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German Pages 181 [184] Year 1976
Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft
Herausgegeben von Klaus Baumgärtner und Peter von Matt
Manfred Hardt
Poetik und Semiotik Das Zeichensystem der Dichtung
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1976
Herausgebet für Sprachwissenschaft Klaus Baumgärtner (Universität S t u t t g a r t ) Herausgeber für Literaturwissenschaft Peter von Matt (Universität Zürich)
C I P - K u r z t i t e l a u f n a h m e der Deutschen Bibliothek Hardt , Manfred Poetik und Semiotik : d. Zeichensystem d. Dichtung. - 1. Aufl. - Tübingen : Niemeyer, 1976. ( K o n z e p t e der Sprach- u n d Literaturwissenschaft ; 20) ISBN 3-484-22019-8
ISBN 3-484-22019-8 ©
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1 9 7 6 Alle R e c h t e vorbehalten. O h n e ausdrückliche G e n e h m i g u n g des Verlages ist es a u c h nicht g e s t a t t e t , dieses Buch oder Teile d a r a u s auf p h o t o m e c h a n i s c h e m Wege zu vervielfältigen. Printed in G e r m a n y . Satz: Papierhaus Mack Grafischer Betrieb Schönaich
INHALT
Vorwort I.
VII
POETIK, LINGUISTIK, SEMIOTIK 1. Poetik und Linguistik 2. Für eine semiotische Konzeption des poetischen Textes
II.
1 19
DAS ZEICHENSYSTEM DER DICHTUNG 1. Gedichte: Zeichen über Zeichen 2. Ein Autounfall und seine Folgen. Über die Wirkung außersprachlicher Poetizitätssignale 3. Queneau und Brecht. Experimente mit Poetizität
III.
35 55 61
DIE ZEICHENEBENE DER PERSONEN U N D HANDLUNGEN 1. Formalistische und strukturalistische Beschreibungsversuche von Prosatexten. Eine Grammatik der Erzählung? 2. Ein hierarchisches Prosamodell
IV.
D A N T E . ZEICHEN U N D STRATEGIEN 1. Zahlenpoetik als Textstrategie 2. Korrigierende Kodes und der „Spielraum" der Interpretation
V.
65 82
. . . .
91 112
MALLARME ODER DIE VERZWEIFELTE PRAXIS DER LEKTÜRE 1. Zur Rezeption des späten Mallarmé 2. Sprache und Dichtung bei Mallarmé 3. Die „verzweifelte" Praxis der Lektüre
VI.
VII.
117 123 129
BECKETT - EIN MISSVERSTÄNDNIS 1. Sprache der Lyrik - Sprache des Romans 2. Zur Rezeption Becketts 3. Becketts Prosa als Kunstsprache
135 139 144
SCHLUSSBETRACHTUNG
157
Literaturhinweise
163
Index
169
v
VORWORT
Das vorliegende Buch will einführen in den spezifischen modus significandi der Dichtung. Es möchte zum Nachdenken darüber anregen, aus welcher Sprache und wie jene Art von Literatur gemacht ist, die wir Dichtung nennen und die eine extreme und zugleich vollkommenste Weise menschlichen Sprechens darstellt. Es möchte Aufmerksamkeit dafür wecken, daß Dichtung in einer besonderen Sprache spricht, die eine Sprache „über" bzw. „unter" der normalen Sprache gesellschaftlicher Kommunikation ist und deren besonderer Weise des Signifizierens eine besondere Weise des Rezipierens entsprechen muß. Die Besinnung auf die spezifischen Zeichenverhältnisse dessen, was man gemeinhin „dichterische Sprache" zu nennen pflegt, sollte Ausgangspunkt und Basis allen literaturwissenschaftlichen und insbesondere poetologischen Arbeitens sein. Gleichviel unter welchem Aspekt man Dichtung zu lesen und welche Fragestellungen man an sie heranzutragen geneigt ist — nur die Reflexion über den spezifischen Charakter der in der Dichtung verwendeten Kunstsprachen vermag dafür Gewähr zu bieten, daß die Interpretation des poetischen Textes dessen besonderem modus significandi adäquat ist. Dichtung kann nur interpretieren, wer ihre Sprache versteht — die Erfahrung zeigt indes, daß in diesem zentralen Punkt sowohl in der Sprachwissenschaft wie auch in der Literaturwissenschaft Mißverständnisse bestehen. Die Feststellung vom „translinguistischen" Status des dichterischen Textes impliziert, daß die Beschreibung und Analyse von Dichtung und der durch sie ausgelösten spezifischen Kommunikationsprozesse nicht auf der Basis einer an der Normalsprache orientierten Linguistik, sondern auf der Basis einer für alle sprachlichen wie außersprachlichen Zeichen zuständigen „Translinguistik" durchzuführen ist. Als eine solche Translinguistik kann die Semiotik verstanden werden. Dabei hat man allerdings zu berücksichtigen, daß die Semiotik als eine erst entstehende Wissenschaft z.Z. noch nach konkreten Abgrenzungen und nach ihrem Selbstverständnis sucht. Die auf dem „Ersten Kongress der Internationalen Vereinigung Semiotischer Studien" im Sommer vergangenen Jahres in Mailand aufgeworfene Frage: „Ist die Semiotik gleich einem Vampir, der aus den anderen Wissenschaften sein Blut saugt, oder aber liefert VII
die Semiotik anderen Disziplinen Grundlagen und erfüllt somit eine übergreifende, integrative Funktion?" (vgl. den Bericht von R.Bielefeld in ZGL 2, 1974, S. 343—357) ist kennzeichnend für die augenblickliche Lage dieser Wissenschaft. Dennoch zeichnet sich m.E. schon jetzt ab, daß der semiotische Blickpunkt sehr wohl eine integrierende, literaturwissenschaftliches Arbeiten und insbesondere die Interpretation von Dichtung verfeinernde und vertiefende Funktion haben kann. Die Semiotik — so unfertig und in ihrem Selbstverständnis schwankend sie im Augenblick erscheinen mag — gibt m.E. gerade für das Verstehen von Dichtung eine wesentlich breitere und solidere Basis ab als Linguistik bzw. Textlinguistik einerseits und konventionelle Literaturwissenschaft andrerseits. Die folgenden Kapitel versuchen, diese Annahme zu rechtfertigen und zu belegen. Sie möchten einige Elemente zu einer angewandten, deskriptiven Semiotik des poetischen Textes beisteuern. Das Buch ist vor allem als Einführung in den skizzierten Fragenkreis gedacht. Es wendet sich in erster Linie an Studierende der Literaturwissenschaft sowie an ein breiteres Publikum interessierter Leser von Dichtung. Aus diesem Grund wurde versucht, die Darstellung sowohl in ihrem Gesamtumfang wie auch in den einzelnen Teilen möglichst knapp und überschaubar zu halten und nach Möglichkeit textbezogen vorzugehen. Daß es dennoch nicht ganz ohne Theorie abging, liegt in der Natur der Sache. Eine gewisse Anstrengung wird auch insofern dem Leser abverlangt, als im folgenden nicht nur die Zeichen eines einzelnen Textes, sondern auch der von Text zu Text sichtbar werdende Spielraum oft extrem unterschiedlicher Zeichenverhältnisse beleuchtet werden soll. Aus diesem Bestreben erklärt sich der auf den ersten Blick heterogene Charakter der Darstellung, die bewußt Texte verschiedener Gattungen und Epochen einbezieht. Der eilige Leser mag den überwiegend theoretischen ersten Teil des ersten Kapitels (I, 1) überfliegen und das schwierigere Dante-Kapitel (III), das auch einige Kenntnisse des Italienischen voraussetzt, evtl. auslassen. Der Fachmann wird leicht erkennen, an welchen Stellen ich vereinfacht bzw. Detailfragen ausgeklammert habe. Sekundärliteratur wurde prinzipiell nur in begrenztem Maße mit einbezogen. Nicht Vollständigkeit, sondern Klarstellung im Grundsätzlichen war mein Anliegen. Freiburg i. Br„ Juli — August 1975
VIII
Manfred Hardt
I. POETIK, LINGUISTIK, SEMIOTIK
1. Poetik und Linguistik Auf den ersten Blick mag es so scheinen, als kämen für das Verhältnis von Sprache und Dichtung „nur drei Möglichkeiten in Betracht: 1. Dichtung ist Sprache, d.h. was wir Dichtung nennen, liegt vollständig innerhalb der Klasse von Erscheinungen, die wir Sprache nennen und ist eine Subklasse dieser Klasse. Damit liegt Dichtung innerhalb des eigentlichen Gebietes der Linguistik. 2. Dichtung ist nicht Sprache, sondern Kunst, d.h. nichts von dem, was wir als Dichtung bezeichnen, ist Sprache. Was wir unter Dichtung verstehen liegt daher eher innerhalb der Klasse von Erscheinungen, die wir Kunst nennen und ist eine Subklasse dieser Klasse. Dichtung liegt somit außerhalb des eigentlichen Bereichs der Linguistik. 3. Dichtung ist das Zusammenwirken von Sprache und Kunst; d.h. es gibt bestimmte Erscheinungen, die gleichzeitig Angehörige der von uns als Sprache und Kunst bezeichneten Klassen sind. Gerade diese doppelte Mitgliedschaft ist kennzeichnend für Dichtung". 1 Obwohl mit dem letzten Satz angedeutet wird, daß die Struktur der Dichtung durch sprachliche und außersprachliche (übersprachliche) Elemente bestimmt wird (es bleibt offen, was unter der Klasse , JCunst" zu verstehen ist), schlägt S.Saporta, dem wir die oben zitierte Dreigliederung verdanken, hinsichtlich der Kompetenz der Linguistik für den Bereich der Dichtung folgende, überraschende Grundthese vor: „Die Anwendung der Linguistik auf die Dichtung hat von der Annahme auszugehen, daß Dichtung Sprache ist, und alles unbe1
Vgl. Sol Saporta, Die Bedeutung der Linguistik beim Studium dichterischer Sprache, in: J.Ihwe, Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven, Frankfurt 1971/72, S. 697-712; das Zitat S. 698 (wir zitieren dieses dreibändige Sammelwerk im folgenden stets mit der durchlaufenden Paginierung). Das englische Original „The application of linguistics to the study of poetic language" erschien in Th. A. Sebeok (Hg.), Style in language, Cambridge (Mass.) I960, S. 8 2 - 9 3 .
1
rücksichtigt gelassen werden kann, was Dichtung sonst noch sein könnte". 2 Damit wird freilich all das unterschlagen, was am dichterischen Werk künstlerischer Natur ist. Der Gedanke, daß dies gerade der wichtigere Teil, das eigentliche Speziflkum der Dichtung sein könnte, wird von Saporta ebensowenig angesprochen wie die Frage, ob überhaupt bei der Analyse von Dichtung eine sprachliche von einer künstlerischen Struktur zu trennen ist, ohne das Analyseobjekt grundsätzlich zu verfälschen. Der Grund für die „Vereinfachung" des Analyseobjekts liegt in diesem Falle nicht etwa in dem Bestreben, diesem möglichst gerecht zu werden, sondern ausschließlich in den Kompetenzschranken der Linguistik, denn, so Saporta: „Der Linguist kann sich mit der Dichtung als Kunst nicht auseinandersetzen, ohne seine Position als Linguist preiszugeben; er kann nur Dichtung als Sprache studieren". 3 Und weiter folgert Saporta in auffallender Widersprüchlichkeit: „Er muß sich deshalb für Fall (1) [s.o.!] entscheiden, wenn er auch letzten Endes diesen verwerfen wird, weil er in gewisser Hinsicht inadäquat ist". 4 Innerhalb dieses eingeengten Rahmens, Dichtung nur als Sprache, nicht aber als Kunst zu betrachten, schrumpft denn auch konsequent die „linguistische Analyse von Dichtung" zusammen zu einer „linguistischen Stilbetrachtung", die sich auf die oben zitierte Annahme (1) gründet. 5 Die linguistische Stilanalyse konzipiert Saporta nach dem bekannten Prinzip der Abweichungsstilistik, die die Sprache der Dichtung als Abweichung von einer grammatischen Norm zu beschreiben versucht. Saporta, der in diesem Zusammenhang auch auf N.Chomskys „Grammatikalitätsstufen" verweist, 6 kennt grundsätzlich zwei Formen der Abweichung von der Norm: „die Eliminierung bestimmter Restriktionen und die Einführung neuer". 7 Das heißt, Dichtung kann einmal die Regeln der normalen Grammatik verletzen, und je nach dem Maße, in dem dies geschieht, könnte man von Grammatikalitätsgraden sprechen. Der zweite Fall der Normabweichung liegt in der Einführung neuer Regeln, „die über die allgemeine Grammatik hinausgehen", 8 wie z.B. der Reim in der metrisch gebundenen Sprache. Zur Angemessenheit der linguistischen Analyse stellt Saporta grundsätzlich fest: „eine linguistische Beschreibung ist in dem Maße adäquat, wie sie grammatische Sätze vorhersagen kann, die über jene des Korpus hinausgehen, das der Beschreibung zugrundegelegt wird . . . Das Ergebnis einer linguistischen Analyse bildet mit anderen Worten eine Grammatik, die noch nicht beobachtete (sowie beobachtete) Äußerungen erzeugt. Ziel der Stilanalyse dürfte eine Typologie sein, die die Merkmale anzeigt, die einer bestimmten Klasse von Mitteilungen gemeinsam sind . . . ". 9 2 3 4
I.e., S. 711. Vgl. I.e. S. 698. ib., S. 698/699.
2
5 6 7
S. 699. S. 700. S. 712.
8 9
S. 710. S. 702f.
Auch S. Chatman und S.R. Levin gehen in ihrem Lexikon-Artikel „Linguistik und Poetik" von der gleichen grundsätzlichen Frage nach dem Verhältnis von sprachlichen und außersprachlichen Strukturmerkmalen der Dichtung aus. 10 Nach ihnen ist zunächst sicherzustellen, „ob andere als rein linguistische Faktoren zu dem besonderen Status des Gedichts beitragen und ferner nach Maßgabe der positiven oder negativen Beantwortung dieser Frage zu entscheiden, ob die Theorien und Techniken der Linguistik, da sie doch für die Arbeit mit der Alltagssprache entwickelt wurden, auch für die linguistische Analyse der Dichtung angemessen sind". 11 Doch geben sie schon bald in Anbetracht der erheblichen Schwierigkeiten, die sich der Beantwortung dieser Frage entgegenstellen, ihre Forderung auf und stellen fest: „Wenn auch die Frage, ob die Wirkung eines Gedichts letztlich ganz aus seiner sprachlichen Komposition heraus geklärt werden kann, von augenscheinlich hoch theoretischem Interesse ist, so kann doch ein gut Teil sehr bedeutender Arbeit auf dem Gebiet der linguistischen Dichtungs-Analyse geleistet werden, ohne abzuwarten, ob und wie diese Frage letztlich gelöst werden wird". 12 Das bedeutet konkret, daß sie die Anwendung der Theorien und Techniken der linguistischen Analyse auf „die rein sprachlichen Aspekte der Dichtung" einschränken. 13 In diesem Rahmen referieren sie im folgenden kurz über (vorwiegend angelsächsische) Arbeiten zur Abweichungsstilistik, über textlinguistische Ansätze (Harris) sowie über Ansätze der generativen Transformationsgrammatik zur Analyse von Dichtung. 14 Dabei wird die Metrik als „eines der signifikan-
10 Vgl. S. Chatman und S. R. Levin, „Linguistik und Poetik", in: Ihwe, Literaturwissenschaft, S. 4 4 5 - 4 6 1 . Das Original „Linguistics and poetics" erschien in: A. Preminger (Hg.), Encyclopedia of Poetry and Poetics, Princeton, N.J., 1965, S. 4 5 0 - 4 5 7 . 11 I.e., S. 446. 12 S. 447. 13 S. 448. 14 vgl. S. 448ff. - Die Autoren verweisen einerseits auf „die Verwendung der Grammatik als Standard oder Norm, auf deren Hintergrund erklärt werden könnte, auf welche Art die poetische Sprache unterschieden ist" (S. 448), andrerseits jedoch auch auf die Tatsache, daß die Linguistik für die Analyse satzübergreifender Segmente kaum geeignete Verfahren besitzt: „das Maß für satzimmanente Relationen ist die Grammatikalität, für satzübergreifende Beziehungen Kohärenz; aber linguistische Techniken für die Handhabung der letzteren sind noch wenig entwickelt" (S. 449). Auf die Schwierigkeiten der bisherigen linguistischen Versuche zur Beschreibung satzübergreifender Beziehungen wies u.a. auch Dressler, Einführung in die Textlinguistik, Tübingen 1972, hin, der z.B. S. 71 feststellt: „Da die Satzverknüpfungsrelationen selbst noch kaum untersucht sind, sind alle bisherigen Aussagen über Konjunktionen und andere Konnektoren sehr provisorisch". Sehr provisorisch erscheinen uns aber auch die meisten übrigen in Dresslers Buche referierten Vorschläge zu sein, so
3
testen Gebiete für die Konvergenz von Linguistik und literarischer Analyse" hervorgehoben.15 Für Roman Jakobson dagegen gibt es keine Frage, ob die Linguistik geeignete Analyseverfahren entwickeln kann, um dichterische Texte zu beschreiben. Hinsichtlich der Zuständigkeit der Linguistik für poetische Verfahren in der Dichtung geht Jakobson in seinem berühmt gewordenen Aufsatz über „Linguistik und Poetik" 16 von folgender Basisüberlegung aus: „Poetik hat mit Problemen der sprachlichen Struktur zu tun . . . Da die Linguistik die umfassende Wissenschaft von der Sprachstruktur ist, kann die Poetik als ein wesentlicher Bestandteil der Linguistik angesehen werden". 17 Obwohl Jakobson im gleichen Zusammenhang bemerkt, daß „viele Vorgänge, die von der Poetik untersucht werden, nicht auf die Wortkunst beschränkt sind" und daß „viele Merkmale der Dichtung nicht nur zu der Wissenschaft von der Sprache, sondern zur umfassenden Zeichentheorie, d.h. zur allgemeinen Semiotik gehören", 18 ordnet er im folgenden die Poetik völlig dem Objektbereich der Linguistik zu und versteht dementsprechend die poetische Funktion des dichterischen Textes als eine bereits in der normalen kommunikativen Umgangssprache vorhandene Funktion. Ausgehend von der Tatsache, daß ,jede Sprache mehrere zusammenwirkende Systeme umfaßt, deren jedes durch verschiedene Funktionen gekennzeichnet ist", 19 zählt Jakobson insgesamt sechs „in sprachlicher Kommunikation unabdingbar implizierte Faktoren" auf, nämlich Sender, Empfänger, Nachricht, Kontext, Kontaktmedium und Kode. 20 Diesen sechs Grundfaktoren sprachlicher Kommunikation ordnet Jakobson je eine Funktion zu, und zwar die emotive, konative, poetische, referentielle, phatische und metasprachliche, so daß insgesamt das folgende Grundschema der sprachlichen Faktoren und Funktionen entsteht:21
z.B. die zum Thema „ K o h ä s i o n " (S. 2 0 f f . ) sowie zur Frage von Texterwartung, Textanfang, Textschluß (S. 55ff.). Dressler bringt in der Regel einfachste, normalsprachliche Textbeispiele; die komplizierteren Zeichenverhältnisse poetischer Texte sind grundsätzlich ausgeklammert. 15 Vgl. S. 451. 16 Vgl. „Linguistics and Poetics", in: Style, ed. Th. A . Sebeok, S. 3 5 0 - 3 7 7 . Wir zitieren nach der deutschen Übersetzung „Linguistik und P o e t i k " in: Ihwe, Literaturwissenschaft, S. 5 1 2 - 5 4 8 . 17 I.e., S. 513. 18 ib. 19 S. 516. 20 Vgl. S. 517. 21 Mit der folgenden Übersicht fassen wir die beiden Schemata Jakobsons auf S. 517 und 522 zusammen.
4
Kontext Referentiell Sender Emotiv
Nachricht Poetisch
Empfänger Konativ
Kontaktmedium Phatisch Kode Metasprachlich
Wie man sieht, wird die poetische Funktion der Sprache in diesem Schema dem Faktor „Nachricht" zugeordnet. Das ist so zu verstehen: „Die Einstellung auf àie Nachricht als solche, die Zentrierung auf die Nachricht um ihrer selbst willen, ist die poetische Funktion der Sprache". 22 Da aber diese Funktion nur eine unter mehreren nicht voneinander zu trennenden Sprachfunktionen ist, muß Jakobson weiter folgern: „Diese Funktion kann nicht mit Gewinn außerhalb der allgemeinen Probleme der Sprache untersucht werden, und es muß — auf der anderen Seite — jede eingehende Untersuchung der Sprache ihre poetische Funktion eingehend berücksichtigen". 23 Jakobson wendet sich in gleicher Weise dagegen, „den Wirkungsbereich der poetischen Funktion auf Dichtung zu reduzieren" wie auch umgekehrt,.Dichtung auf die poetische Funktion zu begrenzen". 24 Zu dem letzteren Gesichtspunkt heißt es ausdrücklich: „Die poetische Funktion ist nicht die einzige Funktion der Wortkunst, sondern nur ihre dominante, determinierende Funktion, während sie in allen anderen Sprachhandlungen eine stützende, nebensächliche Rolle spielt". 25 Zumindest andeutungsweise ist hiermit zugleich ein distinktives Kriterium genannt, mit dem normalsprachliche Produktionen (schriftliche oder mündliche) von Wortkunstwerken geschieden werden könnten: Während die „poetische Funktion" in normalen Sprachhandlungen eine mehr oder weniger „stützende, nebensächliche" Rolle spielt, wird sie in Dichtung aktualisiert zu einer „dominanten, determinierenden" Funktion. In welcher Weise diese Funktion dominiert und determiniert, sagt Jakobson nicht, und vor allem auch nicht, welche weiteren Funktionen neben der poetischen als Konstituenten der Wortkunst anzusehen sind. Im Blick auf das oben reproduzierte Schema der Grundfaktoren und Grundfunktionen der Sprache stellt sich Jakobson nun folgende Frage: „Was ist das empirische linguistische Kriterium für die poetische Funktion?
22 S. 521; Hervorhebungen von Jakobson.
23 ib.
24 ib.
25 ib.
5
Vor allem, welches ist das unentbehrliche, jeder Dichtung inhärente Merkmal?" 26 Zur Beantwortung dieser Frage geht Jakobson zurück auf „zwei Grundordnungsarten, die in sprachlichem [gemeint ist normalsprachlichem] Verhalten gebraucht werden", 2 7 nämlich Selektion und Kombination. „Die Selektion [z.B. eines Wortes aus einer verfügbaren Zahl von Wörtern] vollzieht sich aufgrund von Äquivalenz, Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, Synonymie und Antinomie, während die Kombination, die Herstellung der Sequenz, auf Kontiguität beruht". 2 8 Die Antwort lautet dann: „Die poetische Funktion überträgt das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination. Äquivalenz wird zum konstitutiven Mittel einer Sequenz erhoben". 2 9 Jakobson illustriert diesen Bestimmungsversuch der poetischen Funktion mit einigen Beispielen, von denen eines hier wiedergegeben sei: „Ein Mädchen pflegte immer von „horrible Harry" zu sprechen. „Why horrible?" „Because I hate him". „But why not dreadful, terrible, frightful, disgusting?" „I don't know why, but horrible fits him better". Ohne es zu merken, so kommentiert Jakobson, hielt sie sich an das poetische Mittel der Paronomasie". 30 Wenn wir dieses Beispiel in ein Schema mit den beiden Achsen der Selektion und der Kombination einzeichnen, erhalten wir folgendes Anschauungsbild: 31 Achse der Selektion Paradigma dreadful terrible Prinzip der
frightful
Äquivalenz
disgusting horrible
Harry...
Text, Syntagma ^
Achse der Kombination
Prinzip der Kontiguität 26 27 28 29 30
S. 522. S. 522. S. 523. ib. S. 521. - Paronomasie entspricht der lat. „annominatio" (dafür auch oft „denominatio") und meint „ein (pseudo)-etymologisches Spiel mit der Geringfügigkeit der
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Eine solche Bestimmung von Poetizität fordert m.E. schon auf den ersten Blick eine Reihe von Einwänden heraus. So kann z. B. die Paronomasie ein Mittel der Poetisierung sein; durch den Gebrauch dieser Stilfigur allein wird aber noch lange nicht aus einem Stück gesprochener Umgangssprache ein Text mit poetischer Struktur. Es gibt in der Umgangssprache bekanntlich zahlreiche Bilder, Vergleiche, Metaphern und andere Stilfiguren, ohne daß dadurch die umgangssprachliche Rede zur Dichtung würde. Das zitierte Beispiel wie auch die übrigen von Jakobson angeführten 32 sind Texte ohne poetische Struktur. Darum kann man an ihnen auch nicht „das unentbehrliche, jeder Dichtung inhärente Merkmal" 33 ablesen oder aufzeigen. Nach dem oben abgebildeten Schema lassen sich unzählige Beispiele der Umgangssprache erklären, ohne daß sichtbar würde, was nun diese von Dichtung bzw. Dichtung von diesen unterscheidet. Das liegt wesentlich auch in dem vagen, nicht näher definierten ÄquivalenzBegriff begründet, der als distinktives Kriterium der Poetizitätsbestimmung untauglich ist. Jakobson sagt lediglich: „Äquivalenz wird zum konstitutiven Mittel einer Sequenz erhoben. In der Dichtung wird eine Silbe äquivalent zu jeder anderen Silbe einer Folge; jeder Wortakzent wird einem anderen gleich, ebenso das Fehlen eines Akzents einem Fehlen; prosodische Längen mit prosodischen Längen; Kürzen mit Kürzen; Wortgrenze mit Wortgrenzen, das Fehlen der Grenzen mit deren Fehlen . . . ". 34 Der Äquivalenzbegriff bezieht sich also auf eine Fülle unterschiedlichster, in allen Schichten eines Textes vorkommender Formen der Übereinstimmung. Diese Äquivalenzen aber lassen sich — wie u.a. die Beispiele Jakobsons zeigen, grundsätzlich jedoch an jedem beliebigen Text nachgewiesen werden könnte — in kaum geringerer
lautlichen Änderung einerseits und der interessanten Bedeutungsspanne, die durch die lautliche Änderung hergestellt wird, andererseits", H. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, München 1 9 6 0 , Bd. I, S. 322. 31 Vgl. dazu auch die drei Schemata, die R. Posner zu dem gleichen Beispiel entworfen hat in: Ihwe, Literaturwissenschaft, S. 6 0 6 - 6 0 8 . - Zur Unterscheidung Syntagma Paradigma bzw. syntagmatisch - paradigmatisch vgl. unten S. 74 Anm. 22. 32 Vgl. Ihwe, S . 5 2 1 f f . 33 I.e., 522. Vorwegnehmend sei darauf verwiesen, daß es ,{las unentbehrliche, jeder Dichtung inhärente Merkmal" d.h. ein bestimmtes, in jeder Dichtung vorhandenes Strukturmerkmal, dessen Vorhandensein bereits einen Text zu einer Dichtung machen würde, nicht gibt. Die poetische Wirkung eines Textes beruht von Fall zu Fall auf z. T. weit unterschiedlichen Merkmalen, in aller Regel aber auf einer komplexen Vielfalt von Zeichen und Zuordnungen, deren Funktionen sich in mehreren Ebenen hierarchisch überlagern. Davon wird u.a. im zweiten Kapitel dieses Buches gehandelt werden. 34 Vgl. Ihwe, Literaturwissenschaft, S. 5 2 3 .
7
Zahl auch in nichtdichterischen Texten wie z.B. Zeitungsartikeln, Fachpublikationen usw. feststellen. Audi die Äquivalenz horrible/Harry hat zwar im umgangssprachlichen Sinne unterstreichenden, aber noch lange keinen poetischen Effekt. Jakobsons Modell liefert keine Kriterien dafür, wie poetische Äquivalenzen von nichtpoetischen unterschieden oder wie aus der meist hohen Zahl von Äquivalenzen eines dichterischen Textes die jeweils bedeutsamen aufgefunden werden können. Es erscheint ferner evident, daß es in der Dichtung eine große Zahl von Funktionen gibt, die überhaupt nicht dem Schema der Äquivalenz zugeordnet werden können. 35 Alles in allem ist Jakobsons Bestimmungsversuch, wie sich auch an seinem Schema der sechs Funktonen ablesen läßt, dadurch gekennzeichnet, daß er völlig in der Ebene der Normalsprache (Umgangssprache) verbleibt und das Poetische von der Normalsprache her zu bestimmen versucht. So verbirgt sich hinter dem Begriff „Kontiguität", dem Kriterium der vertikalen Achse in Jakobsons Schema, nichts anderes als der Konnex nach den Regeln normaler Grammatik funktionierender Sätze. Das grammatisch Korrekte und damit die Struktur der natürlichen Sprache bestimmen sein Modell, und mit Recht bemerkt Posner, daß „die Regeln der Grammatik als eine Determinante jeder Formulierung in sein Modell eingehen".36 Regelabweichende syntaktische Sequenzen, die auch Dichtung sein können, sind in diesem Modell unter dem Begriff der Kontiguität nicht unterzubringen.37 Jakobsons Rückgang auf die „Grundordnungsarten, die in sprachlichen Verhalten gebraucht werden" 38 hat zur Folge, daß sein Modell die spezifische Struktur eines sekundären Zeichensystems, in dem sowohl die Zuordnungs- und Verknüpfungsregeln der Zeichen wie auch die Zeichen selbst andere sind als im „normalen" System einer gegebenen Einzelsprache, nicht in den Griff bekommen kann.
35 Vgl. dazu auch die Kritik N. Ruwets an Jakobsons Modell unten S. 13f. Ich kann daher auch der optimistischen Bewertung des Jakobson'schen Äquivalenzbegriffs als Analyseinstrument durch R. Posner keineswegs zustimmen - jedenfalls nicht im Hinblick auf poetische Texte; vgl. Roland Posner, „Strukturalismus in der Gedichtinterpretation. Textdeskription und Rezeptionsanalyse am Beispiel von Baudelaires ,Les chats',", in: Ihwe, Literaturwissenschaft, S. 5 9 4 - 6 3 6 ; hier insbesondere S. 605 - 6 1 5 . Posner stellt selbst zutreffend fest, daß bei einer Analyse auf der Basis der Äquivalenzrelationen „die Zahl der möglichen Untersuchungsgesichtspunkte beinahe unbegrenzt ist" (S. 609). Gerade darin liegt die Untauglichkeit dieses Begriffes zur Bestimmung spezifischer poetischer Funktionen begründet. 36 Posner, I.e., S. 607. 37 Zum Begriff Kontiguität vgl. Posner, I.e. S. 607f. Posner verwendet den Begriff „zur Bezeichnung derjenigen textinternen Relationen . . . , die die Verkettung der Sprachelemente zu grammatisch korrekten Sätzen gewährleisten" (S. 608). 38 Linguistik und Poetik, S. 522.
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Wesentlich realistischer hinsichtlich des Objektbereichs der Linguistik ist die Arbeit von M.Bierwisch über „Linguistik und Poetik". 39 „Der eigentliche Gegenstand der Poetik sind die besonderen Regularitäten, die sich in literarischen Texten niederschlagen und deren spezifische Wirkung bestimmen, und damit letzten Endes die menschliche Fähigkeit, solche Strukturen zu produzieren und ihre Wirkung zu verstehen, also etwas, was man poetische Kompetenz nennen könnte". 4 0 Der folgende, rein theoretische Entwurf eines Beschreibungsmodells der poetischen Strukturen steht auf dem Boden der generativen Sprachtheorie und geht vom Anschauungsbild eines Regelsystems aus, „das als Eingabe ein Startsymbol Satz hat und als Ausgabe der Reihe nach die Sätze der fraglichen Sprache, das die Sätze also in einem der Mathematik üblichen Sinn generiert oder aufzählt".41 Der Erzeugungsmechanismus ist dabei G, das ist die Grammatik der betreffenden Sprache, wobei vorausgesetzt ist, daß „G genau die vollgrammatischen Sätze generiert". 42 Den Grad der Normalität bzw. Abweichung der Sätze von G nennt Bierwisch Grammatikalität. 43 Bierwisch stellt sich nun die Frage, „wie eine Beschreibung poetischer Strukturen mit der Grammatik zu verbinden ist". 44 Zu deren Beantwortung sieht er zwei Möglichkeiten, nämlich 1. „ein poetisches System P' als einen Selektionsmechanismus aufzufassen, der durch G erzeugte SB [Strukturbeschreibungen] als Eingabe nimmt und als Ausgabe zwei Klassen SBi und SB2 hat, von denen SBi die Strukturen enthält, die den poetischen Regeln entsprechen". 45 Bierwisch versteht unter P' eine Art „Entscheidungsalgorithmus, der von jedem Satz oder Satzkomplex feststellt, ob er poetisch ist oder nicht". 46 Als zweite Möglichkeit entwirft Bierwisch einen Mechanismus P, der nun nicht mehr wie P' alle Strukturbeschreibungen (SB) der eingegebenen Sätze in zwei Klassen, nämlich in poetische und nicht poetische einteilt, „sondern von je zwei SB feststellt, welche in größerem Maße bestimmte poetische Regularitäten erfüllt. P ordnet also mit andern Worten beliebige SB nacheinander in einer Skala der Poetizität". 47 In diesem Bestimmungsmechanismus gewinnt natürlich gerade auch die Abweichung von der grammatischen Norm (G) an Bedeutung, denn: „Vielfach sind grammatische Abweichungen gerade durch Regeln in P motiviert". 48 Den Aufbau von P hat man sich dabei so vorzustellen, „daß es in einer als Eingabe aufgenommenen SB gemäß allgemeinen, aber natürlich streng formalen Regeln bestimmte Strukturmerkmale markiert
39 Vgl. M. Bierwisch, Linguistik und Poetik, in: Ihwe, Literaturwissenschaft, S. 9 3 8 956. Zuerst erschienen in: H. Kreuzer und R. Gunzenhäuser (Hgg.), Mathematik und Dichtung, München 1965, S. 4 9 - 6 5 . 4 0 I.e., S. 940. 4 3 ib. 46 ib. 41 ib. Hervorhebungen von Bierwisch. 4 4 S. 946. 47 S. 9 4 7 . 42 S. 943. 45 ib. 48 ib.
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und ihr diesen Markierungen entsprechend eine bestimmte Wertung zuordnet". 4 9 Dieser Apparat würde z.B. in den von Bierwisch zitierten BrechtVersen: Die Mühen der Gebirge liegen hinter uns Vor uns liegen die Mühen der Ebenen.
„die genannten Parallelismen und Antonyme markieren und dem Satzpaar damit einen höheren Wert zuordnen als etwa dem folgenden: Die Mühen der Gebirge liegen hinter uns Vor uns liegen andere Mühen." 50
Bierwisch hebt hervor, daß P auf der Grundlage der durch G erzeugten SB operiert, d.h. daß die Regeln, aus denen P besteht, zwar auf linguistischen Strukturen operieren, aber selbst außerlinguistisch sind 51 und stellt weiter fest: „P leistet auf explizite und automatische Art das, was — mindestens zu einem erheblichen Teil — die hermeneutische Interpretation am einzelnen Text intuitiv und ohne generelle Voraussetzungen t u t . . . " S 2 Zu Recht stellt Bierwisch andererseits auch klar, „daß P für jed^-Eingabesprache und für jeweils spezifisch poetische Wirkungsmomente besonders formuliert werden muß". 5 3 Da aber jeder dichterische Text „spezifische Wirkungsmomente" sprich Zuordnungen und Funktionen enthält, heißt das im Klartext: das individuelle Regel- und Zeichensystem eines gegebenen Textes — mag man dies P nennen oder wie auch immer — ist durch eine individuelle, den spezifischen, unverwechselbaren Merkmalen des Textes gerecht werdende Einzelinterpretation zu erstellen, oder mit anderen Worten: die Interpretation hat jeden Text nach seinem spezifischen Kode zu lesen, wobei der Kode erst im Text vom Leser aufgefunden wird. 54 Es ist daher nur konsequent, wenn Bierwisch im Lauf seiner Erörterungen um die Leistungen des Apparates P zu folgender Feststellung kommt: „Für die theoretische Analyse bedeutet eine so große Variabilität von P scheinbar, daß wir wiederum auf der Stufe der hermeneutischen Interpretation stehen: Wenn, zumindest potentiell, jedes literarische Kunstwerk durch ein besonderes Regelsystem bestimmt ist, kann es auch nur
49 50 51 52 53 54
ib. ib. S. 948. ib. ib. Treffend stellt Bierwisch (S. 953) fest: „Oft genug ist damit zu rechnen, daß ein bestimmtes Regelsystem überhaupt erst mit dem Werk entsteht, in dem es sich niederschlägt, daß es also gar nicht als vorgegebener Code existiert."
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als Unikum beschrieben werden". 5 5 Diesem nur allzu berechtigten Einwand versucht Bierwisch nun durch zwei (leider nicht näher erläuterte) Gegenargumente zu begegnen: „Erstens setzt jedes modifizierte oder erweiterte System P ein vorgegebenes generelles Teilsystem voraus, ohne das Modifikationen und Abweichungen nicht möglich sind. Und zweitens sind die Modifikationen ihrerseits nicht willkürlich, sondern unterliegen bestimmten Regelmäßigkeiten, die zweifellos.. . auf allgemeine Prinzipien reduzierbar sind". 5 6 Aber diese Bemerkungen räumen die Tatsache nicht aus dem Wege, daß es eben nur Teilsysteme sind, wie z.B. die vorgegebene Sonettform eines lyrischen Textes, die generell beschrieben werden können. Den Anteil aber, den solche generalisierbaren Teilsysteme innerhalb des authentischen, textspezifischen Systems haben können, ist sehr unterschiedlich; in vielen Fällen ist er zweifellos sehr gering und die generelle Beschreibung trägt folglich nur wenig zur Beschreibung des Zeichensystems eines Textes bei. Besonders schwer einsehbar ist aber das zweite Gegenargument: denn da gerade in den „Abweichungen und Modifikationen" vorgegebener Regeln (Bierwisch denkt hier an Abweichungen sowohl von der Grammatik wie auch von vorgegebenen poetischen Strukturen) sich das Spezifische und Individuelle des Textes entwickelt, wird nicht recht klar, welche Regelmäßigkeiten auch hier noch erfaßt werden könnten; Bierwisch bringt dazu keine Beispiele. In jedem Fall wird man davon auszugehen haben, daß in einem dichterischen Text vorgegebene und traditionelle Zeichen und Zeichenketten mit innovatorischen, individuellen in einer unaufhebbaren funktionalen Einheit stehen. Was besagt, daß auch tradierte, vorgegebene Teilsysteme im Zeichensystem des fraglichen Werkes zu einer neuen Funktionalität umgeschmolzen werden, aus der allein die „Poetizität" des Werkes bestimmt werden könnte. Der Grad der Abweichung, soweit überhaupt erkennbar, ist jedenfalls noch nicht der Grad der Poetizität. Solche und ähnliche Überlegungen mögen Bierwisch veranlaßt haben, mehrfach „auf die Grenzen hinzuweisen, die für eine strukturelle Poetik bei der Erklärung dichterischer Wirkung bestehen". 5 7 Für ihn ist es jedenfalls „offensichtlich, daß eine beträchtliche Zahl von poetischen Wirkungsmomenten sich jeder generalisierenden Beschreibung entziehen". 5 8 55 56 57 58
S. 953. ib. S. 955. S. 953. - Im Hinblick auf das Merkmal der Intertextualität (d.h. auf die Tatsache, daß in einem poetischen Text ein oder mehrere andere Texte direkt oder indirekt zitiert werden) bemerkt Bierwisch; „Fakten dieser Art können in keine noch so erschöpfende linguistische Semantik eingehen und markieren damit ebenso wie die Parodie die Grenze einer abschließenden Theorie der poetischen Wirkung und des Stils" (S. 954).
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Als eine sehr kritische und ausgewogene Erörterung der Frage der Kompetenz linguistischer Kategorien und Verfahren für den Bereich der Literaturwissenschaft kann die Arbeit von N. Ruwet über die „Grenzen der linguistischen Analyse in der Poetik" 5 9 gelten; darin werden, wie der Titel schon andeutet, die Kompetenzgrenzen der Linguistik noch stärker hervorgehoben als in früheren Arbeiten wie etwa der Bierwischs. Ruwet stellt von vornherein klar, „daß die Bedeutung der Linguistik hinsichtlich der Poetik und allgemein der Literaturwissenschaft nur die einer Hilfswissenschaft sein kann, deren Rolle derjenigen ziemlich ähnlich ist, die die Phonetik bezüglich der Linguistik selbst spielt". 60 Dieser Feststellung kann man ebenso guten Gewissens zustimmen wie der folgenden grundsätzlichen Abgrenzung: „die Linguistik kann der Poetik eine gewisse Menge an Material liefern, aber sie ist selbst nicht in der Lage, zu bestimmen, in welchem Maße diese Materialien vom poetischen oder ästhetischen Gesichtspunkt aus wichtig sind". 61 Die Rolle der Linguistik bei der Analyse literarischer Texte scheint mir grundsätzlich richtig gesehen zu sein, wenn Ruwet weiter bemerkt: „Auch wenn die Linguistik so nur eine bescheidene Rolle spielt, ist sie doch unentbehrlich... das hegt ganz einfach an der Tatsache, daß die Linguistik mit immer größerer Präzision die Materialien der Poetik beschreibt. Ein einfacher Fortschritt in der Beschreibung ihrer Materialien kann es möglich machen, daß die Poetik sich neue Fragen stellt, oder auch, was ebenso wichtig ist, daß sie bemerkt, daß einige Fragen, die sie sich gestellt hat, nur falsche Probleme waren". 62 Ruwet zeigt am Beispiel des Racine-Verses „Le jour n'est pas plus pur que le fond de mon coeur"
daß es der Sprachwissenschaft möglich ist, dessen phonische Struktur „mit großer Präzision" zu beschreiben, 63 gelangt aber zu folgendem Ergebnis: „Wenn die Linguistik es so erlaubt, präzise eine bestimmte Anzahl von Aspekten der Struktur dieses Verses zu beschreiben, dann kann man trotzdem noch immer nicht sagen, warum dieser Vers besonders „schön", „überraschend" usw. ist". 64 Hätte man diese Sätze Ruwets gebührend berücksichtigt, so wäre ein großer Teil der Literatur zum Thema „Linguistik und Poetik" nicht geschrieben worden. 59 Wir zitieren auch diese Arbeit in ihrer deutschen Fassung nach Ihwe, Literaturwissenschaft, S. 6 3 7 - 6 5 4 . Das französische Original „Limites de l'analyse linguistique en poétique" erschien zuerst in Langages, 12, 1968, S. 5 6 - 7 0 . 60 S. 638. 61 ib. 62 ib. 63 Vgl. S. 638ff. Das Zitat S. 639. 64 S. 640f.
