Das Gedicht im Geheimnis der Begegnung: Dichtung und Poetik Celans im Kontext seiner russischen Lektüren [Reprint 2012 ed.] 9783110923704, 9783484181410

This is a study of Paul Celan's reception of Russian literature, with special reference to works of major poetologi

238 67 11MB

German Pages 392 [396] Year 1996

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Table of contents :
Abkürzungen für die Zitatnachweise im Text
Vorbemerkung
I. GEHEIMNIS UND BEGEGNUNG. REZEPTIONSKRITISCHE VORÜBERLEGUNGEN
1. Rezeptionsforschung zwischen positivistischer Rekonstruktion und ästhetischer Erkenntnis
2. Stumme Zeugen: Russika in der Bibliothek Celans
II. BEGEGNUNG MIT RUSSLAND
1. Rußland als Raum des Todes. Die Rezeption Rußlands im Frühwerk
2. Hoffnung im Osten. Erinnerung in Frankreich. Rückkehr zu Russischem im mittleren Werk
3. Ereignis, Bewegung, Unterwegssein. Vom Raum Rußland zum Raum des Gedichts
III. BEGEGNUNG MIT DEN DICHTERN RUSSLANDS
1. Zweimalige Schwermut mit Sergej Esenin
2. Skythisch zusammengereimt: Aleksandr Bloks Revolutionspoem
3. Der vergeudete Dichter Vladimir Majakovskij
4. Dichter ohne Geschichte: Boris Pasternak
5. Das Gedicht im Geheimnis der Begegnung mit Mandel’štam
6. Die Sprachutopien Velimir Chlebnikovs
7. Alle Dichter sind Juden – Bekenntnis zu Marina Cvetaeva
8. »Pawel Lwowitsch Tselan – russkij poėt«? Celan als Dichter von »Babij Jar«
IV. VON DER BEGEGNUNG ZUM GEGENWORT. CELANS POETIK IM ZEICHEN RUSSISCHER DICHTUNG: Die Dichtung Ossip Mandelstamms und Der Meridian
1. Kommentar zur Rundfunksendung über Die Dichtung Ossip Mandelstamms
2. »...in eines Anderen Sache Sprechen« – Aspekte von Rezeption im Meridian
Literatur
Verzeichnis der behandelten Werke und Übersetzungen Paul Celans
Namenregister
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Das Gedicht im Geheimnis der Begegnung: Dichtung und Poetik Celans im Kontext seiner russischen Lektüren [Reprint 2012 ed.]
 9783110923704, 9783484181410

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STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR

Band

Herausgegeben von Wilfried Barner, Richard Brinkmann und Conrad Wiedemann

Christine Ivanovic

Das Gedicht im Geheimnis der Begegnung Dichtung und Poetik Celans im Kontext seiner russischen Lektüren

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1996

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort. Drucklegung ergänzend gefördert von der Friedrich-Naumann-Stiftung.

D 29 Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Ivanovic,

Christine:

Das Gedicht im Geheimnis der Begegnung : Dichtung und Poetik Celans im Kontext seiner russischen Lektüren. - Tübingen : Niemeyer, 1996 (Studien zur deutschen Literatur ; Bd. 141) NE: GT ISBN 3-484-18141-9

ISSN 0081-7236

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1996 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: Guide-Druck, Tübingen Buchbinder: Heinr. Koch, Tübingen

Ta moje Rosu i Biaza Für Rosa und Blagoje

Ivanovic

Inhalt

A b k ü r z u n g e n f ü r die Z i t a t n a c h w e i s e im T e x t Vorbemerkung

X XI

1. GEHEIMNIS UND BEGEGNUNG. REZEPTIONSKRITISCHE VORÜBERLEGUNGEN ι.

R e z e p t i o n s f o r s c h u n g z w i s c h e n positivistischer R e k o n s t r u k tion u n d ästhetischer E r k e n n t n i s

5

a) Dokumentation und Rekonstruktion von Rezeptionszusammenhängen als Voraussetzung literarischer Hermeneutik

5

b) Probleme der Beschreibung, Erkenntnis und Wertung rezeptionsbedingter Textzusammenhänge c) Die Relevanz von Rezeption f ü r poetologische Zusammenhänge 2.

17

a) Die Bibliothek als Kommentar

17

b) Russika in der Bibliothek Celans

22

c) Celan als Leser - Erkenntnisse über seine Arbeitsweise

31

35

R u ß l a n d als R a u m d e s T o d e s . D i e R e z e p t i o n R u ß l a n d s i m Frühwerk

2.

7 13

S t u m m e Z e u g e n : R u s s i k a in d e r B i b l i o t h e k C e l a n s

II. BEGEGNUNG MIT RUSSLAND ι.

Ι

37

a) Erste Bekanntschaft mit Russischem in Czernowitz

39

b) Rußland als Raum des Todes in Gedichten des Frühwerks

44

c) Ausbruch aus der Geschichte. Abwendung von Russisch-Ostlichem in Bukarest

57

H o f f n u n g i m O s t e n . E r i n n e r u n g in F r a n k r e i c h . R ü c k k e h r z u R u s s i s c h e m im mittleren W e r k

60

a) Jüdische Herkunft, östliche Heimat

60

b) Wiederaufnahme und Entwicklung russischer Lektüren zwischen 1957 und 1969

62

VII

3- Ereignis, Bewegung, Unterwegssein. V o m R a u m Rußland z u m R a u m des Gedichts a) Russisches im Bereich der Niemandsrose b) Lesemodelle und Raumkonzeption in der Niemandsrose c) Späte Reflexe auf Russisches

I I I . B E G E G N U N G MIT DEN D I C H T E R N RUSSLANDS

ι. Zweimalige Schwermut mit Sergej Esenin a) Ambivalenz von Ubersetzung und Gedicht b) Melancholie c) Der »andere« Esenin

76 77 107 117

127

129 136 142 155

2. Skythisch zusammengereimt: Aleksandr Bloks Revolutionspoem

159

a) Blok lesen, in einer anderen Zeit b) Skythische und andere Revolutionsgedichte c) Das Gedicht und die Geschichte - Erkundung oder Entwurf?

159 165 172

3. D e r vergeudete Dichter Vladimir Majakovskij

178

a) Einschränkungen der Majakovskij-Rezeption b) Der Akzent des Zukünftigen c) Ein Schädel voller Verse

178 183 185

4. Dichter ohne Geschichte: Boris Pasternak

193

a) Auf Luft- und Atemwegen b) Schwierigkeiten mit Pasternak c) Dichter ohne Geschichte

193 197 206

5. D a s Gedicht im Geheimnis der Begegnung mit Mandel'stam .

212

a) Geheimnis und Begegnung b) Von der >Sprache des Steins< zur >Karnevalesken Dialogisierungc Die Celan-Forschung über Mandel'stam c) Ubersetzen, so wichtig wie Dichten d) Göttliche Tragödie? Begegnung mit Dante

212

6. D i e Sprachutopien Velimir Chlebnikovs a) Weder Nonsens noch Konkrete Poesie b) Grandiose Sprachräume und die £¿»heit des Gesprächs c) Begegnung mit Chlebnikov?

VIII

220 230 246 261 262 270 283

7· Alle Dichter sind Juden - Bekenntnis zu Marina Cvetaeva ... a) Ein Kommentar zu Rußland

288 288

b) Alle Dichter sind Juden

295

c) Schwanengefahr

300

8. »Pawel Lwowitsch Tselan - russkij poét«? Celan als Dichter von »Babij Jar«

306

a) Babij Jar - Deutsche Geschichte in Rußland

306

b) Paul Celan, ein russischer Dichter

310

c) Kontra!

315

IV. VON DER BEGEGNUNG ZUM GEGENWORT. CELANS POETIK IM ZEICHEN RUSSISCHER DICHTUNG

Die Dichtung Ossip Mandelstamms und Der Meridian ι. Kommentar zur Rundfunksendung über Die Dichtung Ossip Mandelstamms

319

321

a) Z u m Kontext von Rundfunksendung und Büchner-Preis-Rede

321

b) Text und Stellenkommentar

325

c) Z u Struktur und Darstellung des Textes

337

2. »... in eines Anderen Sache Sprechen« Aspekte von Rezeption im Meridian a) Das Fremde und das Andere. Alterität

346 347

b) Dunkelheit aus selbstentworfener Ferne

353

c) Ästhetik der Utopie

357

Literatur

362

Verzeichnis der behandelten Werke und Übersetzungen Paul Celans

372

Namenregister

376

IX

Abkürzungen für die Zitatnachweise im Text

Bandnummer römisch, Seitenzabi arabisch: Paul Celan: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Hrsg.v. Beda Allemann und Stefan Reichert unter Mitwirkung von Rolf Bücher. Frankfurt a.M. 1983. Bandl-V.

FW und arabische Seitenzahl: Paul Celan: Das Frühwerk. Herausgegeben von Barbara Wiedemann. Frankfurt a.M. 1989.

TCA und arabische Seitenzahl: Paul Celan: Die Niemandsrose. Vorstufen, Textgenese, Endfassung. Tübinger Ausgabe. Herausgegeben von Jürgen Wertheimer. Bearbeitet von Heino Schmull unter Mitarbeit von Michael Schwarzkopf. Frankfurt a.M. 1996.

SS und römische Bandzahl, arabische Seitenzahl: Osip Mandel'stam: Sobranie socinenij ν dvuch tomach. T. I - I V [Gesammelte Werke in zwei Bänden, später erweitert auf vier Bände]. Pod red. prof.G.P.Struve i B.A.Filippova. Wasington 1964 / N e w York 1966 / N e w York 1969 / Paris 1981.

O.Mandelstam: Essays und römische Bandzahl, arabische Seitenzahl: Ossip Mandelstam: Über den Gesprächspartner. Gesammelte Essays I. 1 9 1 3 - 1 9 2 4 . Aus dem Russischen übertragen und herausgegeben von Ralph Dutli. Zürich 1991. Ossip Mandelstam: Gespräch über Dante. Gesammelte Essays II. 1 9 2 5 - 1 9 3 5. Aus dem Russischen übertragen und herausgegeben von Ralph Dutli. Zürich 1991·

Verz. Nr. »Kyrillisches, Freunde, auch das ...«. Die russische Bibliothek Paul Celans im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Aufgezeichnet, beschrieben und kommentiert von Christine Ivanovic. Mit 30 Abbildungen. Deutsche Schillergesellschaft Marbach am Neckar 1996. (= Deutsches Literaturarchiv. Verzeichnisse, Berichte, Informationen 21).

X

Vorbemerkung

Zwanzig Jahre nach Celans Tod konnte 1990 der größte Teil seiner Bibliothek zusammen mit dem handschriftlichen Nachlaß vom Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar erworben werden; beide stehen nunmehr dort der wissenschaftlichen Forschung zur Einsicht offen. Schon in den wenigen seither vergangenen Jahren sind erhebliche Erkenntnisfortschritte aus zahlreichen Untersuchungen nicht nur der Handschriften, sondern vor allem der Bibliotheksbestände zu verzeichnen, auch wenn diese immer noch nicht bibliographisch erfaßt, geschweige denn im Hinblick auf Lektürespuren Celans systematisch dargestellt worden sind. Die vorliegende Arbeit wurde im Jahr der Übernahme des Celan-Nachlasses durch das Deutsche Literaturarchiv mit dem Ziel begonnen, von den umfangreichen mehrsprachigen Bibliotheksbeständen den relativ beschränkten Teilbereich der russischen Literatur aufzuzeichnen und damit einen für die Forschung relevanten, in seinem Gesamtumfang jedoch bisher kaum abschätzbaren Bezugspunkt der Celanschen Texte zugänglich zu machen. Neben der Aufzeichnung und Kommentierung der Bibliotheksbestände sollte auf der Basis des dokumentierten Materials erstmals die Gesamtanalyse eines der bedeutenden Rezeptionsprozesse fremdsprachlicher Literatur erarbeitet werden, die Celans Gesamtwerk von Anfang an begleiteten und wesentliche Bedeutung nicht nur für die Entstehung einzelner Gedichte hatten, die vielmehr auch seine Poetik wesentlich mitbestimmten. Wie hier die Relevanz russischer Texte besonders für das mittlere Werk herausgearbeitet werden mußte, so ist in ähnlicher Weise die Bezugnahme auf französische und rumänische Literatur im Bereich des Frühwerks, sowie auf die Werke vor allem zeitgenössischer französischer Autoren im Bereich des Spätwerks erst noch im Detail zu konkretisieren; trotz einzelner Ansätze stehen auch dort umfangreichere und systematische Darstellungen noch aus. Die detaillierte Untersuchung der Russika in der Bibliothek Celans erbrachte eine unerwartete Fülle an bibliographischem Material, dessen Quantität nicht immer in einem analogen Verhältnis zu seiner heuristischen Relevanz für die Interpretation einzelner Gedichttexte Celans steht. Denn gerade im Bereich des Russischen sind im Gegensatz zu französischer oder englischer Literatur beim deutschen Leser nur geringe Kenntnisse vorauszusetzen. Damit steigt aber auch die Erläuterungsbedürftigkeit der russischen Titel, die nachXI

weisbar geistiger Hintergrund des Celanschen Werks geworden sind. U m die vorliegende Analyse, deren zentraler Gegenstand die Gedichttexte Celans und deren poetologische Grundlagen in ihrer Bezogenheit auf Russisches sein sollen, durch eine solche Darstellung nicht zusätzlich zu belasten, wurde die der Untersuchung vorgängige Beschreibung der in Celans Bibliothek vorhandenen russischen Bände zu einer separaten Dokumentation zusammengefaßt, die zugleich die Funktion eines überprüfbaren Kommentars besitzt; auf die Daten dieses Verzeichnisses wird daher immer wieder verwiesen. 1 Anders als in der hier vorgelegten Studie sind dort alle russischen Autoren und Werke aufgeführt, mit denen Celan sich beschäftigt hat; die bibliographischen Angaben sind um eine möglichst vollständige Beschreibung der Lesespuren sowie einen sachlichen Kommentar ergänzt, der sowohl auf die literarhistorische Relevanz der Titel wie auch auf deren mutmaßliche Bedeutung für Celan eingeht, soweit dies wissenschaftlich belegbar ist. Im Zusammenhang der Frage nach der poetologischen Relevanz eines solchen umfassenden und langjährigen Rezeptionprozesses konnte sich die Untersuchung dann auf diejenigen Autoren und ihre Werke beschränken, für die zum einen eine intensivere Beschäftigung Celans über einen längeren Zeitraum hinweg vorauszusetzen ist, und zu denen andererseits Bezüge in seinem Werk nachweisbar sind. Der Aufdeckung solcher in der Regel intertextuell markierter Bezüge gilt gegenwärtig das Hauptinteresse der Celan-Forschung, die sich zunehmend von der auf das Bildliche konzentrierten Interpretation auf die Kommentierung der Gedichte im Hinblick auf intertextuelle Bezüge und die damit verbundenen poetischen Verfahren verlagert. Daß gerade im Bereich der Bezugnahmen auf Russisches ein besonderes Forschungsdefizit in den letzten Jahren spürbar wurde, gab nicht nur den Anstoß für die vorliegende Untersuchung. In diesem Zusammenhang steht auch die Entscheidung einer internationalen Forschergruppe, den ersten Gesamtkommentar zum Werk Celans anhand des Gedichtbands Die Niemandsrose zu erarbeiten, 2 jenem Zyklus, der im Zentrum der Auseinandersetzungen mit russischer Literatur entstanden ist. Mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft wurden in den Jahren 1990-1993 unter der Leitung von Jürgen Lehmann in mehreren Kolloquien von über zwanzig Forschern Einzelkommentare erarbeitet, auf die das hier Dargelegte vielfach aufbaut und auf die daher immer wieder nachdrücklich verwiesen wird. Die vorliegende Arbeit ist also in engem Zusammenhang auch zu 1

Vgl. »Kyrillisches, Freunde, auch das ...«. Die russische Bibliothek Paul Celans im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Aufgezeichnet, beschrieben und kommentiert von Christine Ivanovié. Mit 30 Abbildungen. Deutsche Schillergesellschaft Marbach am Neckar 1996. (= Deutsches Literaturarchiv. Verzeichnisse, Berichte, Informationen 21).

2

Vgl. Kommentare zu Paul Celans »Die Niemandsrose«. Herausgegeben von Jürgen Lehmann unter Mitarbeit von Christine Ivanovic. [Ersch. Heidelberg 1996].

XII

diesem Kommentierungsprojekt entstanden; allen beteiligten Kommentatoren danke ich für das gemeinsame Gespräch sowie für einzelne Hinweise und Anregungen. D e s weiteren gilt mein D a n k E m m a Andiewska, Milo Dor, Marina Dmitrieva-Einhorn, Ralph Dutli, Axel Gellhaus, Ruth Kraft, O s k a r Pastior, Christoph Pereis, O t t o Pöggeler und Peter U r b a n für ihre wertvollen brieflichen Auskünfte. Ebenfalls verpflichtet bin ich dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach a.N., das mir die Arbeit an der Celan-Bibliothek erst ermöglicht und in außerordentlicher Weise unterstützt hat; für ihren persönlichen Einsatz danke ich hier besonders U t e Doster, Jochen Meyer und Nicolai Riedel. Vor allem aber habe ich Frau Gisèle Celan-Lestrange zu danken, die in ihrem letzten Lebensjahr meinen Fragen mit unvergleichlicher Offenheit und Herzlichkeit entgegengekommen ist und mir noch in ihrer Pariser Wohnung Einsicht in wichtige russische Bände Celans gewährt hat. Ihre Unterstützung wurde ebenso engagiert fortgesetzt durch Eric Celan, der mir freundlicherweise die Einsicht in die Ubersetzungskonvolute gewährte und den A b d r u c k noch unveröffentlichter Ubersetzungen gestattete. Wertvolle Anregungen und kritischen Zuspruch verdanke ich schließlich meinem Doktorvater Jürgen Lehmann, der die langwierige Entstehung der Arbeit geduldig korrigierend begleitet und mir neue Wege in die Celan-Forschung eröffnet hat. Peter H o r s t N e u m a n n , der mir ebenfalls zur Seite stand, danke ich wissenschaftlichen Rat und persönliche Unterstützung seit meiner Studienzeit.

XIII

I. GEHEIMNIS UND BEGEGNUNG. REZEPTIONSKRITISCHE VORÜBERLEGUNGEN

Wenn im folgenden die Auseinandersetzung Celans mit russischer Literatur untersucht werden soll, so geschieht dies bewußt unter der kaum wissenschaftlich zu nennenden, innerhalb der Celan-Forschung jedoch längst etablierten Kategorie der Begegnung. Celan selbst spricht an zentraler Stelle der Büchner-Preis-Rede davon, ob das Gedicht nicht »im Geheimnis der Begegnung« stehe 1 - und läßt die Frage offen. Das Geheimnisvolle des Gedichts ist ein Faktor, den - bei aller Notwendigkeit der Objektivierung - auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Gegenstand akzeptieren muß als ebenso notwendige Unauflöslichkeit dessen, was schließlich das Gedicht hervortreten ließ; es bleibt seine letzte Instanz und es ist als Warnung zu verstehen, daß es Wissenschaft hier mit einem Gegenstand zu tun hat, der eben nicht vollständig mit wissenschaftlichen Methoden erfaßt werden kann. Die Begegnung, die das Gedicht beständig sucht und die zur Bedingung seiner Entstehung wird, bewahrt im Geheimnis jenes Kreatürliche, das Celan in seiner Büchner-Preis-Rede so eindringlich beschworen hat. Das Gedicht ist dessen Gedächtnis und Garant zugleich. Die spirituelle Begegnung Celans mit den Dichtern Rußlands ist eine Begegnung mit Texten und zugleich mit den in und durch diese Texte Sprechenden. Celan tritt mit ihnen in ein imaginäres Gespräch, das anhaltender und umfangreicher gewesen sein muß, als seine eigenen Texte - Gedichte und poetologische Äußerungen - es belegen lassen. Für die hermeneutische Untersuchung stellt sich damit ein theoretisches Problem, das hier nur ansatzweise diskutiert werden kann. Denn die Dokumentation der Rezeption vor allem auf der Basis der Bibliotheksbestände, anhand derer sich genaue Erkenntnisse über Zeitraum, Umfang und Intensität der Lektüre gewinnen lassen, ist nur sehr begrenzt einbeziehbar in die Analyse der Texte Celans. Sie eröffnet eine Dimension, die weit über das wissenschaftlich berechtigte Interesse am Text hinausführt. Bleibt die Untersuchung jedoch streng textbezogen, wird es ihr über die Ermittlung von Lektürespuren in Gestalt singulärer intertextueller Bezüge nicht gelingen, ein angemessenes Gesamtbild dieser eminent wichtigen Auseinandersetzung Celans zu gewinnen. Hier gilt es vielmehr, die grundlegenden Verfahren der Transformation von Lektüre, die generelle Bezogenheit der Celanschen

" V g l . III, 1 9 8 .

3

Dichtung auf das Andere, letztlich die Qualität der Begegnung mit ihm zu beschreiben. Die Analyse der Bibliothek erlaubt die annähernde Rekonstruktion einer jahrelangen Auseinandersetzung, in deren Verlauf bedeutende Übersetzungen, wesentliche Teile seines eigenen Gedichtwerkes und fast alle poetologischen Texte Celans entstanden sind. Die vorliegende Arbeit hat es sich zum Ziel gesetzt, die vielfältigen Beziehungen, die in diesem Zeitraum zwischen der russischen Lektüre und der poetischen Entwicklung Celans bestehen, aufzuzeigen. Sie ist sich zugleich ihrer Grenzen bewußt. Denn was hier isoliert dargestellt werden muß - die Auseinandersetzung mit russischer Literatur - , vollzog sich tatsächlich in einem umfassenden Beziehungssystem, von dem die gleichzeitige Lektüre deutscher, französischer, englischer und anderer Texte wiederum nur einen Teil ausmacht. Denn neben dem Literarischen hatten ebenso historische wie aktuelle, theologische wie philosophische Kontexte Anteil daran, von Biographischem ganz zu schweigen; eine umfassende, alle diese Aspekte synthetisierende Darstellung steht nach wie vor aus. Von der Dimension einer solchen Aufgabe konnten sich die Mitarbeiter am Kommentierungsprojekt zur Niemandsrose überzeugen; sie ist gegenwärtig wohl kaum von einem Forscher allein zu leisten. Daher verstehen sich auch die der eigentlichen Darstellung dieses Rezeptionsprozesses vorangestellten rezeptionskritischen Überlegungen nur als vorläufig. Der wohl kaum als paradigmatisch einzuschätzende Fall Celan kann vielleicht dennoch Anlaß zu einer neu zu entfachenden Diskussion über die Möglichkeiten und Grenzen komparatistischer Rezeptionsforschung bieten. Denn wohl nur selten läßt sich der philologische Spagat zwischen der Notwendigkeit geradezu positivistischer Spurensuche und -Sicherung - hier vor allem die Beschreibung und Analyse der Bibliotheksbestände - auf der einen und den enormen Anforderungen an Texthermeneutik und Poetik auf der anderen Seite deutlicher vor Augen führen als an diesem Beispiel.

4

ι. Rezeptionsforschung zwischen positivistischer Rekonstruktion und ästhetischer Erkenntnis

a) Dokumentation und Rekonstruktion von Rezeptionszusammenhängen als Voraussetzung literarischer Hermeneutik Der Begriff der Rezeption umfaßt komplexe Prozesse der Aufnahme und Wirksamkeit literarischer Texte; als einer der Kernbegriffe komparatistischer Forschung bezeichnet er zugleich eines ihrer Hauptarbeitsgebiete, wobei komparatistische Rezeptionsforschung sich von den Ansätzen der vor allem durch die Arbeiten von H . R . Jauß geprägten Rezeptionsästhetik zum Teil wesentlich unterscheidet. 1 D e r Begriff der Rezeption wird heute sehr weit gefaßt; er bezeichnet nicht mehr wie in früheren komparatistischen Untersuchungen die >Wirkung< eines Werkes innerhalb einer oder mehrerer anderer Nationalliteraturen (d.h. man geht von dem Bild eines Spenders aus, z . B . in einer Untersuchung der Faust-Rezeption in Rußland), wobei der Begriff gewöhnlich als Gegenbegriff zu dem des literarischen >Einfluß< aufgefaßt wurde (hier konzentriert sich die Untersuchung auf den »Empfängers z.B. in der Frage nach dem Einfluß von I.S. Turgenev auf T h . Storm). Interessierte dort das >Nachleben< eines literarischen Werkes in verändertem historischem und/oder sprachlichem Umfeld, war hier das >Abhängigkeitsverhältnis< eines Textes von einem anderen Gegenstand einer doch wesentlich produktionsästhetisch

orientierten

Untersuchung. Heute erscheint es eher sinnvoll, Rezeption in Anlehnung an die Erkenntnisse der Rezeptionsästhetik auch bei komparatistischen Untersuchungen zu verstehen als nach beiden Seiten hin offenen Oberbegriff für die Aufnahme literarischer Werke im Bereich einer anderssprachigen Literatur,

1

Auf eine Darstellung dieser hinreichend diskutierten Gegensätzlichkeit wird hier mit dem Hinweis auf die entsprechende Polemik zwischen Jauß und Vertretern der K o m paratistik verzichtet. Vgl. H . R . Jauß: Goethes und Valéry's Faust - Ein Versuch, ein komparatistisches Problem mit der Hermeneutik von Frage und Antwort zu lösen. In: Rezeptionsästhetik und Literaturgeschichte (Wortkunst. Zeitschrift für Literaturwissenschaft. Sonderband. Zagreb 1977), S. 5 3 - 8 1 ; Fridrun Rinner, Klaus Zerinschek: Die vergleichende Literaturwissenschaft als Provokation der Rezeptionsästhetik. In: Komparatistik. Theoretische Überlegungen und südeuropäische Wechselseitigkeit. Festschrift für Zoran Konstantinovic. Hrsg.v. F. Rinner und K. Zerinschek. Heidelberg 1 9 8 1 , S. 1 6 9 - 1 7 7 .

5

wobei nun die unterschiedlichen Formen und Verfahren der Transformation ästhetischer Erfahrung ins Zentrum der Untersuchung rücken. Dabei ist dann weniger auf die Empirik als auf die Hermeneutik zurückzugreifen insofern, als Formen der ästhetischen Transformation von Texten in Frage stehen. Im vorliegenden Zusammenhang wird die Rezeption eines eingegrenzten Textkorpus (Werke aus dem Bereich der russischen Literatur) durch einen bestimmten Leser (Paul Celan) untersucht, wobei mit der Darstellung ihrer Kontinuität zugleich ihre Varianten herausgearbeitet werden müssen. Denn die Rezeption russischer Literatur erfolgte bei Celan über einen Zeitraum von etwa dreißig Jahren hinweg; sie ist gekennzeichnet durch Phasen unterschiedlicher Intensität, Intention und Qualität. Der Leser Celan selbst vollzog in diesem Zeitraum einen mehrfachen räumlichen (Bukowina - Bukarest - Paris) wie historischen Wechsel (die in den Kronländern noch länger lebendige Atmosphäre der Habsburgermonarchie - der Zweite Weltkrieg - das frühsozialistische Rumänien - das postrevolutionäre, demokratische Paris bis hin zum Nachkriegsdeutschland); die unterschiedliche historische Erfahrung prägte ganz wesentlich Varianten seiner ästhetischen Erfahrung, ließ ihn dementsprechend unterschiedliche Perspektiven der Lektüre entwickeln. Ihr Gegenstand schließlich variierte ebenfalls, je nach der Verfügbarkeit der Titel oder den Präferenzen des Lesers. U m den Prozeß der Rezeption russischer Literatur durch Celan in seiner ganzen Komplexität zu erfassen, bedarf es daher höchst unterschiedlicher Ansätze und Verfahren der Untersuchung. Biographische Forschung muß mit historischen Abläufen vermittelt werden, politische, soziologische und psychologische Abläufe müssen einbezogen werden. Der Leser Celan muß ebenso differenziert beschrieben werden wie der Gegenstand seiner Lektüre, bevor die eigentliche Qualität ihrer Umsetzung in eigenen Gedichten texthermeneutisch untersucht werden kann. Die Rezeptionsforschung ist also zunächst ganz wesentlich auf positivistisch geprägte Spurensuche und -Sicherung angewiesen; sie muß die Zeugen der Aufnahme und Auseinandersetzung Celans mit russischer Literatur dokumentieren, sie muß versuchen, den Gesamtprozeß zu rekonstruieren, bevor sie sich im einzelnen den textuellen Zeugen dieser Auseinandersetzung widmen und diese in der Qualität ihrer Transformation und Differenz zum rezipierten Ausgangstext erkennen kann. Im vorliegenden Fall ist der Prozeß der Rezeption russischer Literatur durch Celan auf mehreren Ebenen dokumentierbar: Eine zentrale Rolle spielt dabei die Beschreibung der russischen Bestände seiner Bibliothek. Dazu treten zahlreiche authentische Aussagen Celans zu diesem Bereich; sie reichen vom bewußt konzipierten Essay (einführende Bemerkungen zu den Ubersetzungsbänden, aber auch der Text der Rundfunksendung über Mandel'stam) über brieflich verzeichnete oder durch Freunde überlieferte Äußerungen und Stel6

lungnahmen bis hin zu den Übersetzungen als Zeugen der produktiven A u s einandersetzung mit dem fremden Text. D i e Ubersetzungen stellen schließlich ein Bindeglied her zu den Zitierungen, Anspielungen, intertextuellen und anderen Bezugnahmen auf einen oder mehrere russische T h e m e n oder Texte im eigenen Gedichtwerk. D i e D o k u m e n t a t i o n dieser Zeugen ermöglicht eine ziemlich genaue R e k o n s t r u k t i o n von Zeitraum und U m f a n g der Auseinandersetzung Celans mit russischen Texten, sie ermöglicht zum Teil auch Aussagen über die objektive (so das bisher nur an der B i b l i o t h e k belegbare eingehende und anhaltende Studium der Schriften Lev Sestovs) wie die subjektive Intensität der Lektüre (so Celans Bekenntnis, er halte das Ü b e r s e t z e n der Gedichte Mandel'stams für ebenso bedeutsam wie seine eigene dichterische Arbeit). 2 Sie kann Rezeption als Zusammenhang feststellen und auf F a k t o r e n der K o n t i n u i tät und Diskontinuität hinweisen. D a m i t wird sie zur unabdingbaren Voraussetzung jeder Untersuchung von Textzusammenhängen, der es um die Frage nach der Fremdbestimmtheit der Textkonstitution der Celanschen Gedichte geht.

b) Probleme der Beschreibung, Erkenntnis und Wertung rezeptionsbedingter Textzusammenhänge W o Rezeption in oben beschriebenem Sinne die Konstitution literarischer Texte zumindest teilweise bestimmt, wurde in der Komparatistik bisher der Terminus literarischer Einfluß< gebraucht; die anhaltende Diskussion des Begriffs bis in die siebziger J a h r e hinein zeugt von seiner umstrittenen heuristischen Relevanz. 3 D a s philologische Dilemma, in das der G e b r a u c h des Begriffes Einfluß führte, hängt wesentlich damit zusammen, daß er eigentlich einen

2

3

In: V. Terras, Κ.S. Weimar: Mandelstamm and Celan: A Postscript. Germano-Slavica 2 (1978), S.366. Vgl. Koppen, der als Einfluß im engeren Sinne »den individuellen Vorgang der Einwirkung eines Werks oder Dichters auf einen anderen Dichter oder ein anderes Werk« bezeichnet. E. Koppen: Hat die Vergleichende Literaturwissenschaft eine eigene Theorie? Ein Exempel: Der literarische Einfluß. In: Horst Rüdiger (Hrsg.): Zur Theorie der Vergleichenden Literaturwissenschaft. Berlin 1971, S. 53. Vgl. daneben u.a. Ibrahim H. Hassan: The Problem of Influence in Literary History. Notes toward a Definition. In: American Journal of Aestehtics and Art Criticism 14(1955), S. 66-76; Haskell M. Block: The Concept of Influence in Comparative Literature. In: Yearbook of Comparative and General Literature 7 (1958), S. 30-37; Anna Balakian: Influence and Literary Fortune: The Equivocal Junction of Two Methods. In: Yearbook of Comparative and General Literature 11 (1962), S. 24-31; Wolfgang Clemen: Was ist literarischer Einfluß? Neusprachliche Mitteilungen aus Wissenschaft und Praxis 22 (1969), S. 139ff; Harold Bloom: The Anxiety of Influence. A Theory of Poetry. New York 1973. 7

Faktor literarischer Wertung enthält, der von der Untersuchung von Aspekten der Textkonstitution wegführte zu einer Entscheidung über die ästhetische Qualität, die den untersuchten Text zwischen Antizipation und Innovation innerhalb der literarischen Tradition zu situieren hatte. J e höher der innovatorische Grad eines literarischen Werkes, je geringer das Maß der Anknüpfung an Voraufgegangenes, seine >Abhängigkeit< von diesem, desto größer war der ästhetische Wert anzusetzen; umgekehrt erschien ein Text, der möglichst viele und weiträumig entstehende neue Texte initiierte, literarisch bedeutsamer als jener, dessen so verstandener >Einfluß< gering blieb. Gerade im Bereich komparatistischer Forschung wurde der Begriff Einfluß dadurch zunehmend auch zum Prüfstein f ü r den historischen Standort der Nationalliteratur und erlebte eine entsprechende Entwertung f ü r die philologisch genaue Analyse. 4 Was ursprünglich unter dem Begriff Einfluß beschrieben werden sollte, umfaßt historisch wie geistesgeschichtlich, soziologisch wie psychologisch bedingte Faktoren neben interpretatorischen und textkonstituierenden Aspekten, mit einem Wort, einen umfassenden Prozeß, der als Teil des Entstehungszusammenhanges des Textes zu verstehen ist; er wird dann philologisch relevant, wenn er sich in seiner spezifischen Ausprägung als Qualität des Textes zu erkennen gibt. Diese Erkenntnis bestimmte wesentlich die seit den siebziger Jahren rapide sich entwickelnde Intertextualitätsforschung, die sich der Untersuchung textueller Bezugnahmen als Strategie der Texte widmet. 5 Es scheint mir nicht zufäl4

Bezeichnendes Beispiel für die Schwierigkeiten mancher Philologen, als Form der Abhängigkeit verstandene Einflüsse zuzugeben [sie!], ist die Frage nach dem Einfluß von I. S. Turgenev auf die Erzähler des deutschen Realismus. Die von Zeitgenossen (so von Fontane) geäußerte Ablehnung Turgenevs, der bis in die achtziger Jahre des 19.Jh.s hinein in Deutschland ein Bestsellerautor war, setzt sich in den philologischen Untersuchungen fort in der deutlichen Tendenz, die Unabhängigkeit der damaligen Autoren von Turgenevs Erzählstil nachzuweisen, so u. a. bei A. Rammelmeyer: »Dennoch ist es fraglich, ob Turgenev trotz seiner großen Bedeutung und trotz seinem großen Ansehen einen unmittelbaren, bestimmenden Einfluß auf die Werke deutscher Autoren ausgeübt hat [...] Dagegen ist [..] wohl durchaus mit Recht eingewandt worden, daß Turgenevs deutsche Zeitgenossen - etwa Spielhagen, Heyse, Lindau, Storm und Fontane - fast von gleichen Ausgangspunkten zu ähnlichen ästhetischen Anschauungen wie Turgenev gekommen waren, und daß die vorhandenen Übereinstimmungen auf diese Weise zu erklären sind. Die deutschen Autoren konnten vielleicht [..] von Turgenevs hoher Meisterschaft in ihren >Grundzügen befestigt< worden sein. Restlos war die Übereinstimmung wohl nirgends.« [Hervorhebungen C. I.] (A. Rammelmeyer: Russische Literatur in Deutschland. In: Deutsche Philologie im Aufriß. Unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter hrsg. v. W. Stammler. Berlin 1967, Band III, S. 4j6f.) Statt von Einfluß wäre im (naturgemäß eher seltenen) Falle wörtlicher Ubereinstimmungen wohl eher vom Zitat (oder gegebenenfalls dem Plagiat) zu sprechen; gerade dieses Beispiel macht deutlich, wie wenig der Begriff schließlich für die Textkritik brauchbar und wie sehr er ideologisch belastet ist.

' Vgl. zum Intertextualitätsbegriff Karlheinz Stierle: Werk und Intertextualität. In:

8

lig, daß die in den voraufgegangenen Jahrzehnten heftig geführte Debatte um den Begriff Einfluß mit der Erkennntis und Erforschung der intertextuellen Bezogenheit von Texten ihr Ende gefunden hat. Interessiert Rezeption als Bedingung einer spezifischen Textkonstitution, dann ist das Ziel und der eigentliche Gegenstand solcher Untersuchungen eben der Zusammenhang von Texten, der weder für unmittelbar noch für zufällig gehalten wird, sondern der ihre Gestalt erst eigentlich bestimmt. Auch in diesem Zusammenhang steht - ähnlich wie bei den Untersuchungen zum literarischen Einfluß - das Verhältnis des Textes zur Tradition in Frage. Wenn die referentielle Wirklichkeit eines Textes eine textvermittelte ist, dann erhält von hier aus die Bezugnahme auf andere Texte einen veränderten Status: Sie ist nicht beiläufige Reminiszenz, sie wirkt vielmehr erst eigentlich textkonstituierend. Der Text schreibt sich erst dann in eine Tradition ein, wenn er sich als auf sie bezogen erweist; nur durch solchen Bezug aber erweist er seine literarische Qualität. Die Bestimmung der literarischen Genesis eines Dichters, seiner literarischen Quellen, seiner Verwandtschaft und Herkunft führt uns unverzüglich auf festen Boden. Auf die Frage, was der Dichter sagen wollte, darf ein Kritiker allenfalls auch nicht antworten, doch auf die Frage, woher er kam, ist er zu antworten verpflichtet.... 6

Diese Verpflichtung mag unglaubwürdig erscheinen im Lichte einer modernen (phänomenologischen) und nach-modernen (strukturalistischen) Literaturbetrachtung, die sich auf die Textbeschreibung als ihre Domäne beruft. Solange aber dem Gedicht der Weg, den es gegangen ist und den es noch geht, nicht nur inhärent, sondern zugleich immanentes ästhetisches Konzept ist, gehört dieser zur Präzision der Beschreibung dazu. Genese heißt dann nicht >GewordenseinBezogenseinTauwetterottepel'Befreiung des rumänischen Volkes vom Faschismus< durch die Rote Armee führte dann zu einer entscheidenden Wende in den kulturellen Beziehungen beider Länder. Am 23.August 1944 marschierten die sowjetischen Truppen in Bukarest ein und begründeten eine jahrzehntelange Abhängigkeit Rumäniens von dem sowjetischen Bruderstaat (laut geheimer vertraglicher Abmachung zwischen Stalin und den Westmächten sollte Rumänien zu 90% sowjetischem Einfluß unterliegen). Schnell entwickelte sich eine rege Übersetzungs- und Verlagstätigkeit; in diesem Zusammenhang wurde unter anderem auch der Verlag Cartea Rusä gegründet, für den Celan dann während seines Bukarester Aufenthalts arbeitete. Neben zahlreichen neuen Klassikerausgaben gelangten nun auch Werke der frühen und der zeitgenössischen Sowjetliteratur nach Rumänien, das Spektrum reichte von Esenin bis Utkin, von Gor'kij bis K. Simonov, dessen weitverbreitetes >Propagandastück< Die russische Frage in Bukarest vielleicht von Celan übersetzt worden ist; 1 ' gerade letztgenannter Text verweist darauf, daß die forcierte Verbreitung russisch-sowjetischer Werke wohl weniger einen kulturellen Nachholbedarf befriedigen sollte, als er ganz offensichtlich der politischen Umerziehung diente. Zu den >Klassikern< der Sowjetliteratur, die nun in Rumänien vornehmlich rezipiert wurden, gehörten u.a. Gor'kij, A. Tolstoj, Majakovskij, Solochov, Leonov. Zahlreiche Zeitschriften unterstützten die Massenverbreitung russischer bzw. sowjetischer Literatur, so die Zeitschrift Scìntela, die u.a. Texte von lija Érenburg veröffentlichte. Dieselbe Zeitschrift berichtete im Oktober und November 1944 über ein Treffen rumänischer Künstler und Schriftsteller (darunter die mit Celan befreundete Dichterin Maria Banu§) mit dem populären Sowjetautor Iosif Utkin, kurz bevor dieser bei einem Flugzeugabsturz in Rumänien ums Leben kam.20 Die politische Motivation dieser Publikationen

18 15 20

42

zweijährigen Periode eine Art >Tauwetternicht-offizieller< Werke, zumal eine ideologieunabhängige

Forschung

über

diesen

A b s c h n i t t der G e s c h i c h t e in R u m ä n i e n und R u ß l a n d noch nicht begonnen hat. D i e in den mir zugänglichen Q u e l l e n m e h r f a c h genannte Vermittlung russischer Literatur ü b e r Paris läßt darauf schließen, daß hier v o r allem in der Zeit v o r 1940 zahlreiche russische Publikationen in rumänische Intellektuellenkreise gelangt sein müssen, die d e m offiziellen K u r s nicht entsprachen. So erinnert sich, u m nur ein Beispiel z u nennen, der später nach Paris emigrierte r u m ä nische P h i l o s o p h E . M . C i o r a n an Schriften des ebenfalls seit 1 9 1 9 in Paris lebenden russischen Existentialisten L e v Sestov: »In R u m ä n i e n w a r Schestow sehr bekannt. E r machte sogar dort Schule. E r w a r der P h i l o s o p h meiner G e n e ration, der es nicht gelang, sich auf spiritueller E b e n e zu v e r w i r k l i c h e n , die aber die Sehnsucht nach einer solchen V e r w i r k l i c h u n g stets aufrechterhielt.« 2 1 In C z e r n o w i t z galten im Vergleich zu R u m ä n i e n noch besondere Verhältnisse durch die spezifische B e v ö l k e r u n g s s t r u k t u r und den einflußreichen deutschen A n t e i l an der kulturellen Vermittlung; w a s oben bereits über die f r a n z ö sischen Wege, auf denen Russisches nach R u m ä n i e n gelangte, gesagt w u r d e , gilt u m ein Vielfaches m e h r auch f ü r eine deutschsprachige Vermittlung. D a z u k o m m t , daß C z e r n o w i t z bereits 1 9 4 0 erstmals unter russische B e s a t z u n g geriet und dadurch der oben beschriebene Verbreitungsdruck - w e n n auch mit U n t e r b r e c h u n g - schon wesentlich f r ü h e r einsetzte als im rumänischen K e r n land. D i e E r i n n e r u n g e n v o n F r e u n d e n und B e k a n n t e n aus C e l a n s J u g e n d z e i t , so w i e sie bei C h a l f e n z u s a m m e n g e f a ß t sind, bestätigen zumindest die offizielle Rezeptionslinie auch f ü r Celan, der sich schnell mit Werken der klassischen russischen Literatur ebenso vertraut machte, w i e mit den jüngsten R e p r ä s e n tanten der Sowjetdichtung. E s ist wahrscheinlich, daß gerade im letztgenannten Bereich Celans Kenntnisse über die in diesem Z u s a m m e n h a n g

erinnerten

N a m e n G o r ' k i j , M a j a k o v s k i j u n d Esenin bei w e i t e m hinausgingen. D i e meisten der A u t o r e n , die C e l a n später in Paris beschäftigten, konnte er zu diesem Z e i t p u n k t jedoch noch nicht kennenlernen; ihre Werke w a r e n z u m großen Teil entweder in der S o w j e t u n i o n selbst verboten, oder aber in kleinen und längst v e r g r i f f e n e n A u f l a g e n gedruckt w o r d e n . Diese E i n s c h r ä n k u n g e n begünstigten literarisch gesehen die konventionelle Linie, w o h i n g e g e n die eigentlich künstlerisch bedeutsame Avantgarde eher ausgeklammert w u r d e ; sie prägten o f f e n bar auch Celans B l i c k auf die russische Literatur der M o d e r n e noch jenseits der ideologischen A s p e k t e . W ä h r e n d man z u A n f a n g v o n einer grundsätzlich positiven, v o n literarischem Interesse bestimmten H a l t u n g ausgehen kann, ist dann j e d o c h v e r m u t lich eine allmähliche A b k ü h l u n g C e l a n s gegenüber russischer Literatur einge21

E.M. Cioran: Ein Gespräch mit Sylvie Jaudeau. Aus dem Französischen übersetzt von Verena von der Heyden-Rynsch. St.Gallen 1992, S. 7. 43

treten, aus verschiedenen Gründen, zu denen biographische ebenso wie historisch-politische gehören. Die überraschend ablehnende Haltung, die Celan zunächst in Paris artikuliert, 22 erklärt sich mit großer Wahrscheinlichkeit aus dem umfassenden Bemühen Celans um eine ästhetische Orientierung und literarische Schulung, die sich an der Moderne (aber auch an herausragenden Werken vergangener Epochen) ausrichtete und dabei die Vertreter mehrerer europäischer Sprachen berücksichtigte. Was er von russischer Dichtung in den vierziger Jahren kennenlernte, konnte einem Vergleich mit der Dichtung der westeuropäischen Moderne, deren Werke Celan nur zu gut bekannt waren, nicht standhalten. Hier darf die mehrere Kulturräume umfassende literarische Bildung Celans nicht unterschätzt werden. Celan, der in dem von deutschen, rumänischen und jüdischen Einflüssen geprägten Czernowitz aufwuchs, dem die ruthenische wie die ukrainische Sprache und ihre Bräuche nicht fremd waren, versuchte in den Kriegsjahren unter mehrfach veränderten Bedingungen sein Studium fortzuführen, wobei der Gegenstand seiner Studien ebenso mit den sich wandelnden politischen Bedingungen wechselte wie dessen Vermittlung in der Lehre. Während des zweimaligen russisch-ukrainischen >Regimes< an der Czernowitzer Universität belegte er einmal Romanistik (1940/41), einmal Anglistik (1944/45) i m Hauptfach; 23 ein Schwerpunkt des Studiums lag dabei aber wohl auch, dem Interesse der Machthaber entsprechend, auf der Vermittlung russischer Literatur. Celan empfing so gerade in den Wirren dieser Studienjahre neben der prinzipiellen Vielsprachigkeit, die die Region von jeher bestimmte, ein mindestens ebenso vielfältiges Bild von der europäischen Literatur. Ansätze zur Integration dieser kulturellen Vielstimmigkeit in sein Dichten sind bereits an Texten des Frühwerks nachweisbar. Das literarische Rußland hatte zu diesem Zeitpunkt daran jedoch einen eher geringen Anteil.

b) Rußland als Raum des Todes in Gedichten des Frühwerks Denn in erster Linie wirkte Russisches in der Frühzeit einschneidend vor allem auf Celans Biographie, und dies nicht nur aufgrund der Tatsache, daß Czernowitz im Verlauf des Krieges mehrfach unter sowjetische Herrschaft fiel. Es war >Rußland< selbst, w o seine nach Transnistrien deportierten Eltern in einem Arbeitslager am südlichen Bug in der Ukraine umkamen. Somit ist Rußland bzw. die Ukraine für den jungen Celan ab dem Winter 1942/43 der reale, wenn auch entfernte Ort der Verbannung und des Todes.

22

23

44

Vgl. das Briefdokument von È.Raïs in: Victor Terras, Karl S. Weimar: Mandelstamm and Celan: A Postscript. Germano-Slavica 2 (1978), S. 364-366; s. auch unten Kap. II, 2. Vgl. Chalfen: Paul Celan, S.93 und i38f.

W e n n auch k u r z v o r dieser einschneidenden E r f a h r u n g bei C e l a n eine erste z a g h a f t e A n n ä h e r u n g an russisches K u l t u r g u t stattgefunden hatte, die (gemäß der E r i n n e r u n g e n damaliger F r e u n d e ) der Begeisterung w o h l nicht entbehrte, so fällt dennoch auf, daß die in der Z e i t bis 1948 entstandenen G e d i c h t e keine sichtbaren literarischen V e r w e i s e enthalten; w o überhaupt sie Russisches e r w ä h n e n , reflektieren sie vielmehr auf die östliche Konstellation der persönlichen L e i d e r f a h r u n g u n d des Verlustes der Eltern in russisch-ukrainischem G e b i e t . In deutlichem G e g e n s a t z z u der späteren intensiven intertextuellen A u s e i n a n d e r s e t z u n g enthalten sie, soweit bisher bekannt ist, k a u m Spuren der damaligen Lektüre. D a s Bild R u ß l a n d s erscheint als R a u m der D e p o r t a t i o n und des Todes; gleichwohl ist damit die Sehnsucht des Z u r ü c k g e b l i e b e n e n w i e die Sehnsucht nach einer fernen H e i m a t (als Begriff einer Einheit mit den v e r l o renen Eltern) verbunden. D e u t l i c h z u beobachten ist dabei eine D i f f e r e n z i e rung dieses R a u m e s in den O s t e n , die U k r a i n e und in R u ß l a n d . Steppe und E i s w i n d sind einander abwechselnde B i l d e r der O d e u n d V e r w ü s t u n g , die V e r l o renheit und Ausgesetztheit evozieren sollen: Der Osten raucht nach dieser Nacht... N u r Sterben sprüht. 24 Die Nacht blüht blau: für wen? für wen? Was werden wir im Osten sehn? Die Hecke mit dem Feuerkranz gebot der Waffe wieder Tanz. 2 ' Es fällt nun, Mutter, Schnee in der Ukraine 26 SCHWARZE FLOCKEN

Schnee ist gefallen, lichtlos. Ein Mond ist es schon oder zwei, daß der Herbst unter mönchischer Kutte Botschaft brachte auch mir, ein Blatt aus ukrainischen Halden: 27 Z u r weiteren Q u a l i f i z i e r u n g erscheint die v o n den späteren G e d i c h t e n her bekannte, sich hier bereits konstituierende F ä r b - b z w . E i s m e t a p h o r i k v o n dunkel, s c h w a r z u n d Schatten b z w . Schnee, weiß u n d Eis. Ihr stehen Bilder des F l a m m e n d e n gegenüber, die über die R o t t ö n e des H e r b s t e s zur F a r b e des B l u tes werden: Flammende Steppe - mein Mantel, mein Mut: Zünde mein Bild in ihr ratloses Blut! 28

24

FW 37 'FW52 26 FW 68 27 FW 129 28 FW 55 2

45

Der Eiswind hängt über die Steppe das Galgenlicht deiner Wimpern: du wehst mir von roten Gelenken, er steigt aus den Tümpeln voll Obst; 2 '

Gerade die ersten Gedichte nehmen deutlich und wenig verschlüsselt Bezug auf die Deportationen. Die Ungeheuerlichkeit des Zu-Sagenden kontrastiert mit dem verzweifelten Versuch, eine angemessene, unprätentiöse und doch dichterische Sprache zu finden und führt (neben der Reduktion auf einen selbst in ihren Kombinationen kontinuierlichen Fundus an sprachlichen Bildern) zunächst zu einem unwillkürlichen Rückgriff auf traditionelle, stilistisch bereits vorgeprägte Ausdrucksformen, wie das folgende, deutlich expressionistisch geprägte Gedicht zeigt: FINSTERNIS

Die Urnen der Stille sind leer. In Asten staut sich schwarz die Schwüle sprachloser Lieder. Die Pfähle der Stunden tasten stumpf nach einer fremden Zeit. Ein Flügelschlag verwirbelt. Den Eulen im Herzen tagt Tod. In deine Augen stürzt Verrat Mein Schatten ringt mit deinem Schrei Der Osten raucht nach dieser Nacht... N u r Sterben sprüht. 3 "

Hier wird zum ersten Mal der Osten als konkrete Bezeichnung für den Ort des Sterbens genannt: nach dieser Nacht tritt Rauch an die Stelle des Sonnenaufgangs. Ahnliches erscheint auch in dem wohl nur wenig später entstandenen Gedicht Sonnenwende, das deutlich die Kontrastierung von Hier und Dort ausweitet auf den Raum der hiesigen und der jenseitigen Welt, die im Osten zu erwarten ist.31 An dieser Stelle wird auch ein Bezug auf den Osten als Raum des Tagens hergestellt in bewußter Umkehrung des konventionellen Bildgebrauchs; das Heraufkommen des neuen Tags bringt nicht Geburt und Neuanfang, vielmehr kündigt die (Morgen)röte die des heraufziehenden Sterbens an. Die zahlreichen späteren Nennungen von Östlichem in Gedichten Celans weisen in erschreckender Intensität eine erneute Koinzidenz von Motiven des Sterbens und des Brennens mit dem Osten bzw. Östlichem auf. Dies ist auch 19 30 31

46

F W 158 F W 37 F W 52

mitzudenken im Gedichttitel Osterqualm;32 Solve:

es erscheint ebenso im Gedicht

Entosteter, zu Brandscheiten zerspaltener Grabbaum: 3 5

und kommt schließlich auch noch zum Vorschein in Aus

Engelsmaterie:

Vom Osten gestreut, einzubringen im Westen, gleich-ewig - , w o diese Schrift brennt, nach dem Dreivierteltod,.. 34

In allen diesen Texten wird zugleich bereits die Position des sprechenden Ich als Grundproblem des Gedichts eingebracht. Schon im frühen Gedicht ist eine Separation von Hier und Dort, die zur Bewährungsfrage für das sprechende Ich wird, erkennbar; es gewinnt zum einen eine neue Perspektive auf die Welt, wird dabei andererseits aber zur Standortbestimmung gezwungen, die die eigene Existenz als eine derjenigen der Gemordeten und Deportierten entgegengesetzte wahrnehmen und zugleich auf diese bezogen begründen muß. Das Steppenlied schließlich stellt die Frage »Wo, sag, war Heimat, und was, sag, war Welt?«; dann artikulieren gerade die an die Mutter gerichteten (Es fällt nun, Mutter) oder im Gespräch mit ihr erwachsenen« Gedichte den mit immer größerer Deutlichkeit heraustretenden dichterischen Auftrag an das Ich, so in der textuellen Metapher des Tuches im Gedicht Schwarze Flocken, deren Bedeutung Barbara Wiedemann ausführlich dargelegt hat." Das Gedicht Septemberkrone ortet diesen dem Ich, dem Gedicht aufgegebenen Imperativ erneut im Osten: »Beschwert sind die östlichen Himmel mit Seidengewebe«. 36 Allmäh-

32 33 34 35

36

II, 85 II, 82 II, 196 Vgl. die von Wiedemann angeführten Stellen (B. Wiedemann: Ancel Paul - Paul Celan): ».. Kind, ach ein Tuch,/ mich zu hüllen darein..«; »Ein Tuch, ein Tüchlein nur schmal, daß ich wahre/ nun, da zu weinen du lernst..«; »Kam mir die Träne. Webt ich das Tüchlein.« (FW 129)· Die Kontinuität solcher zentraler und zu dieser Zeit begründeter Bildkomplexe im Werk Celans muß erst noch eingehender untersucht werden. Gerade die hier genannte Metapher des Webens in ihren verschiedenen Varianten vom romantisch belegten Bild des Spinnens bis zum Flechten (was wieder an das Totengedächtnis anknüpft), vom »Faden im Aug« bis zu den »Fadensonnen« ist eine der dichtesten und durchgängisten Motivkonstellationen in Celans Werk überhaupt. Seine deutlichste Konzentration und zugleich Begründung auf die Zerrissen- und Gebundenheit von jüdischer Tradition und jüdischer Vernichtung zeigt in der »Niemandsrose« das Gedicht »Hawdalah« (I, 259). Vgl. dazu den Kommentar von J . Lehmann. In: Kommentare zu Paul Celans Die Niemandsrose. [erscheint Heidelberg 1996] F W 137 47

lieh entwickelt sich aus der existentiell bedrängenden Frage von Überlebensschuld auf der einen und sprachlicher Inkommensurabilität auf der anderen Seite das poetologische Grundmodell von Celans Sprachskepsis, wie es im mittleren Werk immer deutlicher artikuliert und schließlich lange Zeit zum zentralen Problem seiner Dichtung überhaupt wird. Diese Entwicklung läßt sich eben am Bezugspunkt des Ostlichen im Frühwerk verfolgen. Damit wird aber bereits hier ein direkter Zusammenhang von der Bezugnahme auf OstlichRussisches zur dichterischen Selbstfindung aufgedeckt, wie er sich in differenzierterer Form, aber unter ähnlichen Vorzeichen einer eminenten existentiellen Bedrohung, in Paris fünfzehn Jahre später wiederholte. Der Beginn des erst 1963 entstandenen Gedichts Hüttenfenster liest sich so als bewußte Replik auf die oben zitierte Frage aus dem Gedicht Steppenlied: Das A u g , dunkel: als Hüttenfenster. Es sammelt, was Welt war, Welt bleibt: den WanderOsten,... 3 7

Zugleich spielt es nochmals deutlich an auf zwei eigene, im Zyklus Der Sand aus den Urnen aufeinander folgende Texte aus dem Bereich des Frühwerks, in welchen einmal vom »östlichen Fenster«38 die Rede ist, dann »sein östliches Aug« 39 angesprochen wird. Herkunft, historische Bestimmung und dichterische Berufung scheinen hier aufs engste an einen vom Sterben geprägten und der aktiven Erinnerungsarbeit (»sammelt«) überantworteten Raum gebunden. Dieser Raum deckt sich jedoch nur zum Teil mit dem, was Celan später vor allem im Entstehungszeitraum der Niemandsrose im Rahmen seiner Wendung zu Russischem erfährt. Denn der Name »russisch« mußte um 1940 für einen in Czernowitz deutsch schreibenden Autor einen wesentlich anderen Klang haben. Ein umstrittener, gleichwohl in diesem Zusammenhang bedeutender Text scheint mir das schon mehrfach in der Forschung besprochene Gedicht Russischer Frühling zu sein.40 Wiedemann vermutet, der Text »dürfte etwa gleichzeitig mit der letzten deutschen Offensive im Westen entstanden sein. Diese begann am 16.12. 1944«.41 Aus dem Kontext der in der Ausgabe von Ruth Kraft weitgehend chronologisch geordneten Texte erscheint mir aber auch eine Datierung auf den Frühling 1944 möglich; zudem zog am 30.3. 1944 die Rote Armee zum zweiten Mal in Czernowitz ein.

37

1 , 278 1 , 26 j» I, 27 40 Vgl. Georg-Michael Schulz: »fort aus Kannitverstan«. Bemerkungen zum Zitat in der Lyrik Paul Celans. Text und Kritik (H.53/54) 1977, S. 2 6 - 4 1 ; Heinrich Stiehler: Die Zeit der Todesfuge. Z u den Anfängen Paul Celans. Akzente 19 (1972), S. 1 1 - 3 9 . 41 Wiedemann: Antschel Paul - Paul Celan, S. 194. 38

48

Ich zitiere das Gedicht hier nach der Frühwerk-Edition (welche auf einem auf 1950 datierten Pariser Typoskript basiert)42 und füge in eckigen Klammern geringfügige Abweichungen gegenüber der Schreibweise in Gedichte 1938194445 bei. Es erscheint mir nicht unwesentlich zu sein, daß in eben dieser faksimilierten Ausgabe eines von Celan selbst erstellten Bändchens das Gedicht zwischen Bergfrühling und Nähe der Gräber piaziert ist, in welch letzterem es heißt: Und duldest D u , Mutter, wie einst, ach, daheim, den leisen, den deutschen, den schmerzlichen Reim? 4 4

Gerade diese Konstellation deutet darauf hin, daß mit »Russisch« hier etwas dem »Heimischen« extrem entgegen Gesetztes angesprochen ist, wobei diese Opposition zeitlich und räumlich gedacht werden muß. RUSSISCHER F R Ü H L I N G

Gestürzt ist der Helm voller Blut: welche Blume soll blühen? Die rote, die ich dir gab? Die blaue, die ich bekam? Die Nacht, so stolz noch von Himmeln, so leise von irdischen Mühen, rettet das Gold für den Kelch, der die die Hämmer der Schläfen vernahm. Weht auch ein Duft und erreicht die Maid aus den Niederlanden, der mein entsetzliches Aug die reglosen Stunden gebot? Weiß sie mit mir: als ein Reiter,[ ] geschmückt mit Girlanden, weilt im ukrainischen Grün der getreue, der flandrische Tod? Fühlt sie mit mir: der Baum aus den finstern Ardennen wandert, ein aufrechtes Kreuz, und wird hier sein heut nacht... Wünscht sie mit mir,[:] daß die Gräser mich flüsternd erkennen, wenn sie ans Fenster tritt, schmal[,] und in abendländischer Tracht? Bleib nicht, mein Lieb, wenn Katjuscha nun anfängt zu singen![...] Knie, es wird Zeit nun zu knien in den Orgelstimmen von einst. Dröhnt es nun laut, und ich muß mit Ja[a]kobs Engel noch ringen? Allein unter [mit den] jüdischen Gräbern, weiß ich, Geliebte, du weinst... Hielt ich dem friesischen Strand, den rheinischen Fluren die Treue? Schimmernd häng ich mein Herz ins Wappen, das ich euch weih. Träumerisch hält meine Hand und singt in die wallende Bläue für alle, die hier liegen, Herr Volker von Alzey. 45

Aus dem vorherigen Gedicht Bergfrühling wird neben dem Bild des Frühlings die Farbsymbolik von »blau« und »Gold« wieder aufgenommen. Das Thema der Auseinandersetzung mit deutscher Tradition angesichts des Schrecklichen kehrt in den schon genannten Schlußversen des folgenden Gedichts wieder. 42 45 44 45

F W 143 Paul Celan, Gedichte 1938-1944. Transkription der Handschrift, S. 128. Ebd. S . 1 3 0 . F W 143

49

Barbara Wiedemann hält das Gedicht für ästhetisch mißlungen und vergleicht es mit der thematisch verwandten, aber strukturell dichteren und im Bildbereich weitaus stringenteren Todesfuge.46 Die Fülle literarischer Bezüge und Anspielungen, die von Shakespeare über die Romantik bis zu zeitgeschichtlichen Namen und Daten reichen (Katjuscha bzw. Stalin-Orgel; Ardennen-Schlacht) konzentriert sich vor allem auf zwei Subtexte, das Nibelungenlied und das Landsknechtlied Flandern in Not.47 Wiedemann argumentiert, die Komposition disparater literarischer Quellen mit zeitgeschichtlich Aktuellem führe »zu einer eigenartigen Sammlung (um nicht zu sagen Sammelsurium) von Bezügen, die, bei aller Explizität des Anspielungscharakters, sich kaum zu einem deutlichen Gesamtbild fügen«.48 Demgegenüber hatte schon früher Georg-Michael Schulz die vorsichtige Überlegung angestellt, »ob nicht gerade die Stilisierung - nämlich die sichtbare Inkommensurabilität eines durch Anspielung und Zitat herbeigeholten geschichtsfernen Hintergrunds und der zeitgeschichtlichen Erfahrungen - eine bestimmte Qualität ebendieses aktuell Erfahrenen mittelbar zum Ausdruck bringt: dessen Unfaßbarkeit«.49 Ohne hier weiter auf die Diskussion seiner »qualitativen Fragwürdigkeit«' 0 weiter einzugehen, möchte ich lediglich darauf hinweisen, daß in diesem Gedicht ganz im Gegensatz zur Todesfuge - bestimmte poetische Verfahren sichtbar werden, die Celan in seinem späterem Werk mit unbestrittenem Können eingesetzt hat. Zu denken ist gerade hier an die 1961/62 enstandene Gauner- und Ganovenweise, in welcher der Dichter Celan in die Rolle des Sängers schlüpft: E I N E G A U N E R - UND G A N O V E N W E I S E GESUNGEN ZU P A R I S EMPRÈS P O N T O I S E VON P A U L C E L A N AUS C Z E R N O W I T Z BEI S A D A G O R A

Manchmal nur, in dunkeln Zeiten, Heinrich Heine, An Edom Damals, als es noch Galgen gab, da, nicht wahr, gab es ein Oben. Wo bleibt mein Bart, Wind, wo mein Judenfleck, wo mein Bart, den du raufst?

46 47

48 49 50

50

Vgl. B. Wiedemann: Antschel Paul - Paul Celan, S. 192-195. Ich verzichte hier auf eine erneute ausführliche Darstellung der diversen Bezugstexte und verweise nachdrücklich auf die Analyse von Wiedemann. Ebd., S.194. G . M . Schulz: »fort aus kannitverstan«, S. 29. Wiedemann: Antschel Paul - Paul Celan, S. 194.

Krumm war der Weg, den ich ging, krumm war er, ja, denn, ja, er war gerade. Heia. Krumm, so wird meine Nase. Nase. Und wir zogen auch nach Friaul. Da hätten wir, da hätten wir. Denn es blühte der Mandelbaum. Mandelbaum, Bandelmaum. Mandeltraum, Trandelmaum. Und auch der Machandelbaum. Heia. Aum. Envoi Aber, aber er bäumt sich, der Baum. Er, auch er steht gegen die Pest. >' Auch dieser Text verbindet disparate Quellen, auch hier wird ein Landsknechtlied zitiert,' 2 auch hier wird, wenn auch in weitaus artistischerer Handhabung, an die verschiedensten literarischen Traditionen angeknüpft. Zu den >Vorbildern< gehört neben Heine auch Villon; die Manuskripte, die eine komplizierte Entstehungsgeschichte dokumentieren, nennen darüber hinaus u.a. noch mehrere russische Zitate. 53 Ahnlich wie in Russischer Frühling werden in weitem Ausgriff Räume (Paris - Czernowitz - Friaul) und Zeiten (neben den unterschiedlichen historischen Räume auch konkretisiert im Tempuswechsel von »damals« und heute) ins Gedicht hineingeholt. Zudem lassen sich engere Parallelen erkennen zum einen im Motiv des Blühens und der gleichzeitigen Erwähnung von Baum und Galgen (der B a u m . . . wandert, ein aufrechtes Kreuz), dann aber vor allem in der Reflexion dessen, was dem Juden angesichts von Deportation und Vernichtung zu tun bleibt. Deutlich wird hier aber auch die entscheidende Differenz zwischen dem frühen und dem späteren Text: Während sich das sprechende Ich in Russischer Frühling zum einen auf den Intimbereich (Sorge um die Geliebte) zurückzieht und andererseits das Singen in deutscher Weise (»die blaue [Blume], die ich bekam«), an »Herrn Volker von Alzey«

51

1,129Í. Vgl. Peter Horst Neumann: Zur Lyrik Paul Celans. Eine Einführung. Göttingen 1968 (2., erweiterte Auflage 1990), S.96, Anm. 12. 53 Vgl. TCA, Die Niemandsrose, S.40-45. 52

51

übergibt (»für alle, die hier liegen«), artikuliert die Gauner- und Ganovenweise in einem sarkastisch potenzierten Selbstbewußtsein aus seinem »Kainsmal« heraus (»Wo bleibt mein Bart, Wind, wo / mein Judenfleck, wo / mein Bart, den du raufst.. Krumm, so wird meine Nase«) eine Form von Widerstand, der zwar eigentlich nichts ausrichten kann, letztlich aber doch Bestand hat: Aber, aber er bäumt sich, der Baum. Er, auch er steht gegen die Pest.™

Die Gauner- und Ganovenweise, die den ersten Binnenzyklus der Niemandsrose abschließt, hat den Charakter einer rückschauenden Bestandsaufnahme und artikuliert zugleich im Envoi das programmatische Bekenntnis zur Konzeption - der dichterischen Aufgabe - der Gegenwart. Daß an ihr Russisches teilhat, verrät nur eine handschriftliche Variante, die den Gegensatz deutsch und russisch im Titel formuliert: »Eine deutsche Weise, im Jahre 1961 gesungen von Pawel Lwowitsch Tselan, russkij poèt in partibus nemetskich infidelium«. Die ganze Schärfe dieser Teilhabe unterstreicht die auf einem Typoskript zusätzlich handschriftlich ergänzte Notiz; sie spielt mit der Etymologie des Verbannungsortes MandePstams, Voronez, und zitiert zugleich eines seiner dort entstandenen Gedichte aus dem Nachlaß: »Voronez - vor - noi» (Voronez, der Dieb, das Messer)." Die Gauner- und Ganovenweise eröffnet innerhalb des Bandes, in dem sie steht, die Reihe der deutlicher auf Russisches bezogenen Texte; der direkte Hinweis darauf wird von Celan jedoch (wie so oft bei den Gedichten der Niemandsrose) im Druck wieder zurückgenommen.'6 Von 54

Das Entgegenstehen ist zu diesem Zeitpunkt eine zentrale Forderung an das Sprechen des Gedichts bei Celan, vgl. unten die Konzeption vom Gegenwort. " O. Mandel'stam: »Pusti menja, otdaj menja, Voronez, - / Uronis' ty menja ili provoronis',/ Ty vyronis' menja ili Vernes' - / Voronez - blaz', Voronez — voron, noz!« (O. Mandel'stam: SS 1,198). In der Ubersetzung von F. Ph. Ingold lautet der Text: »Laß ab von mir, du Rabenstadt, entlaß mich - / Verlaß ich dich, bist du entlastet, faß dich/ Und laß mich fallen oder - schaffst du's nicht?/ Bla-bla, du Rabenstadt, dein Name sticht. (Ossip Mandelstam: Das zweite Leben. Späte Gedichte und Notizen. Aus dem Russischen übersetzt und herausgegeben von Felix Philipp Ingold. München 1991, S. 82. Vgl. zum Bild des Raben auch Kap. III, 7. Celan wandelt das Zitat hier ab durch eine Verschiebung von »voron« (Rabe) zu »vor« (Dieb) und paßt es damit dem zitierenden Kontext der Gauner und Ganoven ein. 56

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Sehr wesentlich erscheint in diesem Zusammenhang der Vorabdruck einiger Gedichte der »Niemandsrose« in der »Neuen Rundschau«. Hier waren den sechs Celan-Texten zwei Übersetzungen aus dem Nachlaß Mandel'stams vorangestellt; dann eröffnete gerade die Gauner- und Ganovenweise die Reihe der eigenen Gedichte, die - ungewöhnlich für eine Zeitschriftenpublikation - wie der spätere Gesamtzyklus »Dem Andenken Ossip Mandelstamms« gewidmet sind. In einem Brief an Gottfried Bermann-Fischer gibt Celan genaue Anweisungen für die (von der späteren Buchpubli-

der 60/61 mehrfach gebrauchten identifikatorischen Wendung ist das Frühwerk weit entfernt. Und dennoch sucht auch das Gedicht Russischer Frühling in ähnlicher Weise eine Art Bestandsaufnahme zu vollziehen, die akut zur Entscheidung drängt. Die in diesem Zusammenhang aufgebauten Motivkonstellationen finden sich dann gerade im Zusammenhang der späteren, Russisches einbeziehenden Gedichte wieder. Das Disparate der literarischen Quellen und Anspielungen, der aktuellen wie historischen Bezüge artikuliert in diesem Text die Unsicherheit der Stellungnahme; Disparatheit und Ambivalenz bestimmen beinahe jedes Bild des Gedichts; bezeichnend dafür ist auch die auffällige Häufung der Fragezeichen, die mehr als die Hälfte der Sätze beenden. Im »ukrainischen Grün« weilt ein fremder, der »flandrische Tod«. Was sich hier als »Russischer Frühling« ereignet, wird deutlich auf das aktuelle Kriegsgeschehen bezogen; die Anspielung auf das Singen der russischen Frau (bzw. das Volkslied selbst) erweist sich als brutales Kriegsinstrument, wobei das Grundmodell der Täuschung, der Wendung einer friedlichen Erwartung ins Grauenvolle dominiert. Das keineswegs zweifelsfreie >Dennoch< dieses Gedichts ist ein äußerst belastetes, fast krampfhaft gesuchtes Bekenntnis zu einer - deutschen - Tradition, die, so fern sie räumlich wie zeitlich angesiedelt ist, als die zugehörige erkannt werden soll. Nichts belegt die Unsicherheit des Sprechers deutlicher als die tendentielle Archaisierung wie die Monumentalisierung in Wortschatz und Bildbestand, die vor allem in der letzten Strophe zu beobachten sind (Fluren, Bläue, wallend, Wappen, Weihe) bis hin zum - in die Distanz der Anrede gestellten - Namen »Herr Volker von Alzey«, all dies in spürbarem Kontrast zur Gestalt des sprechenden Ichs, das sich der Wirklichkeit nicht mehr versichern kann. Der Titel Russischer Frühling umschreibt Raum und Zeitpunkt einer Katastrophe, deren unmittelbare Folge Sterben auf der einen und kulturelle Desorientierung auf der anderen Seite ist; ihre Geschichtlichkeit wird dabei zugleich auf eine Dimension zugespitzt, die dem aus der Geschichte Herausgefallenen historische Rückbindung verleiht: die Herkunft und Gebundenheit an den jüdischen Glaubenskampf (»und ich muß mit Jakobs Engel noch ringen?«) und das scheinbare Bekenntnis zum Singen in deutscher Weise. Ganz im Gegensatz zum sarkastisch-selbstbewußten Gestus der Gaunerund Ganovenweise scheint mir das frühe Gedicht Russischer Frühling in seinem »ästhetischen Mißlingen« paradigmatisch zu sein. Denn die gesuchte Orientierung muß gerade weil sie sich auf das Explizite zu berufen sucht, versagt bleiben. Sie artikuliert die Konfrontation diverser und divergierender historischer, kultureller und emotionaler Befindlichkeiten, die sich zögernd und zweifelnd Fragesätze, Vermutungen, Ahnungen, Wahrnehmungen und Wünsche bestimmen die Gedichtaussagen - in eine letztlich unglaubwürdige Entscheidung finkation abweichende) Anordnung der Texte im Vorabdruck, vgl. Gottfried Bermann Fischer, Brigitte Bermann-Fischer, Briefwechsel mit Autoren, S. 632. 53

den. Wohl kaum ein Text Celans dokumentiert authentischer als dieser in der kulturellen Uberfrachtung die tiefe existentielle Verstörung des Individuums als eine historisch bedingte, durch die das Gedicht Celans erst hindurchgehen mußte, um zu jenem Gestus der Bestimmtheit zu gelangen, der die Verkehrung der Verhältnisse (»damals., gab es ein Oben«, »Krumm war der Weg, den ich ging,., denn, ja, er war gerade«) auf eine Weise sprachlich zu erfassen vermag, die im nachhinein als »ästhetisch gelungen« bewertet wird. Das Dilemma von sprachlicher Inkommensurabilität des Zusagenden und (gefordeter) Ästhetisierung kann wohl nur in einer Form distanzierender Selbstironisierung aufgelöst werden, wie sie Celan in der ungemein verdichteten Gauner- und Ganovenweise schließlich in der Tat gelungen ist - allerdings aus, das soll nicht vergessen werden, großer räumlicher, zeitlicher und geistiger Distanz. Noch ein weiterer Text scheint mir im Hinblick auf die Stellungnahme, auf die Konstituierung bestimmter Konstellationen wichtig zu sein, auf die Celan im Kontext russischer Bezüge später erneut rekurriert. Das Gedicht Der Jäger, dessen genaues Entstehungsdatum unbekannt ist, wird von Barbara Wiedemann in ihrer Frühwerk-Edition den noch in Czernowitz entstandenen Gedichten zugeordnet:57 D E R JÄGER

Im Auge, dem der Orion erlosch, weil ich ein Wild gehetzt, nicht mir beschieden, flammt als mein guter Stern der Feuerfrosch und eine Spinne webt mir meinen Frieden, den ich verlor, als ich in Welschland stak, und bluten ließ die Rebe der Champagne und in Kardien unter Birken lag, mein Herz bei dir im Schatten der Kastanie, die, wenn sie getreu unser noch gedenkt und jener Süße wie von tausend Sommern, von diesem Flammenfrühling Feuer fängt und leuchtet wie der Himmel über Pommern, w o ich, in meine Seele fest verbissen, den Windbruch nicht mehr finde im Revier, w o ich zuerst, der Alpenflur entrissen, ein Herz aufs Korn genommen, nicht ein Tier.' 8

Auch dieses Gedicht versucht - ähnlich wie Russischer Frühling59 - eine Standortbestimmung. Die hier angesprochenen Räume sind jedoch nicht die zum 57

Das Gedicht ist nicht in der Ausgabe von Ruth Kraft enthalten und gehört auch nicht zum Zyklus »Der Sand aus den Urnen«; Wiedemann ediert es nach einem wohl in Wien hergestellten Typoskript. ' 8 F W 139 " Auf die zeitliche Nähe der beiden Texte verweist V. 1 1 . 54

großen Teil imaginären einer kulturell-literarischen Tradition, es sind durch persönliche Erfahrungen geprägte Räume, evoziert in Anspielungen, die sich aus biographischer Kenntnis entschlüsseln lassen. Auch dieses Gedicht leidet unter der Disparatheit der angesprochenen Bildbereiche, die sich in irritierender syntaktischer Ableitung zu einem einzigen Satz fügen und doch inhaltlich keine einheitliche Struktur ergeben. War im Gedicht Russischer Frühling die Disparatheit der Wirklichkeitserfassung in der ambivalenten Komposition der Bilder abgebildet, so erscheint nun das >zerstreute Sprechen< durch eine bewußt in semantischer Funktion gestalteten Struktur dargestellt. Verlusterfahrung, Vergeblichkeit und Verfehlung kennzeichnen den hier angedeuteten Geschehenszusammenhang, der kausale Bezüge bewußt verhindert und statt dessen einen fast abgeklärt anmutenden Fatalismus entwickelt, die offensichtliche Katastophe in der Melancholie der verlorenen Idylle auffängt. Das Bild des Jägers umklammert Anfang und Ende des Gedichts, Sternbild und Spinnweben überdecken und verbinden die im Mittelteil mit autobiographischem Bezug evozierten Räume Frankreich, Karelien, die bukowiner Heimat und den exemplarischen Raum Pommern. Der verlorene Frieden zeigt sich in mehrfacher Hinsicht als Flamme, als ein Leuchten, das dem Erlöschen des (Sternbildes) Orion korrespondiert.60 Im Gegensatz zu den Anspielungen auf die Studienzeit in Frankreich ist ein »karelisches Erlebnis« biographisch nicht bekannt; neben der historisch-politischen Symbolbedeutung, die dem verlorenen Gebiet Karelien (ähnlich wie Pommern) anhaftet, könnte die »karelische Birke« als vertrautes Bild russischer Dichtung gerade in der Ersetzung der Bezeichnung >russisch< als Chiffre für die frühe sorglose Beschäftigung mit russischer Literatur vor dem jetzigen »Flammenfrühling« verstanden werden. Gerade dieses Bild taucht im Gedicht Es ist alles anders am Ende der Niemandsrose wieder auf: .... ein Weg nach Rußland steigt dir ins Herz, die karelische Birke hat gewartet/ 1

Diese Verse gehen der durch einen Gliedertausch vollzogenen und als >russische Initiation deutbaren Vereinigung mit Mandel'stam unmittelbar voraus. Das auf dieses folgende Gedicht Und mit dem Buch aus Tarussa, das von allen

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Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Passage im Gedicht Dunkles Aug im September. »Zum zweitenmal blüht die Kastanie:/ ein Zeichen der ärmlich entbrannten/ Hoffnung auf Orions/ baldige Rückkunft: der blinden/ Freunde des Himmels sternklare Inbrunst/ ruft ihn herauf.« FW 183. 1 , »84

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Texten Celans die meisten russischen Bezüge aufweist, enthält dann im immer wieder neu ansetzenden, ausholenden Bericht den Erinnerungssplitter .. vom unbewaffneten Auge, das er den drei Gürtelsternen Orions - Jakobsstab, du, abermals kommst du gegangen! - 6 l

und im letzten Gedicht der Niemandsrose schließlich heißt es in erneuter Anspielung auf den (zur Strafe für seine erotischen Eskapaden) als Sternbild an den Himmel verbannten Orion, den ewig wandernden Jäger Groß geht der Verbannte dort oben, der Verbrannte: ein Pommer.. 6 3

Diese drei zitierten Stellen sind jeweils aufs dichteste komponierten Kontexten entnommen, auf die hier noch nicht eingegangen werden soll. Bis auf das erste Beispiel beziehen sie sich nicht auf spezifisch russische Motive; der jeweilige Rekurs auf den Mythos um den antiken Jäger Orion oder das im Volkslied präsente historische Geschehen mag kaum in bewußtem Bezug zum frühen Text erfolgt sein, zumal das Manuskript des zu Lebzeiten Celans ungedruckten Gedichts ihm später wohl nicht mehr zur Verfügung stand. Dennoch scheint mir der wiederholte Rekurs Celans auf spezifische Bilder aus frühen Gedichten gerade im vierten Binnenzyklus der Niemandsrose ein auffälliger und denkwürdiger Befund. Er verweist nicht nur auf die grundsätzliche Konstituierung zentraler Motivkonstellationen schon im Frühwerk, die weiterhin wirksam bleiben;64 er begründet auch die grundsätzlich retrospektive Haltung, die seine Gedichte kennzeichnen. Auffällig ist, daß die versuchte Standortbestimmung aus dem zeitlichen Zusammenhang hinausgelöst und in eine räumliche Konstellation versetzt wird. Wem, wie dem Sprecher des Gedichts Der Jäger, Zukunft offenbar verschlossen ist, der versucht eine Verankerung in Räumlichen, das die vergangene Zeit greifbar macht. Hier erfolgt die räumliche Orientierung nicht nur geographisch linear zwischen Frankreich, Rußland und der (deutschen) Bukowiner Heimat, sie kennt auch schon jene spezifische kosmische Ausdehnung, die in der Niemandsrose terrestrische und stellare Bereiche einander gegenüberstellt. Das Auge als Fokus ist nicht nur Sammel- und Konzentrationspunkt, es ist zugleich Antizipation des flammen-

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1, ^89 1, 290

Ich denke hier an Motivkomplexe wie bspw. Auge und Träne, die sich als verhältnismäßig kontinuierlich erweisen.

den Sterns wie des leuchtenden Himmels - bildliche Konstellationen, die in der Niemandsrose in großer Intensität erneut entwickelt werden/ 5

c) Ausbruch aus der Geschichte. Abwendung von Russisch-Ostlichem in Bukarest Russisches war für Celan in diesem Teil des Frühwerkes, d.h. im Raum der Bukowina, vor der Wendung nach Bukarest und zu Rumänischem, Teil eines Orientierungsversuches, der in gewissem Sinne unterbrochen wurde. Es war zum einen Chiffre für Tod und Untergang, es wirkte trennend und verwandelte Vertrautes, Verwandtes, Nahes zu Fernem und Grauenvollem. Zum anderen war es gerade dadurch Bezugspunkt, an dem sich das Verbliebene ausrichten mußte. Innerliche Nähe zu dem Entfernten wurde zum Auftrag an das zurückgebliebene Ich, Erinnern zum Auftrag an das Gedicht. Damit sind ganz wesentliche Komponenten von Celans späterer Dichtung bereits begründet; sie erhalten aber eine weitere Vertiefung durch die in den folgenden Jahren erfolgte reale Entfernung Celans von dem Ort seiner Herkunft, der auch zu einer Verschiebung der räumlichen Verhältnisse führen mußte. Die (von Paris aus gesehen) östliche Heimat fließt zusammen mit der spirituellen >Heimat< der im Osten Umgekommenen, die Sehnsucht nach der verlassen-verlorenen Heimat gerinnt zusammen mit dem Totengedächtnis. Sie wird unterbrochen durch die vitalistisch-reale Hoffnung auf einen >NeuanfangAusbruch aus der Geschichte< versuchte, bestätigen zahlreiche bisher notierte Beobachtungen, die sein Verhältnis gegenüber der eigenen Vergangenheit wie seiner jüdischen Herkunft als zunehmendes Problem beschreiben. Glenn sieht in Celans Verhalten während des ersten Pariser Jahrzehnts insgesamt den Versuch »to leave behind the traditions of Jewish heritage«.2 Im Jahr nach seiner Ankunft in Paris unterbrach Celan zunächst den brieflichen Kontakt mit seinen rumänischen (jüdischen) Freunden, wie es scheint, auch aus politischen Gründen, um die Zurückgebliebenen zu schützen. Der Briefwechsel wurde erst 1957 (Solomon) bzw. 1959/60 (Margul-Sperber)' wieder aufgenommen, in eben jener Zeit, als er auch mit den russischen Lektüren zu seiner östlichen Herkunft wie seinen dichterischen Anfängen wieder zurückkam. Im Jahr 1952 heiratete Celan die französische Graphikerin Gisèle Lestrange; deutlicher beginnt er, in der französischen Umgebung Fuß zu fassen. Andererseits bewegte sich Celan in durchaus unterschiedlichen Kreisen; Rais spricht von dem Freundes- und Gesprächskreis, den beide gemeinsam aufsuchten, als einem »extremely ill-defined milieu called deutschsprachiger [sic!] ParisKrise< 19601962. In: Celan-Jahrbuch 3 (1989), S. 175-204, hier S. 181. 4 In einem Brief an G. Struve vom 1.9.75. I n : Terras/Weimar: Mandelstamm and Celan: A Postscript. Germano-Slavica 2 (1978), S. 369. 2

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Nähe zum Französischen sowie aus aktuellen politischen Gesichtspunkten in hohem Maße zur Assimilation. Ahnlich wie Cioran sind auch andere ehemals rumänische Intellektuelle und Künstler mit ihrem Hauptwerk heute Teil der französischen Kultur, ihre rumänische Herkunft demgegenüber oft vergessen (vgl. auch E. Ionesco oder T. Tzara). Dennoch hat Celan nach Bukarest zu keinem Zeitpunkt mehr das Schreiben in einer anderen als der deutschen Sprache erwogen, wenn auch seine Lebenswirklichkeit fast ausschließlich vom Französischen bestimmt war und sich gerade in diesem Jahrzehnt beiläufige Aufzeichnungen wie Datierungen, Notizen o.a. auch in französischer Sprache finden lassen. Zugleich mit der Abkehr von der eigenen Vergangenheit war schließlich auch eine Abkehr von ihrer jüdischen Determinante zu beobachten, die gerade innerhalb der französischen Gesellschaft, der Celan nun anzugehören versuchte, durchaus auch ihre negativen Seiten hatte. Ab Mitte der fünfziger Jahre ist schließlich ein wieder zunehmendes Interesse für Jüdisches bei Celan zu registrieren, das ebenso bedeutsam scheint, wie es von Celan zunächst verborgen wurde. Lyon geht davon aus, daß er schon um 1955 mit der Lektüre der Schriften Scholems begonnen hat,5 Baumann verweist auf die Bar-Kochba-Schrift Vom Judentum (die u.a. Texte von Buber und Susman enthielt),6 Rais auf Oskar Goldbergs Die Wirklichkeit der Hebräer.7 Die sich im Verlauf der fünfziger Jahre ganz offensichtlich vollziehende allmähliche Hinwendung Celans zu Fragen jüdischen Denkens zeigt sich in ihrer gegenüber der frühen Holocaust-Reflexion (wie sie noch in der Todesfuge versucht wurde) nun veränderten Qualität am deutlichsten im Anfang 1959 entstandenen Gedicht Engführung, aber auch schon im Eingangszyklus des Gedichtbands Sprachgitter, den jenes abschloß. Der komplizierte und in seinem Anspielungscharakter äußerst komplexe Zyklus Stimmen spricht zum einen von der eigenen Vergangenheit Stimmen, vor denen dein Herz ins Herz deiner Mutter zurückweicht. Stimmen vom Galgenbaum her, w o Spätholz und Frühholz die Ringe tauschen und tauschen. 8

Zum anderen kündigt er einen Themenbereich an, der zur vollen Ausgestaltung erst im Raum der Niemandsrose gelangen wird, zentrale Vorstellungen aber bereits enthält: ' »Zu einem gewissen Zeitpunkt Mitte der fünfziger Jahre las er zum ersten Mal die Schriften Gershom Sholems über die Kabbala«; Lyon, a.a.O. S. 180. 6 G . Baumann: Erinnerungen an Paul Celan. Frankfurt a.M. 1986, S. 136. 7 In: Terras/Weimar: Mandelstamm and Celan: A Postscript, S. 368. 8 I , 148. 61

Jakobsstimme: Die Tränen. Die Tränen im Bruderaug. Eine blieb hängen, wuchs. Wir wohnen darin. Atme, daß sie sich löse.'

