugen« in den »Litauischen Geschichten« von Hermann Sudermann. 237

die bildersüchtige blanke

Rolltreppe [...](SP 7 0, die in einem anderen Gedicht genannt wird. Hier wird man wohl annehmen, die >Bildersucht< — nach zeitkritischen Darstellungen eine weitverbreitete Erscheinung unserer Zivilisation —28 sei in metonymischer Weise von den Benutzern der Rolltreppe auf diese selbst übertragen, die nun ihrerseits nach Art einer Synekdoche als Detail für den Ort stehe, an dem sie anzutreffen ist, vermutlich die Warenhäuser (oder auch die Innenstädte), und somit als repräsentativ für die moderne Zivilisation, nämlich - mit Bezug auf die Warenhäuser - als repräsentativ für ein »Getriebe«, das eine »blanke« Außenseite hervorzukehren sucht und das sein Funktionieren dem Umstand mitverdankt, daß es jene Bildersucht befriedigt. Eine solche Ausdeutung läuft indessen Gefahr, der Sprechweise der zitierten Verse nicht gerecht zu werden. Anders als bei der herkömmlichen Synekdoche ist hier das »totum« — moderne Zivilisation -, für das das Detail - Rolltreppe — als »pars« stehen soll, nicht als selbstverständlich mitgegeben zu denken, sondern nur, bei verbleibender Unsicherheit der Deutung, zu erschließen. Und - was vielleicht noch wichtiger ist —: im Unterschied zur bloßen Repräsentation eines weiteren, allgemeineren Zusammenhangs durch ein konkretes Detail besitzt dieses letztere bei Celan selbst ein unübersehbares Eigengewicht: das konkrete Detail ist in dieser seiner gegenständlichen Konkretheit das vom Gedicht Genannte, das keinesfalls in dem von der Deutung gesuchten weiteren Zusammenhang verschwindet. Die Rolltreppe steht in einer Beziehung zu >Zivilisation< allenfalls insofern, als sie diese ist, nämlich angeschaut in einem konkret-dinglichen Phänomen. Die Hinwendung zum Detail — in der Sekundärliteratur schon früh beachtet und von Celan selbst in der Büchner-Rede hervorgehoben (Bü 144) - erfährt in der späten Dichtung eine so extreme Steigerung, daß man im Grunde von einer neuen Art des Sehens zu sprechen geneigt ist. Vielfach meint man, bei einem radikalen Verzicht auf die Orientierung an gegenständlichen Einheiten und Zusammenhängen den konkreten Ausschnitt nur noch als Ausschnitt wahrzunehmen. Um ein Beispiel zu nennen: die traditionelle Vorstellung vom Menschen als einer geistig28

Es ist dies wohl die geläufige, vielfach auch kritisch gegen die Massenmedien (insbesondere das Fernsehen) gerichtete Auffassung, unmittelbare Realitätserfahrung sei heute weitgehend verdrängt durch den passiven Konsum einer (sich ständig reproduzierenden) Bildwelt. - Vgl. auch die Gedichte Celans, die (zum Teil im Zusammenhang mit dem Thema »Sprache«) von dem Phänomen »Bild« handeln (NR n, 71; AW 13, 25, 41; u. ö.).

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körperlichen Einheit, bei der das Körperliche das Geistige zu repräsentieren vermag, also etwa die »Stirn« auf das »Denken« verweist oder das »Herz« auf das »Empfinden«, diese Vorstellung kann dem Verstehen kaum mehr zu Hilfe kommen, wenn das Körperliche immer konkreter und detaillierter begegnet, so etwa als »Magen« (FS 91), »Niere« (FS 108), >Galle< (FS 99), »Leber« (FS 14), »Nabel« (FS 66, LZ 85), >Wirbel< (SP 60), >Hode< (LZ 85), »Aorta« (FS 14, 96), »Vene« (LZ 14) usw. bis hin zu der Differenzierung des Herzens in »Vorhöfe, Kammern, Klappen« (FS 92) und zu der bewußt grotesken Aufforderung: »Komm, wir löffeln / Nervenzellen« (FS 75) im Rhythmus eines Kinderliedes oder Abzählreims. Das aber bedeutet: wenn solche Konkretheit der körperlichen Details das genannte traditionelle Menschenbild in Frage stellt, so zwingt sie den Leser zugleich, den Sinn der Nennung von Körperlichem ausschließlich im Gedicht selbst zu suchen. Dann erst kann man wiederum dessen gewahr werden, daß die Hinwendung zum Detail nicht nur der größeren Genauigkeit, sondern durchaus auch anderen Intentionen dient. Nicht nur um der Genauigkeit willen nennen die Verse »als hungerte noch / irgendein Magen« (FS 91) statt des Wortes »Mensch« das Wort »Magen«. Vielmehr wird hier der Hunger als die rein physische Sensation in ihrer vollen Konkretheit, ja, Trivialität ausgespielt gegen eine gewissermaßen »erhabenere« Vorstellung: der Hunger steht von alters her - über Bedürftigkeit im weiteren Sinne hinaus - auch metaphorisch für das menschliche Streben; der hungernde Mensch ist - zuletzt bei Ernst Bloch - derjenige, der, einem utopischen Impuls folgend, nach dem noch nicht Erreichten ausgreift - eine Ausdeutung, die jedoch der vom Gedicht tatsächlich genannte hungernde »Magen« schlechthin verbietet. Wenn hier das Wort »Magen« nicht nur kein »Bild« für den Menschen ist, sondern gar die Vorstellung »Ganzheit Mensch« offenkundig verdrängt, so läßt dies einen bedeutsamen Rückschluß zu: die Direktheit des Gegenstandsbezugs und die dem Detail gewidmete Aufmerksamkeit dienen keineswegs eo ipso dazu, die Wirklichkeit, die wir alle kennen, genauer in den Griff zu bekommen; vielmehr liegt in der Direktheit und der Detail-Sicht selbst die Aufhebung der vertrauten Vorstellung von Wirklichkeit beschlossen: die Genauigkeit des >Nennens und Setzens< führt geradlinig zu der Desorientierung, die der Leser angesichts des Celanschen Spätwerks erfährt. Der Anspruch auf Präzision lyrischen Sprechens einerseits und der Wunsch des Lesers andererseits, an den überkommenen, die Orientierung leitenden Denk- und Anschauungsweisen festzuhalten, wären demnach inkompatibel. Der mögliche Einwand gegen Celans späte Dichtung, sie übersehe die Grenze, an der die Konkret239

heit des ausschnittartig isolierten Einzelmoments in die Abstraktheit, Unkenntlichkeit des Gegenstands umschlägt, wäre somit nicht mehr eigentlich ein Einwand, sondern der deutliche Hinweis auf die Aporie, in der jene Dichtung steht: des Gedichts »schärferer Sinn für das Detail« (Bü 144) schließt eben bereits den Verzicht auf gegenständliche Einheit ein, und je mehr jener zur Geltung kommt, desto mehr werden die Gegenstände zugleich anonym. Desorientierung liegt dann zuletzt auch darin, daß dort, wo der poetische Gegenstand nicht mehr recht identifizierbar scheint, die Grenze zwischen rein privater Assoziation und dem vielleicht vom Gedicht wirklich Gemeinten nurmehr sehr schwer zu ziehen ist. Ist es eine private Assoziation oder wirklich im Sinne des Gedichts, wenn man — davon ausgehend, daß lyrischen Gegenständen keinerlei Exklusivität mehr zukommt - bei den folgenden Versen: [...] die Fenster, auch sie, lesen dir alles Geheime heraus aus den Wirbeln [•••L ^ auch hier, wo du die Farbe verfehlst [...], wo die Zahl dich zu äffen versucht (SP 60)

einerseits an eine Röntgen-Untersuchung denkt (und an den gleichsam fensterartig den Blick ins Innere freigebenden Röntgenbildschirm) und wenn man sich andererseits an einen ärztlichen Sehtest erinnert fühlt, bei dem farbige Zahlen zu identifizieren sind, die ja in der Tat aufgrund der ebenfalls farbigen Umgebung den Betrachter zu »äffen« scheinen? Wie dem auch sei - das in solcher Unentschiedenheit liegende Moment der Irritation ist jedenfalls - zumindest vorläufig - als eine Qualität der poetologischen Bestimmung der späten Lyrik Celans aufzufassen, d. h. zumindest so lange, wie nicht, mit Reichem Worten, der literaturkritische Begriff gefunden ist, auf den diese Dichtung zu bringen wäre. 4

Zitate

Mit Bezug auf die »Niemandsrose« stellt Voswinckel fest, »daß diese [. ..] Gedichte weitgehend auf Zitatformen basieren und ihnen ihr Leben verdanken«, nämlich auf »Zitatformen, die von sich aus ein Stück Geschichte beleuchten«.29 Diesen Bezug zur Dimension der Geschichte wiederum hat Bayerdörfer genauer untersucht; er hat auf den gemeinsamen 29

Voswinckel, a.a.O., S. 191.

240

»Gegenworte-Charakter sehr vieler solcher der Überlieferung entnommenen Zitate hingewiesen, die ihrerseits in ihrem ursprünglichen Kontext »Zeugnisworte [. ..] gegen Übermacht und Entmenschlichung«30 sind: zitierend sucht das Gedicht »aus der geschichtlich begriffenen Gegenwart seines Sprechens heraus die Solidarität früheren Sprechens«31 und stellt sich selbst in eine dadurch sichtbar werdende Tradition von Gegenworten. Ein unmittelbar politischer Gehalt bestimmt dabei nur eine, wenngleich die auffälligste Gestalt der Gegenworte; man denke an die Parole der Republikaner im spanischen Bürgerkrieg: »No pasaran« (VS 55, NR 68).32 Gegenwort in dem von Bayerdörfer dargelegten Sinn ist jedoch auch das legendäre letzte Wort Galileis, der — ohnmächtige - Protest gegen die Unterdrückung der Wahrheit, ein Wort, in dessen Wiederaufnahme bei Celan an die Stelle des Naturgesetzes das Gesetz des menschlichen Inneren tritt: »Denn / sie bewegt sich, dennoch, im Herzsinn« (NR 74). Und Gegenworte wiederum in einer anderen Richtung sind die Meister-Eckhart-Zitate in einem der späten Gedichte: Treckschutenzeit, die Halbverwandelten schleppen an einer der Welten,

der Enthöhte, geinnigt, spricht unter den Stirnen am Ufer: Todes quitt, Gottes quitt. (LZ ioo)33

In der Predigt »Surge illuminare iherusalem«34 äußert Meister Eckhart den Gedanken, »Gottes Höhe liege an meiner Niedrigkeit: wo ich mich erniedrigte, da würde Gott erhöht.« Läßt dieser Gedanke, so fragt Eckhart, sich nicht umkehren? Und er folgert, »daß Gott enthöht werden sollte«, freilich »nicht absolut, sondern vielmehr innen«. Dies »besagt: >ein enthöhter GottGottes< quitt mache.«35 Eckharts Widerspruch gegen die Orthodoxie - ein Widerspruch, der in der Umkehrung von >erhöht< in >enthöht< auch sprachlich manifest wird -, sein Gegenwort gegen eine Lehre der Ferne zwischen Gott und Mensch wird in Celans Gedicht aufgenommen und erweitert zu einem Gegenwort gegen den Tod,3* das in seinem utopischen Gehalt, im Versprechen einer noch ausstehenden Freiheit, zugleich der realen Ohnmacht der Gegenworte gewahr werden läßt. Für diese Art des Zitats in den mittleren, aber auch noch in den späten Gedichten Celans ist wesentlich, daß hier eine individuelle Stimme des Protests hörbar bleibt, die »gestaltgewordene Sprache eines Einzelnen« (Bü 144); in diesem Sinne ist es zu verstehen, daß vor allem in der »Niemandsrose« die Zitate häufig deutlich gekennzeichnet sind und darüber hinaus vielfach der Name des Zitierten genannt wird. Ganz anders verhält es sich bei einer allein im Spätwerk anzutreffenden zweiten Art des Zitierens. Joachim Schulze hat auf ein, wie er meinte, »quellenkritisches Curiosum« aufmerksam gemacht, nämlich auf den Umstand, daß die beiden ersten Strophen des Gedichts »Möwenküken« (FS 79) weitgehend aus einem Aufsatz des Biologen Adolf Portmann schöpfen.37 Diesem ersten Beispiel für eine neue Zitierweise lassen sich andere gesellen:38 35