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Die Arbeit Ruwets ist auch dadurch wertvoll, daß sie eine knappe, aber stichhaltige Kritik des Poetizitätsmodells Jakobsons enthält. Im Hinblick auf die Tatsache, daß Jakobson in seinem oben referierten Aufsatz nur Versdichtung in den Blick einbezieht, stellt Ruwet zunächst einmal fest: „Die Existenz der literarischen Prosa einerseits und die der „prosahaften" Versdichtung (mit Reimen) andererseits zeigt an, daß die Projektion der Beziehungen der Äquivalenzen auf die Achse der Verkettungen weder eine notwendige Bedingung noch eine hinreichende Bedingung der ästhetischen Funktion der Sprache ist". 65 Ruwet hebt zu Recht hervor, „daß die Theorie der beiden Achsen nicht ausreicht, der Gesamtheit der sprachlichen Fakten in ihrer ganzen Komplexität Rechnung zu tragen, und daß es notwendig ist, die Existenz anderer Typen von Relationen zu postulieren, die wahrscheinlich eine Rolle in der Theorie der Poetik zu spielen haben". 6 6 Weiter wendet Ruwet kritisch ein, daß durch „zweidimensionale Schemata" wie das Äquivalenzsystem Jakobsons nicht nur Dichtung, sondern ebenso gut auch Unterhaltungsliteratur, Werbetexte, wissenschaftliche Literatur etc. beschrieben werden können, woraus er folgert: „Die Typen der Beziehungen der Äquivalenzen in der Poesie müßten also einen viel spezifischeren Charakter aufweisen". 67 Schließlich weist Ruwet noch auf den wohl schwächsten Punkt des Jakobsonschen Modells hin: „Jakobson gibt eine umfangreiche Liste aller möglichen Elemente, die eine poetische Funktion haben können, aber bis jetzt besitzen wir noch keine sicheren Kriterien, die uns erlauben, aus der Fülle der möglichen Äquivalenzen die herauszusuchen, die wirklich bedeutsam in diesem Gedicht, bei diesem Autor, in diesem oder jenem Stil sind". 68 — „In welchem Namen entscheidet man, daß dies oder jenes sprachliche Element vom poetischen Gesichtspunkt aus Bedeutung hat oder nicht?" 6 9 Diese pessimistische Konzeption erscheint nur oberflächlich gedämpft in dem 1972 geschriebenen Vorwort, das Ruwet seinem Buch „Langage, musique, poésie" vorangestellt hat. 7 0 Die grundsätzliche Bewertung der linguistischen Versuche auf diesem Gebiet kommt zum Ausdruck in folgendem Satz: „Dès qu'une discipline comme la linguistique dépasse le stade des généralités, il y a des chances pour que les résultats qu'elle atteint soient si spécifiques qu'ils n'aient aucune application en dehors de son domaine propre. Si on
65 66 67 68 69 70
S. 6 4 1 . S. 642. ib. ib. Hervorhebung von Ruwet. ib. Vgl. „Langage, musique, poésie", Paris 1972, S. 9 - 1 9 .
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s'efforce de les transposer à d'autres domaines, on risque de tomber dans des approximations et des métaphores". 71 Ruwet möchte, wie es scheint, die Jakobsonsche „Projektion des Prinzips der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination"als fundamentales Merkmal der poetischen Sprache wie auch der „Sprache" der Musik gelten lassen, kommt jedoch nicht umhin, folgende zentrale Einschränkung zu treffen: „Le jeu systématique des rapports d'équivalence formelle (syntaxiques, prosodiques, phonétiques) tend constamment à introduire des rapports sémantiques de types très différents de ceux qui ont été abordés jusqu'à présent par les sémanticiens". 72 Damit ist erneut klargestellt, daß in der Dichtung Bedeutungsverhältnisse auftreten, die von den bisher in der Semantik der Einzelsprachen beobachteten sehr verschieden sind und daher auch nicht mit den dort entwickelten Verfahren beschrieben werden können. Ruwet fordert in diesem Zusammenhang, daß die Poetik zur Beschreibung dieser anders gearteten semantischen Beziehungen sich ihre eigenen Werkzeuge schmieden müsse und macht dann eine Bemerkung, die eine bisher kaum beachtete Möglichkeit der Semantik erschließt: das Studium der Bedeutungsverhältnisse im Bereich poetischer Texte könne einen Beitrag liefern fiir die allgemeine Linguistik und Semantik. Während man bisher die an der normalen Umgangssprache entwickelten linguistischen Verfahren und Kategorien auf die Struktur literarischer Texte anzuwenden suchte, erscheint hier die Anregung, umgekehrt aus der Analyse der Bedeutungsstruktur poetischer Werke Aufschlüsse für die Semantik der normalen Sprache zu gewinnen. 73 In diesem Zusammenhang äußert sich Ruwet sehr skeptisch über die Möglichkeiten einer generativen Grammatik der Poetizität 74 und stellt an den Schluß folgende beherzigenswerte Feststellung: „Un poème, une pièce musicale, engendre en un sens son propre code, dont il est l'unique message. Peut-être qu'aucune grammaire générative
71 S. 10. 7 2 S. l l f f . 73 „Pour étudier ce type nouveau de rapports sémantiques, la poétique devra donc forger ses propres outils; c'est sans doute d'ailleurs un domaine où la poétique est susceptible d'apporter une contribution à la linguistique et à la sémantique générales . . . " (S. 12). 74 Vor allem im Blick auf Chomsky stellt Ruwet fest: „ . . . il est clair qu'aucune grammaire générative tant soit peu complète d'une langue quelconque n'a encore été construite; en syntaxe ou en phonologie, les résultats obtenus, quoique souvent importants, restent très fragmentaires - quant'à la sémantique . . . elle est encore largement une terra incognito, et des doutes sérieux subsistent même sur la possibilité de construire une théorie sémantique .complète' " (S. 16).
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poétique ou musicale, aussi complexe qu'elle soit, n'arrivera jamais à rendre compte de cette singularité, que seules peuvent éclairer, fût-ce fragmentairement, des analyses particulières". 75 Die bei allen linguistischen Beschreibungsversuchen poetischer Strukturen bestehende Ungewißheit und Verunsicherung sowohl hinsichtlich der zu verwendenden Methoden wie auch der zu erreichenden Ergebnisse spiegelt sich auch in dem von Klaus Baumgärtner zuerst 1969 vorgelegten Forschungsbericht. 76 Baumgärtner, der über die wichtigsten Vorschläge und Modelle zum Thema Linguistik und Poetik etwa von den vierziger Jahren an referiert, beginnt seinen Bericht bezeichnenderweise mit der Bemerkung, daß „der erfolgreiche Aufbau einer linguistischen Poetik immer noch zur Diskussion steht" und daß „bisher kaum Einhelligkeit darin besteht, welchen theoretischen Platz eine linguistische Poetik im Feld zwischen Linguistik und Poetik einnimmt, welche methodischen Maßnahmen die empirischen Tatsachen von ihr fordern, und welche formalen Mittel zu ihrer angemessenen Explikation vorgegeben sind oder aufzusuchen wären". 77 Diese Skepsis sowohl in bezug auf die grundsätzliche epistemologische Stellung einer „linguistischen Poetik" (aber kann es eine solche wirklich geben?!) wie auch in bezug auf deren Methoden und Mittel wird durch das folgende Referat nur allzusehr gerechtfertigt, indem die meisten der vorgeführten Theorien und Modelle sich entweder bereits theoretisch als grundsätzlich anfechtbar erweisen oder aber spätestens im Applikationsversuch selbst auf knappe Zitate und Extrakte aus einem poetischen Text ihre Ineffizienz und Einseitigkeit offenbaren (bei Anwendung auf das geschlossene Gesamtsystem einer Dichtung würde diese Ineffizienz noch deutlicher zutage treten). So kommt Baumgärtner unter dem Gesichtspunkt der „poetischen Kommunikation" und der Tatsache, daß ein Text trotz seiner „strukturellen Konstanz" immer neue Interpretationen herausfordert, zu dem Ergebnis, daß „die ^Disposition poetischer Werke zur Offenheit' zur Zeit nicht vernünftig konstruierbar" [d.h. linguistisch beschreibbar] sei78 — womit eigentlich bereits die gesamte „moderne Poetik" bzw. die Poetik der Moderne aus dem Objektbereich der Linguistik entfällt. 79 Bei der Dis-
75 S. 18. 76 Klaus Baumgärtner, Der methodische Stand einer linguistischen Poetik, zuerst erschienen in: Jahrbuch für internationale Germanistik I, 1969, S. 1 5 - 4 3 ; später abgedruckt in Ihwe, Literaturwissenschaft, S. 7 4 1 - 7 7 2 . 77 Ihwe, S. 741. 78 S. 747. 79 Zu diesem Gesichtspunkt des „offenen" Kunstwerks vgl. vor allem U. Eco, L'Opera aperta, Mailand 1962 sowie das Kapitel „Die ästhetische Botschaft" in U. Eco, Einführung in die Semiotik, München 1972, S. 1 4 5 - 1 6 7 . Dazu unten S. 30ff.
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kussion des „poetischen Zeichens" macht Baumgärtner zu Recht geltend, daß poetische Einzelstrukturen in der Regel durch einen „zusammenhängenden Effekt des Kontexts" bedingt sind und bemerkt dazu: „Wir schließen dabei nicht aus, daß sich die linguistische Sicherung dieser Funktion des Kontexts schwierig gestalten oder als ganz unmöglich erweisen kann". 8 0 Die Arbeiten zum Verhältnis der „Umgangssprache und Sprache der Poesie" und die Versuche, letztere als Abweichung vom „Standard" zu bestimmen, resümiert Baumgärtner wie folgt: „Alle diese Feststellungen verdeutlichen schließlich nur, daß sich die Auseinandersetzung bisher — wie nützlich und klärend auch immer — mehrfach im Kreis bewegt hat. Ich glaube danach . . . , daß eine einheitliche formale Unterscheidung von Umgangssprache und Sprache der Poesie nicht existiert". 81 Und weiter: „Eine Klärung des Problems s c h e i n t . . . nur durch eine allgemeinere pragmatisch-soziologische Spezifikation herbeizufuhren zu sein, durch eine Entscheidung allerdings, die weder der Poetik noch der Linguistik instrumenteil viel nützt". 82 Abgesehen davon, daß „eine allgemeinere Spezifikation" ein Widerspruch in sich ist, wird man sich hier zu Recht fragen müssen, warum wohl eine solche Spezifikation „herbeigeführt" werden soll, wenn diese weder der Linguistik noch der Poetik „viel nützt". In dem Kapitel „Zum Begriff des Poetischen" kommt Baumgärtner u. a. auf das zuerst von E. Stankiewicz und danach von vielen anderen als Poetizitätsmerkmal angesehene Phänomen der Rekurrenz (Periodizität, Parallelismus, Repetition etc.) zu sprechen und wendet zu Recht ein, daß diesen Merkmalen wegen ihres häufigen Vorkommens in der Umgangssprache „grundsätzlich nicht die Eigenschaft zugesprochen werden kann, als Signalisierung des Poetischen zu dienen". 83 Im Blick auf Beispiele der sog. „konkreten Poesie" stellt Baumgärtner klar, daß hier „die Organisation der Umgangssprache zweifellos verlassen wird" und „daß diese Abweichung mit keiner zusätzlichen Regularität der Grammatik je beschreibbar ist". 84 Zu Texten von Benn und Brecht meint Baumgärtner: „Hier liefert die bloße linguistische Analyse nicht einmal den Befund, daß so etwas wie das Zwitterding poetische Prosa vorliegt. Sie weist solche Texte vielmehr einfach als Standard aus". 85 Baumgärtner weist u.a. auf den erheblichen Anteil hin, den pragmatische Fakten an der Konstitution eines poetischen Textes haben und folgert: „Da nun aber die Pragmatik vernünftigerweise als ein Bereich grammatischer Unstrukturiertheit angesehen wird, ist eine theoretische Vorgabe aller dieser Fakten auf linguisti-
80 I.e., S. 750. 81 S. 754f.
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82 ib. 83 S. 756.
84 ib. 85 S. 757.
scher Basis kaum je zu erwarten". 86 Kaum bessere Aussichten bestehen nach Baumgärtner für die linguistische Analyse auf dem Teilgebiet der Semantik und Syntax. Baumgärtner referiert hier die Theorie U. Weinreichs als „den bisher besten theoretischen Rahmen", 87 um dann schließlich zu folgender Bewertung zu kommen: „Die Theorie besitzt damit natürlich keinen Abschluß. Auch wenn sich ihr außerdem die gesamten Variationen der reinen Syntaktik einverleiben lassen, bleibt ihr Bereich schmal, stößt sie schnell auf ihre Grenzen. Schon die Verknüpfung von Sätzen zu den Satzfolgen eines verantwortbaren Textes, die dabei auftretenden Entscheidungen der Thematisierung und erst recht die gesamte Pragmatik mit freier Assoziation und Identifikation bis in den Bildbereich hinein haben bisher keine Erklärung gefunden und werden nach unseren heutigen Voraussetzungen und Kenntnissen auch unerklärt bleiben müssen . . . ", 88 Es lohnt in diesem Zusammenhang nicht, auf die zitierten Modelle im einzelnen einzugehen. Das Gesamtergebnis dieses kritischen und nüchternen Forschungsberichts ist am besten mit den Worten des Verfassers wiederzugeben: „Folgt man der bisherigen Diskussion, so hat eine linguistische Konstruktion des Poetischen in der Theorie leider überhaupt nichts und in der Praxis nur höchst vermittelt etwas mit der Poesie in ihrem tatsächlichen Verstand zu tun." 89 Das ist, nach über zwanzig Jahren Diskussion auf diesem Gebiet, ein ernstzunehmendes Fazit.
86 S. 761. 87 S. 765¡gemeint ist U. Weinreich, Explorations in Semantic Theory, in: Th. A. Sebeok (Hg.), Current Trends in Linguistics III, Den Haag 1966, S. 3 9 5 - 4 7 7 . 88 Ihwe, S. 769. 89 S. 759. Das zeigt sich auch an einem Versuch wie dem von Klöpfer-Oomen, Sprachliche Konstituenten moderner Dichtung. Entwurf einer deskriptiven Poetik - Rimbaud, Bad Homburg v.d.H., 1970. Ohne aus den zahlreichen hier referierten kritischen Einstellungen und Warnungen gerade auch von linguistischer Seite, die bei Erscheinen ihres Buches bereits zum größten Teil vorlagen, Konsequenzen zu ziehen, gehen die Autoren vom poetischen Text als einer „linguistischen Größe" aus (vgl. z. B. S. 203) und tragen dementsprechend an ihren Gegenstand, die „Illuminations" Rimbauds, „Kategorien und Methoden der Linguistik heran" (S. 200). Ihre „Erforschung der Sprache der modernen Lyrik auf allen Ebenen" (S. 15) läuft darauf hinaus, daß sie, den Klarstellungen Bierwischs (oben S. 9 - 1 1 ; vgl. auch S. 16) uneingedenk, ausgerechnet das übersprachliche Ordnungsprinzip des Parallelismus (mit seinen Untererscheinungen wie Rekurrenz, Wiederholung, Korrespondenzen usw.), eines der wichtigsten translinguistischen Verfahren gerade in der Lyrik, auf phonologischer, syntaktischer und semantischer Ebene bei Rimbaud aufzeigen, ohne zwischen translinguistischem Kunstverfahren und dem Material der Sprache, auf die das Verfahren angewendet wird, zu differenzieren. Da für die Autoren der poetische Text ein rein linguistisches Objekt ist, bleibt ihnen, damit „irgendwo die Verbindung zwischen den Größen Sprache und Text geschaffen w i r d " (S. 20), nichts anderes übrig, als auf Jakobsons
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Poetizitätsdefinition (Übertragung des Prinzips der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die der Kombination, oben S. 6) zu rekurrieren. Nach Abschluß des Manuskripts erscheint R. Klopfer, Poetik und Linguistik, Semiotische Instrumente, München 1975. Es zeigt sich, daß der Autor bei der gleichen grundsatzlichen Konzeption verblieben ist. Seine Ausführungen basieren u. a. auf folgenden Grundthesen: „1. Die Poetik sollte . . . dazu beitragen, daß die kommunikative Kompetenz aller zur bestmöglichen Entfaltung gebracht wird; sie bedient sich dabei der Ergebnisse der Linguistik; 2. Die Sonderform Poesie/Dichtung ist von ihr so zu erforschen, daß sie als systematische Weiterentwicklung latenter Möglichkeiten der alltäglichen Sprache erscheint; die Prinzipien der „Mache" poetischer Texte sind als Allgemeingut der Sprachgemeinschaft zu entdecken" (S. 8). Klopfer versucht u.a. die leidige Frage nach der Abgrenzung von Linguistik und Poetik durch Rückführung beider Bereiche auf eine „grundlegende Semiosefähigkeit des Menschen" (S. 31) aus der Welt zu schaffen, indem er feststellt, daß es sich hierbei „um verschiedene Dimensionen des einen Phänomens" (S. 32) handele. Damit ist jedoch für eine Abgrenzung bzw. Bestimmung von Linguistik und Poetik nichts gewonnen, denn die (unbestrittene) allgemeine Zeichenfähigkeit des Menschen ist nicht nur, wie Klopfer S. 31 meint, grundlegend für Spracherwerb und Sprachschöpfung, sondern für alle Künste (Malerei, Musik, Bildhauerkunst, Tanz) und darüber hinaus für alle kulturellen, kommunikationsfähigen Äußerungen wie Mode, Architektur, Werbung usw. All diese Erscheinungen lassen sich als „Dimensionen des einen Phänomens" zusammenfassen, ohne daß damit etwas Konkretes über die einzelnen Kulturäußerungen und die in ihnen aktualisierten Zeichenverhältnisse gesagt wäre. Klopfer gebraucht im übrigen den Begriff Semiotik bzw. semiotisch nur für rein sprachliche Zeichen. Daß auch nichtsprachliche Zeichensysteme in der Dichtung verwendet werden, wird S. 137 einmal erwähnt, jedoch nicht weiterverfolgt. Das Buch beschränkt sich auf neuere lyrische Texte; die anderen literarischen Gattungen bleiben unberücksichtigt.
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2. Für eine semiotische Konzeption des poetischen Textes
Das Scheitern der linguistischen bzw. textlinguistischen Versuche, eine Theorie, ein Modell, eine „Konstruktion" des dichterischen Textes zu erstellen, hat mehrere Gründe. Einer davon ist die oft bemerkte außerordentliche Vielschichtigkeit und Verflechtung der Funktionen in einem poetischen Text, die einfach nicht in einem Modell bzw. einer Theorie unterzubringen ist. Dies feststellen, heißt nichts anderes als die Singularität des poetischen Textes betonen, die offensichtlich nur mit singulären, textspezifischen Mitteln erfaßt werden kann. Man kann hier nur unterstreichen, was u.a. N. Ruwet klargestellt hat: Die Dichtung, ein singuläres Phänomen, hat ihren eigenen, unverwechselbaren Kode, dessen einziger „message" sie ist; dieser Kode aber kann nur aus dem Werk selbst gewonnen werden. In diesem Sinne charakterisiert auch E. Coseriu den dichterischen Text als „die funktionell reichste Art von Texten" 9 0 und fordert, ähnlich wie Ruwet, für den konkret zu interpretierenden Text eine individuelle, den jeweiligen Zeichenverhältnissen eines Textes angemessene Analyse, wenn er sagt: „Man kann eine allgemeine Theorie der Möglichkeiten der Texte entwickeln, nicht aber eine allgemeine Methode der Textinterpretation als discovery procedure, denn es ist unmöglich, im voraus zu sagen, welche Zeichenverhältnisse in einem bestimmten Text als aktualisiert erscheinen werden. Dies nämlich muß im jeweiligen Text festgestellt, d.h. ,entdeckt' werden". 91 Der Singularität des poetischen Gebildes entspricht somit die Singularität der an diesem Objekt zu entwickelnden Beschreibungs- bzw. Interpretationsverfahren. Mitverantwortlich für das Mißlingen der bisher vorliegenden linguistischen Modellversuche ist ferner die Tatsache, daß alle linguistischen Theorien des poetischen Textes ein grundsätzliches Problem entweder nicht oder nicht zureichend reflektieren, nämlich die Frage, aus welchen Elementen und wie das gebaut ist, was man gemeinhin „die Sprache der Dichtung" nennt. Alle lin-
9 0 E. Coseriu, Thesen zum Thema .Sprache und Dichtung', in: Beiträge zur Textlinguistik, ed. W.-D. Stempel, München 1 9 7 1 , S. 1 8 3 - 1 8 8 ; das Zitat S. 186. 91 I.e., S. 185.
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guistischen Versuche übertragen direkt oder analog Begriffe und Methoden auf den dichterischen Text, die bei der Beschreibung der bekannten Einzelsprachen (Englisch, Russisch, Mongolisch, Eskimo etc.), meist aber nur durch Kenntnis einiger weniger davon, gewonnen wurden. Die Frage aber, ob die Sprache einer dieser Einzelsprachen identisch ist mit der Sprache der Dichtung, wird in aller Regel nicht einmal gestellt, geschweige denn reflektiert — sehr zum Nachteil einer grundsätzlichen Klärung der Beziehungen zwischen Linguistik und Poetik. Dabei haben große Autoren immer gewußt und dann und wann auch zum Ausdruck gebracht, daß ihre Sprache nicht zu verwechseln ist mit der der Gesellschaft, in der sie leben. So bemerkte etwa Apollinaire in einer seiner Dichtungen, daß der Dichter auf der Suche nach einer neuen Sprache sei, zu der kein Grammatiker irgendeiner Sprache etwas zu sagen hätte: O bouches l'homme est à la recherche d'un nouveau langage Auquel le grammairien d'aucune langue n'aura rien à dire 9 2
und Valéry bezeichnet in einer seiner theoretischen Arbeiten zur Poetik die dichterische, insbesondere die metrisch gebundene Sprache des Verses als eine Sprache in der Sprache, „un langage dans un langage". 93 Zu den grammatischen Regeln der Normalsprache stellt Valéry fest: „II y a des règles de grammaire qui n'ont été décrétées que pour en finir avec une liberté qui n'avait aucun inconvénient. Je n'hésite pas à reprendre cette liberté". Aber auch die Wörter der Normalsprache ändern nach Valéry in der Dichtung ihren Charakter: „ . . . il y a un langage poétique dans lequel les mots ne sont plus les mots de l'usage pratique . . . Ils ne s'associent plus selon les mêmes attractions; ils sont chargés de deux valeurs simultanément engagées et d'importance équivalente: leur son et leur effet psychique instantané". 9 3 3 92
G. Apollinaire, Œ u v r e s poétiques, ed. M. Adéma et M. Décaudin, Paris 1965, (Pléiade), S. 310. Die Verse stammen aus dem Gedicht „La Victoire". 93 Paul Valéry, Œuvres, ed. J. Hytier, Bd. I, Paris 1957 (Pléiade), S. 1324. 93a Vgl. Paul Valéry, Cahiers, ed. J. Robinson (Pléiade), Bd. 1, Paris 1973, S. 4 7 6 ; Œuvres, Bd. I, S. 1356 (das letztere Zitat stammt aus der „Première leçon du cours de poétique"von 1937). - Wesentlicher Bestandteil des Valéryschen Skeptizismus war eine lebenslang geübte Kritik am „langage ordinaire" (vgl. z. B. Cahiers, ed. Robinson, I, 3 8 2 - 3 8 9 und 4 2 9 ) , an dem Valéry (vor Saussure!) vor allem die Willkürlichkeit der Zeichen negativ hervorhob: „Quel paradoxe que l'art de manier les choses par des signes qui leur sont extérieurs et étrangers! et dont la correspondance même avec elles est tout arbitraire!" (ib., S. 3 9 3 ) . V o n daher der immer wieder umkreiste Gedanke Valérys, „eine neue Sprache zu erfinden" (I.e. S. 392): „Je m'aperçois que mon ambition littéraire est (techniquement) d'organiser mon langage de facon à en faire un instrument de découvertes. . . (I.e., S. 386); „Mon idée f u t de concevoir une langue artificielle fondée sur le réel de la pensée, langue pure, système
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Fünfzehn Jahre zuvor hatte Rilke einen ähnlichen Gedanken formuliert: „Schreiben zu können ist, weiß Gott, nicht minder „schweres Handwerk", um so mehr, als das Material der anderen Künste von vornherein von dem täglichen Gebrauch abgerückt ist, während des Dichters Aufgabe sich steigert um die seltsame Verpflichtung, sein Wort von den Worten des bloßen Umgangs und der Verständigung gründlich, wesentlich zu unterscheiden. Kein Wort im Gedicht (ich meine hier jedes „und" oder „der", „die", „das") ist identisch mit dem gleichlautenden Gebrauchs- und Konversations-Worte; die reinere Gesetzmäßigkeit, das große Verhältnis, die Konstellation, die es im Vers oder in künstlerischer Prosa annimmt, verändert es bis in den Kern seiner Natur, macht es nutzlos, unbrauchbar ftir den bloßen Umgang, unberührbar und bleibend . . . ". 9 3 b Das sind unübersehbare Hinweise auf die Nicht-Identität von Sprache und Dichtersprache. Diese und viele weitere hier nicht zu zitierende Äußerungen, die in die gleiche Richtung weisen, fordern die Frage nach der Beschaffenheit dichterischer Sprache geradezu heraus. Da aber diese, wie auch die Formulierung Valerys nahelegt, nicht zu trennen ist von der Einzelsprache, auf deren Material sie jeweils aufbaut, sollte sie als Phänomen nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit der Einzelsprache gesehen werden. Die Frage kann also zunächst lauten: Wie verhalten sich Einzelsprache und poetische Sprache zueinander? Das aber setzt eine Orientierung über den grundsätzlichen Bau und die Leistungen der „normalen" Sprache voraus. Ferdinand de Saussure hatte bekanntlich zwischen Sprache als „langue" und Sprache als „parole" unterschieden. „Langue" meint den überindividuellen, sozialen, kollektiven Aspekt der Sprache, das, was als kollektives Bewußtsein von Sprache in einer Gesellschaft vorhanden ist; „parole" meint dagegen die individuelle Realisierung der „langue" in einem konkreten Sprechakt.94 de signes . . . " (I.e., S. 425). In diesem Sinne konnte Valéry z.B. von Mallarmé feststellen, daß dieser sich eine Sprache geschaffen habe, „die fast ganz die seine" war (Œuvres, I,S. 658). Doch vergaß Valéry nie, daß die Grundlage aller Kunstsprachen der „langage commun" ist, dessen Rolle er allerdings nicht hoch einschätzte: „Son rôle s'amincit devant le développemen t de systèmes de notations plus purs et plus adaptés chacun à un seul usage" (I.e., S. 1266). - Eine eingehende Darstellung der überaus weitläufigen und komplexen Sprach- und Zeichentheorie Valérys muß einer gesonderten Darstellung vorbehalten bleiben. Einiges dazu (doch aus einseitig-linguistischer Sicht) bei J. Schmidt-Radefeldt, Paul Valéry linguiste dans les Cahiers, Paris 1970. 93b Vgl. Rainer Maria Rilke, Die Briefe an Gräfin Sizzo. 1 9 2 1 - 1 9 2 6 , Wiesbaden (InselVerlag) 1950, S. 20; Brief vom 17. März 1922. Hervorhebungen von Rilke. 94 Vgl. Cours de linguistique générale, publ. par Ch. Bally, A. Sechehaye et A. Riedlinger, Paris 1965, S. 30ff. und 36ff.
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Diese grundsätzlich richtige, im einzelnen differenzierungsbedürftige Unterscheidung gibt weder für den Bau der Sprache noch fur die Erkenntnis poetischer Sprache viel her. Danach erschiene Dichtung lediglich als ein Parole-Akt bzw. wäre im Bereich der Parole-Akte anzusiedeln. Das ist auch oft gesagt worden, doch ist damit nichts gewonnen. Louis Hjelmslev versucht^.später, die Saussuresche Unterscheidung zu differenzieren und teilte die „langue" weiter auf in „Schema", „Norm" und „Gebrauch". 95 Danach meint „Schema" die Sprache als reine Form; „Norm" die Sprache als materielle Form, bestimmt durch ihre gesellschaftliche Verwendung, aber noch unabhängig von Einzelheiten der Verwendung; „Gebrauch" (usage) schließlich ist die Gesamtheit der durch beobachtete Verwendung definierten Gewohnheiten einer Gesellschaft. 96 Diese Neueinteilung der Elemente, die in Saussures Begriff der „langue" global mit einbeschlossen waren, führte Hjelmslev dazu, die Saussuresche Dichotomie langue/parole durch eine neue zu ersetzen, die nach seiner Meinung „la seule subdivision essentielle qui s'impose à la sémiologie" darstellt, nämlich die Unterscheidung zwischen Schema und Gebrauch. 97 Diese neue Unterscheidung Schema/Gebrauch ist dadurch gekennzeichnet, daß sie einerseits den Saussureschen Begriff der „langue" radikal formalisiert („Schema"), andrerseits die den individuellen Sprechakt bezeichnende „parole" Saussures ersetzt durch den „sozialeren" Begriff „Gebrauch", der nicht mehr die individuelle Sprachverwendung, sondern die Sprachgewohnheiten einer Gesellschaft bezeichnet. Von der „parole" Saussures stellt Hjelmslev lediglich fest, daß es sich hier um einen ebenso komplexen Begriff handle wie bei der „langue" und daß seine Untersuchung ebenfalls eine lockende Aufgabe sei98 — verzichtet jedoch leider auf eine solche Untersuchung, die für das Problem der dichterischen Sprache in jedem Falle interessanter gewesen wäre als die der „langue". Hjelmslevs Konzeption bleibt somit grundsätzlich wie die Saussures eine dualistische. Im Unterschied dazu unternahm es E. Coseriu, die dualistische Konzeption Saussures und deren dualistische Weiterentwicklungen „durch eine monistische Auffassung zu ersetzen, die auf die einzig faßbare Wirklichkeit der Sprache gegründet ist, d.h. auf die Sprechtätigkeit, auf die Redeakte der einzelnen
95 96 97 98
Vgl. L. Hjelmslev, Langue et parole, in: Essais linguistiques, Paris 1971, S. 7 7 - 8 9 , hier insbes. S. 80. l.c„ S. 80ff. S. 89. S. 87.
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Sprecher". 99 Coseriu möchte nicht zur „Unterscheidung von angeblich autonomen und trennbaren Einheiten gelangen", sondern „einfach die verschiedenen Grade der Formalisierung oder Abstraktion, die sich auf der Grundlage derselben konkreten und einheitlichen Realität der Sprache ergeben können", unterscheiden. 100 Coseriu gelangt u.a. zu folgendem Schema, dessen vier Instanzen (von links nach rechts) zugleich eine Skala zunehmender Formalisierung darstellen: 101 konkretes Sprechen
1
i
individuelle Norm Parole
' soziale «1 Norm
funktionelles System Langue
Das .System' ist, vom Standpunkt des konkreten Sprechens her gesehen, die stärkste Abstraktion: es entspricht dem funktionellen System einer Sprache, d.h. der Gesamtheit ihrer funktionellen Invarianten; die „soziale Norm" entspricht den obligatorischen Realisierungen einer Gesellschaft, den normalen Invarianten. Zwischen „sozialer Norm" und .konkretem Sprechen" läge nach Coseriu die „individuelle Norm", „bei deren Abstraktion nur die noch nie geäußerten und ganz okkasionellen Elemente des Sprechens eliminiert werden, aber all das bewahrt wird, was Wiederholung, konstantes Modell in den Redeakten des betreffenden Individuums ist". 102 Das „konkrete Sprechen" schließ-
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Vgl. zu diesem Thema „System, Norm und , R e d e ' " , in: E. Coseriu, Sprache, Strukturen und Funktionen, Tübingen 1971 2 , S. 5 3 - 7 2 ; das Zitat S. 60. Eine ausführlichere Erörterung der gleichen Probleme in: E. Coseriu, Sistema, norma y habla, Montevideo 1952, das jetzt in dt. Übersetzung vorliegt: „System, Norm und Rede", in: Sprachtheorie und Allgemeine Sprachwissenschaft, München, 1975, S. 1 1 - 1 0 1 . 100 Sprache, S. 60. 101 Vgl. Sprache, S. 69. Coseriu zeigt an diesem Schema, wie sich die Grenze zwischen Langue und Parole verschiebt, je nachdem, unter welchem Gesichtspunkt sie betrachtet wird: 1. Geht man von der Opposition zwischen System und Verwirklichung aus, so umfaßt die Langue nur das System und die Parole alle übrigen Begriffe 2. Geht man dagegen von der Opposition zwischen Konkretem und Abstraktem aus, so fällt die Parole mit dem konkreten Sprechen zusammen und die Langue umfaßt alle anderen Begriffe. 3. Besteht die Opposition zwischen Sozialem und Individuellem, umfaßt die Langue System und soziale Norm, die Parole das konkrete Sprechen und die individuelle Norm. Besteht schließlich 4. die Opposition zwischen Originalität des Ausdrucks und Wiederholung, so „umfaßt die Parole ausschließlich die noch nie geäußerten und okkasionellen Elemente des konkreten Sprechens, und die Langue alle anderen Begriffe, einschließlich der systematischen und normalen Aspekte der individuellen Redeakte"; vgl. I.e., S. 69f. 102 Sprache, S. 68f.
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lieh ist durch alle übrigen Instanzen dieses Schemas bedingt: Das System bietet ihm eine Anzahl von Möglichkeiten, unter denen der Sprecher frei wählen kann; diese Freiheit jedoch wird eingeschränkt durch die gesellschaftlichen Traditionen und Konventionen der sozialen Norm und weiterhin durch die „Invarianten" der individuellen Norm. Dieses Schema informiert somit über die wesentlichen Gegebenheiten des Sprechens einer gegebenen Einzelsprache und ist daher auch bei der Analyse dichterischer Sprache zu berücksichtigen, denn dichterische Sprache kann wie gesagt nicht isoliert, sondern stets nur unter Einbeziehung der Einzelsprache (in Ausnahmefällen auch mehrerer Einzelsprachen), die der Dichter als Material verwendet, betrachtet werden. Es ist jedoch offensichtlich, daß diese Analyse des Sprechens unter dem Gesichtspunkt von System, Norm und Rede eine Analyse des normalen, alltäglichen Sprechens ist. Das, was im obigen Schema als „konkretes Sprechen" erscheint, ist das konkrete Sprechen eines Angehörigen einer bestimmten Gesellschaft in der Kommunikationssituation des Alltags, nicht identisch und kaum vergleichbar mit dem schöpferischen Sprechen des Dichters, das sich im Kunstwerk niederschlägt. Bei dichterischem Sprechen ist nicht nur der Sprechakt als solcher anderer Natur, sondern auch die zwischen Sprechakt, Norm und System bestehenden Beziehungen. Die offensichdich erhebliche Differenz, die trotz einer grundsätzlichen und unaufhebbaren Bindung zwischen normalem Gebrauch einer Einzelsprache und dichterischer Sprache besteht, wird schließlich auch am Beispiel eines weiteren, bekannten Modells deutlich, das die Sprache von ihren Leistungen her zu beschreiben versucht, nämlich am Beispiel des Organon-Modells des Psychologen K. Bühler. Danach ist die Sprache ein Instrument, das der Sprecher zur Mitteilung einer an einen Empfänger gerichteten Nachricht über einen bestimmten Sachverhalt benutzt. Das sprachliche Zeichen ist danach „Symbol kraft seiner Zuordnung zu Gegenständen und Sachverhalten, Symptom (Anzeichen, Indicium) kraft seiner Abhängigkeit vom Sender, dessen Innerlichkeit es ausdrückt, und Signal kraft seines Appells an den Hörer, dessen äußeres oder inneres Verhalten es steuert wie andere Verkehrszeichen".103 In diesem Sinne hat das sprachliche Zeichen eine Darstellungs-, eine Ausdrucks- und eine Appellfunktion. Ein solches Modell ist offensichtlich untauglich zur Beschreibung der Zeichenverhältnisse eines dichterischen Textes. Darauf weist E. Coseriu hin, wenn er in seinen „Thesen zum Thema .Sprache und Dichtung' " in Bezug auf das Organon-Modell feststellt: „Das konkrete
103 K. Bühler, Sprachtheorie, Stuttgart 1934, S. 28; dort auch das bekannte Bühlersche Schema.
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sprachliche Zeichen (Zeichen im Text) liefert nicht nur .Darstellung' (begriffliche Bedeutung) und funktioniert nicht nur im Verhältnis zum Sprecher (.Kundgabe'), zum Hörer (.Appell') und zur außersprachlichen Welt (3ericht', d.h. Bezeichnung durch Bedeutung), sondern darüber hinaus in einem sehr komplizierten Netz von Relationen, wodurch ein ebenso kompliziertes Gefüge von semantischen Funktionen entsteht, deren Gesamtheit .Evokation' genannt werden kann". 1 0 4 Es sei einmal dahingestellt, ob der Begriff „Evokation" für die Gesamtheit der Funktionen angemessen ist — in jedem Fall ist dieses „komplizierte Netz von Relationen" und das „komplizierte Gefüge von semantischen Funktionen" genau das, was den dichterischen Text vor allen anderen auszeichnet; das war es auch, was Valéry mit „langage dans un langage" meinte. Eben um diese zusätzlichen, sekundären Strukturierungen geht es im folgenden, wenn von dem Zeichensystem des dichterischen Textes als einer sekundären Sprache, einer Kunstsprache, die Rede ist, die untrennbar eine „Sprache in der Sprache" ist und doch stets über die Grundlage der natürlichen Sprache funktional hinausragt. Die Erforschung der Zeichenverhältnisse dieser sekundären, durch einen Überschuß an Funktionen gekennzeichneten Sprache der Dichtung aber ist nur zum Teil Sache der Linguistik; diese ist, wie Ruwet treffend bemerkte, unentbehrlich, jedoch nur als Hilfswissenschaft. Die Analyse der komplizierten Zeichenverhältnisse der Dichtung, von der die Funktionen einer Einzelsprache und auch eines „normalen" Textes kaum einen Eindruck zu vermitteln vermögen, ist eine translinguistische Angelegenheit — sie ist in erster Linie Gegenstand der Semiotik. Im Unterschied zur Linguistik nämlich ist die Semiotik in der Lage, nicht nur die sprachlichen, sondern auch die außersprachlichen, anderen Kulturäußerungen entstammenden Zeichen (z.B. Musik, Tanz, Mode, Film, Werbung etc.) zu beschreiben. Und eine semiotische Beschreibung der Dichtung ist deshalb angemessener als eine linguistische, weil Dichtung, wie im folgenden noch zu zeigen sein wird, vor allem durch zwei konstitutive Merkmale gekennzeichnet ist und zwar a) durch Integration zahlreicher außersprachlicher Zeichen und Zeichenverknüpfungen unterschiedlicher Art und Provenienz in das signifikante Gesamtsystem des Werkes und b) durch eine mehr oder minder starke Veränderung der in das Gesamtsystem aufgenommenen sprachlichen Zeichen sowohl hinsichtlich ihrer Grenzen wie auch ihrer Funktionen, die so weit gehen kann, daß in der Dichtung, wie J. M. Lotman bemerkt, „der Begriff Zeichen selbst ein anderer ist". 105 Zweifellos fällt die Untersuchung außersprach-
104 Beiträge zur Textlinguistik, ed.W.-D. Stempel, S. 183. 105 Vgl. J. M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, München 1972, S. 4 0 . Aus diesem Grunde ist auch die sich je nach der Beziehung zwischen signifiant und signifié
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licher Zeichensysteme wie Musik, Mode, aber auch Emblematik, Symbolik, Zahlensymbolik etc. nicht in die Kompetenz der Linguistik. Das ist, wie vor allem R. Barthes klargestellt hat, Aufgabe einer (noch in den Anfängen stekkenden) Semiologie bzw. Semiotik. 106 Aber auch den aus dem System der natürlichen Sprache stammenden, in der Dichtung stark veränderten Zeichen steht die Linguistik — und das haben die oben referierten Modell- und Beschreibungsversuche hinlänglich deutlich gemacht — mehr oder weniger hilflos gegenüber. Es wird in der Folge im einzelnen zu zeigen sein, welches Gewicht außersprachlichen Zeichen und Zeichensystemen innerhalb des Gesamtsystems einer Dichtung zukommt und wie stark in diesem Gesamtsystem die Elemente verändert werden können, die dem System der natürlichen Sprache entstammen, die der Dichter als Material verwendet. Es wird insbesondere auch darzulegen sein, daß die im poetischen Text stets beobachtete Dichte und Vielschichtigkeit der Zuordnungen und Funktionen wesentlich auf die-
eigebende Gliederung der innersprachlichen Zeichen in Ikon, Index und Symbol (dazu Ch. S. Peirce, Collected Papers, Cambridge (Mass.) 1960, Bd. II, Kap. 2,2 und insbes. Kap. 2,3 ( 2 . 2 7 4 - 2 . 3 0 8 ) , sowie Jakobson, Die Suche nach dem Wesen der Sprache, in: Form und Sinn, München 1974, S. 1 4 - 3 0 ) für eine semiotische Interpretation nur von untergeordnetem Interesse. Fest steht, wie Lotman an der zit. Stelle ausführt, daß die Zeichen der Kunst grundsätzlich durch einen höheren Ikonizitätsgrad ausgezeichnet,"also in der Regel „nach dem Prinzip einer immanenten Kopplung von Ausdruck und Inhalt konstruiert" sind. Greift man die Unterscheidung Saussures zwischen willkürlichen und motivierten Zeichen auf (vgl. Cours, S. 100f.), so gebraucht die Kunstsprache der Dichtung im Unterschied zur natürlichen Sprache überwiegend (oder doch in vergleichsweise höherem Maße) motivierte Zeichen. 106 Vgl. vor allem den bis heute grundlegenden Abriß einer Semiotik (Barthes gebraucht dafür stets den Saussureschen Terminus „Sémiologie") in: Eléments de sémiologie, Communications 4, 1964, S. 9 1 - 1 3 5 und die generelle Feststellung auf S. 132: „Le but de la recherche sémiologique est de reconstituer le fonctionnement des systèmes de signification autres que la langue . . . " Dabei lehnte sich Barthes damals (1964) sehr stark an die Verfahren und die Terminologie der Linguistik an: „le savoir sémiologique ne peut être actuellement qu'une copie du savoir linguistique" (S. 92) - eine Feststellung, die heute bereits nicht mehr in gleichem Maße gültig ist. Semiotische Untersuchungen zu verschiedenen Kulturerscheinungen (Mode, Werbung, Ernährung, Sport usw.) hatte Barthes bereits zuvor in „Mythologies" (zuerst Paris 1957) durchgeführt (wir zitieren nach der Ausgabe der Collection Points, Paris 1970); vgl. insbes. die methodischen Überlegungen in dem Abschnitt „Le mythe, aujourd'hui", I.e. S. 1 9 1 - 2 4 7 . Auch Barthes' Entwurf eines semiotischen Modells der Erzählung (vgl. Introduction à l'analyse structurale des récits, Communications 8, 1966, S. 1 - 2 7 ) basiert auf der Auffassung der Erzählsprache als eines „message d'une autre langue, supérieure à la langue des linguistes", I.e., S. 3. Zu diesem Modell unten S. 82ff.
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sen beiden Faktoren beruht. Doch sei zuvor an einigen wenigen Beispielen verdeutlicht, was unter der sekundären Sprache der Dichtung als einem tranlinguistischen Phänomen zu verstehen ist. Die Bühnendichtung ist diejenige literarische Gattung, in der die außersprachlichen Zeichen von besonders hohem Gewicht sind. Gleichviel, ob es sich hier um Racine oder Beckett, Shakespeare oder Brecht handelt: Noch bevor das erste Wort auf der Bühne gefallen ist, haben wir durch Bühnenbild, Dekor, Kostüme, Mobiliar, Beleuchtung usw. sowie durch eine bestimmte Zuordnung aller dieser Elemente bereits umfangreiche und vielfältige Informationen empfangen, die zum „Verständnis des Stückes" notwendig sind und zu seinem Gesamtsinn beitragen. Dies einfach deswegen, weil wir auf der Bühne eine Reihe signifizierender Zeichensysteme oder Teilsysteme vor uns haben, die sich entsprechend dekodieren lassen: Das Bühnenbild informiert etwa über den Ort der Handlung; Mobiliar und Kostüme über das Milieu und die Lebensgewohnheiten der dargestellten Personen; die Beleuchtung informiert u. a. über die Zeit der Handlung, über atmosphärische Besonderheiten und Veränderungen usw. usw. All diese außersprachlichen Zeichen liefern somit insgesamt eine Information, die, wollte man sie in Sprache fassen, im gegebenen Falle viele Seiten Prosa füllen würde (die Regieanweisungen sind stets nur ein Resümee davon). Aber auch die „Handlung", das Kernstück im Gesamtsystem der Bühnendichtung, stellt kein sprachliches, sondern ein außersprachliches Zeichensystem dar: Personen und Handlungen bilden ein signifikantes System, das den dichterischen Sinn des Werkes wesentlich trägt und bestimmt. Gerade auf der Bühne aber ist diese Zeichenebene nicht oder nur zu einem geringen Teil sprachlich vermittelt: abgesehen von wenigen Passagen, wo Handlung zusammenfassend referiert wird, ist es die körperliche Präsenz der Schauspieler, die dieses Zeichensystem direkt erstellt. Diese außersprachlichen Zeichen sind selbstverständlich auch in der Bühnendichtung im Zusammenhang zu sehen mit den verwendeten sprachlichen Zeichen (Monolog, Dialog etc.), doch haben diese offensichtlich auf der Bühne einen hier nicht zu erörternden bei- oder gar untergeordneten Status. Das Gesamtsystem eines Theaterstücks ist zum großen Teil aus außersprachlichen Zeichen gebaut — dementsprechend ist meines Wissens auch noch niemand auf die Idee gekommen, ein linguistisches Modell einer Bühnendichtung zu entwerfen. Was aber fürs Theater gilt, gilt grundsätzlich, wenn auch in veränderter Form, auch für die Kunstsprache der Prosa. Man nehme irgendeinen Roman wie etwa die „Liaisons dangereuses" des Choderlos de Laclos oder Stendhals „Le Rouge et le Noir" oder eine Novelle von Kleist, Maupassant oder Kafka - in jedem Falle wird der Gesamtsinn dieser Dichtungen in erster Linie durch die auch hier funktional meist dominierende Zeichenebene der 27
Personen, Handlungen und Ereignisse gestiftet. Allerdings wird diese jetzt nicht mehr direkt durch das Spiel der Schauspieler, sondern mittels erzählender Sprache dargestellt. Das den Sinn der Dichtung stiftende Zeichensystem ist jedoch nicht das der natürlichen Sprache, sondern vielmehr die durch diese vermittelte Konstellation von Personen und Handlungen. In diesem Sinne konnte E. Coseriu generell zum Verhältnis von Sprache und Dichtung feststellen: „In der Dichtung wird . . . all das durch die Sprache Bedeutete (Personen, Situationen, Handlungen usw.) wieder zu einem signifiant, dessen signifié eben der Sinn des Textes ist". 107 Das den Sinn der Dichtung signifizierende Zeichensystem liegt also auf einer sekundären Ebene, die sich über dem System der natürlichen Sprache erhebt. Beide Zeichensysteme sind nicht identisch, auch wenn sie im Gesamtsystem der Dichtung funktional verknüpft sind. Und auch hier wird erneut deutlich, daß die Sprache der Dichtung ein vielschichtiges, globales (doch funktional einheitliches) Gebilde ist, das sehr unterschiedliche Zeichensysteme zu integrieren vermag. Sie muß als ein sekundäres, translinguistisches Phänomen behandelt werden, auch wenn sie, wie nicht übersehen werden soll, zum Teil mit Zeichen arbeitet, die dem System einer natürlichen Sprache entstammen und mit Zuordnungen und Verknüpfungsregeln, die denen der natürlichen Sprachen analog sind. 108 Als ein sekundäres, die natürliche Einzelsprache als Material verwendendes Gesamtsystem, dessen dichterischer Sinn aus einer Reihe sekundärer, sich über den „normalen" Bedeutungen erhebender Signifikanten hervorgeht, muß auch die Sprache der Lyrik gelten, wenngleich die Zeichenverhältnisse hier in der Regel wesentlich komplizierter sind als in künstlerischer Prosa. Auch für die Sprache der Lyrik gilt, daß sie außersprachliche Zeichen integriert, und gerade in der Lyrik wird das der natürlichen Sprache entstammende Material im Normalfall einer großen Zahl von Zuordnungs- und Verknüpfungsregeln unterworfen, von denen ein Teil herkömmlicherweise unter dem Terminus Metrik zusammengefaßt wird. Darauf wird im nächsten Kapitel näher einzugehen sein. Hier genügt der Hinweis, daß auch in der Lyrik durch metrische Regeln ebenso wie durch eine Anzahl weiterer außersprachlicher Verfahren
107 Beiträge zur Textlinguistik, S. 188. 108 Vgl. Lotman, Struktur, S. 23: „ . . . die natürliche Sprache ist nicht nur eines der ältesten, sie ist auch das mächtigste Kommunikationssystem im menschlichen Kollektiv. Durch ihre Struktur allein übt sie eine gewaltige Wirkung aus auf die Psychik des Menschen und auf viele Bereiche des sozialen Lebens. Daher sind die sekundären modellbildenden Systeme (wie überhaupt alle semiotischen Systeme) nach dem Typ der Sprache gebaut". Das bedeutet allerdings nicht, „daß sie sämtliche Aspekte der natürlichen Sprachen reproduzieren" (ib.).