Parallel dazu ist, so Lyon, biographisch eine zunehmende Bereitschaft Celans zu beobachten, sich, ausgehend von einer jüdischen Herkunft, zu einer jüdischen Identität zu bekennen, so noch verdeckt in den Anspielungen auf Bubers chassidische Geschichten in der Bremer Rede, so offen im »Mauscheln mit Adorno«, auf welchen sich das Gespräch im Gebirg bezogen versteht. 10 Diese hier sehr kursorisch zusammengefaßten und in der Forschung seit längerem bekannten Tendenzen sind von größter Bedeutung für das ab 1957 entwickelte Interesse Celans für Russisches. Denn das Bekenntnis zu Jüdischem, wie es vor allem in den späten Gedichten der Niemandsrose zusammentrifft mit der größten Annäherung Celans an Russisches - so explizit im modifizierten Cvetaeva-Zitat »Bce nosTbi xcHflbi« (Alle Dichter sind Juden) - , war nicht primär bedingt oder ausgelöst durch russische Lektüren, sondern wurde umgekehrt, wie es scheint, in zunehmendem Maße zum diese bestimmenden Faktor.

b) Wiederaufnahme und Entwicklung russischer Lektüren zwischen 1957 und 1969 Um Celans Wiederaufnahme russischer Lektüren in Paris um 1957 und ihre Entwicklung bis zu seinem Tod im April 1970 zu rekonstruieren, sind mehrere Ansätze möglich. Auf biographische Forschung wurde in der vorliegenden Arbeit aus verschiedenen Gründen weitgehend verzichtet. Statt dessen wurde die private Bibliothek Celans, die 1991 vom Deutschen Literaturarchiv in Marbach erworben werden konnte und seitdem dort der Forschung zur Verfügung steht, einer eingehenden Untersuchung unterzogen. Die hier erhaltenen mehr als fünfhundert Titel aus dem Bereich des Russischen sind von mir in einem eigenen Bestandsverzeichnis erfaßt worden, das neben den Einzeltiteln auch Angaben über den Erwerb, Lektürespuren und Ubersetzungsnotizen sowie

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Vgl. Sieghild Bogumil: Zur Dialoggestalt von Celans Dichtung, dargestellt am Gedicht »Stimmen« und seiner Spiegelung in »Landschaft« und »Wutpilger-Streifzüge«. Celan-Jahrbuch 5 (1993), S. 23-52. Vgl. O . Pöggeler: Spur des Worts. Zur Lyrik Paul Celans. Freiburg/München 1986, S.2,7f.

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gegebenfalls einen ergänzenden K o m m e n t a r e n t h ä l t . " M a n m u ß selbstverständlich davon ausgehen, daß Celans Kenntnisse im Bereich der russischen Literatur in unabschätzbarem M a ß e über das durch seine H a n d b i b l i o t h e k D o k u m e n t i e r b a r e hinausgehen. Andere große Pariser Bibliotheken wurden nachweislich von ihm aufgesucht, so bspw. die Bibliothèque Nationale oder die Turgenev-Bibliothek, die über ausgezeichnete russische Bestände verfügt und ein beliebter Emigranten-Treffpunkt ist. 11 Allein die Bestände seiner H a n d b i bliothek aber erlauben bereits differenzierte Aussagen über Qualität und Intensität der Auseinandersetzung mit russischen Werken und lassen deutlich einzelne Phasen der Beschäftigung mit unterschiedlichen erkennen. Diese Erkenntnisse korrespondieren

Schwerpunkten

mit dem wenigen

bisher

Bekannten, was sich anhand der Aussagen lebender Zeugen für Celans N e i gung zu Russischem festhalten ließ. Sie sollen hier vor der Analyse der Bibliothek n o c h einmal kurz zusammengefaßt und, w o nötig, differenziert werden. D i e C e l a n - F o r s c h u n g hat sich in den letzten Jahren gerade in Fragen biographischer Zusammenhänge größtenteils in eine Stagnation zwischen »nicht mehr« und »noch nicht« begeben, aus der sie in absehbarer Zeit wohl auch kaum wesentlich heraustreten wird. N e u e Erkenntnisse aufgrund persönlicher Erinnerungen von Zeitgenossen Celans sind kaum mehr zu erwarten. D i e meisten der Freunde und Weggenossen Celans haben ihre Erinnerungsstücke bereits auf verschiedenen Wegen der Forschung zugänglich gemacht; immer wieder k o m m e n weitere wichtige Zeugnisse zum Vorschein, so die erst kürzlich bekannt gewordenen, aus den sechziger Jahren stammenden Briefe Celans an seinen nach R u ß l a n d emigrierten Jugendfreund Erich E i n h o r n . ' 3 Ein unabschätzbarer Teil ist mit dem Generationswechsel und dem A b l e b e n der meisten >Wissenden< für immer verloren gegangen. Besonders schmerzlich wurde dies denen bewußt, die das G l ü c k gehabt haben, mit Frau Gisèle Celan-Lestrange selbst noch in K o n t a k t zu k o m m e n und die nun ihren plötzlichen und unerwarteten Tod betrauern. I m m e r wieder wurden persönlich gefärbte Berichte, Bruchstücke aus verschiedenen Lebensphasen Celans, veröffentlicht; die Publikationen an verstreuten O r t e n sind von dem einzelnen F o r s c h e r nur mühsam zu verfolgen. Häufig enthalten solche Erinnerungen nur fragmentarische, w o h l aber wichtige Einzelbemerkungen; sie sind bisher an keiner Stelle systematisch erfaßt

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Vgl. »Kyrillisches, Freunde, auch das ...«. Die russische Bibliothek Paul Celans im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Aufgezeichnet, beschrieben und kommentiert von Christine Ivanovic. Mit 30 Abbildungen. Deutsche Schillergesellschaft Marbach am Neckar 1996. (= Deutsches Literaturarchiv. Verzeichnisse, Berichte, Informationen 21). Diesen Hinweis verdanke ich Ralph Dutli. Vgl. den Bericht Marina Dmitrieva-Einhorns: Wo ich mit meinen Gedanken bin. In: Die Zeit Nr.44 (27.10. 1995), S.63.

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worden. Ebenso fehlt auch fünfundzwanzig Jahre nach Celans Tod noch immer eine zuverlässige biographische Darstellung, die über das Frühwerk hinausführt. Neben den persönlichen Berichten wurden und werden zunehmend briefliche und andere Dokumente Celans von ihren einstigen Besitzern dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach übergeben, die vielfach wichtige biographische Aufschlüsse ermöglichen. Diese Dokumente dürfen von der Forschung jedoch in der Regel noch nicht zur Kenntnis genommen werden. Die im Vergleich mit dem gesamten Briefwerk wenigen bisher edierten Briefe' 4 lassen vermuten, daß sich hier gerade für biographische Zusammenhänge wichtige ergänzende Daten sichern lassen, die im Einzelfall, wie sich gelegentlich schon gezeigt hat, höchst bedeutsam sein können, ebenso wie die gleichfalls noch auf längere Sicht hin für die Forschung gesperrten Notizbücher Celans. Gerade in dem hier interessierenden Bereich russischer Literatur macht sich die eingeschränkte Verfügbarkeit authentischer Aussagen neben dem Fehlen lebender Zeugen einer sehr an das Persönliche gebundenen Auseinandersetzung als schwerwiegendes Defizit bemerkbar, das erst nach und nach korrigierbar sein wird. Aussagen und Erinnerungen von Zeitgenossen Celans, die das Wiedererwachen seines Interesses für russische Literatur in der zweiten Hälfte der fünfziger und zu Beginn der sechziger Jahre dokumentieren, beschreiben und differenzieren könnten, lassen sich heute kaum noch zuverlässig aufzeichnen. Die Erinnerungen von Frau Celan erwiesen sich trotz ihrer generellen Offenheit für diese Fragen dennoch als wenig ergiebig. Als ich sie Anfang Mai 1991 gemeinsam mit Germinal Civikov in Paris besuchte, zeigte sie uns in ihrer Wohnung die sorgsam gehüteten frühen Mandel'stam-Ausgaben, die vom Team der Bonner Arbeitsstelle in den siebziger Jahren bibliographisch nicht erfaßt worden waren.IS Mit Nachdruck verwies sie mehrfach neben Mandel'stam auf Celans >Liebe< für Cvetaeva und zeigte uns stolz ihre eigene mehrbändige französische Cvetaeva-Ausgabe, die erst lange nach seinem Tod herausgekommen war und ihm, wie sie sagte, viel Freude gemacht hätte, sowie auf ein kleines Foto von Cvetaeva, das als eines der wenigen Dichterporträts an ihrem Bücherregal angebracht war. Dies war Ausdruck ihrer Ehrbezeugung für Celan und seine Neigung zu russischer Literatur. Ein Besuch im Frühjahr 1992 in der École Normale Supérieure in der Rue d'Ulm, wo Celan seit 1959 als Lektor für Deutsch tätig war, wo er ein eigenes 14

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Vgl. die erst kürzlich durch B. Wiedemann komplett edierten Briefwechsel Celans mit Nelly Sachs bzw. mit Franz Wurm; vgl. auch die Einzelpublikationen von Briefen Celans an A. Margul-Sperber und R . Federmann, sowie den gerade im Kernzeitraum der russischen Lektüren aufschlußreiche Briefwechsel Celans mit seinem Verleger G.-B. Fischer. Sie befinden sich jetzt sämtlich im Deutschen Literaturarchiv in Marbach a.N., vgl. Verz. Nr. 2 3 1 - 2 3 4 , 241, 242.

Arbeitszimmer besaß (heute >Chambre CelanThe Times Literary Supplement zu berichten wußte, nach seiner Rückkehr aus Sibirien in dem von den Armeen Hitlers besetzten Teil Rußlands das Schicksal so vieler anderer Juden teilen mußte: dies endgültig zu beantworten, ist zur Stunde noch nicht möglich.« und fügte mit dem bekannten Zeichen »x/« darunter die N o t i z an:

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Ein kleiner Teil von Celans Bibliothek befand sich in seinem Zimmer in der École Normale. Diese Angaben sind wenigstens teilweise erhalten im Katalog der Bonner Arbeitsstelle; das von mir erstellte Verzeichnis führt sie nochmals auf. 17 In einem Nachruf in Le Monde vom 13.1. 1959 erwähnt der bedeutende französische Slavist André Mazon Ocups »enseignement à l'École normale«; der Zeitungsausschnitt befand sich in Celans Exemplar des von Struve 19 j 2 in New York herausgegebenen Bands Neizdannyj Gumilev [Der unveröfentlichte Gumilev] (vgl. Verz. Nr. 171). Ocup selbst war ebenfalls als Herausgeber einer Sammlung von Werken Gumilevs hervorgetreten (vgl. Verz. Nr. 167). ' 8 Diese Angabe enthält das Vorwort von G. Struve zu den unten zitierten Briefen von Rais: »Rais, who is now himself teaching at the Ecole Normale (I do not know when he began doing so),..« vgl. Terras/Weimar: Mandelstamm and Celan: A Postscript, S. 360.

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χ Ossip Mandelstamm starb 1938 in Sibirien. Λ 964/

P. C. 1 »

Die persönlichen Kontakte Celans zu Mitgliedern der russischen Emigration, Zeitraum, Umfang und Intensität dieser Bekanntschaften sind ebenfalls kaum mehr rekonstruierbar. Die Mehrzahl der kleinen, oftmals in Privatwohnungen eingerichteten russischen Antiquariate und Buchhandlungen, auf welche verschiedene Label in Celans Büchern verweisen, existiert heute nicht mehr. Der Mandel'stam-Herausgeber Gleb Struve selbst konnte zumindest einen dieser Kontakte dokumentieren. Es handelt sich dabei um seinen (1976 gestorbenen) Bruder Aleksej, der in Paris die wohl wichtigste russische Buchhandlung begründete und leitete; sie wurde fortgeführt von dessen Sohn Nikita Struve 20 und besteht heute noch unter dem Namen »YMCA-Press«. Celan wandte sich selbst Ende Januar 1959 brieflich an Gleb Struve (damals Professor in Berkeley) und sandte ihm seine bisher erschienenen Gedichtbände, sowie die Blok- und Mandel'stam-Übertragungen; danach standen beide kurze Zeit in lockerem Kontakt. Ein geplantes Treffen während Struves Europareise im August i960 kam aus unbekannten Gründen nicht zustande; auch die Korrespondenz bricht zu diesem Zeitpunkt ab. 21 In einem Brief vom 15. März 61 erwähnt Aleksej Struve dem Bruder gegenüber seine Bekanntschaft mit Celan: . .Occasionally, I see a poet, a translator of Mandelstamm. I am told, by the way, that he is the best >living< German poet. A Jew, born i Czernovitz, forty years old, a French citizen. Has begun this year teaching at the Ecole Normale, was awarded some German Prize (Darmstadt?).. 22

Offenbar auf eine genauere Rückfrage hin teilt Aleksej Struve in seinem nächsten Brief dem Bruder am 27. März weitere Details mit: I have known Celan for about two years. To begin with, I used to help him in various ways. Then he >fell in love< with Mandelstam and brought from me all his works I had. He seems to be a nice, gentle person. You can write to him simply in Russian. We talk French to each other. He is married to a French girl, speaks [French] like a Frenchman, teaches at the Ecole Normale. N o , he did receive also something from Darmstadt, [..] he mentioned this himself. I'll ask him again after Easter. He is preparing translations from Esenin. But his idol [..] is M[andelstam].. 23 19

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Ich danke der École Normale Supérieure für die freundliche Erlaubnis zur Einsichtnahme. Zur weiteren Diskussion gerade dieser Spekulationen um Mandel'stams Ende, vgl. unten Kap. III, 5. N . Struve ist u.a. als französischer Biograph Mandel'stams hervorgetreten: Ossip Mandelstam. Par Nikita Struve. Paris (Institut d'études slaves) 1982. (= Bibliothèque Russe de l'Institut d'Etudes Slaves. Tome L X ) . Vgl. das Vorwort von G . Struve zu den bei Terras/Weimar (Mandelstamm and Celan: A Postscript) edierten Briefen, S. 359-361. Ebd., S.360. Ebd. Daß Celan gerade die frühen und sehr seltenen Mandel'stam-Ausgaben kom-

Das immer noch aufschlußreichste Dokument jedoch veröffentlichten 1978 die amerikanischen Slavisten Viktor Terras und Karl S. Weimar im »Postscript« eines Beitrages über Celan und Mandel'stam. Neben den schon zitierten Briefdokumenten von Struve finden sich hier zwei Schreiben von Emmanuel Raïs, der, wie Gleb Struve schreibt, ein großer Verehrer Mandel'stams war und einen der einführenden Artikel zu dessen dreibändiger Werkausgabe verfaßt hat. Raïs wurde 1909 geboren; er stammte aus Chotyn in der Nähe von Czernowitz, stand also Celan bereits durch seine Herkunft nahe. 1942 kam er nach Paris und beteiligte sich dort aktiv an der Résistance. Nach dem Krieg war er als Literaturkritiker, Ubersetzer und Essayist tätig und veröffentlichte zahlreiche Beiträge zur französischen und russischen Literatur, bevor er Mitte der fünfziger Jahre seine Liebe für die ukrainische Dichtung entdeckte, der er sich in den folgenden Jahren besonders intensiv widmete. 24 Er muß zum engeren Freundeskreis Celans gehört haben, bemühte sich wohl intensiv darum, bei Celan Interesse für russische Dichtung zu wecken und brachte ihn u.a. mit der ukrainischen Dichterin und Malerin Emma Andiewska in persönliche Verbindung. 2 ' Allein Gleb Struve wurde auf die Rolle, die Raïs in Bezug auf die Vermittlung russischer Literatur für Celan spielte, aufmerksam. In seinen Briefen antwortet Raïs Struve auf dessen Anfragen in dieser Sache. Da diese Dokumente bis heute in der Celan-Forschung kaum zur Kenntnis genommen wurden 26 (sie sind bei Terras/Weimar nur im russischen Original bzw. in englischer Übersetzung zu lesen),27 seien sie an dieser Stelle in einer deutschen Version erneut wiedergegeben, zunächst ein Brief vom 25.9. 1975: Mit der Angelegenheit, nach der Sie mich fragen, verhält es sich ganz einfach: mit Mandel'stam habe ich selbst Celan bekannt gemacht und darüber auch einige Zeilen in meinem Beitrag Das Werk Osip Mandel'stams geschrieben, der im ersten Band seiner Gesamtausgabe abgedruckt wurde, die Sie in den U S A herausgegeben haben. Ich spreche darüber auf den Seiten X X X Y I und X X X Y I I dieses Bandes... 28

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plett von Aleksej Struve erwerben konnte, belegen einige in den Bänden inliegende Zettel, vgl. Verz. Nr. 232. Vgl. den Eintrag »Rais« in der »Enziklopedija Ukrainoznavstva«. Golovnij redaktor Volodimir Kubijovic. Paris - N e w York 1973, S. 2461. Die darüber hinausgehenden Informationen teilte mir Frau Emma Andiewska dankenswerterweise mit. Vgl. Verz. S. 27-29. Lediglich einzelne Passagen werden zitiert bei L . M . Olschner: Der feste Buchstab. Erläuterungen zu Paul Celans Gedichtübertragungen. Göttingen 1985, insbes. S. 227 und 231. In: Victor Terras und Karl S. Weimar: Mandelstamm and Celan: Affinities and Echoes. Germano-Slavica ι (1974), H.4, S. 1 1 - 2 9 ; sowie dies.: Mandelstamm and Celan: A Postscript. Germano-Slavica 2 (1978), S.353-370. Vgl. O. Mandel'stam: SS I, [eig.] L X X X I I - L X X X H I . Hier schreibt Raïs: »Der in Paris lebende deutsche Dichter Paul Celan, einer der bedeutenderen Vetreter seiner Generation, die in Deutschland nach dem Krieg hervorgetreten sind, kann Russisch. E r stammt aus der Bukowina, die während des letzten Krieges sowohl von den Trup-

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Auch mit Vl.F. Markov habe ich Celan in Verbindung gebracht, und, falls es Sie interessiert, bin ich bereit, Ihnen noch mehr über unsere Gespräche über die russische Literatur zu erzählen. Irgendwie zeigte mir Celan seine Ubersetzung des Trunkenen Schiffs von Rimbaud ins Deutsche. Ich war überrascht von der ungewöhnlich hohen Qualität dieser Ubersetzung, die zugleich sehr kühn und sehr originalgetreu war. Ich fragte ihn damals, wenn Du Dich schon mit Übersetzungen befaßt, warum übersetzt Du dann nicht russische Dichter, die dem deutschen Publikum weit weniger bekannt sind als Rimbaud. Er antwortete mir darauf, daß seiner Meinung nach die russischen Dichter kein Interesse verdienten, um von einer Ubersetzung erst gar nicht zu sprechen. Auf meine verwunderte Frage »Warum?« verwies er mich auf sein Gespräch mit einem (meiner Meinung nach nicht besonders kompetenten) Universitätsdozenten der russischen Abteilung, welcher ihn, als auf den bedeutendsten Dichter des zwanzigsten Jahrhunderts, auf Achmatova verwiesen habe! Esenin kannte er schon von früher und schätzte ihn ebenfalls nicht besonders. »Majakovskij?« Da machte ich mich daran, ihm von den russischen Dichtern unseres Jahrhunderts die weitaus bedeutenderen und der Aufmerksamkeit würdigeren nahe zu bringen und begann, ihm Gedichte verschiedener großer Dichter unserer Epoche zu rezitieren, hauptsächlich von Georgi) Ivanov, Cvetaeva, Chlebnikov, Poplavskij und anderen. Er begann sich lebhaft dafür zu interessieren - diese Lesungen fanden mal in der Wohnung in der Rue Longchamp, mal bei mir statt (damals wohnte ich noch am Gudin), oder in Cafés in der Stadt. Das Ergebnis davon war, daß er ziemlich schnell Mandel'stam aussonderte und damit begann, ihn ins Deutsche zu übersetzen. Er war so sehr hingerissen von Mandel'stam, daß er beinahe davon abließ, anderen Dichtern Gehör zu schenken, in unseren Gesprächen immer wieder zu ihm zurückkehrte und schließlich äußerte: »Das Übersetzen Mandel'stams ins Deutsche hat für mich keine geringere Bedeutung als mein eigenes Dichten.« So vergingen einige Jahre, seine Mandel'stam-Übersetzungen erschienen in deutschen Zeitschriften und, wie es scheint, auch als gesonderter Band. Ich selbst kann mich nicht daran erinnern, er zeigte mir jedoch das druckfertige Manuskript. Dennoch befriedigte mich das nicht und ich sprach mit ihm nach wie vor auch über andere russische Dichter des zwanzigsten Jahrhunderts. Wie ich nun von Ihnen erfahre, hatte er also auch vor, Cvetaeva zu übersetzen, die bei ihm an zweiter Stelle stand, nach Mandel'stam. Überhaupt hatte er wohl noch weitere Übersetzungsprojekte, nicht nur russischer Dichter, sondern auch rumänischer (Barbu) und ukrainischer (Andievskaja [sie!], mit

pen Hitlers wie der Bolschewiken besetzt worden war. Wieviel Leid ihm von ihnen zuteil wurde, ist daran zu ersehen, daß bis heute seine Verse die Spur der ihm damals aufgegebenen Prüfungen tragen. Aber er hat das Russische erlernt und, zum Glück, da er verstand, worauf es dabei ankommt, Rußland nicht gehaßt. Unter vielen neuen russischen Autoren, die ich ihm zeigte (Cvetaeva, Chlebnikov, G. Ivanov, Zabolockij) wählte er sofort Mandel'stam aus und übertrug einen ganzen Band seiner Gedichte ins Deutsche, höchst erfolgreich. Dadurch erlangte Mandel'stam Bürgerrecht in den führenden Kreisen der deutschen Literatur, was mir mehrfach von zahlreichen ihrer Vertreter bezeugt wurde.« (Übers. C. I.) Celan selbst hatte Struve gegenüber erwähnt: »Ich habe, als meine Heimat, die Bukowina, sowjetisch wurde, Russisch gelernt (unter Verhältnissen, die Ihnen bekannt sind..), gerne und dankbar, habe aber erst jetzt, nach Jahren, wieder zu dieser Sprache zurückgefunden.« (Brief an Gleb Struve vom 29. ι. 1959; in: Terras/Weimar: Mandelstamm and Celan: A Postscript, S. 362.). 68

welcher ich ihn zusammengebracht hatte; es scheint, daß sie in Briefwechsel gestanden haben). All diesem bereitete sein vorzeitiger und unerwarteter Tod ein Ende unter vielleicht auch Ihnen bekannten tragischen Umständen. Nach seinem Tod war ich einmal bei seiner Witwe (um ihr zu kondolieren); 2 ' sie zeigte mir ein umfangreiches Manuskriptkonvolut, zum größten Teil unveröffentlichte Gedichte auf deutsch, und bat mich, mich darum zu kümmern. Ich empfahl ihr, sich in dieser Sache lieber einem deutschen Literaten anzuvertrauen, der kompetenter wäre als ich und eher in der Lage, ihr beim Druck behilflich zu sein. Ich habe sie dann nicht mehr getroffen..[Später erschien tatsächlich ein Band unter dem Titel Lichtzwang, weniger interessant, meiner bescheidenen Meinung nach, als jene, die zu Lebzeiten des Dichters herausgekommen waren. Ich kann mich nicht daran erinnern, irgendwelche Ubersetzungen unter den Manuskripten gesehen zu haben.] 30 Falls es Sie interessiert, könnte ich Ihnen gelegentlich noch einige Einzelheiten über Celan berichten - wir waren eng befreundet und hatten (haben) gemeinsame Freunde. Aber das stünde in keinem direkten Bezug zu seinen Übersetzungen russischer Lyrik. Russisch gelernt hatte er während der sowjetischen Besatzung der Bukowina, er hat sich damit aber auch später noch beschäftigt. Er sprach ungern und selten Russisch (ähnlich wie Englisch), aber er las fließend und irgendwie »fühlte« er diese Sprache. Im Besonderen faszinierte ihn die Wortmagie Georgij Ivanovs, ungeachtet einer intellektuellen Feindseligkeit gegenüber »Emigranten«, obwohl er immun war für Sympathie gegenüber dem Sovjetstaat, dessen Reize er am Schicksal seiner eigenen Verwandten erfahren hatte.. 3 1 In einem zweiten Schreiben vom 1 . 1 1 . 1975 ergänzt Raïs seine Angaben noch einmal, vermutlich mit Bezug auf konkretere Fragen von Seiten Struves: .. meine Bekanntschaft mit Celan war ziemlich alt. Sie ging aus von einem letztlich unbestimmbaren Milieu, genannt »deutsch sprechender [sie!] Paris«,' 2 das Celan bis zum Erscheinen seines ersten Gedichtbands aufsuchte und in welchem auch ich gelegentlich verkehrte. All dies betrifft die frühen fünfziger Jahre. Wir waren in etwa Landsleute. In der Vergangenheit hatten wir gemeinsame Bekannte, auch in den Kreisen rumänischer Literaten. Lange Zeit jedoch ging es in unseren Gesprächen in der Hauptsache nicht um russische Literatur, sondern um Fragen eines religiösen Judaismus und der Kabbala. A m Anfang war er ein militanter Atheist, doch begann er sich für die Kabbala zu interessieren, und zwar besonders für das geniale Buch von Oskar Goldberg Die Wirklichkeit der Hebräer, unter dessen Einfluß Thomas Mann seinen Roman }oseph und seine Brüder geschrieben hatte. In diesem Zusammenhang erinnere ich daran, daß Goldberg zur Zeit meiner Bekanntschaft mit Celan schon nicht mehr am Leben war, sonst hätte ich sie zusammengebracht. Schrittweise, unter dem Einfluß unserer Gespräche, näherte er sich dem Zionismus und besuchte sogar kurz vor seinem Tod Israel (die Sprache konnte er nicht und brachte es auch nicht über sich, sie zu erlernen) und kam in Kontakt mit einigen dortigen Literaten. Der Dichter

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Frau Celan, die ich diesbezüglich noch kurz vor ihrem Tod befragen konnte, hatte jedoch keine Erinnerung an Raïs. ° Dieser Absatz ist nur in der englischen Ubersetzung wiedergegeben; Terras/Weimar: Mandelstamm and Celan: A Postscript, S. 367. 31 Ebd., S. 364-366. Übersetzung C. I. 32 Im Original deutsch zitiert. 3

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Rokeah versuchte ihn ins Hebräische zu übersetzen, meiner Meinung nach nicht besonders glücklich. Nach dem Erscheinen seines Bands Sprachgitter äußerte ich mein Erstaunen über das stetige Anwachsen der Spannung in seinen Gedichten. Er lächelte und sagte, in dieser Angelegenheit »besitze er ein Geheimnis«, und daß in Zukunft diese Spannung noch ansteigen würde. So war es auch in Niemandsrose und Fadensonnen. Ich habe ihn nach dieser Sache nicht mehr gefragt und war wie vom Blitz getroffen von der Zeitungsmeldung über seinen Tod (er ging in die Seine). In den letzten Monaten davor hatte er alle seine Freunde gemieden und bei Begegnungen wirkte er zerstreut und irgendwie unnormal. Gesprächen wich er aus. Später erfuhr ich von gemeinsamen Freunden, daß er Drogen nahm (dies war das »Geheimnis« seiner »Steigerung«), und ihm dabei, aufgrund mangelnder Erfahrung, irgendwelche Fehler unterlaufen waren; er verfiel in Melancholie, die ihn in den Selbstmord trieb. Vielleicht könnte ich Sie mit dem einen oder anderen seiner Freunde bekannt machen, die vermutlich mehr über die Umstände seines Todes wissen als ich, aber ich halte es für angemessen, sie zunächst um ihr Einverständnis zu bitten. Nein, auf französisch habe ich nichts über ihn geschrieben. Von Achmatova habe ich Celan nicht >abgehalten< - es waren ihre Gedichte selbst, die sein Interesse für die russische Literatur überhaupt dämpften, zu der im Gegenteil ich ihn ja gerade erst hinführen wollte und für die ich ihn nicht wenig interessieren konnte... 3 3

Aus dem Artikel von Terras und Weimar geht nicht hervor, aus welchen (wo nicht privaten) Gründen Struve, der, wie er selbst schreibt, keine besonderen Beziehungen zur deutschen Literatur besaß, so intensive Nachfragen zu Celan unternimmt, nachdem seine persönlichen Kontakte zu ihm bereits eingeschlafen waren, bzw. nachdem Celan schon einige Jahre gestorben war. Für die zeitliche Eingrenzung von Celans »russischer Phase« erweisen sich die von Terras und Weimar präsentierten Dokumente in jedem Fall als aufschlußreich. Was sich anhand der handschriftlichen Eintragungen in den Bänden der Bibliothek belegen läßt, tritt auch hier als Faktum hervor: Die erneute Beschäftigung mit russischer Dichtung begann nicht vor 1957, in jedem Fall aber nach Abschluß der Rimbaud-Ubersetzung; sie findet nach i960 keine Steigerung oder besondere neue Akzentuierung. Die früheste eindeutig von Paul Celan selbst vorgenommene Datierung in einem russischen Band aus der Bibliothek Celans notiert den Mai 1957 - sie findet sich in der 195 5 erschienenen ersten Werkausgabe MandePstams aus den U S A . Kein weiterer Band trägt diese Jahreszahl; 34 auch die ungeheuer zahlreichen Übersetzungsdaten in diesem Exemplar beginnen erst 1958. Weitaus die Mehrzahl der Bände wurde in den Jahren 1958 und 1959 erworben, weitere zwischen i960 und 1962, deutlich weniger in den folgenden Jahren. 33 34

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Ebd., S. 368f. Übersetzung C. I. Hier bedarf es eines Vergleichs mit den restlichen Beständen der Bibliothek; Celan begann, so scheint es, überhaupt erst gegen Ende der fünfziger Jahre mit einer systematischen Datierung seiner Erwerbungen und, bedingt durch die Plagiatsaffäre, auch der Lektüre.

Die Darstellung von Raïs akzentuiert einige Aspekte, die neben der in allen diesbezüglichen Aussagen deutlichen Prädominanz Mandel'stams bisher weniger in den Blick traten, jedoch glaubwürdig erscheinen und das bisher Eruierte ergänzen. Auffällig erscheint zunächst die Tatsache, daß sich Celan bis zum angeführten ersten Gespräch mit Raïs nicht angemessen informiert zeigt über die entscheidende Phase der russischen Dichtung, die ihn dann schlagartig in ihren Bann versetzte; dieser Eindruck relativiert die Aussage Wiedemanns über Celans »Vertrautheit mit der vorrevolutionären russischen Literatur überhaupt«35 und verweist einmal mehr auf die zu berücksichtigenden besonderen Bedingungen und Einschränkungen in der Verbreitung russischer Literatur in Europa seit der Revolution. Raïs bezeichnet sich selbst als Initiator dieses wichtigen Rezeptionsprozesses, über dessen Folgen im dichterischen Werk Celans er sich kaum bewußt sein konnte. Was aber gerade im zweiten Brief deutlich hervortritt, ist die gleichzeitige, teilweise sogar vorbereitende allmähliche Hinwendung Celans zu jüdischen Fragen, die eine ganz wesentliche Komponente seiner russischen Lektüre darstellt, vor allem aber - noch jenseits der ästhetisch-literarischen Wertschätzung - die Beziehung zu Mandel'stam (wie später auch zu Cvetaeva) bestimmte. Zumindest ansatzweise ermöglicht die Darstellung von Raïs auch eine Vorstellung von der Entwicklung seines Interesses für Russisches, das sich nach einer Orientierungsphase mit Lesungen verschiedenster Autoren des zo.Jahrhunderts (verm. 1957/58) zunehmend auf Mandel'stam konzentrierte, eine Zuspitzung, die Celans Wahrnehmungsfähigkeit und Wahrnehmungswillen für andere Autoren beeinträchtigte. Die sehr subjektive, um nicht zu sagen emotional gefärbte, Komponente gerade von Celans Mandel'stam-Rezeption, die an der Darstellung von Raïs auffällt und wie sie ebenso aus den wenigen Bemerkungen von A. Struve herauszulesen ist {»he >fell in love< with Mandelstam..«), scheint angesichts der objektiven literarischen Größe dieses Autors wenig ins Gewicht zu fallen. Sie unterstreicht jedoch einmal mehr, daß neben der unbestreitbar bedeutsamen ästhetischen Auseinandersetzung Celans mit Mandel'stam - die wesentlichen Anteil gerade an der expliziten Formulierung seiner Poetik um i960 hatte - auch eine eher existentiell - und das heißt hier schicksalhaft - begründete Nähe zu diesem Dichter bedeutsam war, die als ebenso wesentliche Seite dieser Auseinandersetzung nicht unbeachtet bleiben darf. Celan entwickelt um 1960 die Vorstellung einer spezifischen Schicksalskonstellation, die sich nicht nur als gemeinsamer Nenner seines eigenen und Mandel'stams Lebenswegs verstehen läßt; sie gipfelt in dem russisch ausgesprochenen Motto »Alle Dichter sind Juden« und wird für ihn damit auch zum

3S

Vgl. B. Wiedemann: Grischas Apfel, S. 149.

71

Begriff des modernen Dichterschicksals schlechthin.'6 Wie viel von Mandel'stams Gesamtwerk Celan eigentlich fremd und wie deutlich auch hier das Interesse auf diese Konstellation konzentriert blieb, zeigt gerade die Auseinandersetzung Celans mit den erst nach i960 erhaltenen Texten: In deutlichem Kontrast zum intensiven Interesse für die Nachlaßedition der in der Zeit der Verbannung entstandenen Gedichte Mandel'stams, die im Almanach Vozdusnye putì 1961 erstmals publiziert wurden, steht eine offensichtlich nur noch periphere Wahrnehmung der späteren (Erst)Veröffentlichungen selbst da, wo es sich um so bedeutungsvolle Texte wie das Gespräch über Dante (1967) handelt. Raïs Darstellung deutet ferner darauf hin, daß im Prinzip bei allen anderen Autoren von einem zunächst sehr allgemeinen, dann eher punktuellen Interesse Celans auszugehen ist. Wie intensiv Celans Lektüre tatsächlich gewesen ist und wie weit seine Kenntnisse im Bereich russischer Literatur reichten, läßt sich heute nurmehr ansatzweise abschätzen, wobei das anhand des Nachlasses rekonstruierbare Wissen mit Sicherheit durch persönliche Gespräche um einen heute nicht mehr ermittelbaren Faktor multipliziert wurde. Von den Autoren, die Raïs neben Mandel'stam erwähnt, wird auch über Cvetaeva und Chlebnikov 37 noch zu sprechen sein. Von Poplavskij ist kein Werk in der Bibliothek enthalten; auch die Anstreichungen in Anthologien oder Literaturgeschichten weisen keine Beschäftigung mit diesem Autor nach. Von Georgij Ivanov ist einiges wenige in der Bibliothek vorhanden; die dortigen Anstreichungen beschränken sich in den autobiographischen Erinnerungen Peterburgskie zimy (Winter in Petersburg) auf Notizen zu Mandel'stam'8 und Blok; im Band Stich i (Gedichte; erschienen 1952 in New York) findet sich eine marginale, gleichwohl bedeutende Übersetzungsnotiz zu den letzten beiden Versen des Gedichts Igra sudby (Spiel des Schicksals), welche einmal mehr die These von der eher punktuellen Rezeption bestätigt: Dopustim, kak poét, ja ne umru, Zato, kak celovek, ja umiraju. Mag sein, als Dichter lebe ich einst fort Indes, als Mensch - als Mensch bin ich des Todes."

36

37

38 39

72

Die Dichterin Cvetaeva, deren Poem vom Ende (Poèma konca) das Motto entlehnt wurde, hat dabei offensichtlich eine Stellvertreterfunktion, die den Blick von Mandel'stam weg auf das Allgemeine solchen Schicksals richten soll, dessen wesentliche Pole Feme und Verbannung sind. Vgl. dazu Kap. III, 7. Vgl. dazu meinen Aufsatz: »Wem bloß erzählchen.. ». Celans Chlebnikov-Lektüre. Beobachtungen am Nachlaß. Celan-Jahrbuch 5 (1993), S. 165-192. Vgl. Kap. III, 5. Georgij Ivanov: Stichi 1943-1958 [Gedichte]. N'ju-Jork 1958, S. 22 (vgl. Verz. Nr. 177 und Abbildung ebd. S. 71).

Die, soweit bisher dokumentierbar, offenbar höchst bedeutsame Rolle von E. Raïs als Vermittler russischer Literatur und als Initiator von Celans erneuter Hinwendung zu Russischem verweist darauf, daß dieser Rezeptionsprozeß eingebettet war in ein vielschichtiges, von multikulturellen Faktoren bestimmtes Bezugssystem, auf das hier abschließend hingewiesen sei. Rais hatte nicht nur als Freund bei Celan Interesse für russische Literatur zu wecken versucht; er selbst war wissenschaftlich und publizistisch engagierter Vertreter des russischen und ukrainischen Geisteslebens und bemühte sich auch um dessen Vermittlung nach Frankreich. Wie vor allem sein erster Brief an Struve belegt, versuchte er aus dieser Motivation heraus Celan als Ubersetzer für das Russische zu gewinnen. Raïs' Aktivitäten führten somit wohl nicht nur zur Bekanntschaft Celans mit einzelnen Vertretern der russischen Emigration in Paris. Sie banden seine erneute Annäherung an Russisches auch an einen geistigen Kontext, der von der deutschen Perspektive auf Rußland und auf russische Literatur unbedingt abzugrenzen ist. Celans Auseinandersetzung mit russischer Literatur unterscheidet sich deutlich von dominanten Tendenzen und Stereotypen deutscher literarischer Annäherung an Rußland. Weder für eine mystifizierende Rußlandbegeisterung, wie sie spätestens seit Rilke in Deutschland bekannt ist, noch für eine Annäherung an das »Heilige Rußland«, wie sie Thomas Manns Vorstellungen prägte, um nur die bedeutendsten Vertreter zu nennen, sind Anzeichen in Celans Werk zu finden. Ebensowenig läßt sich bei Celan eine ideologisch geprägte Auseinandersetzung beobachten, wie sie als Begeisterung für das neue Rußland nach der Revolution bis in die späten zwanziger Jahre hinein bei einer ganzen Reihe deutscher Autoren zu beobachten war (E. Toller, O.M. Graf u.a.). Und schließlich sind auch die Bezüge auf aktuelle bundesdeutsche Rezeptionstendenzen der zeitgenössischen »Tauwetterperiode« der Sowjetliteratur kaum zu erkennen. Als erklärter politischer Gegner wurde die Sowjetunion in kultureller Hinsicht der bundesdeutschen Öffentlichkeit gerade dann vor Augen geführt, wenn es sich um Repressalien gegenüber Intellektuellen oder um das Schicksal von Dissidenten handelte; diese Tendenzen nahmen nach der Pasternak-Affäre (1958) noch zu und steigerten sich mit der zunehmenden Politisierung des Kulturlebens während der sechziger Jahre. Die Ansichten über und das Interesse für das geistige Leben in der Sowjetunion teilte sich dann mehr oder weniger in die >offizelle< Linie und in die Vertreter der Linken. Hier ist anhand der in Celans Bibliothek erhaltenen Titel und vor allem bei Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträgen zu beobachten, wie reserviert er der aktuellen Diskussion offenbar gegenüber stand. Wenngleich Celan beispielsweise den >Fall Pasternak< wohl genau verfolgte, so fällt doch auf, daß dieser sein literarisches Interesse für das Werk dieses Autors wenig tangierte. Indirekt und eher zurückhaltend formiert sich offensichtlich bei Celan eine Haltung, die ein prinzipielles Interesse für die aktuellen Entwicklungen zwar erkennen läßt, jedoch 73

kaum zu offener Stellungnahme oder Engagement drängt. Vereinzelt sind in seiner Bibliothek Samizdat-Ausgaben, die im Westen gedruckt wurden, erhalten (so die Anthologie Phönix).4·0 Als deutlichstes Zeichen von Celans Haltung läßt sich dann schließlich die Ubersetzung von Babijjar

kurz nach dessen Erst-

publikation verstehen; zur katastrophalen Reaktion von Raddatz nach der Lesung Evtusenkos in Tübingen im Januar 1963 nimmt er jedoch keine Stellung. 41 Sowohl die politische wie die kulturelle Situation Frankreichs - die A t m o sphäre, in der Celan lebte - gestaltete sich dagegen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ganz anders. Ahnlich wie ansatzweise auch in England und vor allem in den U S A , begann man schon in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre weitgehend unabhängig von der aktuellen politischen Diskussion um die Machtverteilung in Europa mit einer Aufarbeitung dessen, was das vorrevolutionäre und frühsowjetische Rußland an literarischen Werken von bleibendem Wert hinterlassen hatte. Dabei hatte die Präsenz des wichtigsten Teils der russischen Emigration, die in mehreren Schüben nach Paris gekommen war, nachdrücklichen Einfluß auf die meisten publikatorischen Aktivitäten, selbst wenn sich diese in französischer Sprache vollzogen. Hier hatten die Weltkriege weit weniger einschneidend gewirkt 42 und eine Kommunikation von französischer und russischer Intelligenzija Zumindestens partiell noch ermöglicht. 43 So blieb die literarische Diskussion in Frankreich - bedingt auch durch das weitgehende 40

Vgl. die Ausgabe: Phönix. Junge Lyrik aus dem anderen Rußland. Herausgegeben und übertragen von Elimar Schubbe. München 1964 (Verz. Nr. 362). Auch die russische Vorlage dieser bedeutenden Anthologie ist in Celans Bibliothek nachweisbar (Feniks - Zumal moskovskoj molodezi); sie erschien in der Zeitschrift Grani 5 (1962), vgl. Verz. Nr. 378. 41 Vgl. dazu Kap. III, 8. 42 Ganz anders stellt sich die Situation in Deutschland dar, wo die bedeutende russische Kolonie in Berlin, die bis 1933 noch bis zu 200 Verlage unterhalten konnte, durch das Dritte Reich und die Folgen des Weltkriegs zerstört wurde. Obwohl ein Teil der gerade in den Kriegsjahren Emigrierten zunächst in Westdeutschland Fuß zu fassen versuchte und z.T. hier auch rege Aktivitäten entwickelte (s. der heute noch bestehende Posev-Verlag in Frankfurt), zogen gerade die führenden Gestalten wenige Jahre später in die USA. Die neben Berlin auch in Frankfurt und München, später auch in Köln bestehenden Zentren der russischen Emigration konnten nie die Bedeutung der Pariser Gruppe erreichen und blieben im Bewußtsein der deutschen Öffentlichkeit zumindest bis beispielsweise zum offenen Engagement Bolls für Solzenicyn und andere Dissidenten (Sinjavskij) in den sechziger und siebziger Jahren eher im Hintergrund. Vgl. dazu Karl Schlögel (Hrsg.): Der große Exodus. Die russische Emigration und ihre Zentren 1917-1941. München 1994. 43

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Vgl. bspw. die integrative Funktion der gebürtigen Russin Elsa Triolet, die, selbst Autorin, sich vor allem als Übersetzerin und Herausgeberin um die Vermittlung und Verbreitung russischer Literatur in Frankreich bemühte. Sie nutzte dabei vor allem ihre persönlichen Kontakte zu Vertretern der russischen (Majakovskij, Brik) und französischen Avantgarde (sie war die Frau Louis Aragons). Vgl. Kap. III, 3.

Überleben der sie tragenden Generation - offen für eine Verbindung und erneute Vermittlung der einstigen Avantgarde in Europa. Der historische Bruch, der die literarischen Entwicklungen Deutschlands auf Jahre hinaus bestimmte und die Entwicklung von Kontinuität im ästhetischen Bereich unmöglich machte, erfuhr im intellektuellen Leben Frankreichs gerade durch das persönliche Engagement einzelner ihrer Repräsentanten eine Modifikation, die schon bald ein aktives Interesse für die literarischen (und politischen) Ideen Rußlands aufkommen ließ. Paris, das in ganz anderer Weise seit jeher Zufluchtsort für die verschiedensten Individuen und Gruppen gewesen ist, bot von vornherein ein multikulturelles Klima, das für Celan eine gewisse Vetrautheit besitzen mußte. Spätestens ab Ende der fünfziger Jahre hatte er Zugang zu Kreisen der russischen Emigration. Diese bestimmte in ganz wesentlichem Maße seine Kenntnisnahme und die Vermittlung russischer Literatur an Celan. Er besuchte ausgiebig russische Antiquariate (s.entsprechende Buchslabels), die häufig in Privatwohnungen untergebracht waren und gleichzeitig als Treffpunkte dienten. Er verfolgte Zumindestens zwischen i960 und 1961/62 regelmäßig die laufenden Publikationen der Pariser russischen Presse (Russkaja mysl') und besuchte vielleicht auch die eine oder andere der häufigen literarischen Veranstaltungen (Lesungen und Gedenkabende, auf die u.a. Zeitungsauschnitte verweisen). Und nicht zuletzt gehörten zu seinem Bekannten- und Freundeskreis wohl zahlreiche Autoren, sowie führende Kritiker und Slavisten, deren Rolle als Vermittler nicht zu unterschätzen, wenngleich heute kaum mehr zu rekonstruieren ist. Neben den zweifelsohne bestehenden Unterschieden im literarischen Standpunkt einte alle diese Personen eine wesentliche Erfahrung: Die Erfahrung des Exils, die nicht nur die verlorene russische Heimat zum inneren Bezugspunkt machte, sondern die vielfach erst zur eigentlichen Bestimmung der eigenen Existenz wurde. Celans zunehmende Bewußtheit eines Lebens im Exil scheint auch ganz wesentlich unter dem Eindruck dieser Situation zu stehen; Celan, der seine östliche Heimat verloren hatte, hätte im Prinzip >Exil< zumindest im Raum seiner Muttersprache suchen können. Doch der erste Versuch, in einem deutschsprachigen Land zu leben, der Aufenthalt in Wien 1948/49, wurde nach kaum einem Jahr ebenso wieder abgebrochen wie Celan auch alle weiteren Versuche, für einen längeren Zeitraum nach Deutschland zu kommen, trotz seiner anhaltenden Bemühungen darum (zuletzt geplant für 1970) scheitern ließ. Ferne und Fremde war nur von Frankreich aus spürbar, ein Leben in einem deutschsprachigen Land hätte die unbestreitbare Tatsache des Exils für Celan nur verwischt, eine Tatsache, deren Bewußtheit wesentlich zu jener Identitätsfindung gehören mußte, um die er (nach Lyon) zwischen 1949 und 1958 so sehr ringen mußte.

75

3· Ereignis, Bewegung, Unterwegssein. Vom Raum Rußland zum Raum des Gedichts O diese wandernde leere gastliche Mitte'

In dieser Sprache habe ich, in jenen Jahren und in den Jahren nachher, Gedichte zu schreiben versucht: um zu sprechen, um mich zu orientieren, um zu erkunden, wo ich mich befand und wohin es mit mir wollte, um mir Wirklichkeit zu entwerfen. Es war, Sie sehen es, Ereignis, Bewegung, Unterwegssein, es war der Versuch, Richtung zu gewinnen. 2

Celan formuliert zu Anfang des Jahres 1958 erstmals Grundkategorien seines Gedichts, wie sie in den folgenden Jahren intentional vertieft, wie sie in den Gedichten von Sprachgitter und Die Niemandsrose manifest und wie sie in seiner eigentlichen Poetik, der Büchner-Preis-Rede aufs deutlichste exemplifiziert werden. Nach den bisherigen Erkenntnissen sind diese Worte gesagt zu Beginn jener Auseinandersetzung mit Russischem, wie sie sich zwischen 1958 und i960 intensiv vollzieht. Sie erweist sich an die so beschriebene Bewegung des Gedichts gebunden und ist Teil jener globalen Orientierung und Ausrichtung, die von der Suche nach dem Ort der eigenen Herkunft bis zum Versuch einer Heimkehr reicht und - im Meridian - als unerreichbar, als Utopie erkannt wird. Die drei in der Bremer Rede genannten Bedingungen »Ereignis«, »Bewegung«, »Unterwegssein« finden sich auf eindringliche Weise verwirklicht in den Gedichten der Niemandsrose gerade im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit Russischem: »Ereignis« als einmalige Gegenwart, aktualisierte Sprache und Konstituierung des »Gesprächs«; »Bewegung« als Durchmessen und Durchschreiten des Raums, als Transgression des Ich zu einem angesprochenen Du, und »Unterwegssein« nicht nur als Lebensweg und Weg des Gedichts, sondern als unendlich perpetuierte existentielle Befindlichkeit. Daß diese Begriffe zum einen an Rezeption im Sinne einer Aufnahme und Aneignung bestimmter vorgängiger Gedanken und Bilder gebunden sind, zum anderen sich aber direkt dem Vorgang von Rezeption als »Ereignis«, »Bewegung« und »Unterwegssein« und deren Reflexion verdanken, soll im folgenden gezeigt werden.

1 2

76

1,

2I



III, 186.

a) Russisches im Bereich der

Niemandsrose

Die im Zentrum russischer Lektüren entstandenen Gedichte der Niemandsrose sind in ganz besonderer Weise in den Kontext dieser Beschäftigung gestellt. Zahlreiche explizite Anspielungen verweisen auf Russisches, der Band selbst ist Mandel'stam gewidmet. Diese Relation hat in der Forschung wegen der Exzeptionalität von Celans Begegnung mit Mandel'stam starkes Interesse gefunden und ist dementsprechend umfangreich untersucht worden. Dabei lag der Schwerpunkt der Analysen bei den Texten, die die Begegnung mit Mandel'stam gestalten (Nachmittag mit Zirkus und Zitadelle·, Es ist alles anders) oder die sich namentlich auf Russisches beziehen (In eins; Und mit dem Buch aus Tarussa). In nicht unbeträchtlichem Umfang sind auch bereits in Gedichten Celans intertextuelle Bezugnahmen auf die Dichtung und Poetik Mandel'stams untersucht worden, hier im wesentlichen in Konzentration auf die Motivkomplexe von Stein, Stern, Auge, Mund oder Atem bzw. auf die poetologischen Konstanten wie Gespräch und Gegenüber, Bewegung und Berührung.3 Im Hinblick auf die Geschlossenheit und zyklische Komposition des Gedichtbands Die Niemandsrose, anhand dessen der Großteil der Untersuchungen vorgenommen worden ist, sind bisher jedoch nicht die Wechselbeziehungen von Gesamtkomposition und Einzelbezug, sowie - ausgehend von spezifischen Aspekten des Frühwerks - die Thematisierung von Russisch-Ostlichem als Versuch einer Heimkehr und damit der neben der Konzentration auf Mandel'stam erfolgende generelle Rekurs auf Russisches in den Blick gekommen. Hier sind es neben intertextuell markierten Bezugnahmen bestimmte Formen einer Thematisierung von Russischem. Sie müssen zum einen als komplementäres Gegenstück der dominanten, auf Jüdisches konzentrierten, Grundthematik des Zyklus erkannt werden; andererseits sucht Celan von hier aus schließlich einen alternativen Entwurf des Gedichts, eine immanente Poetik zu entwickeln, die sich als das Ergebnis dieses umfangreichen Rezeptionsprozesses verstehen läßt. Im folgenden soll nun genauer dem Verhältnis vom Impuls russischer Lektüren und einzelnen Gedichttexten aus dem Zyklus Die Niemandsrose nachgegangen werden. Dabei soll versucht werden, gerade die Verknüpfung von Themen und poetologischen Reflexionen, wie sie die Gedichte gestalten, von ihrem russischen Hintergrund aus zu beleuchten und zugleich als in den in erster Linie relevanten Themenkontext von Jüdischem integriert zu erweisen. Denn unbestreitbar ist die Tatsache, daß die Entstehung der Gedichte der Niemandsrose eine ganze Reihe wichtiger »Daten« in der Entwicklung Celans begleitet, die sich generell auf Jüdisches bezogen zeigen. Der Holocaust, Fragen jüdischen Glaubens wie jüdischer Mystik sowie eine davon geprägte Sprachproblematik

3

Vgl. dazu den Forschungsüberblick in Kap. III, 5. 77

stehen im Zentrum; sie erhalten eine tragische Aktualisierung durch die um i960 akute Plagiatsaffäre und ihre antisemitische Komponente. All dies wird von Celan zu einem komplizierten Bezugssystem komponiert, das von beständiger Wiederaufnahme, Variation und Neuverknüpfung geprägt ist (dementsprechend hoch ist der Verweisungsgrad der Texte untereinander).4 Das Russische erhält in diesem Zusammenhang den Rang eines >VorzeichensApokalypse< bewahrheitet, sie wird gestaltet als organischer Rückzug der Elemente: N e vidno solnca; vsja stichija Scebecet, dvizetsja, zivet; Skvoz' seti - sumerki gustye N e vidno solnca i zemlja plyvet.' 4

Die Sonne - unsichtbar. Die Elemente, alle: lebendig, vogelstimmig, unterwegs. Das Netz, die Dämmrung: dicht. Und nichts erglimmt. Die Sonne - unsichtbar. Die Erde schwimmt. 1 '

Und schließlich wird aus der Perspektive des durch antike Tradition vermittelten Schattenreichs die Sonne in den dichterischen Auftrag mithineingenommen: Nevzracnoe suchoe ozerel'e Iz mertvych pcel, med predvrativsich ν solnce.

das Halsband, unscheinbar, aus toten Bienen sie woben Honig, woben ihn zu Sonne.' 7

Die von Celan übersetzten Gedichte Mandel'stams geben nur einen Teil der zahlreichen Bezüge und durchaus unterschiedlichen Aspekte dieses Motivs wieder; sie verweisen aber deutlich auf seine Kenntnis dieser Zusammenhänge. Denn allein die zitierten Passagen lassen im Gedicht Celans einen Bezug erkennen, der sich nicht nur als Mandel'stam-Referenz erweist, sondern der das darin enthaltene Gebot mitzureflektieren weiß. Der Versbruch hell standen ihr Seele und Seele entgegen,

pointiert das Entgegenstehen gegen die schwarz zu denkende Sonne und formuliert zugleich bereits poetische Grundpositionen Celans zwischen Begegnung und Gegenwort. Auf »die Sonnen-, die Herzbahnen, das/ sausend-

" S S I , 63. ,2

V,95. SS I, 70; vgl. auch V, 101. SS I, 72. '> V, 103. 16 SS I, 84. 17 V, 1 1 7 . 13

81

schöne Umsonst«18 kommt Celan später noch einmal zurück; der gebieterische Anspruch, mit dem sich hier »Seele und Seele« -später heißt es »Herz und Herz« 19 - beide gemeinsam der Sonne - und damit auch der durch sie repräsentierten schwarzen Apokalipsis - entgegenstellen, spricht für jene unglaubliche Hoffnung, die im Erwachen, in der Erweckung durch die Begegnung mit Mandel'stam Celan in diesem Augenblick artikulieren konnte. Die in der letzten Strophe des Gedichts dominierenden Begriffe des Gewölks auf der einen Seite (Bild für den Untergang des jüdischen Volkes), der zugleich damit spürbare »Atem« und die vorerst fast noch Ahnung verbleibende Erscheinung von »Name« und »Gestalt« auf der anderen Seite, deuten die in den folgenden Gedichten nun zentrale Thematik einer Begegnung mit Mandel'stam als Hoffnung auf eine dichterische Antwort auf jüdisches Schicksal bereits an. Daß Celan hier die offensichtliche Bezugnahme noch verdeckt hält, spricht für das kompositorische Kalkül, das in der Lektüre und Interpretation des Gesamtzyklus nicht unterschätzt werden darf. Es verweist auf die von Anfang an grundlegende Bindung der Auseinandersetzung mit Mandel'stam an die brisanten Fragen jüdischen Hintergrunds, vor dem sich die Begegnung vollzog und die hier zum bestimmenden Element wurde. Des weiteren ist aber auch zu beobachten, daß je mehr in den Gedichten der Niemandsrose der Bezug auf Nelly Sachs zurückgenommen wird, sich die Ansprachen Mandel'stams desto deutlicher konturieren. Ihren Höhepunkt erreicht diese Konfrontation von Nelly Sachs und Osip Mandel'stam in der Mitte des zweiten Zyklus: Hier folgt auf das Gedicht »Es ist nicht mehr! diese/.. Schwere. Es ist/eine andre«20 der erschreckende Text Radix, Matrix,21 der sich als Ineinanderführung von beiden Positionen lesen läßt; das nächste Gedicht dann eröffnet mit Schwarzerde22 die Reihe der expliziten Bezüge auf Mandel'stam. Andererseits, und in Verbindung mit der generellen Strategie von Enthüllen und Verbergen in den Gedichten der Niemandsrose läßt sich gerade hier die Tendenz Celans beobachten, daß, je expliziter die Anspielung auf Name und Gestalt erfolgt, desto stärker die intertextuellen Markierungen zurückgenommen werden. Terras und Weimar wiesen als erste darauf hin, daß Die Niemandsrose in jedem ihrer Zyklen je ein auf Mandel'stam bezogenes Gedicht enthalte, das auf jeweils einen anderen Aspekt rekurriere und damit ein »magisches Sprachgitter« aus seinem Namen bilde:23 Die Gauner- und Ganovenweise bilde ebenso wie Mandorla ein Wortspiel mit der Semantik des Namens Mandel'stam, 18 19 20

21 22 23

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1, 274. 1,269. 1 , 238.

1,239. I, 241. Victor Terras, Karl S. Weimar: Mandelstamm and Celan: Affinities and Echoes. G e r mano-Slavica ι (1974), Η·4, S. 17·

Nachmittag mit Zirkus und Zitadelle und Es ist alles anders gestalten dann die Begegnung mit dem Dichter selbst. Versucht man jedoch über Mandel'stam hinaus Bezüge auf Russisches zu erkennen, so gibt wiederum die zyklische Anordnung um die Mittelachse 24 Hinweise auf zentrale Texte. Im zweiten Zyklus ist auch das bereits erwähnte Gedicht Schwarzerde auf Mandel'stam (bzw. eines seiner zentralen Bilder für die poetische Sprache) bezogen; im dritten Zyklus findet sich gerade die Epiphanie Mandel'stams an diesem Wendepunkt und im vierten Zyklus ist es das Aufeinandertreffen von Huhediblu und Hüttenfenster, das den Einschnitt markiert. 25 Der Gegensatz von französischem Schlußvers des ersten und östlicher Bezogenheit des folgenden Gedichts darf hier interpretatorisch nicht unterschätzt werden. Schließlich sind es die Langgedichte dieses Zyklus überhaupt, die fast alle direkte oder verhüllte Hinweise auf Russisches enthalten. Doch diese mehrfach von der Forschung notierten Beobachtungen ergeben noch kein schlüssiges Bild über den Zusammenhang der sich hier manifestierenden Auseinandersetzung. Ganz offensichtlich sind es weniger die intertextuellen Bezugnahmen, die sich auf vereinzelte Anspielungen beschränken, als ein großräumiger ideeller Zusammenhalt, der in der Niemandsrose zu einer Gesamtaussage komponiert wird und der sich über bestimmte Themen-, Motiv-und Bildkomplexe zu erkennen gibt. Die zyklische Komposition als den Einzeltext determinierende und zugleich transzendierende Kategorie des Poetischen ist bei Celan jedoch erst ansatzweise erfaßt worden. Celan hat im Rückblick Die Niemandsrose als »Intermezzo« bezeichnet 26 und wohl in Ansätzen versucht, Distanz zu diesem Zyklus zu gewinnen. Es scheint die doch auffällige Eindeutigkeit ihres thematischen Bezugs zu sein, die dem auf prinzipielle Offenheit bedachten Autor schließlich bedenklich erschien. In der Büchner-Preis-Rede geht es Celan leitmotivisch um die Suche nach »dem Ort«; es ist der Ort, den das Gedicht aufsucht und der es zugleich auch selbst ist. Die Gedichte der Niemandsrose gestalten gerade da, wo sie auf Russisches bezogen sind, sehr eindrucksvoll diesen Gestus einer Doppelung von Suche und Existenzform. Nicht zufällig sind - mit zwei Ausnahmen 2 7 - alle rus24

Hier ist schon im elementaren formalen Bereich die Realisierung der poetologischen Forderung, das Gedicht sei »Mitte«, erkennbar. 2' Hüttenfenster ist eines der wenigen Beispiele, wo das Gedicht ganz bewußt entgegen der chronologischen Ordnung piaziert wurde; es ist als letztes Gedicht aus diesem Zyklus erst 1963 entstanden. 26 Diese Bemerkung überliefert A. Kelletat: Hermeneutica zu Celan, anläßlich seines >PsalmsKinderkosmos< des Kleinen Prinzen her verstanden werden;39 viel näher liegt m.E. auch hier eine Anspielung auf Chlebnikov, sc. auf dessen wohl berühmtestes zaum'-Gedicht »Bobeobi pelis' gubi« (Bobeobi sangen die Lippen).40 Der Nonsens-Akt einer solchen Lesart würde in dem anschließenden Fahnengruß eben dieses russisch ausgesprochene »Baobab« als das genannte Grußwort und damit als einen Akt der erlösenden Umkehr der Verhältnisse 37

Lönker: Celans Poetik der Übersetzung, S. 2 1 7 . Vgl. dessen Poem »Der Kranich«, das bewußt mit der Homonymie von Kran und Kranich im russischen »grus« spielt. V. Chlebnikov: Werke. Herausgegeben von P. Urban. Hamburg 1972, S. 244-248. Vgl. dazu auch Kap. III, 6. 39 So P.H. Neumann: Zur Lyrik Paul Celans, S. 33. 4° Chlebnikov: Werke, S. 57. 38

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und »Befestigung des Herzens« (wiederum im Sinne des Absurden der Büchner-Preis-Rede) zu verstehen geben. Hier wird eminent sichtbar, daß die Begegnung mit Mandel'stam wie mit Russischem überhaupt für Celan von ästhetischer und existentieller Bedeutung gewesen ist, und daß diese kaum als deutlich voneinander getrennte Bereiche betrachtet werden können. Russisches erscheint in der Niemandsrose als nur gering regional und kulturell (wohl aber als historisch) differenzierter Gegenstandsbereich. Es ist das Wort an sich, es erscheint im Namen (Kyrillisches; Ossip; Mandelstamm), aber nicht in seiner spezifischen Ausprägung. Es ist der Name eines Gegenpols, Teil einer Konstellation, derer Celan bedurfte, um den eigenen Ort innerhalb einer zunehmend ausgeweiteten Raumvorstellung zu bestimmen. Es dient - gerade im Hinblick auf die Konstanten des Frühwerks der Explikation von Celans Persönlichkeit und nicht der Antizipation eines außer ihm Situierten. Dies wird deutlich vor allem auch im Rahmen der zweiten inszenierten Begegnung mit Mandel'stam in Es ist alles anders. Unüberhörbar ist hier die Anspielung auf den gedichtkonstituierenden Aspekt von Alterität, wie ihn die Büchner-Preis-Rede zwei Jahre zuvor formuliert hat. Die Begegnung mit Mandel'stam dient, das unterstreicht aufs deutlichste gerade dieses Gedicht, nicht der Erkenntnis und Aufnahme des Anderen: Sie vollzieht eine immanente ästhetische Erfahrung, eine Selbstobjektivierung durch Vermittlung des Anderen, wie sie die Büchner-Preis-Rede beschrieben hat: der Name Ossip kommt auf dich zu, du erzählst ihm, was er schon weiß, er nimmt es, er nimmt es dir ab, mit Händen, du löst ihm den A r m von der Schulter, den rechten, den linken, du heftest die deinen an ihre Stelle, mit Händen, mit Fingern, mit Linien, - was abriß, wächst wieder zusammen da hast du sie, da nimm sie dir, da hast du alle beide, den Namen, den Namen, die Hand, die Hand, da nimm sie dir zum Unterpfand, er nimmt auch das, und du hast wieder, was dein ist, was sein war, 41

Lehmann hat bereits darauf hingewiesen, daß das Gedicht Es ist alles anders hier mehrfach Alterität thematisiert: das Andere als das Andere des Ich, als Dialogpartner im Sinne des Mandel'stamschen >Gegenüber', sowie als das Andere einer fremden Kultur. Spezifisch an diesem Bild sei, so Lehmann, »daß hier zwei auf Anderes bezogene Schreibweisen (>Namenreale< Begegnung Celans mit dem Gedicht Mandel'stams (und dessen Bedeutung für ihn) erinnernd rekurriert; gleichzeitig reflektiert es das daraus gewonnene und in den beiden poetologischen Zeugnissen von Rundfunksendung und Preisrede manifestierte poetologische Modell. Andererseits jedoch - und auch das scheint bedeutsam - wird das Gedicht Mandel'stams selbst hier in keiner Weise aufgerufen, im Gegenteil: Der gesamte geschilderte Vorgang bleibt auf die immanente Erfahrung Celans beschränkt. Der Mangel an intertextueller Bezogenheit ist hier kein Manko des Celanschen Gedichts, er unterstreicht vielmehr die Authentizität seines Entwurfs im Sinne der Büchner-Preis-Rede und verdeutlicht einmal mehr die echte Qualität seiner Begegnung mit Man-

43 44

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Vgl. das Gedicht Der Jäger (FW 139). Vgl. auch oben Kap. II, 1. Von Celan häufig synonym oder in großer Nähe zum Gedicht gebraucht, vgl. den Brief an Hans Bender, III, 177.

del'stam: Selbstbegegnung und Freisetzung, Emanzipation, nicht Antizipation. U n d in noch einem dritten Gedicht scheint Celan die Begegnung mit Mandel'stam zu gestalten, hier jedoch in deutlichem Gegensatz zu den eben besprochenen Beispielen. Entgegen Böschensteins Identifikation: »Die Bruderhand ist die Hand Mandelstamms«, 45 ist an dieser Stelle von eminenter Bedeutung, daß eben nicht »der Name Ossip« oder »Mandelstamm« den Bezug klarstellt - und gerade dieser Text spart ja nicht mit Namen und Identifikationen - , sondern daß es um eine auf eine bestimmte Qualität reduzierte Gestalt geht, die sich der Auseinandersetzung mit Mandel'stam zwar verdankt, aber eben nicht mit diesem identisch ist. Ein zweiter Gegensatz ergibt sich daraus, daß das Gedicht thematisch einem fest umrissenen Kontext gewidmet ist, zu dem es Stellung nimmt, indem es eine bestimmte Haltung - eine Geste! - einnimmt. Dieser Kontext ist ein für Celan nicht nur vom Russsichen her bedeutender, er prägte aber ganz wesentlich Auswahl und Intention seiner Auseinandersetzung mit den Werken russischer Provenienz. Damit geht dieses Gedicht jedoch weit über die Evokation Mandel'stams hinaus. I N EINS Dreizehnter Feber. Im Herzmund erwachtes Schibboleth. Mit dir, Peuple de Paris. No pasarán. Schäfchen zur Linken: er, Abadías, der Greis aus Huesca, kam mit den Hunden über das Feld, im Exil stand weiß eine Wolke menschlichen Adels, er sprach uns das Wort in die Hand, das wir brauchten, es war Hirten-Spanisch, darin, im Eislicht des Kreuzers »Aurora«: die Bruderhand, winkend mit der von den wortgroßen Augen genommenen Binde - Petropolis, der Unvergessenen Wanderstadt lag auch dir toskanisch zu Herzen. Friede den HüttenΛ6 Chalfen hat in seiner biographischen Darstellung ebenso wie verschiedene Interpreten in detaillierten Untersuchungen zum Frühwerk ein grundsätzliches Interesse Celans für sozial-revolutionäre Ideen registriert. Auf einschlä45 4i

B. Böschenstein: Celan und Mandelstamm, S. 164. I , 270. 91

gige Schriften bezieht er selbst sich in der Büchner-Preis-Rede (im Zusammenhang seiner »geistigen Herkunft«), 47 wie er sie sachlich artikuliert in der Konzeption von der »Majestät des Absurden«. Allein schon diese Formulierung verweist darauf, daß es Celan weder in seinen Texten noch in der Praxis um revolutionäre Tätigkeit zu tun war (es ging ihm vielmehr um den Gestus, um eine geistige Haltung), wie er gleichfalls, um eine Formulierung von Rais aufzugreifen, aus eigener leidvoller Erfahrung für die kommunistische Ideologie »immun« war.48 So läßt sich ein entsprechendes Interesse auch nicht durch das Vorhandensein einschlägiger Schriften in seiner Bibliothek belegen. Celans dennoch zweifellos vorhandene Sympathien für sozial-revolutionäre Ideen müssen erst noch im Detail untersucht und in ihrer Wertigkeit differenziert werden, wobei wiederum die anhand der Gesamtbibliothek zu erarbeitenden Lektürespuren aufschlußreich sein dürften. Seine bisher bekannten diesbezüglichen Äußerungen zeigen sich in eigentümlicher Weise um einen undogmatischen Begriff von »Kreatürlichkeit« versammelt, der einerseits die unbedingte Achtung und Unverletzlichkeit des Menschlichen bedeutete, zum anderen aber - begründet durch die Erfahrung des Holocaust - eine sprachlich-poetologische Forderung enthielt, die wesentlich in der Konzeption vom >Gegen-WortEntgegenLösung< für die geheimnisvollen Wendungen der zweiten Strophe preis; Abadías war ein ehemaliger spanischer Revolutionär, der als Schafhirt in der Bretagne lebte und jahrelang mit der Familie Celan bekannt war. 93

»Aurora«55 und »Petropolis«56 genügen, um die historische Tragik des Geschehens zu beschwören. Kein Wort, keine Losung ist von hier aus mehr aussprechbar; eine Geste des Schweigens, die Versehrtheit, Schmerz, Verlust-und Exilerfahrung (»der Unvergessenen Wanderstadt«) zusammenfaßt und darin zugleich die Verbrüderung, die an kein Dogma gebundene Solidarisierung erkennt. Die unglaubliche Reduktion, die der Text Celans vollzieht von der gesichtslosen Masse des »peuple de Paris« über den hochindividualisierten Repräsentanten des Spanischen Bürgerkriegs Abadías bis zur allein noch durch Blick und Gestus erkennbaren russischen Brudergestalt sucht ihresgleichen. Sie bezeugt nicht nur Celans Betroffenheit und geistige Nähe zu diesem, sie zeigt, daß das programmatisch In eins Gesetzte nicht in eins setzbar ist. Sie demonstriert aber auch einmal mehr die äußerste Konzentration seines Gedichts auf das, was die Büchner-Preis-Rede mit dem emphatischen Ausruf »Aber das Gedicht spricht ja!« zum Ausdruck brachte: Das Sprechen des Gedichts ist ein individuelles, ein kreatürliches und eben ein anderes als ein Sprechen in Losungen. Das im Nachsatz des Gedichts In eins zitierte historische Wort »Frieden den Hütten!« ist dabei - ähnlich wie der Fahnengruß in Nachmittag mit Zirkus und Zitadelle - von der Qualität des absurden Ausspruchs Luciles. Lehmann hat für die letzte Strophe eindringlich die intertextuellen Bezüge auf Mandel'stam als mehrfache Grenzüberschreitung herausgearbeitet.57 Danach vollzieht das Gedicht nicht nur im Bereich seines Themas eine mehrfache historische und räumliche Grenzüberschreitung, es macht zugleich »Trennung und Schwelle als historische und sprachliche Phänomene« kenntlich.5® Celan evoziert in seinem Gedicht dabei mehrere vorgängige Gedichttexte, er erinnert zugleich auch an biographische (Petersburger Herkunft, Leid und Verbannung) wie poetologische Konstanten (toskanisch) Mandel'stams. Die hier vollzogenene Evokation des Dichters Mandel'stam, wie sie nun von seiner Dichtung her erfolgt, verzichtet jetzt im Gegensatz zu den oben besprochenen Beispielen auf die Nennung des Namens: Hier wird ein Dichten erkannt, zu dessen Leiderfahrung und Sehnsucht sich das - unausgesprochene - Ich des Gedichts bekennt (»lag auch dir toskanisch zu Herzen«), dem es sich zuspricht, in dem es aber, anders als in Nachmittag mit Zirkus und Zitadelle und Es ist alles anders, nicht sich selbst erkennt. Es bleibt fremd, es gerinnt nicht zur Freisetzung jenes Anderen, von dem die Büchner-Preis-Rede spricht. 55

Der Panzerkreuzer, dessen Schüsse auf das Winterpalais des Zaren die russische Revolution einleiteten. 56 Wörtl. »Petropol'« war der von den Akmeisten gebrauchte gräzisierende Name für die damals offiziell »Petrograd« genannte Stadt; er beschwor mit apokalyptischem Gestus die Höhe griechischer Kultur. 57 J. Lehmann: Karnevaleske Dialogisierung, S. 552-555. 58 Ebd., S.553.

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Die russische Erfahrung erscheint in diesem Gedicht als Extrempunkt. Seine >Vorgeschichte< enthüllt sich noch einmal über das hinausgerufene »Schibboleth«, das einen vielbeachteten autoreflexiven Bezug auf das schon Jahre zuvor entstandene gleichnamige Gedicht Celans enthält." Wie in jenem so ist auch im Gedicht In eins der Bezug auf den Jugendfreund Erich Einhorn präsent, wenn auch verdeckt. Denn dieses Gedicht entstand in eben jenen Tagen, als Celan nach zwanzig Jahren wieder brieflichen Kontakt zu Einhorn gefunden hatte, der 1941 mit den aus Czernowitz abrückenden Truppen der Roten Armee nach Moskau emigriert war. Die Eingangsverse Dreizehnter Feber. 60 Im Herzmund erwachtes Schibboleth. Mit dir,

erhalten von hier aus ein anderes Gewicht, die Korrespondenz von »Peuple de Paris« und »Petropolis« wird deutlicher. Eine weiterer Rekurs auf Russisches, der nun nicht mehr in evokativem Bezug zu Gestalt oder Gedicht Mandel'stams (und der damit auch nicht unter dem Vorzeichen dieser Begegnung) steht, betrifft die zentrale Thematik der Niemandsrose, sc. die Suche nach den Möglichkeiten dichterischen Sprechens als Suche nach den Möglichkeiten menschlicher Existenz. Sie wird in fast jedem der Gedichte reflektiert und erhält gerade im Bereich intertextueller Bezugnahmen große Bedeutung in diesem Zyklus, wie aber auch in der korrespondierenden Büchner-Preis-Rede. Die Integration fremder Namen und - im Zitat - Stimmen ins Gedicht ist ein durchgehendes Verfahren, das in zahlreichen Gedichten zu beobachten ist und auch verschiedene russische Stimmen betrifft. Daneben aber vollzieht sich eine immanente Sprachreflexion, die die Möglichkeiten des »Sprechens« gegenüber »Sprache«, »todbringender Rede« und dem dagegen stehenden »Schweigen« abwägt. Die historische Determinierung dieser Überlegungen liegt auf der Hand. Sie gewinnen aber neben den an die komplizierten Zusammenhänge jüdischen Sprachverständnisses und jüdischer Sprachmystik gebundenen Erwägungen " I , 131 Feber ist die in Österreich und damit auch in den Kronländern gebräuchliche ältere Form von »Februar«. Seine Vorliebe für diese Sprachform, zugleich aber auch deren spezifischer Verweisungscharakter bezeugt Celans bewußter Gebrauch der analogen Form »Jänner«. Der erste Brief, mit dem Celan den Kontakt mit Einhorn wieder aufnahm, nennt zwar nicht den Februar, er fällt aber mit dem Datum 24.4.62 dennoch unmittelbar in den Entstehungszeitraum des Gedichts (Auszüge aus den Briefen sowie einzelne Datierungen teilte erst kürzlich die Tochter E. Einhorns mit. Vgl. Marina Dmitrieva-Einhorn: Wo ich mit meinen Gedanken bin. In: Die Zeit Nr. 44, 2 7 . 1 0 . 1 9 9 5 , S. 63). Das »erwachte Schibboleth« scheint daher in bewußtem Bezug auf die Einhorn-Reminiszenz im früheren Gedicht gebraucht und zugleich auch auf die Wiederaufnahme ihrer Beziehung anzuspielen.