38

37 38

Meister Eckhart: Beati pauperes spiritu. In: M. E.: Predigten. Hg. v. Josef Quint. Bd. 2. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1971, S. 478-524; Übers. 8.723-731. - Als sei es eben auf die hier zitierte Passage gemünzt, spricht Bloch davon, daß in der christlichen Mystik sich der »Hingebung an Gott«, dem »Gelöstsein in Gott« eine entgegengesetzte Intention verbinde, die auf die »Erlösung von Gott« ziele. Vgl. Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Bd. 3, S. 1536 f. Merkwürdigerweise begegnen die Worte »Todes quitt« auch in Hans Magnus Enzensbergers »öde an niemand«. Das »niemand« ist, wie Enzensberger anmerkt, auf dem Weg über Hamann von Persius entlehnt; indessen spricht die »öde« ein Du als den König an (»einziger könig«), der ganz offensichtlich Züge des biblischen Gottes trägt (»dein reich«, »dein ebenbild«, »dein ist der rühm und die räche«) und der in »trauer« die sich selbst zerstörende Welt überdauern wird, »todes quitt« (H. M. E.: Landessprache. Frankfurt/ M. 1960, auch Frankfurt/M. 1969 [ed. suhrkamp 304], dort: S. 80-82). Vgl. Schulze, a.a.O., S. 49$, Anm. 50. Da dies andernorts breiter behandelt ist, mögen hier allgemeinere Hinweise genügen; vgl. Verf.: »fort aus Kannitverstan«. Bemerkungen zum Zitat in

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die Gedichte ». . . auch keinerlei / Friede« (FS 95) und »Wirf das Sonnenjahr« (FS 97) zitieren Passagen aus dem Aufsatz »Jenseits des Lustprinzips« von Sigmund Freud. Und wenn Schulze zur Deutung mystischer Motive in Celans Lyrik auf die Darstellungen Gershom Scholems zurückgriff, so läßt sich darüber hinaus belegen, daß einzelne Gedichte Celans in der Tat, den genannten Fällen analog, die Ausführungen Scholems geradewegs zitieren, so zum Beispiel das Gedicht »Die freigeblasene Leuchtsaat« (FS 9i). 3B Bemerkenswert ist hierbei zweierlei, nämlich daß die zitierten Texte wissenschaftlicher Natur sind und daß nicht nur einzelne Dikta, sondern längere Textpassagen zitiert werden. Dem möglichen Verdacht, das Gedicht begebe sich, solcherart zitierend, seiner »poetischen Autonomie«, da es ja nicht nur »Wortmaterial« übernehme - übrigens ein Begriff, gegen den Celan sich mit Entschiedenheit gewandt hat -,40 sondern auch den gedanklichen Zusammenhang der zitierten Darstellung, diesem Verdacht ist leicht zu begegnen. Ausschlaggebend scheint hier nicht so sehr die Verwendung poetischer Sprachmittel, die sich freilich am Einzelbeispiel in ihrer Bedeutung genau demonstrieren ließe: so etwa in dem Gedicht »Möwenküken« bei den Worten »eine Kopf- / attrappe führt es dir vor« die suggestive Wirkung des Wortenjambements, das den grotesken Gehalt dieses Wortes auf lakonische Art entlarvt (daneben in dem Wort »dir« die Einführung eines Adressaten); wichtiger als solche Sprachmittel ist im Hinblick auf die »poetische Autonomie« wohl der Umstand, daß das Gedicht der wissenschaftlichen Perspektive selbst Grenzen setzt, sie als eine bestimmte, eingeschränkte Perspektive sichtbar werden läßt, bei »Möwenküken« etwa dadurch, daß es zwei zitierenden Strophen eine zitat-freie entgegenstellt, die, von jenen durch eine Leerzeile abgehoben, einer anderen, die persönliche Beteiligung nicht aussparenden, das Lebewesen als Du einbegreifenden Optik untersteht: »Freund, / teerübergoßner Sackhüpfer du.«41 der Lyrik Paul Celans. In: Text + Kritik. H. 53/H : Pau^ Celan (1977), S. 26-41. 39

40 41

Vgl. Scholem: Von der mystischen Gestalt der Gottheit, S. 108 f. - Schulze, der übrigens dieses Gedicht nicht erwähnt, hat mittlerweile seinen Aufsatz mit einigen Veränderungen als ersten Teil aufgenommen in sein Buch: Celan und die Mystiker. Motivtypologische und quellenkundliche Kommentare. Bonn 1976. Entsprechend dem Untertitel geht es ihm nicht um die Art des Zitierens, obgleich er nunmehr - freilich eher beiläufig - einmal auch von >Zitaten< spricht (a.a.O., S. 38). Vgl. Brief an Hans Bender, a.a.O. Zugleich sind - in dem Wort >teerübergossen< - die höchst aktuellen Lebensbedingungen mitbedacht, die in der Fragestellung der Verhaltensforschung hier (wenngleich nicht prinzipiell) ausgeklammert wurden. 243

Auch wenn somit das Gedicht in der Distanz zu der wissenschaftlichen Sichtweise seinen eigenen Standort deutlich bekundet, ist doch allein diese Rezeption von Wissenschaft eine der Eigenarten des Celanschen Spätwerks, in denen dessen besondere Bedeutung beschlossen liegt. Natur, das scheinbar Unmittelbarste, wird hier in ihrer aktuellen Gestalt, nämlich in ihrer Vermittlung durch das Medium »Wissenschaft«, ansichtig. Entsprechendes gilt für den Bereich des Geistigen, wenn, wie erwähnt, Celans Gedichte an die Tradition der Mystik auf dem Wege über deren religionswissenschaftliche Erarbeitung bei Scholem anknüpfen. Und selbst wenn das Gedicht nicht, wie in den genannten Fällen, wissenschaftliche Darstellungen zitiert, bleibt die Dimension »Wissenschaft« präsent, nämlich in der oben berührten Erweiterung des Vokabulars um die wissenschaftlichen Fachterminologien etwa der Medizin oder der Mineralogie. So sehr im Einzelfall der Terminus im Gedicht als Fremdkörper empfunden werden mag - ein Aspekt, der noch zu behandeln ist —, so demonstriert gerade in dieser Fremdheit das Gedicht den Versuch, die Optik der Wissenschaft nach ihrer Geltung zu befragen, und das heißt zuletzt: nach ihrem Vermögen, Wirklichkeit zu erschließen. Im Zeichen der >Wirklichkeitssuche< - immer noch -, unter den besonderen Bedingungen poetischen Sprechens, das der »radikalen [...] Individuation« (Bü 143) entstammt, unternehmen diese späten Gedichte Celans den kühnen Versuch, die Sichtweise der Wissenschaft und die der bescheideneren sinnlichen Erfahrung, also die der persönlichen Beteiligung - »Freund, / teerübergoßner Sackhüpfer du« - miteinander zu verbinden. Diese Intention ist indessen im Grunde nur eine konsequente Ausprägung der früher bekundeten Absicht, den »Akut des Heutigen« zu setzen.

III Gestalten der Opposition i

»Die fleißigen / Bodenschätze«

Die beschriebenen Aspekte des Sprachstils haben alle mehr oder minder offenkundig Anteil an der allgemeinen Intention, eine >Poetisierung< zu verweigern (Voswinckel). Daß freilich diese Intention selbst eine Reaktion auf die erfahrene Wirklichkeit ist — »das Gedicht ist nicht zeitlos« (Br 128) -, dies braucht kaum betont zu werden. Die Gegenstände selbst, denen sich Celans Spätwerk zuwendet, sind es, die alles >Verklärende< abweisen. Insofern sind die stilistischen Eigenarten als bewußt kalkuliert seitens des Gedichts zugleich der Abdruck des Erfahrenen, und insofern 244

sind die sprachlichen Entstellungen die genau nachgezeichneten Entstellungen des Gegenständlichen. Auseinandersetzung mit Wirklichkeit bedeutet für die späten Gedichte Celans: dieses Brot kauen, mit Schreibzähnen. (SP 32)

Daß die Selbsterhaltung der Dichtung zugleich einen derart aggressiven Anstrich erhält, wirft ein bezeichnendes Licht auf Celans Einschätzung der heutigen Existenzbedingungen von Dichtung. Das >beißende< Wort ist Moment einer dezidierten Haltung der Opposition in sehr vielen der späten Gedichte. Solche Opposition muß als »gestaltgewordene« konkrete Negativität gesehen werden - eine Feststellung, die freilich in dieser ihrer Allgemeinheit noch nahezu nichtssagend ist. Von daher scheint es geboten, die einzelnen Formen der Opposition genauer zu betrachten. Dabei ist an oben Gesagtes anzuknüpfen: die Erfahrung des Lesers mit diesen Gedichten muß Ausgangspunkt für die Interpretation sein gerade dort, wo ein Gesamtverständnis eines Gedichts sich nur mit Mühe oder gar nicht einstellt, wo nurmehr Divergierendes ohne sachlichen Zusammenhalt wahrgenommen wird und die Einheit des Gedichts sich dem Nachvollzug entzieht. In diesem Sinne sei zunächst das folgende Gedicht betrachtet: Die fleißigen Bodenschätze, häuslich, die geheizte Synkope, das nicht zu enträtselnde Halljahr, die vollverglasten Spinnen-Altäre im allesüberragenden Flachbau,

die Zwischenlaute (noch immer?), die Schattenpalaver, die Ängste, eisgerecht, flugklar, der barock ummantelte, spracheschluckende Duschraum, semantisch durchleuchtet, die unbeschriebene Wand einer Stehzelle: hier 245

leb dich querdurch, ohne Uhr. (FS 45) Voswinckel schreibt zu diesem Gedicht: In der Form der Aufzählung, bis hin zum Einhalt gebietenden »Hier«, herrscht ein merkwürdiges Halbbewußtsein, eine bestimmte Art Müdigkeit. Die einzelnen Bestandteile, selbst die »Ängste«, bleiben in einer eigentümlichen Distanz, so als seien sie nicht Gegenwart, sondern eher nur Relikte, Restbestände einer Welt, die kaum noch Menschliches enthalten. Statt Menschengesprächen gibt es dort »Schattenpalaver«, statt freien Lebensformen »fleißige« und »häuslich« gesicherte Bürgerlichkeit; und was einmal Kultur war, zeigt sich nun in Form von »vollverglasten / Spinnen-Altären« oder als »barock ummantelter« Duschraum.1

Dieser Befund scheint, zumindest was das »Halbbewußtsein« und die »Müdigkeit« betrifft, an dem Gedicht vorbeizugehen. Bereits der Ton der ersten beiden Verse ist ja doch außerordentlich sarkastisch. Hier steht nicht »gesicherte Bürgerlichkeit« im Gegensatz zu irgendwelchen »freien Lebensformen«, vielmehr wird jene »Bürgerlichkeit« dadurch entlarvt, daß der ganze menschliche Bezug der Tugenden >Fleiß< und Häuslichkeit verschwunden ist; die Tugenden erscheinen verdinglicht, als Eigenschaften des Objekts menschlicher Arbeit, ihr humaner Charakter ist getilgt. Worauf Voswinckel mit der Diagnose des >Halbbewußtseins< offenbar abzielt, das sind die eigentlich irritierenden Züge des Gedichts: in der Tat scheinen bis zu dem »hier« nur divergierende Einzelmomente aufgezählt zu sein, die je für sich kaum identifizierbar sind (da sie Elemente gänzlich heterogener Art miteinander verbinden), die zudem keine Ordnung erkennen lassen (somit gegeneinander austauschbar scheinen) und sich schließlich zu keinem Gesamtbild fügen. Gleichwohl entbindet ein solcher Eindruck nicht von der Aufgabe, zumindest das zu beschreiben, was immerhin verstehbar scheint, um so ein genaueres Bewußtsein von den Grenzen des Verständnisses zu gewinnen. Bereits »die geheizte Synkope« widersteht dem Zugriff der Deutung. Formal entspricht diese Verbindung zwar der vorherigen im Hinblick auf den inneren Kontrast, gleichwohl ist ihr nicht einmal mit Sicherheit ein sarkastischer Wert zuzuerkennen, da nämlich die wörtliche Bedeutung der Synkope nicht auszumachen ist. Im Bereich der Musik bedeutet eine »Synkope« die Verschiebung der Betonung von einer eigentlich betonten auf die folgende, eigentlich unbetonte Note; im Bereich der Sprachwissenschaft bedeutet sie den Ausfall eines unbetonten Vokals 1

Voswinckel, a.a.O., S. 208.