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jene zusätzliche Semantisierung und Funktionalisierung entsteht, die nun einmal zum Wesen der poetischen Sprache als einer sekundären Kunstsprache gehört. 1 0 9 Unter denjenigen neueren Arbeiten, die den sekundären,übersprachlichen Charakter der Kunstsprache als eines autonomen, mit der natürlichen Sprache nicht zu verwechselnden Systems von Zeichen hervorgehoben haben, ist insbesondere die des Russischen Semiotikers J. M . L o t m a n zu nennen. 1 1 0 Die Grundthese von Lotmans Buch ist folgende: „Die Literatur spricht in einer besonderen Sprache, die als sekundäres System auf und über der natürlichen Sprache errichtet wird. Deshalb definiert man Literatur als sekundäres modellbildendes System". 1 1 1 Und weiter: „Die Behauptung, die Literatur habe ihre eigene Sprache, die nicht mit der natürlichen Sprache zusammenfalle, besagt, daß die Literatur ein nur ihr eigenes System von Zeichen und Verknüpfungsregeln besitzt, das zur Übermittlung besonderer, auf andere Weise nicht zu übermittelnder Mitteilungen dient". 1 1 2 Das sind Sätze, die wir uns nach dem zuvor Gesagten voll zu eigen machen können. Die Verkennung dieses wesentlichen und elementaren Unterschieds zwischen dem Zeichensystem des sprachlichen Kunstwerks und dem der normalen Sprache hat, im Zusammenhang mit der unreflektierten Verwendung der Metapher „Sprache" für das System der Dichtung, wesentlich zu der Annahme beigetragen, Dichtung sei im Grunde ein linguistisches Objekt. Ein Verdienst des Buches von Lotman liegt auch darin, klargestellt zu haben, daß Begriff und Wesen des literarischen Zeichens andere sind als die der Zeichen der natürlichen Sprache. Lotman stellt zutreffend fest: „In einem literarischen Text verlaufen nicht nur die Grenzen der Zeichen anders, sondern der Begriff Zeichen selbst ist ein anderer". 1 1 3 Lotman denkt hier vor allem an die weiter unten noch zu erörternde Tatsache, „daß die Zeichen in der Kunst nicht auf willkürlicher Konvention beruhen, sondern iconischen, abbildenden Charakter h a b e n " und führt dazu weiter aus: „Diese These, die für die darstellenden Künste evident ist, führt bei Anwendung auf die verbalen Künste zu einer Reihe wichtiger Schlußfolgerungen. Iconische Zeichen sind nach dem Prinzip einer immanenten Kopplung
109 Vgl. Paul Valérys Bemerkung zu den Bauprinzipien der Lyrik: „Songez aussi qu'entre tous les arts, le nôtre est peut-être celui qui coordonne le plus de parties ou de facteurs indépendants . . . " (Couvres, Bd. I, S. 1339). 110 Vgl. Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, übers, von R.-D. Keil, München 1972; und ferner ders., Vorlesungen zu einer strukturalen Poetik, hg. v. K. Eimermacher, übers, von W. Jachnow, München 1972. 111 Lotman, Struktur, S. 39. 112 ib. 113 I.e., S. 40.
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von Ausdruck und Inhalt konstruiert. Eine Abgrenzung von Ausdrucks- und Inhaltsebene in dem in der strukturellen Linguistik üblichen Sinne ist daher überhaupt schwer vollziehbar. Das Zeichen ist hier Modell seines Inhalts. So wird verständlich, daß unter diesen Umständen im literarischen Text eine Semantisierung der außersemantischen (syntaktischen) Elemente der natürlichen Sprache stattfindet. An Stelle einer deutlichen Abgrenzung ergibt sich eine komplizierte Verflechtung: was auf einer Ebene der Hierarchie des künstlerischen Textes syntagmatisch ist, erweist sich auf einer anderen Ebene als semantisch". 114 Diese vielfaltige Semantisierung der unterschiedlichsten Elemente führt nach Lotman nicht nur zur „Aufhebung der Opposition .Semantik — Syntaktik' ", sondern auch „zur Verwischung der Grenzen des Zeichens" 115 schlechthin. „Die Behauptung: alle Elemente des Textes sind semantische Elemente — besagt: der Begriff Text ist in diesem Fall identisch mit dem Begriff Zeichen". 116 Auch die Umwandlungen, denen die der natürlichen Sprache entstammenden Einzelzeichen im Zeichensystem der Dichtung unterworfen werden, sieht Lotman m.E. richtig, wenn er feststellt: „Der Text ist ein ganzheitliches Zeichen und alle Zeichen der ihn bildenden natürlichen Sprache sind hier auf das Niveau von Elementen dieses einen Zeichens reduziert". 117 Auf diese und weitere Beobachtungen Lotmans werden wir in der Folge des öfteren zurückkommen. Sie alle betonen im wesentlichen den übersprachlichen, translinguistischen und okkasionellen Charakter des dichterischen Textes und können teilweise als Grundlagen einer Semiotik des literarischen Textes dienen. 118 Wichtige Anregungen für eine künftige Semiotik des literarischen Werkes gab auch U. Eco, auf dessen Arbeiten in der Folge ebenfalls zurückgegriffen wird. 119 Nach mehreren Vorarbeiten, die eine lebhafte Diskussion auslösten, hat Eco in der 1972 erschienenen „Einfuhrung in die Semiotik" eine überar114 115 116 117 118
ib. ib. ib. ib. Freilich gibt es auch Aspekte des dichterischen Zeichens, die bei Lotman weniger berücksichtigt werden, obwohl sie von großer Bedeutung sind. Das gilt z. B. für das, was man generell die Pragmatik des dichterischen Textes nennen könnte, d. h. für den äußeren Modus, in dem ein Text seinem Leser/Zuhörer begegnet. Ich denke hier u.a. an die von der französischen Kritik mit dem Terminus „spatialisation" bezeichnete typographisch-strategische Anordnung und Verteilung des Textes bzw. einzelner Textsegmente auf dem Blanc der Seite, ein Verfahren, das gerade bei der Rezeption des Textes ein schwer zu überschätzendes Poetizitätsmerkmal darstellt. Von diesem und anderen Einzelproblemen wird an gegebener Stelle zu handeln sein.
119 Vgl. vor allem: Opera aperta, Mailand 1962; La struttura assente, Mailand 1968; II segno, Mailand 1973.
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beitete Fassung seiner semiotischen Theorien vorgelegt. 120 In diesem Werk geht es Eco vor allem darum, das „Feld" der Semiotik als einer umfassenden, kulturweiten Wissenschaft zu umreißen, deren Objektbereich sämtliche Kommunikationsprozesse der Kultur einschließt. Dichtung als einer unter zahlreichen Kommunikationsprozessen einer Kultur stellt somit lediglich ein Teilgebiet der Semiotik dar, die insgesamt mit den unterschiedlichen Zeichenverhältnissen aller Kulturbereiche konfrontiert ist. 121 In dem Kapitel über die „Ästhetische Botschaft" formuliert Eco in Bezug auf das sprachliche Kunstwerk u.a. folgende Grundthesen: 1. Dichtung ist eine „zweideutige und autoreflexive Botschaft"; eine „Botschaft mit ästhetischer Funktion ist vor allem in Bezug auf das Erwartungssystem, das der Code darstellt, zweideutig strukturiert". 122 2. Die vielbesprochene „Einheit von Inhalt und Form" in einem Kunstwerk führt Eco darauf zurück, daß „dasselbe strukturale Schema die verschiedenen Organisationsebenen beherrscht". 123 Dieses Schema (Regel der Operationen, Kode) nennt Eco den Idiolekt des Werkes, definiert als „der private und individuelle Code eines einzigen Sprechers". 124 In diesem Sinne bilden die sprachlichen Kunstwerke ,.Klassen mit einem einzigen Glied", 125 was nichts anderes besagt, als daß von Werk zu Werk andere Zeichenverhältnisse vorgefunden werden. 3. Das Kunstwerk ist gekennzeichnet durch „eine offene Logik der Signifikanten", die „das Spiel der aufeinanderfolgenden Interpretationen auslöst". 126 Diese Logik der Signifikanten führt indes nicht nur zur „Stimulierung von Interpretationen", sondern ebenso zur „Kontrolle des Freiheitsraumes der Interpretationen". 127 So entsteht eine ,»Dialektik zwischen der Freiheit der Interpretation und der Treue zum strukturierten Kontext der Botschaft". 1 2 8 120 Vgl. U. Eco, Einführung in die Semiotik, Autorisierte deutsche Ausgabe von J. Trabant, München 1972. 121 Einen Überblick über die wichtigsten Bereiche des „semiotischen Feldes" gibt Eco, I.e., S. 2 0 - 2 6 . 122 Zur „Ästhetischen Botschaft" vgl. I.e., S. 1 4 5 - 1 6 7 ; das Zitat S. 146. 123 S. 151. 124 S. 151. In dieser Bedeutung ist der Begriff des Idiolekts auch in der Linguistik verbreitet. Für die Berechtigung dieses Begriffs plädierte R. Barthes, Eléments, S. 96f.; kritische Einwände erhob Jakobson, Zwei Seiten der Sprache und zwei Typen aphatischer Störungen, in: Aufsätze, ed. Raible, S. 127f. 125 Eco, Einführung, S. 152. 126 S. 162f. 127 S. 162. 128 S. 163.
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Diese Gesichtspunkte umschreiben einige Richtungen, in denen sich künftige semiotische Forschungen zur Literatur bewegen können. Allerdings sind Ecos Thesen noch wenig an der Wirklichkeit dichterischer Texte erprobt. Die meisten seiner Arbeiten bewegen sich in einem überwiegend theoretischen Rahmen. 129 Es ist zu erwarten, daß in dem Maße, in dem die Ergebnisse weiterer konkreter semiotischer Einzelanalysen von poetischen Texten vorliegen, diese Thesen modifiziert und differenziert werden müssen. Vielleicht hängt mit der stark theoretischen Orientierung Ecos auch die Tatsache zusammen, daß bei ihm die Struktur der dichterischen Sprache nicht näher reflektiert wird. Eco, der in Anlehnung an Jakobson Poetik als „integrierenden Teil der Linguistik" zu betrachten scheint, geht auf die Unterschiede zwischen natürlicher Einzelsprache und Sprache der Dichtung nicht näher ein und entwickelt keine ausreichenden differenzierenden Kriterien hinsichtlich dieser beiden unterschiedlichen Zeichensysteme. 130 Mir scheint, daß eine solche Unterscheidung allen theoretischen und praktischen Versuchen einer semiotischen Interpretation der Dichtung vorangehen muß. Die vorliegende Arbeit, die die bisher gegebenen brauchbaren Anregungen zur Semiotik des literarischen Textes dankbar
129 Textbezogene Untersuchungen liegen vor in: Die Poetiken von Joyce, in: Das offene Kunstwerk, übers, von G. Memmert, Frankf., 1973, S. 2 9 3 - 4 4 2 ; Rhétorique et idéologie dans les ,Mystères de Paris' d'Eugène Sue, in: Revue internationale de sciences sociales, 19,4,1967, S. 591 - 6 0 9 ; James Bond: Une combinatoire narrative, in: Communications 8, 1966, S. 7 7 - 9 3 . 130 Ecos Bemerkungen zur Sprache der Dichtung stützen sich ganz auf Jakobsons Arbeit über „Linguistik und Poetik" (dazu oben S. 4ff.). Zu Beginn seines Kapitels über die ästhetische Botschaft zitiert Eco die dort genannten sechs Funktionen der normalen Sprache und fügt hinzu: „Die Botschaft hat eine ästhetische Funktion, wenn sie sich als zweideutig strukturiert darstellt und wenn sie als sich auf sich selbst beziehend (autoreflexiv) erscheint, d.h. wenn sie die Aufmerksamkeit des Empfängers vor allem auf ihre eigene Form lenken will" (S . 145f.). Aber diese beiden „Hauptcharakteristika", aus denen Eco alle weiteren Bestimmungen des poetischen Textes ableitet (vgl. S. 147), erweisen sich als nicht ausreichend, den sekundärkunstsprachlichen Charakter der Zeichen einer Dichtung und deren translinguistischen Status in den Griff zu bekommen. Es ist daher nur folgerichtig, wenn Eco sich auch den Standpunkt Jakobsons zu eigen macht, Poetik „als integrierenden Teil der Linguistik" zu betrachten, vgl. Einfuhrung, S. 162. Auch in dem Abschnitt „Analyse der dichterischen Sprache" in: Das Offene Kunstwerk, S. 6 0 - 8 9 , baut Eco auf den sechs Funktionen Jakobsons auf (vgl. insbes. S. 66ff.) und berücksichtigt m.E. zu wenig den grundsätzlich sekundären Charakter der Kunstsprache. In dieser Hinsicht erscheinen mir die Thesen Lotmans entschieden scharfsichtiger und erfolgversprechender.
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a u f g r e i f t , 1 3 1 m ö c h t e in erster Linie z u einer B e s i n n u n g u n d Klarstellung darüber führen, aus w e l c h e n B e s t a n d t e i l e n u n d w i e die s o g e n a n n t e „Sprache der D i c h t u n g " g e m a c h t ist. Sie g e h t aus v o n d e m grundsätzlich translinguistischen Status d e s p o e t i s c h e n T e x t e s , d e s s e n Z e i c h e n s y s t e m i m U n t e r s c h i e d zu d e m einer Einzelsprache durch eine w e s e n t l i c h größere V i e l f a l t , K o m p l e x i t ä t u n d F u n k t i o n a l i t ä t g e k e n n z e i c h n e t ist u n d eine A n z a h l v o n Z e i c h e n u n d Zuordn u n g e n enthält, die i m S y s t e m einer natürlichen Sprache n i c h t v o r k o m m e n . Ein anderer Grundsatz dieses B u c h e s ist der, alle U n t e r s u c h u n g e n über A r t u n d V e r w e n d u n g der Z e i c h e n in der D i c h t u n g t e x t b e z o g e n d u r c h z u f ü h r e n , d . h . in der R e g e l v o m k o n k r e t e n , strukturellen B e f u n d e i n e s realisierten Zeic h e n s y s t e m s a u s z u g e h e n . D a ß dabei die A n a l y s e der p r o d u z i e r t e n Zeichenstruktur n i c h t z u trennen ist v o n der B e s c h r e i b u n g der Wirkungen der Z e i c h e n im R e z e p t i o n s p r o z e s s , wird sich dabei i m m e r w i e d e r z w i n g e n d erweisen.
131 Es gehört nicht zu den Aufgaben der vorliegenden Studie, einen vollständigen Forschungsbericht über die Publikationen auf dem Gebiet der literarischen Semiotik zu geben. Ein solches Unterfangen, das im Hinblick auf die in rascher Folge erscheinenden Arbeiten in diesem Bereich wohl angebracht wäre, muß einem anderen Zusammenhang vorbehalten bleiben. Alle wichtigen und für unsere Zielsetzung interessanten Arbeiten werden jedoch im folgenden an gegebener Stelle zitiert werden. Für eine Gesamtorientierung über die semiotische Forschung (im weiteren Sinne) liegt jetzt vor A. Eschbach, Zeichen-Text-Bedeutung. Bibliographie zu Theorie und Praxis der Semiotik, München 1974. Obwohl diese Bibliographie leider in allen Teilen, insbesondere aber für die Publikationen der letzten Jahre, Lücken aufweist, kann sie einen brauchbaren Überblick über Themen und Tendenzen der semiotischen Forschung vermitteln. Vgl. auch die Zeitschriften „Semiotica" (Den Haag, Mouton), „Quaderni di studi semiotici" (Milano, Bompiani), „Communications" (Paris, Seuil), ferner die „Documents de travail" des „Centro internazionale di semiotica e di linguistica" (Urbino) und die Reihe „Approaches to semiotics" (Den Haag, Mouton). Für die literarische Semiotik sei vorweg noch verwiesen auf: Essais de sémiotique poétique, hgg. von A. J. Greimas, Paris 1972; Sémiotique narrative et textuelle, hgg. von Cl. Chabrol, Paris 1973; A. J.Greimas, Du sens. Essais sémiotiques, Paris 1970 (und dazu die kritischen Besprechungen von Cl. Bremond in: Semiotica V, 1972, S. 3 6 2 - 3 8 2 und K. Stierle in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur, 83, 1973, S. 9 9 - 1 2 8 ) . Die von J. Trabant vorgelegten Überlegungen: Zur Semiologie des literarischen Kunstwerks. Glossematik und Literaturtheorie, München 1970, bleiben überwiegend theoretisch und sind durch ein hohes Abstraktionsniveau gekennzeichnet. Trabant versteht sein Buch als „einen Beitrag zur .Aufhebung' des Strukturalismus, genauer einer Richtung des Strukturalismus, der Glossematik . . . " (S. 15). Die von ihm entwickelte „modifizierte Form der „glossematischen" Literaturtheorie" bleibt jedoch „zutiefst der Lehre Hjelmslevs verbunden" (S. 98). Es bleibt offen, ob das auf der Hjelmslevschen Unterscheidung von Ausdrucks- und Inhaltsebene sowie Form und Substanz aufbauende „modifizierte Modell des ästhetischen Zeichens" am Schluß des Bandes (S. 281) für eine semiotische Beschreibung von Dichtung brauchbar ist. 33
II. DAS ZEICHENSYSTEM DER DICHTUNG
1. Gedichte: Zeichen über Zeichen.
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VAUT ET VRAI COM ME ON 35
Bei einem Figurengedicht wie dem hier abgebildeten von Guillaume Apollinaire mit dem Titel „Coeur couronne et miroir" 1 ist leicht einzusehen, daß die in dieses Gedicht eingegangene Menge Sprache zugleich noch nach außersprachlichen Ordnungsprinzipien und Verknüpfungen geformt worden ist, die im System keiner bekannten Sprache anzutreffen und daher auch von keinem Grammatiker aufgezeichnet worden sind. Das Gedicht enthält drei Textabschnitte bzw. „Strophen", nämlich: 1. Mon coeur pareil à une f l a m m e renversée 2.
Les rois qui meurent tour à tour renaissent au coeur des p o è t e s
3. D a n s ce miroir je suis e n c l o s vivant et vrai c o m m e on imagine les anges et non c o m m e sont les reflets
Jeder dieser drei Abschnitte bildet je eine Figur, so daß nach und nach Herz, Krone und Spiegel abbildhaft vor uns erstehen. In die Mitte der dritten Figur, des Spiegels, hat der Dichter seinen Namen eingefügt. Es ist evident, daß Apollinaire im vorliegenden Falle nicht nur aus dem Material des Neufranzösischen einen dreigegliederten poetischen Text gemacht, sondern zugleich auch durch eine bestimmte räumlich-typographische Anordnung des Sprachmaterials bildliche Effekte und das heißt zugleich zusätzliche Semantisierungen erzielt hat. „Et moi aussi je suis peintre!" — dieser Tendenz zufolge versuchte Apollinaire seinerzeit, in einer großen Zahl von Figurengedichten mit der Sprache in einen Raum vorzudringen, der normalerweise der Malerei vorbehalten ist, und stellte sich damit zugleich in eine schon jahrtausendealte Tradition des sogenannten Figurengedichts. 13 Dennoch stellen Figurengedichte wie
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G. Apollinaire, O E u v i e s poétiques, T e x t e établi et a n n o t é par M. A d é m a et M. Décaudin, Paris 1965 (Pléiade), S. 197. l a Die meisten der Figurengedichte Apollinaires findet man in den „Calligrammes. P o è m e s de la paix et de la guerre" ( 1 9 1 3 - 1 9 1 6 ) , I.e. S. 1 6 3 - 3 1 4 . A u s dieser Sammlung stammt auch das o b e n wiedergegebene G e d i c h t . - Der Satz: ,,Et moi aussi j e suis peintre", in d e m n o c h das alte ,,ut pictura poesis" nachschwingt, war von Apollinaire als Titel für eine Sammlung von Figurengedichten (die er „ i d é o g r a m m e s lyriques" nannte) vorgesehen, die 1 9 1 4 in Paris erscheinen sollte, was j e d o c h durch den Kriegsausbruch verhindert wurde; vgl. I.e., S. 1 0 7 4 f . Die Figurengedichte Apollinaires sind selbstverständlich im Zusammenhang zu sehen mit entsprechenden typographischen (und ideographischen) Praktiken des Surrealismus und des Futurismus, w o v o n hier nicht zu handeln ist. - Die m o d e r n e n Figurengedichte haben bereits antike Vorläufer in der griech. technopaignia und d e m lat. Carmen figuratum; vgl. den Überblick über die G e s c h i c h t e des Figurengedichts (auch ,Bildge-
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die Apollinaires aufs ganze gesehen einen Sonderfall lyrischen Schaffens dar, und wir legen Wert darauf, die folgenden Ausführungen über die Zeichenverhältnisse in lyrischen Texten nicht an Ausnahmeerscheinungen — so instruktiv sie auch sein mögen — sondern zunächst am gängigen Regelfall eines in Form und Inhalt „normal" und „vertraut" erscheinenden Gedichts zu exemplifizieren. Wir wählen dazu den Text eines Lyrikers, der nicht nur der bekannteste und populärste, sondern auch einer der größten Frankreichs gewesen ist. LES REÎTRES Chanson barbare Sonnez, clairons, Sonnez, cymbales! On entendra siffler les balles; L'ennemi vient, nous le battrons; Les déroutes sont des cavales Qui s'envolent quand nous soufflons; Nous jouerons aux dés sur les dalles; Sonnez, rixdales, Sonnez, doublons! Sonnez, cymbales, Sonnez, clairons! On entendra siffler les balles; Nous sommes les durs forgerons Des victoires impériales; Personne n'a vu nos talons; Nous jouerons aux dés sur les dalles; Sonnez, doublons, Sonnez, rixdales!
dicht' genannt) von H. Rosenfeld im Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, ed. W. Kohlschmidt und W. Mohr, Bd. I, Berlin, 1 9 5 8 2 , S. 461f. (mit Literaturangaben). Über den Gesamtrahmen der visuellen Poesie informiert K. P. Dencker, TextBilder. Visuelle Poesie international. Von der Antike bis zur Gegenwart, Köln 1972 (mit reicher Bibliographie). Speziell zur Geschichte und Praxis der modernen ,.Konkreten Dichtung" vgl. noch P. Garnier, Spatialisme et poesie concrete, Paris 1968; H. Heißenbüttel, Konkrete Poesie, in: Über Literatur. Aufsätze und Frankfurter Vorlesungen, München 1970, S. 66ff. (zuerst Ölten 1966); ders., Zur Geschichte des visuellen Gedichts im 20. Jahrhundert, ib., S. 7 0 - 7 7 ; S . J . S c h m i d t (Hg.), Konkrete Dichtung. Texte und Theorien, München 1972 (mit ausführlicher Bibliographie).
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Sonnez, clairons, Sonnez, cymbales! On entendra siffler les balles; Sitôt qu'en guerre nous entrons Les rois ennemis f o n t leurs malles, Et commandent leurs postillons; Nous jouerons aux dés sur les dalles; Sonnez, rixdales, Sonnez, doublons! Sonnez, cymbales, Sonnez, clairons! On entendra siffler les balles; Sur les villes nous tomberons; Toutes femmes nous sont égales, Que leurs cheveux soient bruns ou blonds; Nous jouerons aux dés sur les dalles; Sonnez, doublons, Sonnez, rixdales! Sonnez, clairons, Sonnez, cymbales! On entendra siffler les balles; Du vin! Du faro! nous boirons! Dieu, pour nos bandes triomphales Fit les vignes et les houblons; Nous jouerons aux dés sur les dalles; Sonnez, rixdales, Sonnez, doublons! Sonnez, cymbales, Sonnez, clairons! On entendra siffler les balles; Quelquefois, ivres, nous irons A travers foudres et rafales, En zigzag, point à reculons. Nous jouerons aux dés sur les dalles; Sonnez, doublons, Sonnez, rixdales! Sonnez, clairons, Sonnez, cymbales! On entendra siffler les balles; Nous pillons, mais nous conquérons; La guerre a parfois les mains sales, Mais la victoire a les bras longs; Nous jouerons aux dés sur les dalles; Sonnez, rixdales, Sonnez, doublons!
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Sonnez, rixdales, Sonnez, doublons! Nous jouerons aux dés sur les dalles; Rois, nous sommes les aquilons; Vos couronnes sont nos vasalles; Et nous rirons quand nous mourrons. On entendra siffler les balles; Sonnez, clairons, Sonnez, cymbales!
Bei dem vorliegenden Gedichttext Victor Hugos mit dem Titel „Les Reîtres" mag man sich auf den ersten Blick fragen, wo denn in diesem Text die erwähnten außer- bzw. übersprachlichen Elemente zu finden seien. lb Der Titel des Gedichts besteht aus zwei Wörtern; der Untertitel ebenfalls; auch die einzelnen Strophen des Gedichts scheinen aus nichts anderem gemacht zu sein als aus Wörtern. Dennoch gilt gerade hier, was Sartre schon in den vierziger Jahren, eine der Grundthesen der literarischen Semiotik vorwegnehmend, so formulierte: „Das literarische Objekt ist niemals in der Sprache gegeben, obwohl es sich durch die Sprache hindurch verwirklicht," 2 Und man könnte, noch einmal Sartre folgend, dieses Gedicht Wort für Wort und Bedeutung für Bedeutung durchgehen und erhielte noch lange nicht das, was Sartre den Sinn des Werkes nennt. 3 Offensichtlich geht der Sinn des Gedichts aus einem vielschichtigen, doch einheitlichen und geschlossenen System hervor — Sartre spricht hier von einer „totalité organique" 4 — dessen Beschreibung in der Regel gerade deswegen schwierig ist, weil es aus ganz unterschiedlichen Elementen und Zuordnungen bestehen kann. Zunächst sei versucht, einige Ordnungsprinzipien zu beschreiben, die zwar mit dem Material der Wörter arbeiten, aber selbst nicht sprachlicher Natur sind. Daß die im Text enthaltene Sprachmenge besonderen Zuordnungen und Formungen unterworfen worden ist, läßt sich auch in diesem Falle schon ihrer typographischen Anordnung entnehmen, d.h. der Art und Weise, mit der die Wörter und Sätze des Textes l b Text nach: Victor Hugo, La légende des siècles, T e x t e établi et annoté par J. Truchet, Paris 1950 (Pléiade), S. 1 1 6 - 1 1 8 . 2 ,, . . . L'objet littéraire, quoiqu'il se réalise à travers le langage, n'est jamais donné dans le langage", Sartre, Qu'est-ce que la littérature? in: Situations II, Paris 1948, S. 94. Hervorhebungen von Sartre. 3 „Ainsi, dès le départ, le sens n'est plus contenu dans les m o t s puisque c'est lui, au contraire, qui permet de comprendre la signification de chacun d'eux . . . Aussi les cent mille mots alignés dans un livre peuvent être lus un à un sans que le sens de l'oeuvre en jaillisse; le sens n'est pas la somme des mots, il en est la totalité organique"; ib. 4 Vgl. das Zitat der vorhergehenden Anmerkung.
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über das leere Blatt verteilt sind. Gedichte sind im Regelfall daran zu erkennen, daß der Text in mehr oder weniger regelmäßigen Strophen gebündelt auf der Seite erscheint, im Unterschied zur Prosa, die gewöhnlich alle Zeilen einer Seite regelmäßig ausfüllt. Die typographische Anordnung zeigt nun, daß Victor Hugo sein Gedicht nach einem komplizierten und doch regelmäßigen System aufgebaut hat. Alle acht Strophen des Gedichts sind in ihrer äußeren Form gleich und auffallend. Zwei kurze, viersilbige Verse stehen am Anfang und Ende einer jeden Strophe und umrahmen das aus fünf achtsilbigen Versen bestehende Mittelstück. Betrachtet man diese heterometrischen Strophen in ihrer rein graphisch-visuellen Präsenz auf dem Weiß der Seite (ohne noch auf die metrischen Voraussetzungen einzugehen), so erscheinen sie unbestreitbar in einer gewissen figürlichen, gestalthaften Form, die etwa an die Form von Kreuzen oder von Fliesen erinnern kann. So wird auch im Text Hugos (wenn auch in geringerem Maße als in dem Apollinaires) bereits in der rein visuellen, typographischen Anordnung des Sprachmaterials etwas von jener ikonischen, abbildenden Funktion sichtbar, die im Zeichensystem der Dichtung eine wichtige Rolle spielt und uns daher noch beschäftigen wird. 5 Auch einige der zusätzlichen Semantisierungseffekte einer derart angeordneten Menge Sprache zeichnen sich bereits ab: Unwillkürlich fragt sich z.B. der Leser, was diese Strophenform wohl zu bedeuten habe — eine Frage, die, wie sich ergeben wird, aus dem Gesamtsystem des Textes beantwortet werden kann. Ohne auf Einzelheiten des Inhalts oder der metrischen Form einzugehen, ist somit auch hier bereits erkennbar, daß die Handhabung der unbeschriebenen Seite, die Verteilung von bedruckten und unbedruckten Flächen auf dem Raum der Seite das im Text verwendete Sprachmaterial einer zusätzlichen, außersprachlichen Ordnung unterwirft, die zu einer zusätzlichen ikonischen und semantischen Funktionalisierung der Sprache des Textes führt. Daß dieses Ordnungsprinzip der „spatialisation" 6 außersprachlicher Herkunft ist, liegt auf der Hand: In der gesprochenen Sprache gleich welcher Schicht kann es nicht verwendet werden, da es nur mithilfe nichtsprachlicher Materialien und Verfahren durchzufuhren ist, nämlich durch Beschreiben oder Bedrucken von Papier. Die Beschreibung einer Kunstsprache mit ihren vielfältigen Möglichkeiten muß daher auch weit über den engeren, linguistischen Bereich der Beschreibung einer Einzelsprache hinausgehen.
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„Iconische Zeichen sind nach dem Prinzip einer immanenten Kopplung von Ausdruck und Inhalt konstruiert"; Lotman, Struktur, S. 40. Vgl. oben S. 29f. Der erst seit der Jahrhundertmitte bekannte Terminus „spatialisation" wird neuerdings von der französischen Kritik verwendet in der Bedeutung „flächenhafte Anordnung, räumliche Gestaltung eines poetischen Textes", so z.B. von D . Delas et J. Filliolet, Linguistique et poétique, Paris 1973, S. 1 6 8 f f .
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Zu den Möglichkeiten der Kunstsprache gehören auch die metrischen Verfahren. Offensichtlich ist die auffallende Anordnung der Verse in acht heterometrische Strophen der äußere, visuelle Ausdruck einer durchgehenden metrischen Strukturierung des Textes. Metrische Gestaltung eines Textes besagt zunächst, daß die einzelnen Textsegmente (also hier vor allem die einzelnen Verse) für sich und in ihrem Verhältnis zueinander nach bestimmten regelhaften Gesichtspunkten abgemessen sind. Diese Regeln und Maße sind formalisierbar und können in einem Schema mit Zahlen und Buchstaben wiedergegeben werden. Dieses dem Sprachmaterial aufgezwungene Schema (Regelsystem) der Metrik ist außersprachlicher Natur, es hat seinen Ursprung teils in Konventionen, d.h. in einer poetischen Tradition, die seit eh und je bestimmte Regeln einer zusätzlichen Strukturierung der Sprache vorschrieb, teils auch in der Erfindungsgabe des Autors, d.h. in der individuellen Innovation. 7 Auch die metrische Struktur unseres Textes enthält traditionelle wie innovatorischindividuelle Elemente und Regeln. So verwendet Victor Hugo den ältesten französischen Vers, den im Mittelalter besonders beliebten, doch bis zur Gegenwart gern gebrauchten Achtsilber („octosyllabe"); er verwendet den zwar wesentlich selteneren, aber doch gerade aus heterometrischen Strophen bekannten Viersilber („quadrisyllabe"); er verwendet in der Reimfolge das Schema des bekannten umschlungenen Reims („rimes embrassées" : abba) oder etwa das Schema des Kreuzreims („rimes croisées", „rimes entrelacées": abab) und anderes mehr. Trotz einzelner konventioneller Bauteile stellt der metrische Gesamtaufbau des vorliegenden Gedichts ein individuelles, ja eigenwilliges Gesamtsystem dar, dessen Regeln keineswegs so einförmig sind, wie es die übereinstimmende typographische Anordnung der Strophen und ihr einheitliches äußeres Erscheinungsbild zunächst vermuten ließe. Einige Beobachtungen mögen dies veranschaulichen. Durchgehend findet man an Anfang und Ende aller acht Strophen ein viersilbiges Verspaar. Die kurzen Verse sind stets nach dem glei-
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Die Frage, o b metrische Schemata und Regeln sprachlicher Natur sind und daher zum Objektbereich der Linguistik gehören oder nicht, ist wiederholt gestellt und unterschiedlich beantwortet worden. Jakobson z.B. definierte in seiner Arbeit über „Linguistik und Poetik" folgendermaßen: „die Analyse von Versen liegt gänzlich in der Kompetenz der Poetik und letztere kann definiert werden als der Teil der Linguistik, der sich mit der poetischen Funktion der Sprache in Relation zu anderen Sprachfunktionen befaßt"; und weiter: „das poetische Metrum hat indessen derart viel innersprachliche Besonderheiten, daß es am besten von einem rein linguistischen Standpunkt aus zu beschreiben ist", vgl. Ihwe, Literaturwissenschaft, S. 5 2 4 und 5 3 2 . Demgegenüber vertrat Chatman m . E . zu Recht die Meinung, daß „das Metrum als ein System außerhalb der Sprache existiert" (ib.). Vgl. auch die Feststellungen Ruwets zur linguistischen Versanalyse, o b e n S. 12ff.
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chen syntaktischen Schema gebaut, nämlich nach der Folge: Imperativ des Plurals + Substantiv im Plural. Auch die Interpunktion der beiden Verse bleibt gleich: die Imperative der beiden Kurzverse werden durch ein K o m m a abgetrennt; der erste Kurzvers schließt jeweils mit einem K o m m a , der zweite stets mit einem Ausrufungszeichen. Es ergibt sich also für die Interpunktion durchgehend das Schema
Dennoch machen gerade die Kurzverse des Gedichts deutlich, daß Hugo nicht nur mit übereinstimmenden Bauteilen, sondern auch nach dem Prinzip der Variation des Identischen arbeitet. So wird die erste Strophe eröffnet mit den Versen: Sonnez, clairons, Sonnez, cymbales!
die zweite jedoch mit der Versfolge Sonnez, cymbales, Sonnez, clairons!
die dritte Strophe wieder mit der Versfolge der ersten, die vierte mit der der zweiten Strophe und so regelmäßig weiter. Die Reihenfolge der beiden Eingangsverse wechselt also regelmäßig ab; Gleiches gilt aber auch für die beiden viersilbigen Schlußverse. Hier findet man in der ersten Strophe: Sonnez, rixdales, Sonnez, doublons!
in der zweiten Strophe heißt es jedoch am Schluß umgekehrt: Sonnez, doublons, Sonnez, rixdales!
und so weiter bis zur achten Strophe. In dieser führt Victor Hugo eine zusätzliche Variation ein: obwohl die beiden Kurzverspaare in der geschilderten Weise bis in die letzte Strophe hinein regelmäßig in ihrer Aufeinanderfolge alternieren, tauscht er nunmehr am Ende des Gedichts die beiden Verspaare am Anfang und am Ende der Strophe gegeneinander aus: Die Verse, die bisher die Strophe einleiteten, beschließen sie nun und umgekehrt: 42
Sonnez, rixdales, Sonnez, doublons!
Sonnez, clairons, Sonnez, cymbales!
Damit wird zugleich erreicht, daß das gleiche Verspaar, nämlich das zuletzt zitierte, das Gedicht eröffnet und beschließt. Wie steht es mit den achtsilbigen Versen des Gedichts? Deren erster, also der dritte Vers der Strophe, bleibt in Wortlaut und Interpunktion in allen Strophen mit Ausnahme der letzten gleich: On entendra siffler les balles;
Gleiches gilt für den letzten Achtsilber, also den siebten Vers einer jeden Strophe; er lautet stets: Nous jouerons aux dés sur les dalles;
Aber auch hier wird die letzte und achte Strophe durch eine Variation der Regel ausgezeichnet: der bisherige dritte Vers der Strophe wird an die Stelle des siebten und dieser an die Stelle des dritten gerückt. 8 Bei den Reimen und ihrer Abfolge ergibt sich das gleiche Bild einer systematischen, auf Wechsel und Wiederkehr gegründeten An- und Zuordnung des sprachlichen Materials. Die einzelnen Strophen ergeben folgendes Reimschema: 1. Strophe a b b a
a b b a 8
2. Strophe
3. Strophe
b a
4. Strophe
a b
b a
b a
b a
b a
a b
a b
a b
a
b b
usw.
a a
b
Bei diesen und den zuvor erwähnten Umstellungen innerhalb der achten und letzten Strophe des Gedichts handelt es sich um typische Schlußsignale metrisch gebundener Texte, die die Lesererwartung auf den Textschluß einstellen. Bei mündlichem
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Zwei regelmäßig alternierende Reimfolgen liegen vor: die der ersten Strophe ist zugleich die der dritten, fünften und siebten Strophe; das Schema der zweiten Strophe kehrt wieder in der vierten, sechsten und achten Strophe des Gedichts. Dieses Reimschema beruht zum großen Teil auf Umstellung von für sich gleichbleibenden Versen. Von den insgesamt neun Versen der Strophe bleiben nicht weniger als sechs im Wortlaut identisch und werden lediglich in ihrer Zuordnung im Rahmen der Strophe variiert. Hinsichtlich der Reime gelten zwei weitere Regeln durchgehend für alle Strophen: Der fünfte Vers einer jeden Strophe, der Mittelvers, hat stets den Reim b; um diesen Reim des Mittelverses gruppieren sich in jeder Strophe spiegelbildlich die übrigen Reime. Mit den bisherigen Beobachtungen sind einige außersprachliche Elemente des vielschichtigen Zeichensystems des vorliegenden Textes dargestellt: Anordnungen und Verknüpfungsregeln, die zwar mit dem Material der Sprache arbeiten, für sich betrachtet aber nicht zur verwendeten Sprache gehören. Das komplexe Zeichensystem einer Dichtung beinhaltet indes nicht nur außersprachliche, auf Sprache angewendete Teilsysteme und Schemata, sondern ebenso auch Zeichenelemente und Funktionen, die in der Sprache selbst angelegt sind bzw. aus ihr heraus aktualisiert werden können. Die Beobachtungen an den außersprachlichen Elementen des Textes könnten zu der Annahme verfuhren, als sei die Sprache des Gedichts nach Eliminierung aller außersprachlichen Strukturierungen mehr oder weniger mit der Einzelsprache identisch, die dem Text als Material zugrundeliegt, also dem Neufranzösischen. Daß die im Text verwendete Sprache jedoch auch nach Abzug aller typographischen, metrisch-rhythmischen und sonstigen außersprachlichen Zuordnungen und Verknüpfungen immer noch weit davon entfernt ist, mit der gewöhnlichen Kommunikationszwecken dienenden Norm der neufranzösischen Sprache zusammenzufallen, mag der folgende Transkriptionsversuch zeigen. 9 Man versu-
Vortrag würde als Schlußsignal auch die Intonation der letzten Strophe fungieren. Die Funktionen von Eröffnungs- und Schlußsignalen lyrischer bzw. generell poetischer T e x t e in Bezug auf die Steuerung der Lesererwartungen sind m . W . noch nicht systematisch untersucht worden. Dagegen liegt für die Gliederungssignale der gesprochenen französischen Umgangssprache vor E . Gülich, Makrosyntax der Gliederungssignale im gesprochenen Französisch, München 1 9 7 0 . - W. Dressier, Einführung in die Textlinguistik, Tübingen 1 9 7 2 , der nur kurz auf die Textschlüsse normalsprachlicher T e x t e eingeht, bemerkt, daß deren Funktion im Blick auf den Leser „ n o c h nicht u n t e r s u c h t " sei (S. 6 2 ) . - A u f Eröffnungssignale der literarischen Kommunikation geht nur kurz ein H. Weinrich, Literatur für Leser, Stuttgart 1 9 7 1 , S. 9f., der in diesem Zusammenhang von einem „Codewechsel-Code" spricht. 9
Mit „ N o r m " meinen wir die durchschnittliche Verwendung der Sprache in einer Gesellschaft, also die ..gesellschaftliche N o r m " im Sinne Coserius; vgl. dazu oben S. 2 3 .
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che einmal, die erste Strophe des Gedichts unter Ausklammerung aller genannten außersprachlichen Verknüpfungsregeln wie einen „normalen" französischen Prosatext des 19. Jahrhunderts zu lesen, also etwa so: Sonnez, clairons, sonnez, cymbales! On entendra siffler les balles; l'ennemi vient, nous le battrons; les déroutes sont des cavalles qui s'envolent quand nous soufflons; nous jouerons aux dés sur les dalles; sonnez, rixdales, sonnez doublons!