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eine eigene Dimension auch im Bezug auf einen bestimmten Begriff Rußlands, der hier in besonderer Weise nicht textuell vermittelt erscheint, sondern wie sonst kaum in Texten Celans an ein kulturelles Stereotyp anknüpft, das gleichwohl durch die Integration authentischer Erfahrung seine eigene Wertigkeit erhält. SIBIRISCH Bogengebete - du sprachst sie nicht mit, es waren, du denkst es, die deinen. D e r Rabenschwan hing v o r m f r ü h e n Gestirn: mit zerfressenem Lidspalt stand ein Gesicht - auch unter diesem Schatten. Kleine, im Eiswind liegengebliebene Schelle mit deinem weißen Kiesel im M u n d : A u c h mir steht der tausendjahrfarbene Stein in der Kehle, der Herzstein, auch ich setze G r ü n s p a n an an der Lippe. U b e r die Schuttflur hier, durch das Seggenmeer heute f ü h r t sie, unsre Bronze-Straße. D a lieg ich und rede zu dir mit abgehäutetem Finger. 6 1

Die Form des Titels erlaubt es, dieses Gedicht in Bezug zu zwei weiteren Texten der Niemandsrose zu setzen, die ähnlich wie dieser durch ein substantiviertes Adjektiv benannt wurden: Chymisch und Erratisch. Alle drei Gedichte scheinen um die Möglichkeiten dichterischen Sprechens konzentriert zu sein, wobei das erste vom »Schweigen, wie Gold gekocht, in/ verkohlten/ Händen« 62 spricht, das zweite »Mit der Lippe auf-/ gesammelte Silben« 63 nennt und Sibirisch schließlich konstatiert: »Da lieg ich und rede zu dir/ mit abgehäutetem Finger«. Während das Gedicht Chymisch noch statisch konzentriert bleibt auf 61

1 , 248·

62 1, i 5 1,

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227. 235.

den Versuch einer Feststellung und Bestimmung, die f ü r sich selber steht (»Du, damals« V.18; »Große. Graue. Fährte-/ lose./ König-/ liehe.« V . 3 1 - 3 4 ) , so ist in dem drei Monate später entstandenen Gedicht Erratisch der Beginn einer dynamischen, sammelnden Bewegung deutlich erkennbar, die zwar noch nicht selbst zu einem Sprechakt wird, aber im Bildbereich (sammeln; Stern; Stein) doch schon darauf hinweist (vgl. später Hüttenfenster). Demgegenüber stellt das wiederum nur wenige Monate später geschriebene Gedicht Sibirisch eine deutliche Veränderung dar. Deutlich ist eine Zweiteilung des Gedichts (je 13 Verse) mit einer Trennung in ein früheres Geschehen und das »hier« und »heute« zu erkennen. Es erfolgt auch eine Parallelisierung von du (dort, damals) und ich, die das erinnernde und bewahrende Sprechen erst eigentlich begründet als eine Übernahme und Fortsetzung. Es ist die »Aufnahme des Steins«, von der Mandel'stam in Bezug auf Tjutcev spricht; 64 es ist die Fortführung eines Sprechens, das sich nicht als das Uberliefern einer Tradition begreift, sondern als historisch bedingte Fortsetzung eines Wegs, der Ewigkeitscharakter hat. Gerade dadurch, daß die »BronzeStraße« immer noch über »Schuttflur« und »Seggenmeer«, 6 ' über Verwüstung und Verwesung führt, ist das Sprechen von Bronze und Stein legitimiert. Die Frage der Anteilnahme (V.1-3) als Teilhabe führt zu einer innerlichen Zuordnung, die das mythische Gespräch der Jäger (die über dem Bogen beten) und das Versehrte Sprechen der O p f e r (mit abgehäutetem Finger) einander gegenüberstellen. »Sibirisch« ist demnach weniger als die Bezeichnung eines konkreten Raumes - die geographisch definierte Landschaft Sibirien - zu verstehen; »Sibirisch« ist eine Befindlichkeit, und damit auch das ihr adäquate Sprechen. Unter den wenigen Bänden zur Ethnologie und Folklore Rußlands fallen in Celans Bibliothek drei Titel auf, die dem Gebiet Sibirien gewidmet sind. Ihre Erscheinungsdaten liegen weit vor der Wiederaufnahme der russischen Lektüren Celans; keiner der Bände trägt eine Datierung, die Aufschluß über den Zeitpunkt von Erwerb oder Lektüre geben könnte. 66 Gleichwohl bezeugen sie ein intensives Interesse Celans für diesen Raum, das sich über das Geographische auch auf das Enthnographische erstreckte. Ohne daß einer von ihnen als direkte >Quelle< für das im Gedicht Gesagte anzuführen wäre, so begleiteten die Bände doch einen vermutlich länger andauernden Reflexionsprozeß; in diesem Zusammenhang steht auch der von H . M . Speier in seinem Kommentar zum Gedicht dargestellte Bezug auf das Pariser »Musee Cernuschi«, in welchem 64

65 66

Im Essay »Utro akmeizma« (Der Morgen des Akmeismus; SS II, 364 bzw. Essays I, 19)· Vgl. die Grasmetaphorik im Gedicht Engführung (I, 195-204). Vgl. Kai Donner: La Siberie. La vie en Sibérie. - Les Temps anciens. Traduit du finnois par Léon Froman. Paris 1946; Eveline Lot-Falck: Les Rites de Chasse chez les peuples sibériens. Paris 1953; D. Zélénine: Le Culte des Idoles en Sibèrie. Trad, de G. Wolter. Paris 1952 (Verz. Nr. 520-521; 523). 97

Celan eine Ausstellung steinzeitlicher Exponate besucht und dessen Name er dem Gedicht zunächst als Titel vorangestellt hatte. Schließlich notiert Celan in die Publikation von E. Lot-Falck unter eine Bildtafel mit der Legende »Prière avec l'arc d'un chors«: Bestätigung des vor zwei Stunden geschriebenen Gedichts >BogengebeteLektüreerlebnis< verweist dann offensichtlich die sechste Strophe: Von der Brückenquader, von der er ins Leben hinüberprallte, flügge von Wunden, - vom Pont Mirabeau. Wo die Oka nicht mitfließt. Et quels amours! (Kyrillisches, Freunde, auch das ritt ich über die Seine, ritts übern Rhein.)

Der »Pont Mirabeau« ist zugleich Brücke und Gedicht.75 Die Brücke selbst ist eine Stahlkonstruktion, den Brückenkopf bilden an beiden Uferseiten Steinquader. Hier sind auf einer eingelassenen Bronzeplatte die Verse Apollinaires zu lesen, die im Anschluß von Celan auch an-zitiert werden; auf diese beziehen sich also die Verse 51-54. Und schließlich wird in der darauffolgenden Strophe die Lektüre des Briefes angesprochen, der die Sendung von Erich Einhorn {»Ein-Brief«!) wohl begleitet hatte.76 Im Anschluß daran nimmt dann - »abermals« - das Lesen der Himmelskarte mit seinem Verweis auf das jüdische Pilgerschicksal das zu Anfang gebrauchte Bild noch einmal auf. Die »Himmelskarte, die sich ihm aufschlug« wie ein Buch, führt an dieser Stelle zu einem vorläufigen Abschluß der bisherigen, scheinbar assoziativen Reihung. Denn neben all dem Aufgezählten kommt es nun zu einer wesentlichen Verwandlung: die Lektüre transformiert, materialisiert sich in der Imagination und schlägt um in ein die Bewegung des Ruderns begleitendes (versehrtes) Sprechen: Vom Nebenwort, das ein Ruderknecht nachknirscht, ins Spätsommerohr seiner hellhörigen Dolle: Kolchis.

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annotiert; er enthält zahlreiche Texte Cvetaevas, darunter die Gedichte Derev'ja {Bäume) und Stol (Der Tisch), in welch letzterem Cvetaeva ein Loblied auf ihren Schreibtisch als ihren einzigen echten Freund singt. Auf der Umschlagzeichnung des Almanachs waren die einzelnen Stämme eines Birkenwaldes abgebildet (vgl. Verz. Nr. 344 und Abb. ebd. S. 123). Vgl. G. Apollinaire: Le Pont Mirabeau. [...] Umgekehrt ist das Gedicht Celans zugleich >BrückeEin-BriefOst-Brief< [..] wurde vom Jugendfreund Erich Einhorn aus der Sowjetunion, wo er lebte, geschrieben.« S. 167.

Hier wird - spät - ein Wort gefunden und nachgesprochen, dessen Klang kaum vieldeutiger sein könnte. Auf die kontextuelle Situation bezogen könnte es vielleicht ausgelöst worden sein durch die ebenfalls von Paustovskij stammende Erzählung Kolchis, die wie einige seiner Texte die Unterschrift »Tarusa na Oke. Osen 58« (Tarussa an der Oka. Herbst 58) trägt.77 Ebenfalls ist, nach Auskunft von Böschenstein, ein erneuter Bezug auf den Einhorn-Brief mitzudenken: »Dieser Brief berichtet von seinem Plan, die Ferien in >Kolchis< zu verbringen, am Ufer des Schwarzen Meeres.«78 Hinweise auf diese doch sehr bedeutenden Zusammenhänge finden sich in der Darstellung M. DmitrievaEinhorns allerdings nicht. Und schließlich scheint mir - neben den schon früher von Pereis 7 ' und Lehmann aufgezeigten Parallelen zu Ovid und Apollinaire - noch ein letzter möglicher intertextueller Bezug erwägenswert: Das zentrale Werk Lev Sestovs Auf Hiobs Waage, aus dessen französischer Ausgabe Celan im Meridian Pascal zitiert hat. Dieses Werk war für Celan offenbar von außerordentlicher Bedeutung; er hat es in mehreren Ausgaben besessen. Nicht nur enthält schon der Titel dieses Sestovschen Werkes einen bedeutenden Hinweis für die Deutung des im Gedicht mehrfach gebrauchten Bildes von der Waage, die gerade hier spezifisch an das Problem von jüdischem Exil und Sprachverlust gebunden erscheint: Sprachwaage, Wortwaage, Heimatwaage Exil.

Es findet sich schließlich auch eine Das goldene Vlies überschriebene Passage, die hier vollständig zitiert sei: Das goldene Vlies·. Die Wissenschaft erblickt ihre Aufgabe darin, unsichtbare ideale Zusammenhänge zwischen den Dingen aufzufinden, mit anderen Worten, das zu erklären, was in der Welt geschieht. Und sie ist derart in ihre Aufgabe vertieft, daß sie sich für >Entdeckungen< gar nicht interessiert, ja nicht einmal glaubt, daß es im Leben irgend etwas geben könne, was noch niemand gesehen oder gehört habe. Alexander dem Großen nach Indien zu folgen oder hinter Columbus nach dem Westen zu fahren oder - man muß sich vielleicht entschuldigen, ehe man es sagt - mit den Argonauten nach Colchis zu fahren, um das Goldene Vlies zu holen, mit den Juden ins Land der Verheißung zu ziehen, - von derartigen Aufgaben auch nur im Scherz zu sprechen, erscheint heute einem Gelehrten und um so mehr einem Philosophen ungebührlich. Was kann es für ein Colchis und was kann es für Länder der Verheißung geben! Das alles sind Hoffnungen der antiken Menschen und ungebildeter Leute. Aber nach drei 77

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Diese Erzählung ist dem >utopischen< Aufbruch der Landgewinnung im Sumpfgebiet der historischen Kolchis unter dem Vorzeichen der marxistischen Ideologie gewidmet. B. Böschenstein: Celan und Mandelstam, S. 167. Vgl. Chr.Perels: »Zeitlose« und »Kolchis«: Zur Entwicklung eines Motivkomplexes bei Paul Celan. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift. N. F. 1979, S. 47-74.

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Jahrtausenden werden wir ja unseren Nachkommen nicht weniger antik und nicht weniger ungebildet erscheinen, als uns die Juden und Argonauten. Nach dreißigtausend Jahren aber - falls die Welt dann noch besteht - wird sich vielleicht herausstellen, daß die Hoffnungen und Vorahnungen der Menschen der Antike von größerer Wahrheitsnähe zeugten als unsere gelehrten Verallgemeinerungen.80

Celan nimmt in seinen Gedichten mehrfach auf die Argonauten, ihr sprechendes Schiff »Argo«, 8 ' aber auch auf den Mythos vom Goldenen Vlies Bezug.82 Die einschlägige Parallelisierung der Fahrt der Argonauten nach Kolchis und des jüdischen Aufbruches in das verheißene Land gibt dem zuvor Gesagten nun eine besondere Wendung. Denn die von Lehmann ausführlich dargelegte Thematisierung von Wanderschaft und Sprachbewegung erhält damit nicht nur die negative Komponente von Vertreibung und Versehrung. Kolchis als das Wort und als der Ort, auf den das Gedicht zuhält, begründet auch dessen Teilhabe an der utopischen Hoffnung, die sich zugleich mit der jüdischen Vertreibung verbindet und die ihrerseits in besonderem Maße letzte Möglichkeit und Hoffnung von Celans Dichtung überhaupt gewesen ist. Auffällig an diesem letzten auf Russisches bezogenenen Gedicht Celans in der Niemandsrose scheint mir nicht zuletzt auch eine spürbare Vakanz zu sein. Diese Leerstelle betrifft eben jene zentrale Funktion Mandel'stams, die wesentliche Teile des Zyklus als auf diesen bezogen erwiesen, die das >Gespräch< mit Gestalt und Gedicht Mandel'stams als konstitutiv für die Entstehung zahlreicher Gedichte wie der i960 formulierten poetologischen Texte setzten. Lehmann weist zwar am Ende seiner detaillierten Untersuchung auch für dieses Gedicht auf die prinzipielle Entsprechung der poetischen Verfahren Celans und Mandel'stams hin8' - hier bezogen die Aspekte von Offenheit, Bewegtheit, sowie der im Gedicht Und mit dem Buch aus Tarussa evidenten zeitlichen und gattungsbezogenen wie auch sprachlichen Grenzüberschreitungen. Dennoch scheint mir der Gestus des Sprechens sich an dieser Stelle wesentlich zu unterscheiden nicht nur von der auf Synchronisation und >Glossolalie< abzielenden Sprachbewegung Mandel'stams, sondern auch - und für diesen Zyklus eminent

80

Leo Schestow: Auf Hiobs Waage. Über die Quellen der ewigen Wahrheiten. Autorisierte Übertragung aus dem Russischen von Hans Ruoff und Reinhold von Walter. Berlin 1929, S.320 (Verz. Nr.485). Vgl. auch die vermutlich schon frühere Bezugnahme auf diesen Text in dem ebenfalls mit dem Begriff »Kolchis« spielenden Passus aus dem Gedicht »Die Silbe Schmerz«: »Kolumbus,/ die Zeit-/ lose im Aug, die Mutter·/ Blume,/ mordete Masten und Segel. Alles fuhr aus,// frei,/ entdeckerisch,/ blühte die Windrose ab...«. Vgl. dazu erneut Pereis: »Zeitlose« und »Kolchis«. 81 Chr. Pereis verweist im selben Zusammenhang bereits auf das Gedicht Largo (II, 3 j 6), dessen Titel auch als versteckter Bezug auf » L'Argo« gelesen werden kann. Ebd. 82 Vgl. den schon oben genannten Bezug im unmittelbar voraufgehenden Gedicht Es ist alles anders (I, 284-286). 83 J. Lehmann: »Dichten heißt immer unterwegs sein«, S. 128-130. 104

bedeutsam - vor allem von dem auf Begegnung zielenden Gestus des Celanschen Gedichts selbst. Das Gedicht Und mit dem Buch aus Tarussa ist nicht mehr Zuwendung und Zuspruch, es ist ein Sprechen »von«, ein Sprechen von Objekten. Es ist auch kein episch rundes Erzählen, es ist Zerstreuung und realisiert damit nur zu eindringlich das Schlußthema der Niemandsrose, Wanderschaft und Exil. Es zählt auf, reiht aneinander, zerlegt; es ist gekennzeichnet von fokussierenden Perspektivwechseln in die Weite: »ins Herz/..in das Reich,/ in der Reiche/ weitestes, in/ den Großbinnenreim/ jenseits/ der Stummvölkerzone, in dich/..Exil«, oder in die Enge: »Von einem Brief, von ihm./Vom../..Worthaufen/ Von einem Wort, aus dem Haufen,/..Vom Nebenwort«. Es kann die zahlreichen intertextuellen, historischen, geographischen, biographischen Bezüge zwar ansprechen, aber nicht im Sinne jener >Glossolalie< synthetisieren, mitsprechen lassen. Es verliert sie gleichsam in der gegen Ende des Gedichts zunehmenden Konzentration auf das Schlußwort. Nur zweimal wird das Gedicht persönlich, treten die für Celan sonst so bedeutungsvollen Personalpronomen »ich« und »du« auf: einmal in der affirmativ an die Freunde gerichteten Erinnerung an das eigene Ubersetzen, die aus dem Gedichtverlauf jedoch ausgeklammert wird, ein zweites Mal in der Parenthese der Erinnerung »- Jakobs-/stab, du,/ abermals kommst du gegangen! -«, in der ein autoreflexiver Bezug auf das eigene Frühwerk sichtbar wird.84 Das Gedicht, das, wie Lehmann ausgeführt hat, die Themen von Wanderschaft und Exil als Folge des jüdischen Schicksals gestaltet, artikuliert in seiner Rede die Zerstreutheit und markiert zugleich die Spur dieses Schicksals. Es gibt kein Gegenüber solcher Rede mehr, kein Gespräch, ja selbst kein authentisches Sprechen mehr, nur noch ein »Nachknirschen« des »Nebenworts«. Die deutliche, wenn auch mehrdeutige Anspielung Celans auf seine vielfältige Ubersetzungstätigkeit gerade in den Jahren der Entstehung άετ Niemandsrose erscheint im Tarussa-Ge&ichx. in Klammern gesetzt, in den Kontext des eigenen Schreibens einbezogen und zugleich ausgegrenzt: ... (Kyrillisches, Freunde, auch das ritt ich über die Seine, ritts übern Rhein.) 8 '

84

8

Vgl. Der Jäger. »Im Auge, dem der Orion erlosch..« (FW 139); generell läßt sich mit der versuchten >Heimkehr< ins Ostliche auch eine Zunahme autoreflexiver Bezüge auf das Frühwerk beobachten, so auch im vorliegenden Gedicht: »Ich weiß von Sternen, denen ich nicht glaubte:/ es ist ein Weg, ein Weg an Herbstzeitlosen hin../ Den führt dich einer mit erhobnem Haupte./ Und du vergißt, wie nah ich bin.« (FW 82); vgl. auch die Nennung der Herbstzeitlose im Schlüsselgedicht Erinnerung an Frankreich

(1,28).

' Das Gedicht ist bis in die Struktur hinein zugleich unverkennbare Replik auf einen früheren Text aus der Niemandsrose·. 105

Dieser unmittelbar auf das Bild des Pont Mirabeau, der Brücke und dem Gedicht über die Seine, assoziativ folgende Einschub deutet an, daß Celan »Kyrillisches«, mithin auf russisch Geschriebenes, nicht nur von West nach Ost, d.h. von Paris nach Deutschland übertragen, sondern zuvor auch in der entgegengesetzten Richtung von Ost nach West, d.h. von seiner Heimat aus nach Paris befördert habe. Die Form des Präteritums erinnert hier an die mittelhochdeutsche Form riten, was ursprünglich »in Bewegung sein« bedeutete. Im ungewöhnlichen Gebrauch des (Hin)über-reitens erscheint das Ubersetzen sowohl als räumliche Bewegung (Transfer) als auch als transitorische Bewegung, durch die etwas zunächst erst einmal in Bewegung gebracht, bewegt wird. Die zweifache Bewegung, die in der Wendung »auch das« zusätzlich an Celans vielfältige, noch vor jenen erfolgten Übersetzungen aus dem Französischen erinnern will, ist somit eingebettet in einen weiträumigen Entwurf, der als Grundlage von Celans poetologischer Konzeption für das Dichten und das Ubersetzen zunehmend an Bedeutung gewinnt, ja für letzteres sogar zur Bedingung zu werden scheint. Ohne daß Celan dies - wie einige seiner dichtenden Zeitgenossen - je explizit gemacht hätte, sind Dichten und Ubersetzen in seiner Poetik einander so nahe, daß kaum ein qualitativer Unterschied zwischen beiden im Rahmen der von Celan gebrauchten Begrifflichkeit gemacht werden kann. Die von ihm überlieferte Bemerkung, das Ubersetzen der Gedichte Mandel'stams habe für ihn ebenso große Bedeutung wie das Schreiben eigener Gedichte 86 weist auf die prinzipielle Analogie im poetischen Verfahren hin. Die traditionelle Deutung von Dichten als Ubersetzen (beispielsweise aus einer verlorengegangenen Ursprache oder aus der unausgesprochenen Sprache der Natur wie bei Günter Eich) enthält jedoch nur eine Dimension - sc. die des Transfers -eines in Celans Konzeption weitaus vielschichtiger angelegten Modells. Denn Dichten läßt sich für Celan nicht als Ubersetzen begreifen; vielmehr sind beide, Dichten und Ubersetzen prinzipiell analoge poetische Verfahren. So zeigt deutlich der instruktive Ansatz Lönkers, 87 Celans (immanente) Poetik der Übersetzung ich ritt durch den Schnee, hörst du, ich ritt Gott in die Ferne - die Nähe, er sang, (I, 2 1 3 ) Wenn es dann anschließend heißt: »es war/ unser letzter Ritt über/ die MenschenHürden« so ist im späteren Text nun eine deutliche Akzentverschiebung erkennbar, die im letzten Gedicht der Niemandsrose nur noch einmal gesteigert wird, vgl. »Furtenwesen« (I, 291). 86

87

Durch Rais überliefert. In: Terras/ Weimar: Mandelstamm and Celan: A Postscript, S.365. Fred Lönker: Überlegungen zu Celans Poetik der Übersetzung. Was Lönker hier vor allem als Überwindung der Historizität im bewahrenden A k t der Präsentation im Übersetzen beschreibt, gilt deutlich für beide poetische Verfahren: Celans Übersetzen ebenso wie sein Dichten.

106

nicht aus der Übersetzungsanalyse zu gewinnen, sondern sie durch die Untersuchung einschlägiger Gedichtpassagen und poetologischer Äußerungen hervortreten zu lassen, die grundsätzliche Nähe beider poetischer Ausgriffe. Lönker formuliert seine Vorgehensweise explizit als Versuch, »Celans Poetik der Ubersetzung [...] über die Art und Weise, wie Celan die Begegnung mit dem fremden Gedicht in seinem eigenen Werk gestaltet«88 zu erschließen. Begegnung ist jedoch bekanntermaßen einer der Grundbegriffe der Poetik des Gedichts, wie sie die Büchner-Preis-Rede einzukreisen sucht. Die Begegnung mit dem fremden Gedicht, oder, wie im Meridian ausgeführt, mit dem Fremden generell, bleibt nicht auf den Akt des Ubersetzens beschränkt. Hier geht es über prinzipielle textuelle Auseinandersetzungen hinaus um das generell den Gedichten Celans zugrunde liegende Verfahren, Anderes, Fremdes aufzusuchen und aus dieser Bewegung einen Akt der Begegnung zu gestalten, der textkonstituierend wirkt. Dabei fällt gerade innerhalb des Zyklus Die Niemandsrose im Gegensatz zu dem leitmotivisch auf das Thema der Stimmen konzentrierten Band Sprachgitter - die Thematisierung rezeptiver Verfahren auf, die im hier zu behandelnden Kontext von besonderem Interesse zu sein scheinen. In ganz bewußtem Gegensatz zur Wahrnehmung, Aufnahme und auch der Verweigerung gegenüber den Stimmen in Sprachgitter werden hier Leseprozesse dargestellt, die im Verlauf der Niemandsrose von der Perzeption in die Transformation umschlagen und damit konstitutive Funktion haben. Sie bilden letztlich die Voraussetzung für das im Meridian dargestellte Modell eines >UmschlagsStandortbestimmung< zwischen Begegnung und Entfernung (Exil) gehört, die von vornherein ganz deutlich die Auseinandersetzung Celans mit Russischem begleitete.

b) Lesemodelle und Raumkonzeption in der

Niemandsrose

Mit der jüdischen Kernthematik des Gedichtbands Die Niemandsrose verbunden erscheint die Frage nach dem Ort des Menschen in der Welt und damit nach dem des Gedichts. Die Suche nach dem U-topos bestimmt die poetologischen Überlegungen der Büchner-Preis-Rede, sie erlebt aber auch eine konsequente 88 89

Ebd. S . 2 i 3 f . Vgl. dazu Kap. IV.

107

Entwicklung im Verlauf der Gedichte der Niemandsrose, als deren Extrempunkte die terrestrische Gebundenheit als Verinnerlichung im Eröffnungsgedicht Es war Erde in ihnen und die kosmische Verwurzelung des Schlußgedichts In der Luft gelten können. Diese allmähliche Entgrenzung der räumlichen Fixierung hat weitreichende poetologische Konsequenzen und steht in ganz wesentlichem Zusammenhang mit Celans Orientierung nach Osten, auf Russisches hin und von diesem her. Sie wird erkennbar an immer wieder im Gedicht angesprochenen Leseerlebnissen und deren Umschlag von einer eher passiven, rezeptiven Handlung in eine aktive, von Skepsis geprägte und dennoch produktive Re-konstruktion von Schrift und Sprache. Damit ist sie letztlich auch Teil jenes »Wirklichkeitsentwurfs«, den Celan in theoretischen Äußerungen mehrfach proklamiert hat. Es scheint, daß gerade die Materialisierung von Geschehenem bzw. Gesagtem als sichtbare Spur und - in Analogie dazu - als Schrift eher zum Ausdruck jener »Sprache des Leidens« geeignet schien als der flüchtige Laut; deutlich lassen sich gerade in der Niemandsrose als Zeichen von Schrift Spuren von Leid erkennen, deutlich ist der Wechsel von den »Stimmen« zur »Spur« aber auch bereits im Rahmen von Sprachgitter, in der Progression vom Eingangs- zum Schlußgedicht zu erkennen. Andererseits eignet der Schrift bzw. der Spur jenes Doppelgesicht von Wahrnehmbarkeit und Beständigkeit auf der einen Seite und der Forderung einer immer wieder erneuten Aufnahme und Aktualisierung auf der anderen Seite, wie es als grundlegend für Celans Forderung an das Gedicht geltend gemacht werden kann. Ich möchte im folgenden auf einige charakteristische Lesemodelle hinweisen, die mir geeignet erscheinen, die poetologische Dimension der gegen Ende der Niemandsrose rapide zunehmenden räumlichen Bewegung und Ausweitung des Gedichts im Kontext des konkreten Rezeptionsprozesses von Russischem zu beschreiben.90 Die hochgradige Intertextualität gerade dieses Gedichtbands ist ganz bewußt als lesender Rekurs, als Aufnahme und Destruktion, als Dekonstruktion und Transformation von Geschriebenem gestaltet. Sprache erscheint in den Gedichten der Niemandsrose nicht nur als akute Lautung oder >Verlautbarungs sondern zunehmend in ihrer dinglichen (gestalthaften!) Manifestation 90

108

Auf den äußerst komplexen Zusammenhang von Welterfahrung als Leseprozeß und seine Reflexion in verschiedenen Verfahren des Ansprechens und Zitierens, der unterdessen ein Kerngebiet der Celan-Forschung ausmacht, kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden, da hier ausschließlich die Konstitution eines Raumes (des Gedichts) aus dem Kontext der Auseinandersetzung mit dem (östlichen) Raum Rußlands dargestellt werden soll. Ich verweise in diesem Zusammenhang u.a. auf die Untersuchungen von Judith Ryan: Die >Lesbarkeit der Welt< in der Lyrik Paul Celans. In: Psalm und Hawdalah. Zum Werk Paul Celans. Bern, Frankfurt a.M., N e w York, Paris 1987, S. 1 4 - 2 1 ; Anke Bennholt-Thomsen: Das poetologische Raum-Konzept bei Rilke und Celan. Celan-Jahrbuch 4 (1991), S. 117—149.

als les- und entzifferbare Schrift, so bspw. das russische Wort in seiner kyrillischen Erscheinungsform im 7ar«ssd-Gedicht. Manche Texte rekurrieren auf konkrete Leseprozesse, so das Gedicht Das Wort vom Zur-Tiefe-Gehn.9'

Chri-

stoph Schwerin konnte den Gedichtvorgang als Reflexion eines authentischen Lektüreerlebnisses rekonstruieren.' 2 In weiteren Texten werden solche Leseprozesse genannt (»Gott, das lasen wir« 9 3 ), sichtbar gemacht im lesbaren AutoZitat (»Die [..] Zeile:.. dein/ Haus in Paris - zur/ Opferstatt

deiner

Hände94)

oder sogar zu einem existentiell befreienden Erlebnis gesteigert: »ich kann/ ihn lesen, ich kann, es wird heller,/ fort aus Kannitverstan«. 95 Die gestalthafte Konkretisierung einzelner Worte (insbesondere Namen; vgl. die Anrufungen Mandel'stams) erfährt schließlich vor allem im vierten Binnenzyklus der mandsrose

Nie-

eine Modifikation in ein Lesen, das die komplexe Erscheinungsform

der Sprache erst zu zerlegen sucht, um sich ihrer dann von neuem zu versichern. Daß es sich hierbei nicht um eine Uberprüfung im Sinne genereller Sprachskepsis, sondern um Befragung der Worte nach ihrer Geschichte, um ein immer wieder vollzogenes Abwägen und schließlich erneutes Gewinnen handelt, wird in mehreren Gedichten vor Augen geführt. 96 Im Gedicht Hinausgekrönt

wird - in Anlehnung an ein Verfahren Chlebni-

kovs - die Textmetapher einer solchen dekonstruktiven Uberprüfung unterzogen: 97 Und, Berenikes Haupthaar, auch hier, - ich flocht, ich zerflocht, ich flechte, zerflechte. Ich flechte.'8 Eine noch konsequentere Zerlegung eines ganzen Satzes, sc. eines Verses von Verlaine, erfolgt - wiederum in Anlehnung auch an von Chlebnikov inspirierte, auf den Lautcharakter von Sprache dynamisierend rekurrierende Verfahren 91

1,212. Vgl. Christoph Schwerin: Bitterer Brunnen des Herzens. Erinnerung an Paul Celan. In: Der Monat 279 (1981) H.2, S.jyf. 9 > 1,218. 94 I, 220; vgl. auch Hans-Jost Frey: Zwischentextlichkeit von Celans Gedicht. Zwölf Jahre und Auf Reisen. In: Paul Celan. Hrsg. W. Hamacher/W. Menninghaus. Frankfurt a.M. 1988, S. 139-155. 9i I, 263. 96 Vgl. dazu auch die im Prinzip ebenfalls als Lesevorgang gestaltete Befragung und Spurensicherung im Raum einer als geschichtlich determiniert aufgefaßten Natur im Gedicht À la pointe acérée (I, 151). 97 Hier findet sich zugleich auch wieder ein autoreflexiver Rekurs auf ein Gedicht aus dem Frühwerk: »Mein Herz strahlt wild vom herrlichen Bescheid./ Dein Haar vom Glanz aus Berenikes Haar.« (FW 131); vgl. Kap. III, 5. 98 1, 271. 92

109

im Gedicht Huhediblu, dessen Titel die tief beunruhigende Verkehrung und Entstellung eines ehemals französischen Verses zum Ausdruck bringt. Sprache ist in diesem Gedicht nur scheinbar zu einer lautlichen Eigendynamik entfesselt, denn das »Disparate« hat sich als solches aus dem zum Gestaltungsverfahren des Gedichts erhobenen dekonstuierenden Lesen entblößt: Wann, wann blühen, wann, wann blühen die, hühendiblüh, huhediblu, ja sie, die Septemberrosen? Hüh - on tue... Ja wann? Wann, wannwann, Wahnwann, ja Wahn, Bruder Geblendet, Bruder Erloschen, du liest, dies hier, dies: Disparates - : Wann blüht es, das Wann, das Woher, das Wohin.."

Der Versuch, Komplexität zu erfahren, die Gesamtheit eines Weltzusammenhangs zu begreifen, erweist sich als unmöglich. Die Dynamisierung von sprachlicher Gestalt als sichtbarer Anlagerung und zugleich als Zerfall gestaltet am eindrucksvollsten das Gedicht Die Silbe Schmerz,100 das »Erdteile« und »Herzteile« zusammenführt und den »entdeckerischen« Aufbruch des Kolumbus in eine neue Welt als Erfahrung von Sprache gestaltet. Gerade hier aber geht mit der lesenden Dekonstruktion, der Zersplitterung von Sprache in kleinste Einheiten und deren Überprüfung (»Wortwaage«) eine analoge Bewegung im Raum vonstatten, die, je unsicherer sie im Kleinen geworden ist, auf umso weitere Räume ausweichen muß.'01 Neben solcherart dekonstruierendem Lesen als dynamisierter Form skeptischen Nachsprechens und Wahrnehmens entwickelt Die Niemandsrose ein weiteres Lesemodell, das als eine Art reziprokes Lesen beschrieben werden kann: Das Gelesene »schreibt« sich in das Auge ein und bleibt in ihm als Spur lesbar. Die Parallele zur landläufigen Metapher von den »Spuren«, die das Leben im Gesicht der Menschen hinterläßt, drängt sich auf. Sie erweist sich als simpel gegenüber der Steigerung, die sie innerhalb des Celanschen Gedichts

» I , 27Jf. I, z8of. 101 Vgl. hier erneut Und mit dem Buch aus Tarussa (I, 287-289). 100

110

erfährt. Im Gedicht »Das Wort vom Zur-Ttefe-Gehn,/das findet sich die Formulierung

wir gelesen haben«

weißt du, was sich in dein A u g schrieb, vertieft uns die Tiefe. 1 0 2

Den Eindruck, daß es sich hier nicht schlicht um eine metaphorische Wendung, sondern um die Vorstellung einer tatsächlich körperhaften Konkretisierung handelt - das Lesen wird als reziproker Vorgang eines Sich-Einschreibens in das Organ der Perzeption (und damit als konkrete Spur einer Vertiefung)10' erinnert - , bestätigt das spätere Gedicht Les Globes. Dieses zeigt am deutlichsten die Verbindung von Lesevorgang und räumlicher Bewegung, indem es schon im Titel durch ein französisches Homonym (Augapfel und Erdball) die lesenden Augen mit der ungewöhnlichen Pluralform »die Globen« zusammenführt: LES GLOBES In den verfahrenen Augen - lies da: die Sonnen-, die Herzbahnen, das sausend-schöne Umsonst. Die Tode und alles aus ihnen Geborene. Die Geschlechterkette, die hier bestattet liegt und die hier noch hängt, im Äther, Abgründe säumend. Aller Gesichter Schrift, in die sich schwirrender Wortsand gebohrt - Kleinewiges, Silben. Alles, das Schwerste noch, war flügge, nichts hielt zurück. 1 0 4

In einer Weiterbildung des im Gedicht Das Wort vom Zur-Tiefe-Gehn eingeführten Bildes werden hier die im Tode verdrehten, »verfahrenen« Augen der Gestorbenen (die Pluralform »die Tode« korrespondiert dem Titel, läßt in der Vielzahl das immer erneute, singuläre Sterben aufscheinen) zum Spiegel von Himmel und Erde, Innerem (»Herz-«) und Äußerem (»aller Gesichter Schrift«), Die körperliche Rückverwandlung in Erde und das Vergehen des

102 103

104

1,212. Hierin knüpft das frühe Gedicht der Niemandsrose 195-204) ein Jahr zuvor thematisierte »Spur« an.

eng an die in der Engführung

(I,

I, 274. III

Geistes in der Luft korrespondieren einander. Die Spur, die deren Bewegung »Abgründe säumend« hinterläßt, hat sich materialisiert: Aller Gesichter Schrift, in die sich schwirrender Wortsand gebohrt - Kleinewiges, Silben.

Das Schwergewordene, das nicht mehr erdhaft bleiben kann, »flügge« geworden ist, wird zum Leitmotiv der folgenden Gedichte. Es wird unmittelbar wiederaufgenommen im folgenden Gedicht »Schwer-, Schwer-, Schwer-/ fälliges..«, 105 es erscheint auch im Tarussa-GeâÀcht. Eine besondere Qualität des Lesens als Akt einsammelnder Bewegung und zugleich Konstituierung findet sich schließlich eindrucksvoll konkretisiert im Abschreiten der Buchstaben-Gestalten im Gedicht Hüttenfenster. Es ist seiner Entstehung nach das letzte der Gedichte der Niemandsrose, es ist zugleich eines der wenigen Gedichte, die entgegen der chronologischen Reihenfolge im Zyklus erscheinen: Zusammen mit dem voraufgehenden Huhediblu markiert es genau die Mitte des den Band abschließenden Zyklus. In diesem Gedicht wird in auf den ersten Blick kaum erkennbarer Weise Jüdisches mit Russischem kontaminiert; diese Kontamination ist ein Entwurf - ein Gegenentwurf. HÜTTENFENSTER Das Aug, dunkel: als Hüttenfenster. Es sammelt, was Welt war, Welt bleibt: den WanderOsten, die Schwebenden, die Menschen-und-Juden, das Volk-vom-Gewölk, magnetisch ziehts, mit Herzfingern, an dir, Erde: du kommst, du kommst, wohnen werden wir, wohnen, etwas - ein Atem? ein Name? geht im Verwaisten umher, tänzerisch, klobig, die Engelsschwinge, schwer von Unsichtbarem, am wundgeschundenen Fuß, kopflastig getrimmt vom Schwarzhagel, der auch dort fiel, in Witebsk, - und sie, die ihn säten, sie schreiben ihn weg 1 0 5 1,

112

275

mit mimetischer Panzerfaustklaue! - , geht, geht umher, sucht, sucht unten, sucht droben, fern, sucht mit dem A u g e , holt A l p h a Centauri herunter, Arktur, holt den Strahl hinzu, aus den Gräbern, geht zu G h e t t o und Eden, p f l ü c k t das Sternbild zusammen, das er, der Mensch, z u m W o h n e n braucht, hier, unter Menschen, schreitet die Buchstaben ab und der Buchstaben sterblichunsterbliche Seele, geht z u A l e p h und Jud und geht weiter, baut ihn, den Davidsschild, läßt ihn aufflammen, einmal, läßt ihn erlöschen - da steht er, unsichtbar, steht bei A l p h a und A l e p h , bei Jud, bei den andern, bei allen: in dir, Beth, - das ist das Haus, w o der Tisch steht mit dem Licht und dem Licht. 1 0 6

Wie eng der Zusammenhang auch dieses Textes zu den oben beschriebenen Ansätzen in den voraufgegangenen Gedichten ist, belegt zusätzlich eine Variante während der Gedichtentstehung, in dem es vom A u g e noch heißt, es »spiegelt«, ein in der Niemandsrose

ebenfalls bekanntes Verfahren, das seiner-

seits für die hier beschriebenen Vorgänge charakeristisch scheint. 107 A u c h dieses Gedicht hat bereits umfangreiche Interpretationen erfahren und soll hier nur in den vorliegenden Zusammenhängen betrachtet werden. 108 Es beschreibt einen Lesevorgang in der A r t eines Zusammen-Sammelns von Zerstreutem, das der Konstituierung einer Wohnstätte dient. Dieser Vorgang wird prospektiv angekündigt in der ersten Strophe (»du kommst, du kommst,/wohnen werden

106

1, lygf.

107

Vgl. auch »an erdwärts gespiegelten Wegen« (I, 287). Besonders verwiesen sei hier neben dem K o m m e n t a r v o n H e n d r i k Birus auf die Untersuchung v o n Hans-Peter Bayerdörfer: »Landnahme-Zeit«. In: U b e r Literatur und Geschichte. Festschrift für Gerhard Storz. H r s g . v o n Bernd H ü p p a u f und D o l f Sternberger. S.333-352, bes. 336-346.

108

"3

wir, wohnen..«) und dann schrittweise vollzogen ab der fünften Strophe: Gehen, suchen, herunter- und hinzuholen und zusammen-pfliicken sind die Voraussetzungen für das Bauen des Davidsschilds, durch welchen schließlich »Beth« unsichtbar zum Vorschein kommt, das hebräische Wort für Haus. Der Ortsname Bethel bezieht sich auf den heiligen Stein als >Behausung< und >Offenbarungsstätte< Gottes (vgl. Gen. 2, 10-19). Ohne hier schon genauer einzugehen auf versteckte Bezüge zu eben jenem Cvetaeva-Gedicht, aus welchem Celan sein spezifisches Motto - »Alle Dichter sind Juden« - entliehen hat,109 lassen sich hier an zwei Stellen offene Bezüge auf Russisches erkennen. Es sind bildliche Assoziationen an die Welt des russisch-jüdischen Malers Chagall, die besonders in den ersten beiden Strophen (den zweifelnd-fragenden Zwischenvers » - ein Atem? ein Name?-« nicht mitgezählt) aufgerufen erscheint, Vorgaben an eine bildliche, nicht-sprachliche Perzeption von Welt, die gerade ihre sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten in Frage gestellt sieht (s. den Zwischenvers). Was Leben (»Atem«) war, erscheint nun nur noch imaginär, als Bild, als »Gewölk«, gleichwohl als unendlich »Beschwertes«, in den Abgrund Gekehrtes: »kopflastig getrimmt«. Statt des Anrufens und Nennens erfolgt nun ein Sammeln, ein Einsammeln und Zusammenbauen, das den kosmischen Raum der Verlorenen, der Gestorbenen bereits antizipiert hat und nun von dort her eine Wohnstätte baut. Die Zeichen sind nicht mehr als Zeichen lesbar, sondern »gestalthaft«, greifbar und identitätsstiftend: »Beth, - das ist/das Haus«, gleichwohl gänzlich entrückt. Die von Celan gewählten Begriffe charakterisieren hier nicht nur jüdisches Schicksal, sie nehmen ganz deutlich auch jene Hölderlinsche Terminologie wieder auf, die gerade von Heidegger eingehend interpretiert wurde und die das Wesen des Dichterischen beschreiben soll. 110 An diesem Bild, in diesem Gedicht artikuliert sich Celans Gegenentwurf von einer jüdisch-östlichen Erfahrung her als Umkehrung der Hölderlin-/Heideggerschen Deutung eines wesentlich auf Deutsches bezogenen dicherischen Seins. Versehrtheit und Entwurzelung geben ein anderes Licht ab für den Dichter, der hier spricht; der von jenen bewohnte und bewohnbare Raum ist für diesen nicht mehr zugänglich. Hier hat eine tiefgehende Identifikation stattgefunden mit einem Raum, der nicht so sehr über eigenes Profil verfügte, als er Garant für ein verlorenes Menschliches zu sein scheint (»hier/ unter Menschen«), auch wenn dieses bereits verloren ist.

I0

» Vgl. Kap.III, 7. Vgl. v.a. Heideggers Überlegungen ausgehend von dem Vers Hölderlins »Voll Verdienst, doch dichterisch wohnet/ Der Mensch auf dieser Erde.« M . Heidegger: H ö l derlin und das Wesen der Dichtung. In: ders.: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. Frankfurt a . M . 1 9 5 1 , S. 39ff- Vgl. dazu auch B. Allemann: Hölderlin und Heidegger. Zürich, Freiburg i.Br. 1954.

110

114

Es bleibt Das Aug, dunkel: als Hüttenfenster. Es sammelt, was Welt war, Welt bleibt: den WanderOsten, die Schwebenden, die Menschen-und-Juden,

Das Einsammeln und Abtasten der historisch beschwerten Worte - und andererseits die Ausweitung des >Lebens/Im Wacholderdickicht, das vom Ufer schautAbrechnung< mit Kljuev erfolgt von nun an in zahlreichen Gedichten (u.a. Inonija und Preohrazenie), aber auch in der wichtigen poetologischen Reflexion Esenins, Kljuci Marii (Die Marienschlüssel, 1918). Er unterzieht darin nicht nur die gesamte russische Poesie einer kritischen Revision, er gibt auch eine präzise Analyse des Bildes als dichterischer Ausdrucksform. Die Orientierung an der Volksdichtung ist dabei von Esenin nicht traditionell-folkloristisch - oder, im Sinne Kljuevs, mystifizierend - gedacht, sondern im erneuten Entdecken ihrer Strukturen als Möglichkeit einer »Revolution« der Sprache, die der gesellschaftlichen Revolution entspricht. »Vielstelligkeit« und »Präzision des Ausdrucks«" - diese Worte Celans charakterisieren ihrerseits aufs genaueste Esenins sprachliche Bemühungen. Setzten die Imaginisten das Bild ins Zentrum des Verses - jeder Vers sollte ein in sich abgeschlossenes Bild enthalten - so begründete doch gerade dieses zentrale Theorem schon den Zerfall der Gruppe. Einseitige Konzentration auf formale Aspekte und das Beharren auf den Grundfiguren von Metapher und Vergleich erwiesen sich als hybride Forderungen. Esenin selbst ging es bald nicht mehr »um Vergleiche, sondern um das Organische selber«,12 er suchte den »Ausbruch aus der Metapher«.'3 Seine Heirat mit Isadora Duncan

11

12

Vgl. Celans Antwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker 1958: »Dieser Sprache geht es, bei aller unabdingbaren Vielstelligkeit des Ausdrucks, um Präzision«. III, 167. Vgl. seine Überlegungen zur Begrenztheit einer Beschreibung in Vergleichen und Bildern: » Vot togda ja ocen' jasno poíuvstvoval, ito propoveduemyj mnoju i moimi druz'jami >imazinism< issjakaem. Poöuvstvoval, cto delo ne ν sravnenijach, a ν samom organiceskom.« (Nun, da spürte ich sehr genau, daß der von mir und meinen Freunden verfochtene >Imaginismus< sich erschöpft hatte; ich spürte, daß es nicht um Vergleiche ging, sondern um das Organische selbst). S. Esenin: Sobranie socinenij, T. 3, S. 120.

' 3 Vgl. Mierau im Nachwort zu: Sergej Jessenin, Gedichte. Leipzig 1 9 8 1 , S. 234 et pass.

132

und eine 1922/23 gemeinsam mit ihr unternommene Reise durch Europa und Amerika unterbrachen diese Überlegungen. Unterdessen bestätigte Esenin seinen schon in Rußland entwickelten Ruf als Weltenbummler und Hooligan; Saufgelage, Schlägereien und Skandale wurden zum Beigeschmack seiner Dichtung, was als »eseninscina« (Esenintum) später zeitweise das Argument zu ihrer Diskreditierung lieferte. Entfremdung als Gesamterfahrung seines Lebens prägte Esenin nach seiner Rückehr nach Rußland; sie machte ihn schließlich in der Heimat heimatlos. Einfachheit wird zum Ziel seiner späten Dichtung, Einfachheit, die, an der Sprache Puskins geschult, sich nun auf die sprachlich-grammatikalischen Strukturen konzentriert zeigt, nicht mehr auf die Bilder. Mehrere Reisen in den Süden der Sowjetunion (vor allem in den Kaukasus) begleiten schließlich eine der produktivsten Phasen seiner Dichtung zwischen 1924 und 1925. Nach den Persischen Motiven entsteht - Bilanz seines Lebens und Standortbestimmung seiner Existenz als Dichter im sowjetischen Rußland - das düstere Langgedicht Cernyj celovek (Der schwarze Mann). Die schon zu Lebzeiten durchaus schwankende Reaktion auf Esenins Werk wurde in den nach seinem Tod publizierten Sammlungen nach den für gültig befundenen Parteivorgaben auf eine einheitliche Linie gebracht. So finden sich im Vorwort von A. Dymsic zur 1940 in der renommierten Reihe »Biblioteka poèta. Malaja serija« erschienenen Gedichtauswahl Esenins, wo dieser den Weg der dichterischen Entwicklung Esenins nachzuzeichnen versucht, deutliche Anzeichen für eine bewußte Korrektur bestimmter unerwünschter Aspekte von Leben und Werk des Dichters. Die gelegentlich zu Exzessen neigende Lebensweise Esenins bleibt hier ebenso unerwähnt wie deutliche Ambivalenzen des keineswegs einheitlich gestalteten Werks; zudem wird gegen Ende eine zunehmende Entfernung Esenins selbst von volkstümlicher Religiosität konstatiert. Das schließlich auf verschiedenen Wegen zustande gekommene und bis heute wirksame Image Esenins als »Bauerndichter« ist nur eine der Vereinseitigungen, zu denen die Rezeption von Anfang an (und nicht ohne Mitwirkung von Esenin selbst) neigte; daß der Imaginist Esenin, dem es in einer gewaltigen Bildersprache um die »Offenbarung des Organischen«, um »das unentbehrlichste Wort der Sprache, in der ich mich ausdrücken will« ging, eher der Avantgarde als einer epigonalen, religiös-mystizistisch bestimmten Landlebendichtung zuzurechnen ist, wird noch heute gerne übersehen. Diese Zusammenhänge, die eine ideologiekritische Slavistik gerade in ihrer Abhängigkeit von den wechselnden Bedingungen kultureller Vermittlung aufzeigen müßte, können hier nur angedeutet werden. Daß sie Celans Lektüre mit-bestimmten, steht außer Frage. Es scheint aber, daß Celan auch bei Esenin bestimmte Impulse aufnahm, die durchaus unabhängig sowohl von der akademischen Lesart wie der populären Verehrung ihre Spuren hinterließen. Erstes 133

Anzeichen dafür ist, daß, wo das Interesse für Esenin in den meisten Fällen mehr auf die Legende seines Lebens als auf die Gestalt seines Gedichts konzentriert war, Celan eben diese Art der Annäherung an Esenin nicht zeigt, ganz im Gegensatz zu seiner Mandel'stam-Rezeption. Celans umfangreiche Auseinandersetzung mit dem Werk Sergej Esenins vollzog sich in zwei Abschnitten; nach der frühen Esenin-Lektüre, die schon erste Ubersetzungen zeitigte, folgte eine zweite Phase intensiver übersetzerischer Rezeption vom Februar 1958 bis Juli i960. Die große Anzahl von Titeln von und über Esenin in Celans Bibliothek bezeugen eine zumindest zeitweilige Intensität der Bemühung, erweisen sich jedoch für die Bestimmung der Tendenzen von Celans Esenin-Rezeption als nur bedingt aufschlußreich. Anhand der Erscheinungs- und, soweit notiert, Erwerbsdaten läßt sich die erneute Esenin-Lektüre auf den Zeitraum von 19 5 7, eher aber wohl Februar 19 5 8 bis spätestens Februar 1963 eingrenzen. Nur ein Band zeigt zahlreiche Lektürespuren; es ist dies die auch brieflich von ihm erwähnte »neue Leningrader Ausgabe« (erschienen 1956, erworben 1958), die als Ubersetzungsvorlage diente.'4 Die maßgebliche fünfbändige Werkausgabe, die 1961/62 erschien, wurde von Celan zwischen dem 27.9.61 und dem 15.2.63, also nach Abschluß der Ubersetzungen, erworben; sie weist keine Lektürespuren mehr auf. 15 Keiner der erhaltenen Bände, auch die seltenen frühen und die Originalausgaben aus den Verlagen der »Skythen« und der »Imaginisten« kommen als Ubersetzungsvorlagen für die frühen Esenin-Ubersetzungen in Frage, da eben der übertragene Zyklus in ihnen nicht enthalten ist. Eine über das Gedichtwerk hinausgehende Lektüre kann nur vermutet, nicht aber nachgewiesen werden. Einen Anhaltspunkt für die zeitgenössische Lesart Esenins gibt ein Beitrag von Celans Freunden Reinhard Federmann und Milo Dor, von dem sich gleich zwei Zeugnisse im Nachlaß Celans befinden. Federmanns Aufsatz Villon in der Sowjetunion erschien kurz nach Celans Esenin-Auswahl in einer Grazer Zeitschrift;' 6 von Milo Dor gezeichnet wurde ein wohl i960 entstandenes Rund-

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15

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Sergej Esenin: Stichotvorenija i poéray (Gedichte und Poeme). Vstupitel'naja stat'ja, podgotovka teksta i primecanija A . I . Dymsica. Leningrad 1956 (Verz. Nr. 123). Celan erwähnt die Ausgabe in einem Brief an A. Margul-Sperber vom 30.7. i960. In: Neue Literatur 26 (1975) H.7, S. 56. Sergej Esenin: Sobranie socinenij ν pjati tomach. Moskva 1 9 6 1 - 6 2 (Verz. Nr. 1 1 6 120). Reinhard Federmann: Villon in der Sowjetunion. Ein Versuch über Leben und Werk Sergej Jessenins. In: Wort in der Zeit. Osterreichische Literaturzeitschrift. Graz 7 (1961), S. 33-45. Auf die Nähe Celans zu Federmann und ihre Bedeutung im Bereich von Fragen der russischen Literatur war man schon früher aufmerksam geworden, als dieser fünf Briefe Celans aus dem Jahr 1962 veröffentlichte (R. Federmann: In memoriam Paul Celan. In: Die Pestsäule I (1972/73) Wien, S. 1 7 - 2 1 ) . Darin war u. a. auch die Celansche Unterschrift »russkij poèt« enthalten. Der Marbacher Nachlaß Celans ver-

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funkmanuskript über Esenin,17 das ein Jahr später gesendet wurde. Die Beiträge sind bis auf minimale Abweichungen textidentisch (für die Präsentation im Rundfunk wurde der Text allerdings auf mehrere Sprecher verteilt); beide zitieren Esenin in Celans Übersetzung. Federmanns bzw. Dors Versuch Uber Leben und Werk Sergej Jessenins wirbt in einer auf den persönlichen Eindruck bedachten Weise um das Ansehen des Dichters, dessen innere Zerrissenheit und persönliche Tragik deutlich wird als Reflex auf die aufgewühlten Verhältnisse seiner Zeit.18 In Anlehnung an eine bekannte autobiographische Notiz Esenins19 stellt Federmann erneut Esenins Werk als Funktion seines Lebens dar: »Jessenins Gedichte zusammengenommen ergeben eine vollständige innere Biographie des Dichters«. 20 Er verweist aber auch auf die wichtigsten ästhetischen Zusammenhänge, und hier werden eben die Namen genannt, die auch der oben zitierte Einleitungstext zu Celans Ubersetzungen anführt, so die Zugehörigkeit zu den Imaginisten Mariengof und Sersenevic. Die abschließende, mit der gängigen Esenin-Rezeption durchaus konkurrierende Deutung: »Er war ein Außenseiter und Einzelgänger, der sich keiner Gesellschaftsordnung angepaßt hätte, er war von demselben Schlag wie Rimbaud und Villon«21 wirft dann ein Licht auch auf Celans Esenin-Verständnis. Insgesamt lassen jedoch die Beobachtungen, die durch die nicht besonders spezifizierbare Lektüre der sekundären Werke zu Esenin bestätigt werden, vermuten, daß die Beschäftigung Celans mit Esenin primär auf das Ubersetzen konzentriert blieb, und daß sie nach Abschluß der Ubersetzungen offenbar nicht mehr neu inspiriert wurde (wenn auch die Option darauf offen gehalten wurde). Eine Intention auf eine ästhetisch begründete Auseinandersetzung mit Grundkonzeptionen Esenins jenseits der Übersetzungen, wie dies bei Mandel'stam, aber auch bei Chlebnikov der Fall gewesen zu sein scheint, wird nicht

17

,8

19

20 21

zeichnet Briefe an Celan von Federmann aus den Jahren 1962 und 1963 (10 Br., 1 Tel., 17 Bl.), sowie neun Briefe Celans an Federmann von 1962. Milo Dor: In meiner Heimat leb ich nicht mehr gern. Ein Versuch über Leben und Werk des russischen Dichters Sergej Jessenin. Rundfunkmanuskript 1960. 24 Bl. hekt. (Angabe nach dem Marbacher Nachlaßverzeichnis Celans). Im Nachlaß ebenfalls enthalten ist der Briefwechsel Celans mit Milo Dor zwischen 1953 und 1962 (darin: Österreichischer Rundfunk an Dor, 26.5. 1961; 18 Br., 2 Ktn; 26 Bl.). Ich danke Milo D o r für die Überlassung des Manuskripts. Olschner zitiert in diesem Zusammenhang ein Wort Chagalls über Esenin: »Es kann sein, daß seine Poesie unvollkommen ist, aber ist sie nicht, nach der von Blok, der einzige Schrei der russischen Seele?« Vgl. Olschner, Der feste Buchstab, S. 219. Vgl. »Cto kasaetsja ostal'nych avtobiograficeskich svedenij, - oni ν moich stichach.« - »Was weitere autobiographische Mitteilungen anlangt, so sind sie in meinen Gedichten.« Sergej Esenin: Sobranie socinenij ν trech tomach. Sostavlenie i obscaja redakcija J u . L . Prokuseva. T. III, S. 195. R . Federmann: Villon in der Sowjetunion, S. 38. Ebd., S.45. J35

erkennbar.22 Hier ist daher die weitere Untersuchung in besonderem Maße auf die Ubersetzungsanalyse verwiesen.

a) Ambivalenz von Ubersetzung und Gedicht Schon die Auswahl der übersetzten Gedichte kann einen Hinweis auf die immanente Tendenz der Rezeption enthalten; sie erweist sich bereits im Frühwerk Celans als aufschlußreich. So fällt gerade bei den frühen Ubersetzungen die Tatsache ins Auge, daß sie alle einem Zyklus entstammen, der - entsprechend gängigem Verständnis durchaus nicht als der für Esenin typischste angesehen werden kann. Celan hat sechs Gedichte aus dem späten, erst im Todesjahr des Dichters 1925 abgeschlossenen Zyklus Persidskie motivy (Persische Motive) übersetzt: Vor den Wechsler trat ich heute hin (Ja sprosil segodnja u menjaly), Schaganeh, du mein Lieb {Sugane ty moja, Cagane), Nie war ich am Bosporus zugegen (Nikogda ja ne byl na Bosfore), Safran ist das Licht des Abends hier (Svet vecernij safrannogo kraja), Blau ist die Luft und gläsern ( Vozduch prozracnyj i sinif) sowie Chorassan hat Türen viele (V Chorossane est' takie dveri). Diese Ubersetzungen wurden von Celan selbst nicht veröffentlicht; die Gedichte sind auch (mit zwei Ausnahmen) in keiner der späteren deutschsprachigen Auswahlausgaben Esenins enthalten. Der aus insgesamt 1 $ Gedichten bestehende Zyklus Persische Motive entstand zwischen September 1924 und September 1925 während dreier Reisen Esenins nach Georgien und Azerbajdzan; in Persien selbst ist Esenin dagegen nie gewesen, wiewohl er dies beabsichtigt hatte.23 Die ihn tief beeindruckende Illusion Persiens, die er angesichts von Gärten, Springbrunnen und eines insgesamt fernöstlich anmutenden Ambientes empfing, war von den Freunden, auf deren Daca er sich aufhielt, z.T. wohl bewußt provoziert worden. Gesteigert wurde dies auch noch durch die Bekanntschaft mit der Literaturlehrerin Saganè Nersesovna Tal'jan, die zum romantisch geprägten Vorbild der Perserin in den Gedichten Esenins wurde. Romantisches Vorbild seiner »Persien«-Reise, die ihn im Grunde nur bis in den Kaukasus führte, waren aber auch die Kaukasus22

23

136

So weist beispielsweise der am 15.3.63 erworbene Band mit autobiographischen Aufzeichnungen und Aufsätzen Esenins - insgesamt sehr wertvolles Material für das persönliche Bild und die ästhetischen Positionen des Dichters - keine Lektürespuren mehr auf. In einem Brief vom 8.4.25 schreibt Esenin: »Ja chocu proechat' daze ν Siraz, i dumaju, proedu objazatel'no. Tarn ved' rodilis' vse lucsie persidskie liriki.« (Ich will ferner nach Siraz reisen, und werde, denke ich, dies auch ganz bestimmt tun. Dort wurden schließlich die größten persischen Dichter geboren.) (Übers. C. I.) Esenin spielt damit an u.a. auf Saadi und Hafis. Vgl. Sergej Esenin: Sobranie socinenij, T. III, S. 317.

Aufenthalte der russischen Romantiker Puskin und Lermontov, die für beide initiatorische Bedeutung hatten. Wenn also Esenin im Zusammenhang seiner Pläne, nach Siraz zu fahren, ein muslimisches Sprichwort erwähnt - »I nedarom musul'mane govorjat: esli on ne poèt, znacit, on ne iz Susu, esli on ne piset, znaSit, on ne iz Siraza«24 - dann verbirgt sich dahinter unterschwellig auch der Wunsch, der eigenen russischen Tradition nachzufolgen, und Dichter zu >werdenSchrei< Celan auch den Ursprung der Kunst des europäischen Ostens sah«.35 Wie sehr Celan gerade mit Esenin jene östliche Heimkehr vollzog, belegt ein Brief an Nelly Sachs, der seine Ubersetzungen begleitete: Ich schicke gleichzeitig ein Bändchen Jessenin-Ubersetzungen - hoffentlich enttäuscht es Dich nicht. Vor vielen Jahren, zum erstenmal als Gymnasiast, später als Student in Czernowitz, hatte ich viel Umgang mit diesen Versen; hier, im Westen, kamen sie mir dann wieder, die östlichen, heimatlichen. 3Í

31 32 33 34

35 36

B. Wiedemann: Antschel Paul - Paul Celan, S. 167. Ebd. Vgl. den Kommentar zum Gedicht FW, S. 239. Ein Beispiel der Motivadaption zeigt die deutliche Anlehnung an die melancholische Deutung des Kranichs, der zum ikonischen Grundinventar russischer (Natur)lyrik gehört und in Esenins Dichtung vielfach auftaucht; Celan rekurriert darauf nicht nur im Gedicht Am letzten Tor, einem Abschiedsgedicht aus der Bukowina (»Laß den Stein die Wolke, mich den Kranich sein«, FW 141), sondern auch noch in Gedichten der Niemandsrose, so in einem ersten Entwurf zu Mandorla (1,244), vor allem aber in Bei Tag (I, 262). Vgl. Verf. Die Metamorphose des Kranichs. In: Jahrbuch der Deutschen Schiller-Gesellschaft 38 (1994), S . 9 4 - 1 1 3 . Olschner, a.a.O. S. 219. Paul Celan - Nelly Sachs: Briefwechsel. Herausgegeben von Barbara Wiedemann. Frankfurt a.M. 1993, S. 80. 141

b) Melancholie Da die Esenin-Rezeption Celans offenbar wesentlich an die Übersetzung gebunden war und andererseits im Zeitraum dieser Auseinandersetzung zahlreiche eigene Gedichte entstanden sind, scheint mir eine synoptische Betrachtung sinnvoll, um sich der Frage nach ihrem Verhältnis zu nähern. Anhand der Manuskriptdatierungen von Ubersetzungen und Gedichten läßt sich nun eine genaue Aufstellung machen. Einzig für die Gedichte Keine Halme mehr, Der Frühlingsregen weint und Traumgesichte ließen sich anhand des im Nachlaß befindlichen Materials keine Enstehungsdaten feststellen. Unveröffentlicht, vermutlich auch unvollendet geblieben sind im Marbacher Nachlaß verzeichnete Ubersetzungsmanuskripte zu zwei überaus bedeutenden Texten Esenins, sc. dem Gedicht Preohrazenie (Verklärung) und zum Poem Cernyj celovek unter dem Titel Der schwarze Mann.17 Die hervorgehobenen Gedichte sind die in der Niemandsrose erschienenen Texte Celans: 7.2.58 8. 2.58

9· M S 10. 2.58 10. 2 . 5 8 17. 2.58

23.3.58 26. 4 . 5 8 27. 4 . 5 8 1 2 . 8.58 20.

9.58

25.12.58

5· 3-59 3-59 27· 5-59 15·

28. 5.59

3°· 5-59 1 4 . 6.59 14. 6.59 14. 6 . 5 9 15. 6.59

16. 6 . 5 9 13.Ii.59 30. 5.60 4. 6.60

37

142

In meiner Heimat leb ich nicht mehr gern Herbst Abendbraue Rätselhaftes Goldnes Gehölz Bei den gelben Nesseln Die Stuten, die Schiffe Blaue Himmelsschüssel Keine Klage mehr Fall nicht, Stern Ihr Äcker, nicht zu zählen [Publikationsdatum] Ballade von den sechsundzwanzig Das Wort vom Zur-Tiefe-Gehn Bei Wein und Verlorenheit Es war Erde in ihnen Du Land, dem Regen lieb Wind, tatst gut daran zu wehen Kein Lied nach meinem mehr Hörsts Diese Nacht! Dort übern Teich Dem Abend denkt versonnen nach der Weg Verström, Harmonika Zürich, Zum Storchen Dahinsingt die Fuhre

Es ist zu erwarten, daß die noch ausstehende Analyse gerade dieser Übersetzungen, die von mir zwar eingesehen, aber nicht in die Untersuchung einbezogen werden konnten, das Bild Esenins und seiner Rezeption durch Celan um einige wesentliche Aspekte erweitern wird.

Ii. 6.6ο 19. 6.6ο

20. 6.6ο ι. γ.6ο

9· 7·6Ο ίο. 7·6ο ίο. 7·6ο 11. γ.6ο 12. 7·6ο Ι4· 7·^° Ι5· 7·6ο 27- 7-éo

Selbdritt, selbviert Soviel Gestirne Dein Hinübersein Zu beiden Händen Ein für allemal Wir entfernen uns Chorassan Freund, leb wohl Die schwere Seele träumt von Himmeln Inonien Fort ging ich ZwölfJahre

Die Aufstellung zeigt drei intensive Übersetzungs-Phasen - Februar 1958, Mai/Juni 1959 und Juni/Juli 1960 - , welche die spätere Anordnung der Texte in der Buchpublikation (die, den gängigen Esenin-Ausgaben entsprechend, die Gedichte nicht zyklisch, sondern chronologisch präsentiert) nicht mehr erkennen läßt. Der Beginn von Celans Ubersetzungsarbeit an Esenin fällt noch in die Abschlußphase des eigenen Bandes Sprach gittert der dritte Übersetzungsschub dagegen überschneidet sich bereits mit den ersten Texten der Niemandsrose. Am 30.7. i960 schreibt Celan einen Brief an seinen rumänischen Dichterfreund Alfred Margul-Sperber, bei dem die frühen Celan-Manuskripte verblieben waren. Er bittet ihn an dieser Stelle um seine frühen Esenin-Ubersetzungen, zu einem Zeitpunkt also, zu dem alle später publizierten Ubersetzungen bereits abgeschlossen sind! Ahnlich wie die Mandel'stam-Ubersetzungen entstehen auch die Ubersetzungen Esenins weitgehend zwischen den beiden eigenen Gedichtbänden; man kann davon ausgehen, daß der Band Sprachgitter bis auf das Schlußgedicht Engführung zu diesem Zeitpunkt bereits abgeschlossen, die Arbeit am Band Die Niemandsrose aber noch nicht in die >konzeptionelle< Phase getreten war. Der Dialog mit Nelly Sachs, die jüdische Thematik ihrer Gespräche und die Begegnung mit ihr, wie sie Zürich, Zum Storchen reflektiert, dominieren vor allem im ersten Binnenzyklus dieses Gedichtbands. Das Gedicht Zwölf Jahre, das mit seinem Enstehungsdatum das Ende der EseninUbersetzungen markiert, steht genau in der Mitte dieses ersten Zyklus. Es nimmt in der Rückschau auf Celans zwölf in Paris verbrachte Jahre (er war im Juli 1948 dort angekommen) eine Bestandsaufnahme vor; das darauf folgende 38

Nach der soeben erschienenen Tübinger Ausgabe des Bandes Sprachgitter lassen sich hier folgende Entstehungsdaten ergänzen: 17. 2.-3. 5.58 Engfuhrung-, 19. und 29. 5., sowie 30. 6. $8 Oben, geräuschlos; 28. 5. und 30. 6. sowie 28. 7. 58 Ein Auge, offen; 10. 6. 58 Die Welt; 4. und 5. 8. 58 Bahndämme, Wegränder; Ödplätze, Schutt; 18. 8. 58 Sommerbericht; 26. 8. 58 Niedrigwasser; 30.-31. 8. 58 Ein Holzstern. Anfang November 5 8 erfolgen dann noch letzte Arbeiten am Eingangs- und Schlußgedicht, die Satzvorlage ist am 3. 1 1 . 5 8 abgeschlossen. Vgl. Paul Celan: Sprachgitter. Vorstufen - Textgenese - Endfassung. Bearbeitet von Heino Schmull unter Mitarbeit von Michael Schwarzkopf. Frankfurt a.M. 1996, S. 140.

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Gedicht »Mit allen Gedanken ging ich / hinaus aus der Welt..« kündigt eine wesentliche Veränderung an, die innerhalb dieses Zyklus ihren vorläufigen Abschluß findet in der Gauner- und Ganovenweise. Schon oben wurde auf die verdeckte Bezugnahme des »russkij poèt« Paul Celan auf russische Konstellationen in dieser zunächst Deutschen Weise hingewiesen. Der sich hier anhand der zunächst zufällig erscheinenden Daten der Ubersetzungsarbeit abzeichnende Einschnitt findet jedoch seine deutliche Bestätigung innerhalb des dichterischen Werks Celans. Die Wendung Celans zu dem Russischen, das Mandel'stam für ihn repräsentierte, erfolgte aufgrund einer komplexen Konstellation, die sich in ihrer eigentlichen Bedeutung ganz offensichtlich erst im Laufe des Jahres i960 herausbildete. Zu ihr gehört die akute jüdische Frage, mit der Nelly Sachs Celan konfrontierte ebenso wie die sich seit März i960 zuspitzende Plagiatsaffäre; zu ihr gehört auch die - von Celan als >Persilschein< aufgefaßte Ehrung durch die Verleihung des Büchner-Preises, die ihn andererseits zur expliziten Formulierung seiner Poetik zwang und darin die größtmögliche Annäherung an Mandel'stam manifest macht. Die unwillkürliche Abwendung von der Dichtung Esenins (die Übersetzungsarbeit schien Celan, das zeigt der Brief an Sperber Ende Juli, zu diesem Zeitpunkt nicht unbedingt abgeschlossen zu sein) markiert in diesem Zusammenhang den Beginn einer Konzentration,39 die sich in den folgenden beiden Jahren mit der intensiven Antizipation Mandel'stams und der thematischen Zuspitzung des Bands Die Niemandsrose zwar einen Höhepunkt erreichte, die sich letztlich im existentiellen Bereich aber als bedrohlich und in ästhetischer Hinsicht als Sackgasse erweisen mußte. Die tiefe Krise, die Celan 1963 erlebte, beendete nicht nur seine russischen Lektüren. Erst 1966/67 bei Abschluß der Atemwende versucht Celan erneut den Zugriff auf ein breiteres Spektrum russischer Literatur: er beginnt - wieder - mit Esenin, dessen Gedichte er am 29.Oktober 1966 in einer Sendung des Schweizer Radios vorträgt.40 Gleichwohl läßt sich die über die übersetzerische Auseinandersetzung hinausragende Beschäftigung Celans mit dem Werk dieses Autors besonders schwer einsehen. Mit Ausnahme des zu Beginn angeführten Klappentextes zu seinen Ubersetzungen sind kaum Stellungnahmen Celans zu Esenin überliefert. Auch die durch die Bibliotheksbestände bewahrten Spuren der Rezeption (zu verzeichnen waren immerhin 26 Titel) verraten keinen Impuls der Lektüre wie er an der grundlegenden ästhetischen Konzeption Mandel'stams oder den sprachutopischen Innovationen Chlebnikovs zu beobachten ist. Die offen" Ein nicht unbedeutender Faktor für diese offensichtliche >Abwendung< Celans von Esenin im Sommer i960 aufgrund der beginnenden intensiven poetologischen Auseinandersetzung mit dem Werk Mandel'stams scheint der Beginn der Konzeption der Büchner-Preis-Rede zu sein, die Celan zu diesem Zeitpunkt in Angriff genommen hatte. 40 Vgl. Olschner a.a.O., S. 326.

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sichtlich außerordentlich enge Bindung von Celans Esenin-Rezeption an die Übersetzung (im Gegensatz dazu hat sich die eigentliche Chlebnikov-Rezeption Celans, soweit sie als Impuls für sein eigenes Werk bedeutsam wurde, mehr oder weniger jenseits der Ubersetzungen formiert) darf jedoch in ihrer Relevanz auch für das Celansche Gedicht nicht unterschätzt werden. Die deutliche Ambivalenz von dichterischer und übersetzerischer Auseinandersetzung, die am Frühwerk zumindest ansatzweise beobachtet werden konnte, findet ihre Fortsetzung auch im mittleren Werk, w o die parallel zu den EseninÜbersetzungen entstehenden Gedichte der Niemandsrose gerade im formalästhetischen Bereich gegensätzlich gestaltet erscheinen. Esenin wurde von Celan nicht zum ersten Mal der deutschen Öffentlichkeit präsentiert; Celan konnte mit seiner Auswahl kein eigenständiges Bild aufbauen, wie dies bei Mandel'stam der Fall gewesen war und andererseits zeigte sich sein Verständnis selbst bereits durch bestimmte Vorstellungen präformiert. Es gehört auch zu den gerade innerhalb der Niemandsrose so deutlich zu beobachtenden Verfahren der Verhüllung, daß Celan bestimmte davon abweichende Züge wohl zwar wahrnahm, sie jedoch in der Publikation nicht offenlegte. Die Ambivalenz dieser Beziehung war deutlich geprägt von der offiziellen Anerkennung Esenins in der Sowjetunion wie im Ausland auf der einen Seite, die zu Vereindeutigungen und Festlegungen neigte, und andererseits der Wahrnehmung von abgründigen Zügen, wie sie sich in Gestalt und Dichtung dieses Autors Celan wohl offenbart hatten. Esenins Nicht-Einverständnis mit seiner Zeit und sein innerstes Aufbegehren gegen den Verlust des »Kreatürlichen« und die Selbstzerstörung der Kultur, wie er sie in Ost und West erfahren mußte, brachten ihn Celan näher als irgendeinen anderen der russischen Dichter. Die »Konfrontation« mit Esenin spielt sich jedoch anders als bei Mandel'stam nicht auch auf einer das Gedicht transzendierenden Ebene ab, sondern bleibt in ihm beschlossen. Welche Anforderungen diese scheinbar so anspruchslosen, leichtfüßigen Texte an den Ubersetzer stellen konnte, wird am Gedicht Vytkalsja na ozere deutlich, mit dem Celan seine Esenin-Auswahl eröffnet. 41 Es gehört zu den populäreren, bis heute mehrfach ins Deutsche übersetzten Texten Esenins und war schon 1958 in der ersten deutschen Esenin-Auswahl in einer Version von Adelheid Christoph erschienen: Vytkalsja na ozere alyj svet zari. N a bora so zvonami placut gluchari. Placet gde-to ivolga, schoronjas' ν duplo. Tol'ko mne ne placetsja - na duse svetlo. 41

In einer rumänischen Esenin-Ausgabe, die 1957 in der Übersetzung von George Lesnea im Verlag »Cartea Rusä« in Bukarest erschien, hat Celan eben diesen Text angestrichen und den russischen Titel handschriftlich ergänzt. J

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Znaju, vyjdes' k veceru za kol'co dorog, Sjadem ν kopny svezie pod sosednij stog. Zaceluju dop'jana, izomnu, kak cvet, Chmel'nomu ot radosti peresudu net. Ty sama pod laskami sbrosis' selk faty, Unesu ja p'januju do utra ν kusty. I puskaj so zvonami placut gluchari, Est' toska veselaja ν alostjach zari. 42

Hat das Abendrot den See lichterloh umfahn, weint im dunklen Tannengrund leis der Auerhahn. Goldpirol klagt irgendwo versteckt im Wald, nur mein Herz ist freudenvoll, denn du kommst nun bald. Kommst auf abendlichem Weg mir entgegen scheu, setzen uns bei Nachbars Haus gleich ins frische Heu. Muß dich küssen heiß im Rausch wie ein Blumesblatt werd in meiner Trunkenheit nimmer liebessatt. Weg wirfst du das seidne Tuch, endlich mein zu sein, trag dich, Liebste, bis es tagt, ins Gesträuch hinein. Klagen mag der Auerhahn sanft vom Waldesrand, frohe Schwermut aber steht rot im Abendbrand. 4 3

Die Übersetzung von Adelheid Christoph bestätigt die o.g. Tendenzen der Esenin-Rezeption (nicht nur in Deutschland). Das nicht unbedingt einfach zu übersetzende Gedicht erfährt in der zwingenden Reimfolge eine unerträgliche Banalisierung, die im Bildbereich ihre Entsprechung durch die formelhafte Verwendung pseudoromantischer Klischees von Waldeinsamkeit und trunkener Liebesnacht findet. Die im Russischen hervortretende Dominanz der Klangstruktur des Gedichts verleitete alle bisherigen Ubersetzer zu enormen Zugeständnissen, um nicht zu sagen Verrenkungen, im semantischen Bereich; 44 die durch den Reimzwang notgedrungen häufige Abweichung von einer wortgetreuen Übertragung gibt zugleich das im Russischen zwar ausgesuchte, aber dennoch schlichte und subtil wirkende Motivgeflecht preis und setzt im Deutschen ungleich schwächere, abgegriffene Wendungen dagegen.

42 43

44

V, 164. In: Sergej Jessenin: Liebstes Land, das Herz träumt leise. Gedichte. Nachdichtungen von Adelheid Christoph und Erwin Johannes Bach. Berlin i960. Vgl. dazu auch die deutschen Versionen von Wilhelm Szabo (Sergej Jessenin: Trauer der Felder. Gedichte. Nachdichtungen von W. Szabo. Bad Goisern 1970) und Karl Dedecius (Sergej Jessenin. Gedichte. Ubertragen von Karl Dedecius. Ebenhausen bei München 1988).

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DORT ÜBERN TEICH Dort übern Teich gewoben ist das Rot vom Himmelssaum, der Auerhahn, er klagt, mit ihm klagts aus dem Nadelbaum. Auch sie, die Amsel, klagt und weint und kommt nicht mehr hervor. In mir - nichts, das da weinen wollt, das Herz ist lichtumflort: Den Weg, der dort zum Ring sich schließt, kann ich dich kommen sehn, das Heu, gehiefelt, wartet schon, wir brauchen nicht zu stehn.

Ich küß dich trunken, meine Hand, sie greift dich - greift ein Blatt. Wem Freude seine Sinne raubt, hat Wort und Rede satt. Ich küß die Finger dir dorthin, w o Tuch und Schleier sind, solang die Nacht die Nacht sein will, bleibst du mir trunken, Kind. D u Auerhahn, du klage nur, du tön nur, Nadelbaum: sie ist nicht schwer, die Schwermut dort im Rot vom Himmelssaum. 4 '

Auch Celans deutsche Version entbehrt stellenweise nicht der kitschig-komischen Wendungen (»..wir brauchen nicht zu stehn«; »Wem Freude seine Sinne raubt..«) oder Stilbrüche (»lichtumflort« neben »gehiefelt«, wo Esenin eher normalsprachliche Audrücke wählt); die Schwierigkeiten, die der Übersetzer mit dem um einiges knapperen Original hat, zeigen sich dazu in der längeren Zeilenführung, die durch ein vielfach umschreibendes Übersetzen entstanden ist. Deutlich wird hier wie auch an anderen Stellen (das Gedicht ist unter den Esenin-Texten erst relativ spät übersetzt worden) ein fast manieristisch zu nennender Zug, der auf der häufigen Verwendung gleichbleibender übersetzerischer Verfahren beruht (z.B. die Technik der Umschreibung und Erweiterung des Bildbestands, sowie die Verstärkung der Emphase durch Wiederholungen, Parataxe und Anredeformen). Eher verwirrend wirken einschneidende und durch den Kontext nicht begründbare Abweichungen vom Original an mehreren Stellen. Im fünften Vers Znaju, vydes' k veieru za kol'co dorog, Den Weg, der dort zum Ring sich schließt, kann ich dich kommen sehn

gewinnt man den Eindruck, als >erinnere< der Übersetzer Celan vielleicht eine von ihm selbst in der Übersetzung von Mandel'stams Griffelode gefundene Formulierung: Könnt ich die Finger in den Kies des Lieds von einst tun, wie in eine Wunde, so daß ich Wasser dort und Stein zusammenschließ, den H u f - zum Fingerring dort unten... 46 4

' V, 165

46

V, 143.