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zwischen Konsonanten und im Bereich der Medizin den Ausfall des Herzschlags. In jedem Falle stellt die Synkope etwas im Grunde Irreguläres dar. >Heizen< wiederum könnte - denkt man an die >häuslichen Bodenschätze< - >wohnlich machen< bedeuten; »die geheizte Synkope« wäre dann das Irreguläre, mit dem man sich arrangiert. Es ist offenkundig, daß ein solcher Deutungsversuch den Anspruch auf Knappheit und Prägnanz, den das Gedicht in seinem lakonischen Sprechen offenbar erhebt, zwar nicht bestreitet, ihn aber nicht wirklich einlöst. Vielmehr zieht die Interpretation sich auf eine allgemeinere Ebene zurück; sie bringt die verschiedenen Bedeutungen der Synkope auf den Nenner des »Irregulären«, übergeht aber die Festlegung auf eine bestimmte Bedeutung: es verbleibt eine Differenz zwischen der Genauigkeit des Gedichts und der Wahrnehmungsfähigkeit des Lesers. Das »Halljahr« entstammt einem ganz anderen Bereich. Jedes siebente Jahr, so heißt es im alttestamentlichen Buch »Leviticus«, soll für das Volk Israel ein Jahr der Ruhe sein, ein Sabbatjahr. Das nach wiederum sieben Sabbatjahren folgende 50. Jahr jedoch soll das durch Posaunen angekündigte »Halljahr« sein, ein »Freijahr« (neuere Bibelübersetzungen sprechen vom »Erlaßjahr«): ein Jahr des Neubeginns, in dem jeder wieder in den Besitz dessen kommen soll, was er durch Verkauf verloren hat, und in dem jeder Gefangene die Freiheit wiedererlangen soll.2 Dieses Halljahr3 wird vom Gedicht für nicht zu enträtseln erklärt: wo indessen das Gedicht selbst einem Gegenständlichen Undurchschaubarkeit zuspricht, dort benimmt es der Interpretation im Grunde jede Möglichkeit gesicherten Weiterfragens. Die nun folgenden Verse scheinen noch unzugänglicher als die bisherigen. Sie nehmen das Prinzip des Kontrasts wieder auf und verschärfen es (in dem »alles- / überragenden Flachbau«) zum Paradox. Bei der Verbindung von >Spinnen< mit >Altären< liegt der Akzent wohl auf der Abwertung der Altäre oder zumindest irgendeines Moments, das sich mit den Altären verbindet, zumal ja allein der Plural >Altäre< etwas Entlarvendes besitzt, indem er die in der Vielzahl beschlossene Relativierung des Besonderen anzeigt: >Altäre< verweist insofern auf die Entwertung dem Bereich der modernen Architektur und somit Elemente des Zivilisations-Vokabulars, beziehen sich vielleicht auf Erscheinungsformen des, dessen, was >Altar< bedeutet. >Vollverglast< und »Flachbau«, Begriffe aus 2 8

Vgl. 3. Mose 25, 8 ff. Der Ausdruck »Hall-Schah- / Jahre« findet sich in »Und Kraft und Schmerz« (SP 72). Zu diesem Gedicht hat Weinrich einige Bemerkungen gemacht; vgl. Harald Weinrich: Bruder Celan. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. ir. 1975.

wenn man so will, >Geistes der Modernität^ der auch den in dem Wort >Altäre< immerhin präsenten Bereich des Religiösen nicht unangetastet läßt. Sprachliches ist im Anschluß daran in zweifacher Weise thematisiert. In >Palaver< klingt der frühere sarkastische Tonfall wieder an: »Schattenpalaver« könnten sprachliche Schattengefechte sein,4 Schein, der mit Hilfe der Sprache aufrecht erhalten wird. Davon abgetrennt durch den zögernd-fragenden, gleichsam halblauten Einschub »(noch immer?)«, der des sprechenden Subjekts selbst gewahr werden läßt, die »Zwischenlaute«, deren bloßes Vorhandensein offenbar überrascht, wie der Einschub verrät, und die in ihrer sicherlich positiven Akzentuierung sich von dem Vorhergehenden abheben. Es ist nicht eindeutig, ob die »Schattenpalaver« zu den Zwischenlauten hinzukommen oder ob sie diese attributiv interpretieren. Letzteres würde bedeuten, daß die vermutete einerseits positive, andererseits negative Akzentuierung nur zwei verschiedenen Aspekten eines und desselben Phänomens gilt. Immerhin scheint jedoch allein durch die Nennung der Zwischenlaute (und durch den Einschub) ein neuer Klang in das Gedicht eingeführt, und dies auch insofern, als die Objektivität des so neutral-distanziert Aufgezählten wahrnehmbar wird als relativ auf ein sprechendes Subjekt. Trotz dieser Vorandeutung bleibt die folgende Nennung der »Ängste« in ihrer Unmittelbarkeit überraschend: Inneres ist hier unverstellt sichtbar. »Eisgerecht« deutet etwas Tödliches an und als dessen Bezugspunkt eine in sich bündige, gleichwohl bedrohliche Ordnung; »flugklar« meint wohl eine Art Bereitschaft, vielleicht Bereitschaft zur Konfrontation mit dem Gegenstand der Ängste, der indessen ungenannt bleibt: die Ängste sind solcherart ohne Bezug, jede Begründung würde ihre Auflösbarkeit suggerieren; das Nicht-Rationalisierbare macht gerade die harte Unmittelbarkeit dieser Ängste aus. Dennoch wird man nicht umhinkönnen, einen Zusammenhang zwischen den Ängsten und dem darauf Folgenden zu sehen. Als >Duschräume< wurden die Gaskammern der Konzentrationslager ausgegeben. >Barock ummantelt< mag demnach bedeuten: wortreich bemäntelt, und die >semantische Durchleuchtung* des Duschraums könnte besagen: man hat den sprachlichen Charakter des Euphemismus analysiert, aber man hat sich bis heute nicht wirklich mit der Realität der Konzentrationslager auseinandergesetzt. Diese Realität >schluckt Sprachefleißig-häuslichen Bodenschätze< zu Beginn des Gedichts, könnten sie nicht, statt, wie oben angenommen, allgemein das Objekt menschlicher Arbeit zu meinen (dem die bürgerlichen Tugenden< in verdinglichter Gestalt als Eigenschaften beigelegt werden) - könnten sie nicht in Wirklichkeit sich sehr konkret auf eine bestimmte Gestalt von Arbeit beziehen, nämlich auf die Zwangsarbeit, wobei denn die sarkastische Behandlung von >Fleiß< und >Häuslichkeit< an die damalige grotesk-euphemistische Verwendung, ja, Entstellung von Sprache erinnerte (»Arbeit macht frei«)? - Deutungsmöglichkeiten, denen indessen nicht endgültig zu einem höheren Grad an Gewißheit zu verhelfen ist. Das »hier«, das das bislang Aufgezählte im Sinne einer Ortsbeschreibung zusammenfaßt, besitzt, durch Sprechpausen hervorgehoben, einen offenkundigen gestischen Wert: das unmittelbarere Zeigen überholt hier jede Artikulation, wie denn auch zugleich die Aufforderung, >hier querdurch zu lehenQuerdurch< besagt, daß es offenbar keine im eigentlichen Sinne richtige, angemessene, sinnvolle 5

Daß diese Erfahrungen sprachlos bleiben, dies hat sich im Vergleich zu dem früheren Gedicht »Psalm« nicht verändert. Gewandelt hat sich indessen die Art des Hinweises auf dieses Faktum. Denn anstelle des jetzigen direkten Hinweises war ja im »Psalm« der Bezug zu einem sprachlich nicht Faßbaren erst eigentlich der Gebrochcnheit des Sprechens und seiner inneren Gespanntheit in der Verwendung formelhafter Wendungen zu entnehmen, nicht explizit, sondern im tatsächlich Gesprochenen implizit mitvermittelt. 249

Weise der Auseinandersetzung mit all dem Genannten gibt, daß vielmehr der Weg »querdurch« als der einzig mögliche erscheint, weil das Genannte selbst keinen Sinn besitzt, nicht nach einem inneren Plan organisiert ist, sondern als beliebiges Beieinander existiert in genau der Weise, die das Gedicht, lediglich aufzählend, vorführt. Der Reflexion unzugänglich, nicht eigentlich deutbar, >begreifbarerlebbarLeben< — des Du Widerfahrendes zu sein, d. h. in der Negativität, die den Bezug des Du zu ihm bestimmt. Die Bemühung, durch etwas querdurchzuleben, also der Versuch, es zu überstehen, muß auskommen »ohne Uhr«: ohne die Möglichkeit, sich an einem objektiven Halt zu orientieren, ohne Sinngebung von irgendeiner Seite und ohne Aussicht auf irgendein versprochenes Ziel. Nach der Bremer Rede schließt der »Versuch, Richtung zu gewinnen«, »die Frage nach dem Uhrzeigersinn« ein (Br 128). Man kann die Worte »querdurch, ohne Uhr« als Antwort auf jene früher gestellte Frage lesen.

2

Momente von Opposition in der früheren Lyrik

In aller radikalen Illusionslosigkeit bewahrt dieses Gedicht dennoch eine Haltung des Trotzes, seine letzten Worte sind ein Appell zum Standhalten. Opposition, wie sie sich darin ausprägt, ist zwar ein Grundzug der späten Gedichte Celans; sie durchzieht jedoch in vielfältiger Gestalt wenngleich zumeist wesentlich gedämpfter - die Celansche Dichtung insgesamt. Dazu ein kurzer Rückblick. Das erste Gedicht in »Mohn und Gedächtnis«, »Ein Lied in der Wüste« (MG 7), beginnt mit den Versen: Ein Kranz ward gewunden aus schwärzlichem Laub in der Gegend von Akra: dort riß ich den Rappen herum und stach nach dem Tod mit dem Degen.

Der Kampf gegen den Tod ist ein aussichtsloses Unterfangen, eine Donquichotterie. Und dennoch lautet der letzte Vers dieses Gedichts: So sprech ich den Namen noch aus und fühl noch den Brand auf den Wangen.