Man könnte noch einen Schritt weiter gehen und die von Hugo gebrauchten Archaismen und seltenen Wörter wie .rixdales', .doublons'und .cymbales', die in normaler Prosa kaum vorkommen, sowie die im obigen Text beibehaltenen Reimwörter eliminieren 10 — der so entstehende Text bliebe dennoch etwas anderes als normale Prosa, etwa die eines Feuilleton-Artikels oder eines Polizeiberichts. Woran liegt das? Im Unterschied zu anderen Gedichttexten, die sich auf den ersten Blick durch eine regelabweichende, „unnormale" Syntax oder durch auffallende Klangmuster, durch Lautmalerei bzw. das Überwiegen bestimmter Vokal- oder Konsonantenreihen usw. von normaler Alltagssprache unterscheiden, 11 ist die Syntax dieses Gedichttextes ziemlich regelmäßig und entspricht weitgehend den Regeln der neufranzösischen Grammatik; ebenso fehlt, sieht man von den Wiederholungen der Reime ab, jedes über das phonische Gefüge der Normalsprache wesentlich hinausgehende Akzentuieren der Klangstruktur. Die wesentlichen distinktiven Merkmale, die den Gedichttext trotz seiner Reduktion in die äußere Form der Prosa immer noch als einen poetischen Text von einem solchen der Umgangssprache abheben, liegen im Bereich der Semantik. Während die Sprache etwa eines Zeitungsartikels in der Regel durch ein Überwiegen der Denotationsleistung und nur geringe konnotative Funktionen gekennzeichnet ist, liegt es bei dem obigen Text genau umgekehrt: die konnotative Funktion ist auf Kosten der denotativen relativ stark entwickelt. Der Informationsgehalt dieses Textes ist — im Unterschied zur Alltagssprache, die schon durch den pragmatischen „Kontext" der Sprechsituation immer ein hohes Maß an Eindeutigkeit und Information besitzt — relativ gering. Man erfährt nur von wenigen, vagen Dingen, die jeder Eindeutigkeit entbehren - jener Eindeutigkeit und hohen Redundanz, die für die Semantik gerade der Umgangs- und Normalsprache konstitutiv
10 Und damit die lautlichen Wiederholungen (cymbales - balles - cavalles usw.); doch lassen sich bereits aus der oben gegebenen Transkription die für unsern Zusammenhang wesentlichen Merkmale ablesen. 11 Eine solche auffallende Distanz zur normalen Sprachverwendung ist in syntaktischer Hinsicht z.B. bei den Gedichten des späten Mallarmé festzustellen; vgl. dazu unten S. 117ff.
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sind. Man erfährt, d a ß Hörner blasen, Kugeln pfeifen, daß ein Feind k o m m t , d a ß er geschlagen wird, d a ß man auf Fliesen Würfel spielt usw. — aber es fehlt jede direkte, eindeutige Bestimmung der Personen, der Zeit u n d des Ortes der Handlung; es fehlen geographische Details ebenso wie geschichtliche D a t e n , Bestimmung des soziokulturellen Milieus, der Handlungsmotive u n d dergleichen. Der Informationsgehalt des Textes ist schon deswegen im Verhältnis zur Sprachmenge des Textes relativ dürftig, weil, wie bereits e r w ä h n t , über die Hälfte dieses Materials (nämlich die Verse 1—3 u n d 7—9 einer jeden Strophe) aus identischen Textsegmenten b e s t e h t . Es treten also im Sinne normalsprachlicher K o m m u n i k a t i o n k a u m neue I n f o r m a t i o n e n h i n z u . Selbst w e n n man nicht nur die erste Strophe, sondern den gesamten G e d i c h t t e x t als einheitliches Prosastück liest, e r h ö h t sich der reine Informationsgehalt nicht wesentlich. Dafür aber bleibt selbst die zur Prosa reduzierte Sprache des Textes gekennzeichnet durch eine sehr hohe K o n n o t a t i o n s d i c h t e . Der T e x t evoziert eine nicht zu begrenzende Zahl von K o n n o t a t i o n e n u n d Assoziationen, die freilich erst dann voll aktualisiert werden, w e n n der gesamte T e x t einschließlich des Titels und des Untertitels ins Auge gefaßt wird. Gerade diese beiden den Text einleitenden Segmente erweisen sich in h o h e m Maße als assoziationserzeugende und -steuernde Elemente. D u r c h den Archaismus „ r e i t r e s " wird die Phantasie des Lesers in eine Vergangenheit gelenkt, in der plündernde und m o r d e n d e Marodeure brandschatzend d u r c h die Lande zogen. (Der deutsche Leser denkt etwa an die Reiterscharen des Dreißigjährigen Krieges, deren Treiben er aus den Schilderungen Grimmelshausens k e n n t ) . Diese erste Assoziation einer verrohten Soldateska wird aufgegriffen und intensiviert durch den Untertitel, der die Zügellosigkeit u n d Roheit dieser Scharen unterstreicht. Die nachfolgenden Textsegmente evozieren dann nach u n d nach das Bild der unerschrockenen, marodierenden Reiterscharen. Dadurch, daß Hugo keinen Vorgang, keine Handlung in die Eindeutigkeit denotativer bzw. deskriptiver Sprache zwängt, sondern das wenige, das er überhaupt e r w ä h n t , in suggestiver Unschärfe a n d e u t e t , bleibt die Phantasie des Lesers bei keiner eindeutigen Information stehen, sondern wird ständig in die O f f e n h e i t vieler möglicher Vorstellungen hinausgewiesen. Wieviele Bilder und Assoziationen r u f t nicht ein Satz wie der folgende hervor (der wiederum u n t e r phonetischem und syntaktischem Aspekt keine Unterschiede zur N o r m des Neufranzösischen aufweist): „La guerre a parfois les mains sales, mais la victoire a les bras longs", in d e m global u n d doch anschaulich die Brutalität des Krieges vor u n s ersteht. 1 2 12 An die Stelle eines einmaligen, raschen Dekodierungsaktes, der sofort den gesamten Informationsgehalt einer umgangssprachlichen Botschaft aktualisiert (für den Satz: „Der Zug fährt Gleis 7" ist nur ein Rezeptionsakt erforderlich, der die Information des Satzes ausschöpft) wird hier also „die Dekodierungserfahrung offen, pro-
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Oder e t w a jener andere Satz „ N o u s j o u e r o n s a u x d é s sur les dalles", der in w e n i g e n Wörtern das rücksichtslos randalierende Saufgelage der S o l d a t e s k a evoziert. D a m i t w e r d e n bereits w e i t e r e Merkmale dichterischer Sprache sichtbar. Einmal kann die K o n n o t a t i o n s d i c h t e d e s T e x t e s o f f e n s i c h t l i c h nur d a n n voll aktualisiert w e r d e n , w e n n der L e s e r / E m p f ä n g e r ein w e s e n t l i c h h ö h e r e s Maß an A k t i v i t ä t aufbringt als dies zur D e k o d i e r u n g normaler k o m m u n i k a t i v e r S p r a c h e n o t w e n d i g ist. I n s o f e r n ist der Leser v o n D i c h t u n g , w i e m a n gerade in letzter Zeit z u b e t o n e n p f l e g t , i m m e r z u g l e i c h K o p r o d u z e n t der ästhetis c h e n B o t s c h a f t . 1 3 Z u m anderen zeigt sich hier bereits, daß die D e k o d i e r u n g v o n p o e t i s c h e r Sprache, gleichviel o b Lyrik o d e r Prosa, gegenüber der D e k o dierung v o n Alltags- b z w . Umgangssprache w e s e n t l i c h erschwert u n d zugleich verlangsamt ist, ein F a k t u m , auf das i n s b e s o n d e r e die R u s s i s c h e n Form a l i s t e n h i n g e w i e s e n h a b e n . 1 4 Es liegt auf der H a n d , daß der D e k o d i e r u n g s -
zeßartig", indem „das Werk ständig seine Denotationen in Konnotationen und seine Signifikate in Signifikanten anderer Signifikate verwandelt", Eco, Einführung, S. 154. Eco beschreibt damit nichts anderes als das unten S. 50 in den Schemata Hjelmslevs und Barthes' dargestellte Funktionieren der Konnotation. Ein Satz wie „La guerre a parfois les mains sales, mais la victoire a les bras longs" denotiert zunächst das Signifikat „Der Krieg hat manchmal schmutzige Hände, aber der Sieg hat lange Arme". Dieses Signifikat wird jedoch seinerseits zum Signifikanten eines oder vieler weiterer Signifikate mit allerdings globalerem und weniger scharfem Inhalt, etwa: „Habgier als Motiv des Krieges" - „Brutalität des Krieges erzieht zu brutaler Ausbeutung" usw. usw. Vgl. die Ausführungen auf S. 50ff. 13 Paul Valéry formulierte diese Tatsache so: „On reconnaît le poète . . . à ce simple fait qu'il change le lecteur en inspiré" ( Œ u v r e s Bd. I, S. 1321). Wohl am stärksten ist in neuerer Zeit die Koproduktivität des Lesers hervorgehoben worden von A. Nisin, nach dem das literarische Werk nicht auf den Seiten eines Buches, sondern nur im Leser existiert; vgl. La littérature et le lecteur, Paris 1959. Einen knappen Auszug aus wirkungsästhetischen Überlegungen von Aristoteles' Poetik bis zur Gegenwart bringt H. Weinrich, Literatur für Leser, S. 24ff. Eine Auswahl aus den neueren, überwiegend theoretischen Überlegungen zur Leserrolle bietet der Sammelband von R. Warning, Rezeptionsästhetik, Theorie und Praxis, München 1975. Kennzeichnend für die augenblickliche Forschungssituation auf diesem Gebiet ist die Tatsache, daß - trotz des Untertitels - nur ein Zehntel dieses umfangreichen Bandes (nämlich 40 von rund 400 Seiten) praktischen Applikationsversuchen gewidmet ist; vgl. das Kap. „Applikation e n " , S. 3 5 3 - 3 9 3 . 14 Die Russischen Formalisten sprechen in diesem Zusammenhang häufig von der „Entautomatisierung" dichterischer Sprache, der „Erschwerung" und „Verfremdung" des sprachlichen Ausdrucks in der Dichtung, womit die Distanz, die poetsiche Sprache als eine sekundäre Kunstsprache von der Alltagssprache gewinnt, gemeint ist. V. Sklovskij gelangte bekanntlich zur „Definition der Dichtung als einer gebremsten, verbogenen Sprache", einer „Konstruktions-Sprache" und verstand dementsprechend „Bremsung, Verzögerung als allgemeines Gesetz der K u n s t " (vgl. Texte der Russischen 47
prozeß von Dichtung nicht wie in der Umgangssprache bei dem denotierten Sinn der Botschaft Halt macht, sondern darauf aus sein muß, jenseits und hinter dem primären Sinn der Wörter und Sätze, der gerade in unserem Falle recht unbedeutend ist, einen „tieferen", globalen und vielschichtigen Gehalt zu erstellen, eben den „Sinn" der Dichtung. 15 Mit dieser Eigenschaft hängt ein drittes distinktives Merkmal dichterischer Sprache zusammen. Offensichtlich kann man poetische Texte nicht oder nicht in dem Maße linear-sukkzessiv dekodieren, wie dies bei normalsprachlichen Texten die Regel ist, wo der Leser/Hörer Segment für Segment auf seine Informationen hin dekodiert und diese dann sukkzessive zur Gesamtinformation des Textes addiert. Poetische Texte sind dagegen gekennzeichnet durch eine mehr „flächenhafte Sprachgestaltung", 16 die weniger im Nacheinander der Textsegmente als vielmehr in ihrer Gesamtheit global und synoptisch rezipiert werden will. Die Textsegmente einer Dichtung stehen nicht für sich, auch nicht in einer nur linearen Sinnfolge, sondern weisen in jedem Augenblick in alle Richtungen des Textes voraus und zurück. Erst das funktionale Zusammenspiel aller Elemente und Funktionen des Textes ergibt den vollen Gehalt der Dichtung und muß daher vom Leser in einer synoptischen Globalisierungsleistung nachvollzogen werden. 17 Gerade Hugos Gedicht ist ein Beispiel dafür, daß auch längere Texte nahezu ohne lineare Addition konkreter Informationen (im normalsprachlichen Sinne) auskommen können. Welche Folgerungen lassen sich aus den bisher am Text Victor Hugos gemachten Beobachtungen ziehen? Ziel der kurzen Interpretation war, aufzuzeigen, aus welchen Hauptkomponenten die „Sprache" einer Dichtung beF o r m a l i s t e n , Bd. I, e d . J. Striedter, München 1 9 6 9 , S. 3 3 / 3 5 ) . Es ist e v i d e n t , d a ß e i n e solche „ v e r b o g e n e " Sprache d e n W a h r n e h m u n g s p r o z e ß nicht nur aktualisiert, sondern zugleich verlängert. A u c h J a k o b s o n h a n d e l t e in s e i n e m A u f s a t z über „ D i e neueste Russische P o e s i e " (zuerst 1 9 1 9 ) von der „ e r s c h w e r t e n F o r m als D e s o r g a n i s a t i o n der vorangegangenen F o r m " und stellte fest: „ E i n e F o r m existiert für uns nur so lange, als es u n s schwerfällt, sie a u f z u n e h m e n , als wir d e n Widerstand d e s Materials fühlen . . . " ( T e x t e der R u s s i s c h e n F o r m a l i s t e n , Bd. II, e d . W.-D. S t e m p e l , München 1 9 7 2 , S. 2 1 ) . Vgl. zu d i e s e m G e s i c h t s p u n k t der E n t a u t o m a t i s i e r u n g , E r s c h w e r u n g und V e r f r e m d u n g d e s d i c h t e r i s c h e n A u s d r u c k s und seiner W a h r n e h m u n g a u c h die E i n l e i t u n g v o n W.-D. S t e m p e l in d e m z u l e t z t g e n a n n t e n B a n d , insbes. S. X I V f f . 15 Vgl. d a z u S. 2 7 f . , 66. 16 Vgl. S. J. S c h m i d t , Alltagssprache und G e d i c h t s s p r a c h e , in: P o e t i c a , B d . II, H e f t 3, Juli 1 9 6 8 , S. 2 9 9 . 17 Die N o t w e n d i g k e i t einer s o l c h e n Globalisierungsleistung a u f der R e z i p i e n t e n s e i t e ist grundsätzlich richtig erkannt bei D. D e l a s et J. F i l l i o l e t , Linguistique et p o e t i q u e , Paris 1 9 7 3 , o h n e d a ß e s j e d o c h d e n A u t o r e n g e l i n g t , auf der Grundlage ihrer T h e o r i e diesen Vorgang überzeugend darzustellen; vgl. d a z u d a s K a p i t e l „ A c t u a l i s a t i o n " , I.e. S. 1 5 5 f f . u n d dort insbes. S. 1 8 8 f f . Vgl. ferner m e i n e R e z e n s i o n in der German i s c h - R o m a n i s c h e n Monatsschrift, Bd. 5 6 , 1 9 7 5 .
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steht. In einem ersten Analyseschritt wurde gezeigt, daß es im Zeichensystem einer Dichtung eine große Zahl von Elementen, Regeln und Ordnungssystemen gibt, die nicht zur Sprache gehören, sondern als außersprachliche Mittel und Verfahren das Material der Sprache verformen. Typographie und Metrum sind solche außersprachlichen Konstituenten der Dichtung. Der zweite Analyseschritt zielte darauf, rein heuristisch einmal von allen außersprachlichen Elementen zu abstrahieren und den Text auf der Ebene der Sprache zu lesen, die nach Abzug aller translinguistischen Mittel übrigbleibt. Auf diese Weise wurde der Text künstlich zu einem „Prosatext" reduziert. Dabei zeigte sich, daß der auf diese Weise isolierte „ R e s t " von Sprache nur zum Teil mit der Norm des Neufranzösischen übereinstimmte, zum anderen Teil durch eine Reihe distinktiver Merkmale von der neufranzösischen Umgangssprache unterschieden war. Auch nach der „Reduktion" in Prosa zeigte sich die Sprache des Textes sekundären Strukturierungen unterworfen, die das primäre Zeichensystem der verwendeten Sprache nicht kennt. Alles in allem weisen die am Text Hugos gemachten Beobachtungen daraufhin, daß in einem poetischen Text mindestens drei Schichten unterschieden werden können, nämlich 1. das u.a. durch die Relation Signifikant-Signifikat und durch die Willkürlichkeit der Zeichen (im Sinne Saussures) gekennzeichnete primäre System der jeweils als Material verwendeten Einzelsprache (in diesem Fall das normale Französisch), 2. sekundäre Strukturierungen der gewählten natürlichen Sprache durch Hervorhebung, Betonung, Akzentuierung der in der jeweiligen Einzelsprache angelegten Möglichkeiten, 3. sekundäre Strukturierungen der natürlichen Sprache durch Anwendung außersprachlicher Strukturen, Schemata, Zuordnungen oder gar geschlossener, außersprachlicher Zeichensysteme auf das Material der Einzelsprache. Dementsprechend findet man im sprachlichen Kunstwerk drei Hauptklassen von Zeichen und Verknüpfungsregeln vor: die der natürlichen, ungeformten Sprache, so wie sie durch System und soziale Norm festgelegt sind, die durch Akzentuierung von innersprachlichen Gegebenheiten und schließlich die durch Anwendung bzw. Integration außersprachlicher Verfahren, Schemata oder Zeichensysteme hinzugewonnenen. Typisches Beispiel einer sekundären Strukturierung und Veränderung der natürlichen Sprache durch innersprachliche Möglichkeiten ist die auch am Text Victor Hugos beobachtete hohe Konnotationsleistung des Textes. Diese konnotativen Zeichen entstehen dadurch, daß die denotierten Signifikate der natürlichen Sprache ihrerseits wieder zu Signifikanten eines neuen Signifikats,
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eben des konnotierten Inhalts, werden. Stark vereinfacht ließe sich diese Überlagerung eines primären denotativen Systems durch ein sekundäres konnotatives in folgendem Schema darstellen: 18 Sa
Se
Sa
Se
Wählt man mit Hjelmslev statt signifiant und signifié die Termini „expression" (E) fur die Ausdrucksebene und „content" (C) fiir die Inhaltsebene der Sprache und berücksichtigt man die Bedeutung als „relation" (R) zwischen den beiden Ebenen, so erhält man folgendes Schema: 19 2 1
E
*
E
R
R
C
C
Konkret textbezogen stellt dieser Sachverhalt sich z.B. so dar: Das Wort „dalles" aus dem Gedichttext Victor Hugos (es steht dort in dem Vers „Nous jouerons aux dés sur les dalles") denotiert auf der ersten Ebene (1) das Signifikat „Fliese". Auf der zweiten, konnotativen Ebene (2) vermittelt dieses Wort jedoch noch einen zweiten Inhalt, ein zweites konnotatives Signifikat, das man etwa umschreiben könnte mit „Luxus und Gepflegtheit eines herrschaftlichen Wohnsitzes". Es ist jedoch offensichtlich, daß dieser sekundäre Inhalt des Wortes nur in dessen Kontext konnotiert werden kann; ein anderer Kontext würde ein anderes Konnotat erzwingen. Schaut man nun über das Wort hinaus auf den ganzen Vers: „Nous jouerons aux dés sur les dalles", so stellt man leicht fest, daß nicht nur einzelne Wörter (wie z.B. „dalles", „dés", „jouer" etc.) neben ihren präzisen Denotaten jeweils einen konnotativen Inhalt haben, sondern daß auch der gesamte Vers ein eigenes Konnotat besitzt, nämlich etwa: „Rohes, rücksichtsloses Treiben in fremdem Besitz". Wiederum aber zeigt sich, daß auch das Konnotat des Verses durch den weiteren Kontext der Strophe mitbestimmt ist: auch das Konnotat des Verses wäre in einem anderen Kontext nicht dasselbe. Weiter gilt, daß auch jede Strophe als Ganzes und schließlich sogar der gesamte Text jeweils ein eigenes Konnotat besitzen (z.B. Str. 1 : „Ungestüme Kampfeslust und Siegesgewohntheit der Reiterscharen"; Str. 2: „Die das Schicksal der Kaiserreiche und Völker mit-
18 Zu Denotation und Konnotation vgl. die übersichtliche Darstellung bei Barthes, Elements, S. 1 3 0 - 1 3 2 . Dort S. 130 auch die beiden folgenden Schemata. 19 Zu den Termini „expression" und „content" vgl. L. Hjelmslev, Prolegomena to a Theory of Language, translated by F . J . Whitfield, revised edition, Madison (Wisconsin) 1963, S. 4 7 f f .
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bestimmende Rauflust der Soldateska" etc. etc.; das Konnotat des gesamten Texts wäre die Interpretation des Gedichts). 20 Diese Beobachtungen machen auf zentrale Merkmale der in der Dichtung verwendeten Zeichen und Zuordnungen aufmerksam. Es zeigt sich nämlich, daß durch die erwähnten sekundären Strukturierungen die Zeichen und ihre Grenzen bzw. Einheiten in der Dichtung andere sind als in der natürlichen, ungeformten Sprache: in der Dichtung tritt nicht nur wie in jener das einzelne Wort als Zeichen auf, sondern mehrere Einzelzeichen der natürlichen Sprache werden zu neuen, von Fall zu Fall geschaffenen (bzw. gewählten) Zeicheneinheiten unterschiedlicher Größenordnung (Vers, Verspaar, Strophe, Gedicht etc.) integriert. Auch der gesamte Text der Dichtung stellt, wie Lotman zu Recht hervorhebt, ein einheitliches Zeichen dar. 21 In der Dichtung sind jedoch nicht nur die Zeichen und deren Begrenzungen andere als in der natürlichen Sprache, sondern auch deren Zuordnungen. Das Zeichensystem der Dichtung als einer sekundären „Konstruktions-Sprache" (Sklovskij) ordnet in weitgehender Freiheit seine Zeichen nach anderen Regeln zu als die natürliche Sprache, deren Zuordnungen (im konkreten Sprechakt) weitgehend durch System und soziale Norm festgelegt sind. Der Text V. Hugos machte deutlich, daß die Zuordnung der Zeichen einer Dichtung vor allem eine hierarchische ist: sie sind in einer komplizierten und funktionalen Weise vertikal ineinander verschachtelt, dergestalt, daß jedes Zeichen das nächsthöhere mitbestimmt und umgekehrt. Diese Hierarchie der Funktionen ist das allgemeine, charakteristische Zuordnungsprinzip der dichterischen Zeichen. Eine Interpretation kann daher nie linear, sondern nur schichtenhaft und vertikal und mit stets wechselnder Blickrichtung (von oben nach unten und umgekehrt) verfahren. Wie allerdings die Zeichen einer Dichtung im einzelnen begrenzt und zugeordnet sind, kann, wir wiederholen es, nur von Fall zu Fall erkannt und beschrieben werden.
20 Da jedoch der konnotierte Inhalt jeder Eindeutigkeit entbehrt, ergibt sich nicht eine Interpretation, sondern eher ein bestimmter mehr oder weniger großer Spielraum für eine Reihe von Interpretationen; vgl. die folgenden Ausführungen. - Auf das schwierige und noch wenig erforschte Problem des konnotativen Systems kann ich hier nicht näher eingehen. Vgl. jedoch die einführenden Arbeiten von Molino, Gary-Prieur und Delbouille/Munot (s. Bibliographie) sowie jetzt den Versuch von K. Stierle in: Text als Handlung, S. 1 3 1 - 1 5 1 . 21 „Die Behauptung: alle Elemente des Textes sind semantische Elemente - besagt: der Begriff Text ist in diesem Fall identisch mit dem Begriff Zeichen . . . der Text ist ein ganzheitliches Zeichen, und alle einzelnen Zeichen der ihn bildenden natürlichen Sprache sind hier auf das Niveau von Elementen dieses einen Zeichens reduziert. Insofern wird jeder künstlerische Text geschaffen als einmaliges, ad hoc konstruiertes Zeichen mit besonderem Inhalt"; Lotman, Struktur, S. 40.
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Die oben erwähnten Konnotate einiger Zeichen des Hugo-Textes veranschaulichen jedoch zugleich ein weiteres wesentliches Kriterium der Dichtung als einer signiflzierenden Praxis. Es ergab sich, daß die einzelnen Signifikate des konnotativen Systems allesamt ziemlich allgemein und global, ungenau und oft geradezu nebelhaft-vage sind. 22 Im Unterschied zum denotativen System gibt es hier offensichtlich keine präzisen, scharf umrissenen Inhalte. Diesem strukturellen, in den Zeichenverhältnissen der Dichtung vorgegebenen Befund, daß Dichtung in ihren wesentlichen Aussagen nur „unklar" signifiziert, entspricht auf der Rezeptionsseite die Tatsache, daß Dichtung eine theoretisch unendliche Zahl von Interpretationen hervorrufen kann. Die von Eco und anderen vor allem für die Moderne hervorgehobene „Offenheit" des sprachlichen Kunstwerks ist ein zeitloses, auf der spezifischen Beschaffenheit dichterischer Signifikanten beruhendes Charakteristikum der Dichtung schlechthin. 23 Wenn soeben hinsichtlich der Funktionalisierung der natürlichen Einzelsprache in der Dichtung zwischen einem Akzentuieren und Aktualisieren innersprachlicher Gegebenheiten und der Integration außersprachlicher Ordnungsschemata und Systeme in das Material der natürlichen Sprache unterschieden wurde, so bleibt hervorzuheben, daß es sich dabei um eine mehr theoretische, heuristische Unterscheidung von künstlerischen Verfahren handelt, die im konkreten dichterischen Text in einer kaum auflösbaren funktionalen Wechselbeziehung zueinander stehen. In der Praxis der Analyse sollte diese Unterscheidung daher auch nie streng durchgeführt werden. Dies schon deswegen, weil in aller Regel die Funktionalisierung innersprachlicher Gegebenheiten durch Verwendung außersprachlicher Mittel (wie z.B. der der Metrik) intensiviert wird. Schon das erwähnte Beispiel der vertikalen Interdependenz der einzelnen Zeichen und Konnotate im Gedicht Hugos belegt die Tatsache, daß eine Akzentuierung innersprachlicher Gegebenheiten in der Praxis kaum zu trennen ist von der Verwendung außersprachlicher Elemente. Denn die einzelnen Zeichen werden, wie man sah, in ihren Grenzen und Größenordnungen (Vers, Strophe, Gedicht etc.) durch außersprachliche, in diesem Falle metrische Regeln konstituiert. So kann etwa der Vers „Nous jouerons aux dés sur les dalles" seine konnotative Dichte nur dadurch entwickeln, daß er in besonderer Weise in eine Hierarchie von Zeichen unterschiedlicher Art und Größenordnung eingebettet ist, sowie dadurch, daß er im Gedicht mehrfach wiederholt wird. Die Wiederholung, schon als solche ein außer22 Vgl. Barthes, Eléments, S. 131. 23 Die Tatsache, daß diese grundsätzliche Offenheit des sprachlichen Kunstwerks von Text zu Text und je nach Gattung und Epoche erhebliche graduelle Unterschiede aufweist, bleibt davon unberührt.
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sprachliches Prinzip,24 war im Fall des genannten Verses nach einem individuellen, wohldurchdachten außersprachlichen Schema geregelt, das entscheidend dazu beitrug, dem Vers von Strophe zu Strophe eine immer größere konnotative Dichte zu verleihen. Einmal mehr zeigt sich, welches Gewicht den außersprachlichen, translinguistischen Verfahren im Zeichensystem der Dichtung zukommt. Daß die Aktualisierung innersprachlicher Möglichkeiten im konkreten Fall nicht zu trennen ist von der Anwendung außersprachlicher Kunstmittel und der Integration der unterschiedlichsten, auch individuellen Ordnungsprinzipien und Strukturen, kann u.a. an zwei „klassischen" Phänomen dichterischer Sprache aufgezeigt werden, die beide zu Unrecht als rein linguistische, innersprachliche Gegebenheiten der Dichtung deklariert worden sind, nämlich Reim und Rhythmus. 25 Gewiß ist z.B. das Reimwort „dalles" und das den Reim bildende phonische Element / al / Bestandteil einer Einzelsprache, ebenso wie die übrigen Wörter „cymbales", „cavales", „balles" usw., die das gleiche phonische Element enthalten und daher mit „dalles" reimen. Diese Bedingtheit der Reime durch die gewählte Einzelsprache zeigt sich leicht daran, daß in einer Übersetzung gereimter lyrischer Sprache, die das Prinzip des Reims beibehalten will, andere Reime und Reimwörter gesucht werden müssen. Damit es jedoch zu einer ästhetischen Wirkung kommt und das sprachgegebene phonische Element zu einem poetischen Zeichen des ikonischen Typs aktualisiert wird, bedarf es eines außer- bzw. übersprachlichen Ordnungsverfahrens, nämlich des vom Autor gewählten oder erfundenen Reimschemas. Man kann also vom Reim als einem poetischen Zeichen wohl sagen, daß er eine „Akzentuierung von Sprachlichem" darstellt, darf aber dabei nicht vergessen, daß diese Akzentuierung durch außersprachliche Verfahren zustande kommt, die nicht zum Objektbereich der Linguistik gehören. Der Reim als ästhetisches Zeichen ist ein für die Dichtung typisches „gemischtes" Phänomen, das auf sprachlichen und außersprachlichen Momenten beruht. Letzteres gilt mutatis mutandis auch vom Rhythmus einer Dichtung, der ähnlich wie der Reim als direkt abbildendes, ikonisches Zeichen in der Dichtung fungiert. 26 Wiederum ist unbestreitbar, daß eine Einzelsprache bestimmte 24 Daß Wiederholung, Parallelismus, Reihung usw. außer- bzw. übersprachliche Kunstmittel sind, ist evident, da sie in fast allen Künsten und den unterschiedlichsten Zeichensystemen gebraucht werden wie z.B. in Musik, Malerei, Bildhauerkunst, aber auch in Film, Architektur, Werbung usw. 25 Die Frage, was Reim und Rhythmus ihrer Natur nach darstellen, ist wiederholt unterschiedlich beantwortet worden und, soweit ich sehe, bis heute nicht ganz geklärt. Zur Diskussion dieser Frage vgl. u. a. Beiträge zur Textlinguistik, ed. Stempel, S. 299ff. 26 Gerade beim Rhythmus ist eine Trennung von Ausdruck und Inhalt nicht durch-
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rhythmische Merkmale aufweist. Sie äußert sich im konkreten Sprechakt in Wort- und Satzakzent ebenso wie in der Satzmelodie. Auch der Rhythmus ist also eine in der Sprache angelegte „Möglichkeit". Damit aber diese allgemeinen rhythmischen Gegebenheiten einer Einzelsprache zu dem unverwechselbaren Rhythmus einer Dichtung als einem ikonischen Zeichen aktualisiert werden, bedarf es außersprachlicher Zuordnungen, z.B. in der Lyrik metrischer Verfahren und Regeln. Der spezifische Rhythmus eines Gedichts entsteht erst, wie das Beispiel V. Hugos zeigte, durch Anwendung eines bestimmten Reimschemas, durch Auswahl und Anordnung unterschiedlicher Versarten, Zahl und Abfolge der Wiederholungen, Umfang der Strophen usw. Gerade die in der Dichtung entstehenden neuen Grenzen der Zeichen sind hier von konstituierender Wirkung. Außer den genannten Verfahren sind jedoch gerade beim Rhythmus noch andere außersprachliche Strukturen und Muster mit im Spiel, die sich vielleicht noch radikaler dem Zugriff der Linguistik entziehen. Mag uns Paul Valéry darauf aufmerksam machen. Zur Entstehung seines berühmtesten Gedichtes hatte dieser u.a. ausgeführt: „Mon poème le cimetière marin a commencé en moi par un certain rythme, qui est celui de vers français de dix syllabes, coupé en quatre et six. Je n'avais encore aucune idée qui dut remplir cette forme. Peu à peu des mots flottants s'y fixèrent, déterminant de proche en proche le sujet, et le travail (un très long travail) s'imposa".27 Der Rhythmus des Gedichts war vor der Sprache da. Aus der unzugänglichen Tiefenstruktur der Psyche und aus unerfindlichem Grund auftauchend, konnte er sich zuerst in einem rein numerischen Schema konkretisieren, das etwa dem des französischen Zehnsilbers (mit Zäsur nach der vierten Silbe) entsprach. Erst dann kam die sprachliche „Ausfüllung". Mit Sicherheit haben dabei die rhythmischen Gegebenheiten der französischen Sprache auf den „vorsprachlichen" Rhythmus in einem nicht näher bestimmbaren Maße eingewirkt. Aber darum ist doch der Rhythmus dieses Gedichts alles andere als ein linguistisches Objekt.28
führbar; in ihm können sich psychische Gegebenheiten am unmittelbarsten niederschlagen. 27 Œuvres, Bd. I, S. 1338. 28 Die Auffassung, daß Rhythmus und Klangstruktur eines poetischen Textes „translinguistische" Erscheinungen und in der Triebstruktur der Psyche verankert sind, ist neuerdings (in Anlehnung an J. Lacan) vor allem von J. Kristeva vertreten worden; vgl. La révolution du langage poétique, Paris 1974, und dazu Verf., Artikel „Julia Kristeva", in: Neue Wege der französischen Literaturkritik, ed. W.-D. Lange, Stuttgart 1975, S. 3Q9-325. 54
2. Ein Autounfall und seine Folgen. Über die Wirkung außersprachlicher Poetizitätssignale
Bereits am Text Victor Hugos wurde deutlich, welches Gewicht der typographischen Anordnung eines Textes zukommt. Ohne Zweifel handelt es sich bei diesem außersprachlichen Verfahren um einen der wichtigsten Konstituenten des Zeichensystems einer Dichtung: Es ist der Teil des Zeichensystems, der am frühesten, sozusagen auf den ersten Blick, vom Leser wahrgenommen und interpretiert wird. Noch bevor in zunächst linearer Lektüre die Zeichenebenen des Textes vom Leser wahrgenommen und mit ihren Poetizitätsmerkmalen dekodiert werden können, wirkt schon der Anblick einer Seite, auf der inmitten einer weißen Fläche eine Anzahl Verse angeordnet sind, als ein Signal, das in dem Leser bestimmte Erwartungen und Einstellungen hervorruft und ihn global zur Lektüre einer Versdichtung, zur Aufnahme eines lyrischen Textes motiviert. Dieser im Leser schnell wirksam werdende Motivationseffekt des typographischen Signals „Lyrik" hat für die folgenden, vielschichtigen Dekodierungsprozesse eine schwer zu überschätzende, in jedem Fall aber konstitutive und strukturbildende Bedeutung. Um dies zu verdeutlichen, sei ein Textbeispiel gewählt, das in gewissem Sinne einen Grenzfall darstellt und aus diesem Grunde bereits wiederholt von der französischen Literaturkritik aufgegriffen, jedoch in unterschiedlicher Weise interpretiert wurde. Schon vor einer Reihe von Jahren hatte Jean Cohen im Rahmen seiner Untersuchung über die Struktur dichterischer Sprache ein kleines Experiment durchgeführt.29 Um zu zeigen, daß nicht nur regelmäßige isometrische Verse, sondern auch heterometrische — Cohen spricht hier von „non-parallélisme" und „enjambement au sens large" — einen gewissen Poetizitätseffekt haben, verfiel er auf die Idee, die (wahre oder erfundene) Zeitungsnotiz eines Autounfalls statt in Prosa in unregelmäßigen Versen wiederzugeben. Der Text Cohens lautet: „Hier, sur la Nationale sept, une automobile roulant à cent à l'heure s'est jetée sur un platane. Ses quatre occupants ont été tués".
29 Zum Folgenden vgl. J. Cohen, Structure du langage poétique, Paris 1966, S. 76.
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Diesen Prosatext ordnet Cohen nun folgendermaßen an: Hier, sur la Nationale sept Une automobile Roulant à cent à l'heure s'est jetée Sur un platane Ses quatre occupants ont été Tués.
Cohen läßt also die Normalsprache seines Textes in allen wesentlichen Schichten, phonetisch, semantisch und syntaktisch, unberührt. 30 Nur zweierlei wird verändert: einmal die Interpunktion, die bis auf ein Komma und den Schlußpunkt entfällt; zum andern wird die Linearität des Prosatextes überführt in ein strophisches oder strophenähnliches Gebilde von sechs „Versen" mit unterschiedlicher Silbenzahl. In unserem Zusammenhang kommt es nicht auf den Nachweis an, den Cohen erbringen möchte, daß nämlich auch durch Enjambement verbundene Verse, bei denen Satzpause und metrische Pause nicht übereinstimmen, eine poetische Wirkung haben. Hier interessiert lediglich die grundsätzliche Frage, die mit dem Versuch Cohens aufgeworfen ist: Wie weit kann eine rein außersprachliche Umordnung, die die Struktur der verwendeten natürlichen Sprache so weit wie möglich integer läßt, Poetizitätseffekte erzielen? Unbestreitbar erweckt ein strophisch angeordneter Text beim Leser auf den ersten Blick den Eindruck, mit einem Gedicht bzw. einem lyrischen Text konfrontiert zu sein. Hat also Cohen etwa auf diese Weise ein Gedicht verfaßt? Cohen selbst beantwortet die Frage so: „Evidemment, ce n'est pas de la poésie. Ce qui montre bien que le procédé à lui tout seul, sans le secours d'autres figures, est incapable d'en fabriquer. Mais, affirmons-le, ce n'est déjà plus de la prose. Les mots s'animent, le courant passe, comme si la phrase, par la seule vertu de son découpage aberrant, était près de se réveiller de son sommeil prosaique". 31 Cohens Antwort beinhaltet zwei Feststellungen, die ernstzunehmen sind: 1. Das strophenähnliche Gebilde ist keine Dichtung, aber auch 2. keine normale Prosa mehr. Daß man den Versuch Cohens jedoch anders beurteilen kann und in Sachen Poetizitätsbestimmung und Poetizitätsmerkmale eine gewisse Unsicherheit besteht, zeigt die genau gegenteilige, aber ebenso bestimmte Antwort, die Daniel Delas und Jacques Filliolet sieben Jahre nach
30 Einmal abgesehen von geringfügigen semantischen Veränderungen in Form von einigen Semantisierungseffekten, von denen sogleich die Rede sein wird. 31 I.e., S. 76.
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Erscheinen von Cohens Buch auf die gleiche Frage gegeben haben. Die Autoren zitieren das Textbeispiel und die Stellungnahme Cohens und fahren dann fort: „Nous affirmons au contraire que c'est .évidemment' de la poésie. Seul un jugement fondé sur l'appréciation de la ,richesse' supposé d'un poème ou d'un texte littéraire — jugement qui est au fond un jugement de valeur —, permet de trancher avec autant d'assurance. Il ne s'agit pas de vie, de ,courant', de ,vertu', de /éveil'; le texte a cette marque formelle de poéticité qui impose un décodage poétique est c'est cette marque externe qui, faisant fonctionner poétiquement les constituants linguistiques du texte, le constitue en poème." Und in bemerkenswerter Offenheit fügen die Autoren hinzu: „D'ailleurs, une autre spatialisation actualiserait une autre combination d'éléments matriciels, en ferait un autre poème". 3 2 Nach Delas und Filliolet hat Cohen also gedichtet und — ohne es zu wollen — dem Schatz der französischen Lyrik ein weiteres Kleinod geschenkt. Ihnen zufolge genügt ein formales Poetizitätsmerkmal (wie z.B. in diesem Fall eine bestimmte räumlich-typographische Anordnung des Textes, von ihnen „spatialisation" genannt), um auf der Leserseite eine poetische Dekodierung des Textes zu erzwingen und den sprachlichen Konstituenten des Textes eine poetische Funktion zu geben. Wer hat Recht? Leichter nachzuvollziehen als die weitgehenden und kühnen Folgerungen Delas' und Filliolets ist die zweite Beobachtung Cohens, daß nämlich der künstlich erzeugte Text auf keinen Fall mehr Prosa darstelle. Jeder, der die Zeitungsnotiz in ihrer normalen linearen und in ihrer strophenähnlichen, „poetischen" Fassung aufmerksam vergleicht, wird feststellen, daß durch die veränderte Ordnung der Textsegmente tatsächlich etwas Neues entstanden ist, das zwar schwer definierbar, in jedem Fall jedoch mit der anfänglichen Prosa nicht mehr identisch ist, obwohl alle Wörter und ihre Reihenfolge dieselben geblieben sind. Cohen beobachtet folgendes: „Die Wörter gewinnen Eigenleben, eine rhythmische Strömung geht durch sie hindurch, als wenn der Satz, allein kraft seiner regelabweichenden Zerlegung (Segmentierung) dabei wäre, aus seinem Prosaschlummer aufzuwachen". 33 Diese Beobachtung ist richtig. Durch die in der Versfassung entstehenden fünf Enjambements entstehen zusätzliche Pausen bzw. Dehnungen; bereits im Prosatext vorhandene Pausen (zwischen „platane" und „Ses" z.B. befindet sich in der Prosafassung ein Punkt) werden verstärkt. Und die Wirkung dieser Enjambements (auf die
32 Linguistique et poétique, S. 168f. 33 Cohen, Lc.
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es Cohen ankommt) wird dadurch erhöht, daß die normalen, durch Syntax und Interpunktion vorgezeichneten Sprechpausen nicht mit den Versenden zusammenfallen, wie es vor allem bei jetée/sur und été/tués zu beobachten ist. Hinzu kommt der weitgehende Wegfall der Interpunktion. Dadurch erfahren die beiden Prosasätze eine gewisse Rhythmisierung, die man stärker oder schwächer empfinden, grundsätzlich aber nicht bestreiten kann; Cohen hat, wie ich meine, diesen Leseeindruck durchaus gültig wiedergegeben. Ein weiteres Moment, das Cohen nicht weiter beachtet, trägt dazu bei, daß das Verkehrsgedicht Cohens nicht mehr als gewöhnliche Prosa zu rezipieren ist, nämlich das räumlich-typographisch arrangierte Poetizitätssignal. In unserem Kulturkreis ist man es seit Jahrhunderten gewöhnt, Lyrik in der Mitte einer Seite, umrahmt von einer mehr oder weniger großen weißen Fläche, geschrieben oder gedruckt zu sehen. Abweichende Praktiken haben an der Signalwirkung dieses Regelfalls bis heute nichts ändern können. „Gedichte sind immer von großen weißen Rändern umgeben, von breiten Rändern aus Schweigen", sagt Paul Eluard. 34 Immer, wenn wir in einer solchen weißen Fläche Versen begegnen, seien sie hetero-oder isometrisch, frei oder regelmäßig, werten wir dies als Indiz dafür, daß wir nun Dichtung, poetische Sprache lesen werden und nicht die Prosa der Normalsprache, und stellen uns darauf ein. Auf diese Signalwirkung der räumlichen Anordnung kann gerade auch neuere Dichtung ohne traditionelle metrische Formen (und damit auch ohne deren Signalwirkung) nicht verzichten, wie u.a. Gérard Genette hervorgehoben hat: „On observera que la poésie la plus délibérée des formes traditionelles n'a pas renoncé (au contraire) à la puissance de mise en condition poétique qui tient à la disposition du poème dans le blanc de la page". 35 Diese „disposition du poème" hebt Genette auch bei Cohens Gedichtexperiment, auf das er kurz eingeht, hervor. Generell stellt Genette fest: „En vérité l'essentiel de la motivation poétique n'est pas dans ces artifices [gemeint sind hier Klangeffekte, Reime etc. —] qui ne lui servent peut-être que de catalyseurs: plus simplement et plus profondément, il est dans l'attitude de lecture que le poème réussit . . . à imposer au lecteur . . . ", 36 Ohne Zweifel übt auch das strophische Gebilde Cohens, von diesem in die Mitte der Seite gerückt, beim Leser diesen Motivationseffekt aus. Und der Le-
34 Paul Eluard, OEuvr. Compl. I, S. 937 : „Les poèmes ont toujours de grandes marges blanches, de grandes marges de silence où la mémoire ardente se consume pour recréer un délire sans passé. Leur principale qualité est non pas d'évoquer, mais d'inspirer". Dieser letzte Gedanke berührt sich mit der oben S. 47, Anm. 13 zitierten Aussage Valérys über den Dichter. 35 Figures II, Paris 1969, S. 150. 36 ib.