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Eine deutlich hypertrophe Übersetzung liegt schließlich im achten Vers vor, w o die Anspielung auf den Dorfklatsch angesichts des ländlichen Liebesabenteuers in unerklärlicher Weise auf eine andere Ebene überführt wird: Chmel'nomu ot radosti peresudu net. (Für den vor Freude Berauschten gibt es kein Gerede) 47 Wem Freude seine Sinne raubt, hat Wort und Rede satt.

Was sich hier als Unsicherheit gegenüber dem Gedicht bemerkbar macht, hat seine Begründung vermutlich in einem Esenin-Verständnis, das den Text gerade dort, w o er sich tatsächlich in den Farben Villons gibt, eine Dimension verleiht, die über ihn hinausreicht. Die durchaus auch im Russischen als O x y m o r o n aufzufassende »toska veselaja« (fröhliche Sehnsucht) erhält in Celans »sie ist nicht schwer, die Schwermut« gerade durch die Wortwiederholung jenes Gewicht, das ihr für den beschriebenen Moment eigentlich abgesprochen wird. Die unübersehbare Dominanz der melancholischen Grundstimmung, die den geläufigen Rezeptionsvorgaben vom russisch-melancholischen Dichter entspricht, erregte bisher noch kaum Verwunderung, da der Celan-Experte unter den Lesern dieser Ubersetzungen in der Regel kaum in der Lage ist, das Gesamtwerk Esenins auf russisch zu rezipieren. D o c h schon der sowjetische Rezensent Lew Ginsburg 4 8 hat die Besonderheit der Auswahl zumindest vermerkt; gleichwohl tritt er nur mäßig kritisch auf, da er der Verbreitung sowjetischer Literatur in Deutschland das Wort reden muß und die »staunenden deutschen Leser« nicht verschrecken darf, die »diesen wunderbaren Dichter erst jetzt entdecken«. 4 ' Er bemerkt aber dennoch, daß Celan gegenüber früheren Ubersetzern (Bach und Dedecius) »Jessenin auf neue Art aufgefaßt hat und in einem kleinen Band den Leser durch das Gesamtwerk des Dichters führt«. Celan habe, so Ginsburg, »mit feinem Gefühl eine strenge und seinen poetischen Neigungen entsprechende Auswahl getroffen«. 5 0 Streng nennt er die Auswahl, weil sie sowohl auf Seiten der Originale wie bei den Übersetzungen nur das wirklich Gelungene präsentiere. Inwieweit sie seinen poetischen Neigungen entspricht, muß erst noch untersucht werden. Wenn es gerade der Aspekt melancholisch gestimmter Retrospektive ist, den Celan mehr als zehn Jahre später, bei seiner erneuten Esenin-Lektüre >wieder-

47

Wilhelm Szabo übersetzt: »Mich hat die Lust betört. Was schert mich das Gered?«, S. 5; Dedecius findet die Formulierung: »Wer denkt an böse Zungen, wenn ihn Lust berauscht?«, S.9. 48 Diese Rezension erschien in der von Moskau aus in deutscher Sprache herausgegebenen Zeitschrift »Sowjetliteratur« N ° 8 vom August 1963, S. 1 7 1 - 1 7 3 ; ein Exemplar dieser Ausgabe befindet sich im Nachlaß Celans. « Ebd. S . 1 7 1 Ebd. 148

findetfalscher Kontexte< zu signalisieren." Im Einzelfall kann dies als Tilgung 99, ιοί, io6, no, 116, 182; dazu kommen noch die später in den Band Mohn und Gedächtnis übernommenen Gedichte S. 154, 171. 52 FW S.9 (»Heimweh«), 33, 36, 75 (»schwere Sehnsucht«). »FWS.26. ' 4 V o n 25 Nennungen des Worts »schwer« und seiner Komposita im Gesamtwerk Celans entfallen allein zehn auf den Band Die Niemandsrose. Dabei verdankt sich der Aspekt der Materialität, des Gewichts der Worte, in diesem Zusammenhang aber auch der Auseinandersetzung mit der akmeistischen Ästhetik. Darauf wird unten noch genauer einzugehen sein. Vgl. Kap. III, 6. 55 Die Tilgung falscher Bezüge läßt sich m.E. auch an einem der Ubersetzungsentwürfe beobachten: Das Gedicht Zapeli tesanye drogi beginnt in der deutschen Druckfassung mit den Versen: »Dahinsingt die Fuhre an schnellen/Büschen vorüber, und singt« (V, 175). Eine der Handschriften verzeichnet das Gedicht unter dem Titel Die Sträucher der Ebene und enthält die Variante: »Die Sträucher der Ebene, die schnellen/ Der Weg mit der Radspur, die singt«. Die Nähe dieser Formulierung zum Gedicht Engführung erschien Celan ganz offensichtlich problematisch (vgl. »Verbracht ins/ Gelände/ mit der untrüglichen Spur:«; »Ein Rad, langsam,/ rollt aus sich 150

bestimmter Formulierungen sogar an den handschriftlichen Gedichtentwürfen nachgewiesen werden ( B e i Tag, MandorlaAndererseits

läßt sich aber an den

Übersetzungen feststellen, daß die Begriffe »toska« und »grust'« hier häufig zu Schlüsselbegriffen werden, die autoreflexiven Bezügen Einlaß ins Gedicht gewähren, wie sie in der eigenen Lyrik zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr möglich waren. So umgeht Celan im Gedicht Ustal ja zit ' in der ersten Strophe die wörtliche Ubersetzung von »toska« und überträgt sie statt dessen in den Bildbereich: Ustal ja zit' ν rodnom kraju V toske po grecnevym prostoram, Pokinu chizinu moju, Ujdu brodjagoju i vorom.

In meiner Heimat leb ich nicht mehr gern, Buchweizen ruft, aus Weiten, endlos großen. Ich laß die Kate Kate sein, bin fern, ich streun, ein Dieb, umher im Heimatlosen.57

Heimat und Heimatlosigkeit werden im Gegensatz zum Original im Deutschen zu den die Strophe umklammernden Begriffen; die Ambivalenz der Gefühle zwischen Heimatverbundenheit und innerer Entfremdung - Esenin schrieb das Gedicht nach seinem vergeblichen Versuch, zurückgekehrt in das heimatliche Dorf, sich in die bäuerliche Umgebung wiedereinzufinden - , wendet sich bei Esenin in den Entschluß, die Heimat trotz der Sehnsucht nach ihr wieder zu verlassen und der verlorenen Geborgenheit ein vagabundierendes Leben vorzuziehen. Celans Übersetzung malt das Bild der Heimat plastischer, konkreter (»Buchweizen ruft« vgl. Bukowina-Buchenland;) und erweitert zugleich den Raum um eine ganze Dimension (»aus Weiten, endlos großen«); der Entschluß zum Vagabundieren (»ujdu«) ist im Deutschen schon Resultat (»bin fern«), das die Perspektive zu bestimmen scheint. Inwieweit Celan hier seine eigene Position miteinbezieht, läßt sich wohl nur intuitiv erfassen und ist einer wissenschaftlichen Analyse unzugänglich. Das Gedicht ist das erste Esenin-Gedicht, das er in Paris übersetzt hat; vier Jahre später spielt das dem Thema von Heimatlosigkeit und Ausgestoßenheit, Exil und Entfremdung gewidmete Gedicht Und mit dem Buch aus Tarussa erneut auch auf solches »Streunen« wieder an. Einen ähnlichen Eindruck einer zumindest ansatzweise identifikatorisch geprägten Übersetzungstendenz 58 erweckt auch das letzte der von Celan übersetzten Gedichte Esenins:

selber...«; I, 197). Eine produktive Nachwirkung dieser >Reflexion< zeigt dann das später entstandene Gedicht Λ la pointe acérée: »Wege dorthin./ Waldstunde an/ der blubbernden Radspur entlang.« (I, 251). ' 6 Vgl. die Kommentare zu Mandorla von L. Olschner, zu Bei Tag von Verf. im Bandkommentar Die Niemandsrose. 57 V, 173. 58 Vgl. Olschner, der auf ein Esenin-Zitat hinweist, das von Celan offensichtlich identifikatorisch eingesetzt wurde; a.a.O. S. 219. 151

Ja pokinul rodimyj dom, Golubuju ostavil Rus'. V tri zvezdy bereznjak nad prudom Teplit materi staroj grust'.

Fort ging ich, mein Haus ist fern, Rußland blaut nicht, wo ich schwärme. Birken, drei, - dreimal der Stern glühn, der Mutter Gram zu wärmen.

Zolotuju ljaguskoj luna Rasplastalas' na tichoj vide. Slovno jablonnyj cvet, sedina U otea prolilas' ν borode.

Mond, ein Frosch, ein goldner, glüht, hingebreitet übers Wasser. Vaters Bart ist weiß durchblüht Es sind Apfelblüten, Vater.

Ja ne skoro, ne skoro vernus'! Dolgo pet' i zvenet' purge. Sterezet golubuju Rus' Staryj klen na odnoj noge.

Wann ich heimkomm? Komm ich je? Schneesturm - lang singt er und läutet... Ahorn, altes Einbein, steh, wach mir über Rußlands Bläue.

I ja znaju, est' radost' ν nem Tem, kto list'ev celuet dozd', Ottogo cto tot staryj klen Golovoj na menja pochoz.

Voller Regen hängt dein Schöpf; küßt ihn wer - du wirst nicht weinen! Ach, ich weiß es ja: mein Kopf, er hat etwas von dem deinen."

Zahlreiche Abweichungen in der Übersetzung führen insgesamt zu einer Akzentverschiebung, die auch Celan als Sprecher >vernehmbar< macht, ohne doch eine semantische Abweichung zu verursachen. Gerade solche Beispiele, die sich im Bereich der Ubersetzungen aus dem Russischen gehäuft finden lassen,60 unterstreichen nicht nur die über ästhetische Erwägungen hinausreichende Nähe Celans zu dieser Literatur generell, sie bestätigen auch die oben ausgeführte These von der prinzipiellen Analogie von Dichten und Ubersetzen als Sprechen in eines Anderem und in eigener Sache. Celan war weder N a c h dichter noch Vermittler; sein Übersetzen war ein neu ansetzendes und damit auch bewußt authentisches Sprechen. Wenn er zur selben Zeit Zweisprachigkeit als Möglichkeit dichterischen Sprechens nicht nur ablehnte, sondern geradezu ausschloßt 1 dann bedeutet dies für das Übersetzen umso mehr die Bekräftigung der Authentizität des eigenen Sprechens, in dem das andere Gedicht nun Gestalt annimmt. Celan entwickelt im Mittelteil dieses Gedichts die Illusion eines Gesprächs, die das Selbstgespräch der Vorlage weiterführt: Vaters Bart ist weiß durchblüht Es sind Apfelblüten, Vater. Wann ich heimkomm? Komm ich je?

" V , 215. Eine frühe Kenntnis des Gedichts vermuten läßt eine Formulierung in dem schon oben zitierten Gedicht Der Jäger: »flammt als mein guter Stern der Feuerfrosch« (FW, 139). 60 Vgl. auch die Evtusenko-Übersetzung (Kap. III, 8). 61 Vgl. »Dichtung - das ist das schicksalhaft Einmalige der Sprache. Also nicht [...] das Zweimalige.« Antwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker, Paris 1961; III, 175.

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Die Erinnerung an den Vater wird zur Ansprache gesteigert, die folgende Frage erscheint dann als Wiederaufnahme eines verlorenen Gesprächsfadens, wobei die Frage nach der Heimkehr in der deutschen Fassung noch weit mehr ins Unwahrscheinliche, wo nicht Unmögliche gesteigert wird (wörtl. »Ich werde nicht bald, nicht bald heimkehren!«). Auch die Erinnerung an den alten Ahorn wird nun als Gespräch gestaltet, so daß schließlich die letzte Strophe gerade durch die Vermeidung identifizierender Begriffe (»list'ev« - Blätter; »staryj klen« - der alte Ahorn) - zusätzlich noch in Bezug auf den Vater lesbar wird. Mehrere Gedichte des Frühwerks suchen die zaghafte Annäherung an den in den »ukrainischen Halden« umgekommenen Vater;62 sie zeigen durchgehend eine bildliche Ambivalenz von Flammen und Glühen gegenüber Evokationen einer weißen Eislandschaft. Auch in der letzten Esenin-Übersetzung läßt sich eine Annäherung an diese Thematik beobachten. Eine mythisierende Verstärkung bindet die Verse drei und vier enger an den Beginn der folgenden Strophe und baut zugleich einen deutlichen Farbkontrast auf von goldenem Glühen und weißer Farbe, damit aber auch von Vergänglichkeit und Tod: Birken, drei, - dreimal der Stern glühn, der Mutter Gram zu wärmen. Mond, ein Frosch, ein goldner glüht,

»Der Mutter Gram« gilt dem in der Ferne verweilenden Sohn; er läßt sich aber in der Übersetzung auch auf den nicht nur ergrauten, sondern schon gestorbenen Vater beziehen. Der Regen, der auf den Ahornblättern liegt, wird dabei zur Antizipation des Weinens (und damit in den Kontext der Totenklage gestellt) in einer Umwendung des Sprachgestus von einer positiven Wendung (»I ja znaju, est' radost' ν nem« - Und ich weiß, es ist Freude in dem..) in einen durch Substitution gewonnenen negativen Ausdruck. So liest sich die melancholische Grundstimmung, die durch Sehnsucht und Trauer schmerzhaft artikulierte Erfahrung der Entfremdung, die die meisten der von Celan für die Ubersetzung ausgewählten Gedichte bestimmt, nicht nur als Typikon der Dichtung Esenins; sie enthält auch einen für Celans eigene Entwicklung wesentlichen Grundzug, der im Bereich des mittleren Werkes von ihm so nicht mehr berührt werden konnte und sich gleichwohl als vielleicht unbewußte (oder aber fatal determinierende) Antizipation jenes Schicksals erweist, das Esenin, der Welt entfremdet, schließlich aus dem Leben gehen ließ. Die zeitliche Nähe von Ubersetzungen und eigenen Gedichten steht - wie schon im Frühwerk, jedoch in umgekehrter >Richtung< - in Widerspruch zu der ungeheuren Diskrepanz zwischen Celans Übersetzungssprache und dem Sprechen des (eigenen) Gedichts. Sie mindert ganz offensichtlich die Bedeutung, die 61

Vgl. hier vor allem das Gedicht Schwarze

Flocken, F W 129.

153

die Beschäftigung mit Esenin für das eigene Dichten haben konnte und verweist umso deutlicher auf die Einflüsse anderer zur selben Zeit rezipierter Autoren, so unter den russischen vor allem Mandel'stam, aber auch, mit Blick auf den formalen Bereich, Chlebnikov. Gerade die formale wie poetologische Entwicklung Celans stand ab der Zeit in Bukarest unter der Dominanz romanischer Einflüsse; sie finden sich als nach-surrealistische Einsprengsel im Gedicht wieder. Die ablehnende Haltung gegenüber russischer Dichtung in der ersten Pariser Zeit, die Raïs explizit auch auf Esenin bezieht - »Esenina on znal uze i ran'se i toze ne osobenno ego uvazal« (Esenin kannte er auch schon von früher und schätzte ihn ebenfalls nicht besonders) - ist ernst zu nehmen. Sie steht im Zusammenhang dieser geistigen wie existentiellen Zugehörigkeit zu einem vor allem vom Französischen geprägten Raum, die Celan zunächst eben im formalen Bereich forciert hatte, von der er sich andererseits aber gerade im Laufe der fünfziger Jahre zu emanzipieren suchte. Zu dieser innerlichen Emanzipation gehörte neben anderem ganz offensichtlich auch die >Entdeckung< neuer Bildbereiche; daß er solche gerade bei dem Imaginisten Esenin kennenlernen konnte, wurde bisher zu Unrecht kaum beachtet.63 Wo Celan über Esenin bestimmte Bilder oder bildliche Konstellationen kennenlernt, die als spezifisch russisch gekennzeichnet sind, ist der >Nachweis< einer Vermittlung gerade durch diesen Autor schwierig; dies wurde bereits am Beispiel der melancholischen Deutung des Kranichs gezeigt, ein Bild, das zum ikonischen Grundinventar russischer Naturlyrik gehört und in dieser Funktion in mehreren der von Celan übersetzten Esenin-Texte wie auch in eigenen Gedichten mehrfach auftaucht.' 4 Die Auseinandersetzung mit Esenin auf dem Wege der Ubersetzung unterscheidet sich wesentlich von den Wegen, die seine Dichtung zur selben Zeit einschlug. In beiden Bereichen konkurrieren thematische Aspekte und Fragen der Ästhetik, auf die Celan unterschiedlich reagierte. Während er der Dichtung Esenins in verstechnischer Hinsicht, in Rhythmus und Sprachgestus im Rahmen der Ubersetzungen unvergleichlich nahe kommt, ist eine poetische Entfernung gerade da zu beobachten, wo Ubersetzungen und Gedichte in großer zeitlicher Nähe zueinander entstehen. Die zunächst in Paris geäußerte Ablehnung Esenins täuscht darüber hinweg, daß Celan gerade im Bildbereich von der eigentlich spezifischen Kraft seiner Dichtung - die Verskunst Esenins ist über-

63

64

154

Lediglich Olschner verweist ansatzweise auf das Motiv der Lippen; vgl. L . M . Olschner: Der feste Buchstab, S. 22 j. Vgl. Verf.: Die Metamorphose des Kranichs. Beobachtungen zu einem poetischen Verfahren im Gedicht Celans. Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 38 (1994), S. 9 4 - 1 1 3 .

ragend, im Rahmen russischer Dichtung aber vergleichsweise traditionell deutlich inspiriert worden ist, und das schon seit dem Frühwerk. Die Betonung der melancholischen Grundstimmung in der 1961 publizierten Gedichtauswahl entspricht einer inneren Gestimmtheit Celans; sie hat Teil an der von schwermütigen Gefühlen der Sehnsucht (toska) und Trauer (grust') geprägten östlichen »Heimkehr«, die Celan um i960 emotional versucht; sie wird andererseits zum Grundstein der unmittelbar nach Abschluß der EseninUbersetzungen, ab Mitte i960 einsetzenden und vor allem an dem Werk Mandel'stams orientierten Interpretation der Position des Dichters als der eines Verbannten.

c) Der »andere« Esenin Neben der unverkennbaren Dominanz des Melancholischen in der Auswahl der übersetzten Gedichte muß jedoch darauf hingewiesen werden, daß die Sammlung auch Texte enthält, die sich nicht nur einer ganz anderen Thematik widmen, sondern dazu auch in einem von den übrigen sich deutlich abhebenden Sprachgestus geschrieben sind, der unbedingt Aufmerksamkeit verlangt. Schon Olschner erwähnt Celans Intention »rétablir l'image du poète proche de la Révolution d'octobre«.6' Die Revolution selbst, der sich Celan auch in Ubersetzungen Mandel'stams, Bloks und Chlebnikovs widmete, enthält dabei jedoch nur einen Aspekt. Die Ballade von den 26, Die Zwölf oder Sieben unterscheiden sich wesentlich von einem zweiten Typus dichterischer Reaktion auf die umgestürzten, die sich verkehrenden Verhältnisse. Am 14.7. i960 übersetzt Celan Esenins Inonien, ein Gedicht, das unter dem Eindruck der dramatischen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen unmittelbar nach der Revolution im Januar 1918 entstanden war. Hier verdient vor allem die Art, wie Esenin spricht, Beachtung. Die provokante Hybris und die blasphemische Ironie von Inonien haben Esenin, dem »goldlockigen Bauernburschen«, unter seinen Zeitgenossen viel Kritik eingebracht; sie offenbaren aber auch die Intention einer >AbrechungUtopien< der russischen Vergangenheit (verbürgt durch die Namen »Kitez» und »Radonez») wie mit den technischmodernistisch geprägten, von Amerika und Europa her eindringenden >Utopien< der Gegenwart. Dem entgegen setzt er ein selbstbewußtes und autokrates »Prophetentum« und den Entwurf einer anderen, wesentlich organisch gestalteten Welt - Inonien. Dieses Anderssein als Antwort und Gegenentwurf wird im Gedicht deutlich pointiert: Nicht nur, daß sich der Autor selbst als Prophet bezeichnet (V. 3/4: »tak govorit po biblii/ Prorok Esenin Sergej«; wörtl. »so spricht gemäß der Bibel/ Der Prophet Esenin Sergej«), in der Religionskritik selbst wird die Alternative auch schon verankert: V. 11 Ja inoe postig ucenie

(wörtl. Ich habe eine andere Lehre erfahren) die Lehre war mir zuteil

V. 13 Ja inoe uzrel prisestvie -

(wörtl. Ich habe eine andere Auferstehung erlebt) Die Wiederkunft, die ich schaue:

V. 39 Ja inym tebja, gospodi, sdelaju,

(wörtl. Ich schaffe Dich, Herr, als einen anderen) wirst du mir ein anderer, Gott!

V. 47 Obesiaju vam grad Inoniju

(wörtl. ich verspreche euch »Anderstadt«) Ich verheiß euch das Land Inonien, (wörtl. Auf andere Weise über unserer Krümmung schwoll, eine unsichtbare Kuh, Gott) Und drüber schwoll Gott: eine runde und unsichtbare Kuh.

V.79 Po-inomu nad nasej vygib'ju Vspuch nezrimoj korovoj bog

V. 83 Vse ravno - on inym otelitsja

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V, 194-213·

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(wörtl. Egal — er als ein anderer kalbt

Solncem ν ñas russkij krov

die Sonne in unser russisches Haus) Er wirfts - wirft die neue Sonne in unser russisches Haus

Es ist die Möglichkeit, wenigstens im Geist, in der Vision, im Wort, im Aufschrei ein Anderes zu konstituieren und damit Ausdruck der Hoffnung, der historischen Determination zu entgehen und autonomes Subjekt zu sein. Vladimir Cernjavskij, ein naher Freund Esenins, berichtet, dieser habe damals von Inonien wie von einer wirklich existierenden Stadt gesprochen - Zeichen dafür, wie intensiv sich Esenin in diese Vision Inonien hineingedacht hatte. An der Ubersetzung Celans fällt auf, daß er, wo immer es sich vermeiden läßt, das hier sehr bedeutende Prädikat »anders« nicht übernimmt. Der etymologische Bezug zu »Anderland« (bzw. »Anderstadt«) entfällt auch dadurch, daß Celan »Inonija« nicht übersetzt, sondern als Fremdwort ins Deutsche einbringt und ihm so den Status eines Namens verleiht - und damit jenen >EchtheitscharakterRevolution< der Poesie schon an, die Blok im nachhinein als Vorläufer der späteren Futuristen im Formalen erkennen lassen, wenngleich er in Inhalt und Sprachgestus, vor allem aber in der Bewahrung der Musikalität seiner Dichtung dem eher romantisch-symbolistischen Ideal noch verbunden bleibt. Bezeichnenderweise gewinnt der Symbolist Blok im Rahmen von Celans Beschäftigung mit dessen Werk kaum Kontur, läßt sich ansatzweise nur als Gegenstück zur akmeistischen Bewegung erkennen.7 Es ist der späte, der skythisch dichtende Blok, der Celan faszinierte vor allem und ziemlich ausschließlich durch das von ihm übersetzte Poem Die Zwölf. Und hier sind es zwei Aspekte, die das Gedicht zu einem der wichtigsten poetischen Texte der russischen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts machen: es ist die erste poetisch bedeutsame (und zugleich eine ambivalente Haltung artikulierende) Antwort auf die Oktoberrevolution, und es ist - jenseits der Diskussion um seine umstrittene inhaltliche Aussage - andererseits im Unterschied zu den vielen gleichzeitigen und folgenden Texten, die sich diesem Thema widmeten, bewußt anti-agitatorisch und anti-dogmatisch konzentriert auf eine ästhetische Aussage, die in einer geradezu artistischen Komposition hochgradig polyphone Strukturen schafft und sich so in eigentümlicher Weise als das eigentliche chef d'oeuvre eines reifen Dichters erweist. Die Poesie der russischen Symbolisten war extensiv und räuberisch: Bal'mont, Brjussow, Andrej Belyj entdeckten neue Landstriche für sich, verwüsteten sie und zogen weiter wie Konquistadoren. Bloks Poesie war von Anfang bis Ende, von den >Versen

Neuerer in der Literatur vorstellen, kommt einem ein englischer Lord in den Sinn, der im Parlament mit großem Takt einen Gesetzesentwurf vorbringt. Es war ein bestimmter nicht russischer, eher englischer Konservatismus. Literarische Revolution im Rahmen von Tradition und untadeliger Loyalität. Angefangen bei der direkten, beinahe schülerhaften Abhängigkeit von Wladimir Solowjow und Fet, hat Blok bis zum Schluß keine einzige der übernommenen Verpflichtungen gebrochen, keine Pietät verletzt, keinen Kanon mit Füßen getreten. E r machte sein poetisches Credo mit immer neuen und neuen Pietäten nur komplexer [...]. Bloks literarische Weichheit war keineswegs Charakterlosigkeit: Ungewöhnlich stark empfand er den Stil wie eine Tier- oder Pflanzenart, deshalb sah er das Leben der Sprache und der literarischen Form nicht in Brüchen und Zerstörungen, sondern in Kreuzung und Paarung verschiedener Arten und verschiedenen Blutes, als ein Aufpropfen verschiedener Früchte auf ein und denselben Baum.« O. Mandelstamm: Der Dachsbau. In: Essays I, S. I42Í. 7

Vgl. Celans ebenso kritische wie emphatische Lektürenotiz in einem Aufsatz Bloks über die Gruppe der Akmeisten unter dem Titel »Bez bozestva, bez vdochnoven'ja (Cech akmeistov)« (Ohne Gottheit, ohne Begeisterung): »Verkennung!« (In: A . Blok: Socinenija ν dvuch tomach. Tom II: Oíerki, stat'i i reci. Iz dnevnikov i zapisnych knizek. Pis'ma [Werke in zwei Bänden. Zweiter Band: Essays, Abhandlungen und Reden. Aus den Tage- und Notizbüchern. Briefe]. Moskva 195 5, S. 361-370, v.a. 368; vgl. Verz. Nr. 41).

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von der Schönen Dame«' bis zu >Die Zwölf«, intensiv und kulturschöpfend. Die thematische Entwicklung von Bloks Poesie verlief von Kult zu Kult. Von der Unbekannten« und der >Schönen Dame« über >Schaubude< und >Schneemaske< zu Rußland und zur russischen Kultur, und weiter zur Revolution als der höchsten musikalischen Intensität und dem katastrophischen Wesen der Kultur. Die seelische Verfassung eines Dichters tendiert zur Katastrophe. Kult und Kultur aber setzen eine verborgene und geschützte Energiequelle voraus, gleichmäßige, zielgerichtete Bewegung: >Die Liebe, die Sonne und Gestirne bewegt«. Dichterische Kultur entsteht aus dem Bestreben, die Katastrophe abzuwenden, sie in die Abhängigkeit von der Zentralsonne des ganzen Systems zu bringen, sei es die Liebe, von der Dante gesprochen hat, oder die Musik, zu der Blok letzten Endes fand...'

Ihn gerade in der Intensität seiner kulturschöpfenden Tendenz als den übrigen Symbolisten entgegengesetzt darzustellen, heißt Blok der kulturzentrierten ästhetischen Position Mandel'stams mehr anzunähern, als dies aus literarhistorischer Sicht möglich erscheint. Gleichzeitig werden damit jedoch in nuce eine Reihe von Aspekten deutlich, die Celans Interesse für Blok und die Ubersetzung seines Poems Die Zwölf im Kontext seiner Beschäftigung mit Russischem erläutern können. Denn der unvermeidbare stilistische Synkretismus Bloks, auf den Mandel'stam im selben Essay ebenfalls hinweist, zeigt ihn einmal mehr als Dichter einer Schwellensituation, der exemplarisch Antwort zu finden versucht auf das historische Faktum der Revolution, die nicht nur als Untergang der alten und als Anbruch einer neuen Zeit zu werten ist, sondern zugleich mit dem als Revolution sich artikulierenden »katastrophischen Wesen der Kultur« die generelle katastrophische Befindlichkeit des Dichters umso deutlicher zum Ausdruck bringen kann. Die harmonisierende Kraft der Musik und die harmonisierende Macht der bezeichnenderweise erst am Ende des Poems erscheinenden Christusgestalt bezeugen somit die Realisierung einer letzten ästhetischen Utopie, wie sie konsequenter und radikaler wohl zu diesem Zeitpunkt nicht hätte gedacht werden können. Von Celan aus antizipiert der Gestus des Poems aber gerade in der erscheinenden Christus-Gestalt jene Absurdität des >Gegen-

8

Mandel'stam nennt hier die wichtigsten Werke Bloks, die zugleich dessen wesentliche Schaffensphasen charakterisieren: Die Stichi o Prekrasnoj dame (Die Verse von der Schönen Dame), die seinen Ruhm begründeten, die Pesni Neznakomoj (Gedichte an eine Unbekannte) bis zu seinen Stücken Balagancik (Die Schaubude) und Sneinaja maska (Die Schneemaske). 9 SS II, S. 317; dt. O. Mandelstamm: Essays I, S. 145. Der Essay wurde erstmals veröffentlicht in der Zeitschrift Rossija zum ersten Todestag Bloks im August 1922; erneut in Mandel'stams Essayband O poezii (1928) und wieder in O. Mandel'stam: Sobranie socinenij 1955. In dieser Ausgabe las Celan den Aufsatz vermutlich schon früh, zur Zeit der Ubersetzung; zu seinen Annotationen vgl. Verz. Nr. 234. Nicht unbedeutend erscheint hier auch das Dante-Zitat, das zum einen auf dessen Dante-Begeisterung aufmerksam macht und zum anderen ein Motiv anspricht, das - von hier aus? - auch für Celans Dichtung bedeutsam ist: »Die Liebe, die Sonne und Gestirne bewegt« (Paradiso X X X I I I , 145), der letzte Vers der Divina Commedia (vgl. unten Kap. III, 5).

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wortsLeseanweisung< an Blok selbst, dessen von skeptischer Zukunftserwartung geprägte Notiz nun »in einer anderen Zeit« geradezu als Auftrag an den heutigen Leser vermittelt wird. Die Zeitbedingtheit und Zeitgebundenheit, die die Wirklichkeit des Textes, seine Entstehung wie seine Rezeption, bestimmen, erscheinen hier in einer Dialektik, wie sie Celan selbst generell formulierte:

14 15

Vgl. oben Anm. 7. Einführender Text Celans zur Block-Übertragung. In: Alexander Block: Die Zwölf. Frankfurt a.M. 1958, S. 5. Wiederabgedruckt in V, 623. Celans Einführung konzentriert sich ausschließlich auf den übersetzten Text; Anmerkungen zu seinem sonstigen Werk sowie seiner Zugehörigkeit zum Symbolismus sind ausgespart. 163

»das Gedicht ist nicht zeitlos. Gewiß, es erhebt einen Unendlichkeitsanspruch, es sucht durch die Zeit hindurchzugreifen - durch sie hindurch, nicht über sie hinweg«. 16 Wenn Olschner konstatiert: »Es war ohne Zweifel die mehrschichtige und mehrdeutige Textur des Revolutionsgedichts - die vielen offenen Fragen - , neben Bloks Neigung zum Mystischen, die Celan an diesem Gedicht anzogen und herausforderten«,' 7 dann zeigt sich dieses prinzipielle Offenhalten allein in der Vorrede schon in der zugleich zusammenfassenden wie differenzierenden dreifachen Frage »Mythos? Dokument? Hymne oder Satire auf die Revolution?« - es sind thematische und Aspekte der Gestaltung, auf die Celan hier hinweist und die er zugleich offen hält. Die Celansche Blok-Ubertragung hat erstaunlicherweise in der Forschung bisher kaum Aufmerksamkeit gefunden. Mit Ausnahme relativ zahlreicher Rezensionen und einzelner übersetzungskritischer Ansätze ist ähnlich wie bei der Mehrzahl der Ubersetzungen Celans aus dem Russischen die Frage nach Motivation und Tendenz ebensowenig gestellt worden, wie die nach dem Kontext zum eigenen Werk. Die erste Rezension erschien aus der Feder von VI. Markov, 18 das vorläufig letzte Wort hatte die dem übersetzerischen Gesamtwerk Celans gewidmete Arbeit L.M. Olschners. 1 ' Doch auch Olschner unternimmt keine eingehende Analyse der Blok-Ubersetzung (Ansätze dazu sind auch bei Rexheuser und jüngst bei Bidney 20 zu finden), wenngleich er zum ersten Mal das grundsätzliche Problem der Untersuchung formuliert. So wie die von slavistischer Seite unternommene Interpretation des Poems schwankt zwischen der Diskussion formaler oder thematischer Aspekte, von Bloks >Stellungnahme< zur Realität des Revolutionsgeschehens bis zur umstrittenen (Be)deutung der Christusge-

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III, 186; auf die Parallele dieser Konzeption hat schon Olschner hingewiesen, vgl. L . M . Olschner: Der feste Buchstab, S. 216.

'7 Ebd., S . 2 1 5 . 18 Vladimir Markov: Paul' Celan i ego perevody russkich poètov. Grani 44 (1959), S. 2 2 7 - 2 3 0 (vgl. Verz. Nr. 377). ' ' A.a.O. S. 2 1 3 - 2 1 7 . vgl. auch Fritz Mierau: Z u m Problem der deutschen Ubersetzung sowjetischer Lyrik. Zeitschrift für Slawistik 8 (1963), S . 7 5 5 - 7 6 5 , v.a. 7 5 7 , 759, 7 6 1 , 763; Jürgen P. Wallmann: Schöpfer und Nachschöpfer der Sprache. In: Echo der Zeit, 23.2.64; Fritz Mierau: Sturmgesang und Maskenspiel. Nachwort zu Blok, Die Zwölf. Ein Poem. Deutsche Nachdichtung von Paul Celan. Mit fünf Schablithographien von Rolf Münzer. Leipzig 1977, S.78. 20

Adelheid Rexheuser: Die poetische Technik Paul Celans in seinen Ubersetzungen russischer Lyrik. Arcadia 10 (1975), S. 2 7 3 - 2 9 5 . Vgl. auch Martin Bidney: Paradoxical Homage: Celan's Strategies for Translating Evtushenko and Other Russian Poets. In: The Poetry of Paul Celan. Papers from the Conference at the State University of N e w York at Binghamton October 2 8 - 2 9 r 988. Edited by Haskell M . Block. N e w York, Berlin, Bern et. al. 1 9 9 1 , S . 4 4 - 6 0 , v.a. 47f.

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stalt,21 so muß auch die Übersetzungskritik beide Dimensionen berücksichtigen: Zum einen die Frage der grundsätzlichen Nähe Celans zu Textaussage und Textgestalt, die ihm Motivation für die Ubersetzung gewesen sein kann, zum anderen dessen enorme Anforderungen im sprachlichen und formalen Bereich, die ihrerseits Übersetzungsreiz und -gewinn bedeuten. Die sprachliche und strukturelle Vielschichtigkeit des Poems, das unterschiedliche Sprachschichten und volkstümliche Formen (Tanzlied, castuska etc.) integriert in die Darstellung von Klängen, dem >Rauschen< und Lärmen der Zeit, macht es zu einem der herausragendsten Beispielen moderner Dichtung in Rußland überhaupt. Die Übersetzungsanalyse hätte nach Olschner deren Umsetzung in deutsche Äquivalente zu untersuchen; wegen des Textumfangs des Poems kann dies sinnvoll nur in einer vor allem auf die einzelnen Verfahren der Textgestaltung konzentrierten umfangreichen Einzelanalyse geschehen, wie sie im Kontext der hier maßgeblichen Fragestellung nicht möglich ist. Sie hätte zudem neben den handschriftlichen Entwürfen nach Möglichkeit auch die zahlreichen Korrekturen Celans in dessen Handexemplar mitzuberücksichtigen.22

b) Skythische und andere Revolutionsgedichte Die Übersetzung des Poems Die Zwölf von Aleksandr Blok ist die erste Übersetzung aus dem Russischen, die Celan drucken läßt;23 sie erscheint als Buch schon 1958. Entstanden ist sie im Februar desselben Jahres, in unmittelbarer Nähe zur ersten poetologischen Äußerung Celans, der Bremer Rede (gehalten am 26.1.58). In späteren Jahren wird keine weitere Auseinandersetzung mit dem Werk Bloks bekannt; die Wiederveröffentlichung der Übersetzung im Band Drei russische Dichter (1963) sowie die gelegentlichen Lesungen des

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Vgl. L.Certkov: Ob obraze Christa ν poème Dvenadcat'. In: Voprosy literatury 16 (1972) N ° 8, S. 252^; M. Sendich: Blok's The Twelve. Critical Interpretations of the Christ Figure. In: Russian Literatur Triquarterly. (Michigan) 4 ( 1972), S. 44 5-472; Sergei Hackel: The Poet and the Revolution. Alexandr Blok's The Twelve. Oxford 1975, S.ijoff. Der Band befindet sich gegenwärtig noch in Paris (Alexander Block: Die Zwölf. Aus dem Russischen übertragen von Paul Celan. Frankfurt a.Main 1958; vgl. Verz. Nr. 48). Ubersetzt in den Tagen vor dem i7.Februar 1958. In einem Brief an Petre Solomon vom 17.2.58 heißt es: »II y a quelques jours, j'ai terminé la traduction des >Douze< d'Alexandre Block.« In: Petre Solomon: Briefwechsel mit Paul Celan 1957-1962. Neue Literatur 32 (1981), H. 1 1 , S. 62. Die Übersetzung fällt damit zusammen mit der Übertragung der ersten Esenin-Gedichte, vgl. oben Kap.III, 1. Die auf G. Baumann und A. Kittner zurückgehende Vermutung Olschners, Celan habe im Bereich des Frühwerks auch Blok übersetzt, ließ sich durch die im Sperber-Nachlaß erhaltenenen frühen Überstzungsmanuskripte nicht bestätigen. Vgl. Olschner, a.a.O. S. 137. 165

Poems (1966 in Hamburg) bestätigen eher die Gültigkeit dieser Arbeit, als daß sie auf eine Fortsetzung der Lektüre deuten. So tritt die Blok-Übersetzung in ihrer Singularität neben die Einzelübersetzungen von Evtusenko (Babijjar) und Slucevskij (Upala molnija), Majakovskij (Flejta pozvonocnik) und Pasternak (Otplytie), wobei die beiden letztgenannten von Celan selbst nicht publiziert wurden. Sie gewinnt Kontur aber auch im Vergleich mit mehreren anderen von Celan aus dem Russischen übertragenen Gedichten, die ebenfalls als Reflexe auf die Revolution verstanden werden können. Beachtenswert erscheint mir das an der Auswahl des jeweils Ubersetzten sich deutlich konturierende Interesse Celans für Texte, die sich mit dem Faktum der Revolution auf eine Weise auseinandersetzten, die nicht nur undogmatisch und alles andere als agitatorisch war, sondern die sich vor allem durch eine auf das Kreatürliche gerichtete Perspektive auszeichnet. Hier erscheinen Zusammenhänge zu weiteren Texten: Das ebenso programmatische wie prophetische Poem Semero (Sieben) von Chlebnikov oder Esenins Ballade von den 26 sind in nicht allzu großer zeitlicher Distanz von Die Zwölf übersetzt worden. Allen diesen Texten (und es wären noch weitere etwa von Mandel'stam zu nennen) ist gemeinsam, daß sie im Kontext des Gesamtwerks ihres Autors als eher untypische Werke gelten können;24 damit ist zugleich aber auch schon gesagt, daß »die Revolution« für Celan wohl weniger politisches Thema, denn die Existenz berührende Frage gewesen ist, die im ästhetischen Bereich eine bestimmte Antwort forderte. Die präzise auf die jeweilige Gesamtstruktur eingehende Ubersetzungsanalyse steht für alle genannten Texte noch aus. Daneben macht aber gerade der skizzierte Kontext eine Dimension vor allem der Blok-Lektüre für Celan erkennbar, welche die Ubersetzungsanalyse allein nicht aufdecken kann. Denn auf die konkrete und spezifische Textgestalt, die zum Teil genrehafte Züge annimmt, konnte Celan, dessen Sprache und Gedicht sich stilistisch wie thematisch zu dieser Zeit in ganz anderen Bahnen bewegten, nicht direkt Bezug nehmen; dennoch scheint gerade diese Übertragung die poetische Annäherung Celans an Russisches erst eigentlich initiiert zu haben. Geht man, wie es die bisherige Untersuchung der erhaltenen Dokumente nahelegt, von einem Beginn der (erneuten) Beschäftigung mit russischer Dichtung im Verlaufe des Jahres 1957 aus,so wird deutlich, daß der Beginn der übersetzerischen Auseinandersetzung Anfang 1958 mit der Wahl des Blokschen Poems zum einen dem künstlerischen Rang dieser Dichtung Rechnung trug, andererseits dem Erwartungshorizont des deutschen Lesers entgegenkam (bekanntes, >klassisches< und doch undogmatisches Revolutionsgedicht). Zugleich konnte Celan - ähnlich wie im Fall der im selben Zeitraum neu erar24

Umgekehrt sind die berühmten Dichter Rußlands, die sich dem Thema der Revolution exklamatorisch näherten, von Celan übergangen worden, so beispielsweise Majakovskij. Vgl. Kap.III,3·

τ 66

beiteten Übersetzungen von Rimbaud (Bateau ivre) und Valéry (La jeune parque) - mit der persönlichen Anforderung, die das Werk an den Ubersetzer stellte, auch neue Maßstäbe innerhalb der übersetzerischen Tradition setzen. Gerade der Vergleich mit der Rimbaud-Übertragung erweist sich hier als aufschlußreich auch für die Beschäftigung Celans mit einem der berühmtesten russischen Poeme überhaupt, das bis 1958 bereits mehrfach ins Deutsche übersetzt worden war.25 Olschner zitiert im Zusammenhang der Frage, »welche konkreten Anlässe Celan zur Wahl dieser Dichtung [sc. Le Bateau ivre], der bekanntesten Rimbauds und einer der bekanntesten der moderneren französischen Literatur überhaupt, bewogen haben,«26 eben jenen Brief Celans an Petre Solomon, in welchem dieser sich auch zur Blok-Übertragung äußert. Celan nennt an dieser Stelle die Rimbaud-Übersetzung »la première vraie traduction allemande« und situiert damit seine übersetzerische Intention deutlich zwischen der hohen künstlerischen Anforderung, die das Werk an den Übersetzer stellt, und der Abgrenzung der eigenen Leistung gegenüber den bisherigen Übersetzungen. Ahnlich könnte es sich auch mit der ursprünglichen Motivation für die Blok-Übertragung verhalten haben; die Übersetzungskritik hat dementsprechend intensiv trotz der übersetzerischen Abweichungen Celans herausragende Leistung gerade im Vergleich zu den Versuchen seiner Vorgänger gewürdigt. Auffällig bleibt, daß Celan später sowohl aus dem Französischen wie aus dem Russischen fast ausschließlich solche Texte übersetzt hat, die bis dahin nicht im deutschen Sprachraum präsent waren. Osip Mandel'stam als erster ins Deutsche übersetzt (und ihn damit dem Vergessen entrissen) zu haben, war für Celan vermutlich ebenso wesentlich wie das Engagement einzelner deutscher Übersetzer beispielsweise für Pasternak und Majakovskij seine Aktivität in diesem Bereich eher einschränkte. Celans ursprüngliche Motivation für die Blok-Übertragung scheint also zunächst eher äußerlich begründet und noch in keinem sichtbaren Zusammenhang zur eigenen dichterischen Arbeit zu stehen, eine Differenz, die sich durch einen Vergleich mit den im selben Zeitraum entstandenen eigenen Gedichten 25

Bis zum Erscheinen von Celans Übersetzung sind bereits sechs deutsche Versionen von Die Zwölf publiziert worden: Arnold Ulitz (in: Der Neue Merkur, München 1920, Heft 3); Reinhold von Walter (zusammen mit Die Skythen, Berlin 1920; erneut 1921 in: Die Aktion X I [1921] Nr. 27/28, S.383-J90); Wolfgang E. Groeger (Berlin 1920 und erneut 1921 [vgl.Verz.Nr. 47]; Neu-Übersetzung in Auszügen in der Zeitschrift Der Querschnitt, III [1923], H.3-4, S. 167-169); Savielly Tartakower (in: Das russische Revolutionsgedicht. Wien et al. 1923 und 192 5, S. 39-48); Josef Kalmer (in: Weltanthologie des X X . Jahrhunderts. Erster Band. Europäische Lyrik der Gegenwart 1900-1925. Wien-Leipzig 1925, S. 120-133); Rudolf Plank (in: Russische Dichtungen. Karlsruhe 1946, S. 109-123); Johannes von Guenther (in: Die Fähre 1 1 , München 1947, 8.643-651; erneut 1947 in A. Blok: Gesammelte Dichtungen, München 1947 [vgl.Verz. Nr. 4;] und als Einzeldruck Stuttgart 1966).

26

L.M. Olschner: Der feste Buchstab, S. 165.

167

leicht bestätigen läßt. Die intensiven Wechselbeziehungen zwischen rassischer Dichtung und dem eigenen poetischen Schaffen werden also offenbar erst mit der Wiederaufnahme der Esenin-Ubertragungen wirksam, die, wie bereits dargestellt, ein verschüttetes Potential erneut an die Oberfläche treten ließen und dann mit der Hinwendung zu Mandel'stam eine unvergleichliche Nähe von Dichtung und Ubersetzung ermöglichten. Die dabei wesentlichen Aspekte von »Begegnung« und »Gespräch« sind ganz offensichtlich im Bereich der Arbeit an der Blok-Übertragung noch nicht relevant, ebenso wenig wie sich eigentliche Bezugnahmen Celans auf diesen Text bisher nicht belegen lassen. Und doch scheint es bestimmte Impulse zu geben, die von Die Zwölf ausgingen, und die im Folgenden untersucht werden sollen. Wie bereits angesprochen, scheint die Revolution zumindest zeitweise das Zentrum von Celans Interesse für eine bestimmte Epoche der russischen Literatur bestimmt zu haben, die Revolution aber nicht nur als historisches Faktum, sondern auch als prinzipielles strukturveränderndes und strukturbildendes Phänomen. Wenn Celan der dichterischen Reaktion auf die Revolution in mehreren russischen Texten nachspürte, dann gerade in solchen, die eben nicht dogmatisch oder gar agitatorisch auftraten, sondern die eine dichterische Antwort darauf suchten, und sei es in der Form eines (utopischen) Gegenentwurfs wie Esenin. Anders jedoch als beim Gedicht Inonien hat Celan in der früheren Übertragung von Die Zwölf den historischen - geistes- wie weltgeschichtlichen - Bezug nicht verschoben, ganz im Gegenteil: er datiert ihn in seinem knappen Vorwort aufs genaueste und verweist zusätzlich auch auf das unmittelbar nach Abschluß des Poems Die Zwölf entstandene, (angeblich) letzte Werk Bloks, 27 das Poem Die Skythen, das in manchen Ausgaben mit diesem zusammengefaßt erschien. Obwohl ungleich populärer, war dieses zweite Poem in seiner künstlerischen Gestaltung weit schwächer als Die Zwölf, ein Stück rhetorischer Dichtung, das sich für die Revolution aussprach und zugleich pazifistisch und slavophil auftrat. Die Schreibweise Celans verweist im Zitat jedoch nicht nur auf den Werktitel, sondern zugleich auch auf die skythische Bewegung; zahlreiche Bände in seiner Bibliothek bezeugen, daß ihm deren >Ideologie< gut bekannt war, die sich vor allem auf die ab 1917 von dem Literaturkritiker und Autor sozialrevolutionärer Schriften Ivanov-Razumnik herausgegebenen Skytben-Aim&nache gründete. Nach Ivanov-Razumnik sei das russische Volk ein halb europäisches und halb asiatisches Volk; die Revolution, die als Blutbad die jahrhundertelange Bevormundung durch Europa

27

168

Blok verstummte nach Abschluß dieser beiden letzten großen Poeme als Dichter. Eine rätselhafte Krankheit machte ihn taub und führte zu raschem Verfall seiner physischen Kräfte; er starb zwei Jahre später, 1921. In seinem Todesjahr trat er aber noch einmal mit einer bedeutenden Rede und einem kleinen Gedicht aus Anlaß von Puskins Geburtstag hervor.

»weggewaschen« habe, befreie Rußland nun dazu, seine »skythische« Bestimmung zu erfüllen. Die Position des »Asiaten« wurde von Blok anscheinend begeistert aufgenommen: »Ja, Skythen sind wir! Ja, Asiaten sind wir! Mit geschlitzten und gierigen Augen.« heißt es im gleichnamigen Poem. Demgegenüber formuliert Mandel'stam eine ablehnende (und von Celan in dieser Akzentuierung deutlich wahrgenommene) Haltung, die in klassischer europäischer Sicht das Skythen- als das Barbarentum erkennt, und dies zu einem Zeitpunkt vor der Revolution: 0 vremenach prostych i grubych Kopyta konskie tverdjat. 1 dvorniki ν tjazelych subach N a derevjannych lavkach spjat.

D I E Z E I T E N , U N B E H A U N : vom Hufe der Pferde lautgehämmert. Die Hausknechte, schwer bepelzt; die Truhen aus Holz - drauf schlafen sie.

N a stuk ν zeleznye vorota Privratnik, cartsvenno-leniv, Vstal, i zverinnaja zevota Napomnila tvoj obraz, skif!

Ein Schlag ans Tor. (Es ist aus Eisen.) Der Pförtner - trag erhebt er sich. Ein Gähnen, tierisch - Skythe, deine Gestalt erkenn ich, dein Gesicht!

Kogda, s drjachlejuscej ljubov'ju Mesaja ν pesnjach Rim i sneg, Ovidij pel arbu volov'ju V pochode varvarskich teleg. 28

Wie einst, als er, Ovid, sie beide in seinem Lied zusammentrug: Rom und den Schnee. Den Ochsenkarren besingend im Barbarenzug. 29

Das »skythische Zusammenreimen«, wie es bei Celan schließlich im vorletzten Gedicht der Niemandsrose als Resultat genannt wird,30 ist also offensichtlich dialektisch zu denken. »Skythisch« ist eine dem klassischen Begriff des Barbarischen analoge Bezeichnung. So wird es von Mandel'stam f o r d e r eigentlichen Neuschöpfung des Namens durch die Bewegung der Skythen (1917) als Ausdruck der Gefahr erfaßt, die durch die spürbare Zeitenwende und der mit ihr einhergehenden Barbarisierung, aber auch durch jenes der europäisch-abendländischen Kultur entgegengesetzte »Asiatische« drohte. Zugleich ist »skythisch« dem Westen als analoger Begriff für slavische >Barbarei< historisch geläufig und bot sich in seiner Aktualisierung von der Position eines auf eben jene klassische Tradition bauenden Autors erneut an. Das Reich der historischen Skythen lag jenseits Rußlands; dorthin verschlagen zu werden (und Ovid wurde dorthin verbannt), verlieh dem Exil den Doppelaspekt von Heimat- und Kulturverlust. So meint »skythisch zusammengereimt« den dichterischen Ausdruck von Kultur- und drohendem Existenzverlust, ein Dichten, dessen Taktgeber das Exil selber geworden ist, das dann die »Verschlagenen«31 einen, »zusammenreimen« kann. Celan verbindet die Aspekte Barbarei und Exil mit

28 29 30 JI

SS I, 37. V, 83. Vgl. I, 288. Vgl. lat. expeliere. 169

deutlichem Bezug auf die Mandel'stam-Referenz. Wo jener in der letzten Strophe auf die Verbannung des Ovid nach Tomis ans Schwarze Meer, also in das Gebiet der Skythen, anspielt und dabei die Verbindung beider Elemente (Kultur und Bilder des Barbarischen) im Vers des antiken Dichters hervorhebt, da reflektiert schließlich auch Celan auf das kulturelle als auf ein Sprachproblem und erkennt das Exil als Bedingung für wahrhaftiges Sprechen: [...] Vom Wald Unbetreten, vom Gedanken, dem er entwuchs, als Laut und Halblaut und Ablaut und Auslaut, skythisch zusammengereimt im Takt der Verschlagenen-Schläfe, mit geatmeten Steppenhalmen geschrieben ins Herz der Stundenzäsur - in das Reich, in der Reiche weitestes, in den Großbinnenreim jenseits der Stummvölker-Zone, in dich Sprachwaage, Wortwaage, Heimatwaage Exil. 32

In der Rundfunksendung hatte Celan analog dazu über Mandel'stam gesagt: »Der Dichter - der Mensch, dem sie alles ist, Herkunft und Schicksal - ist mit seiner Sprache im Exil, »unter Skythen««.33 Nicht zufällig nennt er hier in unmittelbarem Zusammenhang auch den Titel von Mandel'stams zweitem Gedichtband Tristia, mit welchem Mandel'stam erneut auf Ovids Exildichtung anspielt. Diese Lesart Celans, die sich vermutlich erst zwischen i960 und 1962 zugleich mit der für ihn aktuellen Exil-Thematik gerade im Rekurs auf Mandel'stam herausbildete, verdeckt jedoch eine zweite Valenz des Begriffs, die zuvor im Kontext der Ubersetzungen noch Relevanz besessen haben muß.34 Denn es wird andererseits von Celan aber auch und gerade im Hinblick auf den geistesgeschichtlichen Bezug, sc. auf Autoren wie Esenin und Blok, Belyj und Ivanov-Razumnik, aber auch auf Cvetaeva, gebraucht als - dem »Kyrillischen«35 im selben Gedicht korrespondierende - Chiffre für ein bestimmtes Dichten auf russisch, das jene utopische Komponente mitdenken läßt, für die 32

1 , 288. Paul Celan: Die Dichtung Ossip Mandelstamms, S. 75. 34 Das an Esenins Gedicht Inonien beobachtete und oben bereits beschriebene Ausblenden des historischen Bezugs steht dementsprechend auch im Zusammenhang dieser sich im Sommer 1960 herausbildenden Modells. 3 > Vgl. I, 289. 33

170

eben die besagte Gruppe der »Skythen« in der kurzen Übergangszeit von der Revolution zur Konsolidierung einer alles erstickenden Macht einstand. Wenn Celan das naheliegende Skythen-Poem nicht übersetzte, so bezeugt dies einmal mehr seine prinzipielle Distanz zu ideologisch geprägten Texten. Ja, es zeigt auch, daß Celan sich der inhaltlichen Konkretisierung des Themas Revolution und damit verbunden der Artikulation einer eindeutigen Position im historisch-weltanschaulichen Prozeß eher entzog. Wenn Die Skythen die historische Grenzsituation räumlich und zeitlich artikulieren, so manifestiert sich das Überschreiten dieser Grenze plastisch jedoch viel eindringlicher in dem eigentlich skythischen Text Die Zwölf. Die Disharmonie seiner vielstimmigen Gestaltung sucht Blok aufzulösen durch die einigende Kraft der Musik, der, um Mandel'stam im Sinne Dantes zu wiederholen, »Zentralsonne des ganzen Systems«; daß diese eine »schwarze Sonne« geworden ist, bleibt jedoch nicht verborgen. Celans Konzentration auf das Thema und das Phänomen der Revolution gerade zwischen 1958 und i960 (aber auch wieder, in anderen, aktuellen Zusammenhängen, 1968) belegen die Bände seiner Bibliothek; sie wird offenbar aber auch in tragenden Passagen der Mandel'stam-Sendung wie der Büchner-Preis-Rede.'6 Die Revolution war als historisches Geschehen in allen ihren Konsequenzen zu bedenken, von den ihr zugrundeliegenden sozialen Utopien bis zu ihren katastrophalen Auswüchsen.37 Die Revolution wurde überhöht zum Sinnbild von Untergang und Neuanfang, Verlust und neuem Gewinn; daß Änderung und Wandlung etwas anderes forderten als das jähe Zerbrechen alter Strukturen zeigt gerade Bloks Poem. In der christlich-mythischen Figur der Zwölf nimmt es eine überlieferte Struktur auf, um sie zugleich ad absurdum zu führen; der Riß, der hier durch die Zeiten geht, erweist sich letztlich eben gerade deshalb als nicht harmonisierbar, weil ihm anstelle der (überkommenen) Christusgestalt als unklarer Vision eines Erlösers nichts Konstruktives, kein Anderes entgegesetzt werden kann. Am 17. Februar 1918 notiert Blok im Tagebuch: Daß Christus ihnen vorangeht, ist gewiß. Es handelt sich nicht darum, >ob sie seiner würdig sindAbsurde< der Christusgestalt, dem Leser einer anderen Zeit die eigentliche Qualität des Textes zu sein. Celans Begreifen dieser inneren Struktur des Poems begründet m.E. wesentlich seine von nun an intensivierte Auseinandersetzung mit Russischem; indem er die Revolution als kreatürliches Phänomen und zugleich strukturbildenden Vorwurf auffaßt, verwandelt er sie von einem historisch einmaligen Ereignis zu einer historischen Bedingung dichterischen Sprechens und macht sie damit zu einer der Grundlagen seiner Poetik.

c) Das Gedicht und die Geschichte - Erkundung oder Entwurf? Unmittelbar nach Abschluß der Blok-Übersetzung beginnt Celan ein Manuskript, das er erst knapp drei Monate später (am 3.5.1958) beendet (dazwischen entstehen weitere Ubersetzungen von Gedichten Esenins): Das Gedicht Engführung. Zu diesem Zeitpunkt ist der Band Sprachgitter - der 1959 erscheint bereits weitgehend fertig (darauf verweisen zwei Zusammenstellungen vom 2.12. 1957 und vom 22.1. 1958), das große Abschlußgedicht, Gegenstück zum Eröffnungszyklus Stimmen, steht jedoch noch aus. Der Vergleich der - einander zeitlich so nahe stehenden - Texte erscheint alles andere als naheliegend. Er bringt jedoch einige Aspekte in die Überlegungen zu Celans Engführung ein, gerade wenn man die bisher erwogene Grundproblematik des Poems Die Zwölf, aber auch von ähnlichen Texten (wie die bereits genannte Ballade Esenins) mitbedenkt. Die grundsätzliche Frage, die als Vorwurf aller dieser Texte gelten kann, zielt auf die sprachlich, dichterisch, letztlich existentiell verbliebenen Möglichkeiten (und Notwendigkeiten) nach der historisch-kulturellen Katastrophe. Blok gestaltet in seinem Poem nicht primär das exemplarische, die Weltordnung erschütternde Erlebnis der Revolution; er gestaltet die Revolution >von innen< als Umkehrung biblischer Muster anhand exemplarischer Gestalten. Die zwölf Apostel als zwölf Gefolgsleute Christus' sind im russischen Kontext zwölf Rotgardisten, die, wie der Schluß erweist, ebenfalls und immer noch von

172

Christus angeführt werden. Der gesamte Text ist gebrochen durch Anspielungen auf biblische Zitate von der Gestalt der Sünderin bis hin zu den ersten Versen des von Celan als »Herzstück« des Textes angesehenen achten Stücks. Durch die spezifische Struktur des Textes werden Elemente der Volksdichtung, Märchensprache und Volksliedhaftes konfrontiert mit rüdester Umgangssprache, Parolen und kurzlebigen modischen Wendungen." Vor dem sprachspielerisch verbrämten Sing-Sang grausigster Vorgänge - so die Mordszene am Ende eben dieser Passage - löst die Ernsthaftigkeit und Urplötzlichkeit, in der die biblische Bitte um Vergebung aufklingt, ungeheuere Betroffenheit aus. Sie wird ins Abgrundlose gesteigert durch die abschließende Wiederholung des Ausrufs »Odigkeit«, die in der Ubersetzung weit deutlicher hervortritt als im russischen Text: VIII

VIII

Och ty, gore-gor'koe! Skuka skucnaja, Smertnaja!

O du Gram und Kümmernis, Ode du, tödliche Ödigkeit!

U z ja vremecko Provedu, provedu...

Hab ja Zeit und hab Weil, Bring sie zu, bring sie hin ...

U z ja temjacko Poòesu, pocesu...

Hab ein Kämmlein zur Hand, Führ es her, führ es hin...

U z ja semjacki Poluscu, poluscu...

Hab ein Kernlein im Mund, Beiß es auf, beiß hinein ...

U z ja nozickom Polosnu, polosnu!..

Hab ein Messerlein fein, Klapp es auf, fahr drein!

Ty leti, burzuj, vorobiskom! Vypju krovusku Za zaznobusku, Cernobrovusku ...

Flieg, Burschui, flieg Die Kugel da holt dich zurück. Flieg, Vögelchen, steige Dein Blut, ich trinks bis zur Neige. Trink es, mußts mir geben: Mädchen ging fort aus dem Leben ..

Upokoj, gospodi, dusu raby tvoeja . Skuino! Gib, Herr, der Seele deines Knechts die Ruh und den Frieden . Ödigkeit! 4 0

39

Vgl. dazu genauer: F.D. Reeve: Structure and Symbol in Blok's »The Twelve«. In: The American Slavic and East European Review 19 (i960), S. 259-276 (unverändert wieder in: ders.: Aleksandr Blok. Between Image and Idea. N e w York, London 1962, S. 202-218).

40

V, 35.

173

Dieses »Herzstück« des ganzen Textes nimmt die nur scheinbar überraschende Schlußerscheinung bereits vorweg. Eingeklammert durch die Anspielung auf das Motiv der vanitas erscheint hier in deutlichem Kontrast zu den an kindliche Abzählreime erinnernden volksliedhaften Zweizeilern jener psalmenhafte Vers, der den eigentlichen Abgrund, und damit das eigentlich Absurde weniger dieser Bitte um Vergebung, als der gesamten Situation umso deutlicher hervortreten läßt. Daß es sich hier um ein strukturbildendes Element des gesamten Textes handelt, zeigt die frühere Verwendung nicht nur der Formulierung »Och ty, gore-gor'koe!« im dritten Abschnitt des Poems: »Ech ty, goregor'koe,/ Sladkoe zit'e!« (O du Gram und Kümmernis,/ O du Lebensfreude!« (V, III); es wird besonders deutlich in dem schon in diesem Teil bewußt eingesetzten Gegensatz von hektisch-exaltierter revolutionärer Aktion und der ebenso ironischen wie erschreckten Rückbesinnung auf die Formeln christlicher Gottesanrufung angesichts menschlicher Nichtigkeit: »Mirovoj pozar ν krovi - / Gospodi, blagoslovi ! « (wörtl. das Weltfeuer im Blut - / Herr, segne uns ! ) »Das Blut soll kochen und sich regen-/ Herr im Himmel, gib den Segen! « (V, 23). Für Blok war die Revolution zwar auch der Anbruch der neuen Zeit; sie war jedoch zunächst eine historische, weil kulturelle Katastrophe. Obwohl er, was den Ton und Bilderkanon betrifft, dem Traditionellen verhaftet bleibt (und deshalb immer noch als der letzte Dichter des iij.Jahrhunderts angesehen wird), trifft er gerade in der spezifischen Konfrontation unterschiedlicher sprachlicher Elemente (als Ausdruck divergierender mentaler Zustände) den Kern des Geschehens. Damit gibt er allein mit der sprachlichen Struktur seines Poems in einer adäquaten Dimension >Antwort< auf die Disparatheit der historischen Situation, nicht im Sinne eines Gegenentwurfs, wie ihn vielleicht Esenin mit seinem Poem Inonien versucht hat, sondern als sprachlich-künstlerisches Analogon. Man muß davon ausgehen, daß Celan auf dem Wege der Ubersetzung und im Verlaufe eines vertieften Studiums gerade dieser letzten Schaffensphase von Aleksandr Blok das dem Poem Die Zwölf zugrunde liegende künstlerische Prinzip erkannt und in einem größeren Rahmen auch in Bezug auf die eigene historische Situation reflektiert hat. Denn diese Seite des Revolutionserlebnisses (eine Revolution, die in Rußland die Dichter einer ganzen Generation »vergeudete«), das, mit den Worten Mandel'stams, »katastrophale Wesen der Kultur«, hatte für die Lebenswirklichkeit und historische Erfahrung Celans einen anderen Namen: die Vernichtung des jüdischen Volkes. Die dogmatisch begründete Zerstörung menschlicher Ordnung, das Verbrechen von Menschen gegen die Menschheit stellte nicht nur die Menschlichkeit in Frage. In seiner unfaßlichen Dimension mußte der Holocaust auch an die Göttlichkeit rühren - eben jene undeutliche Instanz einer letzten Rettungsmöglichkeit, eines äußersten Fluchtpunkts, der bei Blok in der Christusgestalt am Ende noch aufscheint, weil ein Anderes eben nicht denkbar ist. 174

Die Verfahren, die beide Dichter wählen, unterscheiden sich deutlich. W ä h rend Blok verschiedene Sprachschichten und -formen ineinanderführt, aneinanderdrängt, verdichtet, ohne sie zu verschmelzen, sie als Schichten nebeneinander bestehen läßt, sichtbar, hörbar macht, da wird bei Celan das Sprechen selbst zur Landschaft, ist Schicht, Geschichtetes, Verworfenes, ist der Ort selbst, die Spur, ist Träne. W o Blok mystisch-extensiv ausgreift bis zur Christus-Epiphanie, da reduziert Celan (»geh in deine allereigenste Enge, und setze dich frei«), intensiviert er Sprache auf einzelne Worte, übt - gleichsam zur Selbstvergewisserung - ihre Wiederholung. Blok versucht eine Erkundung

des Historischen von seiner Aktualität her;

seine Aufzeichnung verfährt unter dem Druck des Geschehens synchronisierend. Blok hat gerade in seinen letzten Lebensjahren intensiv eine

Anamnese

der Geschichte unternommen. Zahlreiche Arbeiten in unterschiedlichen Gattungen von der Dokumentation (Poslednie dni imperatorskoj ten Tage des Zarenreichs42) tung)43 und Die Zwölf

vlasti - Die

bis zu den epischen Entwürfen Vozmezdie

heiegen

letz-

(Vergel-

dieses Interesse, das zum Teil praktisch begrün-

det war (Blok war Kommissionsmitglied zur Untersuchung der Vorgänge, die zum »Sturz« des Zarenreichs geführt hatten), zum Teil aber als Ausdruck einer künstlerischen Notwendigkeit verstanden werden muß. Geschichte als Zeitgeschehen wird hier einer Erkundung unterzogen, die der Bewahrung ihrer Fakten und wichtigsten Zusammenhänge und damit der Orientierung dient. Die Frage nach Änderung, Abwandlung (oder Abwendung) existiert dabei ebenso

41

Diesen Begriff führt Isupov mit Rückgriff auf Formulierungen Bloks in den Zusammenhang ein: »Blok pytaetsja Stroit' obraz agonizirujuscej kul'tury, ν poslednem usilii bor'by za privicnye aspekty mira starajuscejsja sochranit' to edinstvennoe, cto esce mozno sochranit', - pamjat'. Obraz ètot raznoreäivaetsja ν zone individual'nogo perezivanija, tak cto istoriceskaja sud'ba ocenivajuscej svoi vozmoznosti kul'tury okazyvaetsja sobytiem itovogo >sobstvennogo anamnesis'a< (pol'zujas' vyrazeniem poèta iz pis'ma k M.I. Pantjuchovu 22 maja 1908g). Anamnezis est' tvorceskoe naprjazenie pamjati i daze samo tvorcestvo kak aktualizacija vozmoznych mirov ili voskresenie bylogo ν aspekte novizny. [..] Blok vpolne opredelenno govorit ob anamnezise kak tvorceskoj ustanovke i stimule chudozestvennogo istorizma: >Uchodit celovek ili celaja grappa ljudej - i ostaetsja vospominanie. Eto vovse ne pamjat' o ich delach [..] a sovsem drugoe - potrebnoe tol'ko dlja chudoznika. Ja govorju ob ètom imenno - chudozniceskom - anamneziseAnbruch der neuen Zeit< zum Opfer gebracht hat. Unmittelbar nach seinem Tod wurde er auf merkwürdige Weise durch direkte Einwirkung von Stalin und Molotov aus sämtlichen Publikationsorganen verdrängt; auf ebenso merkwürdige Weise wurde er fünf Jahre später durch ein historisches Stalin-Wort auf ewig legitimiert als der »beste, begabteste Dichter unserer Sowjet-Epoche. Gleichgültigkeit gegenüber seinem Erbe, seinen Werken ist ein Verbrechen.« 6 Die grenzenlose Vereinnahmung seines Werkes durch die politische Macht verschüttete dessen ambivalente Züge, setzte große Manuskriptteile unter Verschluß und stilisierte ihren Autor zum Prototypen einer staatlich verordneten Kunstdoktrin. Sie raubte Majakovskij nicht nur sein Leben, sie entzog ihn auch seinen Erben und übergab ihn den Epigonen. Majakovskijs Aufbruch in die neue Zeit scheiterte aus verschiedenen Gründen, einer davon ist das, wogegen er in fast allen seinen Schriften gekämpft hat, »byt'«, der »Alltag«, die Erstarrung, ein anderer die komplizierte Verquickung von politischer Räson und Kunst, der er selbst große Teile seines Schaffens unterordnete und gegen die er sich zugleich intuitiv auflehnte, die ihn letztlich doch »vergeudete«. Der gerade in jüngerer Zeit heftig entbrannte Streit um Majakovskij bezeugt einmal mehr die Ambivalenz von Monumentalisierung und Verschüttung, die seine Rezeption schon frühzeitig prägte; die Heftigkeit, mit der gegenwärtig das Erbe Majakovskijs abgelehnt wird, 7 entspricht der

6

In einem Brief an Lilja Brik, die Freundin Majakovskijs, von 1936. Vgl. dazu V.A. Katanjan: N e tol'ko vospominanija. Κ istorii izdanija Majakovskogo. In: Druzba narodov 3 (1989), S. 224t. Dieses berühmte Zitat wird auch von Hugo Huppert in seiner 1965 erstmals erschienenen Majakovskij-Biographie referiert; in Celans Exemplar findet sich auf dem Vorsatzblatt ein Verweis darauf, das Zitat selbst ist im Text angestrichen (Wladimir Majakowskij in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt von Hugo Huppert. Reinbeck 1965; vgl.Verz.Nr. 228).

7

Vgl. Ju.A. Karabcievskij: Voskresenie Majakovskogo (Majakovskijs Auferstehung). Moskva 1990. Diese >Abrechnung< eines Autors der mittleren Generation (geb.1938) entstand schon 1980-83, konnte aber erst 1989 in Rußland gedruckt werden; sie hat heftige Diskussionen ausgelöst. Vgl. Birgit Menzel: Streit um Majakovskij. Die russische Avantgarde zwischen Stalin und Perestroika. In: Osteuropa 1 1 - 1 2 (1989), S. 1066-1074; N y o t a Thun: Majakowski: Maler und Dichter. Tübingen, Basel 1993, S. 3 - 3 1 .