Der Wechsel ins Präsens bezeugt, daß der oppositionellen Haltung doch so etwas wie Erfüllung gewährt ist: ein Ausharren, dem in der persönlichen Betroffenheit - »und fühl noch den Brand« - die Leistung einer Objektivation, vielleicht eines >Bannens< gelingt: »So sprech ich den Namen noch aus« - etwas oder jemanden beim Namen nennen bedeutet: ihm gegenüber sich selbst als Subjekt bestimmen und behaupten.

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So unterschiedlich die Bereiche sind, die unter diesem Gesichtspunkt ins Spiel kommen - zumeist stellt sich in den frühen Gedichten das Motiv der Opposition als bewußte Haltung eines Subjekts dar: Ein Wort - du weißt: eine Leiche. Laß uns sie waschen, laß uns sie kämmen, laß uns ihr Äug himmelwärts wenden. (VS 49 f.)

Celan zitiert diese Stelle in einem Brief: »Das Wort - eine Leiche, aber: laß uns sie waschen [.. .].«' Das im Brief eingefügte »aber« macht die Gegenbewegung ausdrücklich, die in diesen Versen vollzogen wird: in der - selbst den Anhauch von Absurdität nicht scheuenden - Bemühung, noch der unwiderruflich zerstörten Sprache Achtung widerfahren zu lassen, konkretisiert sich der Widerstand gegen die Härte des Faktischen, gegen Zerstörung überhaupt. »Gegenlicht«, so lautet bezeichnenderweise ein Zyklus in »Mohn und Gedächtnis«, vom »Gegentakt«, den der Puls einmal >gewagt< hat, spricht dann ein Gedicht in »Sprachgitter« (SG 43), und die wiederum spätere »Gauner- und Ganovenweise« (NR 27 f.) schließt mit den Versen: Envoi Aber, aber er bäumt sich, der Baum. Er, auch er steht gegen die Pest.

Das Envoi, »das dem chansonhaften Präteritum Villon'scher Manier ein prononciertes Präsens entgegensetzt«, »als Beschwörung der Gegenwart, als Bannwort >gegen die PestGegenworte< zu erwähnen, der unter anderem ja das abgewandelte Galilei-Zitat »Denn / sie bewegt sich, dennoch, im Herzsinn« zugewiesen wurde. Das »dennoch« ist auf mancherlei vorher im Gedicht Genanntes beziehbar; gleichwohl deutet die Stellung zwischen Kommata und damit die Hervorhebung durch Sprechpausen an, daß dieses »dennoch« nicht im Bezug zum Kontext untergeht, sondern zugleich eine - tendenziell sich verselbständigende — Geste der Abwehr darstellt. Das wiederum findet vor allem in Gedichten der »Atemwende« eine Entsprechung in einem »trotz allem«,11 das als eine umfassende Bewegung der Abwehr und des Verwerfens sich offenbar bewußt nicht auf eine genaue Richtung mehr festlegen lassen will. Ebenfalls in der »Atemwende« tritt dann als ein besonderes Motiv das des >Standhaltens< in den Vordergrund: Stehen, im Schatten des Wundenmals in der Luft. Für-niemand-und-nichts-Stehn. Unerkannt, für dich allein. Mit allem, was darin Raum hat, auch ohne Sprache. (AW 19)

Bereits Gadamer versteht in seinem Kommentar zu diesem Gedicht das Stehen als »Standhalten«.12 Der Stehende ist hier völlig auf sich selbst zurückgeworfen - »für dich / allein« -, sein Verhalten scheint der Reflexion nicht mehr zugänglich - »Unerkannt« -, ja, es ist eigentlich nicht mehr recht >begründbarfür jemanden oder etwas< als >an dessen Stelle< oder >zu dessen GunstenRationalisier10

11 12

Die Figura etymologica des >sich bäumenden Baums< bringt in der Entsprechung von Nomen und Verb die von Subjekt und Handlung zum Ausdruck, also eine Sclbstverwirklichung des Subjekts, die wiederum nur in der Auflehnung möglich scheint. Vgl.AW 44, 58,94Gadamer, a.a.O., S. 75.

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barkeit< hinaus, so sehr auch entzieht sie sich vielleicht überhaupt einem sprachlichen Begreifen: das Stehen >mit allem, was darin - nämlich in jenem Schatten - Raum hatStandhalten< ist ein Motiv auch des folgenden Gedichts: Für Eric In der Flüstertüte buddelt Geschichte, in den Vororten raupen die Tanks, unser Glas füllt sich mit Seide, wir stehn. (SP 50)

Ausgangspunkt ist vermutlich die Studentenrevolte vom Mai 1968 in Paris;14 darauf könnte sich jedenfalls die »Flüstertüte« beziehen (ein umgangssprachlicher Ausdruck für das Megaphon). Daß »Geschichte« in dieser Flüstertüte »buddelt«, Vergrabenes zutage fördert, das mag demnach bedeuten, daß jene Ereignisse die Erinnerung aufrühren an eine Tradition von Aufständen, des Aufbegehrens und der Empörung (wobei das Wort »Flüstertüte« den Gedanken suggeriert, es komme jene Tradition nie deutlich vernehmbar zur Sprache, Unterdrückung erstrecke sich hier auch auf das Aussprechen). Die Erwähnung der »Tanks« wiederum läßt wohl die Vorgänge in Frankreich zusammenfließen mit dem Einmarsch der Warschauer Pakt-Staaten in der Tschechoslowakei wenige Monate später - eine Kontamination geschichtlicher Ereignisse, wie sie 13

14

Das >Wundenmal in der Luft< gehört zu denjenigen Passagen, die - vor allem mit den Wörtern »Rauch«, »Luft«, »Wolken« - das Thema Vernichtungslager immer wieder aufnehmen, von der »Todesfuge« an quer durch das ganze Werk. Vgl. »dann steigt ihr als Rauch in die Luft / dann habt ihr ein Grab in den Wolken« (MG 38) - »Wölkende Seele, noch einmal gestaltnah« (SG 29) - »keine / Rauchseele steigt und spielt mit« (SG 63) »alle die mit- / verbrannten Namen [...] Soviel / gewonnenes Land / über / den leichten, so leichten / Seelen- / ringen. // [. ..] Finger, rauchdünn« (NR 25 f.) - »Die Geschlechterkette, / die hier bestattet liegt und / die hier noch hängt, im Äther« (NR 72) — »die / Schwebenden, die / Menschen-und-Juden, / das Volk-vom-Gewölk (NR 76; vgl. dazu Bayerdörfer, a.a.O., S. 339) - »Groß / geht der Verbannte dort oben, der / Verbrannte« (NR 88) — »Rauchspur / du, droben, / in Frauengestalt« (AW 40) — »Landschaft mit Urnenwesen. / Gespräche / von Rauchmund zu Rauchmund« (AW 55) - »Die Un- / bestatteten, ungezählt, droben, / die Kinder« (AW 83) - »vom Unbestattbaren her« (FS 121). Einem Vermerk des Verlags zufolge sind die Gedichte des Bandes »Schneepart« zwischen Dezember 1967 und Oktober 1968 entstanden. 253

sich bereits in dem früheren Gedicht »Schibboleth«1* findet. Weniger deutlich bleiben demgegenüber die Verse »unser Glas / füllt sich mit Seide« - ein rätselhafter, aber offenbar gelinderer, passiv erduldeter Vorgang. Eindeutig jedoch ist der Schluß: Stehen ist hier ein Standhalten angesichts der realen Bedrohung durch die über »Tanks« verfügenden, das Geschehen beherrschenden Mächte. 3

»Enthöhung« und Entgrenzung

Das zuletzt genannte Gedicht entstammte bereits wiederum der späten Lyrik; der aktuell-politische Bezug hier ebenso wie der zeitkritische Bezug in zahlreichen anderen Gedichten macht die oppositionelle Haltung unmittelbar einleuchtend und für den Leser ohne weiteres nachvollziehbar. In dieser Hinsicht sollte der Rückblick auch den vergleichsweise konventionellen Charakter der berührten oppositionellen Momente quer durch Celans Gesamtwerk - vor Augen führen. Demgegenüber findet indessen eine allein den späten Gedichten eigene Erscheinungsweise von Opposition einen viel prägnanteren, wenngleich weniger leicht zu durchschauenden Ausdruck in einer anderen Richtung: nämlich in einer in der Tat atemberaubenden und - trotz expressionistischer Vorklänge in ihrer Radikalität und Konsequenz auch im Rahmen der europäischen Lyrik einzigartigen Demontage des traditionellen Menschenbildes, einer Demontage, die dem Anschein nach nur mittelbar, in Wirklichkeit jedoch weit unerbittlicher Zeitkritik übt, als dies die politischen Anspielungen tun. Besser wohl als mit dem (den ganzen Ernst eher herunterspielenden) Begriff »Demontage« ist dieser Vorgang bezeichnet mit dem Wort »Enthöhung«, in Anlehnung an (wie oben zitiert) ein bei Celan aufgenommenes Wort Meister Eckharts. »Enthöhung« vollzieht sich in zweierlei Weise, indem einerseits der Bereich des Psychisch-Geistigen mehr und mehr usurpiert wird durch das Physisch-Materielle und Mentales verdrängt wird durch Physiologisches und indem andererseits Vorgänge im humanen Bereich verlegt werden in den Bezirk des Animalischen und Vegetativen. Daß dieser Enthöhung dann eine andere (hier mit dem Begriff »Entgrenzung« bezeichnete) Bewegung antwortet, darauf ist im Anschluß daran hinzuweisen. 3.1 »Enthöhung« Ein erster Aspekt von Enthöhung liegt im Rückgang hinter das Geistige zurück auf dessen konkret-dingliche Basis, den »physiologischen Ort«, 15

Vgl. dazu Neumann, a.a.O., S. 58 ff.

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also das Gehirn. Das Wort »Hirn« taucht in Celans Lyrik vor der »Atemwende« nur ein einziges Mal auf, nämlich in den Versen »Aus Herzen und Hirnen / sprießen die Halme der Nacht« (MG 68).1 Zielt dort die Zusammenstellung >Herz und Hirn< noch auf ein Gesamtbild >MenschHirnstrom< und »Windung« (SP 88). Bemerkenswert ist indessen, daß andere Termini bisweilen durchaus wie Celansche Neuprägungen anmuten, so etwa das Wort »Hirnlappen« (SP 78), das jedoch einen Teil des Großhirns bezeichnet, oder das Wort »Hirnmantel« - ein Synonym zu >HirnrindeSeelenblindheitStäbchen< in der Netzhaut; beim Sehen wird der Sehpurpur abgebaut (das ruft die Nervenerregung hervor), und im Dunkeln wird er wieder aufgebaut. Statt wahrgenommener Gegenstände wird hier die Wahrnehmung selbst zum Gegenstand des Gedichts.17 Ähnliches gilt im übrigen auch für die oben 19 17

Hinsichtlich der »Atemwende« selbst vgl. AW 62, 89, 98. Ob >vernetzte Vokale< bedeutet miteinander verflochtene Vokale< oder eine Übertragung aus dem optischen Bereich (»Netzhaut«) darstellt (und insofern gleichsam eine Projektion der Synästhesie in den physiologischen Bereich wäre), läßt sich nicht recht entscheiden. (Vielleicht ist der >schallende Vokal· genauerhin als >Schrei< aufzufassen.)