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ser wird, wenn er nun diese „Dichtung" liest, den beschriebenen Rhythmisierungseffekt mehr oder weniger verspüren. Aber: reicht dies und reicht insbesondere, wie Delas und Filliolet meinen, das äußere Poetizitätsmerkmal metrisch-räumlicher Anordnung aus, um den Text zu einem Gedicht zu machen? Wie verläuft der Dekodierungsprozeß weiter? Hat eine solche anfängliche Lesermotivation das poetische Funktionieren des sprachlichen Materials des Textes zwangsläufig zur Folge? Will man diese Frage beantworten, ist es nützlich, sich klar zu machen, daß in Cohens Experiment der gleiche Weg eingeschlagen wurde wie bei der oben versuchten Transkription eines Gedichtstextes in Prosa, nur in umgekehrter Richtung. Dort war versucht worden, vom Gedicht V. Hugos die äußeren Poetizitätsmerkmale wie Segmentierung des Textes in einzelne Verse und typographische Anordnung der Strophen in der Mitte einer Seite gleichsam abzumontieren und den verbleibenden Text als normale, lineare Prosa zu lesen. Das Ergebnis war, daß auch nach Abzug der äußeren, den Leser motivierenden Poetizitätsmerkmale der verbleibende „Sprachrest" spezifisch poetische Merkmale beibehielt, nämlich diejenigen, die als Akzentuierung innersprachlicher Gegebenheiten aufgefaßt werden können. Hugos Sprache behielt auch nach äußerer Umordnung in Prosa ihre relativ geringe Denotationsleistung und einen großen Teil ihrer Assoziationsfulle und konnotativen Dichte. Das Gedicht konnte daher auch nach völliger Transkription in Prosa praktisch nicht linear gelesen werden, sondern erforderte, an jeder Stelle über sich hinausweisend, jenen für Dichtung spezifischen globalen, verlangsamten Dekodierungsprozeß. Genau umgekehrt verlaufen die Beobachtungen, die man in dieser Hinsicht am Verkehrsgedicht Cohens machen kann. Eine anfänglich denkbare, durch die geschilderten visuellen Signale zustandekommende poetische Motivation des Lesers wird hier durch die nachfolgende Lektüre schnell und gründlich zunichte. Es gibt in diesem Text kein Wort, keine Lautgruppe, keine Konstruktion, die irgendwelche Konnotationen wecken, irgendeine ikonische, abbildende Funktion übernehmen könnte. In nüchtern denotierender Sprache wird das wenige gesagt, was den Inhalt des Textes ausmacht. Es bedarf keines Nachdenkens, keiner wiederholten Lektüre, keiner globalisierenden Rezeptionsleistung. Wendungen wie „sur la Nationale sept" oder „roulant à cent à l'heure" sind unverwechselbar eindeutig und lassen wenig Raum für Assoziationen. Wörter wie „automobile" und „platane" sind in dem gegebenen Kontext auch nicht geeignet, Konnotationen zu erzeugen, und der Schlußsatz „ses quatre occupants ont été tués" signalisiert trotz metrischer Anordnung dem Leser unmißverständlich, daß er sich in der platten Prosa einer Pressemitteilung befindet. Die Tatsache, daß der Text keine über die Bedeutungen der Wörter und Sätze hinausgehenden Sinngehalte hat, sondern
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sich in denotativ-linearer Information erschöpft, belegt die Apoetizität des Textes ebenso wie das Fehlen des Poetizitätsmerkmals der Informationsspeicherung, die eine Verlangsamung des Rezeptionsprozesses und die Wiederholbarkeit der Interpretationen und Lektüren des Textes zur Folge hat. Kurzum, es bedarf wohl kaum weiterer Argumente, um zu zeigen, daß die Meinung Delas' und Filliolets, daß allein aufgrund der äußeren Poetizitätsmerkmale die sprachlichen Konstituenten poetisch funktionieren und den Text zu einem Gedicht machen, irrig ist und auf einer tiefgreifenden Verkennung des Phänomens der Poetizität beruht. Die von Cohen beobachteten Rhythmisierungseffekte reichen, auch zusammen mit den äußeren Merkmalen, nicht aus, um aus der Unfallnotiz eine Dichtung zu machen. Es kommt hier nicht so sehr darauf an, Cohens Versuch zu interpretieren als vielmehr am Beispiel dieses Versuchs erneut zweierlei zu veranschaulichen: 1. Die Bedeutung auch und gerade außersprachlicher visueller Poetizitätsmerkmale ist groß sowohl für die Lesererwartung bzw. Lesermotivation wie auch für die Steuerung des Dekodierungs- bzw. Rezeptionsprozesses; sie kann, wie man sah, soweit gehen, daß selbst ausgebildete Philologen eine Zeitungsnotiz nach Anwendung äußerer Poetizitätsmerkmale als dichterischen Text lesen. 2. Für die Entscheidung, ob bzw. in welchem Maße ein Text ein poetischer Text ist, kann immer nur die Analyse des gesamten Zeichensystems eines Textes einschließlich aller primärsprachlichen, sekundär-innersprachlichen und sekundär-außersprachlichen Strukturierungen maßgebend sein. Das Vorhandensein des einen oder anderen Poetizitätsmerkmals hat nicht notwendig die poetische Funktion aller übrigen Konstituenten des Textes zur Folge. Die Frage, wieviele Poetizitätsmerkmale zusammenkommen müssen, um einen Text zu einem dichterischen zu machen, bleibt hiervon unberührt; sie ist nicht grundsätzlich, sondern nur von Fall zu Fall zu beantworten. 3 7
37 Auch bleibt zu beachten, daß der subjektive Spielraum, der sich in der poetischen Motivation von Leser zu Leser ergibt, u.U. beträchtlich ist; vgl. dazu unten S. 113ff. und 129ff.
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3. Queneau und Brecht. Experimente mit Poetizität.
Die oben beschriebenen Transkriptionen und Umordnungen von Texten belegen, daß man mit Poetizität und ihren Merkmalen experimentieren und damit ohne allzu große Mühe beim Leser mancherlei Effekte erzielen kann. So dürfte die Wirkung des Cohenschen Gedichts bei einem Leser, der es ohne Kenntnis des Kommentars von Cohen auf einer freien Seite vorfindet, eine komische sein. Er geht aufgrund der visuellen Signale mit einem relativ hohen Aufwand an Erwartung und innerer Bereitmachung an den Text heran und sieht dann im Lauf der Lektüre, daß er es mit einer verformten Zeitungsnotiz, jedenfalls nicht mit Dichtung zu tun hat. Der innere Aufwand stellt sich somit als überflüssig bzw. unmotiviert heraus, er kann nicht verwendet werden. Die normale Reaktion auf diesen „ersparten Aufwand" wäre — nach Sigmund Freud — das Lachen. 38 Die vielfältigen und unterschiedlichen Wirkungen, die sich aus der Diskrepanz zwischen äußeren Poetizitätssignalen und sprachlich-thematischer Struktur, zwischen anfänglicher Lesermotivation und nachfolgender Textrezeption ergeben können, sind immer wieder für komische und parodistische Zwecke ausgenutzt worden. Ich greife nur zwei Beispiele heraus, die für viele andere stehen können. Das folgende Gedicht Raymond Queneaus, das als neunter Text in dem Abschnitt, .Pour un art poétique" steht, sieht folgendermaßen aus: 39 Ce soir si j'écrivais un poème pour la postérité? 38 VgL S. Freud, Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, Frankfurt 1958, passim, sowie S. 177: „Das Gefühl der Komik rührt vom Zergehen einer Erwartung her . . . " Freud belegt diese Feststellung übrigens durch Beobachtungen an mißlungenen Gedichten, und zwar zweier Strophen des „Schlesischen Schwans" (Friederike Kempner) und sagt dazu: „Gerade die Größe des Abstandes von unseren Anforderungen an ein Gedicht drängt aber zur komischen Auffassung; wo diese Differenz geringer ausfiele, wären wir eher zur Kritik als zum Lachen geneigt"; vgl. S. 176f. 39 Vgl. Raymond Queneau, L'instant fatal, précédé de Les ziaux, Paris 1966 (Collection Poésie), S. 161.
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fichtre la belle idée je me sens sûr de moi j'y vas et à la postérité j'y dis merde et remerde et reremerde drôlement feintée la postérité qui attend son poème ah mais
Unübersehbare Signale sind hier gesetzt: Das Einrücken des Textes in die Mitte einer freien Seite, das Anordnen in insgesamt fünf „Strophen", ein höchst bedeutungsvoll anmutender Wechsel von langen mit kurzen und z.T. extrem kurzen Versen, Verwendung einiger sehr auffallender Zeilensprünge (vgl. insbes. Z. 9 , 1 0 , 1 1 ) sowie die gelegentliche Verwendung des Reims (postérité — idée; vas — la; postérité — feintée). Aber all diese Merkmale,einschließlich einer gewissen auch hier zu beobachtenden Rhythmisierung, genügen nicht, um aus diesem Text ein Gesamtsystem mit poetischer Struktur zu machen. Auch dieser Text entbehrt der Vielschichtigkeit, der Informationsspeicherung und Interpretierbarkeit, und dementsprechend verlangsamt sich auch der Dekodierungsprozeß nicht: wir können den Text trotz seiner willkürlichen Anordnung glatt herunterlesen und brauchen die Lektüre nicht zu wiederholen. Der Kontrast zwischen den äußeren, motivierenden Poetizitätsmerkmalen und dem fast völligen Ausbleiben der Merkmale, die oben als sekundäre innersprachliche Strukturierungen zusammengefaßt wurden, der Kontrast zwischen äußerem technischen Aufwand und thematischer Futilität machen die komisch-parodistische Wirkung des Textes aus. Die parodistische Diskrepanz zwischen metrischer Anordnung und Gehalt wird besonders spürbar an Stellen wie etwa w . 8—11, wo das Syntagma /et à la postérité/ in nicht weniger als vier Einwort-Verse zerlegt wird, ohne daß eine zusätzliche Semantisierung erzielt würde. Kurzum: keine Dichtung, sondern Parodie auf eine dichterische Anwandlung. Ähnliche Effekte aus einer Teilaktualisierung poetischer und metrischer Funktionen hat etwa auch Bertold Brecht immer wieder gewonnen. Sein „Lied der preiswerten Lyriker" beginnt mit folgender Strophe: 4 0 4 0 Bertold Brecht, Gesammelte Werke (Werkausgabe Edition Suhrkamp), Frankf. 1967, Bd. 9, S. 4 8 3 .
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Das, was ihr hier lest, ist in Versen geschrieben! Ich sage das, weil ihr vielleicht nicht mehr wißt Was ein Gedicht und auch was ein Dichter ist! Wirklich, ihr habt es mit uns nicht zum besten getrieben!
Es bedarf wohl kaum der Mühe, die folgenden 15 Strophen dieses Gedichts zu zitieren. 41 Zweifellos handelt es sich hier um einen preiswerten Lyriker. Was dieser,.Dichter" gemacht hat, liegt auf der Hand: er hat Rede, so wie sie ihm vom Munde ging, unverändert und ohne sekundäre Strukturierung als Lyrik dargeboten und lediglich zwei äußere poetische Verfahren angewandt: die räumlich-typographische Anordnung in Strophen und den Reim, der bald alle vier, bald nur je zwei Verse der Strophe bindet. Seiner inneren Struktur nach aber bleibt dieser Text platteste Alltagsprosa. Hier führt denn auch jener Transkriptionsversuch, der am Gedicht V. Hugos nicht gelingen wollte, sofort zum Erfolg. Man braucht nur die Reime zu entfernen (eine Auflösung der strophischen Form erübrigt sich fast) und wir haben gewöhnliche Umgangssprache ohne jede sekundäre Strukturierung vor uns: 42 „Das, was ihr hier lest, ist in Versen verfaßt! Ich sage das, weil ihr vielleicht vergessen habt, was ein Gedicht und was ein Dichter ist! Wirklich, ihr habt es mit uns nicht zum besten getrieben!"
Offensichtlich war der preiswerte und käufliche Poet nicht bereit, sich Gedanken um eine weitergehende Strukturierung zu machen und begnügte sich bewußt mit der Fassade einiger äußerer Poetizitätsmerkmale. Darauf weist denn auch die müde 16. und letzte Strophe seines Poems hin: Als ich das, was ihr hier lest (ach, lest ihr's? ), begonnen Wollt ich auch jede dritte Zeile in Reimen verfassen. Aber da war mir die Arbeit zu groß, ich gesteh es nicht gerne Und ich dachte: wer soll das bezahlen? und hab es gelassen.
41 VgL Lc., S. 4 8 3 - 4 8 7 . 42 Wir ersetzen das Reimwort „geschrieben" durch „verfaßt" und das Syntagma „nicht mehr wißt" durch „vergessen habt".
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III. DIE ZEICHENEBENE DER PERSONEN UND HANDLUNGEN
1. Formalistische und strukturalistische Beschreibungsversuche von Prosatexten. Eine Grammatik der Erzählung? Es wurde bereits auf die Tatsache hingewiesen, daß innerhalb des hierarchischen Zeichensystems der Dichtung auch die dargestellten Personen, deren Konstellationen und Handlungen eine interpretierbare Zeichenebene, ein Subsystem innerhalb des Gesamtsystems des Textes darstellen können. Dabei ist zu beachten, daß dieses sekundäre Teilsystem einer Dichtung durch ein primäres System vermittelt wird, nämlich durch das der vom Autor gewählten Einzelsprache. Bevor Personen mit ihren Beziehungen und Handlungen zeichenhaft dekodiert werden können, müssen sie zunächst in irgendeiner gewählten natürlichen Sprache beschrieben und dargestellt worden sein. Insofern stößt eine semiotische Analyse dieser Ebene der Personen und Handlungen erneut auf die Tatsache, daß die Zeichenebenen einer Dichtung in irgendeiner Weise von dem System der natürlichen Sprache abhängen bzw. auf diesem aufbauen. Gleiches gilt für eine semiotische Analyse fast aller Erscheinungen unseres Kulturkreises wie etwa Werbung, Mode, Film usw.: In irgendeiner Weise sind alle diese Zeichenelemente sprachlich vermittelt oder in Beziehung gesetzt (so wie z.B. der Werbetext zum Foto gehört). Auf diese Tatsache hatte Roland Barthes bereits 1964 im Vorwort der „Recherches Sémiologiques" hingewiesen: „Ainsi, quoique travaillant au départ sur des substances non linguistiques, le sémiologue des sociétés contemporaines... est appelé à trouver tôt ou tard le langage . . . " . ' Barthes ist sich jedoch auch der Tatsache bewußt, daß die „Sprache", d.h. das gesamte zeichenhafte und signifikante System eines solchen kulturellen Objekts, durchaus nicht mit der am Aufbau dieses globalen Zeichensystems beteiligten natürlichen Sprache identisch ist: „Toutefois, ce langage-là, n'est plus tout-à-fait celui des linguistes: c'est un langage second, dont les unités ne sont plus les monèmes ou les phonèmes, mais des fragments plus étendus du discours renvoyant à des objets ou des
1
Vgl. Communications 4, 1964, S. 2.
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épisodes qui signifient sous le langage."2 Objekte und Episoden sprechen also sozusagen ihre „eigene Sprache", die, wie Barthes hier formuliert, „unterhalb" der natürlichen Sprache ihre Bedeutungen hervorbringt. Vielschichtige Zeichengebilde dieser Art können konsequenterweise auch nicht Gegenstand der Linguistik sein, sondern eher einer „Translinguistik", wie Barthes an der gleichen Stelle bemerkt: „La sémiologie est donc peut-être appelée à s'absorber dans une tram-linguistique, dont la matière sera tantôt le mythe, le récit, l'article de presse, bref tous les ensembles signifiants dont la substance première est le langage articulé . . . ", 3 Eine solche „Translinguistik" nennen wir Semiotik. Eine semiotische Theorie, die vom kommunikationsfähigen Zeichencharakter aller Kulturphänomene ausgeht, ist im Unterschied zur Linguistik (einschließlich Text- und Soziolinguistik) in der Lage, nicht nur die Elemente der natürlichen Sprache, sondern auch ganz anders geartete, außersprachliche Zeichensysteme und Zuordnungen aus einer einheitlichen, der Individualität des Objekts gerecht werdenden Perspektive zu analysieren. Sie vermag auf diese Weise Presseartikel, Erzählungen oder Mythen, vor allem aber auch Dichtung, auf der Ebene einer „höheren Sprache" zu lesen und zugleich ihren Zusammenhang mit anderen kulturellen Zeichensystemen sichtbar zu machen.4 Die übersprachliche Zeichenebene der Personen, der von ihnen abhängigen Handlungen und Situationen, der sich das folgende Kapitel zuwenden möchte, stellt nicht etwa nur in Theater, Film, Mythos, Mode usw. sondern, wie bereits bemerkt, vor allem in der Dichtung eine wesentliche, sinnstiftende Schicht dar. Hier gilt generell die Feststellung Coserius: „In der Dichtung wird nämlich all das durch die Sprache Bedeutete (Personen, Situationen, Handlungen) usw. wieder zu einem signifiant, dessen signifié eben der Sinn des Textes ist". 5 Die hier erwähnte Ebene der Intrige und der daran beteiligten Personen soll im folgenden unter semiotischem Aspekt beleuchtet werden. Da sie einen der ältesten und am stärksten vertretenen Forschungsbereiche der literarisch orientierten Semiotik darstellt, kann dabei auf einige repräsentative Untersuchungen zurückgegriffen und damit zugleich die Entwicklung der Forschung auf diesem Gebiet teilweise dargestellt werden. Dabei soll allerdings nicht nur auf Ergebnisse und Möglichkeiten der semiotischen Forschung auf diesem Feld, sondern auch auf Gefahren und Irrtümer hingewie2 3 4
5
ib. ib. Vgl. dazu als Überblick die Skizze des „semiotischen Feldes" bei Eco, Einführung, S. 20ff. - Es versteht sich, daß die literarische Semiotik einen engeren Rahmen hat, weil nicht alle Zeichensysteme in Dichtung eingehen können. Beiträge, ed. W.-D. Stempel, S. 188.
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sen werden, denen sie zeitweise und wohl auch heute noch ausgesetzt war und ist. Es sollte nicht überraschen, daß im folgenden vor allem auf formalistische bzw. strukturalistische Arbeiten Bezug genommen wird: Die meisten Arbeiten zur Intrige entstammen diesen Forschungsrichtungen. Denn wenn sich einerseits das Interesse der literarischen Semiotik auf das translinguistische, kommunikationsfähige „System von Zeichen und Verknüpfungsregeln"6 einer Dichtung konzentriert, so war es andererseits seit eh und je das Anliegen der Formalisten, im literarischen Werk die Verfahren und Regeln zu erkennen, nach denen es „gemacht" ist.7 An diese Perspektive der Russischen Formalisten knüpfte der französische Strukturalismus an, dessen Aufgabenstellung Roland Barthes so umschrieb: „Das Ziel jeder strakturalistischen Tätigkeit, sei sie nun reflexiv oder poetisch, besteht darin, ein „Objekt' derart zu rekonstruieren, daß in dieser Rekonstruktion die Regeln zutage treten, nach denen es funktioniert, d.h. seine Funktionen". 8 Formalismus, Strukturalismus und Semiotik stimmen also insofern überein, als sie das System und die Regeln der verwendeten translinguistischen Zeichen erkunden möchten. So konnte Barthes die Aufgaben der Semiotik unter Einbezug der strukturalistischen Zielsetzung wie folgt umreißen: „Le but de la recherche sémiologique est de reconstituer le fonctionnement des systèmes de signification autres que la langue selon le projet même de toute activité structuraliste qui est de construire un simulacre des objets observés".9 Vorwegnehmend sei schließlich noch daraufhingewiesen, daß die im folgenden referierten Verfahren, wie vom Analyseobjekt her ohne weiteres verständlich, überwiegend an Prosatexten, und zwar meist kürzeren Texten wie Märchen, Erzählungen und Novellen, durchgeführt wurden. Das System der Personen und Handlungen läßt sich in einem kürzeren Text leichter analysieren und darstellen als bei umfangreichen Romanen und Epen.
6 7
Lotman, Struktur, S. 39. Vgl. dazu etwa die repräsentativen Arbeiten von Viktor Sklovskij, Die Kunst als Verfahren, und Boris Ejchenbaum, Wie Gogols „Mantel" gemacht ist, in: Texte der Russischen Formalisten, I, S. 2 - 3 5 und 1 2 3 - 1 5 9 . Diese und ähnliche Arbeiten der Formalisten, die naturgemäß dazu neigten, das Regelhafte und Typische zu betonen, waren, wie Striedter I.e. S. LVI zu Recht hervorhebt, „nicht frei von der Gefahr . . . , die allgemeinen Prinzipien auf Kosten des konkreten künstlerischen Einzelsystems und der literarischen Evolution zu abstrahieren und absolut zu setzen". Vgl. dazu unten S. 81ff.
8
Vgl. Essais critiques, Paris 1964, S. 214: „Le but de toute activité structuraliste, qu'elle soit reflexive ou poétique, est de reconstituer un „objet", de façon à manifester dans cette reconstitution les règles de fonctionnement (les „fonctions") de cet objet". Eléments, S. 132. Hervorhebung von Barthes.
9
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Kurze Prosatexte waren denn auch der Gegenstand der Forschungen Vladimir Propps, der zu Recht als der eigentliche Wegbereiter und Initiator der Strukturanalyse von Erzähltexten gilt und dem wir uns zuerst zuwenden wollen. Sein Buch, die „Morphologie des Märchens", das nach seiner Veröffentlichung im Jahre 1928 zunächst lange Zeit nahezu unbekannt blieb, erfuhr seit Erscheinen der englischen Übersetzung 1958 starke Beachtung und ist infolge seines übersichtlichen methodischen Vorgehens und seiner konsequent hergeleiteten Thesen bis heute ein fruchtbarer Denkanstoß geblieben. 10 Bei seinem Versuch, die Genrespezifik des russischen Zaubermärchens zu beschreiben, bezog sich Propp auf ein Textkorpus von etwas über 100 Märchen. Im Unterschied zu früheren Versuchen, die Märchen vom Motiv bzw. von Motivkombinationen her zu analysieren, geht Propps Analyse von den Funktionen der handelnden Personen aus. Sein Ziel war, unter den wechselnden Sujets der zahlreichen Märchentexte die konstanten Elemente in den Griff zu bekommen, die beim Übergang von einem Text zum anderen nicht untergehen. Dabei machte Propp eine folgenschwere Entdeckung: während das Sujet der Märchen samt den auftretenden Personen von Text zu Text stark variiert, bleiben die Funktionen der handelnden Personen weitgehend konstant, und zwar so, daß eine begrenzte Zahl von insgesamt 31 Funktionen wiederkehren. Propp faßte seine Beobachtungen in vier Thesen zusammen: 1. Die konstanten und unveränderlichen Elemente des Märchens sind die Funktionen der handelnden Personen, unabhängig davon, von wem oder wie sie ausgeführt werden. Sie bilden die wesentlichen Bestandteile des Märchens. 2. Die Zahl der Funktionen ist für das Zaubermärchen begrenzt (und zwar auf insgesamt 31). 3. Die Reihenfolge der Funktionen ist stets ein und dieselbe (dieses Gesetz trifft allerdings nur auf die Folklore zu und ist kein spezifisches Gattungsmerkmal des Märchens, gilt also z.B. nicht für Kunstmärchen). 4. Die Hauptthese: Alle Zaubermärchen bilden hinsichtlich ihrer Struktur einen einzigen Typ. 11
10 Im folgenden zitiert nach der deutschen Übersetzung: Morphologie des Märchens, hgg. von K. Eimermacher, München 1972. - Erwähnt sei, daß Propps Forschungen auch für die amerikanische Folklore-Forschung (A. Dundes, J. L. Fischer, R. P. Armstrong u.a.) maßgebend gewesen sind, worauf ich in diesem Zusammenhang nicht näher eingehen kann. Einiges zur internationalen Rezeption der „Morphologie" Propps bringt E. Meletinskij, Zur strukturell-typologischen Erforschung des Volksmärchens, abgedruckt bei Eimermacher, I.e., S. 1 8 1 - 2 1 4 . 11 Vgl. Lc., S. 2 7 - 2 9 .
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Was versteht Propp unter den Funktionen der handelnden Personen? Wichtig ist hier zunächst, daß es nicht auf die Personen selbst, auf ihren Charakter und ihre Erscheinung ankommt, sondern lediglich auf ihre Handlungen, und zwar insoweit diese den folgenden Handlungsverlauf beeinflussen. Funktionen der handelnden Personen sind also diejenigen Handlungen, die im Handlungsverlauf Bedeutung haben, diesen bestimmen oder mitbestimmen. Solche Funktionen sind z.B.: Auszug des Helden, Auffinden des Gegenspielers, hinterlistige Falle, Reaktion des Helden, Erhalt des Zaubermittels, Verbot, Verletzung des auferlegten Verbots, schwierige Aufgabe, Bestehen der Aufgabe, Kampf, Sieg, Verfolgung, unerkannte Ankunft usw. usw. Entscheidend sind also immer die Handlungen, die stets nach ihren Folgen bestimmt werden (wodurch übrigens auch identische Handlungen spezifiziert werden können); welche Person im gegebenen Falle der Held ist, wer der Gegenspieler, wer das Verbot setzt und wer es durchbricht, spielt eine untergeordnete Rolle. Selbstverständlich sind nicht alle Funktionen in jedem Märchen enthalten; aber insgesamt sind es in dem gesamten Korpus, das Propp zugrunde legte, eben doch nur 31. Diese Invarianten und ihre Wechselbeziehungen bilden nach Propp die Struktur des Zaubermärchens. Damit ist bereits angedeutet, daß die Strukturanalyse Propps von der Zergliederung des Textes in eine Reihe aufeinanderfolgender Handlungen ausgeht. Eine solche Segmentierung kann ganz einfach dadurch geschehen, daß der Inhalt des Märchens in wenigen kurzen Sätzen zusammengefaßt wird. Dabei ist jedoch jede konkrete Handlung einer bestimmten Funktion zuzuordnen. Der jeweilige Textabschnitt mit dieser oder jener Handlung kann als ein Syntagma der Erzählung bezeichnet werden. Propps Analyse basiert also auf dem Modell einer linearen Syntagmen-Reihe, für die ein regelmäßiges zeitliches Nacheinander als Regel vorausgesetzt wird. Versieht man nun jede in einem Märchen vorkommende Funktion mit einem Zeichen bzw. Symbol, so läßt sich auf diese Weise der Inhalt eines Märchens in eine Formel komprimieren. Propp hat dies, wie gesagt, an über 100 Märchen durchgeführt; dabei zeigt sich u.a., daß mehrere Funktionen in der Regel eine Funktionskette bilden, die Propp Sequenz nennt. Allerdings wird der Terminus Sequenz bei Propp nicht genau definiert, und die Bestimmung, ob ein Märchen eine oder mehrere Sequenzen hat, erweist sich im konkreten Fall als sehr schwierig. Selbstverständlich hat Propp bei der Märchenanalyse nicht nur auf die erwähnten Funktionen, sondern auch auf deren Verteilung auf die handelnden Personen geachtet. Dabei machte er eine weitere Entdeckung, nämlich die, daß die von ihm untersuchte Untergattung des Zaubermärchens insgesamt lediglich sieben handelnde Personen kennt, und zwar die folgenden: 12 12 Vgl. S. 79f.
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1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Der Gegenspieler oder Schadenstifter Der Schenker (der Lieferant) Der Helfer Die Zarentochter bzw. die gesuchte Gestalt und deren Vater Der Sender, d.h. derjenige, der den Helden ausschickt Der Held Der falsche Held.
Die sieben handelnden Personen des Zaubermärchens sind, wie man sieht, nicht ohne weiteres mit den Personen bzw. Gestalten des Märchens gleichzusetzen. Es handelt sich vielmehr um gewisse Grundtypen von Personen, bei deren Klassifizierung auf typische, im Märchen immer wieder vorkommende Handlungsweisen abgestellt wird. Diese sieben handelnden Personen bezeichnet Propp auch als Handlungskreise. Ein Handlungskreis kann, muß aber nicht mit einer konkreten Märchengestalt zusammenfallen. Wenn z.B. die Hexe im Märchen den Helden auf die Probe stellt und anschließend belohnt, so entspricht sie damit dem Handlungskreis des Schenkers. Es kommt aber auch vor, daß die gleiche Hexe an mehreren Handlungskreisen teilhat oder daß umgekehrt der Handlungskreis des Schenkers sich auf mehrere Gestalten des Märchens verteilt. Die sieben Handlungskreise stellen ebenfalls feste, rekurrente Strukturmerkmale des Zaubermärchens dar; auch sie lassen sich leicht in Symbolen darstellen und in die Strukturformel des Märchens einbringen. Gemäß seiner doppelten Entdeckung einer begrenzten Anzahl von Funktionen und von Handlungskreisen gelangt Propp zu einer doppelten Definition des Zaubermärchens, nämlich 1. „das Zaubermärchen ist eine Erzählung, die auf einer regelmäßigen Aufeinanderfolge der angeführten [31] Funktionen in verschiedenen Formen beruht, wobei in einzelnen Fällen bestimmte Funktionen fehlen, andere mehrmals wiederholt werden können" und 2. „Man könnte es auch als Märchen bezeichnen, das dem 7-Personen-Schema unterworfen ist". 1 3 So vermag Propp schließlich aufgrund dieser Strukturmerkmale verschiedene Märchengattungen zu klassifizieren und die Genrespezifik eines bestimmten Märchentyps, nämlich des sog. Zaubermärchens, in eine Strukturformel zusammenzufassen. Propps Beschreibungsversuch gründet jedoch, wie hervorzuheben bleibt, lediglich auf der linear-syntagmatischen Analyse einer einzigen Zeichenebene des Textes, nämlich der Personen und ihrer sukzessiv erfaßten Handlungen. 13 S. 98.
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Nach Propps Analyse des Märchens wollen wir uns kurz den analytischen Versuchen zuwenden, die der französische Ethnologe und Strukturalist Claude Lévi-Strauss an einer Reihe von Mythen durchgeführt hat. Propp hatte bereits festgestellt, „daß das Märchen in seinen morphologischen Grundelementen einen Mythos darstellt". 14 Umgekehrt sah Lévi-Strauss im Märchen einen nur leicht abgeschwächten Mythos. 15 Trotz dieser Übereinstimmung hinsichtlich einer grundsätzlichen Verwandtschaft zwischen Märchen und Mythos gehen beide Forscher, sieht man von kleineren Gemeinsamkeiten ab, in wesentlichen Punkten unterschiedlich vor. Das liegt vor allem in der unterschiedlichen Blickrichtung der beiden Forscher begründet: Lévi-Strauss betrachtet bekanntlich den Mythos in erster Linie als Instrument einer primitiven Logik, weniger in seinen erzählerischen Komponenten; seine Strukturanalyse ist weniger eine der mythischen Erzählung, als vielmehr eine des mythischen Denkens. Gleichwohl ist bei Lévi-Strauss der narrative Aspekt prinzipiell berücksichtigt; es scheint daher nicht überflüssig, aus seinem umfangreichen ethnologischen Schaffen die für die Analyse von Erzähltexten bedeutsamen Gedanken zusammenzustellen, und zwar am Beispiel der Analyse des Ödipus-Mythos. 16 Lévi-Strauss geht von zwei Grundvoraussetzungen aus: 1. Jeder Mythos ist durch die Gesamtheit seiner Fassungen zu definieren. Die Strukturanalyse hat jede Variante mit der gleichen Sorgfalt mit einzubeziehen. Alle Varianten sind in diesem Sinn untereinander gleichwertig. 2. Die Substanz des Mythos liegt weder im Stil noch in der Erzählweise oder Syntax, sondern in der Geschichte, die darin erzählt wird. Sprachstil und Erzählhaltung bleiben also, ebenso wie bei Propps morphologischem Ansatz, unberücksichtigt. Für Lévi-Strauss ist der Mythos Sprache; aber Sprache, die „auf einem sehr hohen Niveau arbeitet, wo der Sinn, wenn man so sagen darf, sich vom Sprachuntergrund ablöst, auf dem er anfänglich lag". 17 14 S. 90. 15 Vgl. Meletinskij, Erforschung, I.e., S. 187. 16 Zuerst erschienen unter dem Titel: „The Structural Study of Myth, in: Myth, A Symposium, Journal of American Folklore, Bd. 78, Nr. 270, Okt./Dez. 1955, S. 4 2 8 - 4 4 4 ; sodann in: Anthropologie structurale, Paris 1958, S. 2 2 7 - 2 5 5 ; im folgenden zitiert nach der deutschen Übersetzung: Die Struktur der Mythen, in: Cl. Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie, Frankfurt 1967, S. 2 2 6 - 2 5 4 . 17 I.e., S. 231. Diesem übersprachlichen Charakter des Mythos zufolge bleibt nach LéviStrauss „der Wert des Mythos als Mythos trotz der schlimmsten Übersetzung bestehen" (S. 230). Weiter hebt Lévi-Strauss hervor: „Unsere Unkenntnis der Sprache und der Kultur der Bevölkerung, bei der man einen Mythos entdeckte, mag noch so groß sein, er wird doch von allen Lesern in der ganzen Welt als Mythos anerkannt" (S. 231). Der Mythos spricht also eine sekundäre „Sprache" bzw. realisiert sich in einem übersprachlichen Zeichensystem, das von den natürlichen Einzelsprachen unabhängig ist.
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Wie werden nun die konstitutiven Einheiten oder Mytheme aus der Geschichte des Mythos herausgelöst? Da die Mytheme weder mit Phonemen noch mit Morphemen oder Sememen vergleichbar sind, muß man sie auf dem Satzniveau suchen. Lévi-Strauss geht also zunächst ähnlich wie Propp so vor, daß er jeden Mythos in der Reihenfolge der Ereignisse in möglichst kurzen Sätzen wiedergibt. Jeder Satz wird auf eine Karteikarte geschrieben, diese nach der Reihenfolge des mythischen Berichts numeriert. Es zeigt sich dann bereits, daß jede Karte in der Zuweisung eines Prädikats zu einem Subjekt besteht, d.h. jedes konstitutive Element des Mythos ist eine Beziehung. Lévi-Strauss stellt nun eine Arbeitshypothese auf, die aus der an Propp erinnernden linearen Auffassung der Erzählung herausfuhrt und das eigentliche Strukturproblem des Mythos stellt. Er behauptet nämlich, daß die wirklichen konstitutiven Einheiten des Mythos keine isolierten Beziehungen sind, sondern Beziehungsbündel („paquets de relations"), und daß die Beziehungen nur in Form von Kombinationen solcher Bündel eine Bedeutungsfunktion erlangen.18 Für die Praxis des Mythenforschers heißt das: Er hat zunächst die Mytheme aller Varianten eines Mythos auf Kärtchen zu notieren und diese dann in der Reihenfolge der jeweiligen Erzählung zu numerieren. Er wird dann nach LéviStrauss verschiedene Anordnungen und Gruppierungen der Kärtchen, sprich Mytheme, so lange ausprobieren, bis er alle einzelnen Mytheme in Beziehungsbündel unterbringen kann. Hier wird nun die zunächst linear numerierte Anordnung der Mytheme umgruppiert in ein Bezugssystem, das auch alle Varianten eines Mythos diachronisch mit in den Blick einbezieht, das also zwei Dimensionen, eine diachronische und eine synchronische, hat. Im Falle des Ödipus-Mythos, auf dessen wenige und späte Fassungen Lévi-Strauss allerdings kaum eingeht, ergibt sich das Schema19 auf Seite 73. Wir erhalten insgesamt vier vertikale Spalten. Jede davon repräsentiert ein Bündel von zusammengehörenden Beziehungen = Mythemen. Die Mytheme einer jeden Spalte werden gemäß der vorangestellten Hypothese durch ein gemeinsames Merkmal zusammengehalten. Die erste Spalte hat folgende Mytheme: 1. Kadmos sucht seine von Zeus entführte Schwester Europa. 2. ödipus heiratet Jokaste, seine Mutter. 3. Antigone beerdigt Polyneikes, ihren Bruder, und übertritt das Verbot. Der gemeinsame Zug dieser ersten Spalte besteht nach Lévi-Strauss in einer Überbewertung von Verwandtschaftsbeziehungen. Die zweite Spalte hat die Mytheme 1. Die Spartoi rotten sich gegenseitig aus. 2. ödipus erschlägt seinen Vater Laios. 3. Eteokles tötet seinen Bruder Polyneikes. Das gemeinsame Merkmal dieser Spalte sieht Lévi-Strauss in unterbewerteten bzw. entwerteten Verwandtschaftsbeziehungen. Die dritte 18 S. 232 19 Vgl. zum folgenden I.e., S. 234ff. Das Schema auf S. 235.
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Kadmos sucht seine von Zeus entführte Schwester Europa Kadmos tötet den Drachen Die Spartoi rotten sich gegenseitig aus Labdakos (Vater von Laios) = „hinkend" (?) Ödipus erschlägt seinen Vater Laios Ödipus bringt die Sphinx um Ödipus heiratet Jokaste, seine Mutter
Laios (Vater von Ödipus) = „linkisch" (?) Ödipus = „gtavuwv „geschwollener Fuß" (?)
Eteokles tötet seinen Bruder Polyneikes Antigone beerdigt Polyneikes, ihren Bruder, und übertritt das Verbot
Spalte enthält die Beziehungen: 1. Kadmos tötet den Drachen. 2. Ödipus bringt die Sphinx um. Da Lévi-Strauss sowohl Drachen als Sphinx als Verkörperungen des Prinzips der Autochthonie versteht, interpretiert er das gemeinsame Merkmal dieser Spalte als „Verneinung der Autochthonie des Menschen". Die vierte Spalte bereitet größere Schwierigkeiten. Sie scheint auf den ersten Blick lediglich Eigennamen, aber keine Beziehungen, also Zuweisungen eines Prädikats zu einem Subjekt, zu enthalten. Es handelt sich um Labdakos, den Vater des Laios, den Vater des Ödipus, und um Ödipus selbst. Lévi-Strauss rekurriert hier auf den hypothetischen Sinn der drei Eigennamen und stellt so drei Beziehungen her: Labdakos bedeutet so viel wie „hinkend", Laios „linkisch", Ödipus „geschwollener Fuß". Das gemeinsame Merkmal, das diese drei Mytheme in eine Spalte rückt, liegt nach Lévi-Strauss in der Schwierigkeit, aufrecht zu gehen. An dieser Stelle erinnert Lévi-Strauss daran, daß in der Mythologie häufig die aus der Erde geborenen Männer so dargestellt werden, als seien sie im Augenblick ihres Auftauchens noch unfähig zu gehen oder als gingen sie ungeschickt und linkisch. Von da aus könnte man das gemeinsame Merkmal der vierten Spalte als „Beständigkeit der menschlichen Autochthonie" 2 0 bezeichnen. Damit ergibt sich die Möglichkeit, die vier Be20 Vgl. S. 237.
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ziehungsbündel ihrerseits miteinander in Verbindung zu setzen. Offensichtlich hat die vierte Spalte eine gleiche Beziehung zur dritten wie die erste zur zweiten. Es ergibt sich mit anderen Worten folgende Korrelation: „Die Überbewertung der Blutsverwandtschaft verhält sich zu ihrer Unterbewertung wie die Bemühung, der Autochthonie zu entgehen, zu der Unmöglichkeit, dies zu erreichen". 21 In dieser Korrelation läge das „Strukturgesetz" des Ödipus-Mythos. Man sieht ohne weiteres, daß es Lévi-Strauss weniger auf die Erzählung des Mythos als auf seine logische Struktur ankommt. Wollte man den Mythos erzählen, nähme man auf diese Anordnung in Spalten keine Rücksicht und läse die Zeilen von links nach rechts und von oben nach unten. Sucht man dagegen das logische Modell des Mythos, so verliert eine Hälfte der diachronischen Reihenfolge, nämlich die von oben nach unten, ihren funktionalen Wert, und man liest den Mythos einfach von links nach rechts, von Spalte zu Spalte, wobei jede Spalte als Ganzes zu lesen ist. Das Strukturmodell Lévi-Strauss beruht also wie schon dasjenige Propps auf der Grundeinheit binärer Oppositionen. Es ist aber nicht mehr wie das Modell Propps linear und syntagmatisch aufgebaut, sondern paradigmatisch. 22 Es ist zudem weniger ein Strukturmodell der mythischen Erzählung, als vielmehr des mythischen Denkens. Gleichwohl hat dieses Modell auf die Strukturanalyse der Intrige großen Einfluß ausgeübt. Die Arbeiten vieler französischer Strukturalisten sind ohne die grundlegenden Anregungen von Propp und Lévi-Strauss nicht denkbar. So z.B. die ,,Sé21 S. 238. 22 Die Unterscheidung „syntagmatisch/paradigmatisch" wurde durch Saussure in die Sprachwissenschaft eingeführt, der für paradigmatisch allerdings die Bezeichnung „associatif" gebraucht (erst seit Hjelmslev hat sich dafür der Terminus „paradigmatisch" durchgesetzt); vgl. Kap. V und VI des Cours de linguistique générale und die Definition dort S. 170f.: „D'une part, dans le discours, les mots contractent entre eux, en vertu de leur enchaînement, des rapports fondés sur le caractère linéaire de la langue . . . Le syntagme se compose donc toujours de deux ou plusieurs unités consécutives. . . D'autre part, en dehors du discours, les mots offrant quelque chose de commun s'associent dans la mémoire, et il se forme ainsi des groupes au sein desquels régnent des rapports très d i v e r s . . . Le rapport syntagmatique est in praesentia; il repose sur deux ou plusieurs termes également présents dans une série effective. Au contraire le rapport associatif unit des termes in absentia dans une série mnémonique virtuelle". Beide Begriffe werden entsprechend auf die Erzähltextanalyse angewandt: eine syntagmatische Analyse zielt daher auf die in einem konkret vorliegenden Text in linearer Abfolge vorkommenden Einheiten (horizontale, auf dem Prinzip der Kontiguität beruhende Achse der Kombination); eine paradigmatische Analyse faßt die Beziehungen zwischen den aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur gleichen Klasse bzw. Ähnlichkeit potentiell (durch eine Gedächtnis- bzw. Assoziationsleistung) substituierbaren Elemente ins Auge (vertikale, auf dem Prinzip der Äquivalenz beruhende Achse der Selektion). Vgl. das Schema oben S. 6.
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mantique Structurale" von Greimas, deren wesentliche Gedankengänge hier kurz zusammengestellt seien. In mehreren Kapiteln des genannten Werkes und in einigen Aufsätzen hat sich Greimas ausführlich mit den Beobachtungen Proppsund Lévi-Strauss' auseinandergesetzt. 23 Großes Gewicht maß Greimas z. B. Propps Aufdeckung des Sieben-Personen-Schemas des Zaubermärchens bei. Greimas nennt die Handlungskreise Propps „actants"; er unterstreicht, daß diese nicht mit den einzelnen handelnden Personen, den „acteurs", zu verwechseln sind, sondern vielmehr Klassen von Akteuren darstellen. Mit anderen Worten: „Die Aktanten haben also in bezug auf die Akteure einen metalinguistischen Status". 24 Greimas zieht nun noch das Werk Souriaus über die Handlungssituationen des Dramas heran und stellt fest, daß auch Souriau die außerordentliche Fülle der von ihm registrierten dramatischen Situationen auf ein begrenztes Grundinventar von nicht mehr als sechs bis sieben Aktanten, d.h. Handlungskreisen, zurückfuhren kann. 25 Damit sieht Greimas seine Grundannahme bestätigt, auf der nun alle weiteren Operationen aufbauen, daß nämlich eine begrenzte Zahl von Aktanten genügen, um die Handlungsstruktur einer Dichtung wiederzugeben. 26 Greimas versucht nun, die Aktantenklassen bzw. Handlungskreise Propps und Souriaus zu kategorisieren, d.h. noch stärker zu verallgemeinern und zugleich die einfache Aufzählung solcher Aktanten zu einigen wenigen binären Oppositionen zusammenzufassen und damit auf eine paradigmatische Beschreibungsebene zu heben. Er entwickelt so drei binäre Oppositionen von Aktanten, die er Aktantenkategorien, „catégories actantielles", nennt, und zwar: 1. Sujet 2. Destinateur 3. Adjuvant
vs vs vs
Objet Destinataire Opposant
Die Aktantenkategorie „Sujet vs Objet" beruht auf der teleologischen Beziehung eines Begehrens, eines „désir". Subjekt des Begehrens wäre nach Propps Inventar z.B. der Held, Objekt die gesuchte Person bzw. die Zarentochter. In 23 A. J. Greimas, Sémantique structurale, Recherche de méthode, Paris 1966; vgl. ferner: La description de la signification et la mythologie comparée, in: L'Homme, 3 . 3 . 1 9 6 3 , S. 5 1 - 6 6 ; Eléments pour une théorie de l'interprétation du récit mythique, in: Communications 8, Paris 1966, S. 2 8 - 5 9 ; sowie in: Du sens. Essais sémiotiques, S. 1 8 5 - 2 3 0 ; Eléments d'une grammaire narrative, ib., S. 1 5 7 - 1 8 3 (vgl. dazu die Kritik bei Stierle, Semiotik, S. 119ff.). 24 Sémantique structurale, S. 175. 25 Vgl. E. Souriau, Les deux cents mille situations dramatiques, Paris 1950. 26 „Un nombre restreint de termes actantiels suffit à rendre compte de l'organisation d'un micro-univers", Sémantique, S. 176.
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der zweiten Aktantenkategorie entsprächen dem Aktant„Destinateur" bei Propp die Handlungskreise des Vaters der Zarentochter und des Senders, dem „Destinataire" in den meisten Fällen der Held. Unter dem „Adjuvant" der dritten Aktantenkategorie kann man jede in die Handlung einwirkende helfende Kraft verstehen. Ihm entspräche bei Propp etwa der Helfer oder der Schenker. „Opposant" meint im Gegensatz dazu jede schädliche, hemmende Kraft; er resümiert die Proppschen Handlungskreise des Gegenspielers (des Schädlings) und des falschen Helden. Greimas faßt seine Überlegungen schließlich in folgendem Modell zusammen, das auch die inhaltbezogenen Wechselbeziehungen der drei Aktantenkategorien untereinander zum Ausdruck bringen soll: 27 Sender (Destinateur)
Empfänger (Destinataire)
Helfer (Adjuvant)
Gegenspieler (Opposant)
Auch die zweite Proppsche Definition des Zaubermärchens als Erzählung mit 31 Handlungsfunktionen mit notwendig sukzessiver zeitlicher Abfolge greift Greimas auf. Dieses Inventar von 31 Funktionen ist nach Greimas viel zu umfangreich, als daß es ein Strukturmodell hergeben könnte. Eine gewisse Vereinfachung dieses Inventars läßt sich nun dadurch erreichen, daß man, ausgehend von dem schon bei Propp erwähnten Gedanken, daß manche Funktionen binär zugeordnet sind, versucht, möglichst viele Funktionen als Funktionspaare zusammenzustellen. Dabei geht Greimas freilich einen entscheidenden Schritt weiter als Propp. Er faßt nämlich die zusammengehörenden binären Funktionen nicht lediglich als durch Implikationen miteinander verknüpft auf, d.h. dadurch, daß eine Funktion innerhalb der syntagmatischen Reihe die Entstehung der anderen nach sich zieht, sondern er formuliert die Funktionspaare als durch Disjunktion zugeordnete paradigmatische Relationen, die unabhängig sind von der linearen syntagmatischen Reihenfolge des Geschehens. Er erhält auf diese Weise u.a. folgende paradigmatische Funktionspaare : Verbot Sieg Verfolgung Enthüllung des Verräters 27 I.e., S. 180.