180

Unerbittlichkeit seiner Stilisierung. Ein objektivierender Zugang ist wohl gerade auf russischer Seite noch nicht in Sicht. Die deutsche Majakovskij-Rezeption steht im Schatten dieser Entwicklung. Dem Engagement des Ubersetzers Hugo Huppert, der jahrelang in Rußland gelebt hatte und in dessen letzten Jahren mit Majakovskij bekannt gewesen war, ist es zu verdanken, daß dessen Werke, die zunächst als unübersetzbar galten, überhaupt ins Deutsche gebracht wurden; er selbst konnte einen Vertrag zwischen Majakovskij und dem Berliner Malik-Verlag noch zu Lebzeiten des Autors vermitteln. Er war es auch, der sich dafür einsetzte, daß nach dem Krieg seine Werke relativ bald - mit Beginn der sechziger Jahre - auch in westdeutschen Verlagen gedruckt wurde. Andererseits nahm gerade Huppert nur die eine Seite Majakovskijs war, jene offiziell anerkannte von »aktivem Pathos der attackierenden Klasse« und all der unbegrenzten Möglichkeiten, die der unausbleibliche Triumph dieser Klasse heraufführte«; 8 die Sprache seiner Übersetzungen entspricht diesem Bild, sie erweist sich heute als hochstilisiert und in ihrer metaphorischen Uberfrachtung als vereinseitigend. i960 erschienen in Frankfurt eben jene satirischen Kurzdramen, mit denen sich Majakovskij seinerzeit beim Regime unbeliebt gemacht hatte und die bald verboten worden waren,' 1964 kam Wie macht man Verse? heraus, 1966 folgte ein Band Politische Poesie-, all diese Veröffentlichungen entsprachen einem sich allmählich verändernden politischen Klima in der Bundesrepublik. Im selben Jahr veröffentlichte Hugo Huppert seine Erinnerungen an Majakovskij·, schon ein Jahr zuvor hatte er den Dichter in einer bekannten biographischen Reihe vorgestellt. 10 Majakovskij wurde somit vor allem und fast ausschließlich durch die Publikationen Hupperts in Westdeutschland als Autor gründlich etabliert; 11 er ist einer der wenigen Autoren Sowjetrußlands, die trotz ihres Enga8

H u g o Huppert: Ungeduld des Jahrhunderts. Erinnerungen an Majakowski. Berlin 1976, S. 132. ' Wladimir Majakowski): Mysterium buffo und andere Stücke. Deutsche Nachdichtung von Hugo Huppert. Frankfurt a.M. i960. Die Auswahl (die Celan auf Anweisung Unselds zugestellt worden war) enthielt auch Die Wanze und Das Schwitzbad (vgl. Verz. Nr. 218). Hupperts rege Tätigkeit in Sachen Majakovskij belegen neben den schon genannten noch weitere Titel in Celans Bibliothek: Wladimir Majakowskij: Politische Poesie. Deutsche Nachdichtung von Hugo Huppert. Frankfurt a.M. 1966 (Verz.Nr. 219); ders.: Wie macht man Verse? Deutsch und mit einem Nachwort versehen von Hugo Huppert. Frankfurt a.M. 1964 (Verz.Nr. 222); Hugo Huppen: Erinnerungen an Majakowskij. Frankfurt a.M. 1966 (Verz.Nr. 227), sowie die ebenfalls von H u p p e n verantwortete Bildmonographie (Verz.Nr. 228). 11

Auf die in allen Bereichen völlig ungenügende wissenschaftlich-kritische Darstellung der russisch-deutschen Literaturbeziehungen kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit selbstverständlich nicht eingegangen werden, obwohl gerade im Falle Majakovskijs ein kritischer Blick auf die Tendenzen der Vermittlung und Kritik seines Werkes wünschenswert wäre. Die früh, d.h. noch zu Lebzeiten des Autors einset181

gements für den Sozialismus zu dieser Zeit Anerkennung auch im Ausland gewinnen konnten. Als ausschlaggebend dafür können mehrere Faktoren angeführt werden. Zum einen besaß Majakovskij unvergleichliche persönliche Ausstrahlung, die er zu Lebzeiten auch ins Ausland vermitteln konnte; seine Kontakte wirkten über seinen Tod hinweg und hielten seine Reputation im Ausland aufrecht. 12 Des weiteren war Majakovskij zentrale Figur des russischen Futurismus, einer der wichtigsten Strömungen der künstlerischen Avantgarde, deren Wirkungen von Anfang an weit über die Grenzen Rußlands hinausreichten und die - trotz ihres politischen Engagements - auch unabhängig von der Ideologie rezipiert wurde. Zahlreiche Kontakte nach Italien, Frankreich und Deutschland bewahrten auch über die beiden Weltkriege und ihre Folgen hinweg Majakovskij wie einige wenige weitere Vertreter des Futurismus vor dem Vergessen. Ein dritter Grund ist die spezifische Gestalt von Majakovskijs Dichtung, die sich gerade im Bereich der westlichen Literatur weniger von ihren Inhalten her als durch ihre Form einflußreich zeigte. Das Interesse für seine Texte beruht zum großen Teil auf ihrer innovativen Gestalt; zumeist sind es gerade die äußeren Merkmale, die seine Gedichte auf den ersten Blick auszeichnen. Anlehnungen an gerade die für die Poeme Majakovskijs charakteristische »Treppenform« finden sich nicht nur bei zahlreichen deutschsprachigen Autoren. Diese Aspekt dominiert bei weitem über die Antizipation ihres deklamatorisch oder agitatorisch vermittelten Gehalts; weit weniger als die äußere Form werden auch die spezifischen sprachlichen Verfahren Majakovskijs wahrgenommen, die nicht weniger innotiv gewesen sind. Sie gehören zu den Entdekkungen der generell an den gestalterischen Verfahren orientierten erneuten Auseinandersetzung mit der künstlerischen Avantgarde Rußlands, wie sie in zende starke Reaktion auf den russischen Futurismus und besonders auf Majakovskij wird in den grundlegenden westdeutschen Darstellungen zum Thema nicht erwähnt; die - dem Stalin-Urteil folgende - enorme Reputation, die Majakovskij im Bereich der DDR-Literatur genoß (begründet schon vor dem Krieg bei Willi Bredel und J . R . Becher) bedarf ebenfalls einer kritischen Uberprüfung. Der >Einfluß< Majakovskijs auf die deutsche Literatur reicht - jenseits der durch die Teilung bewirkten getrennten Entwicklung - von Brecht bis zur engagierten Literatur der späten sechziger Jahre; er ist gerade im westdeutschen Bereich noch kaum ernsthaft erforscht. 12

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Vgl. die Beziehungen nach Paris, die nicht zuletzt durch die Schwester seiner Freundin Lilja Brik, die französische Schriftstellerin und Frau Aragons, Elsa Triolet aufrechterhalten wurden. Triolet wurde nicht nur die wichtigste Übersetzerin Majakovskijs in Frankreich, sie veröffentlichte auch schon Anfang der fünfziger Jahre eine Monographie über den Dichter. Die einflußreiche Position der intellektuellen Linken in Frankreich begünstigte diese Rezeption nicht unerheblich. Celan, der Aragon fern stand, besaß keine der Publikationen Triolets zu Majakovskij, mit Ausnahme eines Zeitungsartikels über »Ma'iakovski et Pasternak« (vgl. Verz. Nr. 276), wohl aber eine von ihr verantwortete Anthologie russischer Dichtung (Verz. Nr. 369), sowie ihre Cvetaeva-Ubersetzungen (Verz. Nr. 82).

jüngerer Zeit erst begonnen hat. Solche Einflüsse sind auch bei Celan zu vermuten, allerdings ebenfalls auf die äußerste Schicht formaler Gestaltung beschränkt. 13 Sie haben jedoch Anteil an einer generellen Rezeptionslinie und verweisen wenig auf spezifische Tendenzen der Annäherung und Auseinandersetzung.

b) Der Akzent des Zukünftigen Gemessen an den Beständen seiner Bibliothek - insgesamt sind 17 Titel verzeichnet - dürfte die Auseinandersetzung Celans mit Majakovskij nicht unerheblich gewesen sein. Als einer der Hauptvertreter der ihn interessierenden Epoche hat die Lektüre auch der Werke Majakovskijs jedoch eher den Anschein des Obligatorischen. Celan besaß zwei zeitgenössische russische Werkausgaben aus den fünfziger und aus den sechziger Jahren, keine Einzelausgaben. Ein besonderes Interesse für bestimmte Texte wird nicht erkennbar. Wie schon bei Blok dominieren über die russischen Titel die Ubersetzungen oder fremdsprachlichen Publikationen, wobei die deutschen Ausgaben in der Mehrheit Hugo Huppert verantwortete; vereinzelte Widmungen bezeugen eine persönliche Bekanntschaft. Mit einer Ausnahme sucht man in den Werken Majakovskijs nach Lektürespuren vergeblich. All dies läßt darauf schließen, daß keine ernstzunehmende oder in irgendeiner Weise nachhaltige und spezifische Auseinandersetzung Celans mit Majakovskij stattgefunden hat. Der generell durch die Bibliothek vermittelte Eindruck, daß Celan sich gewöhnlich wenig für parteikonforme oder engagierte Autoren interessiert hat, findet sich auch bei Majakovskij bestätigt trotz dessen herausragender Bedeutung für den Futurismus. Umgekehrt verweist dieser Befund darauf, daß Celans weit tiefgreifendere Auseinandersetzung mit dem zweiten großen russischen Futuristen - Velimir Chlebnikov - andere Wurzeln hat; es sind die »grandiosen Sprachutopien«, die ihn bei jenem interessieren, auch bei ihm nicht die futuristische Bewegung als solche. Hier zeigt sich aufs deutlichste, daß neben dem Umfang des für die Rezeption Belegbaren die Menge des tatsächlich Antizipierten, produktiv Verwandelten erstaunlich gering gewesen ist. Celan verfuhr in einem sehr ausgedehntem Maße selektiv, was umgekehrt die Qualität der Selektion umso bedeutender erscheinen läßt. Ebensowenig wie er sich als Vermittler russischer Literatur

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Gerade hier läßt sich die Differenz zwischen formaler Antizipation und gleichzeitiger Abstraktion von sprachlichen wie inhaltlichen Komponenten deutlich beobachten. Mit sichtlicher Beschränkung auf die äußerste Schicht formaler Gestaltung erscheinen im Werk Celans bspw. die Gedichte Engführung (I, 195-205) und Keine Sandkunst mehr (II, 39) von Texten Majakovskijs inspiriert. 183

nach Deutschland in Beschlag nehmen ließ, eignete seiner Auseinandersetzung etwas von dem akademischen Zugriff, der sich in größtmöglicher Objektivität auf »alles« stürzt und »nur das Beste« zu erkennen trachtet. Celans Beschäftigung mit den Hauptvertretern der russischen Avantgarde, den Futuristen Majakovskij und Chlebnikov, war nur marginal geprägt von einer sachlichen Auseinandersetzung mit den ästhetischen Grundlagen und Postulaten der Bewegung. Sie finden - auch bei Chlebnikov - letztlich keinen Eingang in Celans originäres Werk. Hier gründet sich Celans Interesse auf die tiefgreifenden sprachlichen »Entdeckungen« und Reflexionen Chlebnikovs, die in ihrem innovativen Charakter und ihrer sprachlichen »Wahrheit« keinen Vergleich kennen und die trotz seiner Zugehörigkeit zum Futurismus von Chlebnikov zum großen Teil unabhängig von dessen >Ideologie< entwickelt wurden. Andererseits ging, so scheint es, Celan der Reaktion auf Revolution und geschichtliche Veränderung, die gerade Majakovskij als Problem der Vermittlung von revolutionärer und künstlerischer Praxis zum Kernpunkt seiner ästhetischen Intention gemacht hatte,'4 eben deshalb nicht im Werke Majakovskijs (sondern Bloks oder Esenins) nach, weil der auf das Zukünftige zielende Akzent in Celans - auf Gegenwärtigkeit und Präsenz ausgerichteter - dichterischer Konzeption nicht vorkommt: .. man kann verschiedene Akzente setzen: den Akut des Heutigen, den Gravis des Historischen - auch Literarhistorischen - , den Zirkumflex - ein Dehnungszeichen des Ewigen. Ich setze - mir bleibt keine andere Wahl - , ich setze den Akut. 1 ®

Der prospektive Entwurf impliziert (und enthält als bewußtes Dogma des Futurismus) die gewollte Lösung von den historischen Bindungen, die andererseits für Celan als unabweisbare Bedingung des Sprechens des Gedichts vorausgesetzt werden.' 6 Celan, der der französischen Avantgarde sehr verbunden war und blieb, hat zu den spezifischen Aspekten der russisch-futuristischen Avantgarde keinen Zugang finden können. Wenn Jakobson die Dichtung Esenins als »lyrischen Rückblick« deklassiert und die Bücher vor allem MandeFstams als »Kammerdichtung« bezeichnet, von der eben keine Impulse für die >neue Zeit< ausgehen konnten, dann sind damit - trotz der durch zu große zeitliche Nähe bedingten literarhistorischen Fehleinschätzung Jakobsons -

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Vgl. Jochen-Ulrich Peters: Poesie und Revolution. Majakovskijs Lyrik und Versepik als Paradigma der russisch-sowjetischen Avantgarde. Konstanz 1979 (= Konstanzer Universitätsreden 126). '> III, 190. 16 Von hier aus wird die Begründung der Beschäftigung mit dem Poem Bloks noch einmal deutlich; bei diesem ist es ebenso wie bei Esenin der Aspekt eines besonderen und je verschiedenen Historismus, der die künstlerische Gestaltung bestimmt: als versuchte Synthese bei Blok, als Rückkkehr ins Organische bei Esenin. 184

ganz wesentliche Aspekte von dem angesprochen, was Celans Affinität zu eben diesen beiden Autoren im Gegensatz zu den Futuristen bestimmte.

c) Ein Schädel voller Verse Die wenigen Spuren der Lektüre, die eine Majakovskij-Rezeption Celans schließlich positiv belegen lassen, finden sich im zweiten Band einer 1955 in Moskau erschienenen Majakovskij-Auswahl, die Celan wohl in einer Pariser Internationalen Buchhandlung gekauft hat.' 7 Neben einer Reihe eingelegter Zeitungs- oder Buchseiten mit französischen Majakovskij-Ubersetzungen konzentrieren sich Anstreichungen und Ubersetzungsnotizen hier auf das Poem Oblako ν stanacb - Wolke in Hosen. Weitere Notizen verzeichnet eine bahnbrechende Anthologie, die Vladimir Markov schon 1952 auf russisch in N e w York edieren konnte. Die unter dem Titel Priglusënnye golosa. Poèzija za zeleznym zanavesom (Gedämpfte Stimmen. Poesie hinter dem Eisernen Vorhang)1* erschienene Sammlung ermöglichte für zahlreiche diskreditierte oder >vergessene< Autoren (darunter auch Mandel'stam und Chlebnikov) die erste Veröffentlichung im Ausland; sie öffnete aber auch den Weg zu deren allmählicher Rehabilitierung, die in den Jahren des Tauwetters wenigstens ansatzweise vollzogen wurde. Die Tatsache, daß eine fünf Jahre später in Moskau erschienene maßgebliche Anthologie der sowjetrussischen Dichtung 19 schließlich erstmals wieder Texte solcher Autoren brachte, ist auch auf das Engagement dieser ersten Auswahl zurückzuführen. Celan erwarb den Markov'schen Band am 2. Dezember 1958. Überaus zahlreiche Anstreichungen und vereinzelte Ubersetzungsnotizen zu Gedichten von Mandel'stam, Esenin und Chlebnikov verweisen darauf, daß er zu Beginn der erneuten Auseinandersetzung intensiv genutzt wurde und, wie andere in dieser Phase herangezogene Sammelpublikationen, der Orientierung diente. Hier finden sich aber auch deutliche, wenn auch fragmentarische Ansätze einer Ubersetzung von Majakovskijs frühem Poem Flejta-pozvonocnik - Die Wirbelknochenflöte. Die Notizen begleiten den gesamten Text, häufen sich jedoch zu Beginn. Dem entspricht ein im handschriftlichen Nachlaß Celans bewahrtes Typoskript, das ebenfalls vom Gesamttext nur die Ubersetzung des Prologs und der ersten 32 Verse des ersten Abschnitts (das Poem besteht aus einem Prolog und drei Teilen mit insgesamt 43 Strophen) enthält. Da die drei erhaltenen

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V. Majakovskij: Izbrannye proizvedenija ν dvuch tomach. Tom vtoroj: Poèmy. P'esy. Kak delat' stichi. Moskva 1955 (Verz.Nr.213). Vgl. Verz. Nr. 3 3 1 . Antologija russkoj sovetskoj poèzii ν dvuch tomach, 1 9 1 7 - 1 9 5 7 . Moskva 1957 (Verz.Nr. 321-322). 185

Blätter maschinengeschrieben und mit handschriftlichen Korrekturen versehenen sind, läßt sich nicht ausschließen, daß es sich um den Kopf einer ansonsten verloren gegangenen Gesamtübersetzung handelt. Allerdings bricht die Ubersetzung auf der Hälfte des dritten Blatts mitten in der Strophe ab - Anzeichen für einen doch vermutlich fragmentarisch gebliebenen Entwurf. Dennoch wirkt das Typoskript relativ abgeschlossen und weist nur wenige nachträgliche Korrekturen auf. Es ist mit vollständigen Angaben zu Namen und Titel versehen und datiert (6.7.60) und entspricht formal den sonstigen zum Abschluß gebrachten Gedicht- und Ubersetzungsmanuskripten Celans. Man muß also davon ausgehen, daß Celan hier einen ernstgemeinten und durchaus wohl für eine Publikation vorgesehenen Ubersetzungsentwurf aufzeichnete, der - aus welchen Gründen auch immer - schließlich nicht mehr zum Abschluß gebracht wurde. Aufschlußreich scheint hier die Datierung zu sein. Sie fällt genau in die Übersetzungs-Pause, in der auch einige Gedichte der Niemandsrose zwischen den letzten Esenin-Übersetzungen entstehen. Am 1.7. schreibt Celan das Gedicht Zu beiden Händen, auf den 6.7. ist die Majakovskij-Übersetzung datiert. Am 9.7. nimmt Celan die Arbeit am Esenin mit dem Gedicht Ein für allemal wieder auf; im Laufe der nächsten sieben Tage entstehen sieben EseninUbersetzungen (darunter am 14.7. Inonien), dann ist dieser Band abgeschlossen. Diese Datierungen deuten einen Einschnitt an, eine Sprachmöglichkeit, die Celan mit Majakovskij versuchte. Der offenbar dominante Sprachduktus Esenins - die emotional geladene Suggestivität des Gedichts Ein für allemal ist unüberhörbar - unterbrach diesen Vorstoß jedoch. Die folgenden Tage des Sommers i960 wirkten dann aber - das konturiert sich immer deutlicher - einschneidend und verändernd gerade im Hinblick auf die weitere Rezeption russischer Literatur im Zuge der poetologischen Konzentration und inneren >Ausrichtungs die die Abfassung der Büchner-Preis-Rede mit sich brachte. Die Wirbelknochenflöte ist eines von vier großen Versepen, die Majakovskij nach dem futuristischen Aufbruch (1912-1914), aber noch vor der Revolution geschrieben hat; Edward J. Brown nennt diese Texte »an astonishing accomplishment« und meint, »it is on them, that his reputation as a poet largely rests«.20 Gerade an der Einschätzung dieser Poeme, die in einer historischen Ubergangszeit entstanden und die im ästhetischen Bereich den Übergang des futuristischen Dichters von dem auf die Wortkunst konzentrierten Autor zum Deklamator der Revolution markieren, läßt sich das Dilemma der Majakovskij-Rezeption erkennen. Denn wer vor allem die politischen Inhalte seiner

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Die anderen drei Poeme sind Oblako ν stanacb (Wolke in Hosen-, 1915), Vojna i mir {Krieg und Welt-, 1916) und Celovek (Der Mensch·, 1917). In: E.J. Brown: Mayakovski. In: V. Terras (Ed.): Handbook of Russian Literature, N e w Haven and London 1985, S.277. Vgl. auch Robin Aizlewood: Verse form and meaning in the poetry of Vladimir Maiakovskii. London 1989.

späteren Dichtung im Auge hat, wird in diesen Poemen nur Stationen seines Weges dorthin erblicken und sich vordringlich den letzten beiden - Krieg und Welt und Der Mensch - widmen; er wird bei den den früheren, der Wolke in Hosen und der Wirbelknochenflöte, auf die noch herrschende zaristische Doktrin eingehen, die sich durch die hier enthaltenen offenen Angriffe gegen gesellschaftliche Normen und religiöse Vorstellungen provozieren ließ, sich brüskiert zeigte und entsprechend repressiv reagierte. Die durch die Zensur initiierte Umbennenung des Poems vom Dreizehnten Apostel zur scheinbar harmlos-weichen Gestalt des Mannes als Wolke in Hosen war später immer einen Scherz wert; die prophetische Ankündigung der Revolution21 erwies sich nach ihrem tatsächlichen Eintreten in jeder Hinsicht als günstig für den revolutionären Dichter. Was bei einer solchen Betrachtungsweise weniger in den Blick gerät, sind gerade die formalen Aspekte, die diese beiden im vielleicht eindrucksvollsten Sinne futuristischen Texte zu dem Bedeutendsten macht, was Majakovskij überhaupt produziert hat. Thema beider Poeme - Die Wirbelknochenflöte wird häufig als eine Art Fortsetzung der Wolke in Hosen betrachtet ist ein verzweifelter Liebhaber, dessen Geliebte ihn einmal mit der Ankündigung ihrer Heirat zurückweist (Wolke in Hosen), und später, da sie verheiratet ist, dazu veranlaßt, als »Musik auf ihrem Klavier« bei ihr den Mann zu spielen (Wirbelknochenflöte). In beiden Fällen verknüpfen sich in die Darstellung rüde Ausfälle gegen die Gesellschaft, die Religion, letztlich gegen sich selbst (die Inszenierung eines >Abschiedskonzerts< vor dem Selbstmord im Prolog zur Wirbelknochenflöte); gewisse autobiographische Züge sind unverkennbar. Die sprachliche Gebärde erreicht hier eine Steigerung, deren ungeheuere (und ungeheuerliche) Bildkraft wohl kaum mehr überboten werden kann, so in den Schlußversen der Wolke in Hosen·.

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Pustite! Menja ne ostanovite. Vru ja, vprave Ii, no ja ne mogu byt' spokojnej. Smotrite zvezdy opjat' obezglavili i nebo okrovavili bojnej !

Laßt mich! Mich bringt ihr nicht zum Stehen. O b ich gelogen oder wahr zu reden geruht, ihr werdet nie mich ruhiger sehen. Blickt auf: die Sterne haben den Himmelsbogen mit Schlachthof-Unrat und Blut von Geköpften überzogen!

Ej, vy! Nebo! Snimite sljapu! Ja idu!

He, ihr! Himmel! Lüftet den Hut! ich komme!! -

»Wo Augen/ stumpf/ zu versagen dröhn: - / voran den Haufen,/ die lungern und lechzen,/ im Dornenkranz der Revolution/ schreitet/ das Jahr Sechzehn./ Und seht mich an, ich bin sein Prophet;...« Wladimir Majakowskij: Wolke in Hosen. Werke. Poeme. B a n d I I , i , S. 20. 187

Glucho.

Stumm wie die Toten.

Vselennaja spit poloziv na lapu s klesíami zvezd ogromnoe ucho. :

Das Universum ruht; sein mit sternzackigen Zecken bestecktes Riesen-Ohr auf den Pfoten. 2 3

Es war die eigentümliche Sprachlichkeit, eine innovative Sprachgestalt und die bewußte Kalkulation sprachlicher Wirksamkeit, die diese Texte auszeichnet und die Celan hier wohl zu ersten Schritten einer Ubersetzung inspirierte. Zahlreiche Ubersetzungsansätze lassen sich gerade an solchen, die Sprachkonvention aufbrechenden Stellen beobachten, darunter auch die hier zitierte Schlußpassage. Darüberhinaus unterstreicht das Vorhandensein mehrerer Ausgaben des Poems in französischer und in deutscher Sprache einmal mehr Celans nachdrückliches Interesse für die Wolke in Hosen.1* Dementsprechend zeichnet sich Celans unveröffentlicht gebliebene Ubersetzung zumindest der ersten Strophen der Wirbelknochenflöte durch einige spezifische Merkmale aus, die hier abschließend kurz beschrieben werden sollen. FLEJTA-POZVONOCNIK

DIE W I R B E L K N O C H E N F L O T E

Prolog Za sve vas kotorye nravilis' ili nravjatsja, chranimych ikonami u dusi ν pesiere, kak casu vina ν zastol'noj zdravice, pod-emlju stichami napolnennyj cerep.

Vse iasce dumaju ne postavit' Ii lusce tocku puli ν svoem konce.

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Euch allen, die ich mochte und mag, euch allen, die mir die Seele in ihrer Grotte behütet als Heiligenbilder, euch allen zum Wohl bring ich den Trinkspruch aus - meim Schale Weins, das ist mein von Versen randvoller Schädel. Soll ich nicht, denk ich jetzt öfter und öfter, soll ich nicht lieber hinter mein Leben den Schlußpunkt, den Kugelpunkt setzen?

V. Majakovskij: Polnoe sobranie socinenij ν 13 tomach. T. 1, S. 196. W. Majakowski: Werke. Poeme. B a n d i i , 1, S. 32. Ubersetzung von H . Huppert. Daß es dennoch keinen bis zum Manuskript gediehenen Übersetzungsversuch gibt, läßt sich vermutlich dadurch erklären, daß der Übersetzer H u g o Huppert fast ein >Monopol< in diesem Bereich zu haben schien - Übersetzungen von ihm aus dem Werk Majakovskijs erschienen gerade um i960 in rascher Folge (vgl. Verz. Nr. 2 1 7 219 und 221) neben singulären Ausgaben anderer Übersetzer in Ostberlin (Wladimir Majakowski: Wie macht man Verse? Deutsch von Siegfreid Behring; Verz.Nr. 2 2 1 ) und Zürich (Wladimir Majakowski: Vers und Hammer. Schriften. Gedichte. Zeichnungen. Photos. Dokumente. Zürich 1959; Verz.Nr. 220).

Segodnja ja na vsjakij slucaj daju proscal'nyj koncert.

Nun, heute geb ich, komme was komme, mein Abschiedskonzert.

Parajat'! Soberi u mozga ν zale ljubimych neiscerpaemmye oceredi. Smech iz glaz ν glaza lej. Bylymi svad'bami noe' rjadi. Iz tela ν telo vesel'e lejte. Pust' ne zabudetsja noe' nikem. Ja segodnja budu igrat' na flejte. N a sobstvennom pozvonoenike.

Gedächtnis! Geh und ruf sie zusammen in deinem Saal, im Gehirn: die Reihen und Reihen aller Geliebten. Geh, gieß Lachen in alle Augen. Gieß ein Aug in das andre. Richte die Hochzeiten aus, die gewesenen, nachthin. Gieß die Fröhlichkeit aus einem Leib in den andern. Keiner, der sie vergessen soll, diese Nacht. Ich blase die Flöte heut nacht. Auf den eigenen Wirbelknochen.

Versty ulic vzmachami sagov mnu. Kuda ujdu ja, étot ad taja! Kakomu nebesnomu Gofmanu vydumalas' ty, prokljataja?!

Straßenmeilen, zuschandegetreten von meinen Schritten. Wo will ich bloß 2 ' mit dieser Hölle hin! Welchen himmlischen Dichterhirns 26 Ausgeburt magst du wohl sein, du Verdammte? Eng die Gassen,

Bure vesel'ja ulicy uzki. Prazdnik narjadnych cerpal i cerpal. Dumaju. Mysli, krovi sgustki, bol'nye i zapeksiesja, lezut iz cerepa.

durch die solche Fröhlichkeit stürmt.

Ich überlege. Schmerzende Blutklumpen kommen aus dem Gehirn gekrochen: meine Gedanken. 25 26

Handschriftlich korrigiert aus »nur« im Ts. Von besonderer Bedeutung scheint hier in der Übersetzung die bewußte Aussparung des im Original genannten Namens dieses »himmlischen Dichterhirns«, sc. E.Th. A. Hoffmann, zu sein. E.Th. A. Hoffmann erfuhr in der russischen Literatur und Geistesgeschichte eine ganz außerordentliche Rezeption, die sich von seiner Reputation innerhalb Deutschlands deutlich unterscheidet. 189

Mne,

Ich,

cudotvorcu vsego, cto prazdnicno,

ich stampfe ihnen alle ihre Festlichkeit 2 7 aus dem B o d e n

samomu η aprazdnik v y j t i ne s kem. V o z ' m u sejcas i grochnus' navznic' i golovu v y m o z z u k a m m e n y m Nevskim!

und will ich jetzt selber aufs Fest, so findet sich keiner, der mitkommt. Rücklings hinschlagen, das tu ich jetzt gleich, und dann mit dem K o p f voraus hier auf den Kopfstein 1 8

Vot ja bogochulil. O r a l , cto boga net, a b o g takuju iz p e k l o v y c h glubin,

So, da habe ich also gelästert. 2 ' Es gibt keinen G o t t , brülle ich. U n d er, G o t t , k o m m t mir da aus seinen

òto pered nej gora zavolnuetsja i

Höllentiefen, die Berge erzittern, » D u sollst«,

drognet, v y v e l i velel: ljubi!

befiehlt er, »lieben!«

B o g dovolen. Pod nebom ν k r u í e i z m u c e n n y j celovek odical i vymer. B o g potiraet ladoni rucek. D u m a e t bog: pogodi, Vladimir! E t o emu, emu ze, £tob ne dogadalsja, k t o ty, v y d u m a l o s ' dat' tebe nastojascego muza

G o t t ist zufrieden. D e r Mensch, der v o n G r a m zermarterte Mensch unterm Himmel verwildert, stirbt aus. G o t t reibt sich die Händchen. Er, G o t t , denkt: Wart mal, Wladimir! D a m i t du nicht draufkommst, wer du bist,

i na rojal' p o l o z i t ' celovec'i noty. 3 °

denkt Er sich, Er, jawohl Er, Folgendes aus: er läßt dich einen echten Mann sein, er legt dir menschliche N o t e n auf das Klavier. 3 1

Die Ubersetzung bricht genau an dem Punkt ab, w o sich ansatzweise ein Handlungszusammenhang entwickelt (der abgewiesene Liebhaber scheut vor dem ehelichen Schlafzimmer zurück), w o sich das bisher Gesagte auf Konkreteres beziehen ließe. Sie ist gekennzeichet durch die Verwirklichung größtmöglicher 27 28

29 30 31

Handschriftlich korrigiert aus »alles, was Fest ist,« im Ts. Unleserliche (und vermutlich nicht korrekt entzifferte) Verbesserung für »und dann soll er z u m K o p f s t e i n reden, der K o p f « im Ts. Unleserliche hs. Korrektur für »So, das w a r mal gelästert.« im Ts. V. Majakovskij: Polnoe sobranie soíinenij ν 13 tomach. T. 1, S. 199-200. A u s dem N a c h l a ß erstmals veröffentlicht durch Christine Ivanovic: Z w e i unbekannte Übersetzungen Celans aus dem Russischen. Vladimir Majakovskij: >Die W i r b e l k n o chenflöteAbfahrtwiderstreitende Gefühle< zu beobachten, die einerseits bestimmte Bilder im Sinne der eigenen Poetik übertragen (»zuschandegetreten«; ».. Der Mensch/ der von Gram zermarterte Mensch unterm/Himmel«), andererseits gerade solche Parallelen, w o sie sich im ersten Zugriff aufdrängen, zu vermeiden suchen (vgl. die Korrekturen zum Vers »i golovu vymozzu kammenym Nevskim!«, s. Anm. 28). Die beeindruckende Stärke von Celans Version liegt aber ohne Zweifel im Bildbereich, w o er mit Wendungen wie »soll ich nicht lieber hinter mein Leben den Schlußpunkt,/ den Kugelpunkt setzen?« 32 gültige Übersetzungen schafft. Die fast surrealistisch anmutenden Bilder gerade dieses Gedichts heben es deutlich heraus aus einem durch politische Agitation, lautstarke Manifeste und deklamatorische Auftritte vorbelasteteten Kontext, der die Rezeption futuristischer Dichtung einseitig kanalisiert und die Aufmerksamkeit für die Feinheiten ihrer Differenzierungen im Lautcharakter der Sprache wie für die eigentlichen Innovationen im Bildbereich verstellt hat. Celan hatte ein offenes Auge und Gehör für diese Praktiken und bewies mit seiner selektiven Beschäftigung Unabhängigkeit und Einfühlungsvermögen. Der Faszination futuristischer Dichtung, die sich im eigentlich poetischen Bereich vor allem auf das Verfahren der realisierten Metapher gründete 3 ' - im vorliegenden Gedicht die Umsetzung des (körperlichen) Leidens des Dichters, der seinen Körper selbst zum Organ seiner Dichtung macht, in das leibhaftige Erscheinen des Leibs als Instrument ist Celan nicht entgangen. Das konkrete Bild findet zwar keine direkte Parallele im Gedicht Celans, scheint aber als Verfahren wieder aufgenommen in der Kranichgestalt des Gedichts Wenn du im Bett?4 andererseits ist dieser Text gerade in seinem Grundmotiv ein deutlich auf den anderen bedeutenden Futuristen, dem sich Celan gewidmet hat, bezogenes Gedicht (vgl. das unten zu Chlebnikov Ausgeführte). So erweist sich Celan als kritischer Beobachter futuristischer Dichtung, der ihren vorrangig rezipierten Merkmalen gegenüber Distanz 32 33

34

Vgl. auch die spätere Bildung »Herzpunkt« im Gedicht Von der Orchis her, II, 64. Vgl. die Untersuchung von Roman Jakobson: Novejsaja russkaj poézija. Nabrosok pervyj. Viktor Chlebnikov. Praga 1921. Wieder abgedruckt in: Texte der russischen Formalisten [zweispr.]. Bd. II: Texte zur Theorie des Verses und der poetischen Sprache. Herausgegeben und eingeleitet von Wolf-Dieter Stempel. München 1972, S. 1 8 - 1 3 4 . II, 61. 191

bewahrte und andererseits von den herausragenden poetischen Möglichkeiten, die der Futurismus für die Sprache des Gedichts gewonnen hat, durchaus zu profitieren wußte, durch Chlebnikov mehr noch als durch Majakovskij. Daß er diesen durchaus in seinen Vers miteinbezog, verrät eine kleine Reminiszenz im späten Gedicht Hafen: du, wie die Astralflöte von jenseits des Weltgrats - auch da schwammen wir, Nacktnackte, schwammen, den Abgrundvers auf brandroter Stirn - . . . "

" I I , 51. 192

4· Dichter ohne Geschichte: Boris Pasternak

Sticht Pastemaka pocitat' gorlo procistit', dycbanie ukrepit', obnovit' legkie: takie stichi dolzny byt' celebny ot tuberkuleza.1 Pasternaks Gedichte zu lesen reinigt die Kehle, stärkt den Atem, erneuert die Lunge. Solche Verse müßten von der Tuberkulose heilen.2

a) Auf Luft- und Atemwegen E I N W U R F H O L Z , auf Atemwegen, so wanderts, das Flügelmächtige, das Wahre. Auf Sternenbahnen, von Weltensplittern geküßt, von Zeitkörnern genarbt, von Zeitstaub, mitverwaisend mit euch, Lapilli, verzwergt, verwinzigt, vernichtet, verbracht und verworfen, sich selber der Reim, so kommt es geflogen, so kommts wieder und heim, einen Herzschlag, ein Tausendjahr lang innezuhalten als einziger Zeiger im Rund, das eine Seele, das seine Seele beschrieb, das eine Seele beziffert. 3 A u f den 3o.Juli 1 9 6 1 datiert C e l a n die Entstehung dieses G e d i c h t s . E s ist w i e neun weitere w ä h r e n d des S o m m e r u r l a u b s in K e r m o r v a n entstanden und bildet z w e i J a h r e später z u s a m m e n mit diesen und einem nach der R ü c k k e h r in 1 2 3

SS II, 306. O. Mandelstam: Essays I, S. 184. 1,258. :

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Paris geschriebenen Gedicht den dritten Zyklus der Niemandsrose. Gerade während dieses Aufenthaltes in der Bretagne muß Celan sich intensiv mit russischer Dichtung befaßt haben, insbesondere mit derjenigen Mandel'stams, obwohl der Großteil der Übersetzungen zu diesem Zeitpunkt bereits abgeschlossen war. Das im selben Sommer in Kermorvan entstandene Gedicht Nachmittag mit Zirkus und Zitadelle mit der >Erscheinung< Mandelstams verweist darauf ebenso wie einige neue Ubersetzungsversuche, deren Daten in unmittelbarer Nähe zu der Gedichtentstehung stehen. Initiiert wurde diese erneute Beschäftigung mit russischer Dichtung zum damaligen Zeitpunkt offensichtlich durch einen bedeutenden Almanach, den Celan gut einen Monat zuvor (am 20.6.61) in Paris erhalten hatte und der mit zur Ferienlektüre gehörte: Vozdusnye putì II (Luftwege).4 Hier waren u.a. zahlreiche bisher unbekannte Gedichte Mandel'stams erstmals veröffentlicht; zahlreiche Annotationen und Ubersetzungsnotizen belegen die Arbeit Celans während des Aufenthaltes in Kermorvan (z.B. ein Übersetzungsversuch am 17.8.).5 Neben den wichtigen Texten von Mandel'stam verweist der Almanach zunächst jedoch in erster Linie auf einen Autor, mit dessen Werk sich Celan sich damals auch, wenngleich schon drei Jahre zuvor und fast ausschließlich lesend und nicht übersetzend, beschäftigt hat, und der daher in der bisherigen Celan-Forschung keine Erwähnung gefunden hat: Boris L. Pasternak (1890-1960). Nach der durch die Nobelpreisverleihung 1958 ausgelösten Affäre Pasternak und der daran anschließenden Isolierung des Autors versuchten russische Emigranten in den USA zwei Jahre später wenigstens spirituell Kontakt mit Pasternak aufzunehmen und gaben aus Anlaß seines siebzigsten Geburtstages den Almanach Vozdusnye puti heraus. Die Gabe zum Jahrestag wurde durch Pasternaks Tod noch im selben Jahr unversehens zur Aufgabe des Gedenkens, was die Herausgeber zu einer Fortsetzung des Projekts in vier weiteren Bänden veranlaßte. Auf »Luftwegen« sollte mit dieser Publikation eine - Räume und Zeiten übergreifende - geistige Verbindung hergestellt werden zu dem in Werk und Person Pasternaks bewahrten anderen kulturellen Erbe Rußlands. Al'manach nazvan > Vozdusnye putiLuftwege< nach einer früheren Erzählung von ihm [sc. Pasternak], um das Imaginäre der Schranken zu unterstreichen, die umsonst zwischen uns auf der Erde errichtet worden sind.) 4

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Vozdusnye puti (Aerial ways). Al'manach II (Luftwege. Almanach). Red. R . N . Grinberg. N ' j u - J o r k 1961 (Verz. Nr. 346). Celan nennt den Almanach explizit als Quelle seiner Mandel'stam-Übersetzungen aus dessen Nachlaß in der bibliographischen Notiz zu deren Erstpublikation in der Neuen Rundschau 74 (1963), H . i , S. 163. Vozdusnye puti, (Aerways). Al'manach (Luftwege. Almanach). Red. R . N . Grinberg . N'ju-Jork i960, S. 3.

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Der Titel Luftwege ist Zitat. Vozdusnye puti ist zugleich der Titel einer (politisch wie ästhetisch gesehen) Schlüsselerzählung Pasternaks, deren Erstveröffentlichung 1924 in der von Gor'kij betreuten Berliner Emigrantenzeitschrift Beseda durch den Einspruch von V. Chodasevic verhindert worden war (wegen Pasternaks offener Stellungnahme gegen die Todesstrafe). Sie erschien noch im selben Jahr in der Zeitschrift Russkij sovremennik in einer veränderten Fassung; da Pasternak seine Manuskripte nicht aufzubewahren pflegte, ist der Urtext nicht mehr rekonstruierbar.7 Zeitlich und thematisch entspricht die Erzählung Luftwege den bereits behandelten Gedichten von Esenin und Blok eine kritische Auseinandersetzung mit der Revolution, deren Infragestellen des Kreatiirlichen von Pasternak zu diesem Zeitpunkt sehr bewußt wahrgenommen wurde. Das Gedicht Ein Wurfholz steht in keinem ersichtlichen Zusammenhang zu diesem bedeutenden Prosawerk Pasternaks. Es zitiert auch keinen der im Almanach enthaltenen Texte. Und doch scheint mir hier eine Anspielung auf den Band und damit sekundär auch auf Pasternak gegeben zu sein. In der Formulierung »auf Atemwegen« könnte - neben anderem - auch eine metonymische Übersetzung von »vozdusnyj« mit der Verschiebung von »Luft-« zu »Atem-« vorliegen. Die »Luftwege« - ein durchaus dem Celanschen »Meridian« vergleichbares Konzept - , auf die sich die russische Emigration als Zeichen einer durch keine Grenze unterbrochenen geistigen Verbindung berief und die zugleich eine politische und eine poetische Botschaft darstellten, werden von Celan antizipiert und als »Atemwege« dem eigenen poetischen System eingegliedert: Das Gedicht selbst konstituiert sich erst auf >LuftwegenPopularitätDie Wirbelknochenflöteapokalyptische< Stimmung des Gedichts ist also nicht nur begründet durch die >apokalyptische< Konstitution der jungen Sowjetunion, die wenige Jahre nach Revolution, Weltkrieg, und Bürgerkrieg große Teile der Intellektuellen zur Emigration zwang. Abfahrt wird hier zu einem Abschied für immer, zum Rückblick auf die sich langsam entfernenden Ufer der Heimat, zur Vorausschau auf Heimatlosigkeit, Fremde, Verlorenheit. Das Gedicht spart nicht mit Anspielungen auf diese Zusammenhänge. Es übt zugleich die für Pasternak bezeichnenden Techniken einer realistischen und symbolhaften Darstellung und offenbart andererseits deutlich seine Zwischenstellung zwischen symbolistischer und futuristischer Dichtung. Das Prinzip der Klanggestaltung, die musikalische Komposition dominiert die Wortwahl. Viele der frühen Gedichte Pasternaks sind gerade aufgrund dieser am Lautlichen orientierten und dicht komponierten Struktur bis heute unübersetzt geblieben; für Celan bot sich auch von hier aus die Übersetzung Pasternaks als eine anspruchsvolle Aufgabe an. Die italienische Ausgabe, die erste größere Auswahlausgabe im Westen, scheint zunächst Celans Arbeitsexemplar gewesen zu sein; sie enthält wenige Lektürespuren, sie enthält aber auch eine Fülle von Einlagen, die eine über 1958 hinausreichende Beschäftigung andeuten. Anhand der Bestände ist heute nicht mehr zu rekonstruieren, ob übersetzerische Pläne auf diese Anfangsphase der Pasternak-Lektüre beschränkt blieben. Der schon recht umfangreiche russische Textkorpus der italienischen Edition wurde erst i960 ergänzt durch eine im Frankfurter Posev-Verlag veröffentlichte Auswahl.27 Eine 1961 in Moskau publizierte Auswahl28 erwirbt Celan am 22.1. 1962, die amerikanische Ausgabe des Frühwerks 2 ' am 10.12. desselben Jahres. Damit sind sämtliche nach der Preisverleihung erschienenen Gedichtbände Pasternaks in Celans Bibiothek nachweisbar. Wie in den meisten Fällen intensiveren Interesses für einen Autor finden sich auch bei Pasternak neben den einschlägigen russischen Ausgaben Ubersetzungen in verschiedene Sprachen sowie dokumentarische Bände bzw. Abhandlungen über sein Werk. Die erhaltenen Titel sind ausnahmslos zwischen 1957 und 1961 erschienen. Celan hat

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2

Vgl. ebd., K o m m e n t a r S.687, dort auch der Brief an den B r u d e r v o m 17.8.22. B o r i s Pasternak: Poézija. Izbrannoe (Dichtungen. A u s w a h l ) . F r a n k f u r t a.M. i960 (Verz. N r . 266). B o r i s Pasternak: Stichotvorenija i p o é m y (Gedichte und Poeme). M o s k v a 1961 (Verz. N r . 268).

' Boris Pasternak: Socinenija. Stichi i p o e m y 1 9 1 2 - 1 9 3 2 (Werke. G e d i c h t e und Poeme). P o d red. G . P . Struve i Β . A . Filippova. Predislovie ¿ a k l i n y de Pruajar. Vstup. stat'ja V. Vejdle. A n n A r b o r 1 9 6 1 (Verz. N r . 267).

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nicht in allen Bänden den Tag des Erwerbs notiert, die letzten Daten nennen den 23.7.64 30 bzw. den 7.8.65. 31 Auffällig erscheint weiter, daß Celans Bibliothek mit Ausnahme weniger autobiographisch-dokumentarischer Texte (Veröffentlichung des Fischer-Verlages bzw. vom Pasternak-Vertrauten Gerd Ruge), die Prosa Pasternaks einschließlich des Romans nicht enthält. Diesen Angaben ist zu entnehmen, daß Celans Beschäftigung mit Pasternak teil hatte am aktuellen Interesse für diesen Autor. Sie fiel zugleich in die Kernphase seiner Beschäftigung mit russischer Dichtung überhaupt; sowohl in ihren Anfängen (um 1958) wie gegen Ende (weitere Bucherwerbungen nach 1961/62 ohne nennenswerte Lektüre- oder Ubersetzungshinweise) entspricht sie Celans Bemühungen um Vertrautheit insbesondere mit der Phase der russischen Literaturgeschichte, in der die Lyrik zu nie wieder erreichter unvergleichlicher Brillianz aufstieg. Die erhaltenen Titel lassen ebenso wie die begleitenden Dokumente darauf schließen, daß Celan sich dem Werk Pasternaks in ähnlicher Weise zu nähern suchte wie dem einer ganzen Reihe anderer Autoren derselben Epoche. Sein Interesse wurde unterstützt durch die aktuellen Ereignisse, scheint im Unterschied zur aktuellen Rezeptionslinie aber weg von der Prosa, auch weg vom späten Zyklus Kogda razguljaetsja (1957-59), der Celan in der Übersetzung von R.-D. Keil von i960 vorlag, 32 vor allem auf die frühe Phase der Lyrik zwischen 1 9 1 2 und 1932 gerichtet gewesen zu sein, jene ersten zwanzig Jahre einer »genialen« Poesie, wie sie Marina Cvetaeva in ihrem Essay »Dichter mit Geschichte und Dichter ohne Geschichte« einschätzte.33 Gerade die Namen der Herausgeber der entsprechenden russischen Ausgaben dieses Teils des Werks von Pasternak - Gorièly in Paris und Struve in den U S A , mit denen Celan persönlich bekannt war und die für ihn große Bedeutung als Vermittler besaßen - weisen darauf hin, daß sein Interesse doch in erster Linie der vornehmlich lyrischen Frühphase Pasternaks galt, die ihn mit den für Celan wichtigsten Autoren Mandel'stam und Cvetaeva, aber auch mit Majakovskij, in Beziehung setzte. Auf die Bedeutung und Gegensätzlichkeit all dieser Autoren, deren Werke doch in etwa komplementärer Beziehung zueinander standen, wurde Celan 30

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Boris Pasternak: Bescheidenheit und Kühnheit. Gespräche, Dichtungen, D o k u mente. In Zusammenarbeit mit Willi Reich und Ursula von Wiese. Hrsg. von Robert E. Meister. Zürich 1959 (Verz. Nr. 270). Boris Pasternak: Stichotvorenija i poèmy (Gedichte und Poeme) Vstup. stat'ja A . D . Sinjavskogo. Sostavlenie, podgotovka teksta i primecanija I.A. Ozerova. MoskvaLeningrad 1965 (Verz. Nr. 269). Boris Pasternak: Wenn es aufklart. Gedichte 1956-1959. Die Gedichte des Jurij Schiwago. In neuer Übersetzung. Aus dem Russischen von Rolf-Dietrich Keil. Frankfurt a.M. i960 (Verz. Nr. 273). Marina Zwetajewa: Dichter mit Geschichte und Dichter ohne Geschichte. In dies., Ein gefangener Geist. Essays. Aus dem Russischen übertragen und mit einem Nachwort versehen von Rolf-Dietrich Keil. Frankfurt a.M.1989, S. 1 1 5 - 1 6 6 .

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von verschiedenen Seiten hingewiesen. Es gibt wohl kaum eine Epoche der russischen Literatur, in der derart intensiv der Zugang zu den je singulären Erscheinungen über ihr >Gegenstück< gesucht wird. 34 Auch Pasternak wurde und wird oft in diese Vergleiche gestellt; er hatte andererseits aber auch selbst dazu Anlaß gegeben, seitdem er in seinem ersten autobiographischen Versuch Ochrannaja gramota (Geleitbrief; 1929) 35 seine Biographie als Bilanz der Begegnungen mit den Persönlichkeiten dargestellt hat, die seine künstlerische Entwicklung wesentlich prägten. Hier tritt neben Rilke, dem er als Kind begegnete, neben Skrjabin als musikalischem Vorbild und Cohen als philosophischem Lehrer in Marburg vor allem Majakovskij. Nach Majakovskijs Tod 1930 fiel Pasternak, der 1922 mit seinem dritten Gedichtband Sestra moja - zizn ' den >Durchbruch< geschafft hatte, die Rolle des ersten Dichters im Staate zu, der er sich jedoch zunehmend entzog. Majakovskij und Pasternak - ein ungleicheres Dichterpaar hätte kaum benannt werden können, obwohl sich beide zumindest eine Zeitlang nahe gestanden hatten.' 6 Diese Verbindung offenbart jedoch in den Zusammenhängen der Rezeption russischer Dichtung so etwas wie die Aufgabe einer alternativen Entscheidung, die den einen Dichter gegen den anderen ausspielt. So geschieht es in einem im Nachlaß Celans aufgefundenen, kurz nach der Veröffentlichung des Doktor Zivago verfaßten Zeitungsartikel der damals engagiertesten Vermittlerin russischer Literatur in Frankreich, Elsa Triolet. Sie reagiert auf die jüngsten Publikationen Pasternaks in russischer Sprache und in Ubersetzungen; dabei bezeichnet sie, die Majakovskij persönlich und politisch nahe stand, Pasternak des Verrats an Majakovskij, des Verrats auch an den ästhetischen und realitäts-bezogenenen Idealen, für die jener gekämpft hatte und für die er letztlich auch gestorben war. Sie bezieht sich dabei in erster Linie auf die zweite autobiographische Skizze, die Pasternak 1959 veröffentlichte, 37 die im Grunde jedoch keine Fortsetzung der ersten, sondern eine neue Perspektive auf denselben schon früher beschriebenen Zeitraum

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>6 37

Vgl. die Einleitung von Luda Schnitzer zur ersten französischen Auswahlausgabe der Werke Chlebnikovs, die auf eben diese Tendenz reagiert: »Vélimir Khlebnikov sans >etAb-artigkeitBefleckung< durch die Götter läßt auf eine Heimsuchung schließen, die gewöhnlich durch das >Böse< bezeichnet wird. In diesem Bereich aber siedelt sich der französische Terminus »haut mal« an, der weniger von »maladie«, der Krankheit, als von »mal«, dem Bösen, herrührt, und die Epilepsie volksetymologisch als eine Art »Heimsuchung« deutet. Der Kontext der Gedichte, die Celans Haut mal umgeben, ist in hohem Maße von im Spätwerk zunehmend zu registrierenden >Wahngedichten< geprägt. Dieses Gedicht, an wen immer auch gerichtet und von wem immer auch sprechend, nimmt zum einen eine Prädikation vor: »Unentsühnte,/ Schlafsüchtige,/ von den Göttern Befleckte:// deine Zunge ist...« etc., zum anderen beschreibt es Handlungen, zu denen das Sprechen und das Gehen, aber auch mystische Gesten wie Handauflegen und »Beheiligen« gehören. Neben dem sexuellen Kontext evoziert das Gedicht damit den Ritus einer Bestimmung von Zugehörigkeit, wie er aus früheren Gedichten bekannt ist. Damit ist aber auch, wiederum, ein poetologisches Bekenntnis aufgerufen. In diesem Problemfeld erscheint nun der merkwürdige Pasternak-Text »Haut mal«, französischer Titel lediglich eines Ausschnitts aus dem Poem Vysokaja bolezn' (Die hohe Krankheit). Das Poem wurde von Pasternak in zwei Versionen veröffentlicht und lag Celan namentlich in der zweiten Fassung in mehreren seiner russischen Pasternak-Ausgaben vor.46 Pierre Pascals französische Ubersetzung »Haut mal« vollzieht bereits ganz bewußt ein Wortspiel; in der späteren Buchveröffentlichung wurde das von Danielle Beaune und Michel Aucouturier übersetzte Poem dann >korrekt< dem Titel Haute maladie unterstellt.47 Damit changiert die französische Ubersetzung zwischen dem vereindeutigenden Titel »Haut mal« (Epilepsie) und Haute maladie (Hohe Krankheit), wobei erstere einen lexikalisierten Begriff darstellt, der sich an die wörtliche Übertragung von »vysokaja«, sc. »haute«, und »bolezn'« (maladie), noch anlehnt, während letztere gerade in ihrer Interlinearität die Offenheit des russischen Begriffs zu bewahren sucht und für den Franzosen eben nicht vereindeutigend auf den Terminus der Krankheit festzulegen ist. Das Poem, das in seiner vollständigen Version nach der ersten Publikation in der Zeitschrift LEF 1924 von Pasternak noch einmal 1929 in der erweiterten Ausgabe von Poverch bar'erov {Über Schranken hinweg) veröffentlicht worden ist, markiert Paster-

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In: Socinenija (Ann Arbor 1961; Verz.Nr. 267) und in: Stichotvorenija i poèmy (Moskva 1961; Verz.Nr. 269). Boris Pasternak: Haute maladie. Traduit par Danièle Beaune et Michel Aucouturier pour le début et la fin. In: ders., Poèmes. Choix d'Evguéni Pasternak, fils du poète [zweispr. russ.-frz.]. Bruxelles 1989. S.90-115.

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naks Abwendung vom lyrischen und seine Hinwendung zum epischen Schreiben; allein das epische sei, so Pasternak, ein den Umständen der Zeit angemessenes Schreiben. Es ist - neben anderen Texten wie Das Jahr 190), für das sich Celan ebenfalls interessiert zu haben scheint48 - Pasternaks Reaktion auf die Revolution, auf die Elementargewalt der Revolution. Nicht die Begründung dieser Abwendung erscheint merkwürdig (gerade die Krise des lyrischen Sprechens ist in den frühen zwanziger Jahren eine auch beispielsweise bei Mandel'stam wie bei Cvetaeva zu beobachtende Reaktion auf die umgestürzten Verhältnisse), sondern die Darstellung einer Ablehung lyrischen Sprechens als Zugeständis an die Zeit in einer weiterhin lyrischen Bildersprache: In höchster dichterischer Ausformung erfolgt nun die Deklassierung der Dichtung bei Pasternak als »Hohe Krankheit« - eine bei seinen Zeitgenossen nicht unumstrittene Einschätzung. Damit stehen aber die Schwierigkeiten des lyrischen Schreibens nicht mehr nur im Zusammenhang mit der Unangemessenheit des lyrischen Sprechens, die gesellschaftlichen Veränderungen, die mit den historischen Veränderungen (Weltkrieg und Bürgerkrieg, Revolution) einhergegangen sind, auszudrücken; wenn die lyrische Ader als eine »schlechte« (oder böse), die lyrische Begabung damit aber als »Hohe Krankheit« bezeichnet wird, dann scheint damit umgekehrt und abgründig auch etwas von jenem Wahnhaften auf, das gerade die Dichter in Zeiten großen historischen Umbruchs kennzeichnet. Hier werden die Möglichkeiten poetischen Sprechens nicht nur in Frage gestellt, sondern als »Hohe Krankheit« gleichsam in den Bereich der Utopie (ähnlich wie der >Wahn< Chlebnikovs) verrückt. So liest sich Celans spätes Gedicht im Kontext wahnhaften Sprechens - das Gedicht eines Dichters, dem es im eigentlichen Sinne immer um die Möglichkeit dichterischen Sprechens und seine Infragestellung durch die Gegebenheiten der äußeren Wirklichkeit gehen mußte - hier vielleicht doch auch als Bezugnahme auf Pasternaks Haltung. Pasternak war kein Autor, mit dem sich Celan wie mit Mandel'stam zumindestens zeitweise hätte identifizieren können. Aber Pasternak war einer der bedeutenden Dichter, die jener »vergeudeten« Generation zuzurechnen sind, mit deren Werk sich Celan, was die russische Literatur betrifft, fast ausschließlich beschäftigt hat. Unter seinen Zeitgenossen nimmt Pasternak eine merkwürdige Sonderstellung ein, sowohl was seine künstlerische Haltung wie auch was seinen Lebensweg betrifft. Er gehört zu den ganz wenigen Autoren, die die Zeit der großen Veränderungen in Rußland, Revolution, Bürgerkrieg, Stalinistische Säuberungen und zwei Weltkriege überlebt haben. Er hat ein bedeutendes Werk geschaffen sowohl im Bereich der Lyrik wie in der Epik wie auch als Ubersetzer. Er gehörte keiner der großen Kunstrichtungen Rußlands vom 48

Boris Pasternak: L'an 1905. Paris 1958 (Verz.Nr. 274); ebenfalls in: B. Pasternak: Poesie. Turin 1957 (Verz.Nr. 276). 209

Anfang des Jahrhunderts wirklich an, stand ein wenig dem Futurismus nah; wenn er in einem Atem mit Majakovskij oder Chlebnikov genannt wurde, dann als deren Gegenpol. In dem Augenblick, als er mit seiner Prosa Weltruhm erreichte, kehrt er zur Lyrik zurück und verfaßt nach jahrzehntelangem Schweigen ein dichterisches Spätwerk, das seinesgleichen sucht. Dieser Autor, der mit unvergleichlicher Stille (gemessen an den oft laut- und aktionsstarken Artikulationen seiner Zeitgenossen) alle politische Unbill zu mäßigen verstand, fällt am Ende seines Lebens bei Volk und Partei gleichermaßen in Ungnade durch die Publikation seines in Rußland abgelehnten späten Romanwerkes im Ausland, ein Werk, das wie wenige andere den Weg Rußlands in diesem Jahrhundert ihm selbst und der Welt nahe zu bringen vermochte. Pasternak ist als trotz westlicher Bildung seiner östlichen Heimat Verpflichtetem vom Osten verstoßen und vom Westen mißbraucht worden. Sein Schicksal offenbart die Blindheit des Ostens ebenso wie die Unbedachtheit des Westens, die gleichermaßen »das Menschliche« wie »das Leben«, Grundwerte Pasternaks, völlig außer acht lassen. Marina Cveateva hat Pasternak in einem bedeutenden umfangreichen Essay einen Dichter ohne Geschichte genannt und ihn damit den Dichtern mit Geschichte gegenübergestellt. Es war ihr Versuch, Pasternak zu verstehen gerade in seiner scheinbaren Teilnahmslosigkeit gegenüber den dramatischen Entwicklungen seiner Zeit, die ihm so oft vorgehalten wurde. Ohne daß Celan diesen Text kennen konnte (er wurde zunächst in serbischer Sprache in Belgrad publiziert und erst 1980 ins Russische gekürzt rückübersetzt), ist seine Beschäftigung mit Pasternak doch geprägt von dieser Qualifikation. Der Dichter ohne Geschichte ist nach Cvetaeva durch zwei Grundeigenschaften gekennzeichnet. Zum einen ist er »immer schon fertig«, durchläuft keine Entwicklung, ist immer ganz er selbst. Zum anderen kann er nicht auf die geschichtliche Entwicklung reagieren, bleibt im Grunde im luftleeren Raum stehen, »ewig«, unwandelbar. Hier steht er den Dichtern mit Geschichte, die sich selbst in einer früheren Phase nicht erkennen, entgegen. Zu ihnen rechnet Cvetaeva Puskin und Goethe, von den Zeitgenossen aber Blok. Die Einteilung mag griffig erscheinen, erweist sich aber in ihrer Pauschalität im wissenschaftlichen Bereich als problematisch; ihr eignet wohl dichterische Gültigkeit, nicht aber ausreichend heuristische Valenz für die literaturwissenschaftliche Analyse. Allerdings hilft sie im hier besprochenen Zusammenhang bei der Einschätzung des Stellenwertes, den die Pasternak-Lektüre für Celan überhaupt haben konnte. Sie betont Pasternaks durchaus einmalige, herausgehobene und in gewissem Sinne mittlere Stellung innerhalb der Gruppe von Autoren, denen er sich wirklich nachhaltig gewidmet hat. Die Antiposition, die Celan durch seine Bestimmung als Dichter ohne Geschichte zu ihm gewinnen mußte zugunsten von Mandelstam, kennzeichnet die Beschäftigung mit seinen Texten daher im wesentlichen als Gegenzug, Gegenentwurf, Gegenwort, Antwort. Bei 210

vielleicht keinem der übrigen Autoren ist dieser Gestus der Aufnahme und Umwendung deutlicher zu beobachten als bei diesem Antipoden Mandel'stams, Cvetaevas, Chlebnikovs und Majakovskijs, deren Zeitgenosse - und Freund - Pasternak war. Die Auseinandersetzung wird noch brisanter, wenn man bedenkt, daß Celan einzig Pasternak als seinen Zeitgenossen noch erleben konnte eben dadurch, daß die eigentliche Wahrnehmung seines Werkes erst 1957/58 mit der Verleihung des Nobelpreises und der daraus sich entwickelnden persönlichen Katastrophe für Pasternak einsetzte. Für Celan ist die Nobelpreisaffäre der Vorbote der eigenen Verleumdungsaffäre, die sein Verhältnis zu Russischem auch geprägt hat.

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5· Das Gedicht im Geheimnis der Begegnung mit Mandel'stam ... ne volk ja po krovi svoej I menja tol'ko ravnyj ub'et Denn ich bin nicht von wölfischem Blut, und mich fällt nur die ebenbürtige Hand.2

a) Geheimnis und Begegnung Aber steht das Gedicht nicht gerade dadurch, also schon hier, in der Begegnung - im

Geheimnis der Begegnung Die Begegnung Celans mit Osip Mandel'stam steht im Zentrum seiner Auseinandersetzung mit russischer Literatur überhaupt. Dabei sind wenigstens vier Aspekte der Realisierung dieser Begegnung zu unterscheiden. Celans Auseinandersetzung mit Mandel'stam vollzieht sich auf textueller Ebene - vornehmlich im Bereich der Niemandsrose - als Begegnung sowohl mit der Gestalt wie mit dem Gedicht Mandel'stams. Die Begegnung wird auf dem Höhepunkt dieser Auseinandersetzung >gewonnen< als poetologisch relevante Kategorie und i960 als Grundbegriff seiner Poetik in der Büchner-Preis-Rede festgeschrieben. A m selben Ort erfährt sie dann ihre letzte Differenzierung. Ausgehend von der Begegnung als Intention der Bewegung des Gedichts, wendet sich Celan von Mandel'stam (der in der Rede keine Erwähnung findet) ab und kehrt zu eigenen frühen Texten zurück: die Begegnung wird zur Selbstbegegnung, das Gedicht aber »Durchgang« 4 und »Mitte«. 5 Von hier aus erscheint nun die konkrete Begegnung mit Mandel'stam als ein eigenständiges Ereignis, das in verschiedenen Phasen ablief, und dem auf verschiedenen Ebenen des poetischen Diskurs nachzugehen ist. Allerdings erfolgte die Konzentration der Auseinandersetzung mit Mandel'stam zur Begegnung nicht voraussetzungslos. Sie erscheint zum einen vorbereitet durch ein Konzept mystischer Begegnung, das im Zusammenhang jüdischer Tradition steht. Z u m anderen sind in der Dichtung Mandel'stams selbst Voraussetzungen gegeben, die Celans Begriff der Begegnung bereits als Reflex auf die Poetik Mandel'stams erweisen, wiewohl Mandel'stam selbst die Begegnung als poetische Kategorie nicht benennt.

1

SS I, 148.

2

V, 153. ' III, 198. t i l i , 186. 5

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V, 623.

Begegnungen gestaltet Die Niemandsrose zahlreich und auf verschiedene Arten. Noch bevor Mandel'stam überhaupt ins Gespräch kommt (hier einmal abgesehen von der Widmung), berichtet von einer Begegnung mit der seelenund schicksalsverwandten Dichterin Nelly Sachs das Gedicht Zürich, Zum Storchen.6 Ort und Datum der Begegnung werden in Titel und Text (»Am Tag einer Himmelfahrt«) präzisiert, der Gesprächspartner wird - wie Mandel'stam - in die Widmung genommen (»Für Nelly Sachs«), Dieses Gedicht thematisiert somit Begegnung doppelt: Es der Bericht von einer realen Begegnung; zugleich ist diese gekennzeichnet durch eine Art von Rede, wie sie das (entsprechend der Büchner-Preis-Rede) im Geheimnis der Begegnung stehende Gedicht auszeichnet: »dein Mund/ sprach sich dem Aug zu..«.7 Und schließlich ist Zürich, Zum Storchen als Gedicht selbst die erinnernde und wiederholende und zugleich die abwägende Rede, und als solche erneute Begegnung mit dem Wort. Celan hat hier, gleich zu Beginn der Niemandsrose, das Thema der Begegnung eingeführt, den darin enthaltenen Zuspruch in den Kontext der Widmung, eines Sprechens als Geschenk und Gedenken, gestellt. Er gestaltet dann noch weitere Begegnungen mit Nelly Sachs in den folgenden Gedichten, wobei er nun ganz bewußt (und zum Teil durch Vorstufen der Gedichtentstehung nachweisbar) die Konkreta der Begegnung im Gegensatz zur ersten Nennung zurücknimmt. Die Ambivalenz von Einheit und Trennung, Aufgehen in dem Anderen und zugleich die Separation fügt das Gedicht Selhdritt, selhviert in volksliedhafte Verse: Diese Stunde, deine Stunde, ihr Gespräch mit meinem Munde. 8

Die schmerzhafte und folgenreiche Erfahrung einer ausgebliebenen Begegnung mit Nelly Sachs® gestaltet dann Die Schleuse - und setzt dagegen die »Begegnung« mit den verbliebenen, verlorenen, zu rettenden Worten »Schwester«, »Kaddisch«, »Jiskor«.'° Und schließlich wird in einer weiteren Stufe der Rücknahme auf die Gespräche mit Nelly Sachs Bezug genommen im einige Monate später entstandenen Gedicht Radix, Matrix:

6

I, 2 I 4 f . '1,214. 8 1,216. 9 Celan war im September nach Stockholm gereist, um der schwerkranken Nelly Sachs zu Hilfe zu kommen; er wurde im Krankenhaus nicht vorgelassen und mußte nach Paris zurückkehren, ohne mit ihr gesprochen zu haben. Das dieses Erlebnis reflektierende Gedicht weist in den Handschriften noch deutlichere Hinweise auf den Besuch

auf, beispielsweise im ursprünglichen Titel Stockholm, Linnégatan toh. Vgl. P. H. Neumann: Was muß ich wissen, um zu verstehen? Paul Celans Gedicht >Die Schleuses ein Gedicht für Nelly Sachs. In: Celan-Jahrbuch 4 (1991), S. 27-38.

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I, 222.

Wie man zum Stein spricht, wie du, mir vom Abgrund her, von einer Heimat her Verschwisterte, Zugeschleuderte, du, du mir vorzeiten, du mir im Nichts einer Nacht, du in der Aber-Nacht Begegnete, du Aber-Du

Die Begegnung wird bei Celan - dies macht gerade der Kontext der Auseinandersetzung mit Nelly Sachs deutlich - existentiell bedeutsames Ereignis, sie hat Erkenntnisfunktion. 12 Sie steht im Zusammenhang der eigenen Selbstfindung und Selbstbestimmung aus der Erfahrung des Holocaust heraus, sie steht auch im Zusammenhang der Frage nach dem jüdischen Gott. In ähnlichem Sinne ist das Zusammentreffen der beiden Juden »Klein« und »Groß« zu verstehen, in dem es nicht nur heißt »ich weiß, ich bin dir begegnet, hier«, 13 an das auch an entscheidender Stelle im Meridian erinnert wird eben in Bezug auf die (spätere Erkenntnis der) Begegnung als Selbstbegegnung. 14 Auf diese Zusammenhänge und ihre Wertigkeit hinzuweisen, erscheint mir vor der Untersuchung der spezifischen Begegnung mit MandePstam notwendig, weil damit bestimmte Akzente erkennbar werden, die dem Begriff in Celans Verständnis (und Bestimmung als poetischer Grundkategorie) eignen und die sich zunächst offenbar unabhängig von der Beschäftigung mit MandePstam konstituierten. Weder in der Poetik Mandel'stams, noch in Celans eigenen Ausführungen über Die Dichtung Ossip Mandelstamms erscheint der Begriff der Begegnung in der dargestellten Ausprägung. In den entscheidenden und in den Meridian übernommenen Passagen der Rundfunksendung über MandePstam, in denen die Aspekte Befremdung, Unterwegssein und Gegenüber entwickelt werden, sind die Begriffe >Begegnung< und >das Andere< noch nicht enthalten. Gerade an die-

12

Vgl. dazu auch das frühere Gedicht Sommerbericht aus dem Band Sprachgitter: Wieder Begegnungen mit vereinzelten Worten wie: Steinschlag, Hartgräser, Zeit. (1,192) Die Begegnung impliziert die Vorgänge von Wahrnehmen, Erkennen und Aussprechen; sie zeigt sich hier als - vereinzelt verwirklichte - Möglichkeit des Gebrauchs kategorialer Begriffe. 'J III, 172 14 III, 201; ähnlich wie das Ausbleiben der realen Begegnung mit Nelly Sachs den mystisch geprägten Wortgewinn erst ausgelöst hat, ist auch hier die Realität einer »versäumten Begegnung« (sc. mit Adorno) Voraussetzung für die Erfahrung der Selbstbegegnung. 214

ser Stelle wird bereits deutlich, in welchem Maße die Konzentration auf Fragen jüdischen Schicksals, wie sie in den Gedichten der Begegnung mit Nelly Sachs aufscheinen, auch die spätere Deutung Mandel'stams bestimmen mußte.'5 Das Gedicht Celans steht eben deshalb im Geheimnis der Begegnung, weil hier eine Art mystischer Erkenntnis im Moment des Zusammentreffens aufscheinen kann, wie sie anders nicht möglich ist. Zuwendung und Abwendung, Abgrund und Hoffnung kreuzen sich auf einmalige Weise, leuchten im Nu ihrer Gleichzeitigkeit auf 16 und machen das letztlich Unaussprechliche im Moment des Gedichts sichtbar.'7 Andererseits bedeutet »Geheimnis« hier auch die Tendenz Celans, die äußerlichen Spuren solcher Begegnungen, die neben Personen und Texten, auch sprachliche >Begegnungen< oder eben mystische Erlebnisse einschließen, in der endgültigen Erscheinungsform des Gedichts wieder zu verhüllen - Zeichen der Diskretion ebenso wie der Einsicht in das sich verhüllende Wesen des Göttlichen. Die Begegnung mit fremden Zeiten und Kulturen als produktive Auseinandersetzung, Präsentation und Anverwandlung gehörte ihrerseits zu den Grundlagen der Dichtung und Ästhetik Mandel'stams selbst. Sie ist belegbar in einer intensiven dichterischen, reflexiven und übersetzerischen Auseinander15

Bezeichnend scheint mir gerade an dieser Stelle Celans Beziehung zu Hölderlin im Gegensatz zu Nelly Sachs und Mandel'stam zu sein. Im Gedicht Tübingen, Jänner nimmt er Hölderlin als Gestalt nicht in die Begegnung und artikuliert statt dessen eine merkwürdige Distanz zu ihm in den einleitenden Versen »Zur Blindheit über-/ redete Augen.«, aber auch in der >Verzerrung< der Realia und nicht zuletzt in der Rücknahme des Zu-sagenden in den Konjunktiv in der zweiten Gedichthälfte. Ein bedenkenswert ablehnender Zug erscheint m.E. auch im Gedicht La Contrescarpe: an der Kehre, wo er dem Brotpfeil begegnet, der den Wein seiner Nacht trank, den Wein der Elends-, der Königsvigilie. (I, 282)

16 17

das seinerseits wieder in bewußtem Gegensatz zu dem (auf Nelly Sachs bezogenen?) Gedicht Kolon steht. Die m.E. eher ablehnende Haltung Celans gegenüber bestimmten Grundzügen der Hölderlinschen Poetik, wie sie gerade durch Heidegger vermittelt wurden, steht in bedeutsamem Zusammenhang zur Konzeption eines Gegenentwurfs, des Gegenworts überhaupt, wie er von Celan mit wesentlicher Bezugnahme auf Nelly Sachs und auf Mandel'stam, sowie auf seine eigene >östliche< Erfahrung versucht wurde. Vgl. das Motiv der Waage. In einer unveröffentlichten Notiz Celans aus dem Meridian-Konvolut findet sich unter dem Stichwort »Rezeption« eine dementsprechende Formulierung: »..ich glaube nicht, daß sich hier Kriterien herausarbeiten ließen, die die Begegnung mit dem Gedicht von mystischen Erlebnissen zu unterscheiden vermöchten..« (vgl. unten Kap.IV, i, S. 323). Gerade die Begegnung mit Nelly Sachs war nicht nur von solch mystischen Erlebnissen geprägt, sie machte Celan auch (noch mehr) empfänglich für mystische Einsichten.

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Setzung nicht nur mit den Werken der russischen, sondern vor allem mit solchen europäischer Dichtung, deren Spektrum von der klassischen Antike bis zur französischen Moderne reicht und deren bedeutendstes Zeugnis vielleicht das späte Gespräch über Dante ist. Diese Bindung an und der Dialog mit der europäischen abendländischen Kultur, die Mandel'stam vollzieht, ist wesentliches Merkmal seines Akmeismus, den er selbst als »Sehnsucht nach Weltkultur« bezeichnet hat.18 Sie ist auch Charakteristikum der russischen Moderne, die eben aus dem intensivierten »Gespräch« mit Westeuropa heraus die Dichtung noch einmal auf die Höhe jenes »Silbernen Zeitalters« bringen konnte, bevor ihr, 1932, durch die Gleichschaltung literarischen Schaffens in der Sowjetunion ein jähes Ende gesetzt wurde. Celans Bezugnahme auf fremde Texte, die Integration fremder Stimmen in sein Werk, unterscheidet sich weniger in den Verfahren, auf die im Vergleich noch einzugehen sein wird, als in der auf mystische Erkenntnis zielenden Konzeption der Begegnung wesentlich von dem Gestus Mandel'stams. Zugleich scheint schon hier jene entscheidende Dimension auf, die als Impuls erkennbar wird, dem Begriff des literarischen Einflusses jedoch unzugänglich bleibt. Der für Mandel'stams Dichtung konstitutive Begriff von Weltkultur verdankt sich einer historischen Situation, wie sie Mandel'stam in seiner autobiographischen Prosa Das Rauschen der Zeit eindringlich beschrieben hat. Das Erlahmen des Geistes in der erstickten Atmosphäre des 1 «^Jahrhunderts, das Beharren auf der Unauflöslichkeit des Konflikts zwischen Russischem und Westlichem und der Rückzug auf Russisch-Nationales werden von ihm als aufkommender Barbarismus (Skythentum) gedeutet, eine Bewegung, die der Erneuerung in der Besinnung und Integration klassisch-europäischen Kulturguts bedurfte. Mehrere Reisen und Studienaufenthalte in Frankreich und Deutschland, vor allem aber seine Aufenthalte auf der Krim sowie die Reise nach Armenien lassen bei ihm das Bild einer Kultur als Reise entstehen, die durch ausgedehnte Räume und die darin repräsentierten Zeiten führt und sich im Bewußtsein des Reisenden unendlich anreichert. Die Berührung mit der klassischen, vom Mittelmeerraum ausgehenden Antike fand Mandel'stam auf der Krim, dem antiken Tauris. Die Anfänge christlicher Kultur vermittelte ihm die Reise nach Armenien; dem französischen Mittelalter (Villon) und der italienischen Renaissance näherte er sich durch Lektüre und Ubersetzung und schließlich dem dichterisch reflektierenden Gespräch (Dante). Die wichtigsten Verfahren von Mandel'stams Integration fremder Stimmen in seine Texte sind bereits eingehend untersucht worden: Ralph Dutli ging in seiner Dissertation »Als riefe man mich bei meinem Namen« ausgehend vom 18

Diese wohl wichtigste Definition, die Mandel'stam auf die Frage, was Akmeismus bedeute, gegeben hat, wird von Celan bezeichnenderweise an keiner Stelle aufgenommen oder auch nur referiert.

216

dialogischen Prinzip dem »Dialog« Mandel'stams mit Frankreich nach. 1 ' Renate Lachmann fand in einem von der Intertextualitätsforschung her begründeten Ansatz zu einer Darstellung im Rahmen der »Mythopoetik der Akmeisten«,20 und jüngst hat Jürgen Lehmann, inspiriert ebenfalls durch die Schriften Bachtins, Formen »karnevalesker Dialogisierung« bei Mandel'stam aufzeigen können.21 Vor allem zwei Aspekte haben sich in diesem Zusammenhang als konstitutiv erwiesen. Unter dem Einfluß der Philosophie Bergsons ist bei Mandel'stam nicht nur eine Aufhebung der mathematischen Zeit und eine Anverwandlung der Konzeption der »durée pure« zu beobachten; er entwickelt dabei auch als eigenständige Konzeption das Bild von der räumlichen Ausdehnung der Zeit. Sie wird beispielsweise in geologischen Schichtungen manifest und kann von der Dichtung »als Pflug« aufgebrochen und in Konstellationen gebracht werden, die der Linearität zuwiderlaufen und statt dessen Zeit als unendliches Kontinuum einer »ewigen Präsenz< begründen. Der zweite Aspekt ist die prinzipiell vorausgesetzte »Dialogizität« von Dichtung (»net liriki bez dialoga«22), die gemeinsam mit der beschriebenen Zeitkonzeption jegliche Distanz zwischen den Stimmen vergangener und gegenwärtiger Dichter aufzuheben und den tatsächlichen Dialog im Gedicht zu realisieren vermag. Als berühmtes Beispiel dafür gilt das dem Frühromantiker und Lehrer Puskins gewidmete Gedicht: Batjuskov

Batjuschkow

Slovno guljaka s bolsebnoju trost'ju, Batjuskov neznyj so mnoju zivet Po pereulkam sagaet ν zamost'e, Njuchaet rozu i Zafnu poet.

Wie ein Genießer, den Zauberstock zückend Zärtlicher Batjuschkow, Nachbar, mir lieb... Geht durch die Gassen und über die Brücke, Riecht an der Rose, macht Daphne ein Lied.

N i na minutu ne verja ν razluku, Kazetsja, ja poklinilsja emu: V svetloj percatke cholodnuju ruku Ja s lichoradocnoj zavist'ju zmu.

Nichts gibt's, so glaube ich, was uns je trennte, Also hab ich ihn begrüßt, mich verneigt: Kalt seine hellweiß behandschuhten Hände Fiebernd mein Händedruck, glühend vor Neid.

O n usmechnulsja. Ja molvil spasibo, -

Er aber lächelte. Ich murmle »danke«,

I ne nasel ot smuscenija slov:

Sprach ganz verlegen, die Zunge war schwer:

19

20

21

22

Ralph Dutli: »Als riefe man mich bei meinem Namen«. Dialog mit Frankreich. Ein Essay über Dichtung und Kultur. Zürich 1985. Renate Lachmann: Bachtins Dialogizität und die akmeistische Mythopoetik als Paradigma dialogisierter Lyrik. In: Poetik und Hermeneutik X I , München 1984, S. 489501. Karnevaleske Dialogisierung. Anmerkungen zum Verhältnis Mandel'stam - Celan. In: Germanistik und Komparatistik. DFG-Symposion 1993. Herausgegeben von Hendrik Birus. Stuttgart, Weimar 1995, S. 541-555. Im Essay Uber den Gesprächspartner, SS II, 281.

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N i u kogo - ètich zvukov izgiby, I nikogda - ètot govor valov...

»Nirgendwo feiner die Klänge und schlanker, Keiner kann das - dieses Murmeln des Meers...«

Nase muíen'e i nase bogatstvo, Kosnojazycnyj, s soboj on prines Sum stichotvorstva i kolokol bratstva I garmoniceskij proliven' siez.

All unser Leiden und unseren Reichtum E r hat sie, stammelnd, für uns überbracht: Glocke der Brüderschaft, Rauschen der Dichtung, Wolkenbruch-Tränen, harmonische Fracht.

I otvecal mne oplakavsij Tassa: - Ja k velican'jam esce ne privyk; Tol'ko stichov vinogradnoe mjaso

Er, der den Tasso beweint hat, nun spricht er: »Selten noch hat man mir L o b aufgetischt; Einzig das Traubenfleisch guter Gedichte

Mne osvezilo slucajno jazyk.

Hat mir bisweilen die Zunge erfrischt.«

C t o z, podnimaj udivlennye brovi, Ty, gorozanin i drug gorozan, Vecnye sny, kak obrazciki krovi,

Laß nun die staunenden Brauen sich sträuben, Städter du, und allen Städtern ein Freund! Gieße wie Blutproben - ewige Träume

Perelivaj iz stakana ν stakan... 23

A u s einem Glas in das nächste hinein... 24

Die leichtfertige Uberwindung der zeitlichen Distanz zwischen dem vorromantischen (1787-1855) und dem heute mit ihm sprechenden Dichter wird, obwohl es sich um ein relativ spätes Gedicht Mandel'stams handelt, auch hier noch programmatisch gestaltet: in imperfektiven Präsensformen »so mnoju zivet« - mit mir lebt, »sagaet« - er spaziert, »njuchaet« er riecht, aber auch im fast triumphierenden Ausruf »ni na minutu ne verja ν razluku« - nicht eine Minute an eine Trennung glaubend. Dazu kommt, daß das Gedicht fast unablässig zitierend verfährt - so zum Beispiel in der Anspielung auf die Frauengestalt »Dafne«, der Batjuskov das Gedicht Istocnik (Die Quelle) gewidmet hat, so auch in der Erwähnung von dessen Werk über den Tod Tassos. Diese Verfahren bereiten das im Gedicht gestaltete Ereignis eines realen Gesprächs mit dem Dichter vor, das hier mit deutlichem Aspekt auf dem Präsentischen den Dichter in direkter Rede antworten läßt. Der unüberhörbar ironische Ton, der nicht nur in diesem Gedicht vorherrscht (er kennzeichnet auch die im Umkreis entstandenen Gedichte Dajte Tjutcevu strekozu (Gebt Herrn Tjutschew die Libelle),25 sowie die Sticbi o msskoj poèzii (Verse über die Russische Poesie), schafft jedoch geistige Distanz zu dem bewunderten Dichterfürst. Eben Distanz und Abgrenzung ist aber dann auch die Wirkung der von Batjuskov im Gedicht gesprochenen Sätze. Noch präziser und auf die Schärfe eines Dialoges von Frage und Antwort zugespitzt erschien die Begegnung mit Batjuskov im Gestus der Abgrenzung schon in einem frühen, 1912 entstandenen Gedicht Mandel'stams, das Nikolaj Gumilëv als dessen erstes wahrhaft akmeistisches Gedicht gerühmt hat:

23 24 25

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SS I, i 7 3 f . O . Mandelstam: Mitternacht in Moskau, S. 129. O . Mandel'stam: SS I, 173.

Net, ne luna, a svetlyj ciferblat Sijaet mne, i cem ja vinovat, C t o slabych zvezd ja osjazaju mlecnost'?

Nein, nicht den Mond - ein Zifferblatt seh ich dort leuchten. Was kann ich dafür, daß ich die Sterne milchig seh und matt?

I Batjuskova mne protivna spes': »Kotoryj cas?« ego sprosili zdes', A on otvetil ljubopytnym: »vecnost'«. 26

Wie dünkelhaft war Batjuschkows Bescheid! »Wie spät ist es?« so fragten sie ihn hier, und die es wissen wollten, hörten: »Ewigkeit«. 27

Dialog in Form von Dialogizität im Sinne Bachtins wird bei Mandel'stam auf verschiedenste Weise gestaltet; hier berühren sich Celan und Mandel'stam deutlich.28 Wo es aber um den Dialog als Konstituens einer Begegnung geht, da ist MandePstams Gedicht ganz anders konzipiert als dasjenige Celans. Wo dessen >Dialog< auf Abgrenzung im Sinne der Etablierung des eigenen literarischen Programms zielt - letztlich nichts anderes als die produktive Auseinandersetzung mit der Tradition - da bedeutet Dialog bei Celan Begegnung in einem mystischen Sinne. Wo es Mandel'stam um Weltkultur, um Integration und Anverwandlung der fremden Stimmen zu tun ist, w o er eine europäische russische Dichtung schaffen will, w o Glossolalie sein Gedicht bestimmt, da sucht Celan die Selbstbegegnung, Selbstfindung, Selbstbefreiung. Statt Stiftung von Kultur bei Mandel'stam, Erkenntnis von Wahrheit, Entwerfen von Wirklichkeit, Abtasten der Möglichkeiten des Gedichts, letztlich von Sprache überhaupt als letzter verbliebener Möglichkeit des Menschlichen, im Gedicht Celans. Begegnung heißt für Celan nicht Begegnung mit einer Kultur, ihren Werken und ihren Repräsentanten. Begegnung bedeutet die eigentliche Realisation von Sprache, ihrer Kreatürlichkeit angesichts einer historisch geprägten Wirklichkeit, vor der der Begriff »Weltkultur« eigentlich nur noch obsolet, ein ungebrochener Rückgriff auf Tradition nicht mehr möglich erscheinen konnte. 29 Die Begegnung Celans mit der Gestalt MandePstams wurde bereits im Kontext der Frage nach der Bezugnahme auf Russisches im ersten Teil dieser Arbeit dargestellt, die Begegnung als Kategorie des Gedichts hingegen soll im Rahmen der Überlegungen zur Poetik Celans erst im dritten Teil behandelt werden. 16

O . Mandel'stam: Sobr.soc. t. I, 18.