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erwähnten Freud-Zitate; das Gedicht » . . . auch keinerlei / Friede« (FS 95) zum Beispiel beschreibt nicht zuerst bestimmte Empfindungen (die gleichwohl genannt werden), sondern vor allem die Reaktion des Bewußtseins auf Reize überhaupt. Faßt man diese Aspekte zusammen, so scheint es bei der Aufnahme des wissenschaftlichen Vokabulars und einer wissenschaftlichen Optik in erster Linie um eine Depravation des mentalen Bereichs zu gehen. Denn auch das gewohnte Bild vom Menschen als einer psycho-physischen Einheit läßt zwar das Physische als >Basis< für das Geistige gelten (und rechnet Wechselwirkungen ein), es erlaubt aber nicht, dieses durch jenes schlechthin zu ersetzen (und somit die Einheit von der Seite des Physischen her zu leugnen). Dazu kommt ein anderes: die bei Celan verwendeten Fachtermini — etwa »Schläfenlappen« (SP 62; ein Teil des Großhirns) - müssen dem Laien häufig als schlechthin grotesk erscheinen, ein Umstand, der wohl gerade ihre Verwendung motiviert.18 Sieht man einmal von den Fremdwörtern ab — wie zum Beispiel »Kommissur« (FS 100, SP 83; Nervenfaser-Querverbindung der beiden Gehirnhälften) -, so ergeben sich hinsichtlich des Erscheinungsbildes fließende Übergänge zwischen diesen Fachausdrücken und denjenigen der eigenen Wortbildungen und Verknüpfungen, die in der Tat auf das Grotesk-Verzerrende abzielen: das »phallische Hirntransplantat« (SP 43) oder ein »Mischkrug voll blasigen / Hirns« (FS i2).19 Das Moment des Schocks in solchen Formulierungen ist sicherlich nicht einfach eine platte Provokation; wo Psychisch-Geistiges als »Mark von Verrat und Verwesung« (FS 13) identifiziert wird, dort geht es nicht um willkürlich gesuchte Pointen im Sinne eines »epater le bourgeois«, sondern um die Nachzeichnung der vom Gedicht nicht selbst veranstalteten, vielmehr der von ihm nur wahrgenommenen Entstellungen. Wenn nämlich das Gedicht vom »Hirn« spricht - und des weiteren von »Schädel« und »Stirn« oder »Schläfe« 20 - statt von >Gedanke< oder >BewußtseinHirn< und >Gallenstein< an den nächtlichen Himmel in FS 99. - Zu »Hirn« vgl. weiterhin FS 90, 119, LZ 99, SP 39, 87, auch FS 48. Vgl. FS 43, 90, LZ 87, 89. - FS (8), 18, 35, 53, LZ 68, 100, SP 53, 66, 71, 77. - FS 46, 67, 104, LZ 96, SP 62, 86.

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etwa an den »Traum«, der nach den Worten eines oben zitierten Gedichts zum Stapel aufgeschichtet wie eine Ware existiert und der nach den Worten eines anderen Gedichts, in >Stufen< eingeteilt, untersucht wird nach der meßbaren Zahl der »Lidschlagreflexe«, an einem »entnachteten / Ort«, einem Ort, an dem auch nachts das Licht brennt, nämlich auf einer klinischen Versuchsstation (FS 47). Gleichwohl hat es nicht eigentlich den Anschein, als stehe hier die Wissenschaft selbst am Pranger. Freilich erscheint sie nunmehr in einer anderen Beleuchtung, als dies oben im Abschnitt über die »Zitate« der Fall war. Indessen, der Beitrag, den ihr Vokabular und ihre Optik zu der oben vermuteten Depravation des mentalen Bereichs leisten, liegt wesentlich darin, daß solcherart jede Möglichkeit zur Sublimierung unterlaufen wird. Insofern bedient sich das Gedicht der Wissenschaft, um im Rückgang auf das Physische den Blick freizugeben auf die Entstellungen, die dem Geistig-Psychischen widerfahren. In der Realität ist die Entwertung des überkommenen Menschenbildes längst vollzogen. Das versucht das Gedicht zu zeigen. Daß der Schritt zum Physischen hin nachvollziehbar ist, bedeutet zweifellos nicht, daß er reversibel wäre und der Leser das Wort »Hirn« in das Wort »Denken« bzw. »Gedanke« ohne weiteres übersetzen dürfte: die konkrete Materialität des Physischen darf keinesfalls übergangen werden. Ein gleiches gilt auch für die Relation von »Lunge« einerseits und »Atem« und »Sprache« andererseits. Im Zusammenhang mit dem Gedicht »Schuttkahn«, das das Wort »Lunge« in Celans Dichtung einführt, wurde betont, daß der Atem nicht mit der Sprache gleichzusetzen, sondern als das unmittelbar Lebendige und Lebensnotwendige Voraussetzung für diese sei und in dieser sich zur jeweils bestimmten Gestalt verdichte. Eine derartige Zuordnung beider ist auch für die späte Lyrik anzusetzen, jedoch - sieht man von dem einen Gedicht »Schuttkahn« ab - mit dem Unterschied, daß beides zurückbezogen wird auf den physiologischen Vorgang und den physiologischen Ort, das Organ »Lunge«. Ein Vers wie »zwei Bücher anstelle der Lungen« (SP 37) macht den Zusammenhang deutlich, läßt indessen offen, ob hier nicht zugleich mit einem kritischen Sinn zu rechnen ist: das Buch, das an die Stelle des lebendigen Organs tritt, als eine erstarrte, fixierte Gestalt von Sprache. Daß die Konkretheit des Körperlichen nicht übergangen werden darf, wird ersichtlich aus den Bildern der Zerstörung, in die die Lunge einbezogen wird, so schon in der »Atemwende«: »Lesbare Blutklumpen-Botin [.. .] verlebendigt / vom Hauch der im frei- / geschaufelten Lungengeäst / hängengebliebenen Namen« (AW 94), so auch noch in »Schnee257

part«: »vorm / Blutklumpenort, auf der Lungen- / schwelle« (SP 77 f

°". Hinsichtlich des Themas »Sprache« wird indessen die Dimension des immateriell Geistigen gleich in mehreren Richtungen unterschritten. Neben »Wort« und »Name«, Schlüsselwörtern vor allem in den mittleren Gedichten, tauchen schon früher auch die »Silben« auf, die indessen ganz überwiegend die kleineren Einheiten darstellen, aus deren Zusammenfügung ein Gesamtsinn entsteht; anders im Spätwerk: dort bedeutet das Auftreten der vereinzelten Silbe ganz offenkundig die Abspaltung von der übergreifenden Einheit: »schlacksig / kommt eine über- / mündige Silbe geschritten« (FS 36) - eine Verselbständigung, die, bereits in der »Atemwende« unverkennbar, im Bereich der Schrift die »Buchstaben« ergreift und ebenso die »Satzzeichen«22 und im Bereich des Akustischen den »Vokal«23 und den Laut: »Umlaut«, »Mitlaut«, dazu »Gleichlaut«, »Zwischenlaute«, »Zwerglaute«. 24 Extreme sind hier schließlich der »Kehlkopfverschlußlaut«, der im Grunde nur ein Geräusch ist,25 und jener nicht existierende »Vokal«, den die folgenden Verse nennen: Offene Glottis, Luftstrom, der Vokal, wirksam, mit dem einen Formanten (SP 6i)2e

Darüber hinaus vollzieht sich die Enthöhung des Geistigen hinsichtlich der Sprache vielfach als Rückschritt auf niedrigere Stufen der Artikulation bis hin zum tierischen Laut und zum bloßen Geräusch, ein Vorgang, der ebenfalls bereits in der »Atemwende« einsetzt; man vergleiche 21 22 23 24

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Vgl. weiterhin FS 57, 74, LZ 10, 53, 84. Vgl. AW 33, 45, 48, (81), FS 12, 57, SP 2j. - AW 75, 78, LZ 65. Vgl. FS 77, SP 62. FS - SP 62 - FS 120 - FS 45 - LZ 82. »Der Kehlkopfverschlußlaut / singt« (FS 8); vgl. dazu Christoph Perels: Paul Celans Gedicht »Frankfurt, September«, a.a.O. Der Kehlkopfverschlußlaut ist der »Knacklaut«, der im Deutschen einen Vokal im Wort- oder Silbenlaut begleitet (vgl. »The'ater«); physiologisch gesehen, spielt sich bei der Hervorbringung dieses Lauts der gleiche Vorgang ab wie beim Husten. Die »Glottis« (Stimmritze) wird von den Stimmbändern gebildet. - Man hat in der Phonetik sogenannte »Spektrogramme« hergestellt, Aufzeichnungen der unterschiedlich hohen und unterschiedlich starken Frequenzen der einzelnen Sprachlaute, und dabei bemerkt, daß bei Vokalen immer mehrere »Formanten« gleichzeitig erscheinen, nämlich zwei, drei oder vier Schwingungen in unterschiedlichen Höhen. Einen Vokal mit nur einem Formanten gibt es demnach nicht.

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>stammeln< (AW 38, 60), >stottern< (FS 14, SP 23, 31), >flüstern< (FS 27, SP 50), >palavern< (FS 45, SP 82), >brabbeln< (FS 94), weiterhin die tierischen Laute, soweit sie jeweils unverkennbar auf Sprachliches bezogen sind: das >Getschilp< (FS ij), >krähen< (LZ 60), >wiehern< (AW 54, FS 51, LZ 86), >quieken< (SP 18), und in diesem Sinne schließlich auch das Geräusch : Sperrtonnensprache, Sperrtonnenlied. Die Dampfwalze wummert die zweite

Ilias ins aufgerissene Pflaster (LZ 88)27

Dort, wo, anders als in diesen Versen, Sprachliches nicht mehr ausdrücklich im Hintergrund steht, ist es gleichwohl vielfach als Reminiszenz im irgend noch akustisch Wahrgenommenen enthalten. Wenn eines der späten Gedichte folgendermaßen beginnt: »Bergung allen / Abwässerglucksens« (SP 87), so erlaubt (abgesehen von einer sich anschließenden Anspielung auf >Brief< und >BriefwechselRettung von SpracheBewahrung des (poetischen) Worts«, eine Intention, die sich nun freilich dem schlechthin nichtigen, nichtssagenden Geräusch zuwendet. Man kann die Verlegung sprachlicher Artikulation auf das Niveau tierischer Laute auch als Teilaspekt eines anderen wichtigen Vorgangs sehen, nämlich eines Vordringens des animalischen und des vegetativen Bereichs. In den Paralipomena zur »Ästhetischen Theorie« sagt Adorno - hellsichtig und zugleich vereinfachend - von Celans Gedichten: »Sie ahmen eine Sprache unterhalb der hilflosen der Menschen, ja aller organischen nach, die des Toten von Stein und Stern. Beseitigt werden die letzten Rudimente des Organischen.«28 Das ist in der Tat eine - wenngleich nicht die einzige, so doch wohl die extremste - Ausprägung einer Abkehr von aller >poetischen< Überhöhung, auch wenn man die Beseitigung alles Organischem eher als Tendenz denn als vollzogen ansehen mag. Auf diese Feststellung Adornos bezieht sich dann Böschenstein bei seiner Untersuchung »Drostischer Elemente« in Celans Dichtung; bedeutsam ist in dieser Hinsicht unter anderem »die immer stärkere 27 28

Vgl. dazu die Interpretation von Böschenstein: »Lesestationen im Spätwort«, S. 295-297· Adorno: Ästhetische Theorie, S. 477.