28 Vgl. I.e., S. 194ff. 76
vs vs vs vs
Verletzung des Verbots Niederlage Befreiung Enthüllung des Helden usw. 28
Das Inventar der so entstehenden Funktionspaare versucht Greimas nochmals dadurch zu reduzieren, daß er jeweils ein positives und ein negatives Funktionspaar in einer Korrelation zusammenschließt. Auf die weitläufigen und komplizierten, oft auch widersprüchlichen Operationen Greimas' kann hier im einzelnen nicht eingegangen werden. Der entscheidende theoretische Schritt besteht darin, daß er die lineare, am sukzessiven Handlungsablauf orientierte Analyse Propps ergänzt und vervollständigt durch eine paradigmatische und achronische Interpretation der zwischen den Funktionen bestehenden Beziehungen. 29 Er versucht, einzelne Funktionen und Funktionspaare in semantische Oppositionen zu transformieren und eben dadurch an die elementare Sinnstruktur der Erzählung heranzukommen. So wie hier Greimas im Falle der Märchenanalyse das syntagmatische Verfahren durch das paradigmatische ergänzt, so hat er sich an anderer Stelle darum bemüht, die paradigmatisch vorgehende Strukturanalyse eines Mythos der BororoIndianer, die Lévi-Strauss durchgeführt hatte, durch Anwendung des Proppschen linearen Verfahrens zu ergänzen. 30 Auch darauf braucht hier im einzelnen nicht eingegangen zu werden. Greimas' entscheidende Leistung besteht darin, die Verflechtung der linear-sukzessiven Strukturelemente mit den Ebenen der Semstruktur eines Textes aufgezeigt zu haben. Bestand Greimas' Ausgangsbasis, wie man sah, im wesentlichen in einer Kombination der von Propp und Lévi-Strauss entwickelten analytischen Beschreibungsverfahren, so hat sich der französische Formalist Tzvetan Todorov bei seinem Versuch, eine Erzählgrammatik zu erstellen, ganz am Vorbild Propps orientiert. Dieser Versuch operiert wieder ausschließlich auf syntagmatischer Ebene, in der Schicht der Personen und ihrer sukzessiv erfaßten Handlungen. Ähnlich wie Propp legt Todorov ein möglichst homogenes, aus einer größeren Anzahl von kurzen Erzählungen bestehendes Textkorpus zugrunde, und zwar die hundert Novellen von Boccaccios Dekameron. 31 Todorov war bei einem früheren Versuch, einen komplizierten und psychologisch vielschichtigen Text, nämlich die „Liaisons dangereuses", zu formalisieren 32 auf große Schwierigkeiten gestoßen und wählte darum bewußt ein Textkorpus, das nur kleine, leicht resümierbare Texte enthielt, die durch eine unkomplizierte äußere Handlung und ein fast völliges Fehlen psychologischer Elemente gekennzeichnet sind. Todorov versteht seinen Versuch als 29 Vgl. S. 204ff. 30 Vgl. die schon erwähnten Eléments pour une théorie de l'interprétation du récit mythique (Anmerkung 23). 31 T. Todorov, Grammaire du Décameron, The Hague/Paris 1969. 32 Les catégories du récit littéraire, in: Communications 8, 1966, S. 1 2 5 - 1 5 1 ; dt. in: Strukturalismus in der Literaturwissenschaft, ed. H. Blumensath, Köln 1972, S. 2 6 3 - 2 9 4 .
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Vorarbeit fiir eine künftige Wissenschaft der Erzählung, einer „Narratologie". Er möchte eine gemeinsame Grundstruktur der hundert Novellen freilegen; diese Grundstruktur bezeichnet er als „système narratif oder auch einfach als „Grammatik" der Erzählung.33 Dabei läßt er die Frage offen, ob sein Strukturierungsversuch lediglich zu einer Dekameron-spezifischen Erzählgrammatik oder gar darüber hinaus zur universal gültigen Grammatik der Erzählung schlechthin führen kann. 34 Todorov geht aus von der Einheit der „proposition", also einer syntaktischen Einheit, und versucht, von hier aus zum Textganzen zu kommen. Mehrere „propositions" können sich unter verschiedenen Relationsbedingungen zu einer Sequenz zusammensetzen. Die zwischen den Sätzen bestehenden Beziehungen gliedert Todorov in zwei Hauptgruppen, nämlich in zeitliche und kausale Abhängigkeitsverhältnisse. Für die Beschreibung der Handlung der einzelnen Novellen benutzt Todorov nun ein stark reduziertes Inventar von nur wenigen Grundkategorien, die er in „catégories primaires" und „catégories secondaires" unterteilt. 35 Ich gehe hier nur kurz auf die Primärkategorien ein, da sie Todorovs Verfahren hinreichend klar werden lassen. Todorov verwendet drei Gruppen von Primärkategorien und zwar: 1. nom propre, 2. adjectiv, 3. verbe. Die erste Kategorie des „nom propre" bezieht sich auf die handelnden Personen. Um sie zu erfassen und zu Symbolen verkürzt in eine Formel einbringen zu können, benutzt Todorov die großen Buchstaben X, Y . . . ; sind mehrere Personen der gleichen Funktion zuzuordnen, so wird dies mit Xi, X2 etc. ausgedrückt. Mit der zweiten Kategorie („adjectif) sollen Grundeigenschaften der Personen erfaßt werden. Todorov unterscheidet drei Klassen von Attributen: 1. Etats, 2. Propriétés und 3. Statuts. Mit „Etats" ist der jeweilige Zustand einer Person gemeint, z.B. bei Boccaccio häufig ihr Verliebtsein. Mit 33 Vgl. Grammaire, S. 9ff. 34 Vgl. dazu insbes. den Abschnitt „La Grammaire Universelle", I.e., S. 14ff. und die Feststellung auf S. 15 : „A nos yeux, l'univers de la narration obéit également à la grammaire universelle". Der Gedanke der linguistischen Universalien, auf die Todorov sich hier bezieht, erhielt in jüngerer Zeit erneuten Auftrieb durch die Untersuchungen Jakobsons und Chomskys. Vgl. z.B. Jakobson, Phonologie und Phonetik, in: Aufsätze zur Linguistik und Poetik, ed. W. Raible, München 1974, S. 5 4 - 1 0 6 , und die dort zusammengestellten invarianten Relationen, die für alle Phonemsysteme gelten sollen und somit Elemente einer universalen Grammatik wären, sowie N. Chomsky, Aspekte der Syntax-Theorie, Frankfurt 1969, S. 43ff. (Kap. „Formale und substantielle Universalien"). - Zum Ganzen vgl. auch Verf., Gibt es eine universale Erzählgrammatik? in: Französisch heute, 1976/2. 35 Zum folgenden vgl. insbes. Grammaire, S. 2 7 - 4 1 und 4 3 - 5 2 .
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„Propriétés" sind feste, andauernde Eigenschaften der Personen gemeint, z.B. Charakterzüge wie Habgier, Stolz, Neid usw. Mit „ S t a t u t s " sind die äußeren Attribute einer Person gemeint, z.B. ihr gesellschaftlicher Status, ihre Zugehörigkeit zur Adelsklasse und dgl. mehr. Für diese drei Klassen von Eigenschaften: „ E t a t s " , „Propriétés" und „Statuts", verwendet Todorov als Symbole die großen Buchstaben, A, B und C. Die Kategorien, die Todorov mit „verbe" bezeichnet, beziehen sich auf die in Verben ausgedrückten Tätigkeiten der Personen. Nur drei Klassen von Handlungen werden unterschieden: a bezeichnet jede Handlung, die darauf zielt, die Situation zu modifizieren, b bezeichnet die Handlungen, mit denen eine Missetat, die Übertretung eines Gebotes usw. vollzogen wird, und c schließlich alle Handlungen, die ein Vergehen bestrafen. Wie man sieht, versucht Todorov mit ganz wenigen Basisprädikaten und entsprechend wenigen Symbolen auszukommen, um die Struktur einer Novelle zu beschreiben. Auch die Einführung einiger „Sekundärkategorien", mit denen Todorov die Gesichtspunkte der Negation, der Opposition, der Steigerung sowie einige weitere Modalitäten der Handlung berücksichtigt, bringt keine wesentliche Verfeinerung dieses recht grobmaschigen Inventars. 36 Offensichtlich können die je drei Kategorien, die zur Erfassung der Attribute und der Handlungen der Personen zur Verfügung stehen, auch nicht annähernd der erzählerischen Fülle Boccaccios gerecht werden. Viele Einzelheiten, die zum erzählerischen Salz der Novellen gehören, sind von vornherein ausgeklammert, so z.B. alle Formen der Ironie, der Zweideutigkeit, ferner die oft wichtigen symbolischen Elemente, ich erinnere etwa an den Falken in der berühmten neunten Novelle des fünften Tages, sowie schließlich die Funktionen der Dingwelt und der dargestellten Wirklichkeit insgesamt. Ein weiterer Mangel der Todorovschen Strukturformeln liegt darin, daß sie fast gänzlich statischen Charakter haben: Alles Prozeßhafte, alle Spannungs- und Überraschungsmomente der Handlung bleiben unberücksichtigt. Diese Formeln können offensichtlich nicht als Umsetzung des Novellentextes, sondern lediglich eines Resümees davon angesehen werden. Tatsächlich ging Todorov so vor, daß er zunächst vom eizählsprachlichen Text der Novelle ein normalsprachliches Resümee anfertigte und diese Zusammenfassung dann in eine Formel, d.h. in die Metasprache der Kategorien seiner „Erzählgrammatik" umsetzte. Die Novelle VII, 2 z.B. wird folgendermaßen zusammengefaßt: Péronelle reçoit son amant en l'absence du mari, pauvre maçon. Mais un jour celui-ci rentre de bonne heure. Pour cacher l'amant, Péronnelle le fait entrer dans un tonneau ; le mari une fois entré, elle lui dit que quelqu'un voulait acheter le tonneau et que ce quelqu'un est maintenant en train de l'examiner. Le mari la croit et se réjouit de la vente. Il va racler le tonneau pour le nettoyer; pendant ce temps, 36 Zu den Sekundäxkategorien vgl. I.e. S. 4 3 f f . E s lohnt nicht, darauf näher einzugehen.
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l'amant fait l'amour à Péronnelle qui a passé sa tête et ses bras dans l'ouverture du tonneau et l'a ainsi bouché.
Daraus wird nun folgende Formel abgeleitet:37 Xb (-> YcX) Q b l + (Y-cX) x ->Xa ->Y(X-b) ^ Y - c X + Xb Hier sind also alle Zeichenebenen mit Ausnahme der Intrige konsequent ausgeklammert. Auch das Faß, das in dieser Novelle eine so wichtige Rolle spielt, das nicht nur im erotischen Sinne ein pikantes Detail ist, sondern zugleich der Novelle ein eigenes Gepräge verleiht, bleibt unberücksichtigt. Man kann nun zunächst einmal einwenden, daß nicht der eigentliche Novellentext, sondern eine selbstgefertigte, sehr stark auswählende Zusammenfassung in die Strukturformel eingeht und daß die Selektion der ins Resümee aufgenommenen Merkmale nicht genügend reflektiert wird.38 Grundsätzlicher aber ist einzuwenden: Kann aus der Analyse nur einer unter vielen Zeichenebenen eines Erzähltextes, in diesem Falle der Zeichenebene der Intrige, die „Grammatik", d.h. das gesamte Regelsystem dieses Textes und darüberhinaus sogar das der Erzählung schlechthin gewonnen werden? Diese Frage ist zu verneinen, auch dann, wenn die Beschreibung der einen ausgewählten Zeichenebene wesentlich differenzierter durchgeführt würde als bei Todorov. Es wird grundsätzlich nicht möglich sein, aus den Zeichen und Zuordnungen einer Ebene das vielschichtige Regelsystem eines Textes zu entwickeln, ebensowenig wie sich die Grammatik einer Einzelsprache aus der Beschreibung nur einer Schicht (etwa der phonetischen) herleiten ließe. Die Funktionen eines Textes sind zu zahlreich, als daß sie sich in der Abstraktion einer Zeichenebene schematisch darstellen ließen. Diese Feststellung gilt übrigens bereits für normalsprachliche Prosatexte, deren System keine oder nur geringfügige sekundäre Strukturierungen aufweist, wie R. Barthes am Beispiel eines Kriminalromains ausgeführt hat. 39 Die Aussichtslosigkeit eines solchen Vorgehens liegt im Falle Todorovs auch darin begründet, daß er sich nicht nur auf eine Zeichenebene beschränkt, sondern bei der Strukturbeschreibung auch rein syntagmatisch verfährt. Die hierarchische Struktur der Zeichen und Verknüpfungen bleibt damit grundsätzlich unberücksichtigt. Nur ein Schichtenmodell hat Aussicht, die Zeichenverhältnisse einer Dichtung wenigstens annähernd abzubilden.40 Der Versuch Todorovs muß aber noch einem weiteren, grundsätzlichen und methodischen Einwand ausgesetzt werden, der auch gegenüber Struk37 I.e., S. 63f. (X = Péronelle; Y = son mari; b = commettre l'adultère; c = punir; a = travestir). 38 Das ist auch der Haupteinwand der Rezension von W. A. Koch in: Poetica, 4, 1971, S. 5 6 5 - 5 7 2 . 39 Dazu unten S. 82ff. 40 Dazu sogleich S. 82ff. Vgl. auch S. 50f.
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turalisten und insbesondere gegen die Methode Lévi-Strauss', dem maßgeblichen Initiator des französischen Strukturalismus, geltend gemacht worden ist. Todorov möchte ja, wie man sah, nicht nur die Strukturformel einer Novelle, sondern darüber hinaus das „Modell" aller Boccaccio-Novellen, eben die „Grammatik des Dekameron" finden, um dann schließlich in einem weiteren Abstraktionsgrad der universalen Grammatik der Erzählung habhaft zu werden.41 Hier wird deutlich — Ähnliches gilt für Lévi-Strauss - daß Struktur als eine feste, ontologische Gegebenheit gesucht wird. Struktur ist hier nicht mehr Analyseinstrument und Operationsverfahren, sondern wird als ein letztes, unveränderliches Forschungsobjekt, als eine konstante ontologische Realität hypostasiert. Über diese „ontologische Täuschung der strukturalen Prädikation" ist viel geschrieben und diskutiert worden; vor allem Eco hat in seiner Polemik gegen Lévi-Strauss grundlegende Klarstellungen getroffen.42 Darauf braucht nicht mehr eingegangen zu werden. Auch ist es in diesem Zusammenhang nicht von unmittelbarer Bedeutung, ob es die Struktur des mythischen Denkens, die (eine unveränderliche) Grundstruktur des menschlichen Geistes gibt oder nicht.43 Für den vorliegenden Zusammenhang kann jedoch soviel gesagt werden, daß es weder eine universale Grammatik der Erzählung noch ein universal gültiges Regelsystem der Dichtung gibt. Die Möglichkeiten der dichterischen Zeichenkombinatorik sind unendlich und in keiner Formel unterzubringen. Strukturentwürfe und Textmodelle haben lediglich operative Bedeutung als Verfahrens- und Erklärungsmodell: sie können einzelne Verfahrensprozesse übersichtlich vorschlagen und damit zugleich nachvollziehbar bzw. verifizierbar gestalten. Dabei dürfte allerdings von vornherein feststehen: ein Modell, das nicht als Forschungsziel, sondern als immer neu zu modifizierendes Forschungsinstrument verstanden wird, wird umso effizienter sein, je mehr Zeichenebenen es berücksichtigt. Ein brauchbarer, wenn auch ergänzungsbedürftiger Entwurf eines operativen Schichtenmodells sei im nächsten Abschnitt vorgeführt. 41 Vgl. Anm. 34. 42 Die Diskussion um Struktur als ontologische Realität oder Operationsmodell und insbes. seine Polemik mit Lévi-Strauss hat Eco zuerst ausführlich dargestellt in: La struttura assente, Mailand, 1968, S. 251 ff. Eine deutsche, überarbeitete Fassung dieses Abschnitts liegt vor .in Kap. D der Einführung in die Semiotik, I.e. S. 3 5 7 f f . Das Zitat dort S. 4 3 2 . 4 3 V o n der Bejahung dieser Frage geht bekanntlich Lévi-Strauss aus, der z.B. seine Ausführungen über die Struktur der Mythen so zusammenfaßt: „Die Logik des mythischen Denkens erschien uns ebenso anspruchsvoll wie die, auf der das positive Denken beruht, und im Grunde kaum anders. . . Vielleicht werden wir eines Tages entdecken, daß im mythischen und wissenschaftlichen Denken dieselbe Logik am Werke i s t . . . ", Strukturale Anthropologie, S. 2 5 3 f .
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2. Ein hierarchisches Prosamodell
Zu dem Zeitpunkt, als die „Grammatik des Dekameron" erschien, war das von Todorov praktizierte Verfahren forschungsgeschichtlich und theoretisch bereits überholt. Mehrere Jahre zuvor hatte Roland Barthes, dem wir uns jetzt zuwenden wollen, unter Hinweis auf die empirisch nicht zu bewältigende Fülle unterschiedlicher Erzähltexte gefordert, auf dem Wege der Deduktion vorzugehen und zunächst ein theoretisches Modell zu erstellen. Das von ihm im 8. Band der „Communications" skizzierte hypothetische Beschreibungsmodell für eine Strukturanalyse von Erzähltexten ist der bis jetzt wohl bedeutendste Modellentwurf auf diesem Gebiet, zugleich aber auch, da er die Anregungen mehrerer strukturalistischer Arbeiten mitberücksichtigt, ein bemerkenswerter Versuch der Synthese. 44 Barthes stellt seinem Entwurf folgende grundsätzliche Überlegung voran: „Que dire alors de l'analyse narrative, placée devant des millions de récits? Elle est par force condamnée à une procédure déductive; elle est obligée de concevoir d'abord un modèle hypothétique de description et de descendre ensuite peu à peu, a partir de ce modèle, vers les espèces qui, à la fois, y participent et s'en écartent: c'est seulement au niveau de ces conformités et de ces écarts qu'elle retrouvera, munie alors d'un instrument unique de description, la pluralité des récits, leur diversité historique, géographique, culturelle. Pour décrire et classifïer l'infinité des récits, il faut donc une ,théorie'. . . ", 4S Wenn auch Barthes im folgenden bei der Entwicklung seines Modells nicht rein deduktiv, sondern durchaus textbezogen und eher in einem gemischt deduktiv-induktiven Verfahren vorgeht, so kann man ihm doch grundsätzlich zustimmen. Barthes' Versuch ist dem Todorovs fast entgegengesetzt. Dieser hatte aus den Einzeluntersuchungen vieler Erzähltexte schließlich eine allen gemeinsame Grundstruktur herauskristallisieren wollen, eben die universal gültige Grammatik der Erzählung. Barthes indes möchte, und dies dürfte der richtigere Weg sein, sein zunächst überwiegend deduktiv gewonnenes, theoretisches und hypothetisches Beschreibungsmodell erst in einem zweiten Schritt 44 Introduction à l'analyse structurale des récits, in: Communications 8, 1966, S. 1 - 2 7 . 45 I.e., S. 2.
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auf einzelne konkrete Erzähltexte anwenden, um schließlich, mithilfe dieses einheitlichen Analyseinstruments, die empirisch unendliche Zahl individueller Eizählstrukturen nach Maßgabe ihrer Konformität bzw. ihrer Abweichung vom hypothetischen Modell in der ganzen Fülle ihrer historischen, geographischen und kulturellen Verschiedenheit aufzuweisen. Todorovs Weg sollte von der Einzelanalyse möglichst vieler Erzähltexte zur vermuteten, festen und einheitlichen Grundstruktur aller Erzählungen führen - Barthes' Weg führt umgekehrt vom einheitlichen theoretischen Modell zurück zur Individualität der einzelnen Erzähl texte. Dem Verfahren Barthes' liegt noch eine weitere wichtige Hypothese zugrunde, nämlich die Annahme, daß im récit alles, wenn auch in unterschiedlichem Grade, Bedeutung hat: „tout, à des degrés divers, y signifie". 46 Das aber impliziert nichts anderes als die Hypothese vom geschlossenen funktionalen Systemcharakter der Erzählung: „c'est un système pur, il n'y a pas, il n'y a jamais d'unité perdu . . . ", 4 7 Dieses geschlossene Gesamtsystem eines Erzähltextes konzipiert Barthes in Anlehnung an die schichtenspezifische Analyse der Linguistik (Beschreibung auf phonologischem, syntaktischem, semantischem Niveau etc.) sowie unter Bezugnahme auf die Schichtentheorie E. Benvenistes als eine vertikale Hierarchie einzelner Subsysteme bzw. Schichten, die als einzelne Ebenen beschrieben werden können. Barthes hebt hervor: „la perquisition exercée sur un ensemble horizontal de relations narratives a beau être complète, pour être efficace elle doit aussi se diriger .verticalement': le sens n'est pas ,au bout' du récit, il le traverse . . . ", 4 8 Barthes ergänzt also die horizontale, syntagmatisch-distributionelle Analyserichtung Propps und Todorovs durch eine vertikale, integrative: alle Schichten sind interdependent, jede Einheit eines Niveaus gewinnt erst dadurch Bedeutung, daß es sich in das nächst höhere zu integrieren vermag; und dementsprechend muß sich die Lektüre eines Textes nicht nur von Wort zu Wort, sondern gleichzeitig auch zwischen den einzelnen Ebenen hin- und herbewegen. Für sein hierarchisches Modell schlägt Barthes drei rudimentäre Beschreibungsebenen vor (wohl wissend, daß weitere Beschreibungsebenen von der künftigen Forschung gefunden werden können und müssen) und zwar: 1. Die Ebene der „fonctions", 2. Die Ebene der „actions" und 3. Die Ebene der „narration". 46 S. 7. 47 ib. 48 Zu den Schichten der Beschreibung vgl. Introduction, S. 4ff.; das Zitat dort S. 6; vgl. ferner E. Benveniste, Les niveaux de l'analyse linguistique, in: Problèmes de linguistique générale, Paris 1966, S. 1 1 9 - 1 3 1 .
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Unter der Ebene der „fonctions" versteht Barthes ziemlich genau das, was Propp als Funktionen bezeichnet, also das von den handelnden Personen losgelöste, operative Niveau kleinster Einheiten, die auf den Gang des Geschehens einwirken. Unter den „actions" der zweiten Ebene ist das zu verstehen, was Greimas als Aktanten und Propp als Handlungskreise bezeichnete, also die Personen, sofern sie Handlungsträger sind. Die dritte Ebene der „narration" schließlich ist die oberste; sie umfaßt die mehr oder weniger stilisierte Sprachform der Erzählung und entspricht damit praktisch der „écriture". Zunächst zur untersten Schicht der Funktionen. Hier stellt sich zunächst wieder das Problem der Segmentierung des Textes in kleinste Einheiten. Barthes geht, wie gesagt, davon aus, daß in einem Erzähltext — er gebraucht dafür den Terminus „récit" — alle Elemente, auch die kleinsten, eine Funktion haben. Als kleinste Erzähleinheit faßt Barthes jedes Segment der Erzählung auf, das sich als Term einer Korrelation darstellt („tout segment de l'histoire, qui se présente comme le terme d'une corrélation"). 49 Es handelt sich um kleinste inhaltliche Einheiten, die dadurch gekennzeichnet sind, daß sie in irgendeiner Weise zu anderen Einheiten des Erzähltextes oder zum Textganzen in Korrelation treten, also im Sinne Propps auf den Ablauf des Geschehens einwirken. Diese kleinsten Erzähleinheiten oder Funktionen sind, wie Barthes hervorhebt, unabhängig von linguistischen Einheiten: sie können bald oberhalb, bald unterhalb der Satzgrenze liegen. Ein Wort kann ebenso eine Erzähleinheit („unité narrative") darstellen wie eine Gruppe von zwei oder mehreren Sätzen. 50 Diese unterste Schicht kleinster inhaltlicher Einheiten teilt nun Barthes in zwei Klassen auf, deren jede nochmals in zwei Unterklassen zerfällt. Er unterscheidet zunächst einmal distributioneile und integrative Funktionen. Die erste Klasse nennt er „fonctions" (im engeren Sinne), die zweite „indices". Die distributionellen Einheiten oder Funktionen im engeren Sinne entsprechen den Funktionen Propps. Es sind also syntagmatische Einheiten, die sich im wesentlichen auf die Abfolge der Handlungen beziehen. Wird in einem Roman z.B. der Kauf eines Revolvers erzählt oder erwähnt, so handelt es sich hier um eine Erzähleinheit, die in syntagmatischer Korrelation steht zu einem späteren Zeitpunkt der Handlung, wo dieser Revolver etwa dazu dient, den Gegner umzubringen. Die zweite Klasse kleinster Erzähleinheiten sind die „indices". Diese sind nicht wie die „fonctions" syntagmatischer, sondern paradigmatischer Natur. Es sind eigentlich semantische Einheiten, die auf eine Bedeutung verweisen, nicht auf eine Tätigkeit. Darum beziehen sie sich auch im Unterschied zu den „fonctions" im engeren Sinne nicht nur auf die Ebene der Handlung, sondern auf alle Schichten der Erzählung. Wenn es z.B. im Kriminalroman 49 Introduction, S. 7. 50 S. 8
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heißt: „Bond hob einen der vier Hörer ab", so fungiert hier das Monem /vier/ als ein „indice" im Sinne Barthes. Dieses Zahlwort „vier" hat zwar keinerlei Relevanz für den Verlauf der Handlung, spielt also syntagmatisch keine Rolle, verweist aber auf eine bestimmte Bedeutung, die dann auf einer höheren Ebene der Erzählung, nämlich in der Ebene der Aktanten, sichtbar wird. Die Zahl der vier Telefone indiziert nach Barthes, daß hinter Bond eine perfekt organisierte administrative Gewalt steht, womit wiederum im Romanganzen zugleich bedeutet wird, daß Bond auf der Seite des Rechts und der Ordnung steht. So entspricht also den „fonctions" im engeren Sinne eine Funktionalität des Tuns, den „indices" eine Funktionalität des Seins. Schon diese beiden Hauptklassen kleinster Erzähleinheiten lassen, wie man sieht, eine gewisse Klassifizierung von Erzähltexten zu. Märchentexte wie etwa die von Propp untersuchten, sind durch ein starkes Übergewicht der distributioneilen Einheiten, der „fonctions", gekennzeichnet, während auf der anderen Seite in psychologischen Texten die Klasse der,indicés" die Hauptrolle spielt ; zwischen diesen beiden extremen Sorten von Erzähltexten wäre eine Reihe von Übergangsformen denkbar. Barthes glaubt jedoch, innerhalb der beiden Hauptklassen von Erzähleinheiten weitere Unterklassen erkennen zu können. 51 Die distributioneilen Einheiten der „fonctions" teilt er auf in sogenannte „fonctions cardinales" bzw. „noyaux" und in „catalyses". Die „fonctions cardinales" oder „noyaux" sind die eigentlichen Angelpunkte der Handlung, die „charnières du récit", wie Barthes sagt. Ihre Funktion liegt darin, daß sie im Verlauf der Handlung eine Alternative, eine Ungewißheit einführen, aufrechterhalten oder zum Abschluß bringen. Die „catalyses" sind dagegen expletive Elemente, sie hängen von den „noyaux" ab und dienen gleichsam als Füllelemente der Erzählung, sind aber keineswegs funktionslos. Ein Beispiel: Die Sätze „Das Telefon läutete" und „Bond nahm den Hörer ab" sind Kardinalfunktionen oder „noyaux". Die dazwischengeschobenen Sätze „Bond ging zum Schreibtisch", „Bond legt seine Zigarette ab" usw. wären Katalysen im Sinne Barthes. Solche Katalysen haben häufig wie auch in diesem Beispiel eine dilatorische, retardierende Funktion (die z.B. der Erhöhung der Spannung dient), in anderen Fällen haben sie etwa eine resümierende, vorausdeutende, beschleunigende Funktion; in keinem Fall sind sie schlechthin funktionslos. Der Satz „Das Telefon läutete" ist eine Kardinalfunktion, weil er nicht nur im konsekutiven Sinne auf den Handlungsverlauf einwirkt, sondern zugleich auch logisch eine Alternative einführt, z.B. die, ob Bond den Hörer abnehmen wird oder nicht. Liegt also die Funktionalität der Katalysen überwiegend im Bereich der zeitlichen Handlungsfolge, indem sie etwas beschreiben, was zwischen zwei Punkten der Handlung liegt, so ist die 51 Zum folgenden vgl. Introduction, S. 9ff.
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Funktionalität der Kardinalfunktionen durch eine doppelte Implikation, nämlich eine zeitlich-sukzessive und eine logische, gekennzeichnet. Insgesamt sind also die Katalysen von einer schwächeren Funktionalität, die jedoch in keinem Augenblick den Nullpunkt erreicht. Die zweite Klasse der „indices" oder integrativen Einheiten läßt sich nach Barthes unterteilen in „indices" im engeren Sinne und in sogenannte „informants". Die Informanten enthalten mehr oder weniger explizite, unmittelbare Gegebenheiten, die den Bezug zur Wirklichkeit herstellen, so z.B. Altersangaben bei einer Person, Straßennamen usw. Im Unterschied zu diesen expliziten direkten Angaben ist eine Bedeutung in den „indices" im engeren Sinne stets nur implizit enthalten. Diese setzen also stets einen Akt des Entzifferns voraus und müssen, wie gesagt, aus der untersten Ebene der Funktionen in die beiden oberen Ebenen der Aktanten und der Eizählsprache hinein weiterverfolgt werden. Zu diesem Beschreibungsschema für die Funktionen der untersten Ebene des Erzähltextes muß noch hervorgehoben werden, daß die von Barthes für die vier Klassen gebrauchten Termini zwar nicht die glücklichsten sind, daß es sich hier aber lediglich um Vorschläge handelt. Nicht die Termini, sondern die Klassifizierung der Einheiten ist das Wesentliche. Von den vier Klassen von Einheiten sind die , j o y a u x " oder „fonctions cardinales" die funktionsstärksten. Sie bilden das eigentliche Gerüst der Erzählung und sind alle einer „Logik", einer „relation de solidarité", unterworfen; die übrigen drei Klassen füllen die Lücken zwischen diesen Erzählkernen. Mehrere „noyaux" schließen sich übrigens nach Barthes zu einer Basiseinheit zusammen. Barthes nennt diese Sequenz und greift damit den von Propp und vor allem auch von Claude Bremond benutzten Terminus auf. 52 Barthes definiert die Sequenz als eine im erzähllogischen Sinne zusammengehörende Folge von Kardinalfunktionen. Die bisher referierten Vorschläge und Überlegungen beziehen sich auf die unterste Ebene des Erzähltextes, auf die Basiseinheiten oder Funktionen im weiteren Sinne. Für die zweite, sich darüber erhebende Zeichenebene der handelnden Personen hält Barthes sich im wesentlichen an das uns bereits bekannte Aktantenmodell Greimas' mit der paradigmatischen Struktur Sujet/ Objet, Destinateur/Destinataire und Adjuvant/Opposant. Als entscheidenden 52 Vgl. Cl. Bremond, Le message narratif, in: Communications 4, 1964, S. 4 - 3 2 , wo vor allem die Beobachtungen Propps ergänzt und kritisch überprüft werden; sowie ders., La logique des possibles narratifs, in: Communications 8, 1966, S. 6 0 - 7 6 , wo Bremond, wiederum von Propps Funktionen ausgehend, zwischen einer „Elementarsequenz" (séquence élémentaire), die aus einer Gruppe von drei Funktionen gebildet wird, und „komplexer Sequenz" (séquence complexe) unterscheidet, die aus mehreren Elementarsequenzen gebildet wird.
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Schritt hebt Barthes lediglich hervor, daß es gelte, die Personen nach ihrem Handlungsbezug, nicht nach ihrer Psychologie zu erfassen. Auch für die dritte Ebene, die der „narration", hat Barthes weniger Originelles vorzubringen. Er verweist im wesentlichen auf die bekannten Gesichtspunkte der Erzählhaltung, der Perspektive, der Intervention des Autors im Text, auf die verschiedenen Formen der Redewiedergabe sowie auf die Analyse der „écriture" als Gesamtphänomen. 53 Wir stellen also fest, daß das dreistufige hierarchische Modell Barthes' im wesentlichen ein synthetisches ist, dessen Wert einmal in der vollzogenen Synthese selbst, zum anderen in den originellen Beiträgen der untersten Ebene liegt, wo die grobmaschigen Funktionen Propps durch ein wesentlich dichteres und differenzierteres Analyseinstrumentarium ersetzt werden. Barthes Modell ist ein semiotisches Modell: Obwohl es der Linguistik wichtige Anregungen verdankt wie zum Beispiel die Idee einer schichtenspezifischen Beschreibung sowie die Annahme des Systemcharakters eines Eizähltextes und der Funktionalität aller seiner Teile, bezieht es sich doch auf ein translinguistisches System von Zeichen und Ordnungsweisen, die nicht die der normalen Sprache sind. „La langue du récit, stellt Barthes fest, n'est pas la langue du langage articulé - quoique bien souvent supportée par elle —, les unités narratives seront substantiellement indépendantes des unités linguistiques". 5 4 Die Einheiten der „Sprache" der Erzählung, so führt Barthes an der gleichen Stelle weiter aus, können zufällig, aber nie systematisch und grundsätzlich mit denen der natürlichen Sprache zusammenfallen; vielmehr sind die Funktionen der Erzählung bald durch übersatzmäßige Einheiten verkörpert, bald durch solche, die kleiner sind als Sätze (Syntagmen, Wörter, ja Wortteile). 55 Indem Barthes nicht nur wie Lévi-Strauss und Greimas die syntagmatische und die paradigmatische Analyserichtung vereint, sondern mehrere Beschreibungsebenen entwirft, deren hierarchische Gliederung und vertikale Funktionalität veranschaulicht, indem er schließlich vor allem auf der untersten Ebene der Handlungselemente die Dichte und Kompliziertheit der Funktionen wenigstens grundsätzlich nachweist, entsteht ein semiotisches Modell des Erzähltextes, das ein Büd von der Vielschichtigkeit, aber auch der funktionalen Einheitlichkeit des Zeichensystems eines Textes zu entwerfen vermag. Hervorzuheben bleibt, daß Barthes' Strukturmodell nicht Endpunkt der Untersuchung ist, sondern lediglich Erklärungsmodell und Analyseinstru5 3 Zur Schicht der Personen und Handlungen: Introduction, S. 15ff.; zur Ebene der Erzählsprache und Erzähltechnik („narration"): S. 18ff. 5 4 S. 8. 55 Vgl. S. 8, wo Barthes das oben S. 85 bereits erwähnte Beispiel des Monems /quatre/ als einer „unité fonctionnelle" des Erzahltextes bringt. - Aber selbst die Graphie eines einzigen Buchstabens eines Wortes (z.B. Groß- oder Kleinschreibung) kann eine solche funktionelle Einheit in einem Zeichensystem darstellen; vgl. unten S. 105ff.
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ment für Erzähltexte. Im Unterschied zu Lévi-Strauss und Todorov ist es nicht Barthes' Absicht, die Struktur zum Objekt und zum Ziel der Untersuchung zu machen, d.h. eine feste, allgemein gültige Struktur herauszufinden wie etwa die Struktur des mythischen Denkens oder die universale Erzählgrammatik. Barthes zielt nicht auf eine geschlossene, sondern auf eine offene, als Analyseinstrument praktizierbare Struktur ab, an der sich sowohl in diachronisch-literaturgeschichtlicher wie auch in synchronischer Perspektive die Vielfalt und die Individualität der Erzählstrukturen, d.h. letztlich die grundsätzliche Individualität des poetischen Textes erweist. Nur in diesem Sinne werden Strukturmodelle die semiotische Forschung unterstützen und ergänzen können: nur eine als „offen" und veränderbar konzipierte Strukturhypothese wird den sich ständig verändernden Zeichenverhältnissen dichterischer Texte gerecht werden können. Es muß aber auch auf Schwächen dieses Modells hingewiesen werden. Gerade für den Zusammenhang dieses Buches ist es von Bedeutung, daß Barthes sein Modell nicht an einer Dichtung, sondern an einem Kriminalroman entwickelte, d.h. an einem Text, in dem von vornherein gewisse, bereits beobachtete sekundäre innersprachliche und außersprachliche Strukturierungen fehlen oder doch weitgehend reduziert sind.56 So zieht Barthes — etwa bei der Besprechung der „indices" — durchaus einige konnotative Funktionen mit in Betracht, doch ist offensichtlich, daß die Sprache dieses Romans, wie auch in den von Barthes zitierten Beispielen deutlich wird, überwiegend linear-denotativ verfährt und nicht die konnotative Dichte und Flächenhaftigkeit erreicht, die für poetische Sprache kennzeichnend ist.57 Dadurch, daß Barthes von einem überwiegend denotativen, mehr oder weniger normalsprachlichen Text ausging, gelangt er zu einer Auffassung, die für poetische Texte nicht ohne weiteres akzeptiert werden kann. Barthes' Modell beruht auf der impliziten Annahme, daß die Zuordnung der einzelnen Textsegmente unter die einzelnen Kategorien seines Beschreibungssystems stets eine eindeutige ist, d.h. daß jedes Segment eindeutig (z.B. auf der untersten Ebene: als „noyau", „indice", „informant" usw.) identifiziert werden kann. Hinsichtlich dieser stillschweigend und ohne Diskussion gemachten Voraussetzung der Eindeutigkeit der Zuordnungen aber täuscht das Modell Barthes eine Struktur vor, die in dieser Weise im poetischen Text grundsätzlich nicht oder allenfalls nur partiell gegeben ist. Man braucht Barthes' Modell nur einmal an einem 56 Barthes legte seinem Entwurf die französische Fassung des Romans „Goldfinger" von Jan Fleming zugrunde. 57 Das zeigt sich z.B. an der Tatsache, daß der „Sinn" des Kriminalromans weitgehend (in vielen Fällen ganz) in den erzählten Begebenheiten selbst liegt, wohingegen in der Dichtung (etwa in einer Novelle Kleists) der eigentliche Sinn erst hinter bzw. über den erzählten Ereignissen interpretativ zu gewinnen ist. Vgl. oben S. 27f.
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dichterischen Erzähltext, etwa an einer Novelle oder einem Roman zu applizieren, um festzustellen, daß fast von Segment zu Segment und von Leser zu Leser die Beurteilung der Funktionalität z.T. weit divergiert.58 Bei entsprechenden Versuchen mit einer Gruppe von Studenten zeigte sich, daß z.B. bei der Beurteilung der „noyaux" und der „catalyses", d.h. bei der Frage, ob ein gegebenes Segment einen „Handlungskern" darstelle oder lediglich ein „Füllelement", immer wieder unterschiedliche Bewertungen und dementsprechend auch unterschiedliche Zuordnungen gegeben wurden. Gleiches ergab sich auch bei den Kategorien der zweiten Hauptklasse, den „indices" im engeren Sinne und den „informants". 59 Offensichtlich können selbst kleine und kleinste Einheiten eines poetischen Textes unterschiedliche Wirkungen im Leser hervorrufen. Da einen Text lesen, wie Barthes richtig betont, nicht heißt, ihn linear-sukzessiv bis zum Schluß durchzugehen, sondern ständig von einer Schicht zu einer anderen zu gleiten;60 da sich der Sinn des Textes nicht horizontal ergibt, sondern nur in der bereits erwähnten Globalisierungsleistung, die alle Schichten der Hierarchie und alle Blickrichtungen (horizontal und vertikal, von oben nach unten und umgekehrt usw.) aktualisieren muß, ergeben sich bei der Lektüre je nach Blickrichtung und je nachdem, welche Schichten besonders in den Blick treten, ständig neue, grundsätzlich gleichberechtigte Zuordnungen. Das hat zur Folge, daß es sich bei vielen Textsegmenten als schwierig bzw. unmöglich erweist, generell und definitiv zu sagen, um welche Erzählfunktion (etwa „noyau" oder „catalyse") es sich handelt. Was somit Barthes' Modell verschleiert, ist das in der Dichtung schlechthin konstitutive Moment einer großen Anzahl von im Lektüreprozeß aktualisierten gleitenden Zuordnungen, die als „schwebende" Relationen vermutlich nie in irgendeinem Modell in operationeller Weise dargestellt werden können. Hier ist nun allerdings der Punkt erreicht, wo die Analyse eines Textes zwangsläufig übergeht in die Analyse seiner Wirkungen auf den Leser, wo das Analysemodell seiner Zeichen und Verknüpfungen ergänzt werden müßte durch ein Modell seiner möglichen Rezeptionen.61 Das Zeichen des dichterischen Textes ist nicht nur durch Vielschichtigkeit und die Interfunktionalität 58 Dabei zeigt sich auch, wie schwer es ist, die funktionellen Basiseinheiten („unités fonctionnelles") im konkreten Falle abzugrenzen und auszusondern. 5 9 Ich beziehe mich dabei auf die Beobachtungen und Ergebnisse meines Oberseminars „Literaturwissenschaftliche und linguistische Analyse von Erzähltexten", das im WS 7 3 / 7 4 gehalten wurde. 6 0 Introduction, S. 5f. 61 Den Versuch einer Rezeptionsanalyse hat Barthes durchgeführt in: S/Z, Paris 1 9 7 0 , und zwar am Beispiel der frühen Balzacnovelle „Sarrasine" ( 1 8 3 0 ) . Im Unterschied zu dem oben beschriebenen Modell geht hier Barthes von fünf weniger hierarchisch als vielmehr operationell konzipierten Textebenen aus, die er Kodes nennt, und zwar
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einzelner Zeichenebenen gekennzeichnet, sondern auch durch die dem Leser angebotene Vielfalt möglicher Zuordnungen der einzelnen Zeichen (auf welcher Ebene auch immer), die theoretisch unendlich ist und auf der die Eigenschaft des Textes beruht, Information zu speichern, d.h. wiederholt lesbar zu sein. Auf diesen rezeptionsästhetischen Gesichtspunkt wird an gegebener Stelle zurückzukommen sein.
dem heimeneutischen Kode, dem Kode der Referenzen, der Handlungen, der Seme (bzw. Konnotationen) und der Schicht der Symbole („champ symbolique"). Diese fünf „Stimmen" des Textes (wie Barthes sie auch nennt), sind jedoch einerseits in der Praxis der Analyse nur schwer voneinander zu trennen, andererseits aber auch zu undifferenziert. Die von Barthes gewählte Basis der „Leseeinheit", auch „lexie" genannt, wird bewußt als eine willkürliche in Kauf genommen, wohl in Anbetracht der Tatsache, daß jeder Leser bzw. jede Lektüre abweichende „Leseeinheiten" schaffen kann. Es ist hier nicht der Ort, auf diesen wiederum anregenden, doch problematischen Versuch näher einzugehen. Doch kann man Barthes im Grundsätzlichen vielfach zustimmen, so z.B. wenn er die „Offenheit" des Textes betont („Interpréter un texte, ce n'est pas lui donner un sens . . . c'est au contraire apprécier de quel pluriel il est fait", S. 11) oder wenn er vom „texte idéal" (was anders ist ein poetischer T e x t ? ) feststellt: „ce texte est une galaxie de signifiants, non une structure de signifiés; il n'a pas de commencement; il est réversible; on y accède par plusieurs entrées dont aucune ne peut être à coup sûr déclarée principale; les codes qu'il mobilise se profilent à perte de vue, ils sont indécidables (le sens n'y est jamais soumis à un principe de décision, sinon par un coup de dés); de ce texte absolument pluriel, les systèmes de sens peuvent s'emparer, mais leur nombre n'est jamais clos . . . (S. 12). Damit ist zugleich auf einige Hauptschwierigkeiten, die der Erstellung eines Rezeptionsmodells entgegenstehen, hingewiesen sowie auf die Tatsache, daß ein Katalog von fünf „Kodes" nicht ausreichen kann, um einen Rezeptionsprozeß konkret darzustellen. Auch in der Frage ontologisch vorgegebener Strukturmodelle trifft Barthes eine richtige Entscheidung, wenn er folgert: „Tout ceci revient à dire que pour le texte pluriel, il ne peut y avoir de structure narrative, de grammaire ou de logique du r é c i t . . . " (ib.). Zu S/Z und weiteren Schwierigkeiten der Rezeptionsanalyse vgl. Verf., Einführung, I.e. S. 41f. sowie meine Rezension von H. Glinz, Textanalyse und Verstehenstheorie I, Frankfurt 1973, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift, Bd. 56, 1975, S. 2 3 8 - 2 4 0 .