27

V, 75 28 Solche Parallelen im Verfahren hat u.a. Lehmann bereits detailliert untersucht: vgl. J . Lehmann: Karnevaleske Dialogisierung. 29 Vgl. dazu Celans Einschätzung der deutschen Situation im Gegensatz zur französischen in seiner Antwort auf die Umfrage der Librairie Flinker im Jahre 1958: »Die deutsche Lyrik, geht, glaube ich, andere Wege als die französische. Düsterstes im Gedächtnis, Fragwürdigstes um sich her, kann sie, bei aller Vergegenwärtigung der Tradition, in der sie steht, nicht mehr die Sprache sprechen, die manches geneigte Ohr immer noch von ihr zu erwarten scheint. Ihre Sprache ist nüchterner, faktischer geworden, sie mißtraut dem >SchönenRettung< durch Sprache: But Mandelstam and Celan, being members of a minority group and having lost the social stability of the society in which their parents were rooted, seem to have turned to language as an element of stability in a chaotic world. 37

Im Gegensatz zum typologischen Ansatz Gogols sind Victor Terras und Karl S. Weimar in ihrem ersten Beitrag bereits auf »Celan's encounter with Mandelstamm«38 aufmerksam geworden, als deren »obvious link« und »poetic evidence« sie die Ubersetzungen ansehen. Sie verbinden erstmals die Ubersetzungskritik mit einer Analyse möglicher »echoes« in Celans eigenem Dichten;39 dabei gehen sie auch erstmals auf vier Gedichte der Niemandsrose ein, die zusammengenommen ein »magisches Sprachgitter« aus dem Namen Mandel'stam formen.40 Die Untersuchung motivlicher Parallelen erfolgt dann auf der Grundlage einer differenzierten Kenntnis des Gesamtwerks beider Dichter, sie reicht vom Bild der Flaschenpost bis zu den Sternbildern, von der »WortSeele« bis zur Farbmetaphorik und findet im zweiten Beitrag der beiden Autoren eine Ergänzung durch die Aspekte der Dinglichkeit des Worts sowie des Unterwegsseins der Dichtung. Damit sind alle wesentlichen Bereiche der moti-

35

Vgl. dazu oben Kap. II, 2. Brief Celans an Gleb Struve in Hamacher/Menninghaus: Paul Celan, S. n f . 37 J.M. Gogol: Paul Celan and Osip Mandelstam, S. 341. 38 Terras / Weimar: Mandelstamm and Celan: Affinities and Echoes, S. 1 1 . 39 So bspw. in der umstrittenen Behauptung einer Bezugnahme der Engführung auf Mandel'stams Grifel'naja oda (Griffelode); vgl. S. 1 1 - 1 3 . 40 Die behandelten Gedichte sind Eine Gauner- und Ganovenweise, Mandorla, Nachmittag mit Zirkus und Zitadelle und Es ist alles anders, d. h. auf jeden der vier Binnenzyklen entfällt je ein auf Mandel'stam bezogener Text. Damit wird bei ihrer Untersuchung der Aspekt der zyklischen Strukturierung der Niemandsrose zumindest ansatzweise schon erfaßt. Vgl. a.a.O., S. 17. 36

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vischen bzw. bildlichen Parallelen im Werk beider Dichter bereits in den frühen Beiträgen angesprochen. Deutlich aufbauend auf diesen Überlegungen erschien als erste systematische größere Untersuchung zu dieser Frage 1978 die Dissertation von Christoph Parry. 4 ' Es ist immer noch die einzige selbständige Veröffentlichung innerhalb der Celan-Forschung, die sich dem russischen Thema widmet. Parry verbindet den typologischen mit dem genetischen Vergleich; neben einer ausführlichen Darstellung der »historischen« bzw. der »literarischen Situation« beider Autoren sowie ihrer ästhetischer Konzeptionen, konzentriert er sich in der vergleichenden Untersuchung des Bildbereichs auf die Zeitkonzeption und die geologische bzw. topographische Metaphorik. Obwohl Parry in seiner Arbeit auch bereits die Haupttendenzen von Celans Bezugnahme auf Mandel'stam in den Gedichten herausgearbeitet hatte und obwohl er auf die Ambivalenzen der dichterischen Antizipation der Gestalt Mandel'stams durch Celan explizit eingegangen war - »Mandelstam der Dichter und der erdichtete Mandelstam im Werk Paul Celans« - , wurde auch dieser Arbeit zunächst relativ wenig Beachtung geschenkt; als brauchbarer Impuls für die weitere Celan-Forschung konnte sie trotz wertvoller slavistischer Detailinformationen kaum wirksam werden. Noch immer wurde Celans Mandel'stam-Rezeption als Einzelfall gewertet und nicht als ein - zumindest im mittleren Werk - zentraler Bezugspunkt für die Entwicklung seiner Poetik, als Paradigma seiner Dichtung überhaupt erkannt. Erstaunlicherweise war es dem Engagement von Martine Broda vorbehalten, im Rahmen eines im Sommer 1984 in Cerisy-la-Salle veranstalteten Colloquiums zum Werk Paul Celans die Celan-Forschung erneut auf diesen wichtigen Aspekt zu verweisen. Ihr erst zwei Jahre später erschienener Beitrag zum Colloquium, »La leçon de Mandelstam«, sowie die entsprechenden Kapitel ihres im selben Jahr publizierten Celan-Buchs »Dans la main de personne« konnten gegenüber dem bisher Veröffentlichten eigentlich kaum neue Aspekte präsentieren.42 Sie trafen jedoch auf eine generell veränderte Situation in der 41

42

Christoph Parry: Mandelstamm der Dichter und der erdichtete Mandelstam im Werk Paul Celans. Diss. Marburg/Lahn 1978. Martine Broda: La leçon de Mandelstam. In: Contre-jour: Etudes sur Paul Celan. Colloque de Cerisy. Hrsg. Martine Broda. Paris 1986, S. 29-48. Z u den Entdeckungen Brodas gehörte der Hinweis auf einen gravierenden Ubersetzungsfehler in der französischen Ubersetzung des Essays O sobesednike, der gerade den geheimnisvollen Adressaten des Gedichts betraf: »Nekto« wurde hier wie »nikto« mit »personne« anstelle »une certaine personne« übersetzt. Gerade auf diesen Unterschied jedoch gründet Mandel'stam seine Poetik: Die Spannung, daß das Gedicht nicht an niemand, aber auch nicht an jemand bestimmtes gerichtet sei, bestimmt das Bild von der Flaschenpost: »C'est l'existence de l'interlocuteur qui est garant de la légitimité, du bon droit du poème.« Broda, die davon ausgeht, daß der Fehler Celan nicht verborgen geblieben ist, schließt daran die Vermutung, daß manches aus der Negation gewon-

"3

Celan-Forschung, auf eine allmähliche Abwendung vom >Hermetik-Vorwurf< ebenso wie von den bisherigen Topoi der auf den Bildbereich konzentrierten Interpretationsversuche, sowie generell auf ein innerhalb der Germanistik verstärktes Interesse für poetologische Fragen. In dieser Umbruch-Situation konnten gerade die Darstellungen Brodas zum entscheidenden Anstoß einer sich neu orientierenden und erneut intensivierten Celan-Forschung werden, die sich ab Mitte der achtziger Jahre geradezu inflationär entwickelte. 43 Der Name Mandel'stam wurde zum ebenso vielversprechenden wie geheimnisvollen Schlüsselwort für manchen vor der Hermetik der Celanschen Dichtung kapitulierenden Interpreten. Die bei fast allen kompetenten Celan-Forschern notwendigerweise mangelhafte Kenntnis von Mandel'stams Werk, dessen literarhistorischen Kontexten sowie der einschlägigen Forschung war kein Hinderungsgrund mehr, sich dem komplizierten System der Bezugnahme Celans auf Person und Werk dieses vielleicht anspruchvollsten russischen Autors des zwanzigsten Jahrhunderts zu nähern. Vieles, was in diesem Zusammenhang im Rahmen der jüngeren Celan-Forschung erwähnt oder ausgeführt wurde, scheint sich daher, gerade was die untersuchten Bezugstexte betrifft, notgedrungen auf die Wiederaufnahme des bisher bereits Gesagten zu beschränken. Dennoch zeichnet sich in dieser >Aufbruchstimmung< bereits deutlich der anstehende Paradigmenwechsel im Forschungsansatz ab. Denn nun wurde nicht mehr der an beiden Autoren gleichermaßen orientierte, komparatistisch begründete Vergleich gesucht, der die Ähnlichkeit oder Verwandtschaft auf der einen, und auf der anderen Seite den aus der Ubersetzung erwachsenen Einfluß Mandel'stams auf Celans Dichtung im Blick hatte. Nunmehr ging es primär um die Erkenntnis der produktiven Auseinandersetzung Celans mit Mandel'stam, die als neuer >Schlüssel< zum Verstehen seiner Dichtung - zumindest im Bereich der Niemandsrose

43

- herangezogen werden konnte. Hier konnte gerade

nene Paradoxon in der Niemandsrose in einer produktiven Verwandlung sich erst daran inspiriert haben könnte (S. 3 if-); allerdings gibt sie gleichfalls an, die durch Celan selbst angeregte Ubersetzung des Essays ins Französische sei in L'Ephémère N ° 4 erschienen. Celan hat sich m.E. zunächst mit dem Original auseinandergesetzt; zudem sind die Gedichte der Niemandsrose vor der französischen Publikation des Essays entstanden. Das in seiner mittelbaren Folge begonnene Projekt der Kommentierung von CelanGedichten zeugt von dieser >Aufbruch-Stimmung< in der Celan-Forschung. Mehr als zwanzig führende Celan-Interpreten fanden sich zunächst in Paris, dann unter Leitung von Jürgen Lehmann und gefördert durch die D F G an wechselnden Orten zusammen und verfaßten in jahrelanger Arbeit und beständigem Austausch auf zahlreichen Kolloquien einen Kommentar zum Gedichtband Die Niemandsrose. Daß gerade dieser Band als Vorreiter für einen eventuell in Einzelbänden zu erarbeitenden Gesamtkommentar zum Werk Celans gewählt wurde, zeigt deutlich die massive Wirkung, die vom Namen Mandel'stam und dem gerade in diesem Zusammenhang deutlich artikulierten Bedürfnis nach Erläuterung ausging.

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Bernhard Böschenstein mit seiner präzisen Textkenntnis noch unveröffentlichter Notizen aus dem Umkreis sowohl der Rundfunksendung Celans über Mandel'stam, wie auch des Meridian-Konwohits neue Einsichten vor allem für die von der Beschäftigung mit Mandel'stam geprägte Zeitkonzeption Celans formulieren. 44 Eine nicht unbedeutende Einschränkung stellte jedoch lange Zeit das Fehlen einer deutschen Werkausgabe Mandel'stams dar. Die Celan-Forschung war daher, w o sie sich um einen authentischen Zugang zu Mandel'stam bemühte, umso mehr auf die verhältnismäßig geringe Anzahl der von Celan übersetzten Gedichte angewiesen. Die Kenntnis des essayistischen sowie des Prosawerkes fehlte weitgehend oder beschränkte sich wiederum nur auf die wenigen im Deutschen greifbaren Texte (vor allem den Text Vom Gegenüber, den Beda Allemann 1966 in seinem Band Ars poetica präsentiert hatte45). Erst seit 1985 erscheint dank der unermüdlichen Ubersetzertätigkeit Ralph Dutlis in stetiger Folge eine deutsche Mandel'stam-Gesamtausgabe in Einzelbänden, die auf längere Sicht gesehen vorerst die verbindliche Übersetzung darstellt, trotz der in zunehmender Zahl unabhängig davon publizierten Einzeltexte Mandel'stams in Übersetzungen anderer. Die Celan-Forschung muß sich darum spätestens seit Beginn der neunziger Jahre in bis dahin nicht geschehener Weise auch mit dem - seinerseits hermetisch zu nennenden - Werk Mandel'stams auseinandersetzen, will sie über Celans Zugang zu ihm verbindliche Aussagen treffen. Der Anspruch einer solchen Auseinandersetzung verwies die Forschung wiederum auf die Slavisten. Hier hat die intensive Bemühung Jürgen Lehmanns gerade am Beispiel des Verhältnisses Celan - Mandel'stam einen grundlegenden Paradigmenwechsel unterstützt, der sich über die komparatistisch begründete Einzelfrage hinaus für die Celan-Forschung generell als folgenreich erwies.46 Den44

45

46

Vgl. Bernhard Böschenstein: Celan und Mandelstamm. Beobachtungen zu ihrem Verhältnis. Celan-Jahrbuch 2 (1988), S. 1 5 5 - 1 6 8 . Der Text O sobesednike ist in der 1955 erschienenen Werkausgabe Mandel'stams enthalten (Osip Mandel'stam: Sobranie socinenij, N'ju-Jork 1955, S . 3 3 1 - 3 3 6 ) ; im Unterschied zu den daneben publizierten Essays Mandel'stams zur Literatur ist gerade dieser von Celan nicht annotiert worden. Daß Celan selbst Allemann auf den Essay für seinen Sammelband Ars poetica hingewiesen hat, erscheint jedoch möglich, zumal er etwa zur selben Zeit dessen Ubersetzung ins Französische anregte (Beda Allemann: Ars poetica. Texte von Dichtern des 20.Jahrhunderts zur Poetik. Darmstadt 1966, S.45-52). Vgl. Jürgen Lehmann: Intertextualität als Problem der Übersetzung. Die Mandel'stam-Übersetzungen Paul Celans. Poetica 19 (1987), S.238-260; ders.: Atmen und Verstummen. Zu einem Motivkomplex bei Mandelstam und Celan. In: Paul Celan: Atemwende -Materialien. Hg. von Gerhard Buhr und Roland Reuß. Würzburg 1991, S. 187-199; ders.: Berührung und Dialog. Zu einer unbekannten Mandel'stam-Übersetzung Paul Celans. Celan-Jahrbuch 4 (1991), S. 83-100; ders.: »Dichten heißt immer unterwegs sein.« Literarische Grenzüberschreitungen am Beispiel Celans. Arcadia 28 (1993) H.2, S. 1 1 3 - 1 3 0 ; ders.: Karnevaleske Dialogisierung. 22

5

noch ist bis heute das für Celans Dichtung und Poetik offenbar grundlegende rezeptive Verfahren nicht genügend erkannt, geschweige denn am Detail untersucht worden. Es blieb der bei weitem unterrepräsentierten slavistisch orientierten Celan-Forschung überlassen, diese Zusammenhänge aufzudecken, w o ähnliches in ungleich gravierenderem Umfang an der Rezeption französischer Dichtung längst hätte untersucht werden müssen. Dies erstaunt umso mehr, als die entsprechende Fachkompetenz in diesem Bereich - ganz im Unterschied zur doch nur sehr beschränkt präsenten russischen Literatur - bei den führenden Celan-Interpreten nicht in Frage zu stehen scheint. Gerade die zahlreichen Beiträge Lehmanns in den letzten Jahren, die vor allem der Mandel'stam-Frage gewidmet waren, lassen erkennen, inwiefern die Celan-Forschung - ausgehend von der Übersetzungskritik - in eben diesem Zeitraum eine entscheidende Wandlung vollzogen hat.47 Zugleich mit dem erneuten Forschungsanstoß durch Broda erschien 1985 die verdienstvolle Dissertation von Leonard Olschner, der erstmals in einem universalen Ansatz das Gesamt-Übersetzungswerk integral in seinem Verhältnis zum Dichtungswerk Celans untersuchte.48 Olschner machte dabei eine Fülle wichtiger Beobachtungen, die zahlreiche weitere Detailuntersuchungen inspirierte. Unabhängig von seiner anhand von Beispielen verschiedener Autoren erarbeiteten Untersuchung der generellen Verfahren, die den Ubersetzungen Celans zugrundeliegen, geht Olschner in dem Mandel'stam gewidmeten Kapitel (dem umfangreichsten Einzelkapitel seiner Untersuchung überhaupt) subtil auf die poetische Beziehung Celans zu Mandel'stam ein. Wie bei allen anderen bisherigen Arbeiten ist auch hier ein doppelter Ansatz erkennbar: Zum einen untersucht Olschner aus den Übersetzungen Gewonnenes und ins

47

48

Anmerkungen zum Verhältnis Mandel'stam - Celan. In: Germanistik und Komparatistik. DFG-Symposion 1993. Herausgegeben von Hendrik Birus. Stuttgart, Weimar 1995, S. 541-555. Obwohl vom selben theoretischen Modell (sc. dem Bachtinschen Dialogizitätskonzept) ausgehend, bietet demgegenüber die 1991 erschienene Darstellung von Dietmar Goltschnigg (Intratextualität, Intertextualität und Subtextualität im modernen Gedicht - Paul Celan und Ossip Mandelstam. In: Sprachkunst 22 [1991], S . 9 5 - 1 0 5 ) nicht mehr als einen kursorischen Uberblick über das spätestens seit Parry über dieses Verhältnis Bekannte. Leonard M. Olschner: Der feste Buchstab. Erläuterungen zu Paul Celans Gedichtübertragungen. Göttingen 1985. Die wissenschaftliche Ubersetzungskritik mit Bezug auf die Ubersetzungen aus dem Russischen wurde fortgesetzt durch Beiträge von Jerry Glenn und Edmund Remys: Sergej Esenin in German translations of Paul Celan and Alfred Gong. Germano-Slavica 5 (1985) H . 1 / 2 , S. 5-22, sowie von Martin Bidney: Paradoxical Homage: Celan's Strategies for translations of Evtushenko and other Russian poets. In: The Poetry of Paul Celan. Papers from the Conference at the State University of N e w York at Binghamton. October 28-29th 1988. Edited by Haskell M. Block. N e w York, Berlin, Bern et al. 1991, S. 44-60.

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eigene Gedicht Transformiertes,49 zum anderen wird - über den Namen - der gestalthaften Integration des Dichters als imaginärem Gegenüber des Celanschen Gedichts nachgegangen (mit der wichtigen ausführlichen Interpretation des Gedichts Nachmittag mit Zirkus und Zitadellesowie der auf Mandel'stam bezogenen Anfangspassage von Es ist alles anders.''1 Diese durch die Fülle ihrer Detailbeobachtungen und -analysen maßgebliche Untersuchung unterscheidet sich jedoch in ihrem Ansatz noch nicht wesentlich von den zu Anfang vor allem bei Terras/Weimar angedeuteten Linien der Interpretation, auch wenn hier beispielsweise die poetologischen Texte stärker einbezogen werden. Olschners Statement: »In Mandel'stams Dichtung sah Celan eine paradigmatische Bestätigung für die Gültigkeit seiner eigenen Poetik«52 steht im Kontext vergleichender Ubersetzungskritik und geht - der Fragestellung seiner Untersuchung entsprechend - noch nicht auf die grundlegenden Bedingungen und Prinzipien der Bezugnahme auf das Werk Mandel'stams ein, in denen Celan seine Poetik um i960 erst entwickelte. Olschners abschließendes Urteil »Die Begegnung mit Mandel'stam wurde für Celan in der Sprache der Nachdichtungen eine solche Vereinigung Entzweiter«' 3 zeigt schließlich deutlich den dominanten Eindruck des >Mystischen< dieser Begegnung, das von Celan durchaus intendiert war; andererseits tritt gerade in solcher Darstellungsweise Celans grundsätzlicher Ansatz, verschiedene Verfahren der Bezugnahme auf fremde Texte zu erproben, diese zu transformieren und in sein eigenes Sprechen zu integrieren, noch nicht deutlich genug hervor. In allen bis zu diesem Zeitpunkt publizierten Arbeiten gewinnt Mandel'stam Kontur ausschließlich von den übersetzten Texten her; ein dichterisches Gesamtbild, über das Celan zweifelsohne verfügte, entwickelt sich nicht. Die Prädominanz der ins Mystische gesteigerten und im Gedicht inszenierten Begegnung mit dem Dichter führen zu einem letztlich eingeschränkten Mandel'stam-Bild, das im zeitlichen Kontext einer von 1957 bis 1969 vorauszusetzenden Rezeption nicht die Möglichkeit einer Differenzierung offen hält. Auch Lehmann kommt in seinem ersten Beitrag noch von der Übersetzungskritik her;'4 er widmet sich aber bereits den spezifischen Aspekten der Ubersetzungstechnik Celans, was die spätere Konzentration auf die poetischen Verfahren von Celans Dichten bereits ankündigt. In diesem Zusammenhang 49

So das Gedicht Silentium (Silentium; V, j6f.), L.M. Olschner: Der feste Buchstab, S. 251-258, oder aber die jüdischen Bezüge in Età noi' nepopravima (Diese Nacht: nicht gutzumachen; V, 94f.) und Sredi svjacennikov levitom molodym (Die Priester. Und inmitten er, V, ioof.), ebd., $.259-269. Ebd., S. 241-246. ' ' E b d . , S. 246-250. ' 2 Ebd., S.237. 53 Ebd., S.274. 54 J. Lehmann: Intertextualität als Problem der Ubersetzung.

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hat er als erster auf grundlegende Gemeinsamkeiten - neben den motivlichen Parallelen von Stein, Stern, Kristall, Atem, Dichtung als Unterwegssein und anderen - nicht nur in der Poetik beider Dichter, sondern vor allem in den von ihnen realisierten poetischen Verfahren hingewiesen. Am Beispiel der Celanschen Ubersetzung des hochgradig intertextuell strukturierten Mandel'stamGedichts Ja slovo pozabyl (Das Wort blieb ungesagt) kann er zeigen, daß »der auffallend durchkalkulierte Einsatz bestimmter Verfahren und die durch sie bewirkten Veränderungen [..] dabei als implizierte Markierung einer dynamischen Intertextualität verstanden werden [dürfen]; nicht die Treue gegenüber dem Original oder >EinbürgerungErkenntnis< gerichtete Gestus eines Wirklichkeitsentwurfs, was umgekehrt Mandel'stam aus historischen Gründen nicht denkbar war. Lehmann konstatiert schließlich, beide Dichter hätten ihre »poetologischen Positionen nicht nur beschrieben, sondern in ihrer Lyrik Ereignis werden lassen«;57 ein Bild davon gibt die von beiden theoretisch formulierte wie dichterisch artikulierte Einsicht, »Dichten heißt immer unterwegs sein«.'8 In der gleichnamigen Untersuchung zeigt Lehmann nun, daß Celan aus der Bezugnahme auf Mandel'stam ein poetisches Verfahren gewinnen konnte, das eine Ausweitung auch auf Texte anderer Autoren, wie eine Ausweitung der Grenzüberschreitungi9 als komplexe Form dichterischen Sprechens überhaupt implizierte; als Musterbeispiel gilt hier das Gedicht Und mit dem Buch aus Tarussa. In seinem letzten Zugriff unternahm Lehmann schließlich eine vergleichende Untersuchung, die grundlegende Verfahren lyrischen Sprechens (»Karnevaleske Dialogisierung«) bei beiden Dichtern erkennbar macht; auf diesen, vor allem den Gedichten Es ist alles anders und In eins gewidmeten, Beitrag ist im ersten Teil der Arbeit schon eingegangen worden.60 Damit markieren aber gerade die Beiträge Lehmanns einerseits eine sichtbare und (auch in anderen Untersuchungen) wirksame Verschiebung des überwiegenden Interesses der Celanforschung von der Interpretation der Bilder zur Beschreibung der bestimmenden poetischen Verfahren. Andererseits konturiert sich ein bisher noch kaum zur Kenntnis genommener theoretischer Gewinn für die komparatistische Rezeptionsforschung gerade am Beispiel dieser einmaligen literarischen Beziehung der beiden vielleicht bedeutendsten Dichter russischer und deutscher Literatur in diesem Jahrhundert überhaupt. Neben der (zu Anfang dominanten) Übersetzungskritik galten die bisherigen >7 Ebd., S. ikurzen GedichtsgelesenSinn< eines solchen Textes liegt im Sinn der Gestaltung, nicht der Gestalt. Darüberhinaus eignet ihm eine semantische Ambivalenz, die Jakobson die »negative innere Form« genannt hat.11 Das Gedichtgeschehen wird als sprachliches Geschehen inszeniert, das Lachen in magisch-beschwörendem Gestus dargestellt. Ahnliches geschieht in den Gedichten Lieb-Satz12 und machtgetön der macht.'3 Die verblüffende Ubersetzbarkeit dieser Texte ist ganz und gar nicht zufällig. Chlebnikov war den geheimen Gesetzen der Sprache auf der Spur, nicht der russischen Sprache, sondern Sprache überhaupt. Wortwurzelgedichte, Gedichte auf der Basis präziser, geradezu regelhaft abgeleiteter Neologismen oder auch das Alphabet der Sternensprache sind den ihnen zugrunde liegenden Verfahren nach auf andere Sprachen übertragbar. So wie auch die zäum '-Gedichte suchen sie die Idee Chlebnikovs von der einen Sprache zu verwirklichen, die alle Menschen verstehen und die im Grunde die einzig echte Sprache überhaupt ist: eine Sprache, in der Zeichen und Bezeichnetes eins geworden und als eines wahrnehmbar sind. Chlebnikov erscheint als Wortverdreher, Magier, und doch bleibt seine Sprache ganz real, ist er Realist in einem ihm eigenen Sinne. Er denkt nicht aus, imaginiert nicht, er kehrt zurück zu den etymologischen Wurzeln des Wortes, sucht im Klang den Grund für seine Bedeutung. Aus der unbeirrbaren und unerbittlichen Reflexion der Sprache im wörtlichsten Sinne, im Anrennen gegen die Verfestigungen der bedeutungslos gewordenen Konventionen der Alltagssprache gerät er zu einem radikalen Spracherneuerer. Der sprachliche Reiz solcher Gedichte wie der Beschwörung durch Lachen wurde Chlebnikov zum Verhängnis.14 Vorschnelle Klassifizierungen ver10 11

12 13 14

Übersetzung von H . M . Enzensberger. Chlebnikov: Werke, S. 19. Roman Jakobson: Novejsaja russkaja poèzija. Nabrosok pervyj. Viktor Chlebnikov (Die neueste russische Poesie. Erster Versuch. Viktor Chlebnikov). Praga 1921. Wieder abgedruckt in: Texte der russischen Formalisten [zweispr.]. Bd.II: Texte zur Theorie des Verses und der poetischen Sprache. Herausgegeben und eingeleitet von WolfDieter Stempel. München 1972, S. 1 8 - 1 3 4 , hier S. 135. Chlebnikov: Werke, S.26. Ebd., S. 40. Vgl. die Vorbehalte Vladimir Markovs: »Chlebnikov, naprimer, ne cuvstvuet, ito ν

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kannten die Grundlage solchen Sprechens und ließen ihn fast ausschließlich als Autor von Lautgedichten erscheinen. Sie rückten ihn in die Nähe von Nonsens-Dichtung und Konkreter Poesie, eine Gattung, die zu ihrem größten Teil nur als spielerische Laune erlaubt und damit zugleich entschuldigt ist. Im selben Tenor wurden auch Celans Chlebnikov-Übersetzungen beurteilt, Kontexte zu beiläufigen Gelegenheitsgedichten in seinem eigenen Werk hergestellt und seine ganze Beschäftigung mit diesem Autor als nebensächlich abgetan.1' Schon der Blick auf die Übersetzungen ermöglicht jedoch differenzierte Aussagen über Celans Verhältnis zu diesen Texten. Sechs Gedichte von Chlebnikov hat Celan übersetzt; von diesen gehören vier in den Bereich der »Lautdichtung«, das erster von ihm übertragene Gedicht Edinaja kniga (Das Eine Buch) wäre eher einer traditionelleren Form, etwa dem Erzählgedicht, zuzuordnen, das Gedicht Semero (Sieben) erinnert in der Struktur an Bloks Die Zwölf, wenn es auch sprachlich innovativer wirkt und als ganz früher Versuch (1911) eines kubo-futuristischen Programmgedichts (Des großen Hyläas Name, bekannt ist er mir...«; V. 303) zu werten ist.'6 Nach Aussage von Peter Urban lag nicht nur Das Eine Buch, sondern auch die Übersetzung von Sieben bereits vor, als er Celan für die Mitarbeit an der deutschen Chlebnikov-Ausgabe gewann.17 Lediglich die Übersetzungen der »Lautgedichte« sind also in diesem Zusammenhang entstanden; sie waren bedingt durch eine ungewöhnlich enge Zusammenarbeit mit dem Herausgeber Peter Urban. Die strikte Bezogenheit auf den spezifischen Charakter des Editionsprojektes reichte bis in die Produktionsebene und bestimmte wesentlich den Charakter der Übersetzungen, letztlich sogar die Auswahl der übersetzten Gedichte. Neben der Zusammenarbeit mit Michaux, die doch qualitativ eine ganz andere war, stellt sie für das Übersetzungswerk Celans einen singulären Fall dar.

Smechacach 8-ja i 9-ja strocki gubjat vsë stichotvorenie.« (Chlebnikov spürt bspw. nicht, daß in den Lachern der achte und neunte Vers das ganze Gedicht verderben.) Vladimir Markov: O Chlebnikove. Popytka apologii i soprotivlenija. In: Grani 22 (1954), S. 1 2 6 - 1 4 5 , hier S. 140 (vgl. Verz. Nr. 375). 15

So auch L . M . Olschner, der in seiner einschlägigen Untersuchung die ChiebnikovUbersetzungen in den Kontext einiger weniger Texte Celans stellt, die sich offenbar einer eher sprachspielerischen Laune verdanken, darunter das >Gelegenheitsgedicht< zum Geburtstag von V.O. Stomps. Vgl. L.M. Olschner: Der feste Buchstab. Erläuterungen zu Paul Celans Gedichtübertragungen. Göttingen 1985. Olschner widmet diesem Komplex einen eigenen Abschnitt mit dem Titel: »Nonsens und Neologismus: Carroll, Celan, Chlebnikov«, S. 274-286. Vgl. auch A m y Colin: Nonsensgedichte und hermetische Poesie. Ein Vergleich am Beispiel Paul Celans. Literatur und Kritik 15 (1980), S. 90-97.

16

»Hyläa« (Gilea) war der erste Name der Gruppe, die sich später »budetljani« (die russische Form für »Futuristen«) bzw. Futuristen oder Kubofuturisten nannten. In einem Brief an Verf. vom 3.5. 1993; das Manuskript im Nachlaß ist nicht datiert.

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Die deutsche Ausgabe wollte als erste größere fremdsprachige Edition überhaupt nicht nur den Lyriker Chlebnikov, sondern das Werk in allen seinen Facetten präsentieren. Urban plante ein »Anthologie« von Nachdichtungen, die den Zugang so offen und vielgestaltig wie möglich machen sollte. Schließlich beteiligten sich an der Ausgabe acht namhafte Autoren der deutschen Gegenwartsliteratur; unter ihnen waren nur wenige des Russischen so mächtig wie Paul Celan. Der Beginn des einmaligen Projektes, über dessen Konzept und Verwirklichung Peter Urban in seinem Nachwort Bericht erstattet, fiel in das Jahr 1967. Die Erarbeitung der beiden umfangreichen Bände nahm fünf Jahre in Anspruch. Ihr Erscheinen, das aus verlegerischen Gründen lange Zeit in Frage gestellt war, hat Celan nicht mehr erlebt. Die potentiellen Mitarbeiter der Ausgabe erhielten für die Übersetzungsarbeit insgesamt drei Sendungen mit einer Auswahl von Texten, denen Rohübersetzungen und schließlich auch Worterläuterungen und Kommentare beigelegt waren; das Material hatte Rosemarie Ziegler in Wien erarbeitet. Celan hat nur die beiden ersten Sendungen erhalten, von denen die zweite ungeöffnet blieb.18 Die erhaltenen Übersetzungen Celans sind nur teilweise datiert. Auf einem Typoskript zum Gedicht Schwarzlieb befindet sich der handschriftliche Eintrag: »19.6.69 an Peter Urban«. Dem Briefwechsel zwischen Urban und Celan läßt sich entnehmen, daß dieser Text die erste Übersetzung für das Projekt gewesen ist, ihm folgten wenig später die Gedichte Das Heupferdchen und Wem bloß erzählchen. Alle drei sind in der Ausgabe dem Zyklus bliblablümchen täusch endschön zugeordnet. Oskar Pastior, der gleichfalls für die übersetzerische Mitarbeit an der Ausgabe gewonnen werden konnte, hat eben diese Gedichte seinerseits übersetzt; sie erschienen dann, neben weiteren Varianten, parallel. Diese Koinzidenz ist nicht nur mit der »kleinen menschlichen Trägheit« zu erklären, »zunächst dort zuzupacken, wo man schneller was Fertiges in der Hand zu haben hofft«, von der Pastior spricht;19 sie bestätigt auch die Bedeutung, die die Sendungen für die Übersetzer hatten und die, trotz ihrer vorzüglichen Sprachkenntnisse, ihre Lektüre beeinflussen mußte. So wollte gerade Celan, wie Urban notiert, die erläuternden Kommentare und Rohübersetzungen ganz und gar nicht missen.20 Von den beliebten Wortwurzelgedichten hat Celan das berühmteste, die Beschwörung durch Lachen, nicht übersetzt. Das einzige Gedicht aus diesem Bereich, das von ihm übersetzt wurde, ist Luftiger Luftold. Seine Übersetzung wiederum ist die einzige, die Urban veröffentlicht, obwohl er sonst gerade bei solchen Texten um Pluralität bemüht war.

18 19 20

Nach einer Notiz der Bearbeiter im Nachlaß-Konvolut »Chlebnikov«. In einem Brief an Verf. vom 1 9 . 1 1 . 1990. P. Urban: Nachwort, 8.640.

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Vozdusnyj vozduchan. Vozduchee vozduchei, Vozduchee vozduchini, Sidusistyj siduchan, Siduchee siduchini, Siduchee siduchei, Kolysistyj kolychan, Kolychee kolychini, Kolychee kolychei, Edusistyj educhan, Educhee educhei, Vidusistyj viduchan, Viduchee viduchei, Viduchee viduchini. 21

Luftiger Luftold Luchtiger als alle Lüchten Lüftender als die Luftlinie Sitziger Setzold Gesetzter als alles Gesäß Der Großgesetzelten Grötzter Oldung gegoldeter Holder Olderer Gegoldetster Doller Äsender Atzling Linglichster Aasmatz Gesehlicher Sehnst Sahrer Seherer Sehsehrigster 22

Olschner unterzieht die deutsche Version Celans einer genauen Analyse und kommt zu dem Schluß: »Celans Ubersetzung ist so frei, wie das Konzept eines solchen Originals verlangt, zugleich aber im Lautstand so wortverbunden, wie nur möglich«. 23 Dennoch kann die Frage nach »Treue« oder »Äquivalenz« der Ubersetzung hier nicht das eigentliche »Ereignis »aufdecken, das diese Ubersetzung so bedeutsam macht. Denn im Verlauf des Texts vollzieht sich ein Wechsel der übersetzerischen Tendenz, der nicht nur den übersetzerischen Prozeß offenlegt, sondern der zugleich als produktiver Umschlag zu werten ist. Celan sucht in der Ubersetzung zunehmend neben der semantischen vor allem die lautliche Vorgabe zu bewahren; darüberhinaus scheint mir die Art der Abweichung vom Original, die in Vers 7-9 eklatant wird, weniger durch die sprachlich bedingte Differenz beider Texte erklärbar, als eine bewußte Setzung Celans darzustellen: Es ist dies eben die produktive Differenz, die anzeigt, wie er den Impuls der Sprache Chlebnikovs aufgenommen und in eigenes Sprechen übertragen hat. Chlebnikovs Gedicht, das hat Olschner gezeigt, folgt einem strengen Schema der Kombination von jeweils zwei Wörtern in einer Verszeile. Jeweils drei Verse bilden eine Einheit durch den gleichbleibenden Stamm und durch die gleiche Folge neugebildeter Formen; lediglich die zweiten Worte der zweiten und dritten Verszeile vertauschen ihre Position in fast schematischem Wechsel. Die Übersetzung steht vor dem Problem, daß die russische Komparativform, die die Dynamik des Verses bestimmt, im Deutschen durch mehrere Wörter wiedergegeben werden muß. Artikel und Pronomina treten hinzu, auf die das Russische verzichten kann. Für die deutsche Ubersetzung sind sie 21

22 23

V.V. Chlebnikov: Sobranie socinenij III. Herausgegeben von VI. Markov. München 1972, S. 84. V, 295. L . M . Olschner: Der feste Buchstab, S. 281-283.

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jedoch unabdinglich. Die prägende Zweiwortstruktur der Verse kann für die deutsche Ubersetzung nicht aufrecht erhalten werden, will sie morphologisch und semantisch nahe bleiben, ebenso wie ihr >geheimer< Stamm »duch« (Geist) im Deutschen nicht bewahrt werden kann. Dadurch geht mit der Grundstruktur des Originals aber unweigerlich auch dessen Timbre, das litaneihaft Deklamatorische verloren, das in wichtigem Bezug zu seiner Semantik steht. Ebenfalls unübersetzbar erscheinen die Abweichungen vom Grundschema in der o.g. Variation -ei / / -ini am Versende, in der verkürzten Versgruppe ιο/ι ι sowie in der wesentlichen Durchbrechung der Laut-/Stammstruktur in der dritten Versgruppe durch das Verbum kolychat' (das einzige, das nicht -duch-enthält und statt dessen auf dem Ablaut -(ol)ych basiert). Alle Versgruppen sind von einem Verbum aus gebildet mit Ausnahme des ersten, das vom Substantiv »vozduch« ausgeht, daher hier auch der Punkt am Versende, der die erste Verszeile als Vorgabe für die folgenden herausstellt. Celans Ubersetzung versucht in ihrer ersten Hälfte die semantische Struktur des Originals so vollständig wie möglich zu bewahren, wodurch die formale Struktur fast zwangsläufig zerbrochen wird: »-er als alle« umschreibt die Komparativform und verbindet die beiden vorgegebenen Wörter. Olschner hat hier auf Celans Versuche, sich auch lautlich dem Original anzugleichen, hingewiesen, so etwa bei »vozduchini« und »Luftlinie«. 24 Hier liegt ein ganz bedeutender Lesefehler des sichtlich überforderten Setzers vor: in zwei Typoskripten der Ubersetzung sowie in der Druckvorlage ist eindeutig »Luftinie» zu lesen was den Hinweis Olschners nur bestätigt und dem Eindruck >störender< Semantik an dieser Stelle die Grundlage entzieht. In der Mitte des Gedichts, in eben jener Versgruppe, in der Chlebnikov vom >geheimen< Stamm aller Worte »duch« abweicht, vollzieht sich in Celans Übersetzung eine atemberaubende Wendung: Oldung gegoldeter Holder Olderer Gegoldetster Doller 2 '

Er findet zum Zweiwortschema der Vorlage, indem er (in lautlicher Anlehnung an das russische -ol-) das alte deutsche Suffix »-old« aus den beiden vorangegangenen Versgruppen zum Wortstamm erhebt. Damit hat er auch erst die eigentlichen Möglichkeiten der deutschen Sprache entdeckt, die Chlebnikovschen Variationen nachzubilden: das Präfix ge- und die Komparativendung -er, die ja noch in anderen Funktionen gebräuchlich und zudem verdoppelbar ist. Letztere bestimmt die Bildungen der abschließenden Versgruppen; die wortbil-

2

4 Ebd., S.282. ' Nach den Typoskripten muß im letzten Vers ebenfalls korrigiert werden in »Gedoldetster Doller«.

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dende Dynamik der Suffixe verselbständigt sich nach »Old-ung« noch einmal in »Ling-lich-ster«, das das voraufgegangene »Atz-ling« zu steigern vermag. Die Tendenz Celans, statt des Komparativs den Superlativ einzusetzen, wurde schon in den Umschreibungen der ersten Verse deutlich: »als alle«. A b Vers 6 erhält er eine bestimmende Funktion, zunächst jeweils für die Schlußverse jeder Versgruppe (9; 1 1 ), dann für die gesamte Versgruppe, die in einer einzigen Steigerung verläuft: »setzt«; »sahrer« (Positiv), »Seherer« (Komparativ), »Sehsehrigster« (Superlativ). Auf diese Weise verwirklicht er das grundlegende Zweiwortschema des Originals zumindestens in der zweiten Texthälfte. Er befreit die Worte nun von der vereindeutigenden Prädikation (»als alle«), setzt die Dynamik wie Chlebnikov in die wortbildenden Elemente, ja er steigert sie sogar noch, indem er diese selbst wortwertig werden läßt (»Oldung«; »Linglichster«). Eine solche Ubersetzung ist meines Erachtens ebensowenig wie der Duktus ihrer Vorlage »sprachspielerisch« zu nennen. Hier geht es vielmehr um das präzise Einüben von Sprache, vergleichbar den Etüden und Variationen eines Klaviervirtuosen. Dabei deckt Celan (ähnlich wie Pastior in seinen Petrarca-Übersetzungen) den dynamischen Prozeß des Übersetzens auf und macht die Lektüre zum spannenden Erlebnis. Er entdeckt im Übersetzen Möglichkeiten der Wortbildung, die sich an der Vorlage entlang verwirklichen lassen, die gleichfalls aber auch als prinzipielle Sprachmöglichkeiten virulent werden für das eigene Sprechen. Die Übersetzung zeigt gerade durch die in ihr erhaltene Entwicklung im Sprachduktus, welche Schwierigkeiten Celan im Grunde mit solchen Texten hatte. Der Zugang zum reinen Sprachspiel, zu Lautgedichten oder konkreten Texten, auch im Sinne Chlebnikovs, blieb Celan letztlich verschlossen. Anders als beispielsweise Oskar Pastior beharrte er darauf, in Chlebnikovs Texten mehr als nur sprachliche Reiztexte zu sehen und grenzte seine Arbeit - auch die der Übersetzungen - gegenüber der Tradition der Lautdichtung strikt ab. So sehr sich Celan auch für das Erscheinen der deutschen Chlebnikov-Ausgabe engagierte, war sein Interesse für das Werk dieses Autors doch anderswo begründet. Es scheint gute Gründe dafür zu geben, eine frühe Beschäftigung von der Zeit der späten Übersetzungen zu unterscheiden, gerade wenn es darum gehen soll, Bezüge zu seinem eigenen Werk aufzudecken. Was er an sprachlicher Virtuosität während der übersetzerischen Beschäftigung mit Texten Chlebnikovs erlebte, konnte kaum mehr im eigenen Werk produktiv verwandelt werden, entstanden die Übersetzungen doch erst in der zweiten Hälfte des Jahres 1969. Die frühe Chlebnikov-Lektüre vermittelte jedoch augenscheinlich Impulse, die weitreichender als bisher vermutet auf seine Gedichtsprache gewirkt haben. Ihre Quellen können nun anhand des Celan-Nachlasses weitgehend eruiert werden.

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b) Grandiose Sprachräume und die Einheit des Gesprächs Raïs, der für sich reklamiert, Celan mit den bedeutendsten russischen Autoren des Jahrhunderts als erster bekannt gemacht zu haben, nennt in seiner Erinnerung auch Chlebnikov;26 im Original hat Celan dessen Werke wohl frühestens i960 kennengelernt. Ich habe keinen Hinweis darauf finden können, daß Celan eine der frühen Chlebnikov-Ausgaben besessen oder benutzt hat.27 Peter Urban nennt Chlebnikov den »schlechtest edierten Dichter der russischen Sowjetliteratur«;28 er war allenfalls ein gerade eben geduldeter Autor der offiziellen Literatur.2' Nach dem Krieg dauerte es fast zwei Jahrzehnte, bis die erste kleine Auswahl an Gedichten und Poemen erscheinen konnte. Auch in den Kreisen der russischen Emigration wurde sein Werk lange Zeit nicht wahrgenommen.'0 Erhalten ist in Celans Bibliothek die erste Ausgabe ausgewählter Gedichte Chlebnikovs, die in der Sowjetunion nach dem Kriege herauskam. Es handelt sich um einen Band aus der repräsentativen und auch im Ausland vertriebenen Reihe »Biblioteka poèta«, der i960 in Leningrad erschien.31 Celans Exemplar zeugt von intensiver Beschäftigung. Es weist eine Reihe von Anstreichungen in Gedichten auf, von denen jedoch keines übersetzt wurde. Die Ausgabe enthält u.a. den Text Das Eine Buch {Edinaja kniga), sowie das Kranich-Poem {Zuravl'). Von den später für die Urban-Edition übersetzten Gedichten sind 16 27

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In: Terras/Weimar: Mandelstamm and Celan: A Postscript, S. 364. Neben den Einzelausgaben zu Lebzeiten wurden die Werke Chlebnikovs nach seinem Tod in mehreren z.T. konkurrierenden Sammelausgaben ediert bis hin zu einer Ausgabe unveröffentlichter Werke (Neizdannye proizvedenija), die 1940 in Moskau herauskam. Erst eine mehrbändige Reprint-Ausgabe, die 1968-72 in München erschien, machte diese Texte wieder zugänglich. Celan besaß die noch vor seinem Tod veröffentlichten ersten beiden Bände dieser Edition: Viktor Vladimirovic Chlebnikov: Sobranie socinenij [V.V. Chlebnikov: Gesammelte Werke]. Nachdruck der Bände 1 und 2 der Ausgabe Moskau 1928-1933 mit einem Vorwort von Vladimir Markov. [Slavische Propyläen 37,1+II], München 1968. In einem dieser Bücher befindet sich eine Bestätigung des Münchner Verlags über Celans Subskription der weiteren Bände. Einem Brief an Urban ist zu entnehmen, daß er erst nach Beginn der Arbeit für die deutsche Edition in den Besitz dieser Ausgabe gekommen ist, wobei Urban offenbar vermittelnd gewirkt hatte; das Original des für diese Ausgabe übersetzten Gedichts hatte Celan in Kopie vorgelegen (vgl. Verz. Nr. 68-69). P. Urban: Nachwort, S.605. Ein scharfes Verdikt formuliert V. Sajanov Anfang der fünfziger Jahre: »In der sowjetischen Dichtung, die von Millionen geliebt und geachtet wird, ist kein Platz für Chlebnikovs Dichtung.« In: Znamja 1 (1951), S. 1 4 j f . Darauf verweist Markov: »V émigracii Chlebnikovym malo interesovalis'« (In der Emigration interessierte man sich wenig für Chlebnikov). V. Markov: Chlebnikov, S. 127. Viktor Vladimirovic Chlebnikov: Stichotvorenija i poèmy. Leningrad i960 (Verz. Nr. 67).

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nur Das Heupferdchen (Kuznecik) und Wem bloß erzählchen (Komu skazaten'ki) enthalten (ohne Anstreichungen Celans). Mehrfach verweist Celan marginal auf »Ka« oder »K.« in Verbindung mit einer Seitenzahl. Hinter dieser Kürzel verbirgt sich eine französische Chlebnikov-Auswahl, die wie die sowjetische ebenfalls i960 erschienen 1st;32 es ist die erste Clebnikov-Ausgabe in Ubersetzung überhaupt. Celan hat sie vermutlich vor der russischen Ausgabe benutzt (Besitzvermerk vom 2. Juli i960). Ihr folgten Übersetzungen in Warschau (1963), Prag (1964), Belgrad (1964) und wieder Paris (1967), letztere befindet sich ebenfalls in der Bibliothek Celans.33 Ab i960 waren auch in deutschen Zeitschriften und Almanachen vereinzelt Gedichte von Chlebnikov zu finden (23 Gedichte bis zum Jahr 1967). Die erste größere Chlebnikov-Präsentation in Deutschland erfolgte als spezielles Dossier im Kursbuch 1967,54 das bereits von Peter Urban verantwortet wurde; hier waren u.a. Enzensberger (Der Kranich) und Celan (Das Eine Buch) als Ubersetzer beteiligt. Gerade bei den Ende der fünfziger Jahre zunächst benutzten Anthologien oder einführenden Werken aus dem Besitz Celans fällt auf, daß er zu Beginn der Wiederaufnahme seiner russischen Lektüren 1957/58 vor allem die Autoren Esenin und Chlebnikov im Blick hat, bevor er sich fast ausschließlich Mandel'stam zuwendet. Anstreichungen zu Chlebnikov weist sowohl eine intensiv gelesene Anthologie sowjetrussischer Dichtung auf, die 1957 in Moskau erschien,35 wie auch die erste repräsentative Sammlung dieser Phase russischer Dichtung, die unter dem Titel Gedämpfte Stimmen. Poesie hinter dem Eisernen Vorhang in russischer Sprache schon fünf Jahre zuvor in New York von Vladimir Markov herausgegeben worden war und die auch die in Sowjetrußland verschwiegenen Autoren wie Mandel'stam berücksichtigte.'6 An sekundären Werken zu Chlebnikov sind für Celan vor allem zwei Texte von Bedeutung,

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Vélemir Khlebnikov: Ka. Textes choises, traduits du russes et présentés par Benjamin Goriély. Paris (Emmanuel Vitte) i960 (Verz. Nr. 71). Vélimir Khlebnikov: Choix des poèmes. Traduit du russe et présenté par Luda Schnitzer. Honfleur/Paris (Pierre Jean Oswald) 1967. Eine ihrer Ubersetzungen, nämlich die des Lachgedichts, wurde auch in die deutsche Ausgabe übernommen (Verz. Nr. 70). Dossier Chlebnikov und andere. Kursbuch 10 (1967); (Verz. Nr. 72). Antologija russkoj sovetskoj poèzii ν dvuch tomach. 1917-1957. Moskva 1957 (Verz. Nr. 321). Vl.Markov: Priglusënnye golosa. Poézija za zeleznym zanavesom. N'ju-Jork 1952 (Verz. Nr. 331). Die Ausgabe mit dem Eintrag »Paris, 2.Dezember 1958« enthält mehrere Gedichte Chlebnikovs, eines davon wurde später übersetzt: Komu skazaten 'ki (Wem bloß erzählchen)·, Kogda umirajut koni (Wenn die Pferde sterben)·, V etot den' (An diesem Tag); Tri sestry (Drei Schwestern)·, Iranskaja pesn 'ja (Iranisches Lied); Rucej s cholodnoju vodoj.. ; Osen' (Herbst); Nocnoj obysk (Nächtliche Durchsuchung).

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deren Autoren als Vermittler gelten können und seine Auseinandersetzung zu Beginn wohl entscheidend geprägt haben. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist für Celan der Einfluß des amerikanischen Slavisten Vladimir Markov gewesen. Von ihrer persönlichen Bekanntschaft zeugen im Nachlaß erhaltene Briefe, sowie Widmungen Markovs an Celan, die sich in einigen seiner Werke befinden. In Celans Besitz waren die wichtigsten Publikationen Markovs, der neben wissenschaftlichen auch eigene literarische Werke verfaßt hat.37 Hier interessiert in erster Linie ein grundlegender Aufsatz Markovs über Chlebnikov, den er 1954 in der in Frankfurt erscheinenden russischen Exilzeitschrift Grani veröffentlichte. 38 A m selben Ort rezensiert Markov drei Jahre später Celans Ubersetzungen von Mandel'stam und Blok. 39 Celans Exemplar der Chlebnikov-Abhandlung weist eine Fülle von Anstreichungen und einige Marginalien auf; am Ende des Textes ist seine Lektüre auf den 28.9.5 9 datiert. Es ist das erste Datum, das eine Bekanntschaft Celans mit Chlebnikov sicher zu belegen vermag. Weitere Anregungen vermittelte eine frühe bedeutsame Abhandlung von Roman Jakobson, die das Werk Chlebnikovs erstmals einer wissenschaftlichen Analyse unterzog, um Grundsätze formalistischer Literaturbetrachtung paradigmatisch an Texten eines zeitgenössischen Autors zu erproben. Sie erschien ein Jahr vor Chlebnikovs Tod in russischer Sprache in Prag; Celan besaß die Originalausgabe. 40 Obwohl die Ausgabe unaufgeschnitten blieb, ist dennoch davon auszugehen, daß Celan den Text schon früher zur Kenntnis genommen hatte; wie in anderen Fällen auch, hat er das schon 1921 erschienene Heftchen vermutlich antiquarisch erworben, weil er um deren Bedeutung wußte, es dann aber nicht mehr zur Hand genommen. Nicht zufällig wählte Jakobson das Beispiel Chlebnikov. Auf die vielfältigen Impulse, die der Formalismus als Methode den Verfahren futuristischer Dichtung verdankt, kann hier nur hingewiesen werden. Die wissenschaftliche Argu-

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Celan besaß von Vladimir Markov u.a.: Priglusënnye golosa. Poèzija za zeleznym zanavesom (Gedämpfte Stimmen. Poesie hinter dem Eisernen Vorhang) N e w York 1952; O stichach Cechova (Uber die Gedichte Cechovs), Sonderdruck aus: T. Eeckman (Hrsg.): Anton Cechov. 1860-1960, Leiden i960, S. 136-147 (Verz. Nr.Ö4);sowie Markovs literarischen Debütband Gurilevskie romansy, Paris i960 (Verz. Nr. 256). Mehrfach bittet Celan Peter Urban brieflich, Markovs Abhandlung über »The Longer Poems of Velemir Khlebnikov« (Berkeley 1962) zu besorgen; der Band befindet sich jedoch nicht in seiner Bibliothek.

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V. Markov: Chlebnikov. Popytka apologii i soprotivlenija (Chlebnikov. Versuch einer Verteidigung und Entgegnung). Grani 22 (1954), S. 126-145 (Verz. Nr. 375). Vladimir Markov: Paul' Celan i ego perevody russkich poètov (Paul Celan und seine Ubersetzungen russischer Dichter). Grani 44 (1959), S. 227-230 (Verz. Nr. 377). Roman Jakobson: Novejsaja russkaja poèzija. Nabrosok pervyj. Viktor Chlebnikov. (Die neueste russische Poesie. Erster Versuch. Viktor Chlebnikov). Praga 1921 (Verz. Nr. 43 2).

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mentation nimmt wesentliche Gedankengänge wieder auf, die in provokanter Ablehnung des Zeitgeschmacks und der literarischen Tradition in den Manifesten und Pamphleten ebenso wie in Dichtung, Prosa und dramatischen Entwürfen des Futurismus bereits formuliert waren. Als Hauptmerkmal futuristischer Dichtung (und damit ist neben Chlebnikov v.a. Majakovskij gemeint) beschreibt Jakobson die »Bloßlegung des Verfahrens«. Bloßlegung des Verfahrens bedeutet ein Umgang mit Sprache, der Sprechen und Sprachwahrnehmung gleichermaßen als dynamischen Vorgang darstellt, erstarrte Sprachstrukturen aufbricht und in Bewegung setzt und das Sprechen selbst zum Gegenstand des Gesprochenen macht. Die Konsequenzen sind vielgestaltig, die Umgehung der logischen Motivierung des Sprechens bis zur sinnüberschreitenden Rede (»zaumnaja rec>«) trifft nur einen Aspekt davon. Jakobson dringt in seiner Analyse darauf, die Vielgestaltigkeit der Verfahren Chlebnikovs darzustellen, die ganz und gar nicht einer bloßen Laune entspringen, sondern eine konsequente Entwicklung bis zur Sprache des »zäum'« darstellen. Damit hat er - jenseits der affektiv geprägten und Stereotypen prägenden Rezeption durch seine Zeitgenossen, deren Auswirkungen bis heute das Bild Chlebnikovs belasten und eine echte Auseinandersetzung mit seinem Werk verhindern - einen genuinen Zugang zu seiner Dichtung gefunden, der allerdings folgenreich eher für die weitere Entwicklung der formalistischen Methode als für die Chlebnikov-Forschung gewesen ist. Als bedeutenden Gegenpol für die Auseinandersetzung mit dem Werk Chlebnikovs muß man schließlich auch Osip Mandel'stam miteinbeziehen. Mandel'stam widmet Chlebnikov einige wichtige Passagen seiner Essays O prirode slova (Über die Natur des Wortes-, 1922) und Zametki opoézii (Notizen über Poesie-, 1923); beide waren Celan schon in der ersten Werkausgabe verfügbar.4' Eine umfangreiche Auseinandersetzung mit den vielfältigen Strömungen zeitgenössischer Dichtung unternimmt Mandel'stam schließlich in dem Essay Burja i natisk (Sturm und Drang, 1923).42 Aufgrund der im Nachlaß erhaltenen Bibliotheksbestände muß davon ausgegangen werden, daß Celan Chlebnikov zunächst ausschließlich als Lyriker kennengelernt hat. Die beiden Ausgaben, mit denen er anfangs arbeiten konnte (Leningrad i960 bzw. Paris 1960) präsentieren jeweils eine Auswahl aus seinem lyrischen Werk. Anders als die französische Ausgabe stellte die russische 41

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Osip Mandel'stam: Sobranie socinenij (Gesammelte Werke). Pod redakciej i so vstupitel'nymi stat'jami G.P. Struve i Β . A . Filippova. N'ju-Jork 1955, S.337-354. (Verz. Nr. 234). Nach dem Erstdruck in der Zeitschrift >Russkoe iskusstvo< 1923 erstmals wieder gedruckt in: Osip Mandel'stam: Sobranie socinenij ν dvuch tomach (Gesammelte Werke in zwei Bänden). Pod redakciej G.P. Struve i Β . Α . Filippova. Tom vtoroj. Stichotvorenija. Proza. N e w York 1966, S . 3 8 1 - 3 9 3 . (Verz. Nr.237-238).

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gewissermaßen einen »gereinigten« Chlebnikov vor; 4 3 mit Absicht fehlen die Wortwurzelgedichte ebenso wie Beispiele des »zaum'«, so auch die »Beschwörung durch Lachen«, die heute zu seinen bekanntesten Texten überhaupt gehört. Chlebnikovs Sprachtheorie, auf deren Bedeutung f ü r Celans eigenes Sprechen wiederholt hingewiesen wurde, konnte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht im Original kennenlernen. So dürfte die schlechte Editionslage auch einer der Gründe dafür sein, weshalb sein frühes Interesse relativ schnell wieder abklingen mußte. Die bisher bekannten Datierungen, die den Zeitraum von Celans Beschäftigung mit Chlebnikov näher bestimmen können, lassen zwei Phasen der A u s einandersetzung erkennen, die ein entscheidendes Jahrzehnt trennt: Die Chlebnikov-Lektüre um 1959/60 und die Zeit der Übersetzungen für die Urban-Edition Ende 1969. Die erste Phase fällt in die Hauptzeit seiner Auseinandersetzung mit Russischem. Damals mußte Chlebnikovs Werk in seiner Bedeutsamkeit f ü r Celan auch deshalb peripher bleiben, weil er der entscheidenden Komponenten entbehrte, die in zunehmendem Maße Celans Begriff des »Russischen« und damit der dichterischen Existenz überhaupt, bestimmten: Jüdische Herkunft und Exilerfahrung. Seine persönliche Entwicklung um i960 vereitelte vermutlich ein intensiveres Studium und weitere Ubersetzungen zu diesem Zeitpunkt; äußere und innere Ereignisse drängten Celan in eine andere Richtung, f ü r die der N a m e Cvetaeva einsteht. Peter Urbans Vorstoß in den späten sechziger Jahren ließ ihn in einer veränderten Situation an Früheres anknüpfen. Mit Nachdruck setzt er sich gegenüber Urban f ü r das Erscheinen der deutschen Chlebnikov-Ausgabe ein, das aus verlegerischen Gründen lange Zeit in Frage stand. D a davon ausgegangen werden muß, daß Celan während der ersten Phase seiner Beschäftigung mit dem Werk Chlebnikovs nur beschränkt mit Texten im Original arbeiten und auch nur auf wenige Ubersetzungen ins Französische zurückgreifen konnte, kommt den Vermittlern Chlebnikovs zu diesem Zeitpunkt eine herausragende Bedeutung zu. N e b e n kaum mehr rekonstruierbaren persönlichen Einflüssen und diversen Hinweisen, die Celan seiner sonstigen umfangreichen russischen Lektüre entnehmen konnte, sind es wohl besonders die beiden bereits genannten Abhandlungen von Markov und Jakobson gewesen, die Celan intensiver beschäftigt haben. Wenn überhaupt von einem Einfluß von Chlebnikovs Sprachtheorie auf die Entwicklung der Gedichtsprache Celans sowie auf bestimmte poetische Verfahren in seinen Gedichten zu sprechen ist, so verdankt sich dieser zunächst den Anregungen, die Celan aus den Schriften seiner Vermittler empfangen hat. Damit unterscheidet sich seine Chlebnikov-Lektüre aber wesentlich von der allgemeinen Rezeption und muß von dieser auch in ihrer Differenz begriffen werden. 43

Vgl. das Vorwort von N. Stepanov in V. Chlebnikov: Stichotvorenija i poémy, S. 5-68.

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Vermutlich durch persönliche Vermittlung ist Celan auf den Aufsatz von Markov aufmerksam gemacht worden, der bereits 1954 erschienen war und von ihm erst fünf Jahre später genau studiert wurde. Die zahlreichen Anstreichungen und Marginalien vermerken nicht nur das Lektüredatum 28.9.59. Sie lassen auch erkennen, daß Celan sich hier einen ersten Uberblick zu verschaffen suchte. So unterstreicht er fast sämtliche Hinweise auf die Erinnerungen von Zeitgenossen an Chlebnikov sowie solche auf einschlägige wissenschaftliche Untersuchungen. Ansonsten verfährt er ganz und gar nicht akademisch. Mit zum Teil affektiv gefärbten Kommentierungen (»schön!«) verfolgt er vor allem die Gedankengänge, die dem Kontext seines eigenen Denkens entsprechen. Viele der von Markov angeführten Gedichtbeispiele sind angestrichen, darunter keines der später übersetzten. Ubersetzungsnotizen sind ebenfalls an keiner Stelle zu finden. Markov wollte mit seinem Aufsatz zweifellos eine neue Phase der Chlebnikov-Rezeption einleiten. Der Untertitel »Popytka apologii i soprotivljenija« (Versuch einer Verteidigung und Entgegnung) verweist nicht nur auf die vielberufenen Widersprüchlichkeiten innerhalb Chlebnikovs Werks. Markov versucht Chlebnikov der Vereinnahmung durch die futuristischen Freunde ebenso zu entziehen wie einer einseitigen formalistischen Interpretation. Indem er einen Zugang zu Chlebnikov öffnet, der in den radikalen sprachlichen Neuerungen weniger den Bruch mit der Tradition akzentuiert als er das Wiederentdecken ihrer (sprachlichen) Potenz erkennt, gelingt es Markov, Chlebnikov, dem in der Sowjetliteratur kein Platz gewährt wird und für den die Emigration kein Interesse aufbringt, angemessen zu würdigen und als »Klassiker der Moderne« zu etablieren. Für Celan ist die Lektüre dieses Aufsatzes eben deshalb so bedeutsam, weil sie bewirkte, daß er Chlebnikov nicht von vornherein als »Nonsens«-Dichter rezipierte. Er konnte in seinen »Sprachspielen« ein ernstes, sprachtheoretisch durchdachtes und begründetes System erkennen. Markovs Ausführungen vermittelten ihm aber auch den biographisch-historischen Kontext des Autors Chlebnikov, dessen extreme Konzentration auf die Sprache als Reaktion auf die Absurdität seiner Zeit zu begreifen ist. »Sumassedsim Chlebnikov ne byl«, schreibt Markov, »a byl bezumcem (bol'saja raznica) - kak Blejk, Chel'derlin, Van Gog i dr.« (Verrückt war Chlebnikov nicht, aber er war ein Wahnsinniger wie Blake, Hölderlin, Van Gogh und andere),44 ein jüngerer Bruder von Don Quichote und Fürst Myskin. 45 Markov ist einer der ersten, der Chlebnikovs »zaum'«-Begriff dezidiert von dem ihres Erfinders Krucënych unterscheidet. Die »zaumnaja rec>«, übersetzt meist mit »transmentaler Rede«, habe für das Werk Chlebnikovs eine weit 44 4

Markov, O Chlebnikove, S. 130. ' Ebd., S. 144.

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geringere Bedeutung als angenommen werde. Zudem habe sie nichts zu tun mit dem heute darunter verstandenen »Unsinn und Abrakadabra« einer vollständig sinnentleerten Laut-Rede. Für Chlebnikov sei »zaum'« ein Akt der Grenzüberschreitung: Chlebnikov pod zaum'ju ponimal sovsem inoe. [...] Chlebnikov chotel vydelit' zvuki-idei i iz nich Stroit' novyj zaumnyj jazyk, t.e. perechodjascij za granicu obycnogo, povsednevnogo smysla i vyrazajuscij osnovnuju ideju, - na kotorom vse ljudi budut ponimat' drug druga. I perelej zerali narec'ja V edinyj smertnych razgovor. V stat'je »Nasa osnova« Chlebnikov jasno govorit ob ètom: >Zaumnyj jazyk est< grjaduscij mirovoj jazyk ν zarodyse. Tol'ko on mozet soedinit' ljudej. Uranye jazyki uze raz-edinjajut'. 46 (Chlebnikov verstand unter »zaum'« etwas vollständig anderes. [...] Chlebnikov wollte die Laut-Ideen absondern und aus ihnen eine neue transmentale Sprache konstruieren, indem er nämlich die Grenzen des gewöhnlichen, alltäglichen Sinnes überschritt und die Grundidee ausdrückte, worin alle Menschen einander verstehen würden. Und überfließen mögen der Welt Mundarten In ein einziges Gespräch der Sterblichen. In der Abhandlung »Unsere Grundlage« spricht Chlebnikov deutlich darüber: >Transmentale Sprache ist die zukünftige Weltsprache im Keim. Sie allein vermag die Menschen zu vereinen. Die rationalen Sprachen entzweien nurSeit ein Gespräch wir sind... W E N N D U I M B E T T / aus verschollenem Fahnentuch liegstEinfluß< gesprochen werden kann: Celan lernt durch ihn bestimmte poetische Verfahren kennen, die er - weitgehend isoliert von der Chlebnikovschen Gesamtkonzeption - adaptiert; dieser eher >technisch< begründete Einfluß kann schon früh, in Gedichten der Niemandsrose nachgewiesen werden, er steht immer in Korrelation mit anderen Einflüssen (zumeist aus dem Bereich der französischen Literatur) und betrifft vornehmlich sprachtheoretische Überlegungen. Wie sich andererseits aber auch gezeigt hat, finden sich kaum intertextuelle Bezugnahmen, mit Ausnahme des Kranich-Gedichts aus der Atemwende. Dabei ist ist der Hinweis auf Chlebnikov hier ein Hinweis für Kenner und zugleich ein Hinweis auf unendlich viel weiter Ausgreifendes. So scheint sich auch für Celan das berühmte Wort Majakovskijs zu bestätigen (das einem Verdikt gleichkommt): Chlebnikov ist kein Dichter für den Verbrauch. Ihn kann man nicht lesen. Chlebnikov ist ein Dichter für Produzenten. 84

Man würde jedoch Celans Chlebnikov-Lektüre verkennen, wollte man sie auf den eklektischen Gestus reduzieren, in dem die nachfolgenden Dichtergenerationen Chlebnikovs Werk rezipiert haben: Als Sammelsurium verschiedener 83 84

So mit Vorbehalten auch Olschner: Der feste Buchstab, S. 274, 284. Zitiert nach V. Chlebnikov: Werke, S. 9. 283

Verfahren oder, wie Mandel'stam es formuliert hat, als »ein riesiges allrussisches Gebet- und Bilderbuch, aus dem auf Jahrhunderte hinaus jeder schöpfen kann, der Lust dazu hat.« 8 ' Gerade die Worte Mandel'stams öffnen auch ein Verständnis für das Phänomen Chlebnikov, das in seiner Person verborgen lag und das Celan nicht entgehen konnte: Chlebnikov weiß nicht, was ein Zeitgenosse ist. Er ist Bürger der ganzen Geschichte, des ganzen Systems von Sprache und Poesie. Ein idiotischer Einstein, der nicht weiß, was näher liegt - Eisenbahnbrücke oder »Die Kunde von Igors Heereszug«. Chlebnikows Poesie ist idiotisch im authentisch griechischen, nicht abwertenden Sinn dieses Wortes. Die Zeitgenossen konnten und können es ihm nicht verzeihen, daß es bei ihm keinerlei Anspielungen auf die Gemütsbewegungen seiner Epoche gibt. Was muß das für ein Schrecken gewesen sein, als dieser Mensch, der seinen Gesprächspartner gar nicht sah und seine Zeit überhaupt nicht von all den andern Jahrtausenden unterschied, sich auch noch als außerordentlich gesellig und mit der Puschkinschen Gabe des poetischen Plaudertons gesegnet erwies. Chlebnikow scherzt, und keiner lacht. Chlebnikow macht leichte, elegante Anspielungen, und keiner versteht. Der Riesenanteil dessen, was Chlebnikow geschrieben hat, ist nichts anderes als leichte poetische Plauderei, wie er sie verstand.. 8 6

Zwei Begriffe fallen hier ins Auge, die Celan als Zentralbegriffe der Poetik Mandel'stams intensiv beschäftigt haben. Hier sind sie gerade in ihrer Negation die Qualitäten des Menschen und Dichters Chlebnikov: »Chlebnikov ne znaet, cto takoe sovremennik« (Chlebnikov weiß nicht, was ein Zeitgenosse ist) und »..ètot celovek, soversenno ne vidjascij sobesednika..« (..dieser Mensch, der seinen Gesprächspartner gar nicht sah..). Was als Charakteristikum der Person auftritt, gestaltet sich zum poetologischen Grundsatz. Mandel'stams wie Celans Dichtung richtet sich an ein wie immer auch geartetes Gegenüber, ist Gespräch mit dem Unbekannten, ihm jedoch Zugewandten und verbürgt so dessen Kreatürlichkeit. In Chlebnikovs »Plauderei«, die den Gesprächspartner weder wahrzunehmen noch zu erreichen vermag, scheint das Sprechen sich selbst genug, eben weil es alles schon in sich enthält (vgl. Das Eine Buch). Dabei eignet ihm aber auch etwas von dem »verzweifelten Gespräch«, von dem Celan spricht. War für Mandel'stam wie für Celan das »Zeugen für die Zeit« Grundforderung des Gedichts, so enthebt Chlebnikov die Kategorie »Zeitgenossenschaft« ihrer Bedeutung, indem er sich immer schon in allen Zeiträumen befindet, unendlich synchronisiert und der Vereinzelung und damit dem Selbstverlust erst gar nicht anheim fällt (Chlebnikov war in ganz anderer Weise als Mandel'stam >Opfer< seiner Zeit). Chlebnikov hat auf seine Weise Zeit überwunden und Transzendenz erreicht, indem er einfach keine Grenze akzeptierte; er war Grenzüberschreiter 85 86

O . Mandelstam: Essays II, 19jf. Ebd.

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per definitionem, in allen Räumen und Zeiten zu Hause und in seiner Grenzenlosigkeit heimatlos. Im Band Schneepart finden sich zwei Gedichte, die als denkwürdige Kontamination beider Autoren gelesen werden können. Sie sind im Abstand von zwei Tagen im Februar 1968 entstanden: Z U R N A C H T O R D N U N G Übergerittener, Ubergeschlitterter, Ubergewitterter, Unbesungener, U n bezwungener, U n umwundener, vor die Irrenzelte gepflanzter seelenbärtiger, hageläugiger Weißkiesstotterer. 87 M I T D E N S A C K G A S S E N sprechen vom Gegenüber, von seiner expatriierten Bedeutung - : dieses Brot kauen, mit Schreibzähnen. 8 8

Das erste der beiden Gedichte ist der Versuch einer Bestimmung, die ohne finîtes Verbum auskommen möchte und in zehn Ansätzen das zu bestimmende Subjekt umkreist. Die Prädikationen erfolgen sieben Mal auf der Basis eines präfigierten, in der zweiten Hälfte noch durch ein weiteres Präfix negierten Verbums, drei Formen erweisen sich aus je zwei Substantiva zusammengesetzt. Die Fülle des Aneinandergereihten, das lautlich durch Assonanzen und Anaphern stark gebunden ist, wird andererseits durch Kommata stakkatoartig getrennt; dazu schneidet der Vers jeweils das Präfix vom Partizipium und setzt damit schärfere Akzente. Dem Redeschwall eignet fast der Gestus einer herben Beschimpfung. Die an zwei Stellen eingesetzten Präpositionen geben eine Richtung vor, lokalisieren dann aber den Redefluß gegen Ende auf einen Punkt, in dem alles kakophonisch verhallt: »Stotterer«. Wem dieser fast gewaltsam sich Luft machende Wortschwall gilt, ist unbestimmbar, zumal sich auch das sprechende Subjekt der Rede nicht zu erkennen gibt. Es kann eine Selbstprädika-

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88

II, 357·

11, 358.

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tion sein, erinnert aber in manchem an Celans A n r u f u n g der Person Mandel'stams: »Weißkies-/Stotterer«. 89 Im zweiten Gedicht öffnet sich ebenfalls der Bezug auf Mandel'stam, zugleich scheint Chlebnikov mit aufgerufen zu sein. Vom Gegenüber, hier in der Verszeile syntaktisch isoliert, ist der Titel jenes bedeutenden Essays Mandel'stams, auf dessen Flaschenpostmetaphorik sich Celan schon in der Bremer Rede bezieht. In einer entscheidenden Metathese ist das Gegenüber hier nun nicht mehr Gesprächspartner, sondern Gegenstand der Rede geworden. Die Umkehrung der ursprünglichen Bewegung hin zu einem »offenen, besetzbaren« Gegenüber mündet nun in »Sackgassen«, in auswegloses, unbeantwortetes Sprechen. Die Bedeutung des Gegenüber ist »expatriiert«; als solche stellt sie sich nun als Gesprächsgegenstand her. War die Exilerfahrung wesentliches Element des Rußlanderlebnisses bei Celan, so ist nun nicht die Person, sondern gar ihre »Bedeutung« der Heimat verlustig. »Dieses / Brot kauen, mit / Schreibzähnen«. Schon oben war auf den kannibalistischen Aspekt des Lesens bzw. Schreibens im Zusammenhang der Dichtung Chlebnikovs hingewiesen worden; ein ganz ähnlicher Prozeß der Einverleibung wird hier bei Celan gestaltet, wobei der Vorgang (das Verfahren\) selbst bereits in ein Produktives umschlägt (mit/ Schreibzähnen). 90 D e r N a m e Chlebnikov birgt in seinem Stamm das russische Wort f ü r Brot - chleb. Hier mag an ein Spiel mit dem Namen des Dichters gedacht sein wie es ähnlich subtil in »Mandelbaum, Mandeltraum« in der Gauner- und Ganovenweise geschieht. Das »Brot kauen, mit / Schreibzähnen« könnte hier auch als ein Begriff gefaßt werden, der nun anstelle des »Uber-reitens« f ü r den Übersetzungsvorgang einsteht. 9 ' Die Verse des ersten Gedichts »mögen mit Chlebnikovs poetischer Praxis manches gemein haben«, konstatiert Olschner; sie evozieren jedoch eher das Bild Mandel'stams (vgl. das erschreckende Foto von 1936). Im zweiten dagegen spielt Celan präzise an auf Theoreme der Mandel'stamschen Poetik - und zielt auf Chlebnikov. Gerade die Integration von Sprachgestus und poetischem Credo beider Autoren in diesen beiden späten Gedichten zeigt, wie wenig von einer A b l ö sung Celans von Mandel'stam und einer Hinwendung zur »transmentalen« Sprache im Sinne Chlebnikovs die Rede sein kann. Celan hatte den »Plauderton« Chlebnikovs, von dem Mandel'stam berichtet, weit existentieller erfaßt als die meisten seiner Interpreten, er selbst spricht schon 1961 von den »gran89

Vgl. in diesem Zusammenhang die Motive Kiesel und Stottern als grundlegende Motive aus dem Kontext von Celans Mandel'stam-Rezeption. 9 ° Ein analoges Geschehen zeigt auch schon das Gedicht Wenn Du, wo die Anwort des Du auf die Attacke des Vogels »phosphorn wie Ewigkeitszähne« wird. ' ' Vgl. »Kyrillisches, Freunde, auch das / ritt ich über die Seine, / ritts übern Rhein.« (I, 289). 286

diosen Sprachträumen Chlebnikovs«;' 2 in diesem Ton, wenn auch beißender, konnte, mußte er antworten auf die Erfahrungen der »Sackgassen«, als welche sich seine realen Gesprächspartner zunehmend erwiesen.

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Klappentext zur Originalausgabe der Esenin-Übertragungen: Sergej Jessenin: Gedichte. Ausgewählt und übertragen von Paul Celan. Frankfurt am Main 1961.

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7· Alle Dichter sind Juden Bekenntnis zu Marina Cvetaeva - Gde lebedi? - A lebedi usli. - A vòrony? - A vòrony - ostalis'.1 Wo sind die Schwäne ? Die Schwäne sind fort. Und die Rahen ? Die Rahen, die sind gehliehen.1

a) Ein Kommentar zu Rußland Es ist nur eine Frage der Perspektive. In Rußland wird man mich besser verstehen. Aber im Jenseits wird man mich noch besser verstehen als in Rußland. Man wird mich ganz verstehen. Man wird mich selber lehren mich ganz zu verstehen. Rußland ist nur die Grenze irdischer Verständlichkeit, hinter der Verständlichkeitsgrenze Rußlands ist die grenzenlose Verständlichkeit des Unirdischen. »Es gibt ein Land Gott und Rußland grenzt DARAN«, hat Rilke gesagt, der selbst überall außerhalb Rußlands Sehnsucht nach Rußland empfand, sein ganzes Leben lang. An dieses Land Gott grenzt Rußland bis zum heutigen Tag [...] Rußland war niemals ein Land der irdischen Landkarte. Und wer von hier aus dorthin fuhr, fuhr in der Tat über eine Grenze: die des Sichtbaren. Auf dieses Rußland setzen die Dichter. Auf Rußland - als ganzes, auf Rußland - für immer. Aber auch Rußland ist noch zuwenig. Jeder Dichter ist dem Wesen nach ein Emigrant, sogar in Rußland. Ein Emigrant des Himmelreichs und des irdischen Paradieses der Natur. Der Dichter - alle Menschen der Kunst - der Dichter jedoch am meisten - trägt das besondere Zeichen der Ungeborgenheit an sich, an dem man sogar in seinem eigenen Hause den Dichter erkennt. Ein Emigrant aus der Unsterblichkeit in die Zeit, einer der nicht in SEINEN Himmel zurückgekehrt ist...5 Vielleicht ist nach all dem bisher Gesagten ein weniges von dem sichtbar geworden, was die Faszination Rußlands, der russischen Dichtung für Celan bedeutete, wie und w o er sie aufsuchte, für »zu schwer«, für »zu leicht« befand, manches Wort aufnahm und weitersprach. Es scheint, nach all dem bisher Gesagten, daß - in weit höherem Maße als dies der wissenschaftlichen Betrachtung bewußt ist - auch diese Teil eines unendlichen Rezeptions- , Reproduk-

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Marina Cvetaeva: Stichotvorenijaipoémy vpjati tomach. Tom vtotoj. Stichotvorenija 1917-1922. New York 1982, S. 74. Übers. C. I. Marina Cvetaeva: (Der Dichter und die Zeit). Zitiert nach: Marina Zwetajewa: Ein gefangener Geist. Essays. Aus dem Russischen übertragen und mit einem Nachwort versehen von Rolf-Dietrich Keil. Frankfurt a.M. 1989, S. Nach der Erstpublikation in der Zeitschrift Volja Rossii, Prag 1932, wurde der Essay erneut erst wieder gedruckt in M. Cvetaeva: Nesobrannye proizvedenija. Hg. G. Wyrtzens. München 1971. Der Text war also Celan vermutlich nicht bekannt.

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tions- und Transformationsprozesses ist, einer unendlichen Perpetuierung von Schreiben, Lesen und erneutem Schreiben, an dem jenes erste immer auch beteiligt ist ebenso wie jener erste Blick, der auf es, als Geschriebenes fiel. Vielleicht gibt auch der Dichter selbst den Gestus vor, in dem allein er rezipiert werden kann. Die sicherlich schwerste Vorgabe in diesem Sinne kommt von Marina Cvetaeva. Wenn die Dichtung Chlebnikovs ein »riesiges allrussisches Gebet- und Bilderbuch« 4 darstellt, dann kann die Dichtung Cvetaevas als der ebenso entgrenzte Kommentar dazu verstanden werden. Liebe zu Rußland und Leiden an Rußland, unbegrenzte Offenheit des Herzens und erstickende Isolation, Ausbruch in die Ferne und Sehnsucht nach der Heimat, Liebesbedürfnis und Leiderfahrung prägen ihr Leben und zeichnen ihre Dichtung. Neigung zu Extremen, Ablehnung jeder Art von Vereinnahmung durch Staat und Partei, durch literarische Gruppen und epochale Bewegungen, grenzenlose Zuneigung zu Freunden und Partnern, manchmal mehreren zugleich, begeisterter Aufbruch, ständiges Unterwegssein und verzweifelter Untergang sind Charakteristika der Person Cvetaevas und bestimmen zugleich ihr Werk. Lebensatem und Rhythmus ihrer Dichtungen sind von der Geschwindigkeit einer Beschleunigung ins Unendliche. Die eingangs zitierten Worte Marina Cvetaevas, die in nicht geringer Bitterkeit und Trotz die Erfahrung ihres Pariser Exils formulieren, visionär ihren Weg nach Rußland zurück und darüber hinaus vorwegnehmen, fassen vieles zusammen von dem, was auch Celans Weg nach Rußland, nach Osten, als Versuch einer Heimkehr kennzeichnet, ein Weg, den er mit den russischen und auch mit eigenen Gedichten vollzogen hat. Die Dichtung Cvetaevas war eine der letzten Stationen dieses Weges, vielleicht war es auch eine, die er nie wirklich erreicht hat. Was bisher darüber bekannt geworden ist - und Cvetaeva war die einzige Autorin, die wahrgenommen worden ist, obwohl Celan keine Texte von ihr übersetzt hat - , läßt sich in wenigen Punkten zusammenfassen. Dabei erstaunt gegenüber dem geringen Umfang der Zeugnisse solcher Auseinandersetzung die Intensität, mit der von ihm nahestehenden Zeugen Celans übergroße Bewunderung und >Liebe< zur Cveateva betont wird. 5 Cvetaeva habe in Celans Sympathie, so u.a. Rais, unter den russischen Autoren an zweiter Stelle - nach Mandel'stam - gestanden. 6 Häufiger wurde in diesem Zusammenhang betont,

4

O. Mandelstam: Essays I, 196. ' So Frau Celan im persönlichen Gespräch mit G.Civikov und Verf., so auch E. Cameron: Erinnerung an Paul Celan. a.a.O., S. 339. 6 Vgl. Rais' Brief an Struve vom 25.9.75: »Vot tol'ko ot vas uznaju, cto on namerevalsja perevodit' takze i Cvetaevu, kotoraja polzovalas' ego vnimaniem na vtorom meste, posle Mandel'stama.« (Wie ich nun von Ihnen erfahre, hatte er also auch vor, Cvetaeva 289

er habe sich mit dem Gedanken getragen, auch ihre Gedichte zu übersetzen; die einzige bisher positiv verbürgte Aussage Celans in dieser Frage ist ein Briefzeugnis an Struve, in welchem er sich lediglich zum Anspruch einer solchen Arbeit äußert: »..J'ai pu, à propos d'un recueil de poèmes de Pasternak à paraître aux Editions Fischer (dans une traduction collective, je crois), signaler la réimpression de >CßeTOBOH JIHBEHB< - mais combien est-il donc difficile de traduire MAPHHA IJBETAEBA.7

Die wissenschaftliche Forschung hat sich auf diesen Ton eingestimmt und die Bedeutung Cvetaevas für Celans Werk hervorgehoben. Sie konnte sich dabei auf ein besonders relevantes und in seiner Art einmaliges Zeugnis solcher Nähe stützen, das mit ihrem Namen gezeichnete Motto »Bce Π03τι>Ι HCHRM«, das Celan einem seiner eigenen Gedichte aus Die Niemandsrose vorangestellt hat.8 Dieses unterdessen für Celans Dichtung berühmt gewordene Diktum »Alle Dichter sind Juden« interessierte dabei jedoch weniger aus dem Kontext der Cvetaeva-Rezeption heraus, als die extreme Aussage an sich Aufmerksamkeit erregte; wie es scheint, durchaus zu Recht. Für eine textuell begründete Auseinandersetzung mit den Gedichten Cvetaevas, die jene so nachhaltig betonte Zuneigung Celans rechtfertigte, sind dagegen bisher kaum Anhaltspunkte gefunden worden; eine eingehende Untersuchung hat noch nicht stattgefunden.» In dieser Frage nun sind die Zeugen der Bibliothek mit besonderer Sorgfalt zu untersuchen, die, solange die autobiographischen Zeugnisse Celans noch nicht zugänglich sind, vorläufig die einzigen Fakten bieten. Der besondere Lebensweg Marina Cvetaevas wie auch ihre geistige Haltung und Persönlichkeit bedingten es, daß ihre Werke in der Zeit von dem Gang ins Exil (1922) und über ihre Rückkehr in die Sowjetunion hinaus im Jahre 1939 sowohl in den Kreisen der Pariser Emigration, wie auch innerhalb Rußlands immer weniger Verbreitung fanden, obwohl die künstlerische Anerkennung

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zu übersetzen, die bei ihm an zweiter Stelle stand, nach MandePstam). In: Terras/Weimar: Mandelsatmm and Celan: A Postscript, S. 365. Brief an Gleb Struve vom 26.2. 1959. Ebd., S. 363. I, 287. Lediglich Lehmann geht in seiner Analyse des Gedichts Und mit dem Buch aus Tarussa auch auf die Cvetaeva-Bezüge ein; er nennt neben dem Poèma konca (Poem vom Ende), aus dem sich das Motto herleitet, als Subtexte Cvetaevas die Gedichte Derev'ja (Die Bäume) und Stol (Der Tisch), sowie den Zyklus Skify (Die Skythen). J. Lehmann: »Dichten heißt immer unterwegs sein«. Literarische Grenzüberschreitungen am Beispiel Paul Celans, S. 119, 125. Der Bezug beschränkt sich jedoch m.E. auf die Zitierung sehr allgemeiner (Baum, Tisch) oder nicht nur für Cvetaeva spezifischer Begriffe (Skythen), die auch aus anderen Kontexten erklärt werden können (und müssen).