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Betonung anorganischer Gegenstände wie Stein, Moor und Sand«,29 die Zuwendung zu einer Moor- und Heidelandschaft, die »am deutlichsten der menschlichen Versuchung nach gestalteter Natur sich verweigert«,30 und das Auftauchen einer »Insekten- und Pflanzenwelt«, in die »der Mensch nicht als Person, allenfalls als Kreatur einbezogen ist«.31 Indessen bleibt dieses Vordringen des animalischen und vegetativen Bereichs ambivalent. Das folgende Gedicht entwirft das Bild einer Naturwelt, der im Grunde alles »Natürliche« fehlt: Ausgeschlüpfte ChitinSonnen. Die Panzerlurche nehmen die blauen Gebetmäntel um, die sandhörige Möwe heißt es gut, das lauernde Brandkraut geht in sich. (FS 34)

Der Sonnenaufgang findet statt als Geburtsvorgang im Bereich der Insekten, beliebig vervielfacht; für das (Morgen-) Gebet, eine rituelle Zeremonie, ist eine längst ausgestorbene Tierart zuständig; Beifall auf der einen Seite, auf der anderen gar eine Art Bekehrung komplettieren eine Szenerie, die den Menschen völlig ausspart. Man muß diese Depravierung menschlicher Verhaltensweisen wohl im Sinne einer satirischen Darstellung auffassen. So entlarven zum Beispiel die Worte »das lauernde / Brandkraut / geht in sich« in der einer (erfundenen) Pflanze unterstellten Verhaltensweise die entsprechende im menschlichen Bereich: Unaufrichtigkeit — »das Meineid-make up« (FS 108) - wird in ihrer Negativität schärfer bloßgestellt durch die Übertragung in Bereiche, die »eigentlich« davon gar nicht betroffen sind. Mittelbar wird darin deren ursprüngliche Integrität sichtbar. Diese ist in anderen Versen die Bedingung dafür, daß das Bedürfnis nach eigentlich menschlichen Beziehungen nur noch in der Hinwendung zur Pflanzen- und Tierwelt erfüllbar scheint: Schwester Kastanie, Vielblatt, mit deinem blanken Hiedrüben. (SP 48) 29

30 31

Bernhard Böschenstein: Drostische Landschaft in Paul Celans Dichtung. In: Kleine Beiträge zur Droste-Forschung 1972/3. Hg. v. Winfried Woesler. Dülmen 1973, S. 7-24; hier: S. 7. A.a.O., S. 20 f. A.a.O., S. 2i.

260

>Blank< bedeutet wohl >unverfälschtSich-selbst-freisprechen< vollzieht sich in einer nichtdialogischen, solcherart von der menschlichen unterschiedenen Sprache. Insofern ist dieses Bild der Isolierung und zugleich des In-sich-selbst-Erfülltseins nicht übertragbar auf menschliche Existenz, schließt jedoch, unausdrücklich, den Verweis auf die menschliche Unerfülltheit mit ein. In einer totalen Relativität — »Die Ewigkeit altert« - ist schließlich, wie angedeutet, Integrität einzig noch auf diesem niedrigeren Niveau zu finden: 32

33

»Kastanie« und »Hiedrüben« erinnern an das erste Gedicht in »Der Sand aus den Urnen«, »Drüben« (SU j): »Erst jenseits der Kastanien ist die Welt.« Böschenstein, a.a.O., S. 21. 261

Die Ewigkeit altert: in Cerveteri die Asphodelen fragen einander weiß. Mit mummelnder Kelle, aus den Totenkesseln, übern Stein, übern Stein, löffeln sie Suppen in alle Betten und Lager. (FS 71)

Die Erinnerung an die Lager, die sich mit dem Bild der Gräber von Cerveteri34 verbindet, scheint Gegenstand des Fragens - eines Fragens ohne Antwort —, Gegenstand des Eingedenkens einzig noch der Asphodelen, der Totenblumen. In der Verlagerung des eigentlich Humanen in die subhumane Welt der Tiere und Pflanzen ist indessen, hier wie an anderen Stellen, ein utopischer Beiklang nicht gänzlich zu verkennen, der Gedanke nämlich, das Humane besitze paradoxerweise dort noch einen letzten Ort. Es wäre dies freilich - entsprechend dem Gedicht, das »oft [...] verzweifeltes Gespräch« (Bü 144) ist - ein verzweifelt Utopisches, wohl von der gleichen Art, wie es die zu Beginn dieser Arbeit zitierten Verse bestimmte, die nach Liedern »jenseits / der Menschen« ausgriffen. Aber: es geht um jenes Humane eben schließlich gerade auch bei dem Abstieg in eine subhumane Welt, zumal dort, wo eine Art Rückkehr als Ziel sichtbar wird: es geht um [...] dies wieder ins Leben emporgelittene Stück bewohnbarer Erde (FS 121)

- also um eine Rückkehr zuletzt sogar aus einem Bereich noch unterhalb der Tiere und Pflanzen.

34

Cerveteri, in etruskischer Zeit ein bedeutendes wirtschaftliches und kulturelles Zentrum, ist heute wegen seiner ausgedehnten Nekropolen bekannt. »Rundgräber«, wie sie bei Celan schon früher erwähnt werden (SG 44, AW 44), sind dort zu finden, ebenso die »Tumuli« (SP 41), auf rundem Sockel aufgehäufte Grabhügel über der Grabkammer. Vgl. Robert Hess: Das etruskische Italien. Entdeckungsfahrten zu den Kunststätten und Nekropolen der Etrusker. Köln 1973, S. 200 ff.

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3-2

Entgrenzung

Die Unterschreitung des Geistigen auf das Physische hin wie die des Menschlichen auf das Animalische und Vegetative hin sind Bewegungen der Enthöhung, denen die sinnliche Wahrnehmbarkeit, die Konkretheit, ja, Materialität des jeweils Genannten unabdingbar ist. Dementgegen gibt es in Celans Spätwerk jedoch in verschiedener Hinsicht eine Bewegung des Transzendierens, der Entgrenzung, die zu der ersteren Bewegung, zu jenem Abstieg hinzugehört, nämlich die dort vollzogene Absage an das überkommene Bild vom Menschen voraussetzt, ohne daß ihr eigenes Ziel wirklich konkret faßbar wäre. Diese zweite Bewegung läßt sich verfolgen in der Behandlung der Dimensionen Raum und Zeit. Schon die mittleren Gedichte überschreiten den begrenzten Raum der Erde als der Stätte des Menschen, indem sie den ganzen Weltraum miteinbeziehen: »Soviel Gestirne, die / man uns hinhält. [...] O diese Wege, galaktisch« (NR 15). Das menschliche Innere und die Weite des Alls - in einem Atemzug nennbar: »die Sonnen-, die Herzbahnen« (NR 72) — sind dabei eng aufeinander bezogen: »die Sternwüste Seele« (NR 89). Die Entgrenzung - »Aller- / orten« — und die in ihr beschlossene Relativierung des Standorts werden dialektisch wieder aufgefangen: »Aller- / orten ist Hier und ist Heute« (NR 88). Diesen genauen Bezug zwischen menschlichem Subjekt und kosmischer Weite vermag man im Spätwerk Celans kaum mehr wahrzunehmen: »Tretminen auf deinen linken / Monden, Saturn« (LZ 14), ein Bild, dem alle räumliche Orientierung abhanden gekommen scheint. Deutlicher noch wird das im folgenden Gedicht: Mit Traumantrieb auf der Kreisbahn, angeschwelt, zwei Masken statt einer, Planetenstaub in den gehöhlten Augen, nachtblind, tagblind, weltblind, die Mohnkapsel in dir geht irgendwo nieder, beschweigt einen Mitstern, die schwimmende Trauerdomäne vermerkt einen weiteren Schatten, es helfen dir alle,

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der Herzstein durchstößt seinen Fächer, keinerlei Kühle, es helfen dir alle, du segelst, verglimmst und verglost, Augenschwärme passieren die Enge, ein Blutkloß schwenkt ein auf die Bahn, Erdschwärme sprechen dir zu, das Wetter im All hält Ernte. (LZ 77 f.)

»nachtblind, tagblind, / weltblind«: von alters her bedeutet das eine Einkehr ins Innere, so offenbar auch hier: »die Mohnkapsel in dir / [...]«; und einer ebenfalls alten Vorstellung entspricht es, daß das Äußere nun dennoch in der Innenwelt wiedergefunden werden kann. Gleichwohl hilft eine solche Rückbeziehung auf überlieferte Vorstellungen hier kaum eigentlich weiter: weder ist mehr die Ausgewogenheit zwischen Innen und Außen anzutreffen, die die mittleren Gedichte bestimmte, noch ist jene Unterscheidung selbst rundum sinnvoll; bei manchen Elementen (so etwa bei der »Trauerdomäne«) ist sie kaum durchführbar, zudem treten Äußeres wie Inneres gleichermaßen in materieller Gestalt auf (>Planetenkreisenniedergehenschwimmendurchstoßen< usw.), denen kein einheitlicher Sinn abzugewinnen ist, die somit auch nicht mehr einen einheitlichen Raum konstituieren. Der Verlust räumlicher Orientierung ist denn auch ausdrücklich in dem Wort »irgendwo«: »die Mohnkapsel in dir / geht irgendwo nieder«. Unverkennbar ist indessen die Beschädigung des menschlichen Subjekts, des angesprochenen Du: »an- / geschwelt« und gar »verglost«, seine Gesichtslosigkeit (unter der zweiten Maske, vielleicht einer Schutzmaske, ist das Gesicht selbst bereits eine Maske), seine >Schattenhaftigkeit< und Einsamkeit (die Beteuerung »es helfen dir alle« wird in der Wiederholung nur relativiert). Unverkennbar ist die Dominanz anonymer Vorgänge und Gewalten, das Schlußbild - vielleicht werden die Sterne eingesammelt - ein Bild des Untergangs. Das Bedrängende all dieser Erscheinungen verliert auch dann nicht an Intensität, wenn man den Eingangsworten des Gedichts den Hinweis entnehmen wollte, es sei alles nur Traumbild: das Erscheinende bleibt auch dann ein dem Subjekt Widerfahrendes (und die Unterscheidung von »Traum« und »Wirklichkeit« kann hier ohnehin nur als problematisch gelten). 264

Entgrenzung, die zum Orientierungsverlust führt, hat auch statt im Bereich der Zeit. Der genaue Geschichtsbezug schwindet dort, wo die Gedichte einfachhin über Jahrhunderte (es »ruhn die Schatten Jahrhunderte neben dir aus«, FS 98)35 und Jahrtausende verfügen (»der vieltausendjährige Teig«, FS Sj).36 Wo vom »Vortrupp / des nächsten / Urjahrhunderts« (SP 71) die Rede ist, dort scheint unsere eigene Zukunft nur mehr als nahezu unendlich weit zurückliegende Vergangenheit, ja, als Beginn der Zeiten künftiger Geschlechter in Betracht zu kommen. Über eine solche Relativierung von Zeit gehen dann schließlich diejenigen Gedichte noch hinaus, die in höchst paradoxer Weise von »Ewigkeit« (»Die Ewigkeit altert«, FS 71)" und gar von »Ewigkeiten« sprechen: Die Ewigkeiten tingeln im abgebeugten Strahl (FS 52)

Falls der zweite Vers sich auf Einsichten der modernen Physik bezieht, könnte die Erkenntnis der Relativität der Zeit38 den Hintergrund bilden, vor dem das Gedicht die Relativität nun auch der Ewigkeit statuiert, und dies nicht nur mit Hilfe eines »unangemessenen« Verbs, sondern bereits mittels der Pluralisierung.39 Voswinckel registriert in manchen der späten Gedichte einen neuen Ton »der sprachlichen Clownerie und abschätzigen Rede«.40 Von den eben zitierten Versen her wird man zumindest einen Grund dafür im Verlust bisheriger Orientierungen zu sehen haben, wobei der Mensch zur völligen Bedeutungslosigkeit herabzusinken scheint. Die (bereits früher zitierte) Fortsetzung der eben genannnten Verse lautet: Die Ewigkeiten tingeln im abgebeugten Strahl, ein Gruß steht köpf, zwischen zweien, 35 30 37 38