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IV. DANTE. ZEICHEN UND STRATEGIEN
1. Zahlenpoetik als Textstrategie Das vorige Kapitel hatte in die Ebene der zeichenhaft verwendeten Personen und Handlungen eingeführt, und mit einigen Versuchen vertraut gemacht, die Zeichenebene der Intrige in syntagmatischen, paradigmatischen oder in kombinierten syntagmatisch-paradigmatischen Verfahren zu beschreiben. Dabei konnte vor allem das hierarchische Modell Barthes' veranschaulichen, wie komplex die einzelnen Teilsysteme und Funktionen eines Textes sind und daß es schon bei einer relativ einfachen Erzählstruktur wie der des Kriminalromans sich als äußerst schwierig erweist, eine einzelne Zeichenebene herauszulösen. Barthes' Beispiel machte erneut deutlich, daß eine lineare, „horizontale" Lektüre der grundsätzlich hierarchisch-schichtenhaften Struktur der Texte unangemessen ist. Barthes faßt seine Beobachtungen so zusammen: „Le récit se présente ainsi comme une suite d'éléments médiats et immédiats, fortement imbriqués; la dystaxie oriente une lecture „horizontale", mais l'intégration lui superpose une lecture „verticale" . . . Diese Kombination der horizontalen und der vertikalen Blickrichtung ist indes in noch stärkerem Maße für die Analyse des poetischen Texts kennzeichnend und erforderlich, wie auch immer im einzelnen seine Zeichenverhältnisse beschaffen sein mögen. Barthes' Schichtenmodell vermittelt einerseits eine ungefähre Vorstellung von den hierarchischen Funktionen und Zuordnungen bzw. Zuordnungsmöglichkeiten der Zeichen eines Textes, vermag jedoch andererseits nicht die volle, empirisch nicht auszuschöpfenden Vielfalt der in dichterischen Texten verwendeten Zeichen und Zuordnungen in ihrer immer wieder neu kombinierbaren Funktionalität wiederzugeben. Jahrhundertelang hat sich indes Kunst und Erfindungsgabe gerade der bedeutendsten Autoren der Literaturgeschichte darauf konzentriert, den Informationsgehalt ihrer Texte durch eine immer stärkere und kompliziertere Schichtung und Verflechtung der Funktionen in allen Teilen zu verdichten, das verwendete Sprachmaterial immer stärker zu
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Introduction, S. 26.
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semantisieren, und dies nicht zuletzt durch die Integration außersprachlicher Zeichensysteme. Welches Gewicht einzelne Autoren auf außersprachliche sekundäre Strukturierungen ihrer Werke legen und welche extreme Mühe sie aufwenden, um signifikante außersprachliche Teilsysteme in einen bereits vielschichtig strukturierten dichterischen Text einzuarbeiten, mögen die folgenden Beispiele aus einer einst berühmten, heute kaum noch bekannten Dichtung veranschaulichen. Die hier wiedergegebenen Ausschnitte aus der extrem artifiziellen, aber immer funktionalen und nachvollziehbaren bzw. belegbaren dichterischen Praxis Dantes möchten zugleich das Strukturprinzip der Intertextualität beleuchten, d.h. die Tatsache, daß ein in den Text aufgenommenes Teilsystem auf einen kulturellen Kode verweisen kann, der in anderen Texten der Epoche oder auch früherer Zeiten aufgefunden werden muß; sie möchten darlegen, wie innerhalb der „Sprache" einer Dichtung weitere kohärente „Teilsprachen" (d.h. signifikante Zeichensysteme) dekodiert werden können und müssen. Einmal mehr wird sich dabei bestätigen, daß nur eine synoptische, das Nacheinander der Zeichen der natürlichen Sprache aufhebende bzw. ausgleichende Lektüre der flächenhaft-hierarchischen Struktur der poetischen Sprache gerecht werden kann und geeignet ist, in die Tiefe der Zeichen und ihrer Verknüpfungsregeln zu dringen. Aus Gründen der Übersichtlichkeit und Lesbarkeit soll im folgenden lediglich ein schmaler Ausschnitt aus der Poetik Dantes dargestellt werden: die Beispiele beschränken sich auf die Verwendung dreier Wörter, nämlich „amore", „fiamma" und „grazia". 2 a) amore Das erwähnte synoptische Verfahren besagt in seiner Anwendung auf die Funktionen eines Wortes zunächst soviel, daß dessen Verwendung im gesamten Text des umfangreichen, insgesamt 14 233 Verse umfassenden Gedichts zu untersuchen ist. Das setzt voraus, daß zunächst alle im Text vorkommenden Belege des Wortes registriert werden müssen; das synoptische Erfassen sämtlicher Wortbelege wird dabei durch die neueste Konkordanz zur „Divina Commedia" abgesichert. 3 Für „amore" ergibt sich folgender Befund: Das Wort kommt im Inferno, in der ersten Cantica des Gedichts, insgesamt 19 mal 2
Zum folgenden vgl. Verfasser, Textstrategie in der Divina Commedia, in: Romanische Forschungen, Bd. 84, 1972, S. 489-515 sowie ders., Die Zahl in der Divina Commedia, Frankfurt 1973, S. 213ff. und 288ff. 3 E. H. Wilkins und Th. G. Bergin, A Concordance to the Divine Comedy of Dante Alighieri, Cambridge (Mass.), 1965. Der Dante-Text wird im folgenden stets zitiert nach der kritischen Ausgabe von G. Petrocchi in vier Bänden, Mailand 1966/67. Als Lesehilfe für den nicht immer leichten Dante-Text sei für den deutschen Leser die Übersetzung von I. und W. von Wartburg, Zürich 1963, empfohlen.
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vor. Wenn man bedenkt, daß Dantes Inferno insgesamt 4 722 Verse umfaßt, wird deutlich, wie dünn das Wort im Text gesät ist. Auch das etwas häufigere Vorkommen in der zweiten und dritten Cantica ändert nichts daran: 50 Belege des Purgatorio und 86 des Paradiso ergeben immer erst eine Gesamtzahl von 155 Belegen, die sich über die 14 233 Verse der Commedia verteilen. Diese Zahlen einer insgesamt spärlichen Verwendung des Wortes lassen in keiner Weise erkennen, welch enormen Arbeitsaufwand Dante gerade bei der Verwendung dieses Begriffs auf sich genommen hat — ein Arbeitsaufwand, der weit über den für eine übliche dichterische Verwendung des Wortes erforderlichen hinausgeht und der sich daher auch nicht mit den üblichen Mitteln der Interpretation nachweisen läßt. Die Infernobelege des Wortes ergeben folgende Reihe: 1,39/1,83/1,104/2,72/3,6/5,66/5,69/5,78/5,100/5,103/ 5,106/5,119/5,125/5,128/11,56/11,61/12,42/26,95/30,39. Geht man die Bedeutungen der einzelnen Belege durch, so zeigt sich, daß der Gebrauch des Wortes in semantischer Hinsicht keinerlei Besonderheiten aufweist. Wir finden die Bedeutungen „Liebe Gottes" (z.B. 1,39), „Liebe zu einem Autor bzw. zu dessen Werken" (1,83), Liebe als abstrakter und genereller Tugendbegriff („sapienza, amore et virtute" in 1,104), die Liebe der himmlischen Beatrice (2,72), „Gott" (3,6), mehrfach die Bedeutung der sinnlichen Liebe zwischen den Geschlechtern (5,66/5, 69/5,78 usw.); an einigen Stellen schließlich bezeichnet das Wort (großgeschrieben) den Gott der Liebe, so z.B. in Purg. 31,117. Aber eine Durchsicht der Hauptbedeutungen des Wortes und selbst eine verfeinerte semantische Analyse der Belege gewähren keinen Einblick in die spezifische Verwendung des Wortes durch Dante. 4 Wir sehen daher von einer weiteren Erörterung des Bedeutungsfeldes des Wortes ab und wenden uns statt dessen der Distribution des Wortes im Text des Inferno zu. Dabei interessieren im folgenden die Fundorte der einzelnen Belege ebenso wie die Dichte ihres Vorkommens im Text, und hier, wie gesagt, insbesondere die Textabschnitte mit überdurchschnittlicher Häufung bzw. Dichte der Belege. Was die Fundstelle der Belege angeht, so umschreiben wir sie, wie es sich im Text der Commedia anbietet, mit der Zahl des Gesanges und des Verses; aber auch der Stellung des jeweiligen Belegs innerhalb des Verses, des Satzes und vor allem auch der Terzine, muß, wie sich im folgenden zeigen wird, Rechnung getragen werden. 4
So erklärt sich z.B., daß selbst umfangreiche Einzeluntersuchungen zu dem Wort amore wie die von Aisha Hell auf Dantes spezifische Handhabung dieses Wortes nicht aufmerksam geworden sind, vgl. „Der Amorebegriff bei Dante" in: DDJb 29/30, 1951, S. 161 - 1 8 4 ; 31/32, 1953, S. 8 9 - 1 4 7 ; 33, 1954, S. 1 4 2 - 1 8 3 . Gleiches gilt für das umfangreiche Werk von Alberto di Giovanni, La filosofia dell'amore nelle opere di Dante, Rom 1967.
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Prüft man die oben zusammengestellte Belegreihe des Inferno unter diesen Gesichtspunkten, so ergibt sich folgendes: Unter den 34 Gesängen des Inferno sind es nur acht, in denen das Wort amore vorkommt. Bei diesen acht Gesängen schwankt die Zahl der Belege zwischen 1 und 3; mit einer auffallenden Ausnahme: Inf. 5. Dieser Gesang vereinigt nicht weniger als neun Belege in sich, also nahezu die Hälfte aller Belege der ersten Cantica (19). Von Bedeutung ist, daß sich alle neun Belege dieses Gesangs in der Mitte und zweiten Hälfte des Gesangs zusammendrängen, und zwar auf einem Raum von nur 63 Versen (vgl. w. 66—128). Wir haben damit die Stelle der maximalen Wortdichte im Inferno vor uns. Ebenso bemerkenswert ist das Fehlen der Wortbelege, das auf diesen Abschnitt maximaler Dichte folgt: In genau fünf unmittelbar auf Inf. 5 folgenden Gesängen begegnet das Wort kein einziges Mal (vgl. Inf. 6 - 1 0 ) . Weiter stellt man fest, daß die neun Belege des fünften Gesangs genau in der Mitte der in der Reihenfolge des Textes sich ergebenden Belegreihe liegen: fünf Belege liegen vor, ebensoviele nach dem fünften Gesang. Da nun die Zahl der Belege des fünften Gesangs eine ungerade ist, nämlich neun, gibt es hier einen mittleren Beleg, nämlich den fünften des Gesangs, der in v. 103 liegt. Dieser Beleg ist damit auch der mittlere aller 19 Inferno-Belege, indem er im Rahmen der gesamten Cantica 9 Belege vor sich und ebensoviele nach sich hat, immer in der Reihenfolge des Textes gesehen. Hier wird bereits etwas von der sorgfältig geplanten Distribution des Wortes sichtbar. Offensichtlich sind sämtliche, weit voneinander entfernten Wortbelege um die Achse des zentralen Belegs 5,103 herum angelegt. Schlägt man an dieser Stelle nach, so stellt man fest, daß dieser 103. Vers die mittlere der drei bekannten Amorterzinen dieses fünften Gesanges eröffnet, die wie folgt lauten: 100
Amor, ch'al cor gentil ratto s'apprende, prese costui de la bella persona che mi fu tolta; e'l modo ancor m'offende.
103
Amor, clfa nullo amato amar perdona, mi prese del costui piacer si forte, che, come vedi, ancor non m'abbandona.
106
Amor condusse noi ad una morte. Caina attende chi a vita ci spense". Queste parole da lor ci fuor porte.
Die zitierten drei Terzinen aus dem Kontext der Francesca-Episode sind durch eine dreifache anaphorische Reihung des Wortes „amore" im jeweils ersten Vers der Terzinen hervorgehoben. Bei den drei Belegen des 100., 103. und 106. Verses handelt es sich um die drei zentralen Wortbelege innerhalb der Belegreihe der ersten Cantica. In allen drei Fällen eröffnet das Wort Satz und
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Vers und steht großgeschrieben am Beginn der Zeile. Dadurch sind die drei zentralen Belege auch im Text als geschlossene Dreiergruppe erkennbar. Dies auch deswegen, weil sich die übrigen sechs Belege des fünften Gesangs gleichmäßig um diese Beleggruppe verteilen: drei weitere Belege liegen vor und ebensoviele nach der mittleren Dreiergruppe. Offensichtlich ordnet also Dante die Belege des Gesangs in drei Gruppen zu je drei Belegen, von denen die mittlere durch die Stellung ihrer Belege an Vers- und Terzinenbeginn und durch die damit verbundene Graphie besonders hervorgehoben ist. Es läßt sich jedoch weiter nachweisen, daß Dante auch die beiden anderen Dreiergruppen dieses Gesangs als jeweils zusammengehörende Einheiten betrachtet hat. Beide Gruppen sind nämlich mit übereinstimmenden Ordnungsmerkmalen versehen, wobei Dante diesmal nicht nur auf die Stellung des Wortes in Vers, Satz und Terzine, sondern auch auf die Zahl der Buchstaben der in Frage kommenden Belege geachtet hat. Alle sechs Belege befinden sich, im Unterschied zur zentralen Gruppe, im Satzinneren; und vor allem: auf einen Beleg mit fünf Buchstaben folgen jeweils zwei mit nur vier Buchstaben, vgl.: v. 66 v. 69 v. 78
amore amor amor
v. 119 v. 125 v. 128
amore amor amor
Dante hat also die Buchstaben des Wortes gezählt und zwischen den beiden Flügelgruppen in dieser Hinsicht genau entsprechende Merkmale eingerichtet. Achtet man nun auf die Stellung des Wortes in der Terzine, so zeigt sich, daß Dante diese als ein weiteres Ordnungskriterium berücksichtigt hat. Es liegen nämlich die drei Belege der ersten Gruppe sämtlich im dritten Vers einer Terzine ( w . 66,69,78), die der zweiten Gruppe alle im ersten Vers ( w . 100,103, 106), die der dritten Gruppe schließlich alle im zweiten Vers einer Terzine ( w . 119,125,128). Diese Beobachtungen sind untrügliche Indizien dafür, daß Dante die neun Wortbelege des Gesangs als eine in drei mal drei Belege unterteilte Einheit ansah. Ersichtlich k o m m t es Dante nicht nur auf die Neun, sondern ebenso auf deren Wurzel, die Drei, an. Mit den Belegen des fünften Gesangs hat Dante sich unbezweifelbar die größte Mühe gegeben. Geht man in der Reihe der Belege über Inf. 5 hinaus, so ergeben sich weder bei den fünf vorausliegenden noch den fünf nachfolgenden Belegen vergleichbare Anordnungen. Dante hat sich hier damit begnügt, die Fünfzahl der Belege einzurichten. Von besonderem Interesse sind jedoch wieder der erste und der letzte Beleg des Inferno in 1,39 und 30,39. Beide Belege fallen, wie man sieht, auf einen zahlengleichen Vers mit eben den Ziffern drei und neun; welches Gewicht jedoch Dante diesen beiden Zahlen beimaß, wird vollends deutlich, wenn man die Textspanne vom ersten 95
bis zum letzten Beleg des Wortes amore im Inferno errechnet: von Inf. 1,39 bis 30,39 sind es genau 3 993 wohlgezählte Verse. Faßt man alle bisherigen Beobachtungen zur Verwendung des Wortes in der ersten Cantica zusammen, so ergibt sich folgendes Schema: 1,39 1,83 1,104 2,72 3,6
•5
Belege
9 Belege 5,66 5,69 5,78 Amor, ch'a nullo amato amar perdona
amore amor amor
5,100 Amor 5,103 Amor 5,106 Amor 5,119 amore 5,125 amor 5,128 amor
3
Belege im 3. Vers
3x Amor im 1. Vers
3
9 Belege
3993 w .
Belege im 2. Vers
9 Belege 11,56 11,61 12,42 26,95 30,39
'5
Belege
Wie man sieht, ist die gesamte, alle amore-Belege der ersten Cantica ausnahmslos erfassende Anordnung zentriert in dem 103. Vers des fünften Gesangs. Dieser Vers lautet: Amor, ch'a nullo amato amar perdona
und spricht damit in sinnschwerer figura etymologica ein Grundgesetz stilnovistisch konzipierter Liebe aus: die Unwiderstehlichkeit Amors. Mit gutem Grund ist also dieser Vers als Mittelachse des gesamten Ordnungsgefüges gewählt worden. Tragende Pfeiler der Anordnung sind die Zahlen fünf, drei und neun, wobei das größere Gewicht sicherlich den beiden letzteren zukommt. Warum Dante diese Zahlen wählt und was sie für ihn bedeuten, läßt sich in diesem Fall relativ leicht ermitteln. Die Fünf galt im Rahmen der christlichen Zahlensymbolik seit eh und je als Zahl der fünf Sinne und damit der Sinnlichkeit schlechthin. 5 Aus diesem Grund wählt Dante diese Zahl für den Es erübrigt sich in diesem Zusammenhang, einzelne Belege aus der patristischen Literatur anzuführen. Der Interessierte findet Belege und Quellen zu dieser und den ande-
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Gesang, in dem er die Francesca-Episode als Exemplum fehlgerichteter sinnlicher Liebe gestaltet, und darum flankiert er die neun zentralen Inferno-Belege mit je fünf Belegen auf beiden Textflügeln. Die Zahl drei ist in erster Linie die Zahl der Trinität, und neun ist das Produkt der mit sich selbst multiplizierten Drei. Doch hat es mit beiden Zahlen bei Dante seine besondere Bewandtnis: Dante versteht, wie aus dem 29. Kapitel der Vita Nuova hervorgeht, die Neun als Zahl der Beatrice, und führt beide, Zahl und Person, auf die Wurzel drei, also auf den Ursprung der göttlichen Trinität zurück. 6 Die gesamte AmoreThematik des Inferno und insbesondere auch die Francesca-Episode sind dem Gedanken an Beatrice (und der ihr gegenüber in der Jugend erworbenen Schuld) unterstellt. Die bisher aufgezeigte Verwendung der Wortbelege im Inferno ist nur Teil einer Vielzahl von Anordnungen und Kombinationen, die sich über alle drei Cantiche des Gedichts erstrecken. Das soll hier nicht weiter ausgefaltet werden. 7 Hingewiesen sei hier lediglich auf die Rolle der Zahl 17 im Bereich dieser Kombinationen. Die Bedeutung dieser Zahl für Dante geht (im Rahmen der Amore-Thematik) z.B. aus der auffälligen Gruppierung der Wortbelege in der zweiten Cantica hervor: Dante richtet es so ein, daß der 17. Wortbeleg des Purg. zugleich der erste Beleg des 17. Gesanges ist. In diesem Gesang, dem Zentralgesang des Gedichts, entwickelt Dante bekanntlich die Lehre vom Liebestrieb als Ursprung jeder guten und schlechten Handlung, und der folgende 18. Gesang setzt das Lehrgespräch fort und erläutert den freien Willensentscheid des Menschen als Voraussetzung schuldhaften Handelns. In diesen beiden thematisch eng zusammengehörigen Gesängen mit den Grundgedanken der Amore-Thematik gebraucht Dante das Wort 17 mal; usw. usw. Dante hat aber auch bereits im Inferno — und damit kehren wir zur obigen Skizze zurück — die Zahl 17, die er in Übereinstimmung mit der christlichen Zahlenexegese seit Augustin als Symbol des Zusammenwirkens von Gesetz und Gnade, lex et gratia, ansieht, bei der Verwendung der amore-Belege berücksich-
6
7
ren hier e r w ä h n t e n Symbolzahlen bei Verf., Die Zahl, (s. Zahlenindex); d o r t a u c h reiche bibliographische Angaben. „Lo n u m e r o del tre è la radice del nove, però che, sanza n u m e r o altro a l c u n o , per se m e d e s i m o fa nove, e lo f a t t o r e per se m e d e s i m o de li miracoli è tre, cioè Padre e Figlio e Spirito Santo, li quali sono tre e u n o , questa d o n n a fu a c c o m p a g n a t a da q u e s t o n u m e r o del nove a dare ad intendere ch'ella era u n o nove, cioè u n o miracolo, la cui radice, cioè del miracolo, e solamente la mirabile T r i n i t a d e " . e d . M. Barbi, Firenze 1 9 3 2 2 , S. 124. Weitere Beispiele für o f t a u s g e d e h n t e Ordnungsgefüge, die alle f u n k t i o n i e r e n d e signif i k a n t e Teilsysteme sekundär-außersprachlicher Art darstellen und zu einer a u ß e r o r d e n t l i c h e n Semantisierung d e s T e x t e s beitragen, vgl. Verf., Zahl, hier insbes. K a p . IV: „Wörter und Z a h l e n " , S. 1 9 3 - 3 0 8 .
97
tigt. Daß dies ausgerechnet in der Mitte der Anordnung, nämlich im Textabschnitt des fünften Gesangs geschehen ist, kann kein Zufall sein. Man stößt auf die Zahl, sobald man auf die Textgrenzen der Francesca-Episode achtet. Das Kernstück der Episode wird ziemlich eindeutig begrenzt durch Anfang und Ende der Rede Francescas im 88. und 138. Vers des fünften Gesangs. Das aber entspricht einer Textspanne von 51 Versen und somit genau 17 Terzinen, wobei auch die Terzinengrenze am Anfang und Ende des Textabschnitts eingehalten ist. Insgesamt aber ist die Episode etwas länger. Sie reicht von der Bitte des Wanderers in v. 73 (I'cominciai: „Poeta, volontieri" etc.) bis ans Ende des Gesangs in v. 142. Die Episode umfaßt also insgesamt 70 Verse. Innerhalb dieses Gesamtrahmens aber hat Dante es fertig gebracht, mit Belegen des Wortes selbst die gewünschte Textspanne abzustecken. Und zwar hat er dazu den ersten und letzten der amore-Belege gewählt, die in den thematischen Rahmen der Francesca-Episode hineinfallen. Zwischen diesen beiden Belegen in v. 78 und v. 128 zählt man wiederum 51 Verse entsprechend 17 vollen Terzinen (wobei allerdings diesmal die Terzinengrenze nicht berücksichtigt wurde). Wiederum ist somit hier die Textdistanz zwischen zwei Belegen des Wortes nach symbolischen Gesichtspunkten berechnet worden. Daß es Dante in diesem Zusammenhang tatsächlich primär um die Zahl 17 ging — die eine der bedeutendsten christlichen Symbolzahlen war — kann mit einem weiteren überraschenden Kalkül des Dichters nachgewiesen werden. Es mag zunächst unbefriedigend erscheinen, daß Dante — aus welchen Gründen auch immer — nicht alle neun Wortbelege im Rahmen der Francesca-Episode unterbringt. Zwei Belege stehen außerhalb der Textgrenzen der Episode, und zwar die Belege in v. 66 und 69, während die übrigen sieben Belege des Gesangs innerhalb der Episode in ein Textmaß von 17 Terzinen eingefügt wurden (vgl. w . 78,100,103,106,119,125,128). Um aber auch die beiden überschießenden Belege noch an die geheiligte Zahl zu binden, hat Dante ein weiteres Ordnungskriterium ersonnen: er zählt diesmal nicht die Verse, sondern — bezugnehmend auf die Texteinheit der Terzine — deren Wörter und ordnet sowohl den Beleg in v. 66 wie auch den darauffolgenden in v. 69 als jeweils 17. Wort der entsprechenden Terzine an. Die Verklammerung der neun Belege des Gesangs mit der Zahl 17 läßt sich in folgendem Schema wiedergeben: 8 5,66 5,69 8
amore amor
| J
jeweils 17. Wort der Terzine
Man beachte, daß auch der zweite und siebte Beleg im 69. und 119. Vers eine Spanne von genau 17 Terzinen einschließen. Man stößt hier auf die gleichen Zahlen wie in dem Schema: zwei und sieben Belege stehen sich gegenüber und werden doch durch die Zahl 17 verklammert.
98
5,78 5,100 5,103 ' „_ 5,106 ' 5,119 5,125 5,128
amor Amor Amor . Amor amore amor amor
_ t Textspanne von 17 Terzinen
Damit ist zugleich nachgewiesen, daß Dante nicht nur mit der Zahl der Verse, Terzinen und Gesänge, sondern auch mit der Zahl der Wörter in der Terzine gerechnet hat. b) fiamma Komplizierte und bei aller Weitläufigkeit doch bis ins Detail durchdachte und exakte Ordnungsgefüge, in denen Wörter und Zahlen untrennbar miteinander verschmolzen sind, sind im Text der Commedia keine Seltenheit. Die Untersuchung von Wörtern wie croce, segno, grazia, virtù und ähnliche haben in dieser Hinsicht erstaunliche Ergebnisse gebracht. 9 Sie bestätigen u.a., daß Dante symbolische Berechnungen vor allem an Stellen vornimmt, die, thematisch gesehen, für ihn Schwerpunkte des Textes sind, wie z.B. wichtige theologische Lehrstücke bzw. Diskussionen oder aber Stellen, die über das eigene Schicksal als Dichter handeln, von der Gestalt der Beatrice usw. Das folgende Beispiel des Wortes fiamma ist insofern interessant, als sich dessen wiederum wohldurchdachte Anordnung nicht um eine christliche, sondern eine heidnische Gestalt gruppiert, noch dazu um eine, die, im Unterschied etwa zu Vergil, in keinem sichtbaren engen Verhältnis zur Dichterperson steht. Die Überprüfung der Verteilung der Wortbelege über den Text des Gedichts ergibt folgendes: Das Wort kommt im ganzen Gedicht insgesamt 46mal vor, und zwar 17mal im Inferno, 1 lmal im Purgatorio und weitere 18mal im Paradiso. In aller Regel begegnet das Wort, falls überhaupt, dann nur 1— 2mal pro Gesang. Einmal gibt es ein dreimaliges Vorkommen des Wortes pro Gesang, nämlich in Inf. 27. Über eine solche Dichte des Wortvorkommens von 1—3 Belegen ragt ein Gesang weit hinaus, der nicht weniger als sieben Belege auf sich vereint, nämlich der 26. der ersten Cantica. Im Hinblick auf die bei amore gewonnenen Ergebnisse kann angenommen werden, daß diese Stelle überdurchschnittlicher Häfung der Belege zugleich auch eine Stelle besonderen poetischen Raffinements ist. Was an diesem Textabschnitt maximaler Belegdichte, dem 26. Gesang des Inferno, zu allererst auffallen kann, ist die Tatsache, daß die sieben Belege dieses Gesangs nicht etwa über dessen Gesamtlänge von 142 Versen verteilt sind, sondern sich relativ eng ungefähr in der Mitte 9
Vgl. Verf., Zahl, S. 1 9 3 f f .
99
des Gesanges auf etwa einem Drittel seines Textumfangs zusammendrängen. Die sieben Belege liegen in den Versen 31,38,42,58,68,76,85, d.h. innerhalb einer Textsapnne von nur 55 Versen. Auffallend ist ferner die Zahl der Belege selbst, die Sieben, eine der verbreitetsten und wichtigsten Symbolzahlen, mit der Dante an vielen Stellen seines Gedichts gearbeitet hat. Daß sie auch an dieser Stelle nicht zufällig auftritt, zeigt ein Blick auf die Belegzahlen und Belegverteilung der ersten Cantica. Unter den zahlreichen, nämlich insgesamt 25 Gesängen, die Inf. 26 vorausliegen, sind es nur und genau sieben, in denen das Wort fiamma vorkommt. Aber in diesen sieben Gesängen gebraucht Dante das Wort konsequent nur je einmal, so daß auch bei der Anzahl der Belege wiederum die Zahl sieben eingehalten ist, vgl. Inf. 2,93/3,99/9,118/14,33/ 16,11/19,33/23,39. Nach den sieben Belegen des 26. Gesangs steht dann das Wort noch weitere dreimal im 27. Gesang (vgl. w . 1,63,131); danach begegnet es in der ersten Cantica nicht mehr. Damit erhält man insgesamt für das Inferno eine Gesamtzahl von 17 Belegen; auch in dieser Zahl, die arithmologisch und symbolisch in die Summanden 10 und 7 zerfällt, kehrt die Zahl sieben wieder. Erstaunlich aber ist, daß Dante ähnlich wie bei dem Wort amore auch bei der Anordnung der fiamma-Belege bestimmte Textspannen nicht nur positiv, sondern auch negativ berücksichtigt hat, d.h. daß er das Setzen einer bestimmten Zahl von Belegen ebenso in seine Berechnungen einbezogen hat wie das Nichtsetzen von Wortbelegen in bestimmten Teilabschnitten des Gedichts. Die Belegreihe des Wortes fiamma bricht in 27,131 mit dem 17. Beleg ab; mit anderen Worten: in den sieben letzten Gesängen der Cantica unterläßt Dante jede Verwendung des Wortes (Inf. 28—34). Die Beobachtungen zur Belegreihe des Inferno lassen sich wie folgt zusammenfassen: 2,93 3,99 9,118 14,33
7 Gesänge mit je einem Beleg
16,11
19,33 23,39 26,31 38 42 58 68 76 85 27,1 63 131
100
17 Belege >
1 Gesang mit sieben Belegen
28,29,3031,-
sieben Gesänge ohne Belege
32,33,34,-
Nun zu den sieben Belegen des 26. Gesanges. Sie sind sehr viel sorgfältiger angeordnet, als dies auf den ersten Blick scheinen mag. Man hat hier wie schon in Inf. 5 eine ungerade Zahl von Belegen vor sich. Das bedeutet, daß es einen mittleren Beleg gibt, in diesem Fall der vierte unter den sieben des Gesanges. Eine nähere Prüfung ergibt, daß Dante auch diesen Mittelbeleg in das symbolische Ordnungsgefüge mit einbezogen hat. Und zwar hat er diesen vierten Beleg in die genaue Mitte der Textspanne gelegt, die von den sieben fiamma-Belegen eingenommen wird. Vom ersten der sieben Belege in v. 31 bis zum mittleren in v. 58 zählt man 28 Verse, vom letzten und siebten Beleg in v. 85 bis zum mittleren in v. 58 ebensoviel. Damit ergibt sich diese Anordnung: 28
28
W.
31
58
1. Beleg
4. Beleg
W.
85 7. Beleg
Man beachte, daß die Zahl 28, die zwischen dem ersten und vierten, aber auch zwischen dem vierten und siebten Beleg eingerichtet ist, das Produkt eben dieser Faktoren vier und sieben darstellt, zugleich aber auch einer der wenigen, vom Mittelalter hochgeschätzten sogenannten natürlichen numeri perfecti (vollkommenen Zahlen) der Zahlenreihe ist. 10 Aber der Grund für diese Anordnung um die Mitte des vierten Belegs war nichts weniger als Freude an formal-arithmologischer Zahlenspielerei. Wesentlicher Inhalt des 26. Gesangs ist die berühmte,vielinterpretierte Odysseus-Episode; Odysseus ist die überragende Gestalt dieses Gesangs, zugleich aber auch eine der wichtigsten Gestalten des Inferno und des Gedichts insgesamt. Eben in dieser Gestalt liegt die innere Motivation für die Anordnungen Dantes. Zunächst weist eine Über10 Innerhalb der Zahlenreihe bis 100 gibt es nur zwei natürliche vollkommene Zahlen, nämlich 6 und 28. Auf dieser Seltenheit beruhte wesentlich ihre Hochschätzung im MA. Vollkommen sind diese Zahlen, weil die Summe ihrer Divisoren die Zahl selbst ergibt: 1+2+3=6 und 1+2+4+7+14=28. Die vollkommenen Zahlen spielten in der Zahlenexegese des MA eine große Rolle, wofür sich hier einzelne Belege erübrigen; zur Definition vgl. Boethius, De institutione arithmetica I, 20 (ed. G. Friedlein, Leipzig 1867, S. 41f.).
101
prüfung der Bedeutungen des Wortes fiamma im 26. Gesang daraufhin. Sie ergibt, daß von den sieben Belegen des Gesangs nur vier, und zwar die letzten vier, die Flamme bezeichnen, in der Odysseus gemeinsam mit Diomedes im achten Graben des achten Höllenringes für die Sünde des betrügerischen Rats büßt, vgl. w . 58,68,76 und 85. Demgegenüber beziehen sich die ersten drei Belege der w . 31,38,42 nicht auf Odysseus. Das für Dante in diesem Zusammenhang entscheidende Kriterium des Bezugs zur Odysseus-Gestalt wird in genauer Übereinstimmung mit den vorgenommenen Berechnungen gehandhabt: vom vierten und mittleren Beleg an bedeutet fiamma die Flamme des Ithakers. Auf diese Weise wird die Gruppe der sieben Belege wie folgt unterteilt: 31 38 42
ohne Bezug auf die Odysseus-Gestalt
58 68 76 85
die Flamme des büßenden Odysseus
Diese Teilung der Belege in eine Dreier- und eine Vierergruppe ist keineswegs zufällig; vielmehr folgt Dante damit der im Mittelalter immer wieder praktizierten Zerlegung der Sieben in die Summanden Drei und Vier;11 eine gleiche Zerlegung hat Dante an mehreren Stellen seines Gedichts vorgenommen.12 Die Anordnung der Vierergruppe der auf Odysseus bezogenen Belege hat Dante — wie sich zeigen wird mit gutem Grund — größtes Gewicht zugemessen. Es muß auffallen, daß der erste und letzte dieser Belege in Verse fällt, deren Zahlen 58 und 85 die gleichen Ziffern, doch in vertauschter Reihenfolge, enthalten. Wenn Dante in so auffallender Weise einen Zahlenchiasmus einrichtet, so ist das fast immer von Bedeutung. Chiastische Zahlen haben nicht nur die gleichen Ziffern, sondern auch gleiche Quersummen und galten aus diesem Grunde im symbolisch-arithmologischen Sinne als gleichwertig. Dante hat sich sehr häufig solcher Chiasmen bedient, denn es war für ihn das 11 Vgl. z.B. Gregorius Magnus, Moralium üb. XXXV, cap. 16 (PL 76, 773 C): „Homo autem, qui ex anima constat et corpore, in Septem qualitatibus continetur. Nam tribus spixitaliter et quatuor corporaliter viget". Auf die vielfältigen und z.T. weit divergierenden Deutungen der Sieben und ihrer Summanden Drei und Vier kann in diesem Zusammenhang nicht näher eingegangen werden. 12 Nur ein Beispiel für viele: Siebenmal hat das Wort segno die Bedeutung „Adler"; drei Belege, die sich auf den römischen Legionsadler beziehen, befinden sich, in der Belegreihe unmittelbar aufeinanderfolgend, im sechsten Gesang des Paradiso (vgl. w . 32, 82, 100); vier Belege, bezogen auf den Aquila parlante und ebenfalls unmittelbar aufeinanderfolgend, in Par. 19 und 20 (vgl. 19, 37 und 19, 101; 20, 8 und 20, 86).
102
einzige Mittel, in der notwendigen Aufeinanderfolge der Belege „gleichwertige" Zahlen der Belegstellen zu erzielen. Was aber will Dante mit der chiastischen Zuordnung der Zahlen 58 und 85 an dieser Stelle? Daß beide Belege tatsächlich vom Dichter als aufeinander zugeordnet konzipiert und eben in diesem Sinne miteinander zahlensymbolisch verklammert wurden, wird durch den Nachweis der folgenden Anordnung evident. Dabei hat sich Dante eines wichtigen, weil zahlensymbolisch bedeutsamen Textpunktes bedient, der durch den Aufbau des Gedichts vorgegeben war, nämlich der Mitte des Gesanges.13 Diese Mitte liegt im 26. Gesang zwischen dem 71. und dem 72. Vers. Prüft man nun die vier Odysseus-Belege im Hinblick auf diese Mitte, so zeigt sich, daß der erste dieser Belege genau 14 Verse vor, der letzte genau 14 Verse nach dieser Mittelzäsur des Gesanges angeordnet ist: 14 w .
14 w .
(gleiche Quersumme)
Übrigens liegen auch die beiden anderen Belege, der zweite und dritte dieser Gruppe, bei nur einem Vers Abweichung in fast gleichem Abstand um diese Mitte: Der Beleg in v. 68 vier Verse davor, der in v. 76 fünf Verse danach. Erkennbar sind somit alle vier Belege um die Mitte des Gesanges herumgruppiert. Im Blick auf die obige Skizze stellt sich vor allem die Frage: Warum ordnet Dante den ersten und vierten Beleg mit übereinstimmenden Ziffern aufeinander zu, und was bedeuten für ihn die Zahlen 58 bzw. 85? 13 Dante hat solche aufbaumäßig gegebenen Mittelstellen häufig für sekundäre, symbolhafte Anordnungen und Verknüpfungen benutzt, vgl. Verf., Zahl, insbes. Kap. III (S. 8 9 - 1 9 1 ) . Auch die Mitte der gesamten Dichtung erweist sich als zahlensymbolisch motiviert. Dantes Commedia (mit dem Folgenden korrigiere ich einen Rechenfehler, der sich bedauerlicherweise in mein Buch S. 167ff. eingeschlichen hat) umfaßt insgesamt 14.233 Verse; Mittelvers ist somit der 7117. Die Zahl dieses Verses enthält also zweimal die sakrale Zahl 17, einmal in normaler und einmal in chiastischer Ziffernfolge (71). Gleich neben der exakten Mitte des Gedichts liegt der 7118. Vers. Dieser enthält die Symbolzahl 7 sowie die Zahl 118, die dem gematrischen Wert des Namens „Dante Alighieri" entspricht (dazu sogleich S. 105ff.). An einer gezielten Planung auch der Gesamtkomposition des Gedichts kann also - wie auch viele weitere Beispiele belegen - kaum gezweifelt werden. Auf weitere Fragen der Zahlenkompositorik Dantes sowie einige Korrekturen und Nachträge zu meinem Buch werde ich an gegebener Stelle zurückkommen.
103
Hier hat man sich einer Möglichkeit zu besinnen, die das Mittelalter besaß, Wörter in Zahlenwerten auszudrücken, nämlich die sogenannte Gematrie. Sie setzt die Reihe der Buchstaben eines Alphabets um in die entsprechenden Werte der Zahlenreihe. Für das lateinische Alphabet ergab sich so für Dante die Gleichung a—z (ohne j und w!) = 1—24. Nach diesem Schlüssel hat Dante gerechnet. 14 Er ergibt in diesem Fall: 85 ist der gematrische Wert des vollen lateinischen Odysseusnamens ULIXES. Geht man daraufhin noch einmal die vier auf Odysseus bezogenen Belege des Wortes fiamma durch, so zeigt sich: Bei den ersten drei Belegen in v. 58,68 und 76 bedeutet fiamma die Flamme, in der Odysseus und Diomedes sich gemeinsam aufhalten. Der Vers mit dem vierten Beleg aber präzisiert: Lo maggior corno de la fiamma antica
An dieser Stelle hat Dante also nicht die Flamme insgesamt, sondern nur den Teil der in zwei Flammenhörnern emporzüngelnden Flamme im Auge, der Odysseus beherbergt und aus dem heraus jetzt Odysseus zu sprechen beginnt. Eben dieser Vers und mit ihm der siebte der sieben Belege des Gesanges wird auf die Zahl 85 gerückt, deren Wert gematrisch dem Namen Ulixes entspricht. Dante hat diesen für ihn so wichtigen 85. Vers noch in anderer Hinsicht berücksichtigt: Er markiert mit diesem zugleich den Beginn des eigentlichen Kernstücks der Odysseus-Episode. In keinem andern als dem 85. Vers setzt Odysseus, dessen Stimme sich mühsam der Flamme entringt, an zum hinreißenden Bericht von seiner letzten Fahrt: Lo maggior corno de la fiamma antica cominciö a crollarsi mormorando usw.
Und rechnet man weiter, so ergibt sich: Der Bericht des Odysseus, der vom 85. Vers bis an das Ende des Gesanges reicht, umfaßt genau 58 Verse. Noch einmal hat es Dante verstanden, im kleinsten textlichen Rahmen dieser zweiten Gesangeshälfte mit Hilfe chiastischer Ziffernvertauschung einen symboli14 Dieses System wird als das „additive" oder auch als „thesis-System" bezeichnet; vgl. dazu F. D o m s e i f f , Das Alphabet in Mystik und Magie, Leipzig/Berlin 1 9 2 5 2 , S. 91ff.; K. Menninger, Zahlwort und Ziffer, Göttingen 1 9 5 8 2 , Bd. 2, S. 67ff.; einiges auch bei V. F. Hopper, Medieval N u m b e i Symbolism, New York 1969 (Nachdruck der ersten Auflage von 1938), S. 6 2 f f . Vgl. neuerdings die zusammenfassende Darstellung der mittelalterlichen Verfahren bei E. Hellgardt, Zum Problem symbolbestimmter und formalästhetischer Zahlenkomposition in mittelalterlicher Literatur. Mit Studien zum Quadrivium und zur Vorgeschichte des mittelalterlichen Zahlendenkens, München 1973. Weitere Beispiele für gematrische Berechnungen bei Verf, Zahl, passim.
104
sehen Bezug zur Zahl des Ulixes herzustellen. Er läßt den Bericht des Büßenden im 85. Vers beginnen, faßt aber zugleich den Umfang dieses Berichts in ein Maß, dessen Zahl arithmologisch der Gematrie des Sprechenden gleichwertig ist. 15 c) „Grazia" im 24. Gesang des Paradiso Den bisher an „amore" und „fiamma" gemachten Beobachtungen sei ein drittes und letztes Beispiel zur Seite gestellt, das nochmals veranschaulichen mag, wie ein Text durch Kombination unterschiedlicher Zeichensysteme eine geradezu verblüffende Semantisierung der einzelnen Zeichen und damit eine Vertiefung seines dichterischen Gehalts erfährt. Dantes textstrategische Verwendung des Wortes „grazia" erstreckt sich, wie ich an anderer Stelle nachgewiesen habe, ebenso wie die von „amore", „fiamma" und weiterer Wörter, über viele tausend Verse seines großen Gedichts. 16 In diesem Zusammenhang sollen jedoch nur die Funktionen des Wortes innerhalb eines kleinen Textabschnitts, nämlich eines Gesangs, dargestellt werden. Die folgende Analyse des 24. Gesangs des Paradiso liefert zugleich ein weiteres Beispiel für die oft erstaunliche Feinarbeit, die Dante an vielen Stellen seines Textes der Zuordnung und Verknüpfung der ihm zur Verfügung stehenden Zeichen und „Sprachen" gewidmet hat und erbringt einen weiteren Beleg für die Tatsache, daß er an wichtigen Textpunkten auch die „Geheimsprache" der „Gematria" verwendete. Zum Verständnis des Folgenden sei noch vorweggeschickt, daß die nach dem lateinischen Alphabet errechnete Gematrie des Namens „Dante Alighieri" 118, die des Namens „Beatrice" 61 beträgt. Die Beobachtungen zur Verwendung des Wortes können von einem äußeren, graphischen Merkmal ausgehen. Es muß auffallen, daß im 118. Vers des Gesangs das Wort „grazia" nicht in seiner normalen Schreibweise erscheint, sondern mit großer Initiale. Auffallend ist auch, daß in dem gleichen Gesang die Großschreibung des Wortes noch einmal vorkommt, und zwar im 58. Vers; auffallend deshalb, weil im gesamten Text der zweiten und dritten Cantica diese Graphie nur zweimal begegnet. Beide Fälle liegen also dicht nebeneinander in ein und demselben Gesang. Worin aber liegt der Grund für die 15 Daß Dante dabei von dem gematrischen Wert des lateinischen Namens ausgeht, ist naheliegend, da er des Griechischen nicht mächtig war und ihm in den lateinischen Quellen, die ihm vorlagen, die lateinische Namensform begegnete. Es ist daher auch nicht verwunderlich, daß die Gematrie der italienischen Form Ulisse, 81, im Gesang, soweit ich sehe, nicht berücksichtigt worden ist. Man beachte jedoch, daß diese Namensform einmal im Gesang zitiert wird, und zwar in v. 56, dessen Zahl das Produkt aus 2 und 28 (!) ist. 16 Vgl. Verf., Zahl, S. 1 9 3 f f . Zu „grazia" S. 2 1 3 f f .