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selten in Frage stand. 10 In Paris hatte sie sich vor allem durch ihren expressiven Angriff gegen Georgi] Ivanov unbeliebt gemacht; ihr war es darum gegangen, Person und Gestalt Mandel'stams gegenüber der verfälschten Darstellung des führenden Dichters der Emigration zu verteidigen. In Rußland standen die politische Haltung ihrer Familie und die Tatsache der Emigration ihrer Reputation im Wege. Nach der Rückkehr wurde ihr Mann sofort festgenommen und noch im selben Jahr erschossen, ihre Tochter wurde verhaftet und verbrachte 17 Jahre in Lager und Verbannung. Vor dem drohenden Einmarsch der deutschen Truppen nahm sie sich, enttäuscht und vereinsamt, im tatarischen Jelabuga das Leben. Erste Texte von ihr wurden erst mit Beginn des »Tauwetters« wieder gedruckt; Erenburg und Paustovskij waren führende Vorkämpfer ihrer (und nicht nur ihrer) Rehabilitation. Der Almanach Literaturnaja Moskva brachte 1956 zum ersten Mal nach ihrer Rückkehr wieder Gedichte von Cvetaeva, fünf Jahre später erschienen in Tarusskie stranicy 42 Texte von ihr auf insgesamt 10 (von 318) Seiten. Im selben Jahr konnte aber auch schon Vladimir Orlov eine Auswahlausgabe ihrer Werke in Moskau publizieren, nach weiteren vier Jahren wurde sie mit einer größeren Werkauswahl in die Reihe renommierter Klassiker aufgenommen. In der Emigration hatte man sich ihrer zumindest etwas früher angenommen. Wiederum war es Gleb Struve, der hier den ersten Vorstoß machte und i 9 J 7 i n München den schon zwischen I 9 i / u n d 1921 entstandenen Zyklus Lebedinyj stan erstmals zur Veröffentlichung brachte. Celans im Verhältnis zu der schwierigen Editionslage recht frühe Beschäftigung mit der Dichtung Cvetaevas erklärt sich wohl aus seinen guten Kontakten zu den Vermittlern russischer Literatur im Ausland; vor allem Raïs, der ihn für die Ubersetzung gewinnen wollte, scheint hier entscheidenden Einfluß genommen zu haben. Als Gleb Struve Celan zum Dank und als »Zeichen der Anerkennung« für dessen Gedichte und Ubersetzungen im Februar 1958(5 9?) den von ihm edierten Zyklus Lebedinyj stan11 sendet, da ist Celan selbst bereits im Besitz der Originalausgabe des letzten zu Lebzeiten Cvetaevas erschienenen Gedichtbands Posle Rossii12 sowie einer 1953 in N e w York vorbereiteten Auswahl aus 10

Die Kritik beispielsweise von Adamovic kann eher als Ausnahme gelten und die zunehmende Isolation innerhalb der Emigration war eher persönlich begründet, als daß sie die Qualität ihrer Dichtung ernsthaft hätte in Frage stellen können; diese Art der Verquickung der Kritik an ihrer Person mit der Werkkritik trug nicht selten Züge von Ressentiments. Deutlichstes Beispiel dafür ist der »Ausfall« des vermutlich persönlich enttäuschten Mandel'stam gegen Cvetaeva in seinem Essay Literaturnaja Moskva (Das Literarische Moskau), obwohl er im Grunde ihrer Dichtung doch Hochschätzung entgegenbrachte.

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Marina Cvetaeva: Lebedinyj stan. Stichi 1 9 1 7 - 1 9 2 1 . München 1957 (Verz. Nr. 78). Der Herausgeber Struve widmet den Band Celan, nachdem dieser am 29-Jan. 5 9 brieflich mit ihm Kontakt aufgenommen hatte. Struve datiert seine Widmung daher vermutlich irrtümlich auf Februar 1958. Marina Cvetaeva: Posle Rossii. 1922-1925 (Nach Rußland). Paris 1928 (Verz. Nr. 79).

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ihrer Prosa. 1 3 Gerade diese Titel unterstreichen das gezielte und zugleich aktuelle Interesse Celans für eine Autorin, deren Werke im Ausland zu diesem Zeitpunkt nur Eingeweihten oder Fachleuten bekannt waren. 1 4 Celan erhielt die Bände also bereits in der >OrientierungsphaseZuflucht< zu suchen. Wesentliche Topoi in der Darstellung der Gestalt Mandel'stams durch seine Zeitgenossen erscheinen hier plastisch und in konzentrierter Form, so sein angeblich »sonderbares« Wesen, das beides meint, merkwürdige Reaktionen und eine merkwürdige Furchtsamkeit, Befangenheit und Unbehagen gegenüber den Symbolen christlicher Religion (deutlich gemacht am Beispiel des Friedhofbesuches und an seinen Reaktionen auf eine N o n n e , die f ü r C v e taeva Näharbeiten ausführte), Kindlichkeit und Plötzlichkeit seines Handelns, vor allem aber - ein später auch f ü r Cvetaeva selbst bestimmender Topos - die Ambivalenz der Gefühle von Heimweh und grenzenloser Heimatlosigkeit: .. von überall wollte Mandelstam immer nach Hause. [..] Und von zu Hause - immer fort. Ich glaube, [..] daß er, wenn er nicht schrieb (und nicht schrieb er - immer, das heißt einmal in drei Monaten ein Gedicht) - litt. Mandelstam ohne Gedichte hatte auf der Welt kein Sitz-, kein Geh-, kein Daseinsfleisch. [..] Der Aufbruch geschah unerwartet - wenn nicht für mich, die ich vier Monate - von Februar bis Juni - Erfahrung hatte mit seinen Ankünften und Aufbrüchen (Überfällen und Fluchten), so für ihn, mit seinem kindlichen Heimweh - Weh nach dem Heim, das er unentweg floh.'6 13 14

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Marina Cvetaeva: Proza (Prosa). New York 1953 (Verz. Nr. 80). Die erste deutsche Cvetaeva-Auswahl erschien 1968. Es ist nicht auszuschließen, daß Celans im Mai i960 getroffene Differenzierung des Begriffs »Handwerk« im Hinblick auf die Wahrheit poetischen Schreibens auch von Cveatevas 1923 erschienenem Gedichtband Remeslo (Handwerk) her gedacht ist (im Brief an Hans Bender; III, I77f·)· Marina Cvetaeva: Istorija odnogo posvjascenija. In: Istorija odnogo posvjascenija. >The History of a Dedicationc Marina Tsvetaeva's Reminiscences of Osip Mandelstam. Oxford Slavonic Papers, vol. XI (1964). Enthält ein Vorwort von M. Slonim. Marina Zwetajewa: Ausgewählte Werke. Herausgegeben von Edel Mirowa-Florin. Band 2: Prosa. S. 182.

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Cvetaeva stellt aber in ihrer erst 1931 verfaßten Skizze nicht nur jene 1915, im Jahr vor der Revolution, gemeinsam verbrachten Sommerferien dar, die wie Szenen aus einer anderen Welt wirken, wenn sich auch das Drohende gerade in der Unruhe Mandel'stam schon anzukündigen scheint. Sie bezieht sich im dritten Teil ihrer Darstellung auch auf die anekdotischen Erinnerungen, die Georgi) Ivanov 1930 in Kreisen der Pariser Emigration vortrug, und in denen er gerade jene Züge der Person MandePstams im Kontrast zur monumentalen Ernsthaftigkeit seiner Verse lächerlich machte.'7 Diese Geschichte einer Widmung wurde von Celan wohl aufmerksam wahrgenommen; einzelne Züge des von Cvetaeva entworfenen Bildes kehren deutlich in den ersten Passagen der Rundfunksendung wieder. Andererseits hat Cvetaeva in ihrem Text ein wichtiges Gedicht MandePstams nicht nur zitiert, sondern auch aus dem Kontext seiner Entstehung heraus kommentiert. Die Struktur ihrer Prosaskizze, die zunächst beiläufig-episodisch verfährt und den autobiographischen Eindruck in den Vordergrund treten läßt, erweist sich im nachhinein als subtiler Kommentar eben dieses Gedichtes, der so nicht nur als Text Kontur gewinnt, sondern auch seine Entstehung und seine Rezeption in einem spezifischen Sinne preisgibt. Der mittlere Teil ihrer Skizze enthält die Darstellung einzelner Episoden aus dem gemeinsamen Aufenthalt. Im dritten Teil setzt sie sich mit dem Referat G. Ivanovs auseinander, indem sie dessen Darstellung ihre eigene Kenntnis entgegegenstellt, die für den Leser nun große Authentizität besitzt. Erst jetzt wird auch der erste Teil ihrer >Geschichte< deutlich: scheinbar ohne Zusammenhang zur späteren Erinnerung an Mandel'stam schildert sie - aus ganz anderer zeitlicher und persönlicher Perspektive und vordergründig motiviert durch die bevorstehende Emigration einer nahen Freundin - eine Art Revision des Bisherigen, eine Revision der eigenen Manuskripte, die fast alle verbrannt werden - bis auf jenes eine, das zwei Verse enthält: Wo es ganz plötzlich abbricht: Rußland Uber dem schwarzen, dumpfen Meer.

Es sind, wie sich erst am Ende des Textes herausstellt, die zentralen Verse jenes Gedichts, in welchem Mandel'stam die Begegnung mit Cvetaeva auf der Krim im Sommer 1915 erinnert. Es ist aber zugleich auch eines jener Gedichte, in denen Mandel'stam an die Grenzen Rußlands zur Antike stößt, wo er die Krim als das antike Tauris wiederentdeckt:

17

G. Ivanov: Kitajskie teni (Chinesische Schatten). In: Poslednie Novosti Nr. 3258 vom 22.2. 1930. Diese Darstellung wurde von G. Ivanov in sein Erinnerungswerk Peterhurgskie zimy nicht wieder aufgenommen. Ebenfalls explizit hat sich A. Achmatova von Ivanovs Erinnerungen an Mandel'stam distanziert.

293

N e verja voskresen'ja cudu, N a kladbisce guljali my. - Ty znaes, mne zemlja povsjudu Napominaet te cholmy.

Kein Auferstehungswunder glaubend Gingen wir durch den Friedhof hin Weißt du, die Erde bringt mir dauernd N u r jene Hügel in den Sinn

Gde obryvaetsja Rossija Nad morem cernym i gluchim.

Wo es ganz plötzlich abbricht: Rußland Uber dem schwarzen dumpfen Meer.

Ot monastyrskich kosogorov Sirokij ubegaet lug. Mne ot vladimirskich prostorov Tak ne chotelosja na jug, N o ν ètoj temnoj, derevjannoj I jurodivoj svobode S takoj monaskoju tumannoj Ostat'sja - znacit byt' bede.

Von klösterlichen Hängen flimmernd Läuft eine Wiese weit hinaus, Aus diesen Weiten um Wladimir Nur nicht nach Süden ziehn, niemals Doch auch in dieser dunkel-hölzern Und närrischkleinen Stadt zu sein, Bei dieser rätselhaften Mönchin Zu bleiben bringt wohl Unglück ein.

Celuju lokot' zagorelyj I Iba kusocek voskovoj. J a znaju - on ostalsja belyj Pod smugloj prjad'ju zolotoj. Celuju kist', gde ot brasleta Esce beleet polosa. Tavridy plamennoe leto Tvorit takie cudesa.

Ich küß den Arm, den sonngebräunten Und deine Stirn: das Stückchen Wachs, Unter der dunkelgoldenen Strähne Blieb sie, ich sah es, weiß und blaß. Ich küß die Stelle, w o das Armband N o c h einen weißen Streifen ließ N u r Tauris und sein Sommer, flammend Schaffen sich Wunder so wie dies.

Kak skoro ty smugljankoj stala I k Spasu bednomu prisla, N e otryvajas' celovala, A gordoju ν Moskve byla. N a m ostaetsja tol'ko imja Cudesnyj zvuk, na dolgij srok. Primi ζ ladonjami moimi Peresypaemyj pesok.' 8

Wie schnell die Sonne dich sonst bräunte, Kamst zum Erlöser demutsvoll Und küßtest, küßtest ohne Ende D u warst in Moskau doch so stolz! Uns bleibt als einziges der Name, Ein Wunderklang, für lange Zeit Aus meinen Händen nimm als Gabe Den Sand, der zu dir weitereilt. 19

Celan hat dieses Gedicht in der ersten Werkausgabe Mandel'stams zweimal angestrichen; es steht zwischen den Gedichten Petropolis, diaphan und Diese Nacht, nicht gutzumachen, beide wurden von ihm am 13.5.58 übersetzt. Der Kommentar der Ausgabe ergänzt die beiden sonst durch punktierte Zeilen ersetzten Verse Ja cerez ovidi stepnye Tjanulsja ν kamenistyj K r y m , Gde obryvaetsja Rossija Nad morem cernym i gluchim 2 '

18 19 20 21

Ich durch Steppenlandschaft Zog hinab auf die steinige Krim Wo es ganz plötzlich abbricht: Rußland Über dem schwarzen, dumpfen Meer. 21

O. Mandel'stam: SS I, 6ii. O. Mandelstam: Tristia, S. 25, 27. O. Mandel'stam: Sobranie socinenij. N e w York 1955, S.373. Übersetzung C . I.

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Der Text Cvetaevas erweist sich somit als deutlicher Kommentar zu Celans Mandel'stam-Lektüre, nicht nur weil er biographische Einzelheiten vermittelte. Er zeichnet zum einen subtile Züge der Gestalt Mandel'stams, die wesentlich für sein Verständnis werden konnten. Er zeichnet zugleich aber auch einen Wahrnehmungsvorgang, der das Faktische von dem Atmosphärischen trennt und in der Affirmation des fremden Lebens das Heraustreten des Wahren erkennt. Beide Aspekte erweisen sich aber als wesentliche Komponenten dessen, was Celan in der Rundfunksendung über die Enstehung und die Wahrnehmung des Gedichts sagt. Und zuletzt schließlich wird durch die Erinnerung Cvetaevas eine weitere Dimension der Lyrik Mandel'stams eröffnet: Im Erlebnis des südlichen, mediterranen Rußland die Dimension des Antiken (die Krim als das antike Tauris) im Gegensatz zum nördlich-orthodoxen Rußland, das Mandel'stam erschreckte und das Celan fremd blieb. Es scheint mir von hier aus kein Zufall zu sein, daß die explizite Anspielung auf Marina Cvetaeva, Und. mit dem Buch aus Tarussa vorangestellt wird, jenem Gedicht, das in der Intention auf eben diese Landschaft mit dem Schlußwort »Kolchis« endet.22

b) Alle Dichter sind Juden So läßt sich nun als ein zweiter Ansatz der Beschäftigung mit Marina Cvetaeva die Lektüre des Poèma konca (Poem vom Ende) und der in seinem Umkreis stehenden Gedichte gegen Ende 1962 erkennen. Auch hier erweisen sich die Daten der Bibliothek als aufschlußreich und ermöglichen eine weitere Präzisierung. Celan erwirbt am 1.6.62 den in Prag erschienenen Sammelband Kovceg (Die Arche), in dem auch das Poem vom Ende veröffentlicht wurde. 23 Am 10.9. erhält er durch Erich Einhorn neben einem Auswahlband von Erzählungen Paustovskijs auch die Tarusskie stranicy.24 Zehn Tage später entsteht das Gedicht Und mit dem Buch aus Tarussa. Hier scheint also in seltener Weise die Gedichtentstehung nachweislich deutlich im Kontext der russischen Lektüren situiert. Der Almanach Kovceg war eine Publikation der Vereinigung der im Prager Exil lebenden russischen Schriftsteller; er erschien ein Jahr nachdem Cvetaeva Prag in Richtung Paris verlassen hatte.25 Der zum Teil unaufgeschnitten geblie22

23

24

25

In der Einführung zur zweiten Werkausgabe Mandel'stams schreibt Struve, Mandel'stam habe Cvetaeva in Tarussa besucht. O. Mandel'stam: SS I, X L . Kovceg. Sbornik sojuza russkich pisatelej ν Cechoslovakii. I (Das Schatzkästchen. Sammlung der Vereinigung russischer Schriftsteller in der Cechoslovakei. Erster Band). Prag 1926 (Verz. Nr. 329). Tarusskie stranicy. Literaturno-cudozestvennyj illjustrirovannyj sbornik (Blätter aus Tarussa. Literarisch-künstlerischer Almanach). Kaluga 1961 (Verz. Nr. 344). Cvetaeva verbrachte nach kurzem Aufenthalt in Berlin die ersten drei Jahre ihres Exils in Prag.

295

bene Band weist im Schlußteil des Poems gerade im Bereich des später zitierten Verses zahlreiche Anstreichungen auf. Eine im Band erhaltene Einlage verweist zusätzlich auf die zeitliche Nähe der Lektüre zum Tarussa-Gtààchx.. Es ist ein russischer Zeitungsausschnitt mit einem Bericht über einen »Vecer pamjati«, einen Gedenkabend für Marina Cvetaeva im Moskauer Haus der Literatur mit prominenter Besetzung (Èrenburg, Bella Achmadulina) - Zeichen ihrer Rehabilitation am Ende des »Tauwetters«. Der Erwerb des Bandes und das Datum dieses Zeitungsausschnittes (29.12.62) umrahmen genau den Zeitpunkt der Enstehung von Celans Gedicht. Dagegen ist der vermutlich ebenfalls kurz nach dem 10.9.62 erhaltene Almanach Tarusskie stranicy nicht annotiert; er enthält auch nicht das Poem, aus dem das Cvetaeva-Zitat entstammt. Diese Beobachtung läßt die Cveateva-Zitierung aus dem Umkreis des »Buches aus Tarussa« heraustreten. Dazu kommt, daß Celan das Poem wohl erstmals schon in der 1961 veröffentlichten und bereits am 8.12. 1961 erworbenen ersten Auswahlausgabe Cvetaevas kennengelernt hatte.26 Hier ist zudem neben dem Poem vom Ende das Gedicht Germanii (An Deutschland) aus dem wichtigen Zyklus Mart (März) mehrfach angezeichnet worden. Damit bildet sich ein eigener Kontext, der als dem Assoziationsbereich von Und mit dem Buch aus Tarussa vorgängig betrachtet werden muß: Germanii

An Deutschland

O, deva vsech rumjanee Sredi zelenych gor Germanija! Germanija! Germanija! Pozor!

Als schönste Jungfrau bekannt Im grünen Bergeslande Deutschland! Deutschland! Deutschland! Schande!

Polkarty prikarmanila, Astral'naja dusa! Vstar' - skazkami tumanila, Dnes' - tankami posla. 28

Die halbe Karte eingekrallt, Astrale Seele du! 2 7 Einst - mit Märchen uns eingelullt, Heut - schlägts mit Panzern zu. 2 '

[...]

[...]

Die konkrete Bindung an die deutsche Annektierung von Böhmen und das Prager Ghetto verstärken in Celans erster Lektüre den spezifisch historischen Kontext des Poems vom Ende, dessen Zitat dann in seinem Gedicht Und mit

26 27

28 29

Marina Cvetaeva: Izbrannoe (Ausgewähltes). Moskva 1961 (Verz. Nr. 76). Vgl. in Gedichten Celans die Kompositabildungen »du, wie die Astralflöte von jenseits des Weltgrats« (II, 51) und »die Astral-/ waffe mit dem Gedächtnisschaft« (11,371)· M. Cvetaeva: Stichotvorenija i poémy ν pjati tomach. Tom tretij, a.a.O., S. 205f. M. Zwetajewa: Ausgewählte Werke. Herausgegeben von Edel Mirowa-Florin. Bd. I: Lyrik, S. 194.

296

dem

Buch

aus Tarussa

in z w e i f a c h e r H i n s i c h t m o d i f i z i e r t erscheint.' 0 Z u m

einen geht bei C e l a n der interne K o n t e x t des P o e m s v o l l s t ä n d i g v e r l o r e n , z u m a n d e r e n a k z e n t u i e r t er p r i m ä r d e n A s p e k t v o n V e r t r e i b u n g u n d E x i l u n d nicht d e n der G h e t t o i s i e r u n g , der sich als k o n k r e t e r A n l a ß z u d e n Ü b e r l e g u n g e n i m G e d i c h t zeigt. C e l a n hat sich mit d e m Poem vom Ende

g a n z o f f e n s i c h t l i c h bereits intensiv

a u s e i n a n d e r g e s e t z t , b e v o r er i m S e p t e m b e r 1 9 6 2 das B u c h aus T a r u s s a erhielt. E r hat, das belegen die h a n d s c h r i f t l i c h e n E n t w ü r f e , bereits i m J u l i desselben J a h r e s e r w o g e n , das C v e t a e v a - Z i t a t d e m G e d i c h t Hinausgekrönt

voranzustel-

len. D i e in d i e s e m G e d i c h t e b e n f a l l s gestalteten T h e m e n j ü d i s c h e n Schicksals u n d d a d u r c h b e d i n g t e m E x i l lassen die A n s p i e l u n g auf das C v e t a e v a - G e d i c h t deutlicher s p ü r e n u n d stellen z u g l e i c h einen K o n t r a s t her z u m späteren T e x t Und mit dem Buch aus Tarussa. D e r zitierte P a s s u s des C v e t a e v a - P o e m s lautet vollständig und korrekt: Getto izbrannicestv! Val i rov. Po-scady ne zdi! V sëm christianejsem iz mirov Poèty - zidy! 3 1 B e i C e l a n heißt es in

Ghetto der Auserwähltheiten! Wall und Graben. Erwarte keine Gnade! In dieser allerchristlichsten der Welten Sind die Dichter Jidden! 3 2

Hinausgekrönt·.

Mit Namen, getränkt von jedem Exil. Mit Namen und Samen, mit Namen, getaucht in alle Kelche, die vollstehn mit deinem Königsblut, Mensch, - in alle Kelche der großen Ghetto-Rose, aus der du uns ansiehst, unsterblich von soviel auf Morgenwegen gestorbenen Toden. 33 30

Die von Celan hier >aktivierten< Aspekte entstammen gerade den digressiven Passagen des Poems, das ansonsten einen konsequenten Handlungsablauf hat und das Ende (sie!) einer Beziehung, die Cveateva in Prag eingegangen war, durch einen letzten gemeinsamen Abend beschreibt: »The events of the evening are told in minute detail, with the lover's conversations alternating with descriptions of heroine's emotions. The method is that of a stream of consciousness, and >Poèma konca< is one of the great psychological poems in the Russian language. [..] The imagery is bold and varied, and there are numerous digressions, such as the antiphilistine diatribe during the visit of the café and the meditation on the similarity between poets and Jews when the lovers walk past the Jewish quarter of Prague.« Simon Karlinsky: Marina Cvetaeva. Her life and Art. Berkeley, Los Angeles 1966, S . 2 1 2 .

31

Marina Cvetaeva: Stichotvorenija i poèmy ν pjati tomach. Tom cetvertyj, S. 185. Ubersetzung C . I . Cvetaeva wählt hier ganz bewußt anstelle des neutralen »evrei« das denunziatorische »zidy«. I, 2 7 l f .

32

33

2

97

Im Unterschied zu diesem wie auch mehreren weiteren Gedichten des letzten Zyklus der Niemandsrose nimmt Und mit dem Buch aus Tarussa nicht mehr explizit Bezug auf Jüdisches - mit Ausnahme des Mottos. Im Gedicht Hinausgekrönt mag die Parallele zwischen beiden Texten als eine Verbindung über sehr allgemeine Vorstellungen bestehen - jüdische Auserwähltheit als Fluch, als Isolation, als Exil - , und bei Celan zumal noch in den motivlichen Schwerpunkten deutlich auf der Kontext der Niemandsrose bezogen. Dennoch bestätigt hier der nachweisliche Cvetaeva-Bezug die Grundzüge einer auf das jüdische Schicksal konzentrierten Rezeption (was durchaus nicht als das wesentliche Charakteristikum Cvetaevas betrachet werden kann). Wie stark die zitierte Stelle aus dem Poem vom Ende auf Celan gewirkt hat, läßt sich auch an noch einem weiteren nahestehenden Gedicht zeigen. Es ist das von allen Gedichten der Niemandsrose als letztes entstandene, jedoch in die Mitte des vierten Binnenzyklus piazierte Gedicht Hüttenfenster, wo, ebenfalls in Verbindung mit einer astralen Motivik, die Themen von jüdischer Entwurzelung und Versehrtheit angesprochen werden. Hier finden sich die Passagen geht zu Ghetto und Eden, pflückt das Sternbild zusammen, das er, der Mensch, zum Wohnen braucht, hier, unter Menschen,

[...] baut ihn, den Davidsschild, läßt ihn aufflammen, einmal, läßt ihn erlöschen - 3 4

Gerade in den von Celan annotierten Passagen zum Poem vom Ende finden sich aber auch Formulierungen, die hier wieder aufgenommen erscheinen: so »Za Davydov seit -/Mest'« (Auf dem Davidsschild - Vergeltung). Érenburg referiert in diesem Zusammenhang auch ein Wort, mit dem sich Cvetaeva wie an ihren Sohn so an die im Exil geborene Jugend gewandt hatte: »Hört auf, ein Eden zu beweinen, in dem ihr nie wart!«.35 Der kämpferische Ton, in dem das Poem vom Ende an dieser Stelle gehalten ist, scheint sich am nachdrücklichsten in Celans Gedicht Hinausgekrönt bewahrt zu haben. Allein der Titel enthält schon eine Anspielung auf das »Za gorodom! Ponimaes? Ζ à!/ Vne..« (»Hinaus aus der Stadt«, sc. ins Ghetto), mit dem dieser Teil des Poems einsetzt. Den Christen Leben, den Juden ihren Glauben, ist die sarkastische Konsequenz des Ghetto->LebensErinnerung< an die gemeinsame Petrarca-Rezitation unter widrigsten Umständen jenen durch das ursprüngliche Motto »Alle Dichter sind Juden« vorgegebenen Impuls (letztlich nichts anderes als ein jener Rezitation analoger geistiger Uberlebensversuch) vollständig antizipiert zu haben. Demgegenüber tritt nun dasselbe bereits reflektierte und im eigenen Gedicht reaktivierte Cvetaeva-Wort mit dem Buch aus Tarussa in eine veränderte Konstellation. Der hier aufgebaute Kontext blendet zum einen die jüdische Thematik von Ghetto und Pogrom ab, auf die die früheren Gedichte Bezug genommen hatten. Er wird andererseits erweitert um einen Erfahrungs- und Erinnerungsraum, dessen Bezüge vielfältig sind. Kosmische (Sternbild, Himmelskarte) werden terrestrischen Räumen (Tarussa, Paris, Deutschland, Kolchis) gegenübergestellt, deren historische Dimensionen (Kolchis als antike Landschaft) mit biographischen (die eigenen Übersetzungen, der Brief von E. Einhorn) in Beziehung gesetzt. Im Gedicht selbst werden dann vor allem aber auch Bezüge auf die durch das Buch aus Tarussa neu oder erneut präsentierten Texte aufgebaut.' 6 Die Aussage des zum Motto erhobenen Cvetaeva-Worts aber wird nicht nur thematisiert, sondern erhält den Rang einer Lese-, ja Lebensanweisung (im Sinne des Poèma konca). Es hat sich zum einen als prophetisch erwiesen: Von Wahr- und Voraus- und Voriiber-zu-dir-, von Hinaufgesagtem, das dort bereitliegt, einem der eigenen Herzsteine gleich, die man ausspie;' 7

zum anderen wird es ebenso wie »Kolchis« ein »Nebenwort, das/ ein Ruderknecht nachknirscht«: Aufzunehmendes und bereits Aufgenommenes, denn »Kyrillisches., ritt ich..übern Rhein«. Nicht unbedeutend erscheint mir hier abschließend die kyrillische Erscheinungsform des Zitats zu sein, die das Gedicht selbst später reflektiert. Es verweist auf die Schriftlichkeit der Vermittlung, es zeigt zusätzlich im Schriftbild, in der Gestalt seines Erscheinens das ' 6 Vgl. dazu Lehmann: »Dichten heißt immer unterwegs sein«, S. uyf-, 57 Vgl. »Hinausgekrönt,/ hinausges/>¿en in die Nacht.« (I, 271)

125-128.

299

Andere an. Es entspricht - da es nicht ohne weiteres Verständlichkeit beanspruchen kann - jenem Prinzip von Enthüllen und Verhüllen, Offenlegen und Verbergen, das für die »Niemandsrose« generell als konstitutiv erkannt worden ist. Und es vermittelt schließlich eine weitere, letzte Botschaft. Denn das in Anlehnung an Cvetaeva Gesagte, das von ihr her so auf russisch Gesagte, kann Wahrheit nur innerhalb dieses Russischen beanspruchen; seine Ubersetzung, zumal eine Übersetzung ins Deutsche, wird ihr in keinem Fall gerecht werden.

c) Schwanengefahr An noch einer weiteren Ausgabe lassen sich Hinweise auf Celans CvetaevaLektüre gewinnen. 1965 erscheint in der renommierten Reihe Biblioteka poèta eine Auswahl der Werke Cvetaevas, die mehrheitlich von der Tochter Cvetaevas verantwortet ist und zahlreiche bisher unveröffentlichte Manuskripte aus dem Archiv der Mutter erstmals veröffentlichen kann. Celan erwirbt den Band am ιi.Juni 1966,38 zu eben jener Zeit, als ein wiederauflebendes Interesse für russische Literatur bei ihm zu beobachten ist. Von allen Autoren, denen sich Celan nun erstmals oder erneut zuwendet (soweit dies durch die Bibliothek belegbar ist), scheint die Beschäftigung mit Cvetaeva den höchsten Grad an Intensität besessen zu haben. Erneut findet sich im Poèma konca der erwähnte Vers angestrichen. Daneben sind einige weitere Texte annotiert, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll.39 Es sind zum einen Gedichte, in denen einzelne Verse angestrichen wurden, wohl im Sinne jener »meridianhaften« Bestätigung, die Gleiches zu entdecken gewillt war. So findet sich im Gedicht Moloduju roscu sumnuju {Das junge, rauschende Gehölz) der Vers »Temnyj golos tvoj cuzoj« (Deine dunkle fremde Stimme) angestrichen, oder, im darauffolgenden Gedicht »Nesti svoj krest po-boz'i, po-verbljuz'i« (Sein Kreuz tragen göttlich, kamelhaft). Solche Anstreichungen erweisen sich als singuläre Funde, als eine Form des Wiedererkennens, die wohl nicht weiter produktiv gemacht werden konnte; besonders herausgehoben erscheint schließlich das Gedicht Luna - lunatiku (Der Mond dem Mondsüchtigen), das nicht nur im Text selbst angestrichen wurde, sondern auf das auch eine Notiz auf dem Vorsatzblatt verweist. Der Umfang von Celans Cvetaeva-Rezeption läßt sich an diesen Zeugnissen schwer abschätzen. Er geht mit Sicherheit über das hinaus, was sich in den Lek38 39

Verz. Nr.77. Es handelt sich um die Gedichte V lob celovat' (Auf die Stirn küssen)·, Goreb! Goreb! (Brennen! Brennen!)·, Moloduju roscu (Das junge Gehölz); I vot, nav'juciv na verljuzij gorb (Da ist's, aufgeladen auf den Kamelhöcker); Tebe - cerez sto let (Dir - in hundert Jahren); Luna -lunatiku (Der Mond - dem Mondsüchtigen).

300

türespuren ermitteln läßt. D i e Bibliothek k a n n gerade i m H i n b l i c k auf diese A u t o r i n wichtige A n g a b e n z u m Z e i t r a u m u n d U m f a n g des G e l e s e n e n machen; die p r o d u k t i v e V e r w a n d l u n g v o n da aus einschätzen z u w o l l e n , erscheint j e d o c h unmöglich. H i e r müßte erst noch ein eingehender Vergleich aus präziser Textkenntnis heraus angestellt w e r d e n , u m z u ermessen, w o - ähnlich w i e mit N e l l y Sachs - tiefe Seelenverwandtschaft C e l a n mit der k o m p r o m i ß l o s e n , leidenschaftlichen, über die M a ß e n

sprachschöpferisch

begabten

Dichterin

M a r i n a C v e t a e v a verband u n d w o in seinen Texten die B e g e g n u n g mit ihren G e d i c h t e n p r o d u k t i v verwandelt w e r d e n konnte. 4 0 E s kann kein Z w e i f e l m e h r darüber bestehen, daß ihre G e d i c h t e s o w o h l thematisch w i e in den virtuos eingesetzten poetischen und sprachlichen V e r f a h r e n C e l a n neben denen M a n del'stams w o h l die nächsten w a r e n . D a ß gerade die ausschließliche K o n z e n t r a t i o n auf positiv belegbare L e k t ü respuren den B l i c k auch einengen kann, erweist schließlich die S p u r einer M o t i v a d a p t i o n , die sich m . E . in G e d i c h t e n C e l a n s manifestiert, die jedoch d u r c h das bisher beschriebene Material nur am R a n d e B e a c h t u n g f a n d (und wieviele solcher Spuren es tatsächlich gibt, m u ß bisher noch ungeklärt bleiben). Wie bereits erwähnt, erhielt C e l a n bereits A n f a n g 1 9 5 9 d u r c h G l e b Struve den B a n d Lebedinyj

stari (Scbwanenlager).

Dieser umstrittene Z y k l u s w a r

schon z w i s c h e n 1 9 1 7 u n d 1 9 2 1 entstanden u n d als neuer G e d i c h t b a n d angekündigt; C v e t a e v a zögerte aber mit der H e r a u s g a b e der in M o s k a u e r K r e i s e n mündlich zirkulierenden G e d i c h t e u n d nahm die M a n u s k r i p t e mit in die E m i gration. D i e Texte w a r e n d e m heroischen M u t der »Weißen B e w e g u n g « g e w i d met, die ein Freiwilligenheer aufgebracht und am 2 5 . 5 . 1 9 2 0 die K r i m besetzt hatte, nach k u r z e r Zeit jedoch aufgeben mußte. Sergej E f r o n , der M a n n C v e a t e vas, hatte sich zu dieser A r m e e gemeldet u n d w a r nach d e m Scheitern der A k t i o n ins E x i l vorausgegangen. D i e ihm und den Weißen g e w i d m e t e n Verse verherrlichten den damaligen K a m p f ; als C v e t a e v a sie E f r o n in Prag das erste M a l v o r t r u g , f a n d e n sie bei ihm jedoch w e n i g A n k l a n g . D a g e g e n f ü h r t e seine A u f k l ä r u n g über die >wahren< Verhältnisse bei C v e t a e v a zu einer tiefen Enttäuschung, die sie v o r einer V e r ö f f e n t l i c h u n g ihrer Texte z u r ü c k s c h r e c k e n ließ. D e r Z y k l u s w u r d e dennoch über die J a h r e des Exils v o n ihr a u f b e w a h r t u n d schließlich in Basel deponiert, b e v o r sie nach R u ß l a n d zurückkehrte. 4 1 Struves Erstpublikation, die vermutlich d e m Willen der A u t o r i n nicht entsprach, w u r d e v o n E r e n b u r g als P o l i t i k u m kritisiert; 4 2 C v e t a e v a habe, so E r e n b u r g ,

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41

Vgl. hier bspw. die Gedichte Poèt (Der Dichter); Poèma zastavy (Das Poem vom Abschied)·, Toska po rodine (Sehnsucht nach der Heimat) sowie die Poeme Novogodnee (Neujahrsgruß [Dem Andenken Rilkes gewidmet]); Poèma vozducha (Poem von der Luft) und Sibir' (Sibirien). Vgl. Marina Cvetaeva: Stichotvorenija i poémy ν pjati tomach. New York 1982, s. 3 5 4 - 3 5 6 .

42

I.Erenburg a.a.O., S. 303. 301

während der Pariser Jahre die ihr mehrfach nahegelegte Veröffentlichung des Zyklus abgelehnt. Für Celan vermutlich bedeutend wurde dieser Gedichtband aus einem von dieser Diskussion weit entfernten Punkt. Hier findet sich ein kleines Gedicht aus zweimal vier Versen, das wie ein Schlaflied komponiert ist und gleichsam hinter vorgehaltener Hand den Dialog der Mutter mit der Tochter wiedergibt, die nach dem verschwundenen Vater fragt: - G d e lebedi? - A lebedi usli. - A vòrony? - A vòrony - ostalis'. - Kuda usli? - Kuda i zuravli. - Zacem usli? - Ctob kryl'ja ne dostalis'. - A papa gde? - Spi, spi, za nami Son, Son na stepnom kone sejcas priedet. - Kuda voz'met? - N a lebedinyj Don. Tam u menja - ty znaes'? - belyj lebed'.. 45

Wo sind die Schwäne? - Die Schwäne sind fort. Und die Raben, die sind geblieben. Wohin sind sie fort? - Dahin, w o die Kraniche sind. Warum sind sie fort? damit man ihnen nicht die Flügel nimmt. Und w o ist der Papa? - Schlafe, schlaf, hinter uns kommt der Schlaf, Der Schlaf kommt jetzt auf einem Steppenpferd. Wohin nimmt er uns? — A n den SchwanenDon. Da habe ich - weißt du's? - einen weißen Schwan... 44

In Die Niemandsrose gibt es ein Gedicht, das in bisher nicht erklärbarem Kontext ein Oxymoron enthält, das deutlich an den - hier symbolisch auf die politischen Gegner bezogenen - Gegensatz erinnert: Bogengebete - du sprachst sie nicht mit, es waren, du denkst es, die deinen. Der Rabenschwan hing vorm frühen Gestirn: mit zerfressenem Lidspalt stand ein Gesicht - auch unter diesem Schatten. [...]«

Auf die - den Schwänen der »Weißen« entgegengesetzten - schwarzen Raben war Celan schon vorher aufmerskam geworden. Das Manuskript der Gaunerund Ganovenweise enthält eine handschriftliche Notiz, die eines der späten Gedichte Mandel'stams zitiert. Mandel'stam dekonstruiert - zerschneidet den Namen seines Verbannungsortes »Voronez» in dessen Bestandteile »vor« (der Dieb), »voron« (der Rabe) und »noz» (das Messer).46 Hat Celan also in 4J

Marina Cvetaeva: Stichotvorenija i poèmy ν pjati tomach. Tom vtoroj, a.a.O., S. 74. Übersetzung C . I. 4 > I, 248. 46 O. Mandel'stam: »Pusti menja, otdaj menja..«. In: Vozdusnye putì II, N e w York 1961, S.36. 44

302

Sibirisch an Mandel'stam und an Cvetaeva gedacht, an Exil und Verbannung, an Untergang und Tod unter dem Zeichen der eisigen und eiszeitlichen Versteinerung Sibiriens? Celans Gedichte sind bei weitem nicht einsträngig und Anspielungen, sollte es sich hier um eine solche handeln, nicht immer eindeutig zu bestimmen. Ausgehend von diesen Gedichten erscheint jedoch in zwei weiteren, späten Texten Celans die Nennung des Schwans eben deshalb merkwürdig, weil der hier evozierte sibirische Kontext in jenen deutlich erneut aufgerufen wird; Sibirien aber ist für Celan in jedem Fall geographisch und historisch determinierter Raum, Ort der Verbannung und Erstarrung, aber auch - in der eiszeitlichen, prähistorischen Erstarrung - Ort der Bewahrung, des Gedächtnisses. So wird in einem Gedicht aus dem Band Zeitgehöft eben dieser Aspekt von drohender Erstarrung unter dem Zeichen des Schwans erneut akut: SCHWANENGEFAHR, LappentaucherBedrohung, der Eisbewimperte mit Krakenarmen, du, bekrallter JakutenPuschkin: Hei, Chebeldei, Chebeldei. 47

Der für seine südliche Herkunft bekannte Dichter Puskin wird hier in die Eislandschaft versetzt, die ihn in ihren unausweichlichen Griff genommen hat; ihm, dem das Höchste an russischer Poesie gelungen ist, erklingt nun ein elementarer lyrischer Laut wie der Refrain aus einem bäuerlichen Tanzlied, wie in einem Traum, ohne Verbum, ohne Bewegung. Erstaunlicherweise ist auch die dritte Nennung des Schwans in einem Gedicht aus Schneepart solch erstarrter Landschaft zugeordnet, die nicht mehr horizontal, sondern vertikal durchfahren wird.48 Die Materialiät des Subjekts ist jedoch zersetzt (»Zerwölkte«), es verbleibt das Inventar des Tagebaus, sein Ort ist das Subjekt selbst (»durch uns..hindurch«). Auch dieses Gedicht erscheint absurd im Sinne der BüchnerPreis-Rede (»aufrührerisch/ flötets darin, mit Narren-/beinen«). Ist hier als Relikt des »terrestrischen« Meridian der »Flugschatten/ im irrisierenden Rund« gemeint; wird auch hier mit »Siebenhöhe« an den Raum jener Pleiaden 47

48

II, 323. Vgl. zu diesem Gedicht Michael Jakob: Schwanengefahr: Paul Celans späte Lyrik als experimentum crucis der Komparatistik. In: Poetica (München) 24 (1992), Nr. 1 - 2 , S. 1 0 2 - 1 3 2 . Vgl. v.a. zur Bergwerks-Terminologie die Erläuterungen von Hans-Michael Speier im Rahmen seiner Interpretation: Paul Celan - Dichter einer neuen Wirklichkeit. CelanJahrbuch ι (1987), S. 75-79.

3°3

gedacht, die schon in der Niemandsrose angesprochen worden waren, ist im letzten Vers ein Kontext von Russischem ein letztes Mal entworfen, der sich desillusioniert und sarkastisch - gleichsam als Oxymoron des Oxymoron im Raum letztlich auflöst? U N G E W A S C H E N , UNBEMALT, in der Jenseits Kaue: da, w o wir uns finden, Erdige, immer, ein verspätetes Becherwerk geht durch uns Zerwölkte hindurch, nach oben, nach unten, aufrührerisch flötets darin, mit Narrenbeinen, der Flugschatten im irrisierenden Rund heilt uns ein, in der Siebenhöhe, eiszeitlich nah steuert das Filzschwanenpaar durch die schwebende Stein-Ikone 4 9

Es ist wohl kaum zu ermitteln, wie weit der >Einfluß< eines Textes, eines Dichters in derart komplexen Entwicklungen reicht, wo er beginnt, wo er aufhört. Es scheint mir jedoch gerade in diesem Fall evident, daß hier, vielleicht angefangen bei Cvetaevas Vers in Verbindung mit einem weitausgreifenden Vermittlungs-, Rezeptions- und Erfahmngsproze& ein Zusammenhalt geschaffen wurde, der Texte und Autoren, Verfahren und Bilder, fremde Gestalten und eigene Perspektiven miteinander verschmilzt und doch voneinander getrennt hält; er macht die einzelnen Elemente sichtbar, entläßt sie jedoch nicht mehr aus ihrer Bindung. Er schafft Dichte und artikuliert doch grenzenlose Zerstreuung. Celans Auseinandersetzung mit Cvetaeva erscheint deshalb als die schwierigste, weil diese Dichterin Ambivalenz zum Verfahren und Ungeborgenheit zum Inhalt ihrer Dichtung gemacht hat. Die Annäherung an Cvetaeva konnte für Celan unendlich sein - sie wird manifest im trotzigen Bekenntnis zum jüdischen Dichten, wo das Leben verwehrt bleibt - , sie treibt ihn aber zwangsläufig

49

Π, 333·

304

hinaus in eine grenzenlose Unendlichkeit. Cvetaeva gibt Celan im Bereich der Niemandsrose den Namen seines Schicksals - Emigrant aus der Unsterblichkeit in die Zeit, einer der nicht in seinen Himmel zurückgekehrt ist die Folgen dieses Bekenntnisses sind jedoch erst im späten Werk wahrnehmbar. Die Heimkehr nach Rußland war für beide - Cveateva wie Celan - ein Rettungsversuch mit tragischem Ende.

305

8. »Pawel Lwowitsch Tselan - russkij poét« ? Celan als Dichter von Babij Jar

a) Babij Jar - Deutsche Geschichte in Rußland BABIJ JAR Uber Babij Jar, da steht keinerlei Denkmal. Ein schroffer Hang - der eine, unbehauene Grabstein. Mir ist angst. Ich bin alt heute, so alt wie das jüdische Volk. Ich glaube, ich bin jetzt ein Jude. Wir ziehn aus Ägyptenland aus, ich zieh mit. Man schlägt mich ans Kreuz, ich komm um, und da, da seht ihr sie noch: die Spuren der Nägel. Dreyfus, auch er, das bin ich. Der Spießer denunziert mich, der Philister spricht mir das Urteil. Hinter Gittern bin ich. Umstellt. Müdgehetzt. Und bespien. Und verleumdet. Und es kommen Dämchen daher, mit Brüsseler Spitzen, und kreischen und stechen mir ins Gesicht mit Sonnenschirmchen. Ich glaube, ich bin jetzt ein kleiner Junge in Bialystok. Das Blut fließt über die Diele, in Bächen. Gestank von Zwiebel und Wodka, die Herren Stammtisch-Häuptlinge lassen sich gehn. Ein Tritt mit dem Stiefel, ich lieg in der Ecke. Ich fleh die Pogrombrüder an, ich flehe - umsonst. »Hau den Juden, rette Rußland!« —: der Mehlhändler hat meine Mutter erschlagen. Mein russisches Volk! 306

Internationalistisch bist du, zuinnerst, ich weiß. Dein Name ist fleckenlos, aber oft in Hände geraten, die waren nicht rein; ein Rasselwort in diesen Händen, das war er. Meine Erde - ich kenne sie, sie ist gut, sie ist gütig. Und sie, die Antisemiten, die niederträchtigen, daß sie großtun mit diesem Namen: »Bund des russischen Volks«! U n d nicht beben und zittern! Ich glaube, ich bin jetzt sie: Anne Frank. Lichtdurchwoben, ein Zweig im April. Ich liebe. Und brauche nicht Worte und Phrasen. U n d brauche: daß du mich anschaust, daß ich dich anschau. Wenig Sichtbares noch, wenig Greifbares! Die Blätter - verboten. Der Himmel - verboten. Aber einander umarmen, leise, das dürfen, das können wir noch. Sie kommen? Fürchte dich nicht, was da kommt, ist der Frühling. Er ist so laut, er ist unterwegs, hierher. Rück näher. Mit deinen Lippen. Wart nicht. Sie rennen die Tür ein? Nicht sie. Was du hörst, ist der Eisgang, die Schneeschmelze draußen. Uber Babij Jar, da redet der Wildwuchs, das Gras. Streng, so sieht dich der Baum an, mit Richter-Augen. Das Schweigen rings schreit. Ich nehme die Mütze vom Kopf, ich fühle, ich werde grau. Und bin - bin selbst ein einziger Schrei ohne Stimme über tausend und aber tausend Begrabene hin. Jeder hier erschossene Greis - : ich. Jedes hier erschossene Kind - : ich. 307

Nichts, keine Faser in mir, vergißt das je! Die Internationale ertönen, erdröhnen soll sie, wenn der letzte Antisemit, den sie trägt, diese Erde, im Grab ist, für immer. Ich habe kein jüdisches Blut in den Adern. Aber verhaßt bin ich allen Antisemiten. Mit wütigem, schwieligem Haß, so hassen sie mich wie einen Juden. Und deshalb bin ich ein wirklicher Russe.1

A m 19. September 1941 nehmen deutsche Truppen die ukrainische Hauptstadt Kiev ein, in ihrem Gefolge SS-Kommandos, die auf Befehl Hitlers alle sowjetischen Juden ausrotten sollen. Eine von den Deutschen selbst inszenierte Explosion in der deutschen Kommandozentrale in Kiev, bei der zahlreiche Angehörige der deutschen Militärverwaltung, Soldaten sowie einige Einwohner Kievs umkommen, wird zum Vorwand f ü r ein als >Vergeltungsaktion< ausgegebenes großangelegtes Massaker. Nördlich von Kiev treibt man in der Schlucht »Babij Jar« 34.000 Juden in kleinen Gruppen zusammen; sie müssen sich ausziehen und werden innerhalb von zwei Tagen (29. und 30.9. 1 9 4 1 ) mit Maschinengewehren exekutiert. Die zum Teil noch lebenden O p f e r werden sofort vergraben. In den folgenden Jahren kommen tausende weiterer Ermorderter hinzu, hauptsächlich Juden, aber auch Kommunisten und Kriegsgefangene. Bei ihrem späteren Rückzug aus der Sowjetunion ist die deutsche Armee darauf bedacht, die Spuren des Massakers zu verwischen. Die Körper der Leichen - insgesamt sind hier 100.000 Menschen von Deutschen ermordet worden - werden im September 1943 von Zwangsarbeitern exhumiert und verbrannt, die unverbrannten Knochen mit Grabsteinen aus dem jüdischen Friedhof zermalmt, so daß weder vom Friedhof noch von den Massengräbern eine Spur mehr blieb. 2 1 2

V, 281-287. Diesen Hergang des Geschehens hier explizit zu nennen ist notwendig, da er nicht generell bekannt zu sein scheint. Rudolf Walter Leonhardt schreibt in einem Beitrag in Die Zeit anläßlich der Deutschland-Reise Evtusenkos über Babij Jar: »was offenbar der Name einer Schlucht bei Kiew ist - in der Juden massenweise umgebracht wurden - von Russen.« (Rudolf Walter Leonhardt: Was bedeutet Jewtuschenko als Lyriker? Die Zeit Nr. 3 vom 18.1. 1963, S.9Í.). Bis heute ist in keiner der großen deutschen Enzyklopädien Genaueres über das Massaker zu erfahren. Ich stütze mich hier auf die Ausführungen im Artikel »Babij Jar« in der Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. Band 1. Hrsg. v. E. Jäckel, P. Longerich und J. Schoeps. Berlin 1992, S. 144-147. Vgl. auch J. Vinokurov, Sh.Kipnis, N. Levin (Hrsg.): The Babi Yar Book of Remembrance. Philadelphia 1983, sowie E. Wiehn: Die Schoáh von Babij Jar. Konstanz 1991.

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Nach Kriegsende schweigt das offizielle Rußland über die Geschehnisse in Babij Jar trotz mehrfacher Initiativen (u.a. auch durch I.Èrenburg und V. Nekrasov), hier ein Denkmal zu errichten.3 Als Pläne bekannt werden, auf dem Gelände ein Sportstadium zu bauen, schreibt Evgenij Evtusenko das Gedicht Babij Jar, es erscheint am zwanzigsten Jahrestags des Massakers in der Literaturnaja gazeta. Dmitrij Sostakovic übernimmt den Text in seine 13. Symphonie; die Uraufführung findet im Dezember 1962 statt. In deutscher Fassung wird das Gedicht bei einer Lesung Evtusenkos am 17.1. 1963 in Tübingen von Walter Jens vorgetragen. Die Ubersetzung stammt von Paul Celan. Der hier spricht, ist getroffen. Er artikuliert ein Schicksal, das nicht das seine ist und doch zugleich ihm angehört. Es ist ein Bekenntnis. Seine Betroffenheit bezieht sich aus der Aktualität, nicht aus der Vergangenheit des Gesagten: Über Babij Jar, da steht kein Denkmal. Ein schroffer Hang - der eine, unbehauene Grabstein.

Die versäumte Erinnerung, die ausgebliebene Trauerarbeit vollzieht an Stelle des Denkmals das Gedicht. Es ist ein identifikatorisches Sprechen, das sich nicht nur räumlich und zeitlich einer anderen Identität zuspricht: es ist das Bekenntnis zu Denunzierten und Verletzten, Entehrten und Vertriebenen, zu Gemordeten, zu Juden - eine Identität, die dem, der da spricht, scheinbar fremd ist: er ist ein Russe. Doch der echte Begriff dessen, was Rußland bedeutet, umfaßt für ihn zugleich die Solidarität mit den Opfern, die Forderung, dagegen anzugehen, nicht zu vergessen, nicht zu verschweigen. Erst in diesem - unpopulären - Bekenntnis verwirklicht sich das wahre Sein dessen, der hier spricht: ein Russe, der sich auf die Internationale beruft als politische Botschaft und als Botschaft eines gefährdeten Humanismus. Und diese Gefährdung dauert an. Das Gedicht Evtusenkos ist im Russischen ebenso wie in seiner deutschen Übersetzung bewußt einseitig verstanden worden. Die politische Sprengkraft des Textes ist unübersehbar. Seine offene Stellungnahme zum gerne heruntergespielten Antisemitismus brachte Evtusenko in der russischen Öffentlichkeit heftige Kritik ein; die spezifische Herausarbeitung eines essentiell russischen Humanismus, den der Text gleichzeitig proklamierte, wurde dabei geflissentlich >übersehenOpfer< Evtusenko zu feiern man sich anschickte. Dieser >Vorfall< bezeugt einmal mehr die wohl doch nicht nur in Celans Einbildungskraft bestehenden neonazistischen Tendenzen in der deutschen Öffentlichkeit, die um 1960 zu einer schweren Krise bei ihm führten.5 Die Folgen der mangelhaften emotionalen und intellektuellen wie auch politischen Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit werden in Deutschland wohl erst in den letzten Jahren wahr-, wenn auch noch nicht ernstgenommen. Babij Jar wird hier und in diesem Augenblick von Celan ebenso gesprochen wie von Evtusenko. Das Gedicht, das die Solidarität des Russen mit dem Versehrten jüdischen Menschen artikuliert, wandelt sich in der deutschen Ubersetzung zum Bekenntnis des Versehrten Juden zu einem Humanitätsgedanken, wie er im Namen Rußlands proklamiert ist. Der Verfolgte, Denunzierte, beinahe Gemordete findet einen selbstbewußten Partner in der Antwort auf Haß und Gewalt. Der poète maudit erscheint in einer räumlich und zeitlich, gesellschaftlich wie religiös ungeheuren Ausweitung; er begründet seine Identität auf ein trotziges Bekenntnis zu einem Rußland, das sein Selbstverständnis gegen Denunziation und Antisemitismus aufzubieten bereit ist. In diesem Rußland, in diesem Begriff des Entgegenstehens hat sich der als Jude und damit als Mensch Versehrte Dichter Celan wiedergefunden; ein Dichter, dessen Herkunft deutsch war und dem Deutschland nie zum Ort der Heimkehr werden konnte. Ein Dichter, der in mehreren Sprachen, auch der russischen, zumindest zeitweise »zu Hause« sein konnte, dessen Eltern in der Ukraine von Deutschen gemordet worden waren - er, der sich gegen die Präjudizierung als jüdischer Dichter zeitlebens zu Wehr gesetzt hat, er konnte sich zu eben dieser Zeit »russkij poèt« nennen und dieses Wort als Bekenntnis verstehen, so wie er es im Gedicht Evtusenkos nachgesprochen hat.

b) Paul Celan, ein russischer Dichter »Russkij poet in partibus nemetskich infidelium« - Russischer Dichter jenseits der Stummvölkerzone - unterschrieb Celan zu Anfang des Jahres 1962 zweimal Briefe an enge Vertraute. Dieselbe Signatur findet sich als handschriftliche 4

5

310

Vgl. die entsetzte Reaktion von G . Bermann Fischer und Celans Antwort darauf in: Gottfried Bermann Fischer, Brigitte Bermann Fischer: Briefwechsel mit Autoren. Hrsg.v. Reiner Stach unter redaktioneller Mitarbeit von Karin Schlapp. Mit einer Einführung von Bernhard Zeller. Frankfurt a.M. 1990, S. 633^ Vgl. James K . Lyon: Judentum, Antisemitismus, Verfolgungswahn: Celans »Krise« 1960-1962. Celan-Jahrbuch 3 (1989), S. 175-204.

Ergänzung auf einem der Typoskripte zur Gauner- und Ganovenweise, entstanden zwischen 1961 und 1962.6 Sie nennt die größtmögliche Annäherung an einen geistigen Raum, dem sich Celan zugehörig fühlte, aus dem er zugleich einen wesentlichen Teil seiner dichterischen Berufung bezog - aus historischen Gründen. »Geschichte ist Choc zwischen Tradition und der politischen Ordnung« notiert Walter Benjamin.7 Geschichte war für Celan - ähnlich wie für Mandel'stam und so viele andere »vergeudete Dichter« - ein Faktor, der seine Biographie zerstörte, ihm Heimat, Familie und Freunde nahm, ihn >hinausschleuderte< in eine andere, ihm fremde Welt. Celans Weg setzte dagegen den verzweifelten Versuch einer Heimkehr. Warum hat Celan gerade Babijjar übersetzt? Wer sich an dieser Stelle über die Inadäquatheit von Übersetzung und Original wundert (in dem Sinne, daß der russische Autor des Gedichts dem sprachlichen Genie eines Paul Celan weit unterlegen sei), wie es allenthalben geschehen ist, oder ihm sogar das diskrete Erteilen einer Lektion in Sachen Dichten nachzuweisen versucht,8 der verfehlt ganz wesentliche Aspekte dessen, was in Celans Ubersetzungen ebenso mitspricht wie in seinen eigenen Texten: ein Gedicht ist nicht nur mehr oder weniger wohlklingendes Konglomerat verschiedener nach sprachlichrhythmischen Gesichtspunkten komponierter Elemente, es ist auch nicht nur die Variation eines Themas. »Aber das Gedicht spricht ja!«9 - Es ist das Kreatürliche des Sprechens, das Celan schon zwei Jahre zuvor in seiner BüchnerPreis-Rede beschworen hat, das Authentizität verbürgt. Das Gedicht »bleibt seiner Daten eingedenk, aber - es spricht. Gewiß, es spricht nur immer in seiner eigenen, allereigensten Sache«.10 Babijjar ist - auf deutsch - gesprochen von Celan selbst. Es ist nicht nur das historische Faktum von antisemitischer Verfolgung und Denunziation, es ist deren Aktualität, die das Gedicht von Celan her auf deutsch auch artikuliert: Der Spießer denunziert mich,

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L. Olschner hat diese Wendung als erster erläutert (L.M. Olschner: Der feste Buchstab, S.), Jürgen Lehmann hat sie noch einmal einer detaillierten Analyse unterzogen in: »Dichten heißt immer unterwegs sein«. Literarische Grenzüberschreitungen am Beispiel Paul Celans. Arcadia 28 (1993) H.2, S. 1 1 3 - 1 3 0 . 7 Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Band VI. Hrsg.v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1991, S.98. 8 So Manin Bidney: Paradoxical Homage: Celan's Strategies for translating Evtushenko and other Russian poets. In: The Poetry of Paul Celan. Papers from the Conference at The State University of N e w York at Binghamton. October 28-29,1988. Edited by Haskell M. Block. N e w York, Berlin, Bern et.al. 1991, S. 44-60. » III, 196. Ebd.

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der Philister spricht mir das Urteil. Hinter Gittern bin ich. Umstellt. Miidgehetzt. Und bespien. Und verleumdet. Und es kommen Dämchen daher, mit Brüsseler Spitzen, und kreischen und stechen mir ins Gesicht mit Sonnenschirmchen. 11 Antisemitisch begründete Denunziation erlebte Celan selbst erneut gegen E n d e der fünfziger und zu Beginn der sechziger Jahre, als ihn die W i t w e Y v a n Gölls des Plagiats beschuldigte und ein Teil der literarischen Öffentlichkeit die offensichtliche Verleumdung

weiter trug. Die

Pointierung

geringfügiger

Abweichungen v o m Ausgangstext bringt in die Ubersetzung auch diese aktuelle Erfahrung Celans mit ein: Mescanstvo Moj donosíik i sud'ja. Ja za resetkoj. Ja popal ν kol'co. Zatravlennyj, oplevannyj, obolgannyj. I damoiki s brjussel'skimi oborkami, vizza, zontami tyiut mne ν lieo. 1 2 Das Spießertum mein Denunziant und Richter. Ich sitze hinter Gittern. Eingekreist bin ich. Gehetzt, bespuckt, verleumdet. Und Dämchen mit Brüsseler Rüschen, kreischend, mit Schirmen stoßen sie mir ins Gesicht.' 5 Celan verstärkt, ohne im Wortbestand v o m Ausgangstext abzuweichen, die Emphase des Gesprochenen lediglich durch eine Dehnung des Ausdrucks in der F o r m der Doppelung (»mesianstvo«, der abstraktere Sammelbegriff wird

" V, 281. 12 Das Gedicht, das nach seiner ersten Publikation in der »Literaturnaja gazeta« vom 19.9. 1961 lange Zeit in der Sowjetunion verboten war, wird unterdessen wieder gedruckt: Evgenij Evtusenko: Stichotvorenija i poèmy. Tom pervyj: 1952-1964. Moskva 1987, S. 3 0 9 - 3 1 1 . 15 Übersetzung C . I.

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zweimal übersetzt mit den Konkreta »Spießer« und »Philister«) oder aber der syntaktischen Ergänzung des im Russischen fakultativen Verbums (»kommen., daher«) bzw. der Auflösung eines Partizipiums (»vizza«) in eine finite Form (»und kreischen«). Die Dehnung gerade der letzten Passage - zwei Versen im Russischen entsprechen hier vier deutschen Verszeilen - wird im Deutschen noch weiter geführt in der zweimaligen Wiederaufnahme des einleitenden »I« (»Und«), wodurch anstelle eines einzigen Prädikats an verstechnisch unbedeutender Stelle eine dreimalige parallele Verseinleitung gesetzt wird (»Und es kommen .. daher,../ und kreischen / und stechen..«), die den beschriebenen Vorgang erheblich drastischer erscheinen läßt. Ebenfalls das Ungeheuere wie auch Lächerliche der Erscheinung betonend wirkt die Plazierung der Nomina »Brüsseler Spitzen« und »Sonnenschirmchen« (deutlich hypertrophe Übersetzung) jeweils ans Versende. N o c h einen weiteren Aspekt deckt die genaue Analyse der Übersetzung auf. Sie ist nicht nur inhaltlich ein Bekenntnis, artikuliert nicht nur deutlich die Solidarisierung mit dem Gesagten. Sie setzt es zugleich in eine Beziehung zu einem eigenen früheren Text und kann daraus erneut eine poetologische Einsicht formulieren: Über Babij Jar, da redet der Wildwuchs, das Gras. Streng, so sieht dich der Baum an, mit Richter-Augen. Das Schweigen rings schreit. Ich nehme die Mütze vom Kopf, ich fühle, ich werde grau. U n d bin - bin selbst ein einziger Schrei ohne Stimme über tausend und aber tausend Begrabene hin. Jeder hier erschossene Greis - : ich. Jedes hier erschossene Kind - : ich. Nichts, keine Faser in mir, vergißt das j e ! ' 4

»Über Babij Jar, da redet der Wildwuchs, das Gras.« ist Celans ausweitende Übersetzung für die wörtliche Formulierung »Über Babij Jar das Rauschen wilder Gräser« ( » N a d Bab'im Jarom seiest dikich trav«), wiederum eine Technik des doppelten Ausdrucks. Celan setzt diese Zeile noch deutlicher als Evtusenko in Beziehung zu den Eingangsversen:

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V, 285. 313

N a d Bab'im Jarom parajatnikov net. Krutoj obryv, kak gruboe nadgrob'e. [Uber Babij Jar gibt es keine Denkmäler. Ein steiler Abhang, wie ein grober Grabstein] Uber Babij Jar, da steht keinerlei Denkmal. Ein schroffer Hang - der eine, unbehauene Grabstein. 1 '

Das Sprechen des Gedichts gründet und legitimiert sich in dem Fehlen eines Denkmals. Wo der Mensch schweigt, erscheint die Natur selbst als stummes Mahnmal: Das Reden des Grases wird eins mit dem ins Schweigen gebannten Schrei der unter ihm Begrabenen. V E R B R A C H T ins Gelände mit der untrüglichen Spur: Gras, auseinandergeschrieben. Die Steine, weiß, mit den Schatten der Halme: Lies nicht mehr — schau! Schau nicht mehr - geh!' 6

Solche Parallelen, die Celan als Meridiane bezeichnet und immer wieder von neuem >gefunden< hat, außer acht zu lassen, heißt die besondere Nähe von Text und Übersetzung zu verkennen, heißt, die Ubersetzung Celans als Sprechen »in eines Anderen Sache« nicht zu verstehen. Hier greift jede Ubersetzungskritik fehl, die, angefangen beim Vorwurf des »Celanisierens«, immer noch auf einem »adäquaten« Ubersetzungs-Ideal beharrt und nicht bereit ist, die besondere Konstellation zu erkennen, in der und aus der heraus Celan hier zum Ubersetzer und damit immer auch zum authentischen Sprecher wird. Es darf einfach nicht verwundern, daß gerade Celan das russische Gedicht Babij Jar schon bald nach dessen Veröffentlichung übersetzt hat. Der Text ist in diesem Falle nicht nach >objektiven< Kriterien auf seine ästhetischen Mängel hin zu befragen. Er muß, geht es um seine Erscheinungsform in der Sprache Celans, hier auch und vor allem in seiner besonderen Bedeutung als »Flaschenpost« verstanden werden. Celan als »russischen Dichter« zu verstehen, heißt somit seine Bestimmung des Gedichts zu erkennen als ein Sprechen im Namen der Opfer, ein Sprechen als Gedenken und ein Sprechen für einen Humanismus, der sich als historische Aufgabe versteht. Die Aktualität des Vergangenen wird zur historisch begründeten Bestimmung und Berufung des Dichters.

" V, 281. 16

1,197.

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c) Kontra! Das Beispiel dieser singulär gebliebenen Übersetzung aus dem Werk Evgenij Evtusenkos läßt abschließend noch einmal einiges von dem deutlich werden, was Celans Beziehung zu russischer Literatur überhaupt ausmachte und wo die Grenzen des Verstehens liegen. Sie erscheint in einem Augenblick, als er zu Russischem gefunden und sich von diesem in einem bestimmtem Sinne auch schon wieder abzuwenden begonnen hatte. Auch wenn Celan nach 1962 noch eine Reihe weiterer Ubersetzungen aus dem Russischen erscheinen ließ, auch wenn er in den folgenden Jahren wiederholt in öffentlichen Lesungen auch und gerade russische Texte vortrug, so ist doch ein Nachlassen der intensiven Beschäftigung mit diesen Autoren zu dieser Zeit deutlich zu beobachten, dessen Bedeutung nicht unterschätzt werden darf. Gerade die Lesungen wie auch die Vorabpublikationen einzelner Texte Celans in Zeitschriften, auf deren Anordnung er strengsten Wert legte, markieren ihrerseits immer wieder Konstellationen, die in ihrem Zeichencharakter ernst genommen werden müssen.'7 Die Übersetzung von Babijjar erschien in keiner von ihm selbst veröffentlichten Buchausgabe; sie war lediglich 1962 in zwei gleichzeitig erscheinenden Sammelpublikationen zu lesen.'8 Im Fischer Almanach sind von Celan neben der Evtusenko-Übersetzung noch zwei weitere Texte publiziert worden: vor Babijjar war das der Niemandsrose zugehörige Gedicht Psalm neben die erste Übersetzung Celans aus dem Werk von Henri Michaux, Contre!, gesetzt worden.'9 Dieses Zusammentreffen erscheint mir alles andere als zufällig zu sein. Der Beginn von Celans bedeutender Auseinandersetzung mit Henri Michaux, ohne welche Celans eigentliches Spätwerk kaum so entstanden wäre,20 fällt genau mit dem eigentlichen Endpunkt seiner >russischen Phase< zusammen. Die Nähe des Psalm zu Contre! mag hier schon als eine Selbstaussage gewertet werden, wenn auch das Gedicht ganz anderen Traditionen im Thema wie im Formalen angehört. 17

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So hat Celan beispielsweise die bereits angesprochene auffällige Anordnung seiner Übersetzungen der Nachlaßgedichte Mandel'stams und der ersten Veröffentlichungen von Gedichten der Niemandsrose in der Neuen Rundschau 74 (1963) ganz bewußt arrangiert. Vgl. seinen Brief an G. Bermann-Fischer, S.632. Im Almanach S. Fischer 76 (1962), S. iooff. und in Sinn und Form 14 (1962), S. 729ff. Daß dies durchaus als Botschaft an Hüchel zu verstehen ist, darauf hat schon L. Olschner hingewiesen. Aufgenommen wurde die Ubersetzung schließlich auch in eine 1965 erschienene Evtusenko-Auswahlausgabe (vgl. Verz. Nr. 145). Celan las auch später Ubersetzungen von Michaux zusammen mit russischen Texten, so Die Verlangsamte und Die Zwölf von Aleksandr Blok am 16.Oktober 1966 in Hamburg. Vgl. Bernhard Böschenstein: Paul Celan und die französische Dichtung. In: ders., Leuchttürme. Von Hölderlin zu Celan. Wirkung und Vergleich. Studien. Frankfurt a.M. 1977, S. 318.

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Contre! Je vous construirai une ville avec des loques, moi! Je vous construirai sans plan et sans ciment Un édifice que vous ne détruirez pas, Et qu'une espèce d'évidence écumante Soutiendra et gonflera, qui viendra vous braire au nez, Et au nez gelé de tous vos Parthénons, de vos arts arabes, et de vos Mings. Avec de la fumée, avec de la dilution de brouillard Et du son de peau de tambour, Je vous assolerai des forteresses écrasantes et superbes, Des forteresses faites exclusivement de remous et de secousses, Contre lesquelles votre ordre multimillénaire et votre géometrie Tomberont en fadaises et galimatias et poussière de sable sans raison. Glas! Glas! Glas sur vous tous, néant sur les vivants! Oui, je crois en Dieu! Certes, il n'en sait rien! Foi, semelle inusable pour qui n'avance pas. Oh monde, monde étranglé, ventre froid! Même pas symbole, mais néant, je contre, je contre, Je contre et te gave de chiens crevés. En tonnes, vous m'entendez, en tonnes, je vous arracherai ce que vous m'avez refusé en grammes. Le venin du serpent est son fidèle compagnon, Fidèle et il l'estime à sa juste valeur. Frères, mes frères damnés, suivez-moi avec confiance. Les dents du loup ne lâchent pas le loup. C'est la chair du mouton qui lâche. Dans le noir nous verrons clair, mes frères. Dans le labyrinthe nous trouverons la voie droite. Carcasse, où est ta place ici, gêneuse, pisseuse, pot cassé? Poulie gémissante, comme tu vas sentir les cordages tendus des quatre mondes! Comme ja vais t'écarteler!

KONTRA! Eine Stadt will ich euch da hinbaun, mit Lumpen und Fetzen, ja ich! Und euch errichten, ohne Plan und ohne Zement, ein Bauwerk, das sollt ihr mir schon nicht niederreißen. Und dazu irgend so etwas Schäumend-Augenfälliges, das es stützt und großbläht und daherkommt und sich euch wiehernd unter die Nase reibt, und unter die gefrorene Nase all eurer Parthenons und all eurer arabischen Künste und all eurer Mings. Mit Rauch, mit verdünntem Nebel und dem Laut vom Fell einer Trommel bau ich euch Festungen hin, erdrückende, herrliche, Festungen aus lauter Ruck und Stoß und Schüttern, an denen eure vieltausendj ährige Ordnung, eure ganze Geometrie 316

in lauter schales Zeug zerfällt, lauter krauses Geschwätz und Gerede, in Sandstaub ohne Woher noch Wohin. Toten-, Toten-, Totengeläut über auch alle! Und das Nichts über die Lebenden! Ja, ich glaube an Gott! Ja, gewiß, er weiß nichts davon! Glaube, du unverwüstliche Schuhsohle dessen, der nicht vorankommt. O Welt, erwürgte, gedrosselte, Welt, Frostbauch! Du nicht einmal Sinnbild, du Nichtigkeit und Nichts, ich gebe kontra, kontra! Gebe kontra und mäste dich mit krepierten Kötern. Tonnenweis, hört ihr, tonnenweise, so will ich euch entreißen, was ihr mir verweigert habt grammweise. Das Gift ist der Schlange ein treuer Gefährte. Ist ihr ein treuer Gefährte und achtet sie nach Gebühr. Brüder, ihr Brüder in der Verdammnis, folgt mir getrost. Die Zähne des Wolfs lassen den Wolf nicht im Stich. Es ist das Fleisch des Schafs, das im Stich läßt. Im Dunkel, da werden wir klar und deutlich sehn, Brüder. Im Labyrinth, da werden wir den geraden Weg finden. Du Knochensack, wo gehörst du hier hin, du Im-Weg-Steher, du Harnlasser, du kaputter Pott? Ächzende Taurolle, wie wirst du sie spüren, die gestrafften Kardeele der vier Welten! Wie ich dich vierteilen werde! 21 E s ist ein anderes Selbstbewußtsein und ein anderes Weltbewußtsein, das sich im Gedicht von M i c h a u x artikuliert. W o Evtusenko den konkreten Fall benennt und in der innerlich erlebten K o n f r o n t a t i o n von »Ich« und »Welt« seine K o n s e q u e n z e n

zieht, da gerät M i c h a u x in lautstarke

sarkastische

Beschimpfungen, die aufs G a n z e zielen. W o Evtusenko mit traditionelleren Bildern (die Liebe, der Frühling; das Leiden von Kindern, Müttern und G r e i sen) Sentimentalität zu wecken sucht, da zückt M i c h a u x böse das Schwert der Zerstörung. Kein Kulturdenkmal der Welt ist groß genug, u m nicht von ihm in den Staub gestürzt zu werden, kein S c h i m p f w o r t zu niedrig, u m nicht ins G e d i c h t hineinzuragen. Zerstörung bis zur Negation ist die A n t w o r t , die M i c h a u x der Welt entgegenschleudert - dagegen mystifizierendes Bekenntnis zu einem Ideal von Rußland, das es vielleicht nie gegeben hat und nie geben wird, die Auflösung der Betroffenheit bei Evtusenko. D i e beiden Pole, die hier umrissen sind, nennen E x t r e m p u n k t e , die Celan dichtend und übersetzend erreichen konnte. Sie umschreiben bei weitem nicht alle Aspekte seiner D i c h t u n g und auch nicht seiner Auseinandersetzung mit Werken russischer oder französischer Literatur. Sie sind hier einander gegenübergestellt, u m deutlich zu machen, daß Celans Versuch einer Identitätsbestimmung und dichterischer Selbstfindung weder mit der einen noch mit der 21

IV, 678-681. }l7

anderen Position zur Deckung gebracht werden kann. Französische Dichtung muß als Gegenpol seiner Neigung zu Russischem mitgedacht werden, als permanenter geistiger Hintergrund vom frühesten Dichten an. Celan scheint sich der Gefahr der Mystifizierung Rußlands, wie sie in Deutschland immer wieder unternommen wurde, bewußt gewesen zu sein. Sein Begriff von Rußland war, das sollte mit der vorliegenden Arbeit gezeigt werden, sowohl geographisch geprägt wie biographisch-(historisch) begründet. Rußland als Begriff für eine geistige Identität, eine Existenzform hat bei Celan wenig gemein mit dem slawisch-barbarischen Rußland, wie es von Deutschland aus nicht ohne eine gewisse Russophobie seit mehr als vier Jahrhunderten stereotyp dargestellt wird. Celans Gemeinschaft mit Rußland war zum einen als »östliche Heimat« sehr eng an seine eigene Biographie, an den Raum seiner Herkunft gebunden; andererseits war es von Frankreich aus vermittelt als Raum einer Ferne, als Bezugspunkt, der dem Exil eine Bedeutung verlieh, die es von Deutschland aus nicht gewinnen konnte.

318

I V . V O N DER B E G E G N U N G ZUM G E G E N W O R T . CELANS P O E T I K IM Z E I C H E N RUSSISCHER D I C H T U N G :

Die Dichtung Ossip Mandelstamms UND Der Meridian

ι. Kommentar zum Text der Rundfunksendung über Die Dichtung Ossip Mandelstamms

a) Z u m Kontext von Rundfunksendung und Büchner-PreisRede A m 19. März i960 strahlt der Norddeutsche Rundfunk in seinem Nachtprogramm eine Sendung über MandePstam aus. Der Dichter, von dem im Jahr zuvor erstmals ein Gedichtband in deutscher Ubersetzung erschienen ist, wird hier nicht nur in einer ganzen Reihe von Gedichten vorgestellt; die Gedichtlesungen sind eingebettet in einen auf zwei Sprecher verteilten kurzen Vortrag, der in die Dichtung des in Deutschland bis dahin fast völlig unbekannten Dichters Mandel'stam einführen soll. Text und Ubersetzungen stammen von Paul Celan." Die Sendung wird nicht allzu sehr beachtet; in einem Rückblick des damaligen Redakteurs, der die wichtigsten Beiträge der vergangenen fünfzehn Jahre 1962 noch einmal in einer Buchveröffentlichung zusammenfaßt, findet sie keine Erwähnung mehr.2 Auch die Celan-Forschung hat diesem bedeutenden poetologischen Zeugnis Celans, von dem nur wenige Kenntnis bewahrten, lange Zeit keine Aufmerksamkeit geschenkt, obwohl der Zusammenhang zur wenige Monate später gehaltenen Büchner-Preis-Rede offensichtlich ist. Allein Otto Pöggeler verwies indirekt auf den Vortrag, indem er eine Briefstelle Celans zitiert: Und der Büchner-Preis war, bis zuletzt, eine Prüfung, d.h. er war auch Anfechtung und Heimsuchung. Wirklich. N u n ists überstanden, ich habe sogar noch, im allerletzten Augenblick freilich, eine (Art) Rede zu Papier gebracht - ein paar Formulierungen

1

2

Mehrere Dokumente im Nachlaß belegen, daß Celan das Manuskript auf Anregung des Senders verfaßt hat; es wurde erst kurz vor dem Sendetermin fertiggestellt. Die Sendung ähnelt in Aufbau und Gestalt einer Rundfunksendung zu Esenin, die zur selben Zeit von Milo Dor verfaßt worden ist (vgl. Verz. Nr. 394). Vgl. Joachim Schickele: Weltbetrachtung 10 Uhr abends. [Die Sendungen des Nachtprogramms des N W D R 1947-1962] 1962. Das Erscheinen des Bands wurde angekündigt in Merkur 178 (1962), S. 1200. Die Nummer befindet sich im Besitz Celans, auf dem Titel eine handschriftliche Notiz: » N W D R , Mandelstamsendung« (vgl. Verz. Nr. 394). Der Beitrag wird jedoch weder in der Mitteilung noch in der Anthologie selbst erwähnt.

321

aus der Mandelstamm-Sendung mußten, ich dachte dabei an Sie, mit hinein, als Inseln zu anderen Inseln. 3 Der Vortrag ist, wie fast alles im Umkreis der Mandel'stam-Rezeption, einmalig in Celans Werk. Kein anderer ähnlicher Beitrag ist bisher bekannt geworden; auch tritt bei späteren Rundfunk-Rezitationen der Mandel'stam- oder Esenin-Ubertragungen das authentische Wort Celans nicht mehr dazu. A u f meine briefliche Anfrage hin erläuterte Pöggeler die Briefstelle mit den Worten: Celan hat in der Tat einmal am Radio über Mandelstamm gesprochen. Diesen seinen Vortrag hat er uns bei seinem Besuch im Siebengebirge vorgelesen; das Lesen hat mich sehr beeindruckt damals, doch nach so vielen Jahren habe ich Einzelnes natürlich nicht mehr im Gedächtnis. Auch als Herr Olschner sein Buch schrieb, war der Vortrag noch verschollen. Inzwischen ist er aber wieder gefunden worden. Und in Paris auch vorhanden...' 1 Ein Jahr nach diesem Brief, 1988, konnte Ralph Dutli, der damals in Paris lebte und mit Frau Celan-Lestrange befreundet war, diesen eminent wichtigen Celan-Text im Rahmen eines als Hommage an Mandel'stam konzipierten Sammelbandes zu dessen fünfzigstem Todestag erstmals publizieren. 5 Die CelanForschung hat diese Publikation jedoch bisher noch nicht genügend zur Kenntnis genommen. 6 Lediglich Bernhard Böschenstein, der als einziger Einsicht in die Manuskripte und Entwürfe zur Büchner-Preis-Rede nehmen konnte, geht in seinem (im selben Jahr wie der Text der Celanschen Rundfunksendung) veröffentlichten Beitrag Celan und Mandelstamm.