39 40

Vgl. auch LZ 98. Vgl. auch FS 24. Vgl. auch FS (IÄ), 79, (LZ 94), SP 13, 89. Einsteins Behauptung, das Licht der Sterne werde im Schwerefeld der Sonne von der geradlinigen Ausbreitung abgebeugt, konnte 1919 bei einer Sonnenfinsternis bewiesen werden. Jene Überlegung stand im Zusammenhang mit der von Einstein entdeckten Beziehung von Energie, Masse und Bewegung. Die damit wiederum verknüpfte Einsicht in die Relativität von Raum und Zeit mag hinsichtlich der letzteren zu der (außerhalb physikalischer Forschung stehenden) Frage veranlassen, ob nicht solcherart »Ewigkeit« (als das dialektisch andere zu »Zeit«) von der Relativität mitbetroffen sein müsse. Vgl. auch FS 35, LZ 57. Voswinckel, a.a.O., S. 211. 265

der dunkelblütige, sich mitverschweigende Muskel kammert den Namen ein, den er mittrug, und pflanzt sich fort durch Knospung.«

Offensichtlich ist auch die räumliche Ordnung aufgehoben: der zwischen zwei Ewigkeiten< kopfstehende Gruß, letztes Rudiment menschlicher Beziehung, kennt kein Oben und kein Unten mehr. Zwischen der totalen Relativierung auf der einen Seite und der vegetativ-bewußtlosen Welt auf der anderen gibt es für den Menschen keine Stätte. In diesem Sinne ist denn auch das Summarische der »Menschen- / und Tierschwärme« (FS 33) aufzufassen und die Bewegung eines Transzendierens über die Welt im ganzen hinaus. Freilich, gerade diese Bewegung gibt es auch schon früher in Celans Dichtung: Mit allen Gedanken ging ich hinaus aus der Welt: da warst du, du meine Leise, du meine Offne, und du empfingst uns. (NR 19)

Das Transzendieren hat hier ganz offensichtlich ein genaues Ziel, obwohl es zugleich — und dies auch als Bewegung des menschlichen Inneren - ein durch und durch paradoxer Vorgang bleibt. In der »Atemwende« heißt es dann ganz lapidar: »Die Welt ist fort, ich muß dich tragen« (AW 93); und in den späten Gedichten häufen sich schließlich die Passagen, bei denen diese Bewegung kaum mehr qualitativ zu bestimmen ist: hinter der "Welt wirft die ungebetene Hoffnung die Schlepptrosse aus. (FS 46)

In dieser unserer Welt findet die Hoffnung offenbar keinen festen Punkt mehr, an den sie sich halten, von dem aus sie die Welt fortbewegen könnte, sie, die ungebetene Hoffnung, ein Störenfried, der mit dem Gegebenen sich nicht zufrieden gibt. Der Ausgriff über die Welt hinaus führt in ein >Dahinterin sich geschlossenen Daseinsbereichen< zurückgeht, hingegen zumeist Verkleinerung, Relativierung und Anonymität einschließt: »Ungepflückt die großen / Spielzeug- / weiten« (FS 38), »unter / dieser / Welt / wühlt schon die neunte« (FS 9), »in eine der Welten herüber« (FS 59), »aus der Flocke Welt« (LZ 68), »ein Weltstein, sonnenfern, / summt« (LZ 20). Auch hier ist der »abschätzigen Rede«,41 dem >Ulk< - »deine Ulkspake, Beiboot / Welt« (SP 67) -,42 der provozierend gleichgültigen Vervielfältigung von »Welt« ein ambivalenter Sinn zu unterstellen. Die Bewegungen des Transzendierens, die nicht auf Raum und Zeit beschränkt, sondern dort nur leichter nachzuzeichnen sind, die Bewegungen über diese unsere Welt hinaus schließen den Verlust an überkommenen Orientierungen ein, indem sie ja zugleich ein Ausgriff auf »ein anderes« sind, Suche nach einem - freilich, wie festgestellt, anonym bleibenden - >DahinterEnthöhensSteinigenRaumhöhe< selbst, das einen Anstoß erfährt. Ein außerordentliches Ereignis: die Höhe, eine dem Du und dem Stein überlegene Dimension, gerät in Bewegung, übernimmt den Impuls und gibt ihm als dem nunmehr ihren eine gesteigerte Intensität; das Du und der Stein können damit im Sinne von Erfüllung sich übertreffen wissen. Das reale Substrat dieser Verse mag ursprünglich das sinnliche Bild einer lautlos aufsteigenden Lerche gewesen sein. Anknüpfend an diese Lautlosigkeit, macht das Gedicht daraus einen aufsteigenden Stein, der 44 45

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Bayerdörfer, a.a.O., S. 346. Nach dem Grimmschen Wörterbuch bedeutet »Sterbelicht« i. Fackel, Kerze, Windlicht bei einem Begräbnis, z. (offenbar weniger häufig) das Licht, das dem Sterbenden vorgehalten wird. Das Du, das in der Höhe anzutreffen ist, gehört wohl zu den »Schwebenden«, zum »Volk-vom-Gewölk«, vgl. oben, S. 253, Anm. 13.

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nur Lerchengestalt besitzt; es negiert also die Lebendigkeit des ursprünglichen Bildes - »Stein« hat ja bei Celan von Anfang an einen engen Bezug zum Toten. Und dennoch: in diesem Negieren wird plötzlich ein außerordentliches Positives frei: es ist ein Stein, der hier, der Gewalt des Naturgesetzes trotzend, aufsteigt. Im Negieren gewinnt der Vorgang den Charakter des Unerhörten: die Begegnung von Stein und Du wird im genauen Sinne zum Bündnis - »Wer schlug sich zu dir?« -, zu einem zutiefst Menschlichen. Es ist die Ambivalenz des Negativen, die die Möglichkeit des Positiven eröffnet, das seinerseits freilich dem sicheren Zugriff seitens des Gedichts wie des Lesers entzogen bleibt und das, wesenhaft abstrakter als das Negative, nur in der Andeutung existiert. In der dem Gedicht darum verbleibenden Rätselhaftigkeit, die nicht mehr als nur die Setzung von Zeichen für das - immer noch ausstehende, immer noch erst zu verwirklichende - Menschliche erlaubt, in der Fremdartigkeit mag der Leser schließlich eine eigene Schönheit entdecken und damit zuletzt die von Celan erstrebte Selbstevidenz.

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Schluß

Stand nach dem Zweiten Weltkrieg die deutsche Literaturwissenschaft weitgehend im Banne der philosophischen Position Heideggers, so scheint heute an deren Stelle die Theorie Adornos gerückt zu sein. Dafür zeugt zumindest der Umstand, daß der bei Adorno entlehnte Begriff der »Negativität« mittlerweile gern zur Kennzeichnung moderner Dichtung verwendet wird, und dies vermutlich deshalb, weil jener Begriff einerseits etwas »Neues«, eine neue Orientierung verspricht und dennoch andererseits so wenig auf einen bestimmten Inhalt festgelegt ist, daß jeder die ihm selbst geeignet erscheinenden Inhalte darin unterbringen kann. Auch die vorliegende Arbeit hat sich dieses Begriffs bedient, ohne ihn als Sammeltitel verstehen zu wollen, aber auch ohne ihn systematisch zu definieren und zum Prinzip zu erheben. Beidem entgegen wurde »Negativität« als eine Perspektive verstanden, die geeignet ist, den inneren Zusammenhang gerade unterschiedlicher Aspekte der Celanschen Dichtung sichtbar zu machen. Darauf sei resümierend noch einmal eingegangen. Dichtung ist für Celan alles andere als die freie Veranstaltung einer autonomen Sprache, sie ist und bleibt vielmehr ständig rückgebunden an den sprachlich sich artikulierenden und das Gespräch mit einem Du suchenden einzelnen, an die individuellen Erfahrungen und Ziele eines Ich. Celans eigene Dichtung geht, wie man weiß, von einer Erfahrung aus, die er in der Büchner-Rede als seinen »20. Jänner« bezeichnet hat: Vielleicht darf man sagen, daß jedem Gedicht sein »20. Jänner« eingeschrieben bleibt? Vielleicht ist das Neue an den Gedichten, die heute geschrieben werden, gerade dies: daß hier am deutlichsten versucht wird, solcher Daten eingedenk zu bleiben? (Bü 142)

Dieses Datum meint jenen Augenblick, in dem der vertraute Horizont unwiederbringlich verlorengeht, in dem alle bisher tragende Orientierung gänzlich zerstört wird: den Tag, an dem der Büchnersche Lenz »den Himmel als Abgrund« erfährt (Bü 141). Darauf bezieht sich Celan, wenn er an späterer Stelle sagt (unter Hinweis auf einen Vierzeiler aus »Sprachgitter« und auf das »Gespräch im Gebirg«, das vom Judesein handelt und in dem zwei Juden »wie Lenz« durch das Gebirge gehen): 272

»Ich hatte mich, das eine wie das andere Mal, von einem >20. Jänner20. Jänner2O. Jännerangereichert< von all dem« (Br 128), von einer Dimension von Negativität, die als dem Gedicht eingeschriebene^ ohne eigentlich beschreibbar zu sein, dennoch, unausgesprochen, ständig präsent ist. Dem erlebten Vergangenen stellt Celan selbst das aktuell Erfahrbare an die Seite: »Düsterstes im Gedächtnis, Fragwürdigstes um sich her«, so wird die Situation der Lyrik schon 1958 charakterisiert (Umfrage 1958). Jüngste Vergangenheit und Gegenwart liegen demnach in Celans Augen nicht so weit auseinander, wie man das heute allgemein sehen möchte.2 Seine kritische Einstellung zur Gegenwart, der sich eine dezidierte Absage an jeglichen literarischen Opportunismus verbindet,3 kommt denn auch verschiedentlich zu Wort, in den Gedichten selbst freilich, insbesondere in den späten, präziser als in den sonstigen Äußerungen (wie bei deren Kürze gar nicht anders zu erwarten).4 Negativität stellt sich somit zunächst als eine Eigenschaft des real Erfahrenen und Erfahrbaren dar, des Vergangenen, das untilgbar im Gedächtnis aufbewahrt bleibt, aber auch der Gegenwart, der das Individuum wiederum schutzlos - »wirklichkeitswund« (Br 129) - preisgegeben scheint. Negativität, solcherart tendenziell ein Inbegriff des Realen überhaupt, besitzt hiermit eine erste, ganz konkrete Erscheinungsweise, die der Frage nach einer >Negativität des Fiktionalen schlechthin (Jauß)5 1 2

3

4

6

Martin Puder über Adorno, vgl. oben S. 142. Vgl. auch eine Äußerung von 1968: »Ich hoffe, nicht nur im Zusammenhang mit der Bundesrepublik und Deutschland, immer noch auf Änderung, Wandlung. [...].« In: »Ist eine Revolution unvermeidlich?« - 42 Antworten auf eine Alternative von Hans Magnus Enzensberger. Hg. vom Spiegel-Verlag. Hamburg 1968, S. 9; zit. nach Über Celan, S. 26. Verurteilt wird eine Dichtung, die vom »>Machen< über die Mache allmählich zur Machenschaft« wurde (Brief an Hans Bender, a.a.O.) und die dann »mit oder neben dem Furchtbarsten mehr oder minder unbekümmert einhertönte« (Umfrage 1958); die Verurteilung gilt aber auch »diversen zeitgenössischen Wortkünsten bzw. Kunststücken, [...], die sich, in freudiger Übereinstimmung mit dem jeweiligen Kulturkonsum, genauso polyglott wie polychrom zu etablieren wissen« (Umfrage 1961). Vgl. den Schluß der Bremer Rede und die Ansprache vor dem hebräischen Schriftstellerverband, a.a.O. Deutlicher wird diese kritische Einstellung in mündlichen Äußerungen und Briefen, soweit Derartiges in den bisherigen Celan-Darstellungen mitgeteilt wird; vgl. die Briefe in: Die Pestsäule. H. i (Sept. 1972), S. 17-21; Wallmann: »Auch mich hält keine Hand«, a.a.O; Hans Mayer: Erinnerung an Paul Celan, a.a.O. Vgl. oben, S. 4 f.

»unhinterfragbar« vorausliegt und auf die die vorliegende Darstellung immer wieder zurückkommen mußte. Realität wird indessen im Gedicht nicht einfachhin und geradlinig als das erfahrene Negative ausgesprochen. Ihre Negativität prägt sich vielmehr dem Gedicht selbst ein, sie verändert es, wird eine Qualität der Form, sie bestimmt sein Sprechen: heutige Lyrik spricht nach Celan notwendigerweise »eine >grauere< Sprache« (Umfrage 1958), eine Sprache, in deren Gebrochenheit — einer im Wandel der Celanschen Dichtung unterschiedlich akzentuierten, unterschiedlich sichtbar werdenden Gebrochenheit — die sich verändernden Gestalten jener Negativität zu entziffern waren. Es wurde im ersten Kapitel hingewiesen auf die die frühe Lyrik bestimmende Spannung zwischen dem Sprechen einerseits und einem der Aussprechbarkeit sich entziehenden >Verschwiegenen< andererseits. Es sollte weiterhin gezeigt werden, daß dieses Verschwiegene trotz seiner Unverfügbarkeit vom Kontext her deutbar wird als Dimension des Nächtlichen, des Todes, ein Bezirk - »umbuscht von Singrün und Kummer« -, dessen Zugang von Schmerz und Leid bestimmt ist und der doch zuletzt unzugänglich, nämlich der Sprache unzugänglich bleibt. Auf sich selbst zurückgeworfen, seine Begrenztheit erfahrend, entwirft das Gedicht das Bild einer utopischen Sprache - repräsentiert in dem einen ausgezeichneten »Wort« -, die jenes Verschwiegene zu erreichen vermöchte. Dies beides, die Erfahrung der Begrenztheit von Sprache und der Ausgriff nach Utopischem, bleibt, freilich höchst unterschiedlich akzentuiert, bestimmend für Celans Dichtung; in beidem hat jene Gebrochenheit ihren Ursprung. Von der Erfahrung der Begrenztheit nimmt die poetische Selbstreflexion ihren Ausgang, d. h. das wachsende Bewußtsein der »von der Sprache gezogenen Grenzen« und zugleich »der von der Sprache erschlossenen Möglichkeiten« (Bü 143). Auf dem ersteren liegt das Gewicht in den frühen Gedichten; in dem harten Urteil »Bettel der Worte« schlägt sich dort die Einschätzung der Sprache als defizient und unzulänglich nieder. Das letztere hingegen — Sprache als Möglichkeiten erschließend - rückt, wie die Interpretation von »Blume« zeigen sollte, von »Sprachgitter« an in den Vordergrund, ohne daß freilich die Begrenztheit der Sprache nunmehr geleugnet würde. Dieser Akzentverlagerung ist eine veränderte Einstellung zu »Wirklichkeit« verbunden und eine gewandelte, erweiterte und zugleich komplexere Bestimmung des Utopischen. Vorher begriff das Gedicht jenen unerreichbaren Bezirk des Todes als Bezirk des Schweigens; jetzt begreift

das im Gedicht sich artikulierende Ich jene Opposition von Sprechen und Unaussprechbarem in ihrem Zusammenhang mit der Unversöhntheit von erfahrener und erfahrbarer Wirklichkeit einerseits und menschlicher Existenz andererseits. Das Utopische ist demgemäß nicht mehr vor allem im Gewinn einer utopischen Sprache vorgestellt, sondern darüber hinaus als ein utopischer Stand menschlicher Existenz (der jenen Gewinn mit einschließt): dafür stehen die Bilder der frei schwingenden Hämmer (»Blume«), des frei werdenden Zeltworts »Mitsammen« (»Anabasis«), des mit dem Handstumpf gefundenen Lebens (»An niemand geschmiegt«), der heraufsteigenden, endlich bewohnbaren Erde (»Hinausgekrönt«, »Hüttenfenster«). Die oben erwähnte Gebrochenheit bleibt erhalten: Utopie ist ja inhaltlich nur faßbar im Bild, das Bild ist immer Gegenbild gegen das Faktische und Gegebene, es bleibt diesem verpflichtet; im Utopischen ist der Hinweis auf die Unversöhntheit, Ungelöstheit des Hier und Heute enthalten, und dafür setzen, wie hervorgehoben wurde, Celans Gedichte jeweils ein deutliches Zeichen, etwa indem dem Bild der heraufsteigenden Erde das Wort »Babel« nach- und entgegengestellt wird. Dem Ausgriff auf utopische Bilder liegt indessen, wie die Interpretation bestimmter Aspekte der Büchner-Rede zeigen sollte, eine »Gegenperspektive« zugrunde, eine Denk- und Anschauungsform, die das Gegebene und Faktische im Lichte des Möglichen zu sehen, das Gegenständliche auf das ihm selbst jeweils zugehörige Nicht-Gegenständliche hin zu denken versucht. Diese kontrafaktische Optik, die die Dinge gleichsam gegen den Strich deutet, macht, wie oben gesagt wurde, Negativität gewissermaßen zum Prinzip. Sie gewinnt Gestalt mit Hilfe von Negationen, die jeweils Bestimmtes negieren, ohne daß das Negierte durch eine neue Position ersetzt würde, die also gleichsam zum Ort eines (über alle Positivität hinausreichenden) Potentials von Negativität werden (verfolgt wurde dies vor allem bei den Negationen »nirgends«, »niemals« und »niemand«). Die utopische Perspektive bleibt in den späten Gedichten erhalten (insofern konnte ja das zweite Kapitel auf diese vorausgreifen). Indessen verlagern sich die Akzente erneut: das Gegebene und Faktische wird nun härter und unversöhnlicher in seiner Defizienz entlarvt, denunziert, verurteilt. Statt der utopischen Bilder der mittleren Gedichte ist bei der späten Lyrik vielfach in den krassen Momenten von Entstellung und Zerstörung nur implizit ein positives Gegenbild mitgegeben, ablesbar den Spuren des Schmerzes, die in die so oft aggressive Tönung einfließen. Dementsprechend wurde in dem Wort »Nachtordnung« zuerst einmal die Verkehrung von Ordnung ins Negative gesehen, die der einzelne passiv, als Opfer erfährt; und dennoch wurde dann darin die Möglichkeit ent2/5

deckt, daß eben dieser einzelne in seiner Zugehörigkeit zu der »Nachtordnung« zuletzt zu sich selbst finden kann. Negativität wird, wie gezeigt werden sollte, zu einer Qualität, die wesentlich das Verhältnis des Lesers zu den späten Gedichten bestimmt, und zwar zuerst im Hinblick auf deren weitreichende Unzugänglichkeit, die die Identifikation mit diesen Gedichten erschwert,8 sodann und vor allem hinsichtlich der zahlreichen bewußt abstoßend-häßlichen Bilder, in denen Negativität eine ganz konkrete, »materielle« Gestalt gewinnt. Auch dies ist als Kritik an jenem >Fragwürdigen< aufzufassen (das, wie vorher zitiert, das Gedicht >um sich her< wahrnimmt) und dem >Düsteren< an die Seite zu stellen (das im Gedächtnis bewahrt wird); denn wie der »20. Jänner« dem Gedicht untilgbar »eingeschrieben« ist, so sind auch die Entstellungen, die hier vom Thematischen her in die Sprache selbst übergreifen, nicht willkürlich vom Gedicht produziert, sondern ihm eingeprägt von der Gewalt des Wahrgenommenen und Erfahrenen. Daß versucht wurde, diese Erscheinungen unter dem Begriff »Enthöhung« zu fassen, das sollte dem Umstand Rechnung tragen, daß auch in den offenkundigsten Verzerrungen und Zerstörungen das Bild einer möglichen Integrität latent mit anwesend ist, daß das nicht - vielleicht nicht mehr, vielleicht aber auch noch nie — eingelöste Versprechen, das im Gedanken der >Höhe« liegt, immer noch für gültig genommen wird. Daß dafür ein Begriff mystischer Herkunft gewählt wurde, sollte zuletzt auf eine Richtung verweisen, die zwar in der vorliegenden Arbeit nicht im Zentrum stand, in die aber Celans Dichtung - oft verdeckt — auch zielt: die Entstellung des Bildes vom Menschen ist zugleich die Entstellung des Ebenbildes des ganz Anderen, von dem die Büchner-Rede spricht - die Provokation, die somit zugleich über den Bereich der Menschen hinauszielt, gleicht dem Protest, der in dem früheren Gedicht »Zürich, Zum Storchen« (NR 12) als Protest Ausdruck der Hoffnung war. Wenn eben gesagt wurde, daß die Entstellungen nicht willkürlich vom Gedicht produziert seien, sondern ihm eingeprägt von der Gewalt des Erfahrenen, so bedeutet dies gleichwohl nicht, daß Celans Gedichte als Opfer ihrer Zeit angemessen begriffen wären. Vielmehr ist es eine schon bei der Interpretation des Gedichts »Schuttkahn« herausgestellte Intention der Celanschen Lyrik, das erlittene Negative zugleich als reflektiertes bewußt zu >nennen< und zu >setzen< (Entsprechendes kehrte wieder in der Formel »wirklichkeitswund und Wirklichkeit suchend«).7 Ohne daß dieses Negative in der späten Lyrik restlos in Sprache überführt würde — * Jede Interpretation bedarf der Möglichkeit von Identifikation natürlich ebenso wie der von Distanz. 7 Vgl. oben, S. 204 ff. 276

es bleibt auch hier zuletzt undurchdringlich, eine »unbeschriebene Wand« -,8 wird es doch immer weniger als ein nur Anonymes begriffen, stattdessen zunehmend als ein von Menschen selbst zu Verantwortendes herausgestellt.9 Ein Wort wie »Henkers- / schlinge« (FS 117) macht unmißverständlich klar, daß das dem einzelnen widerfahrende Negative von einer ganz realen Gewalt produziert ist. Wenn in der konkreten Entlarvung real produzierter Entstellung das erlittene Negative sich zugleich als im Gedicht reflektiertes und bewußt gesetztes zeigt, dann rückt es indessen zuletzt in die Nähe desjenigen Negativen, dem vom Gedicht her — im Sinne der Utopie als Denk- und Anschauungsform - die Aufgabe zufällt, das Gegenständlich-Faktische im Lichte seiner Möglichkeiten zu deuten. Utopie im Sinne der kontrafaktischen Optik und Zeitkritik liegen nebeneinander. In beiderlei Hinsicht überschreitet Celans Dichtung die Grenzen des Gewohnten und Vertrauten, ist sie das Werk eines, «der / die Gesänge zerschlug«, wie es in einem Nachlaßgedicht heißt,10 also das Werk eines, der die darin liegende Gefährdung des Gedichts in Kauf nahm. Celan meinte ohnehin: »Was man nicht wahrhaben will, ist - letzten Endes die Dichtung. Aber es gibt sie, quia absurdum ...«" Die absurde Existenz von Dichtung, die ja nach der Büchner-Rede für die Gegenwart des Menschlichen zeugt (Bü 136), ist geschichtlich bedingt: »La poe"sie ne s'impose plus, eile s'expose.«12 Das heißt: >Die Dichtung drängt sich nicht mehr auf, sie bietet sich darsie setzt sich nicht mehr durch, sie setzt sich aus, sie bringt sich in Gefahr