Beobachtungen

zu ihrem Verhältnis nicht nur auf den Wortlaut des Vortrags ein, sondern zitiert auch aus zugehörigen Notizen, 7 die sich im Meridian-Konvolut 3

fanden. Diese

Otto Pöggeler: Spur des Worts. Zur Lyrik Paul Celans. Freiburg/München 1986, S.407, Anm. 15. Celans Formulierung »..als Inseln zu anderem Inseln..« könnte eine fruchtbare Hilfestellung für die strukturelle Erfassung des »Meridian« bedeuten. Eine solcher - vom übrigen auf eigentümliche Weise getrennte und doch Konstellationen bildende - Insel ist der unten besprochene Passus zum Aspekt der »Dunkelheit«. 4 In einem Brief an Verf. vom 19.6.87. Die im Norddeutschen Rundfunk ausgestrahlte Sendung wurde jedoch nicht von Celan selbst gesprochen. ' Paul Celan: Die Dichtung Ossip Mandelstamms. In: Ossip Mandelstam, Im Luftgrab. Ein Lesebuch. Mit Beiträgen von Paul Celan, Pier Paolo Pasolini, Philippe Jaccottet, Joseph Brodsky. Herausgegeben von Ralph Dutli. Zürich 1988, S. 69-81. 6 Sie ist bibliographisch verzeichnet nur bei Christiane Bohrer: Paul Celan - Bibliographie. Frankfurt a. M., Bern, N e w York, Paris 1989. Die nach 1988 publizierten Beiträge zu Celan und Mandel'stam gehen, wenn überhaupt, dann nur marginal auf den Text ein. 7 BernhardBöschenstein:CelanundMandelstamm.BeobachtungenzuihremVerhältnis. Celan-Jahrbuch 2(1988), 15 5-168, hier bes. S. 156-159. Böschenstein zitiert die folgenden Notizen: aus den Entwürfen zur Rundfunksendung: »Das Bild ist hier nicht Metapher; diese Dichtung ist keine Emblematik; das Bild hat phänomenalen Charakter - es erscheint.« (S. 159); aus den Entwürfen zur einführenden Notiz zu den Mandel'stamÜbersetzungen: »das Gedicht nur dann, wenn es die Vergänglichkeit der Dinge und seinerselbst mitsprechen läßt, Aussichthat,zu dauern«;»imGedichtsprichtdieStundeund

3"

Zitate sind Bruchstücke umfangreicher Entwüfe zu beiden Texten, die im Nachlaß Celans erhalten sind. Aus diesen Beobachtungen wird bereits deutlich, daß beide Texte, die Rundfunksendung Über die Dichtung Ossip Mandelstamms und Der Meridian in besonderer Weise aufeinander bezogen sind, nicht nur aufgrund der zeitlichen Nähe ihrer Entstehung - am 19.3. i960 wird die Sendung über Mandel'stam ausgestrahlt, am 22.11. i960 hält er die Rede zur Verleihung des Büchner-Preises8 - und nicht nur, weil Celan hier einiges »mit hinein« genommen hatte, sondern weil seine maßgebliche Poetik in ganz wesentlicher Orientierung an der Dichtung Mandel'stams allererst entworfen worden ist. Alterität, wie sie als wesentliches Kriterium des Gedichts im Rahmen der Preisrede begründet wird, ist demnach in weitaus stärkerem Maße als bisher vermutet auf den Zusammenhang von Rezeption zu beziehen. Die Begegnung mit dem Anderen, das, wie Celan sich im Meridian auszuführen bemüht zeigt, viele Aspekte hat, ist auch als Begegnung mit dem anderen, dem fremden Text zu verstehen. Dies belegt eine kleine Notiz Celans zur Büchner-Preis-Rede, die als einzige aus dem Konvolut der Entwürfe bisher veröffentlicht wurde.9 Sie trägt mit dem Inspirationszeichen »-i-« versehen die »Überschrift »Rezeption«: -i- Rezeption = Ergriffenheit: (vom-Gedicht-Ergr.): benachbart anderen, ähnlichen Reizen Erregungen ich glaube nicht, daß sich hier Kriterien herausarbeiten ließen, die die Begegnung mit dem Gedicht von mystischen Erlebnissen zu unterscheiden vermöchten —iwer das Gedicht aufnimmt, tritt an die - stimmlos und damit 10 sprachnahe Stelle jenes Fremdesten, dem es zugesprochen bleibt; in der Begegnung klingt, wie im Entstehen des Gedichts, Sprache an, wird Sprache frei. -

8

9

10

derÄon, derHerzschlag und die Weltuhr« und »DieZeitihrerunendlichenEndlichkeit, das Sein der Dinge in ihrer und der Menschen Zeit (und Raum)« (S. 162). Zur Datierung vgl. III, S. 18/; ebenso in: Der Georg-Büchner-Preis 1951-1978. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs Marbach und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt. Ausstellung und Katalog von Dieter Sulzer, Hildegard Dieke und Ingrid Kußmaul. Stuttgart 1978, S. 127. Böschenstein nennt den 28.11.60 für die Büchner-Preis-Rede; B. Böschenstein: Celan und Mandelstam, S. 156. Als verkleinerte Abbildung im Katalog der Ausstellung Der Georg-Büchner-Preis 1951-1978, S. 129. Auf diese überaus wichtige Notiz hat schon Olschner hingewiesen; Der feste Buchstab, S. 233. Schwer zu entzifferndes Wort; meine Lesart in Ubereinstimmung mit Olschner, ebd.

323

- in dieser Bodenlosigkeit liegt - archaisch genug - der Grund [durchgestr.Buchst. o] und das Prinzip des Gedichts -

Diese Notiz belegt zum einen die oben ausgeführte These von dem mystischen Wesen der Begegnung bei Celan, die die Rezeption bestimmt jenseits jener auf den Dialog der Zeiten und Kulturen bezogenen Intention der Weltkultur bei Mandel'stam. Es ist die Initiation, das Freiwerden des Eigensten aus der Konfrontation mit dem Anderen, das Celan in der Begegnung sucht, keine Antizipation, sondern Emanzipation. Die Notiz greift zugleich auch noch einmal das Gegenüber Mandel'stams auf, jenen providentiellen Gesprächspartner, der das Gedicht als »Flaschenpost« gefunden hat - und dem sich dieses nun zuspricht. Der Zuspruch, der die Qualität des Gedichts ausmacht, ist zugleich die Bedingung dafür, daß es als solches überhaupt auf- und damit wahrgenommen werden kann. »Entstehung« und »Begegnung« sind damit aber als analoge Vorgänge einander zugeordnet: Das Gedicht, das »sprachnahe« ist, kann als Sprechen erst und nur in diesem Augenblick des Zusammentreffens von beidem verwirklicht werden. Diese Notiz, die den wissenschaftlichen Begriff der Rezeption in Frage stellt und statt dessen das Mystische der Begegnung gerade in ihrem affektiven und impulsiven Charakter reflektiert, scheint mir ein deutlicher Hinweis darauf zu sein, daß das >Andere< in der Büchner-Preis-Rede auch jenes Andere eines fremden Gedichts meint, dem sich nicht nur das Gedicht Celans selbst zuschreibt, sondern von dem es sich seinerseits auch herschreibt. Beide Texte, die, in großer zeitlicher Nähe entstanden, Celans ästhetische Position gerade aus ihrer Differenzqualität heraus erkennen lassen, ermöglichen eine sehr genaue Beschreibung der Entwicklung seiner Poetik im Verlauf des Jahres i960. Dabei müssen die poetologischen Abweichungen des Meridian gegenüber der Konzeption der Rundfunksendung genau registriert werden. Obwohl Celan selbst immer wieder auf die Gültigkeit der hier formulierten Thesen und Kategorien hingewiesen hat, läßt jedoch schon die produktive Verschiebung erkennen, daß es sich auch um ein dynamisches Verständis des Gedichts handelt. Anhand der Auseinandersetzung mit Mandel'stams Gedichten selbst, wie sie in der vorliegenden Arbeit dargelegt worden ist, wurde jedoch deutlich, daß hier eine Art Höhepunkt markiert ist, das Erreichen eines Äußersten, das nicht gehalten werden konnte. Die nachfolgenden späteren Gedichte der Niemandsrose manifestieren ebenso einen veränderten Diskurs, wie die einige Jahre später faktisch vollzogene »Atemwende«, die sich gleichwohl im Meridian bereits namentlich angekündigt hat, - auch dies ein Hinweis auf das Uberschreiten des dort erreichten Höhepunkts.

324

Bevor Der Meridian

nun in seinem Verhältnis zu den Ausführungen Über

die Dichtung Ossip Mandelstamms

untersucht wird, soll jener Text selbst noch

einmal wiedergegeben und kommentiert werden, wobei zusätzlich noch die in den Meridian

modifiziert übernommenen Passagen an den entsprechenden

Stellen eingefügt worden sind (im Druckbild hervorgehoben). 1 ' Der Kommentar teilt sich dabei in einen erläuternden Stellenkommentar, der nötig erschien, um weniger bekannte und für das Verständnis notwendige Zusammenhänge aus dem Bereich des Russischen zu ergänzen, und eine vor allem auf die Aspekte von Struktur und Argumentation eingehende Analyse.

b) Text und Stellenkommentar Die Dichtung Ossip

Mandelstamms11

ι. Sprecher: 1913 erscheint in Petersburg ein schmaler Gedichtband: »Der Stein« (1). Diese Gedichte haben, das erkennt man, Gewicht, man möchte sie, wie die Dichter Georgij Iwanow (2) und Nikolaj Gumiljow (3) bekennen, selbst geschrieben haben (4), aber - diese Gedichte befremden. »Etwas,« erinnert sich die damals im Mittelpunkt des literarischen Lebens stehende und um Worte nicht eben verlegene Sinai'da Hippius (5), »etwas war da hineingeraten«. 2. Sprecher: Etwas Befremdendes - so berichten verschiedene Zeitgenossen - ist auch an dem Autor dieses Gedichtbandes: dem 1891 in Warschau geborenen, in Petersburg und Pawlowsk aufgewachsenen Ossip Mandelstamm, von dem unter anderem bekannt ist, daß er in Heidelberg Philosophie studiert hat (6) und gegenwärtig für das Griechische (7) schwärmt. ι. Sprecher: Etwas Befremdendes, nicht ganz Geheueres, etwas Ungereimtes. Plötzlich hört man ihn auflachen - bei Anlässen, die eine ganz andere Reaktion erwarten lassen (8); er lacht viel zu oft und viel zu laut. Mandelstamm ist überempfindlich, impulsiv, unberechenbar (9). Außerdem ist er von einer nahezu unbeschreiblichen Furchtsamkeit: führt der Weg z.B. an einem Polizeigebäude vorbei, so schlägt er einen Haken. 2. Sprecher: Und dieser »Hasenfuß« wird unter allen bedeutenden russischen Lyrikern, die das Leben über das erste nachrevolutionäre Jahrzehnt hinausführt (10) Nikolaj Gumiljow wird 1921 als Konterrevolutionär erschossen; Welemir Chlebnikow, der große Utopiker der Sprache, stirbt 1922 den Hungertod ( 1 1 ) - , dieser so furchtsame Ossip Mandelstamm wird der einzige Unbotmäßige und Kompromißlose sein, »der einzige, der« - wie ein jüngerer Literaturhistoriker (Wladimir Markow) feststellt - »nie nach Canossa ging« (12). 1. Sprecher: Die zwanzig Gedichte aus dem Gedichtband »Der Stein« befremden. Sie sind keine »Wortmusik«, keine aus »Klangfarben« zusammengewobene, impressionistische »Stimmungspoesie« (13), keine das Wirkliche sinnbildlich überhöhende " Dabei werden die zitierten Gedichte nur genannt und nachgewiesen, nicht aber erneut angeführt. 11 Paul Celan: Die Dichtung Ossip Mandelstamms, S. 69-81.

325

»zweite« Wirklichkeit (14). Ihre Bilder widerstehen dem Begriff der Metapher und des Emblems (16); sie haben phänomenalen (17) Charakter. Diese Verse sind, im Gegensatz zu dem sich gleichzeitig Raum greifenden Futurismus, frei von Wortschöpfungen, Wortballungen, Wortzertrümmerungen; sie sind keine neue »Ausdruckskunst« (15). Das Gedicht ist hier das Gedicht dessen, der weiß, daß er unter dem Neigungswinkel seiner Existenz spricht (18), daß die Sprache seines Gedichts weder »Entsprechung« noch Sprache schlechthin ist, sondern aktualisierte Sprache, stimmhaft und stimmlos zugleich, freigesetzt im Zeichen einer zwar radikalen, aber gleichzeitig auch der ihr von der Sprache gesetzten Grenzen, der ihr von der Sprache erschlossenen Möglichkeiten eingedenk bleibenden Individuation. Der Ort des Gedichts ist ein menschlicher Ort, »ein Ort im All«, gewiß, aber hier, hier unten, in der Zeit. Das Gedicht bleibt, mit allen seinen Horizonten, ein sublunarisches, ein terrestrisches, ein kreatürliches Phänomen. Es ist Gestalt gewordene Sprache eines Einzelnen, es hat Gegenständlichkeit, Gegensí¿W¿gkeit, Gegenwärtigkeit, Präsenz. Es steht in die Zeit hinein. [Dieses Immer-noch kann doch wohl nur ein Sprechen sein. Also nicht Sprache schlechthin und vermutlich auch nicht erst vom Wort her »Entsprechung«. Sondern aktualisierte Sprache, freigesetzt unter dem Zeichen einer zwar radikalen, aber gleichzeitig auch der ihr von der Sprache gezogenen Grenzen, der ihr von der Sprache erschlossenen Möglichkeiten eingedenk bleibenden Individuation. Dieses Immer-noch des Gedichts kann ja wohl nur in dem Gedicht dessen zu finden sein, der nicht vergißt, daß er unter dem Neigungswinkel seines Daseins, dem Neigungswinkel seiner Kreatürlichkeit spricht. Dann wäre das Gedicht - deutlicher noch als bisher - gestaltgewordene Sprache eines Einzelnen, - und seinem innersten Wesen nach Gegenwart und Präsenz.]' 3 2. Sprecher: Auf solchen (und ähnlichen) Bahnen bewegen sich auch die Gedanken der um Gumiljow und dessen Zeitschriften »Der Hyperboräer« (19) und » Apollon« (20) gruppierten »Akmeisten« (21) oder, wie sie sich ebenfalls nennen, »Adamisten« (22). 1. Sprecher: Die Gedanken. Gedichte.

Nicht jedoch, oder zumindest nur selten, auch die

ι. Sprecher: »Akmé«, das ist der Höhepunkt und die Reife, die voll entfaltete Blüte (23)·

2. Sprecher: Im Gedicht Ossip Mandelstamms will sich das mit Hilfe der Sprache Wahrnehmbare und Erreichbare entfalten, will es in seiner Wahrheit aktuell werden. In diesem Sinne dürfen wir wohl auch den » Akmeismus« dieses Dichters verstehen als »gezeitigte« Sprache. ι. Sprecher: Diese Gedichte sind die Gedichte eines Wahrnehmenden und Aufmerksamen, dem Erscheinenden Zugewandten, das Erscheinende Befragenden und Ansprechenden; sie sind Gespräch. Im Raum dieses Gesprächs konstituiert sich das Angesprochene, vergegenwärtigt es sich, versammelt es sich um das es ansprechende und nennende Ich. Aber in diese Gegenwart bringt das Angesprochene und durch Nennung gleichsam zum Du Gewordene sein Anders- und Fremdsein mit. Noch im Hier

13

III, 197Í-

326

und Jetzt des Gedichts, noch in dieser seiner Unmittelbarkeit und Nähe läßt es seine Ferne mitsprechen, bewahrt es das ihm Eigenste: seine Zeit. [Das Gedicht wird — unter welchen Bedingungen! - zum Gedicht eines — immer noch - Wahrnehmenden, dem Erscheinenden Zugewandten, diese Erscheinende Befragenden und Ansprechenden; es wird Gespräch - oft ist es verzweifeltes Gespräch. Erst im R a u m dieses Gesprächs konstituiert sich das Angesprochene, versammelt es sich um das es ansprechende und nennende Ich. Aber in diese Gegenwart bringt das Angesprochene und durch Nennung gleichsam zum D u Gewordene auch sein Anderssein mit. N o c h im Hier und Jetzt des Gedichts - das Gedicht selbst hat ja immer nur diese eine, einmalige, punktuelle Gegenwart - , noch in dieser Unmittelbarkeit und N ä h e läßt es das ihm, dem Anderen, Eigenste mitsprechen: dessen Zeit.]' 4 [..ist bei dem im Jahre 1891 geborenen O S S I P M A N D E L S T A M M das Gedicht der Ort, w o das über die Sprache Wahrnehmbare und Erreichbare um jene Mitte versammelt wird, von der her es Gestalt und Wahrheit gewinnt: um das die Stunde, die eigene und die der Welt, den Herzschlag und den A o n befragende Dasein dieses Einzelnen.] 1 '

2. Sprecher: Es ist dieses Spannungsverhältnis der Zeiten, der eigenen und der fremden, das dem mandelstamm'schen Gedicht jenes schmerzlich-stumme Vibrato verleiht, an dem wir es erkennen. (Dieses Vibrato ist überall: in den Intervallen zwischen den Worten und den Strophen, in den »Höfen«, in denen die Reime und die Assonanzen stehen, in der Interpunktion. All das hat semantische Relevanz.) Die Dinge treten zueinander, aber noch in diesem Beisammensein spricht die Frage nach ihrem Woher und Wohin mit - eine »offenbleibende«, »zu keinem Ende kommende«, ins Offene und Besetzbare, ins Leere und Freie weisende Frage. [Wir sind, wenn wir so mit den Dingen sprechen, immer auch bei der Frage nach ihrem Woher und Wohin: bei einer »offenbleibenden«, »zu keinem Ende kommenden«, ins Offene und Leere und Freie weisenden Frage - wir sind weit draußen. Das Gedicht sucht, glaube ich, auch diesen O r t . ] ' 6

ι. Sprecher: Diese Frage realisiert sich nicht nur in der »Thematik« der Gedichte; sie nimmt auch - und eben dadurch wird sie zum »Thema« - in der Sprache Gestalt an: das Wort - der Name! - zeigt eine Neigung zum Substantivischen, das Beiwort schwindet, die »infiniten«, die Nominalformen des Zeitworts herrschen vor: das Gedicht bleibt zeitoffen, Zeit kann hinzutreten, Zeit partizipiert. 2. Sprecher: Ein Gedicht aus dem Jahre 1910: »Das horchende, das feingespannte Segel...«' 7 1. Sprecher: Ein Gedicht aus dem Jahre 1911: »Der Schritt der Pferde«.' 8 2. Sprecher: Ein Gedicht aus dem Jahre 1915: »Schlaflosigkeit. Homer«.' 9

' « III, I98f. 15 16 17 18 19

V, 623. III, 199· V, 59· V, 63. V, 91. 327

ι. Sprecher: 1922, fünf Jahre nach der Oktoberrevolution, erscheint der zweite Gedichtband Mandelstamms: »Tristia« (24). Der Dichter - der Mensch, dem die Sprache alles ist, Herkunft und Schicksal - ist mit seiner Sprache im Exil, »unter Skythen« (25). »Er hat« - und auf diese erste Zeile des Titelgedichts ist der ganze Zyklus gestimmt - »er hat Abschied gelernt - eine Wissenschaft« (26). Mandelstamm hat, wie die meisten russischen Dichter - wie Block (27), wie Brjussow (28), wie Bjelyi (29), wie Chlebnikow, wie Majakowski) (30), wie Jessenin (31) die Revolution begrüßt. Sein Sozialismus ist ein Sozialismus ethisch-religiöser Prägung; er schreibt sich von Herzen (32), von Michailowskij (33), von Kropotkin (34) her; und nicht von ungefähr hat sich der Dichter in den Jahren vor der Revolution mit den Schriften Tschaadajews (35), Leontjews (36), Rosanows (37) und Gerschensons (38) befaßt. Politisch steht er der Partei der Linken Sozialrevolutionäre nahe. Die Revolution ist ihm - und hier bekundet sich ein dem russischen Denken eigentümlicher chiliastischer Zug - der Anbruch des Anderen, der Aufstand der Unteren, die Erhebung der Kreatur - eine Umwälzung von geradezu kosmischem Ausmaß. Sie hebt die Erde aus den Angeln: 2. Sprecher: »Die Freiheit, die da dämmert, laßt uns preisen«.20 ι. Sprecher: Die Horizonte verfinstern sich - der Abschied setzt sich ins Recht, die Erwartung tritt zurück, die Erinnerung beherrscht das Zeitfeld. Zum Erinnerten gehört für Mandelstamm auch das Jüdische: »Diese Nacht: nicht gutzumachen« (39)·21 2. Sprecher: 1928 erscheint wieder ein Gedichtband - der letzte (40). Zu den ersten beiden Sammlungen, die er enthält, ist eine neue hinzugekommen. »Kein Atem (41) mehr - das Firmament voll Maden« - : diese Zeile eröffnet den Zyklus (42). Die Frage nach dem Woher wird dringender, verzweifelter - die Dichtung - in einem seiner Essays über die Poesie nennt Mandelstamm sie einen Pflug (43) - reißt die untersten Zeitschichten auf, die »Schwarzerde der Zeit« tritt zutage (44). Das mit dem Wahrgenommenen sprechende, schmerzende Auge entwickelt eine neue Fähigkeit: es wird visionär; es begleitet das Gedicht in seine Untergänge (45). Der Dichter schreibt sich einer anderen, »fremdesten« Zeit zu. ι. Sprecher: »Der erste Januar 1924«. 22 2. Sprecher: So kommt es zum Ausbruch aus der Kontingenz: durch das Lachen. Durch jenes, uns bekannte, »unsinnige« Lachen des Dichters - durch das Absurde (46). Und auf dem Weg dorthin hat das Erscheinende - die Menschen sind abwesend geantwortet: die Roßhaardecke hat gesungen (47). Gedichte sind Daseinsentwürfe: der Dichter lebt ihnen nach (48). In den dreißiger Jahren wird Ossip Mandelstamm von den »Säuberungen« erfaßt (49). Der Weg führt nach Sibirien, die Lebensspur verliert sich (50). In einer seiner letzten Veröffentlichungen, dem 1932 in der Leningrader Zeitschrift »Swesda« veröffentlichten Armenischen Tagebuch (51), finden wir auch einige Aufzeichnungen zu Fragen der Dichtung. In einer dieser Notizen erinnert sich Mandelstamm an seine Vorliebe für das lateinische Gerundiv (52). Das Gerundiv - das ist das Mittelwort der Leideform der Zukunft (53).

20

V, 103. V,9J. " V, 145-149. 21

328

[Gedichte [...] sind ja zugleich auch, unter wie vielen anderen Wegen, Wege, auf denen die Sprache stimmhaft wird, es sind Begegnungen, Wege einer Stimme zu einem wahrnehmenden Du, kreatiirliche Wege, Daseinsentwürfe vielleicht, ein Sichvorausschicken zu sich selbst, auf der Suche nach sich selbst ... Eine A r t Heimkehr.] 2 '

1) Kamen' (Der Stein) war Mandel'stams erster Gedichtband; bei seiner Erstauflage enthielt er 25 Gedichte auf 3 j Seiten zum Preis von 50 Kopeken. Eine um 42 Gedichte erweiterte Ausgabe erschien 1916; die dritte Auflage kam 1923 in Moskau heraus und trug den Untertitel Pervaja kniga stichov (Der erste Gedichtband). Der Titel spielte an auf die akmeistische Grundforderung von >Schwere< und Materialität des dichterischen Wortes und stellte sich damit programmatisch (»kamen'« als Anagramm zum griechischen »akme«, auf dem Titelblatt selbst dargestellt) dem Symbolismus entgegen. Mandel'stam, der schon vorher bei einer Lesung im symbolistisch orientierten, im »Turm« versammelten Petersburger Dichterkreis um Vj.Ivanov Aufsehen erregt hatte, wurde mit seinem ersten Gedichtband schnell bekannt. Celan besaß die zweite Auflage. 24 2) Georgij Ivanov ( 1894-19 58), dem Kreis der Akmeisten nahestehender Dichter, emigrierte 1922 nach Paris. Er war eine der führenden Persönlichkeiten der Emigration, mit dessen Gedichten E. Raïs Celan bekannt machte.2' Umstritten waren seine Erinnerungen an Mandel'stam, die er 1930 in Paris veröffentlichte (G. Ivanov: Kitajskie teni [Chinesische Schatten]. In: Poslednie Novosti Nr. 3258 vom 22.2. 1930). Von dieser Darstellung haben sich sowohl M. Cvetaeva als auch A. Achmatova distanziert.26 3) Nikolaj Gumilëv (1886-1921), neben Mandel'stam und Achmatova Begründer des Akmeismus, wurde wegen angeblich konterrevolutionärer Tätigkeiten erschossen; Celan besaß zahlreiche Ausgaben seiner Werke, eine bis in die Ubersetzung hineinreichende intensivere Beschäftigung ist jedoch nicht erkennbar.27 4) »man möchte sie ... selbst geschrieben haben«. Vgl. die Formulierung in der Büchner-Preis-Rede: »Man möchte ein Medusenhaupt sein, [...] Man möchte heißt es hier freilich, nicht: ich möchte.«28 5) Zinaïda Gippius (1869-1945), die Frau des symbolistischen Literaturtheoretikers Dmitrij Merezkovskij und selbst Autorin zahlreicher literarischer Werke, war mit ihren Salons in Petersburg wie nach der Emigration 1919 in Paris zentrale Gestalt des literarischen Lebens. Ihr Erinnerungswerk Zivye 2

3 III, 201. Vgl. Verz. Nr. 232. ' Vgl. oben Kap. 11,2. Vgl. auch Verz. Nr. 1 7 J - 1 7 7 . 26 Vgl. Kap. III, 7. 27 Vgl. Verz. Nr. 166-173. 28 III, 192. 24 2

329

lica (Lebendige Gesichter) diente Celan als Quelle für Mandel'stam, wie einige Lektürespuren belegen.29 6) Mandel'stam studierte 1909/10 nur ein Semester lang Philosophie in Heidelberg; weniger als die deutsche beschäftigte ihn aber die Philosophie Bergson.30 7) »..gegenwärtig für das Griechische schwärmt«; bewußt dialektische Formulierung. Mandel'stams antike Neigungen fanden bei Celan jedoch relativ wenig Widerhall. An »Griechisches und Lateinisches« erinnert er auch in der Notiz zu seinen Mandel'stam-Ubersetzungen.31 8) Vgl. die Darstellung ihres gemeinsamen Aufenthaltes auf der Krim von Marina Cvetaeva.32 9) Einen ähnlichen Eindruck beschreibt auch Érenburg in seinem Erinnerungswerk.33 10) Vgl. das von Celan im Nachwort zu den Mandel'stam-Ubersetzungen zitierte Wort Roman Jakobsons über die Dichter, die »von ihrer Generation >vergeudet< wurden«:34 »So gehen binnen der Zwanzigerjahre des Säkulums die Inspiratoren der Generation zugrunde«.35 1 1 ) Dem Werk des futuristischen Dichters Velimir Chlebnikov (1885-1922) hat sich Celan schon früh und intensiv gewidmet; die ungewöhnliche Bezeichnung als »Utopiker der Sprache« ist kennzeichnend für Celans Chlebnikov-Verständnis.36 12) Mit Vladimir Markov, einem bedeutenden Slavisten, der erst in Deutschland, dann in den USA im Exil lebte, stand Celan wohl zumindest zeitweise in persönlichem Kontakt. Markov war Verfasser grundlegender Werke u.a. über den russischen Futurismus und den Imaginismus. Die überlieferte Bemerkung zitiert Celan vermutlich in Anlehnung an Markovs Formulierung »Nuzno esöe otmetit', cto Mandel'stam - edinstvennyj iz poètov sovetskogo vremeni, kotoryj ne zapjatnal sebja daze popytkoj prisposoblenija k bolsevizmu..« (Es ist auch noch anzumerken, daß Mandel'stam der einzige Dichter seiner Zeit war, der sich nicht einmal durch den Versuch 19 30

Vgl. Verz. Nr. 1 5 3 . Vgl. dazu Ralph Dutli: »Als riefe man mich bei meinem Namen«.

31

Vgl. V, 624.

32

Vgl. Kap. III, 7. M . Cvetaeva: Istorija odnogo posvjascenija. Deutsch in: M . Zwetajewa, Ausgewählte Werke. Hrsg. v. Edel Mirowa-Florin. Band 2: Prosa, S. 1 6 2 - 1 9 8 . U m einige Dokumente und Photographien ergänzt auch in: Marina Zwetajewa: Geschichte einer Widmung. A u s dem Russischen übersetzt und herausgegeben von Ralph Dutli. Zürich 1994. Vgl. auch: A . Achmatova: Listki iz dnevnika (Osip Mandel'stam). In: A . Achmatova: Socinenija ν dvueh tomach. Tom vtoroj. Moskva 1980, S. 1 9 8 - 2 2 1 .

33

Vgl. Verz. Nr. n o . V, 623. Slawische Rundschau II, N r . 7 (1930), S . 4 8 1 . Vgl. Kap. III, 5.

34 3Í 36

33°

13) 14) 15)

16)

17)

18)

einer Anpassung an den Bolschewismus befleckte) im Vorwort zu seiner Anthologie Priglusënnye golosa. Poèzija za zeleznym zanavesom (Gedämpfte Stimmen. Poesie hinter dem Eisemen Vorhang).37 Hier artikulieren sich Celans Vorbehalte gegenüber impressionistischer, symbolistischer und expressionistischer Dichtung, wobei hier der russische Futurismus wie »eine neue Ausdruckskunst« gedeutet und damit dem literarhistorischen Horizont des deutschen Hörers (verfälschend) angenähert wird. Vgl. dazu eine von B. Böschenstein referierte Notiz aus den Entwürfen zu diesem Text: »Das Bild ist hier nicht Metapher; diese Dichtung ist keine Emblematik; das Bild hat phänomenalen Charakter - es erscheint.«'8 Vgl. zu diesem Begriff Mandel'stams Essay O prirode slova {Uber die Natur des Wortes), zu dessen Beginn er sich intensiv mit Bergsons Lehre vom System der Phänomene beschäftigt. Der Essay wurde von Celan schon 1958 zur Kenntnis genommen." Vgl. eine ähnliche Formulierung schon 1958: »Freilich ist hier niemals die Sprache selbst, die Sprache schlechthin am Werk, sondern immer nur ein unter dem besonderen Neigungswinkel seiner Existenz sprechendes Ich, dem es um Kontur und Orientierung geht. Wirklichkeit ist nicht, Wirklichkeit will gesucht und gewonnen sein.« Antwort auf ein Umfrage der Librairie Flinker, Paris 195 8.40 In den voraufgegangenen Überlegungen war Celan bemüht gewesen, die Wege der französischen von denen der deutschen Dichtung zu unterscheiden. Es ist aber zugleich auch die Orientierungsphase an Russischem gewesen, die diese Worte begleiten.

19) Russ. Giperhorej, akmeistische Zeitschrift von weit geringerem Einfluß als 20) Apollon (1909-1917), die führende Petersburger Literaturzeitschrift, die bei ihrer Gründung noch keine feste Zugehörigkeit zu einer der konkurrierenden literarischen Bewegungen hatte, sich dann aber ab 1910/11 durch zahlreich erscheinende programmatische Beiträge vor allem N. Gumilëvs de facto zum zentralen Publikationsorgan der Akmeisten entwickelte. 1913 wurden hier die Hauptmanifeste des Akmeismus von Gumilëv und Gorodeckij publiziert, in den folgenden Jahren erschienen hier dann vor allem auch Gedichte Mandel'stams. 21) Der Akmeismus (ausgehend von griech. akme - der Höhepunkt, die Blüte) war eine von Gumilëv, Mandel'stam und Achmatova begründete literarische Gruppierung, die sich wie der Futurismus und der Imaginismus als Gegenbewegung zum Symbolismus konstituierten. Ihre Hauptforderun37

New York 1952, S. 15 (vgl. Verz. Nr. 331). ' 8 B. Böschenstein: Celan und Mandelstamm, S. 159. 59 Vgl. Verz. Nr. 234. 40 III, i6 7 f.

331

gen waren nicht Formzertrümmerung und Loslösung von der Tradition, sondern Klarheit und Strenge des Stils (nach klassischem Vorbild, aber auch geschult u.a. an Puskin) und - im »Stein« festgeschrieben - »Materialität« der sprachlichen Ausdrucksformen, die der »Inflation« der ins Beliebige übersteigerten bildlichen Ausdrucksweisen des Symbolismus entgegengesetzt wurden. Vgl. zur Bestimmung des Akmeismus Celans Formulierung im Brief an Strove vom 29.1.59: »..ob man nicht auch in dem Akmeisten Mandelstamm, also dem Dichter, der dem symbolistischen Ungefähr [..] gegenüber der Dinglichkeit das Wort redete, das Wort im Gedicht also gleichsam >dingfest< machen wollte, - . ob man nicht auch das so gemeinte Wort an vielen Stellen unter dem Zeichen einer >letzten< Dinglichkeit verstehen darf.«41 22) Vgl. dazu Mandel'stams Einschätzung: »Gorodezkij unternahm seinerseits den Versuch, dem Akmeismus eine literarische Weltanschauung aufzupropfen, den >AdamismusDichter des vierten StandsDichter des vierten Stands< spielt auch Die vierte Prosa Mandel'stams an. 48) Erscheint modifiziert in Der Meridian·. »..Daseinsentwürfe vielleicht, ein Sichvorausschicken zu sich selbst, auf der Suche nach sich selbst.. Eine Art Heimkehr.«71 49) Mandel'stam wurde wegen eines Epigramms auf Stalin 1934 verhaftet und für drei Jahre nach Voronez verbannt; ein Jahr nach seiner Rückkehr nach Moskau verhaftete man ihn 1937 erneut wegen konterrevolutionärer Tätigkeiten und verbrachte ihn nach Sibirien. 50) Mandel'stam ist aller Wahrscheinlichkeit nach am 27.12. 1938 in einem Durchgangslager bei Vladivostok gestorben. Celan war lange Zeit Datum und Umständen von Mandel'stams Tod auf der Spur; noch i960 läßt er eine divergierende Version in der biographischen Notiz zu den Mandel'stamUbertragungen in H.M. Enzensbergers Museum der modernen Poesie abdrucken.72 51) Die Genehmigung der Reise, die sich Mandel'stam lange sehnsüchtig gewünscht hatte, nahm im Grunde schon 1930 sein späteres Exil vorweg; dennoch führte sie zu einer positiven und produktiven Erfahrung, die seine Persönlichkeit, Weltsicht und seinen Stil einschneidend veränderte. Das Tagebuch erschien unter dem Titel Putesestvie ν Armeniju (Die Reise nach Armenien) in der Zeitschrift Zvezda.n Notizen belegen, daß der Text von Celan schon früh gelesen wurde.74 52) Zu Beginn des Kapitels Alagez (Alages) heißt es: »Ty ν kakom vremeni choies zit' ? - Ja chocu zit' ν poveditel'nom - ν >dolzenstvujus£em byt'dolzenstvujuscaja byt'< chvalimoj' - laudatura est - ta, cto nravitsja. . .« 7 ' (In welcher Zeit möchtest du leben? - Ich möchte im imperativen Partizip des Futurums, in der passiven Handlungsart leben - im >Zu-Werden-HabenGerundivum< - dieses Verb auf einem Pferderücken. Ja, der lateinische Genius schuf, als er jung und gierig war, eine Form der imperativen Zugkraft des Verbs als das Urbild unserer ganzen Kultur - und es ist nicht nur die >Zu-Werden-HabendeGelobt-zu-Werden-Habende< (laudatura est), die mir gefällt...). 76 53) Vgl· dazu B. Böschenstein: »Die Verdeutschung von Partizip, Passiv und Futurum bringt eine neue Ebene der Bedeutung in die grammatikalische Terminologie, die auf Mandelstamms Zeiterfahrung bezogen ist.« 77

c) Zu Struktur und Darstellung des Textes Die im Grunde sehr klare Gliederung dieses Manuskripts tritt erst bei der genauen Analyse hervor; sie geht im Vortrag verloren durch eine lineare Abfolge der Themen, die jeweils einen Gedanken aus dem nächsten entstehen läßt. Celans Schwerpunkte sind Charakteristika seiner Beziehung zur Dichtung Mandel'stams: Er spricht zunächst über die Gestalt und das Gedicht Mandel'stams; aus einer sehr eigenen Bestimmung des Akmeismus als »gezeitigte Sprache« gewinnt er anschließend die Kategorie der Zeit als Zentrum des Gedichts und bestimmt daran anschließend das »Visionäre« in seinem Doppelsinn von utopischem Ausblick und vorausgeschautem Untergang. An diesen Ausführungen ist unschwer zu erkennen, wie sehr das Gedicht für Celan an die Person und das Schicksal dessen, der es schreibt, gebunden ist, und wie weit er von rein formal-ästhetischen Bestimmungen entfernt war. Diese von ihm selbst gewählte Perspektive sollte sowohl bei der Analyse seines eigenen Werkes wie auch bei der Bewertung von Rezeptionsprozessen, wie sie die vorliegende Arbeit untersucht hat, nicht vernachlässigt werden.

75 76

77

SS II, 209. Ossip Mandelstam: Die Reise nach Armenien. Übertragung aus dem Russischen und Nachwort von Ralph Dutli. Frankfurt a.M. 1983, S. 109. B. Böschenstein: Celan und Mandelstamm, S. 158. 337

Celan läßt seinen Vortrag recht unvermittelt beginnen; die einzelnen Satzaussagen sind ebenso wie die durch den Sprecherwechsel einander gegenübergestellten einzelnen Abschnitte der Rede gekennzeichnet durch eine dialektische Darstellungsweise: Das spürbare »Gewicht« steht im Gegensatz zur »schmalen« Erscheinungsform des Gedichtbands Der Stein. Die »Furchtsamkeit« des »Hasenfußes« Mandel'stam widerspricht der Kompromißlosigkeit seiner geistigen Haltung in schwieriger Zeit. Als »Befremdendes, nicht ganz Geheueres, [...] Ungereimtes« erscheinen nicht nur die Gedichte, sondern auch die Erscheinung MandePstams, sie erscheinen so nicht nur dem jetzigen Leser, sondern auch bereits seinen Zeitgenossen, damit werden aber auch Gestalt und Gedicht bereits als äquivalent dargestellt. Dialektik bestimmt ebenfalls die Rede vom Fremden, nicht ganz Geheueren: Die Furchtsamkeit MandePstams erscheint so als Antizipation des furchteinflößenden Fremden. Wenn auch Dialektik das innere Strukturprinzip des hier und bisher Gesagten ist, so verhalten sich doch Rede und Gegenrede der beiden Sprecher ganz und gar nicht dialektisch zueinander. Das äußere Gesprächsprinzip ist das Aufgreifen eines zuvor bereits Angesprochenen und seine Weiterentwicklung: So wird das im ersten Abschnitt eingeführte (und im Kursivdruck hervorgehobene) Verbum »befremden« in beiden folgenden Abschnitten in einer dynamisierten Form (»Etwas Befremdendes«) wiederaufgenommen; im vierten Abschnitt erscheint es nicht mehr, denn das, was hier zur Sprache kommt, ist befremdend in auszeichnendem Sinne und setzt zudem den Dichter Mandel'stam erneut in einen Gegensatz zu seinen Zeitgenossen. Am auffälligsten wirkt in den ersten vier Abschnitten jedoch die zeitliche Funktion der Verben; wenn Celan später den Terminus der »aktualisierten Zeit« entwickelt, so ist solches hier bereits in die Darstellung miteinbezogen. Celan aktualisiert dabei das historische Faktum auf unterschiedliche Weise: Im ersten Abschnitt wird das historische Präsens durch Einschübe wie »damals« oder eine falsche Zeitenfolge im Zitat identifizierbar gemacht; der zweite Abschnitt überführt auf einer ersten Stufe das historische in ein scheinbar echtes Präsens (»so berichten.. Zeitgenossen«, »gegenwärtig«), was im dritten Abschnitt durch eine erhöhte Unmittelbarkeit der Sprache (»Plötzlich hört man ihn ¿«/lachen..«) oder den Anschein des Wiederholbaren, Gültigen (»führt der Weg z.B...., so schlägt er..) noch gesteigert wird. Schließlich erfährt diese >Aktualisierung< ihren Höhepunkt in Formen des vollendeten Futurums (»wird der einzige..sein, der nie ..ging«). Diese Akzentuierung, die sich um Authentizität bemüht (Celan zitiert literarische und wissenschaftliche Größen), dient somit nicht nur der thematischen Exposition, sondern führt zugleich die Verfahren vor, die als charakteristisch für MandePstams Dichtung gelten können. Das »Unerwartete«, das »Hakenschlagende« solchen Sprechens hat seinen Grund: Als historisch bedingter Ausdruck der Bedrohtheit und Ausgesetztheit des Individuums, aber auch als ästhetische Forderung (im Sinne der zeitgenössischen Avant-

338

garde) eines entautomatisierten Sprechens. Diese Aspekte des Anderen im Sinne eines »furchteinflößenden Fremden« werden später im Meridian wieder aufgenommen (»Befremdung« als Voraussetzung für die gesuchte »Freisetzung« 78 ), erscheinen jedoch abgelöst von dem Konkreten auf Biographie und Ästhetik Mandel'stams Bezogenen, und statt dessen integriert in einen erweiterten Kontext. Im fünften Abschnitt wird der Begriff des »Befremdens« von Celan erneut zweideutig gebraucht. Zum einen ist es die scheinbare Desorientierung, die sich beim Hörer bzw. Leser einstellt, der diese Texte keinem der aktuellen Epochen-Stile zuordnen kann. Zum anderen ist es Zeichen der Wahrhaftigkeit dieser Verse, sich keinem Programm, keinem gesuchten Ausdruckswillen, keiner nur scheinbar das Wirkliche transzendierenden Form unterzuordnen. Dieses Gedicht wird nicht von außer ihm liegenden ästhetisch-formalen Kategorien bestimmt, es zeigt sich existenzgebunden. Die in diesem Zusammenhang eingeführten Begriffe »phänomenal« und »Existenz« müssen als Reflexe auf die philosophischen Strömungen der Phänomenologie im Sinne Husserls bzw. Bergsons und des Existentialismus im Sinne Heideggers und, andererseits, Sestovs verstanden werden. Der wesentliche Schnitt, durch welchen an dieser Stelle das Gedicht Mandel'stams von dem seiner Zeitgenossen getrennt wird, ist eine Differenz, die die allgemeinen Grundlagen des Gedichts und damit die Möglichkeiten dichterischen Sprechens überhaupt berühren. Bereits an dieser Stelle verläßt Celan in der Rundfunksendung das Individualtypische der Dichtung Mandel'stams und trifft - losgelöst auch vom Epochenspezifischen - allgemeine Bestimmungen, die sich dann während der Arbeit am Meridian als integrierbar erweisen. Celan vermeidet bei der späteren Integration dann einzelne Passagen, die aus dem Rede-Kontext wegführen würden; so wird der in der Sendung schon hier eingeführte »Ort im All« im Meridian erst ganz am Ende im Bereich der Frage nach dem »Ort« des Gedichts wieder aktiviert, wenn mit dem Modell des »Meridian« auch das »Terrestrische« wieder aufgenommen und angesprochen wird. Celan vermeidet außerdem die vereindeutigende, schon früher verwendete Formulierung »unter dem Neigungswinkel seiner Existenz«, und setzt statt dessen den Begriff »Dasein«, den er zusätzlich durch die Wiederholung des Ausdrucks in Kombination mit einem weiteren zentralen Begriff der Rede, Kreatürlichkeit, kombiniert. So blendet er später nicht nur den geistesgeschichtlich aktuellen Kontext von Phänomenologie und Existentialismus ab (der hier in der Rundfunksendung noch explizit aufgebaut wird), er verstärkt zugleich die bereits angelegte Komponente der Individuation. Damit hat Celan nicht nur endgültig der Zugehörigkeit des Sprechens zu sämtlichen Stilen, Epochen und Richtungen im formal-ästhetischen und im geistesgeschichtlichen Sinne abgeschworen, er hat auch eine Bestimmung des 78

III, 193-195.

339

Sprechens gefunden, die dieses als eine individuelle - vom Dasein des Einzelnen aufgegebene - Aktualisierung von Sprache darstellt: »gestaltgewordene Sprache eines Einzelnen«. In den folgenden Ausführungen (Abschnitte 6-10) bezieht sich Celan nun offensichtlich auf einzelne Passagen aus dem poetologisch wichtigen Essay O prirode Slova (Uber die Natur des Wortes), den er schon zu Beginn seiner Mandel'stam-Lektüren kennengelernt haben muß.79 Die spitze Ablehnung der Akmeisten-Kollegen, wie sie Celan formuliert, findet jedoch keinen echten Beleg bei Mandel'stam selbst. Trotz der hier und im folgenden deutlichen Bezüge zum Essay geht Celan inhaltlich fast nicht auf das von Mandel'stam Ausgeführte ein; die Bezugnahme beschränkt sich auf die Benennung des Zusammenhangs. Dabei werden wesentliche Gedanken, die Mandel'stam in diesem Essay entwickelt, nicht genannt, ganz abgesehen davon, daß hier, wo es um den Akmeismus dieses Dichters geht, nicht ein einziges seiner akmeistischen Gedichte rezitiert wird, wie beispielsweise das erste Gedicht, das Mandel'stam überhaupt veröffentlicht und das Celan auch übersetzt hat: Zvuk ostoroznyj i gluchoj Ploda, sorvavsegosja s dreva, Sredi nemolcnogo napeva Glubokoj tisiny lesnoj...

Der hohle Laut, behutsam, der Frucht, die vom Ast sich loslöst, die unendliche, die Melodie des Wälderschweigens um ihn her... 80

Ein Aspekt davon war die Explikation des Organischen,81 ein bewußter Gegenzug akmeistischer Dichtung zur »demoralisierten Wahrnehmung«, wie sie die Texte der Symbolisten dokumentieren; ein anderer war die berühmte Antwort Mandel'stams auf die Frage, was Akmeismus bedeute: »Sehnsucht nach Weltkultur«. Wo Celan in der einführenden Notiz zu seinen Ubersetzun-

79

80

81

Vgl. die Lektürespuren in der ersten Werkausgabe Mandel'stams von 1955 (Verz. Nr.234). V, 49. Marina Cvetaeva hat eine eindrucksvolle >Deutung< dieses Vierzeilers notiert, die den Unterschied von symbolistischer und akmeistischer Darstellung erhellt: »Diese Strophe ist genau jene fallende Frucht, die sie abbildet. [..] Und ungewöhnlich weite Kreise von Assoziationen. E r (der Apfel) ist rund und warm, er ist rund und kalt, er hat Augusthaftes und Augusteisches (Kaiserliches), er ist der des Paris, der der Hesperiden, und der aus dem Garten Eden, und der Adams (in der Kehle). All das gibt Mandelstam der Phantasie des Lesers in einer einzigen Strophe. (Die evokative Gewalt der Lyrik!) Charakteristisch für seine Lyrik insgesamt ist, daß er diesen Apfel, den er bietet, gar nicht ausdrücklich beim Namen nennt. Und sich tatsächlich, in gewissem Sinne, von diesem Apfel niemals getrennt hat.« Marina Zwetajewa: Ein gefangener Geist. Essays. Aus dem Russischen übertragen und mit einem Nachwort versehen von Rolf-Dietrich Keil. Frankfurt a.M. 1989, S. 133. Mandel'stam spricht explizit von der »organischen Schule« der Akmeisten: »Zadaci postroenija takoj poétiki vzjala na sebja organiceskaja skola russkoj liriki, vozniksaja po tvorceskoj iniciative Gumilèva i Gorodeckogo ν nacale 1 9 1 2 goda, k kotoroj oficial'no primknuli Achmatova, Narbut, Zenkevic i avtor ètich strok.« SS II, S. 298.

340

gen dies als Horizont seiner Dichtung immerhin noch anspricht,82 da tritt es hier vollständig zurück hinter eine von Celan forcierte Darstellung der zeitlichen - und das meint vor allem die historische - Dimension des Gedichts. Zudem wird erneut - ähnlich wie bei den Ubersetzungen - deutlich, daß Celan häufig neben dem, was gesprochen wird, auch und ebenso wahrnimmt, wie gesprochen wird. Er paraphrasiert oder wiederholt eben nicht die programmatischen Äußerungen Mandel'stams, er registriert und beschreibt die seinen Ausführungen jeweils zugrunde liegenden phänomenologischen Verfahren. An die Wahrnehmung der Erscheinungen geknüpft werden diese bei Mandel'stam nicht versinnbildlicht, sondern vergegenwärtigt; er spricht nicht über sie hinweg, sondern er spricht sie an und nimmt sie so - als »Du« - in die Rede mit hinein: »Das Bild ist hier nicht Metapher; diese Dichtung ist keine Emblematik; das Bild hat phänomenalen Charaker - es erscheint.«83 So kommen die Dinge ins Gespräch, so wird ihre Qualität wie ihre historische Determinante aktualisiert, weil die Rede nicht über sie hinweggeht, sondern sie selbst in die Rede gestellt werden. So wird das Gegenüber zum Gegenstand des Gesprächs, so wird jenes selbst zur Begegnung. Dieses Verfahren ist auch im weiteren Verlauf der Rundfunksendung zu beobachten. Es ist der Umschwung vom Gesprochenen zum Gestus des Sprechens, von der »Thematik« zum »Thema«, von der Zeit als Determinante zur Zeit als Partizipium, als >TeilhaberInhalt< von Zeit, ihre Wirkung, geht Celan in den nun folgenden Passagen ( n und 12) auf »Spannungsverhältnisse« ein, auf Konstellationen, auf die räumliche Ausdehnung von Zeit: In der Gestalt, die sie im Sprechen annimmt, als Beschleunigung oder als Pause. Die Verräumlichung von Sprache - in der Vergegenständlichung ihrer grammatikalischen Elemente - wie auch, in Verbindung damit, von Zeit überhaupt, können vielfach in Celans Gedichtwerk wahrgenommen werden. Darin artikuliert sich, von Bergson wie von Mandel'stam her, ein Versuch der Transgression von Zeit, der unweigerlich weit »ins Offene und Besetzbare, ins Leere und Freie« führen muß. In ähnlicher Weise vollzog schon das Gespräch im Gebirg - im Zeichen der Begegnung! - jene Entfernung und Entgrenzung in dem Weg nach oben, der in der Mitte des Textes die Schichtung der Erde als historische Dimension manifest macht (»Es hat sich

82

83

»Der geistesgeschichtliche Kontext der Dichtung Ossip Mandelstamms, an der neben Russischem auch Jüdisches, Griechisches und Lateinisches teilhat, die in ihnen mitsprechende religiöse und philosophische Gedankenwelt, ist bislang zu großen Teilen noch unerschlossen.« V, 624. Unveröffentlichte Notiz Celans aus den Entwürfen zur Rundfunksendung; vgl. B. Böschenstein: Celan und Mandelstam, S. 159.

341

die Erde gefaltet hier«84) und zugleich mit der Sprachbewegung zusammenfällt (»das ist die Sprache, die hier gilt«8'). Wenn Celan bisher kein einziges Gedicht Mandel'stams zitiert hat, so treten nun drei Gedichte aus dem ersten Zyklus Der Stein nacheinander auf, die alle eben jener Aspekt eint, von dem bisher die Rede gewesen war, das Fremde: Tvoj mir boleznennyj i strannyj Ja prinimaju, pustota!

Und, Leere, deine Welt, die empfang ich, nehme ich! 8 i

Cuzie ljudi, verno znajut, Kuda vezut oni menja.

Mich fahren Fremde. Die wohl wissen, wohin, zu welchem Ziel. 87

Kak zuravlinyj klin ν cuzie rubezi -

Wie jener Kranichkeil, in Fremdestes ben-88

fremde,

getrie-

Es sind die einzigen Gedicht aus Der Stein, die er lesen läßt, es sind auch die einzigen der von ihm übersetzten, die das Fremde in sich tragen. Nach diesen ersten Rezitationen nimmt sich Celan deutlich zurück hinter Angaben über Mandel'stams Lebensweg - und setzt dabei doch eigene Akzente: Denn das Exil als »skythische« Erfahrung wird er später im Gegensatz zu Bloks Skythen in einem eigenen Gedicht thematisieren.8' Ebenso ist das Abschiednehmen als Name für Heimatlosigkeit und drohendem Untergang auch von Celan her wohlbekannt. Und schließlich erweist sich die für MandePstam proklamierte Deutung der Revolution als mythisches Erleben, als Erhebung der Kreatur die er mit dem anschließenden und zugleich letzten von Mandel'stam gelesenen Gedicht illustriert - als im wesentlichen mit seiner eigenen Auffassung (wie sie dann beispielsweise im Meridian artikuliert wird) identisch. So bezeichnen auch die Autoren, die er als geistigen >Hintergrund< Mandel'stams und als Horizont von dessen »Sozialismus ethisch-religiöser Prägung« nennt, zu einem guten Teil vor allem auch den eigenen Hintergrund und die eigene Auffassung. Fast versteckt zwischen diesen beiden auf das Historische bezogenenen Gedichten erscheint - ein Epitaph - jener kleine Text, der an die jüdische Konstante seiner Gestalt rührt. Dieses »Jüdische«, wie es Celan abstrahierend einführt, wird nur angedeutet; aber es erhält aus dem Kontext eine apokalyptische Dimension, es erscheint zwischen Exil und Untergang und es mündet in jene absurde Erfahrung, die - den Untergang vor Augen - visionär wird. Die jüdische Dimension seiner eigenen Dichtung kommt dann im Meridian (anders als 8

< III, i/o. ' Ebd. Es wäre zu prüfen, ob dieser Weg sich nicht auch gerade in Anspielung auf die Eisthematik als genaue Umkehrung des Höllenwegs Dantes verstehen lassen könnte.

8

86 87 88 89

V, J 9 . V, 63. V, 91. Vgl. Und mit dem Buch aus Tarussa (I, 287-289); vgl auch Kap. III, 2.

34 2

noch in den Andeutungen der Bremer Rede) nicht mehr zur Sprache, eine auffällige, jedoch angesichts seiner zunehmenden Angst vor einem wiederauflebenden Antisemitismus in der Bundesrepublik erklärliche Tatsache. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Radiosendung weit weniger objektivierend einen Zugang zu Mandel'stam vermittelt, als es in diesem Rahmen zu erwarten gewesen wäre. Die faktischen Angaben treten hinter poetologische Überlegungen in einer sehr eigenen Terminologie zurück; die in Ansätzen erkennbare Strukturierung der vorgetragenen Gedichte entsprechend der Chronologie ihrer Entstehung, thematische Schwerpunkte und Uberleitungen im Sinne einer Wiederaufnahme des Gesprächsfadens täuschen einen Kommunikationsstatus und intendierten Informationsgrad vor, den die Sendung selbst nicht einlöst, zumindest nicht für eine am Faktischen orientierte Erwartungshaltung. Wer Mandel'stam nicht schon kennt, Texte von ihm gelesen hat und mit den elementaren Daten seiner Biographie vertraut ist, wer nicht über Grundbegriffe und -Vorstellungen der Entwicklung der russischen Literatur zwischen 1920 und 1930 Bescheid weiß, ihre historischen wie geistesgeschichtlichen Voraussetzungen kennt, ihre ästhetischen, sprachlichen und ideologischen Auseinandersetzungen wahrgenommen hat, wird über diese Dichtung aus den Ausführungen Celans kein zuverlässiges, vielleicht nicht einmal ein wirklich anschauliches Bild gewinnen können. Mehrere Faktoren stehen hier dem Verständnis entgegen: Die Zurücknahme des Faktischen zugunsten von Andeutungen (wodurch ist die legendäre Furchtsamkeit Mandel'stams begründet?), die äußerste Reduktion von Aussagen im Bereich der Ästhetik (»>Akmeanreicherndden 20 Jänner durchs Gebirg gingAlibifunktion< für das eigene Sprechen besitzt, formuliert Mandel'stam: »Ja, wenn ich mit jemandem spreche, so kenne ich den Menschen nicht, mit dem ich spreche, und ich wünsche auch nicht, ich kann gar nicht wünschen, ihn zu kennen. Es gibt keine Lyrik ohne Dialog. Das einzige, was uns dem Gesprächspartner in die Arme treibt, ist der Wunsch, über die eigenen Worte zu staunen, sich fesseln lassen von ihrer Neuheit und Unerwartetheit.« 13 Der Gesprächspartner als Resonanzboden für das eigene Sprechen? Aber die Aufnahme und Wahrnehmung, die Wiederholung und Wiedergabe des Gesprochenen ist ja die Bedingung für ihren Klang! Dieser frühe Text ist mit Sicherheit auch als programmatisches Bekenntnis eines Autors zu verstehen, für dessen Dichten das Gespräch unabdingbar war und dessen letzter poetologischer Essay noch als Gespräch Uber Dante geführt wurde. Bei Celan heißt es analog dazu: Das Gedicht wird [...] Gespräch. [...] Erst im Raum dieses Gesprächs konstituiert sich das Angesprochene, versammelt es sich um das es ansprechende und nennende Ich. Aber in diese Gegenwart bringt das Angesprochene und durch Nennung gleichsam zum Du Gewordene auch sein Anderssein mit.' 4

Gerade in der Rundfunksendung hat Celan Uber die Dichtung Mandel'stams eben diese Formulierungen erstmals gebraucht; zudem war die Sendung selbst als Gespräch konzipiert. Das Sprechen des Gedichts als Gespräch bedeutet die Wahrnehmung und Aufnahme des Anderen als Anderes; es muß dessen Eigenstes erkennen - und führt andererseits durch eben diese Differenz zur Selbsterkenntnis, ermöglicht die Freisetzung. In diesem Modell der Selbsterkenntnis durch das Andere, die des Anderen als >SpiegelPrinzip< als eig. »Urgrund« (arche).

·

I 9 5

' .

353

Zweimal gebraucht Celan den Begriff »Dunkelheit«, zunächst als Vorwurf, dann als Bekenntnis. Das Pascal-Zitat umschreibt (»le manque de clarté«) und rechtfertigt diesen Begriff; es ist integriert in den Text einerseits durch die Vorwegnahme des Vorwurfs, mit dessen Abwehr dann das Zitat einsetzt (»Ne nous reprochez pas...«), andererseits durch dessen Umkehr (»puisque nous en faisons profession«), die ihrerseits zur Gewähr des folgenden Bekenntnisses wird. Celan hat also in seinen Worten das Zitat dekonstruiert und in einen Kontext eigener Rede eingefügt, der es nun als >Beweismittel< dient, ohne daß es eigentlich argumentativ wirksam geworden wäre. Im Gegenteil, es wird suggestiv wirksam gemacht, indem Celan einen emphatischen Einschub voranstellt, der seinerseits das vorher angesprochene Thema »Abgrund« kommentiert (»aber hat sich hier nicht jäh etwas aufgetan?«) und andererseits aus der - vom Hörer wahrnehmbaren - Ferne (»vor einiger Zeit«) und Fremde (ein französisches Zitat vermittelt durch einen russischen Philosophen) jene Begriffe wiederholt, deren Bestimmung zuvor zentraler Gegenstand der Rede gewesen war. Celans Beschreibung und Rechtfertigung der Dunkelheit des Gedichts »um einer Begegnung willen« ist an dieser Stelle inhaltlich abgesichert durch die Begriffe Abgrund und Verstummen, die die Passage umgrenzen. Sie wird jedoch nicht argumentativ getroffen, sondern selbst vollzogen, erlebbar und wahrnehmbar gemacht durch die winzige >Episode< der Begegnung mit eben diesem Fernen und Fremden im doppelten Zitat. 2 ' Was sich hier »jäh aufgetan« hat, ist - weit aus dem Kontext der Rede hinausführend - der Hinweis auf eine umfangreiche Beschäftigung mit dem philosophischen Werk Lev Sestovs, die hier zumindest kurz angedeutet werden soll. Das Werk Sestovs, eines der bedeutendsten russischen Philosophen des 20. Jahrhunderts und herausragenden Vertreters des Existentialismus, der erst nach der Revolution endgültig nach Frankreich emigrierte und dann an der Sorbonne lehrte, hat Celan überaus intensiv studiert. Sechzehn Titel in drei Sprachen sind von Sestov in seiner Bibliothek nachweisbar, zahlreiche Bände davon enthalten umfangreiche Lektürespuren, in ungewöhnlicher Häufung finden sich hier auch explizite Verweise auf eigene Gedichte oder Prosatexte.24 Auffällig ist, daß sich Celan in mehreren Phasen Sestov intensiv zugewandt hat, so zuerst im Herbst 1959 mit der Mehrzahl der russischen und französischen Titel. Anzeichen für eine erneute Beschäftigung mit Sestov sind zu Beginn und Ende des Jahres 1961 zu registrieren, ähnliches läßt sich für die Jahre 1963 und 1967 sagen. Damit fällt diese Beschäftigung mit dem jüdischen Philosophen Sestov - der philosophisch wie weltanschaulich durchaus als Gegenpol zu Hei-

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24

Als weiterer >Kommentar< zu dieser - zweierlei Fremde zitierenden - Passage kann dann auch der im Druckbild abgesetzte Nachsatz gelten: »Aber es gibt vielleicht, und in einer und derselben Richtung, zweierlei Fremde - dicht beieinander.« III, 19$. Vgl. Verz. Nr. 481-497.

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degger und Husserl (mit dem er sein Leben lang polemisierte) betrachtet werden kann - genau in den Kernzeitraum der Beschäftigung mit Russischem, in die Zeit der »jüdischen Krise« Celans und in die Zeit der Entstehung des Gedichtbands Die Niemandsrose. Inwieweit diese Beschäftigung mit den Schriften Sestovs Anteil hatte an Celans geistiger und ästhetischer Entwicklung - Sestov prägte neben anderen ganz wesentlich die utopische Richtung in der f ü r Rußland so bedeutenden ästhetischen Philosophie - kann gegenwärtig noch nicht abgeschätzt werden. Eine solche Untersuchung müßte weniger am Kontext einer auf die russische Literatur bezogenen Fragestellung orientiert sein, als sie prinzipiell Celans philosophische Studien einer kritischen Analyse zu unterziehen hätte. 2 ' Nicht zufällig wird an dieser Stelle aus dem russischen Kontext heraus zitiert, das Wort eines der dunkelsten Denker des Abendlandes auf französisch eingebracht. Das Zitat ist keineswegs so »jäh« und »unvermittelt« aufgetaucht und so beiläufig angeführt worden, wie es den Anschein hat. Es besitzt im Gegenteil ganz offensichtlich einen ebenso herausragenden Status wie beispielsweise das oben besprochene Cvetaeva-Motto. Ahnlich wie jenes ist eben dieser Satz in mehreren Werken Sestovs, die sich in Celans Bibliothek befanden, annotiert worden. Ahnlich wie jenes, stimmt auch dieses nicht völlig mit dem Original überein. Das Zitat entstammt dem Werk Na vesach lova (Auf Hiobs Waage) und findet sich im Kapitel Getsimanskaja noe'. Filosofija Paskalja (Die Nacht zu Gethsemane. Die Philosophie Pascals),16 es ist jedoch von Celan vermutlich zunächst aufgefunden worden in der französischen Ausgabe eines anderen Werks Sestovs, dem 1923 auf französisch erschienenen Band: Les révélations de la mort. Dostoïevski - Tolstoi.27 Hier wird es nicht dem Kontext entnommen, in dem es ursprünglich gesprochen worden war, sondern es tritt Celan wohl erstmals im Vorwort des Ubersetzers Boris de Schloezer vor Augen:

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17

Die Bestände philosophischer Werke in Celans Bibliothek sind beachtlich und zeugen von intensiver Lektüre. Wenngleich der Schwerpunkt deutlich bei den Schriften Heideggers und Husserls liegt, so sind doch in diesem Bereich dringend Differenzierungen und Neubewertungen erforderlich, wie die aus dieser philosophischen Auseinandersetzung heraus begründete Dimension seiner Poetik und Dichtung überhaupt noch nicht einmal ansatzweise erfaßt zu sein scheint. Vgl. Lev Sestov: Na vesach lova. Stranstvovanija po dusam (Auf Hiobs Waage. Wanderungen durch die Seelen). Paris 1929 (Verz. Nr.483); Leo Schestow: Auf Hiobs Waage. Uber die Quellen der ewigen Wahrheiten. Autorisierte Übertragung aus dem Russischen von Hans Ruoff und Reinhold von Walter. Berlin 1929 (Verz. Nr.485). Vgl. Léon Chestov: Les révélations de la mon. Dostoievsky - Tolstoi. Préface et traduction de Boris de Schloezer. Paris 1923 (Verz. Nr. 492). Vielleicht hat der französische Philosph E. Cioran selbst Celan auf diese Werk aufmerksam gemacht, mit dem er Ende der vierziger Jahre bekannt und dessen Ubersetzer er wurde; Celan blieb mit ihm bis zu seinem Tod in Kontakt. Cioran hatte als Lektor beim Pariser Verlag Plön die Offenbarungen des Todes neu herausgegeben. 355

Qu'on ne nous reproche pas le manque de clarté, parce que nous en faisons notre profession.

Die vermutlich späteren Anstreichungen in zwei weiteren Bänden variieren ebenfalls im Wortlaut; sie tragen zusätzlich die Notiz »Meridian-Zitat«. In der deutschen Ausgabe von Auf Hiobs Waage von 1929 finden sich Zitat und Ubersetzung: Qu'on ne nous reproche pas le manque de clarté, car nous en faisons profession. Man werfe uns nicht Mangel an Klarheit vor, denn wir machen ihn uns zur Profession. 28

Und schließlich ist in einer 1967 in Paris ebenfalls auf französisch erschienenen Ausgabe von »Le pouvoir des clefs (potestas clavium)« das Zitat in einer erneuten Variante angestrichen worden: Qu'on ne nous reproche donc plus le manque de clarté, puisque nous en fuisons profession.

Zwei weitere Sestov-Ausgaben, die das Pascal-Zitat ebenfalls enthalten, weisen an dieser Stelle keine Annotationen auf; gerade die russische Ausgabe Na vesach lova, die vor der Büchner-Preis-Rede erworben wurde und Lektürespuren aus der Zeit danach aufweist, ist an der entscheidenden Stelle nicht einmal aufgeschnitten worden. Diese Beobachtungen erschweren nur die akribischen Untersuchungen, mit denen bereits David Brierley Ursprung und Qualität der Abweichung in der Zitierweise auf der Spur war.29 Eine verbindliche Fassung des Zitats, demgegenüber Celans Modifikation eindeutig markiert wäre, läßt sich nicht bestimmen. Festhalten läßt sich hier lediglich, daß die russische Originalausgabe wohl keinen Einfluß auf das Zitieren hatte; darüberhinaus ist zu vermuten, daß die >Begegnung< mit dem Wort Pascals eine kontextisolierte war, da dieses eben selbst zunächst als zitiertes Zitat (im Vorwort Boris de Schloezers) gefunden wurde und dann erst die Kontexte rekonstruiert werden konnten, sowohl innerhalb des von §estov Gesagten wie innerhalb der »Pensées«. Insofern liegt dem hier beschriebenen Vorgang eines »jähen Sich-Auftuns« vielleicht eine weitaus authentischere Erfahrung zugrunde, als dies den Anschein haben mag; die >Inszenierung< der Begegnung mit dem dunkel bleibenden Wort über die Dunkelheit und die Art ihrer Integration in den eigenen Redekontext gewinnt dagegen umso mehr an Bedeutung. Analog zur Begegnung, deren eigentliche

28 29

L. Schestow: Auf Hiobs Waage. (Verz. Nr.485). Vgl. seine genaue Darstellung von Quellen und Kontexten bei Pascal und Sestov, sowie den Hinweis auf Heideggers Unterscheidung von >Angst< und >Furcht< an dieser Stelle. David Brierley: Der Meridian. Ein Versuch zur Poetik und Dichtung Paul Celans. Frankfurt a.M., Berlin, N e w York, Nancy 1984, S. 1 4 6 - 1 5 5.

356

Qualität der Umschlag in die Selbstbegegnung ist, wird hier die professionelle Dunkelheit als Profession vorgeführt: Es ist eine selbstentworfene

Dunkelheit.

Dunkelheit ist das Zeichen jener Ferne oder Fremde, jener Begegnung, die das Ich erkennen hilft und zugleich des Anderen teilhaftig, eingedenk bleibt. Wenn Abgrund in der Terminologie Heideggers die Abwesenheit des Grundes meint, dann ist hier Dunkelheit die Abwesenheit des Anderen, der Ort, an dem die Begegnung stattgefunden hat, der Ort, an dem das Ich freigesetzt wurde, der O r t des Gedichts.

c) Ästhetik der Utopie Der Begriff der Utopie, der sich, wie vieles andere in dieser Rede, gegen ihr Ende hin »jäh auftut«, erscheint ebenfalls zunächst in fremdem Licht, als »Utopie«. Anders als dem durch Sestov vermittelten Wort Pascals, ist diesem Begriff innerhalb der wissenschaftlichen Auseinandersetzung vor allem von der philosophischen Seite her einige Aufmerksamkeit gewidmet worden, ohne daß seine Herkunft und damit auch seine vielleicht ursprüngliche Konzeption eigentlich hätte geklärt werden können. Ich möchte die bisherigen Überlegungen zu diesem Punkt, die von Martin Buber 3 0 bis zu O t t o Pöggelers kritischer Auseinandersetzung mit der Toposforschung reichen, 3 ' hier lediglich ergänzen um einige wenige Aspekte, die vielleicht neben den schon bekannten vom Russischen her auch Relevanz besitzen. Bevor die Utopie erscheint, wird in der Rede mehrfach nach dem O r t des Gedichts gefragt. U-topie in der trennenden Schreibweise negiert demnach im Nennen diesen Ort, erweist ihn als den Ort des Unmöglichen, nicht Erreichbaren. Ganz am Ende der Rede wird die Utopie noch einmal beschrieben: ».. auch im Lichte der Utopie, unternehme ich jetzt Toposforschung: ..ich suche den O r t meiner eigenen Herkunft...«. Celan versteht die Begriffe »Utopie« und »Toposforschung« wörtlich, topographisch (er sucht auf einer »Kinderlandkarte«), er bestätigt von hier aus - mit scheinbarer Evidenz - die Negation: 30

31

Vgl. Martin Buber: Pfade in Utopia. Heidelberg 1950; wieder u.d.T. »Der utopische Sozialismus« in: Martin Buber: Werke. Erster Band. München und Heidelberg 1963, S.8j3ff. D. Brierley verweist in seiner Gesamt-Analyse des Meridian auf Otto Pöggelers Kritik an der Curtius'schen Bestimmung der Toposforschung, der jener eine von Heidegger her begründete »Topologie« entgegenstellt: »In ihrer Wahrheit ist die Toposforschung Topologie, d.h. eine Art Orstbestimmung und Ortssuche, ein Sagen (legein) des jeweiligen Ortes (topos) des Weges eines unverfügbaren Wahrheitsgeschehens, ein Sagen des Ortes mittels einer Stellenlese, einer Sammlung (logos) der wesentlichen Leitworte des Sprechens (topoi).« Zitiert nach D. Brierley: Der Meridian, S. 240. Von hier aus gewinnt auch die Raumkonstitution in den Gedichten der Niemandsrose eine vertiefte Dimension. 357

»Keiner dieser Orte ist zu finden«. Er entspricht damit den Negationsverfahren des späteren Gedichtbands Die Niemandsrose;

dieser erscheint drei Jahre nach

der Preisverleihung, die wichtigen Gedichte des vierten Zyklus, die jene oben angesprochene Raumkonzeption entwerfen, schreiben sich von diesem U topos her. Umso mehr sind sie dann als Verwirklichung dessen zu lesen, was Celan in der Rede schließlich gefunden hat: als

Meridian.

Bevor Celan aber dieses lange Zeit wirksame Modell des Gedichts als Spannungsbogen von Bewegung und Berührung, Ausgang und Heimkehr, leerer, wandernder und zugleich verbindender Mitte gültig formuliert hat, wird das Gedicht, dennoch und gleichsam in Korrelation dazu geortet als »der Ort, wo alle Tropen und Metaphern ad absurdum geführt werden wollen«. Der Begriff des Absurden läßt hier noch einmal auch die Schlußpassagen aus der Mandel'stam-Sendung anklingen, jenen »Ausbruch aus der Kontingenz: durch das Lachen. 32 Durch jenes, uns bekannte, >unsinnige< Lachen des Dichters - durch das Absurde. Und auf dem Weg dorthin hat das Erscheinende - die Menschen sind abwesend - geantwortet: die Roßhaardecke hat gesungen.« Abwesenheit kennzeichnete auch das absurde, das befreiende Wort Luciles. Das »uns bekannte Lachen« bedeutet hier, wir kennen seine Herkunft aus dem Fremden, der Befremdung. Unsinnig ist, ebenfalls, eine Erscheinungsform des Absurden. »Unsinnig« (russisch »bez-umnyj«), kennzeichnet jedoch seit Jahrhunderten die Dichter, die gegen die Evidenz von Geschichte und Realität in letzter Hoffnung ihr Wort als Gegenwort konzipiert haben. Zu ihnen gehören Chlebnikov und Mandel'stam, zu ihnen gehören auch Hölderlin und Celan. Steht demnach der Begriff der Utopie im Zusammenhang mit jenem Unsinnigen, jenem Aussichtslosen, jener letzten - erlösenden - Hoffnung auf einen Ausbruch aus der Kontingenz? Und läßt sich von hier aus seine Verwandtschaft mit dem Begriff der Revolution verstehen? Ausserordentlich typisch und charakteristisch ist die Beständigkeit der utopischen Konzeption im russischen Denken. Neben dem revolutionären Utopismus lebte und lebt in den russischen Menschen die ästhetische Utopie, deren Wesen in der magischen Konzeption der Erlösung besteht.33 Vasilij Zen'kovskij hat hier innerhalb eines kurzen Abrisses Zur Geschichte ästhetischen 32

33

Ideen

in Rußland

der

wesentliche Grundzüge eines spezifisch russi-

Ganz leise Ansätze zu diesem Lachen des Unsinnigen finden sich m.E. in den am Schluß auftretenden Bemerkungen Celans über die »unsichtbar zugelächelten Anführungszeichen« sowie den Einschub »heitererweise«. V. Zen'kovskij: Aus der Geschichte der ästhetischen Ideen in Rußland im 19. und 20. Jahrhundert. 's-Gravenhage 19 58. (= Musagetes. Contributions to the History of Slavic Literatur and Culture VII), S. 51. Dieser Band befand sich in der Bibliothek Celans (Verz. Nr. 506); ebenso besaß er die russische Originalausgabe von Zen'kovskijs Geschichte der russischen Philosophie (V.V. Zenkovskij: Istorija russkoj filosofii. Tom I u. II. Paris 1948-1950; Verz. Nr. 503-504).

358

sehen Utopismus gezeichnet, der mir nicht nur bezeichnend für Celans poetische Suche generell zu sein scheint; Celan hat, das verdeutlichen noch einmal die in seiner Bibliothek erhaltenen Werke, eben diese Frage wohl zum Zentrum seiner Auseinandersetzung mit russischer Literatur (und Philosophie) gemacht. Der revolutionäre« Utopismus bestimmte das russische Geistesleben spätestens seit Anfang des 19 Jahrhunderts; er hat schließlich nicht nur zum phänomenalen Umsturz der historischen Ordnung geführt, er hat auch auf die Entwicklung der russischen Literatur schwerwiegenden Einfluß gehabt, man denke nur an Dostoevskij. Andererseits hat sich, in Verbindung damit und gleichsam als sein Gegenstück, ein ästhetischer Utopismus entwickelt, der auf das »Wunder«, die »Befreiung« und die »Erlösung durch das Schöne« (Dostoevskij) setzte. Solcher Utopie teilhaftig waren zu Beginn des 2o.Jahrhunderts vor allem die russischen Symbolisten, wobei sich die Philosophen unter ihnen von den Dichtern gerade in der Deutung der Funktion des Symbols stark unterschieden. Der sich selbst bespiegelnde Asthetizismus Brjusovs Byt' mozet, vsë ν zizni lis' sredstvo Dlja jarko pevucich stichov (Vielleicht ist alles im Leben nur Mittel für kraftvoll melodische Verse) steht im Gegensatz zur religiösen Intention Vj.Ivanovs, Vl.Solov'evs, N . Berdjaevs, S. Bulgakovs; nicht zufällig hat Celan gerade die Werke dieser Philosophen in seiner Bibliothek versammelt, während er den Dichtern des russischen Symbolismus - mit Ausnahme Bloks - eigentlich kaum Aufmerksamkeit widmete. Bei all den nicht unbedeutenden Unterschieden in den Positionen dieser gleichermaßen auf das Ästhetische wie das Religiöse konzentrierten Denker, läßt sich feststellen, daß diese eine erkenntnishafte und eine theurgische Funktion der Kunst »im Sinne der Umwandlung der Wirklichkeit« voraussetzen. Der reine Asthetizismus bleibe an der Schwelle der Offenbarung stehen; die »magische Konzeption der Erlösung« bestünde aber gerade in der Möglichkeit einer Umgestaltung, Verwandlung der Wirklichkeit. Die Philosophen des russischen Symbolismus konnten, so Zen'kovskij, mit diesem >Thema< schließlich »nicht fertig werden«, eben weil sie sich auf die Idee von der theurgischen Funktion der Kunst (Solov'ev) eingelassen hatten. 34 Es bleibt noch ungeklärt, 54

Daß diese Idee schließlich kunstzersetzend wirkte, zeigt sich, so Zen'kovskij, am deutlichsten bei A. Blok. Ein »tragischer Bruch« in seinem Selbstbewußtsein sei unvermeidlich gewesen: »Die Tragödie der Symbolisten besteht darin, daß sie nicht Heilige werden konnten und Künstler zu bleiben wünschten...Sie waren Propheten und wünschten Dichter zu sein.« Zen'kovskij, S. 49. Vgl. entsprechend dazu auch bei Sergej Esenin die Formulierung »Tak govorit po biblii/ Prorok Esenin Sergej.« (So spricht, nach der Bibel, der Prophet Sergej Esenin) zu Beginn seines Gedichts Inonija. 35 9

inwieweit der radikale Aufbruch und Umbruch, der neben den politischen Umwandlungen sich gerade im Bereich der Avantgarde - allen voran der Futurismus - vollzog, in der Intention auf eine Umgestaltung der Wirklichkeit sich letztlich auch auf jenen ursprünglichen und, so Zen'kovskij, dem Russischen wesensmäßigen Utopismus gründete. Bei Celan geschieht nun, so scheint es, eine umfangreiche Vermittlung solcher, letztlich auf die Erkenntnis des Religiösen gerichteten Vorstellung von Kunst mit bestimmten sozial-revolutionären Utopien, die ebenfalls in Verbindung mit Russischem gesehen werden müssen. In den Einzeluntersuchungen zu Celans Begegnung mit einzelnen Vertretern russischer Literatur wurde ganz deutlich, daß der Schwerpunkt seines Interesses bei jenen Autoren lag, die existentiell mit dem Phänomen der Revolution konfrontiert waren und die sich ästhetisch damit auseinandersetzten. Celan nähert sich nicht Majakovskij als »Einpauker der Revolution«, er nähert sich Blok, wo jener der revolutionären Utopie die der Religion entgegensetzt; er setzt sich mit Pasternak auseinander, wo dieser die Sprache des Dichters mit dem historischen Geschehen in Konflikt geraten sieht, und erkennt in der »Hohen Krankheit« jenen Wahn, der bestimmendes Motiv seines Spätwerks wird; er nähert sich MandePstam, wo jener >Weltkultur< als Intention des Gedichts setzt und damit unendlich >wahr< wird. Celan nähert sich schließlich Cvetaeva, deren Diktum für ihn zum Leitgestirn wird: Das Bekenntnis zum jüdischen Schicksal als Berufung zum Dichter ist per definitionem u-topisch, es trägt den Gedanken einer Erlösung schon in sich. Erlösung aber bedeutet für Celan in der Büchner-Preis-Rede aus der Begegnung mit dem Fremden Freisetzung und Heimkehr, die Befreiung vom Fluch der Geschichte und die Rückkehr an den Ort seiner Herkunft, in die Geborgenheit - die absolute Utopie. Utopie ist die Möglichkeit des Anderen, seine Antizipation ist Gegenentwurf. In solchem Sinne findet Celan aus der Begegnung mit Mandel'stam und aus der Begegnung mit einer ganzen Reihe anderer russischer Autoren die Utopie in der Konzeption eines Gegenentwurfs, wie er gerade bei dem >Bauerndichter< Esenin in der Ubersetzung des utopischen Gedichts Inonija von beiden Seiten her begründet wurde; dieser hat zugleich Anteil an einem Konzept subjektiver - und damit auch künstlerischer - Autonomie, die hier unbedingt mitgedacht werden muß.35 Und schließlich gebraucht Celan den Begriff der Utopie auch im Bezug auf Velimir Chlebnikov. In der Mandel'stam-Sendung nennt er ihn den »große[n] Utopiker der Sprache«,36 im Klappentext zur Esenin-Ausgabe ist ein Jahr später von den »grandiosen Sprachträumen Chlebnikovs« die Sprache. Wenn man 35

36

Die Übersetzung entstand, das soll hier noch einmal betont werden, in unmittelbarer Nähe zur Konzeption der Büchner-Preis-Rede; vgl. oben Kap. III, ι. P. Celan: Die Dichtung Ossip Mandelstamms, S. 70.

360

beobachtet, wie - und unter welchen Vorzeichen! - Celan selbst in den letzten Gedichten der Niemandsrose vom Meridian her um eine solche Konstitution bemüht war, dann wird einmal mehr deutlich, welches Gewicht auf der Idee der U-topie als Gegenentwurf, als Entwurf nicht eines Dys-topos, sondern eines Eu-topos lasten mußte. Nicht überlesen werden sollte abschließend (und im Blick auf das von Zen'kovskij Notierte) die bezeichnende Wendung im Klappentext zu Celans Esenin-Ubertragungen, die bereits oben zitiert wurde. Die Erwähnung der »dem Russischen so eigentümlichen sozialen und religiösen Utopien« deutet nicht nur auf eine intime Kenntnis der historischen und geistesgeschichtlichen Hintergründe. Er formuliert abschließend auch eben jene Qualität, die - aus innerer Verwandtschaft und gemeinsamer historischer Erfahrung wie persönlichem Leid - Celans Neigung zu Rußland bestimmte und eine jahrelange, intensive Auseinandersetzung mit der Dichtung eben jener Epoche begründete, in welcher deren utopischer Charakter gleichermaßen von verzweifelter Hoffnung und tragischem Untergang gezeichnet war, und die dennoch - oder eben deshalb - ein Höchstes an Dichtung hervorgebracht hat.

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