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Großschreibung des Wortes an diesen beiden Stellen, wenn im übrigen in allen Teilen der Dichtung das Wort klein geschrieben wird? Großschreibung eines Wortes erfolgt in der Regel in der Commedia nur bei Namen, sonst aber nur dann, wenn es sich um die Personifikation eines Begriffs handelt. So schreibt Dante z.B., um gleich bei demselben Wort zu bleiben, „grazia" in Inf. 31,129 groß, weil das Wort an dieser Stelle nicht spezifisch „Gnade", bedeutet, sondern Gott umschreibt. Es ist dies übrigens das einzige Mal, daß außerhalb des 24. Paradiso-Gesangs das Wort groß geschrieben wird. 17 Der Gedanke liegt also nahe, daß sich hinter der Schreibweise von „Grazia" in Par. 24 eine Personifikation oder doch wenigstens der Gedanke an eine Person verbirgt. Der erste Beleg (v. 58) steht im Beginn der Glaubensprüfung, die in diesem Gesang stattfindet. Petrus hat soeben die Frage nach dem Wesen des Glaubens gestellt. Daraufhin schaut der Prüfling Dante zunächst kurz den Apostel an, wendet sich dann aber Beatrice zu: poi mi volsi a Beatrice, ed essa pronte sembianze femmi perch'io spandessi l'acqua di fuor del mio interno fönte. " L a Grazia che mi da ch'io mi confessi", comincia'io usw. w . 55ff.
Die Worte des 58. Verses sind die ersten, die der Prüfling in der Prüfung spricht; er spricht sie aber auf ausdrücklichen Wink und Geheiß der Beatrice und erst nachdem er sich ihrer Zustimmung vergewissert hat. Der Name Beatrices steht also in nächster Nähe des ersten Belegs. Der zweite Beleg findet sich am Ende des Hauptteils der Prüfung, in den letzten Worten des Apostel Petrus in diesem Gesang: . . . „ L a Grazia che donnea con la tua mente, la bocca t'aperse infino a qui come aprir si dovea, ..." w . 118ff.
Es liegt nahe, an beiden Stellen „Grazia" als „göttliche Gnade" zu verstehen. Casini-Barbi und die meisten anderen Kommentatoren interpretieren denn auch in diesem Sinn. Genauer ist Sapegno, der für w. 58 und 118 die Bedeutung „Gott" angibt, offensichtlich im Hinblick auf die Großschreibung des Worts. Das ist, auch im Blick auf Inf. 31, 129, zweifellos richtig. Der Doppelsinn der beiden Stellen und ihr Zusammenhang erschließt sich, sobald man auf ihre zahlenmäßige Anordnung achtet. Von dem ersten „Grazia"-Beleg bis zum zweiten zählt man 61 Verse; das aber ist nichts anderes als der gematrische Zahlenwert des Namens Beatrice. Daß Dante den Zahlenwert auch die17 Man zählt somit insgesamt drei Belege für ,grazia" mit großer Initiale.
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ses Namens errechnet hat, ist von vornherein wahrscheinlich, wird aber vor allem dadurch belegt, daß er diesen Namen genau 61mal in Purgatorio und Paradiso vorkommen läßt;ja selbst für eine gematrische Berechnung von einzelnen Teilen bzw. Buchstaben dieses Namens durch Dante gibt es sichere Indizien. 18 Dante hat also darauf geachtet, daß in den neuneinhalbtausend Versen der zweiten und dritten Cantica nur zweimal das Wort mit großer Initiale vorkam; und diese beiden Belege hat er innerhalb eines besonders wichtigen Textteils so zusammengerückt, daß sich zwischen ihnen der gematrische Wert des Namens Beatrice ergab. Dabei liegt jedoch der zweite Beleg in keinem anderen als dem 118. Vers, womit erreicht ist, daß durch die Anordnung des Wortes „grazia" in diesem 24. Gesang die gematrischen Werte der Namen „Beatrice" und „Dante Alighieri" unmittelbar miteinander verbunden werden. Auch die Beobachtung des Kontextes der beiden Stellen macht klar, daß neben dem Gedanken der göttlichen Gnade der Bezug zu Beatrice mitintendiert ist. Jenes fragende Sichhinwenden Dantes zu Beatrice vor Beginn seiner Rede ist eine unübersehbare Geste; auf Beatrices Geheiß beginnt Dante zu sprechen; ihr Name steht in nächster Nähe des ersten Belegs. Der Satz „La Grazia che mi da ch'io mi confessi" ist also doppelsinnig. Natürlich ist es letztlich die göttliche Gnade, die dies alles ermöglicht. Woran der Dichter Dante aber auch denkt, ist die Tatsache, daß Beatrice für ihn die Mittlerin der Gnade gewesen ist, jene Beatrice, die ihn aus der „selva oscura" herausführen ließ, ihn dann Stufe um Stufe ins Paradies emportrug, und die auch jetzt, in diesem Augenblick der entscheidenden Bewährung, ihn anspornt und ermutigt, zu sprechen. Doppelsinnig sind auch die Worte des Apostels: „La Grazia che donnea/con la tua mente, la bocca t'aperse . . . " Selbstverständlich ist es die göttliche Gnade, die Dante sprechen läßt und das Gelingen der Prüfung ermöglicht; aber man weiß, daß in dieser konkreten Situation es doch eben Beatrice war, durch deren Bitte die Prüfung zustande kam (vgl. w . 28—30!), und eben sie war es, die Dante zu Beginn der Prüfung „den Mund öffnete". Bemerkenswert ist aber auch die Verwendung des Verbs B
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Ma quella xeverenza che s'indonna di tutto me, pur per Be e per ice, mi richinava come l'uom ch'assonna. Hier wird der Name Beatrice in drei Teile zerlegt, nämlich in die genannten Buchstabengruppen „Be", „ice" und die hier ausgelassenen Buchstaben in der Mitte des Namens, „atr". Man beachte, daß die Zerlegung des Namens im 14. (2 x 7) Vers des 7. Gesanges erfolgt. Daß Dante an dieser Stelle die Sieben wichtig ist, zeigt sich nun auch darin, daß alle drei Teile des Namens, die Dante hier isoliert, den Zahlenwert 7 oder einen Wert mit der Ziffer 7 haben, nämlich: Be = 7;atr = 3 7 ; i c e = 17. Zugleich richtet Dante an dieser Stelle die Teilung des Namens so ein, daß damit drei der wichtigsten Symbolzahlen getroffen sind, die er in seinem Gedicht verwendet.
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„donneare" an dieser Stelle. Es entspricht dem provenzalischen „dompneiar" und bedeutet soviel wie „amoreggiare, vagheggiare, far all'amore"; in dieser Bedeutung kommt es z.B. Rime 83,52 und Par. 27,88 vor. Die Wendung „la Grazia che donnea con la tua mente" kommentiert Sapegno treffend mit „i in intima amorosa comunicazione". Aber nicht ohne Nebenabsicht verwendet der Dichter an dieser Stelle das Verb, das die typische Situation des höfischen Liebesdienstes und Werbens um die geliebte Frau umschreibt. Im ganzen Gedicht gebraucht Dante dieses Verb nur zweimal. An der zweiten Stelle (Par. 27,88) heißt es: „La mente innamorata, che donnea / con la mia donna sempre . . . " Hier ist die Beziehung Dantes zu Beatrice direkt ausgesprochen; wobei übrigens nicht nur das Verb „donneare", sondern auch das Nomen „mente" wieder erscheint, was als Indiz dafür gewertet werden kann, daß Dante beide Stellen synoptisch gestaltet hat. 19 Der Nachweis der Verbindung der beiden gematrischen Werte 61 und 118 durch die Anordnung des Begriffs „Grazia" macht evident, daß auch im 24. Gesang das Verbum „donneare" im Hinblick auf Beatrice gewählt ist,20 deren Name der Dichter an dieser Stelle zusammen mit seinem verewigen wollte. Damit ist klargestellt, daß Dante im 24. Gesang nicht nur die Rolle der göttlichen Gnade hervorhebt, sondern zugleich mit einer zahlenmäßig abgestimmten Anordnung des Gnadenbegriffs auf die Rolle der Gnadenmittlerin Beatrice und auf die Tiefe seiner persönlichen Bindung zu dieser hinweist. Nur unter Berücksichtigung dieser vom Dichter eingerichteten Bezüge aber kann der Text in seiner vollen Tiefe und Dichte ausgeschöpft werden. Damit genug der Beispiele aus der „Commedia" Dantes. Versuchen wir nun, die von Dante realisierten, z.T. überaus komplizierten Kombinationsmöglichkeiten in einem Katalog zusammenzufassen. Die im folgenden zusammengestellten Verfahren beruhen, allgemein formuliert, auf der zahlenpoetischen Konzeption des Dichters. Aber was man in einem allgemeinen, poetologischen Sinne als Zahlenpoetik bezeichnen mag, erweist sich in seiner textinternen, textstrukturierenden Relevanz als eine durchgehend zu verfolgende, mit dem funktionalen Wechselspiel von Wörtern und Zahlen operierende Textstrategie, die auf einer Verschmelzung sprachlicher und außersprachlicher Zeichen sowie auf einer Anzahl kunstvoller, oft gefügehafter Zuordnungen und Verknüpfungen beruht. Sie verfährt u.a. nach folgenden Regeln: 19 Dafür spricht ferner die Beobachtung, daß sich vom ersten bis zum zweiten Beleg des Verbs „donneare" (Par. 24,118 bis 27,88) 406 Verse ergeben, eine Zahl, die sehr wahrscheinlich wegen der Quersumme 10, der vollkommenen Zahl, eingerichtet ist. Hinter dem Zeichen dieser Zahl X kann aber bei Dante auch der Gedanke an das Kreuz Christi stehen. 20 Auch wenn hier in v. 118f. das Verhältnis Mann-Frau umgekehrt erscheint, indem Subjekt des Verbs „donneare" nicht Dante, sondern Beatrice (= La Grazia) ist.
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1. Anordnung eines oder mehrerer Belege eines Wortes im Hinblick auf die symbolisch verstandene Zahl eines Gesanges, eines Verses, einer Terzine (z.B. Häufung der Belege des Wortes amore im fünften Infernogesang, Anordnung des gleichen Wortes in dem 39. Vers eines Gesanges usw.). 2. Abzählen der Belege eines Wortes und Herstellen einer bestimmten, symbolisch relevanten Gesamtzahl von Belegen, a) im Rahmen einer Cantica, b) im Rahmen eines Gesanges (19 amore-Belege im Inferno, neun davon in Inf. 5; 17 fiamma-Belege im Inferno, sieben davon in Inf. 26). 3. Abstecken bestimmter, meist zahlensymbolisch motivierter Textspannen durch zwei begrenzende Belege eines Wortes, und damit verbunden Einordnen einer bestimmten Anzahl von Belegen in frei gewählte Textabschnitte, deren Grenzen nicht mit denen der vorgegebenen Texteinheiten (Gesang, Cantica) zusammenfallen (der erste und der letzte amoreBeleg des Inferno stecken ein Textmaß von 3993 Versen ab, in dem alle 19 Belege untergebracht werden; zwei amore-Belege in Inf. 5 stecken ein Textmaß von 17 Terzinen ab; der erste und vierte, aber auch der vierte und siebte fiamma-Beleg des 26. Infernogesangs grenzen jeweils 28 Verse ein usw.) 4. Zusammenfassen mehrerer Belege eines Wortes in Beleggruppen mit symbolbestimmter Zahl (fünf amore-Belege vor Inf. 5, fünf Belege nach Inf. 5, neun Belege im fünften Gesang; sieben fiamma-Belege in Inf. 26). 5. Teilung klar erkennbarer Beleggruppen eines Wortes in Untergruppen mit wiederum symbolbestimmter Zahl der Belege (neun Belege von amore in Inf. 5 zerfallen in drei Untergruppen zu je drei Belegen; sieben fiammaBelege in Inf. 26 zerfallen in eine Gruppe zu drei und eine zu vier Belegen). 6. Symbolische NichtVerwendung eines bestimmten Wortes innerhalb bestimmter Textstrecken, und zwar im Hinblick auf eine vorbestimmte, symbolhaltige Zahl (keine amore-Belege in fünf auf Inf. 5 folgenden Gesängen; keine Verwendung des Wortes fiamma in den letzten sieben Gesängen des Inferno). 7. Anordnung eines Wortes in bezug auf die Texteinheit der Terzine und zwar a) unter Berücksichtigung der Zahl des Verses innerhalb der Terzine (von den neun amore-Belegen in Inf. 5 liegen drei im ersten, drei im zweiten, drei im dritten Vers einer Terzine), und b) unter Berücksichtigung der vom Terzinenbeginn an durchgezählten Wörter der Terzine (zwei Belege von Inf. 5 sind als jeweils 17. Wort der Terzine eingefügt). 8. Funktionale Einordnung mehrerer Belege eines Wortes in kohärente, sinntragende Gesamtgefüge unterschiedlicher Reichweite (z.B. Integration aller 19 amore-Belege des Inferno in eine Gesamtanordnung, vgl. die Skizze auf S. 96.
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9. Verwendung eines einzelnen oder mehrerer Wortbelege als sinn tragende Mitte eines mit Wortbelegen hergestellten Ordnungsgefüges (z.B. der amore-Beleg in Inf. 5,103 bzw. die drei Belege in den Versen 100—103— 106 des gleichen Gesangs als Mitte der Anordnung der Belege in diesem Gesang und der gesamten Cantica; der fiamma-Beleg in Inf. 26,58 als Mitte der sieben Belege des Gesangs usw.). 10. Unterstreichung bzw. Kennzeichnung von Belegen in Mittelstellung durch verschiedene textliche Maßnahmen (anaphorische Reihung von Belegen wie z.B. amore in Inf. 5, 100/103/106; Verklammerung eines mittleren Belegs mit einer aufbaumäßig gegebenen Mitte wie z.B. fiamma in Inf.26, 58 mit der Mitte des Gesangs, usw.). 11. Besondere Anordnungen um die (mit Belegen hergestellte) Mittelachse eines Gefüges, insbesondere symmetrische (Gruppierung aller amore-Belege der ersten Cantica um die Amor-Terzinen des 5. Gesangs). 12. Berücksichtigung der Buchstabenzahl eines Wortes im Rahmen einer Gesamtanordnung (vgl. die Verwendung der Wortformen amore — amor in Inf. 5); und der Graphie eines Wortes (z.B. große Initiale bei „Grazia" in Par. 24,58 und 118). 13. Verwendung einzelner Belege im Hinblick auf gematrische Zahlenwerte, die durch die Verszahl der Fundstelle erfüllt werden (fiamma in v. 85 als gematrischer Wert des Namens Ulixes; „Grazia" in v. 118 als der Zahl Dantes). Der hier zusammengestellte Katalog erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit; dies schon deshalb, weil er aus der Analyse nur weniger Beispiele hergeleitet wurde. Er umfaßt jedoch alle wesentlichen Verfahrensweisen, die Dante bei der Verwendung einzelner Wörter im Text realisiert. Die Vielfalt der bald in weitesten Zusammenhängen, bald auf engstem textlichem Räume, doch stets mit der gleichen Präzision bewerkstelligten Anordnungen setzt, wie ohne weiteres ersichtlich, auf Seiten des Dichters ein enormes Maß an kalkulierender, ins Detail dringender Planung und Umsicht voraus, das m.E. mit dem Terminus Textstrategie angemessen umschrieben ist. Dieser Terminus erscheint in dem Maße bei Dante angebracht, in dem bei ihm vorausschauende Planung, auf der bis zu einem gewissen, von Fall zu Fall differierenden Grade jede Dichtung beruht, eine bisher nicht beobachtete Präzision und Intensität erreicht. Diese Haltung des Dichters ist, wie bereits bemerkt, in allen Schichten und Teilen der Dichtung zu beobachten und konkret nachzuweisen. Die oben zusammengestellten strategischen Maßnahmen führen zu einer ungewöhnlichen zusätzlichen Semantisierung und Funktionalisierung des sprachlichen Materials. Insofern vermag gerade Dantes Dichtung wesentliche Poetizitäts110
merkmale und einzelne sekundäre Strukturierungen des verwendeten Materials der natürlichen Sprache zu beleuchten. Wörter wie die hier untersuchten „amore", „fiamma" und „grazia" sind zunächst einmal Bestandteile einer gegebenen Einzelsprache, in diesem Falle des Italienischen. Sie funktionieren als Zeichen dieses primären Systems: als zweiseitige Zeichen unterliegen sie der von Saussure hervorgehobenen Willkürlichkeit der Zuordnung von Signifikant und Signifikat. Die gleichen Wörter sind sodann Gegenstand von Strukturierungen, die oben als sekundär-innersprachliche bezeichnet wurden, z.B. rhythmisch-klangliche Aktualisierung des Materials mit den oben beobachteten ikonischen Semantisierungseffekten; Abbau der linear-denotativen Struktur „normaler" Sprache zugunsten der erwähnten konnotativflächenhaften Weise des Bedeutens usw. Drittens aber sind die Wörter, und daraufkam es in diesem Kapitel vor allem an, Material vielschichtiger sekundär-außersprachlicher Strukturierungen, die von der Verwendung üblicher poetischer Verfahren wie Reim, Vers, Strophe, rhetorische Figuren (wie z.B. die Anapher in Inf. 5, 100—106) bis zu den beobachteten zahlenpoetischen Techniken reichen. Es bleibt hervorzuheben, daß die von Dante mit dem Material von Wörtern, ihren in Zahlen ausdrückbaren Fundstellen und den Zahlen der christlichen Symbolik hergestellten Zuordnungen und Verknüpfungen Gefügecharakter haben, d.h. daß die Anordnungen der einzelnen Wörter geschlossene, bedeutungshaltige Teilsysteme sind. Diese sind zwar mit dem Gesamtsystem der Dichtung vielfältig verknüpft, weisen aber bereits in sich eine erstaunliche Kohärenz auf: der Ausfall auch nur eines Zeichenelements zerstört das Gefüge und seinen Sinngehalt. Das Fehlen auch nur eines Belegs des Wortes „amore" würde die wohldurchdachte Ökonomie der gesamten Inferno-Anordnung zerstören, eine selbst geringfügige Verschiebung des Wortes innerhalb des Gesangs oder der Terzine oder eine Veränderung seiner Buchstabenzahl würde die sorgfältigen Gruppierungen um die Mittelachse in Inf. 5 durchkreuzen. Gleiches gilt, mutatis mutandis, für die übrigen Anordnungen. Ein fehlender fiamma-Beleg im Inferno verstellt den gewünschten Bezug zu dem Gedanken „lex et gratia", wesentlicher Inhalt der Zahl 17; das Verschieben des vierten oder siebten Belegs von „fiamma" in Inf. 26 um auch nur einen Vers würde den gematrischen Bezug zu Odysseus aufheben; und läge „Grazia" in Par. 24 nicht im 118., sondern im 119. Vers, so würde Dante Alighieri — gematrisch freilich — nicht zu seiner Beatrice finden.
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2. Korrigierende Kodes und der „Spielraum" der Interpretation
Der hier vorgetragene Befund der dichterischen Sprache Dantes beleuchtet erneut die Tatsache, daß jedes Werk als System von Systemen zu verstehen ist. Mehrere außersprachliche und außertextuelle Teilsysteme können in das Gesamtsystem der Dichtung integriert werden. Am Beispiel zweier Teilsysteme bzw. Subsysteme wurde dies explizit nachgewiesen: die christliche Zahlensymbolik des Hochmittelalters und das antik-mittelalterliche Verfahren der Gematria. Bei beiden Subsystemen handelt es sich um Inventare von zweiseitigen Zeichen, bei denen Signifikant und Signifikat zu unterscheiden ist (ähnlich wie bei der natürlichen Sprache). Jeder Zahl von 1 bis 13 und darüberhinaus vielen weiteren Zahlen der Zahlenreihe kam im Mittelalter eine oder z.T. auch mehrere relativ klar umrissene Bedeutungen zu, die einerseits durch die Vulgata, zum andern durch eine jahrhundertelange hermeneutische Tradition (und vor allem durch die Schriften Augustins) festgelegt worden waren. 21 Bei der Gematria handelt es sich zunächst um ein Umkodierungsverfahren, das die Buchstaben eines Alphabets einer grundsätzlich beliebigen, normalerweise von eins an durchgezählten Zahlenreihe zuordnet. Auf Grund dieses „Schlüssels" können dann Zahlen bestimmte Inhalte oder Namen ausdrücken. 22 Beide Teilsysteme repräsentieren also einen eigenen Kode; ihre Zeichen können nur von dem verwendet und dekodiert werden, der diesen kennt. 2 3 Damit wird ein grundsätzlicher Sachverhalt der Poetik sichtbar: je21 Zur Geschichte der mittelalterlichen Zahlensymbolik im allgemeinen sowie zu den einzelnen hermeneutischen Verfahren vgl. Hopper, Symbolism; Hellgardt, Problem; sowie Verf., Zahl, S. 1 7 - 3 7 . 22 Während also im Bereich der christlichen Zahlensymbolik bestimmten Zahlen der Zahlenreihe (nicht allen!) eine oder mehrere traditionell zumindest grundsätzlich festgelegte Bedeutungen zukamen (die Erfindungsgabe vieler christlicher Schriftsteller wandte sich darauf, diese Grundbedeutungen immer neu zu variieren und durch Teilaspekte zu erweitern), dienen die Zahlen im gematrischen Verfahren lediglich dazu, die Zeichen des Alphabets durch die der Zahlenreihe zu ersetzen. Nach welchem Schlüssel man dabei verfährt, kann theoretisch von Fall zu Fall individuell vereinbart bzw. festgelegt werden - doch wurden in der Praxis des Mittelalters einige wenige Verfahren bevorzugt, vgl. Anm. 14 auf S. 104. 23 Gerade im Hinblick auf das Verfahren der Gematrie könnte der Kodebegriff im Sinne
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der Autor verwendet außer und über dem Material der natürlichen Sprache eine mehr oder weniger große Zahl weiterer Kodes und Subkodes, in denen sich der sozio-kulturelle Kontext von Werk und Autor, aber auch private „Ideologien" des Autors manifestieren. So verfügte Dante über den Kode der italienischen Sprache, die Material und Basis aller in seinem Werk angewandten Verfahren ist; und außerdem über die Kodes der christlichen Symbolzahlen, der gematrischen Zeichen, der mittelalterlichen Symbolik allgemein, der Allegorien, der meisten mittelalterlichen Künste und Wissenschaften usw. Gerade Dantes Dichtung vereinigt neben den privaten Kodes (wie z.B. Beatrice = 9) außerordentlich viele Kodes in sich; nur darum konnte das Werk immer wieder als eine Summe seiner Zeit verstanden werden. Am Beispiel der beiden dargestellten, den Text mitstrukturierenden Subsysteme können indes auch einige Konsequenzen für den Rezeptionsprozeß aufgezeigt werden. Der Optimalfall einer Lektüre ist offensichtlich dann gegeben, wenn der Leser im Besitz aller vom Autor bewußt oder unbewußt verwendeten Kodes ist. Ist dies, wie meist bei Texten aus einer früheren Zeit oder einem fremden Kulturkreis, nicht der Fall, so muß der Leser versuchen, sich diese Kodes soweit wie möglich anzueignen. Einige davon kann er dabei dem Werk selbst entnehmen. So erläutert Dante z.B. in der zweiten Cantica ausführlich das mittelalterliche System der Sünden und Tugenden, so daß dem Leser die Klassifizierungen des Läuterungsberges ohne weiteres verständlich werden. Andere Kodes, wie z.B. die des Italienischen, der hochmittelalterlichen Zahlensymbolik oder der Gematria, kann der Leser jedoch nicht oder nur teilweise aus dem Werk selbst gewinnen. Insofern weisen die Zeichenverhältnisse einer jeden Dichtung über sich hinaus auf einen weiteren sozio-kulturellen Kontext. Ein perfekter Dante-Leser wäre also der, der nicht nur das Italienische der Dantezeit, sondern auch das gesamte System der mittelalterlichen (und antiken) Künste und Wissenschaft beherrschen bzw. sich aneignen würde. Je mehr im Werk verwendete Kodes erworben und je H. Seiferts definiert werden: „Unter einem Code versteht man ganz allgemein eine Tabelle, die angibt, durch welche Zeichen uns vertraute Zeichen, wie etwa Buchstaben, in der fremden Zeichensprache dargestellt werden"; vgl. Information über die Information, München, 1971 , S. 35. Im übrigen wird in der vorliegenden Studie der Begriff „Kode" in seiner weitesten Bedeutung a l s , j e d e s kommunikationsfähige Inventar von Zeichen" verstanden. Dabei beziehen wir den Kodebegriff sowohl auf die Zuordnungen zwischen Mengen von Zeichen wie auch auf Verschlüsselungsvorschriften für bestimmte Informationen und die als Informationsträger verwendeten Zeichensysteme selbst. Für die allgemeine Semiotik definiert Eco, Einführung, S. 58, den Kode als „ein System von rein syntaktischen Regeln", das „Vereinbarkeiten und Unvereinbarkeiten festlegt, bestimmte Symbole als zugehörig auswählt und andere als nicht zugehörig ausschließt" und damit zugleich „semantische Regeln aufstellt".
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besser sie beherrscht werden, desto „reicher" wird die Lektüre eines Textes: der Text wird in der Tiefe und Vielschichtigkeit seines Gehalts zugänglich. Die Eingabe von Kodes legt im Produktionsprozeß mehr Bedeutungen in den Text hinein und setzt im Rezeptionsprozeß mehr Bedeutungen frei. 24 Niemand aber kann den Leser zwingen, die im Werk implizit oder explizit verwendeten Kodes zu erwerben bzw. zu übernehmen. Man wird z.B. einen modernen Leser nicht daran hindern können, die in Inf. 5 erzählte Geschichte der Francesca da Rimini wie die Liebesaffäre eines Zeitungsromans (gemäß dem dafür gültigen Kode) zu lesen. Solche unangemessenen Kodes, die in keinem erkennbaren Zusammenhang mit dem Werk stehen, sondern mehr oder weniger der Willkür des Lesers entspringen, kann man mit Eco als ,.willkürliche" bezeichnen.25 Als generelle Regel gilt, daß der Erwerb der werkstrukturierenden Kodes der Verwendung willkürlicher Kodes auf der Leserseite grundsätzlich entgegenwirkt. Die Berücksichtigung eines jeden im Werk angelegten Kodes wirkt sich also auf der Rezipientenseite korrigierend aus. Das Beispiel der hier analysierten Kodes „christliche Zahlensymbolik" und „Gematria" zeigt jedoch darüberhinaus, daß es auch Regel- und Zeichensysteme gibt, die man in einem konkreteren Sinne korrigierende Kodes nennen könnte. Die oben beobachteten symbolischen und gematrischen Zahlen und Relationen verweisen den Leser der Divina Commedia immer wieder auf den einen christlichen Sinn, den Dante letztlich in allen Teilen seiner Dichtung auszudrücken suchte. So weisen etwa die Zahlen in und um Inf. 5 darauf hin, daß Dante die Francesca-Episode auf seine Erlebnisse mit der jungen Beatrice bezog, alles aber in einem christlichen Sinne verstanden wissen wollte: neun ist die Zahl der Beatrice, aber drei, die Wurzel aus neun, ist die göttliche Trinität. Die Zahlen verweisen auf die theologische Motivation vieler einzelner Episoden des Gedichts ebenso wie auf die weltanschaulichen Grundlagen des Autors im Ganzen, auf seinen Glauben, seine „Ideologie". Die Berücksichtigung beider Kodes trägt also dazu bei, den Lektüreprozeß in die vom Autor gewünschte Richtung zu lenken. Das Vorhandensein korrigierender Kodes in einem dichterischen Text ist für den Interpreten und Literaturhistoriker ein Faktum von kaum zu überschätzender Bedeutung. Korrigierende Kodes gestatten dem Interpreten, die eigentlichen Intentionen des Autors aufzuspüren, den ursprünglichen, vom Autor intendierten Gehalt einer Dichtung im Ganzen wie im Einzelnen ihrer Teile zu rekonstruieren. 24 In diesem Sinne spricht auch Eco vom „Einführen eines neuen Sinnes durch bereichernde Kodes" (Einführung, S. 166). Bereichernde Kodes sind also die nicht im Werk vorgegebenen, sondern vom Leser herangetragenen Kodes, soweit sie einen signifikanten Aspekt des Werkes aufzuschließen vermögen. 25 ib. 114
Sie erlauben dem Kritiker, wie hier am Beispiel der zahlensymbolischen und gematrischen Anordnungen nachgewiesen wurde, herauszufinden, welchen Sinn diese oder jene Episode des Gedichts haben sollte, welche Passagen für den Autor von besonderem Gewicht waren und welche Beziehungen er zwischen verschiedenen, oft weit auseinanderliegenden Textstellen sah bzw. stiftete. Auf diese Tatsache, daß sowohl zahlensymbolische wie gematrische Berechnungen für den Interpreten Dantes ein wichtiges hermeneutisches Hilfsmittel darstellen können, habe ich bereits an anderer Stelle hingewiesen. 26 Für den „normalen" Leser jedoch, der nicht um eine historische Rekonstruktion der Intentionen des Autors bemüht ist, liegen auch die korrigierenden Kodes (wie alle übrigen vom Autor eingebrachten) im Bereich eines Spielraums, der grundsätzlich durch freie Wahl der zu verwendenden Kodes gekennzeichnet ist. Er kann die vom Autor angebotenen Kodes akzeptieren oder ablehnen, er kann grundsätzlich beliebige und beliebig viele neue Kodes, darunter auch „willkürliche", in die Rezeption einbringen. Auf dieser „Dialektik zwischen interpretatorischer Treue und interpreta torischer Freiheit" 2 7 beruht der grundsätzlich für jede Dichtung anzuerkennende Spielraum ihrer Lektüren und Interpretationen. Dennoch ist dieser Spielraum von Fall zu Fall anders beschaffen und könnte Ausgangspunkt einer typisierenden Unterscheidung werden. Danach könnten z.B. zwei elementare Klassen von Zeichen in einer Dichtung unterschieden werden: solche, die zu interpretatorischer Treue und solche, die zu interpretatorischer Freiheit aufrufen. Anwesenheit und Abwesenheit, Stärke und Mischungsverhältnis dieser beiden Zeichenklassen greifen regulierend in den Spielraum der Lektüre ein. Dantes Dichtung ist u.a. dadurch gekennzeichnet, daß sie durch korrigierende Kodes diesen Spielraum auf ein Minimum einzuschränken sucht. In verschiedenen Zeichenebenen sind unübersehbare Signale gesetzt, die den Leser auf einen nicht zu verfehlenden Sinn hinweisen und ihm suggerieren, mit der Einfuhrung neuer, insbesondere „willkürlicher" Kodes zurückhaltend zu sein. Diesem extremen Beispiel Dantes (und anderer, vor allem mittelalterlicher Dichtungen) könnten Texte gegenübergestellt werden, die keine oder nur schwache, „unauffällige" korrigierende Kodes haben. Der Spielraum der Lektüre wird aber immer dann extrem groß, wenn zur Abwesenheit regulierender Zeichen die Präsenz von Zeichen tritt, die eindeutige Zuordnungen verbieten und den Leser zur Anwendung immer neuer Kodes stimulieren. Von der Rezeption derart strukturierter Texte soll im folgenden Kapitel die Rede sein.
26 Vgl. Verf., Textstrategie, S. 515f. und insbesondere Die Zahl, S. 328ff. 27 Eco, Einfühlung, S. 165.
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V. MALLARME ODER DIE VERZWEIFELTE PRAXIS DER LEKTÜRE
1. Zur Rezeption des späten Mallarmé A la nue accablante tu Basse de basalte et de laves A même les échos esclaves Par une trompe sans vertu Quel sépulcral naufrage (tu Le sais, écume, mais y baves) Suprême une entre les épaves Abolit le mât dévêtu Ou cela que furibond faute De quelque perdition haute Tout l'abîme vain éployé Dans le si blanc cheveu qui traîne Avarement aura noyé Le flanc enfant d'une sirène. 1
Die meisten Interpretationen dieses wohl schwierigsten, „dunkelsten" Gedichts des späten Mallarmé, mit Recht als Abschluß und Höhepunkt seiner ästhetischen Entwicklung angesehen, basieren auf dem Versuch, die nach keiner erkennbaren Regel ineinander verkeilten Teile des Ein-Satz-Gedichts in eine dem üblichen, „normalen" französischen Sprachgebrauch entsprechende Ordnung zurückzuübersetzen, sie in einen verständlichen Text zurückzuführen. Alle diese Interpretationen sind Reduktionsversuche der als dunkel und regelabweichend empfundenen dichterischen Sprache Mallarmés auf einen normalsprachlichen, regelgerechten Text, der dann auf eine Information, auf einen Sinn hin befragt wird. Entsprechend der Stileigentümlichkeit Mallarmés ist die Zurückführung der 14 Verse des Gedichts in eine dem üblichen Sprachgebrauch entsprechende Ordnung vor allem eine syntaktische Opera1
Alle Mallarmé-Texte werden zitiert nach der Pléiade-Ausgabe der „ Œ u v r e s Complètes", Texte établi et annoté par H. Mondor et G. Jean-Aubry, Paris 1956; das zitierte Gedicht dort S. 76.
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tion: man versucht, die verwirrende, dislokierte Anordnung der einzelnen Satzglieder in eine neue Reihenfolge zu bringen, die als regelgerecht und informationshaltig angesehen wird. Auf der Basis dieses durch syntaktische Operation entstandenen Meta textes bewegt sich dann die Interpretation, und zwar so, daß man hinter dem sich ergebenden, für mehr oder weniger eindeutig und richtig angesehenen Sinn (Untergang eines Schiffes, treibende Trümmer, schäumendes Meer, Anwesenheit einer Sirene) einen tieferen, dichterischen, „symbolischen" Sinngehalt zu erschließen sucht (etwa: Thematik des Menschen, Schicksalsgedanke, Scheitern des Dichters, Pessimismus Mallarmés usw.). Die von Mallarmé in erster Linie durch syntaktische Mittel erreichte Distanz von der üblichen Sprache, dem gewohnten Neufranzösisch, wird also unter systematischer „Beseitigung" aller in Mallarmés Text vorhandenen Zweideutigkeiten und Unklarheiten reduziert, bis ein mehr oder weniger „eindeutiger" Klartext als Interpretationsbasis gewonnen ist. Exemplarisch ist das hier skizzierte Verfahren einer „Rekonstruktion" des Mallarmé-Textes z.B. von L. De Nardis durchgeführt worden, der zu dem oben zitierten Gedicht feststellt: „Per la ricostruzione dell' intero sonetto si è imposta la eliminazione, fra tutti i significati possibili dei passi ambigui or ora notati, di quelli meno attendibili; indi il coordinamento dei rimanenti col porre, nella costruzione, i vocaboli francesi al posto che avrebbero avuto logicamente se il poeta non li avesse dispersi... " 2 Das Ergebnis dieser „logischen" Umordnung des Sonetts lautet bei De Nardis so: La nue accablante - basse de basalte et de laves a tu même les échos esclaves, par une trompe sans vertu, quel sépulcral naufrage (tu le sais, écume, mais y baves) abolit le mât dévêtu, suprême une entre les épaves, ou cela que furibond, faute de quelque perdition haute, tout l'abîme vain éployé, avarement aura noyé, dans le si blanc cheveu qui traîne, le flanc enfant d'une sirène. 3
Dieser rekonstruierte Text wird die eigentliche Grundlage der Interpretation und soll vom Leser auf seine symbolischen Bedeutungen hin befragt werden. 2 3
L. De Nardis, L'ironia di Mallarmé, Rom 1962, S. 297. I.e., S. 298. De Nardis ergänzt diesen umgeordneten Text durch ein Schema und eine Prosaübertragung, die hier beide wiedergegeben seien: Schema: a tu i Le due quartine La nue accablante < ou cela y Le due terzine Traduzione in prosa: L'opprimente nube - s c o g l i o di basalto e di lave - ha taciuto direttamente agli echi
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D i e A n o r d n u n g D e Nardis k a n n j e d o c h in vielen P u n k t e n n i c h t überzeugen. S c h o n für den ersten V e r s müssen B e d e n k e n a n g e m e l d e t w e r d e n . S t a t t w i e D e Nardis ,4a n u e a c c a b l a n t e " als S u b j e k t des ersten Satzteils a u f z u f a s s e n u n d „a" z u „ t u " d e m Partizip P e r f e k t v o n „taire", z u o r d n e n , wäre es z . B . mind e s t e n s e b e n s o überzeugend, „à la n u e a c c a b l a n t e " als D a t i v o b j e k t v o n „ t u " abhängig z u m a c h e n u n d für das Partizip P e r f e k t „ t u " ein anderes S u b j e k t anz u n e h m e n . In d e m f o l g e n d e n K l a r t e x t von Ch. Chassé ist dies, n e b e n vielen anderen A b w e i c h u n g e n von D e Nardis, z . B . g e s c h e h e n : „Pour que le p o è m e se c o m p r e n n e , — so Chassé — il faut partir d u d e u x i è m e quatrain. L'auteur, s'adressant à l ' é c u m e de la mer, lui dit: , E c u m e , toi qui as bavé sur le naufrage qui vient de s'accomplir, t u sais à quel p o i n t il a pu être sépulcral' (c'est-à-dire c o m b i e n de m o r t s il a pu causer). ,Tu es m ê m e seule à le savoir car s o n horreur a été tue ( e n clair: d i s s i m u l é e ) a u x n u a g e s e u x - m ê m e s p o s é s sur la mer, n u a g e s d o n t la noirceur fait songer à un rocher de basalte. Ces nuages n e pouvaient rien e n t e n d r e car la sirène d u vaisseau e n perdition ne f o n c t i o n n a i t pas et s o n appel n e p o u v a i t , par suite, être répercuté par les é c h o s d'ordinaire si dociles'"; a u c h die Transkription der restlichen Verse des S o n e t t s w e i c h t z . T . stark v o n d e m Vorschlag D e Nardis a b . 4 Es schiavi, con una tromba senza ormai più forza, quale naufragio sepolcrale (o schiuma, tu lo sai, ma ci sbavi sopra) abolì l'albero maestro spogliato delle vele, supremo e solo tra i relitti; oppure nascose che, furibondo, tutto l'abisso, vanamente spiegato, in mancanza di una qualche sublime rovina, avrebbe annegato avaramente, nel cosi bianco velo della schiuma misto a capelli trascinantisi, il seno puerile d'una sirena. 4 Vgl. Ch. Chassé, Les Cléfs de Mallarmé, Paris 1954, S. 1 6 1 - 1 6 5 . Der zitierte Text S. 163. Aus der umfangreichen Sekundärliteratur zu Mallarmé sei noch auf folgende Arbeiten verwiesen: H. Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik, Hamburg 1956; K. Wais, Mallarmé, Dichtung, Weisheit, Haltung, München 1952 2 , der im Rahmen einer Interpretation von „Un coup de dés", nur kurz auf das Sonett eingeht (S. 582f.); Gleiches gilt von G. Michaud, Mallarmé, Paris 1958, S. 167f.; Ch. Chadwick, Mallarmé, sa pensée dans sa poésie, Paris 1962, deutet S. 1 3 2 - 1 3 5 das Gedicht vor allem als Ausdruck von Mallarmés Pessimismus; auch die knappe Interpretation von Charles Mauron, Introduction à la Psychanalyse de Mallarmé, Neuchâtel 1968, S. 139, läuft auf eine Festlegung des Gedichtsinhalts hinaus: „Comment n'y pas reconnaître, condensé avec Igitur et Hamlet, c'est-à-dire avec le Mallarmé conscient . . . le fantôme de la jeune Maria". - Zur Sprache Mallarmés sei verwiesen auf J. Schérer, L'expression littéraire dans l'oeuvre de Mallarmé, Paris 1947 sowie W. Naumann, Der Sprachgebrauch Mallarmés, Marburg 1936, der S. 6 7 - 6 9 auch auf „A la nue accablante" eingeht. Eine brauchbare Einführung in die Sprachtheorie und Poetik Mallarmés gibt Cl. Abastado, Expérience et théorie de la création poétique chez Mallarmé, Paris 1970 (Archives des lettres modernes, no 119). Zur Syntax dieses Sonetts vgl. W.-D. Stempel, Syntax in dunkler Lyrik, in: Immanente Ästhetik - Ästhetische Reflexion, Lyrik als Paradigma der Moderne, ed. W. Iser, München 1966, S. 3 3 - 4 6 , der u.a. auf Parallelen und Differenzen zu Góngoras dunkler Syntax hinweist.
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kommt hier nicht darauf an, die schwachen Punkte dieser und anderer Transkriptionen aufzuzeigen und dafür Gegenlösungen anzubieten. Daß dies fast immer gelingt, ist bekannt; die bisher vorliegenden, divergierenden Versuche zu diesem Gedicht beweisen es hinlänglich. Wichtiger scheint mir in diesem Zusammenhang die Tatsache zu sein, daß hinter den Transkriptionsversuchen mehr oder weniger reflektiert die Überzeugung steht, daß sich die dunklen Verse Mallarmés in die Eindeutigkeit eines sinnklaren Texts überführen lassen, sofern man dabei nur sorgfältig und logisch genug vorgehe. Mit wünschenswerter Deutlichkeit kommt diese Überzeugung in den Interpretationen der belgischen Gelehrten E. Noulet zum Ausdruck, und zwar gerade auch in der Interpretation, die sie dem hier behandelten Gedicht gewidmet hat. 5 Nachdem sie auf die Unbrauchbarkeit zweier von F. Calmettes zu diesem Gedicht überlieferter Varianten hingewiesen hat, stellt sie fest: „ . . . Il ne reste pour déchiffrer le poème que le seul guide de la syntaxe", und weiter: „il suffit de suivre le poème pas à pas et à la lettre, pour aboutir sans trop d'effort et sans tour de passe-passe, non plus à une .interprétation', mais à une modeste et exacte explication",6 Mit anderen Worten: der Interpret gewinnt am Leitfaden einer nach grammatisch-logischen Gesichtspunkten durchzuführenden Neuordnung der syntaktischen Glieder eine exakte Erklärung des Gedichttexts. „Exakte Erklärung" aber kann bei Noulet nur heißen: die Eindeutigkeit eines einzigen Klartexts, der alle übrigen Zuordnungen und Deutungen als verfehlt aufweisen soll. Entsprechend ist ihre auf den folgenden Seiten durchgeführte Erklärung des Gedichts dadurch gekennzeichnet, daß sie alle von der von ihr entworfenen syntaktischen Ordnung abweichenden Deutungsvorschläge, darunter auch solche von Chassé und De Nardis, als unzutreffend verwirft, also immer von der Ausschließlichkeit eines vorhandenen Sinnes ausgeht.7 Es gibt also keine Wahlmöglichkeiten in der Zuordnung der einzelnen Glieder des 5 6 7
E. Noulet, Vingt Poèmes de Stéphane Mallarmé, Genf 1967, S. 2 3 8 - 2 4 7 . I.e., S. 241. Hervorhebungen von mir. Vgl. dazu die These Noulets: „l'écrivain n'a jamais contrevenu aux règles exactes de la langue . . . " (ib.). Noulet übersieht, daß die Formulierung „contrevenir aux règles" interpretierbar ist. Man hätte zumindest zwischen einem regelbiechenden und einem regelabweichenden bzw. regelerweiternden sprachlichen Verhalten zu unterscheiden. Überhaupt scheint mir hier eine zu enge, positivistische Auffassung von der „Exaktheit" einer Sprache vorzuliegen. Nur scheinbar wird die Auffassung Noulets gerechtfertigt durch den folgenden, o f t zitierten Satz Mallarmés: „Quel pivot, j'entends, dans ces contrastes, à l'intelligibilité? Il faut une garantie - La Syntaxe - " (Œuvr. Compl., S. 385). Die Syntax Mallarmés ist nicht Garantie für die Eindeutigkeit des Sinnes, sondern für die Nachvollziehbarkeit der Sinnmöglichkeiten und zugleich für die Einheit des Textes; vgl. dazu unten S. 131 f.
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Satzgedichts: sie sind zwar dislokiert und verwirrend angeordnet, die zwischen ihnen bestehenden Bezüge sind jedoch, auf der Basis der uns bekannten Grammatik des Neufranzösischen, eindeutig und schließen jede Alternative aus. Eine eindeutige Syntax also, die, wenn man nur ordentlich Grammatik gelernt hat und logisch denken kann, es erlaubt, Schritt für Schritt das Gedicht zu entziffern und schließlich eine „exakte Erklärung" beschert. In schroffem Gegensatz zu dieser positivistischen Auffassung steht eine Interpretation des Gedichts, die Michel Butor in einer Arbeit über die Mallarmé-Bearbeitungen Pierre Boulez' 8 vorgetragen hat. Butor sagt: „Le texte est l'un des plus caractéristiques de la syntaxe .plurielle' de Mallarmé. L'absence presque entière de ponctuation interdit en e f f e t de choisir définitivement entre les diverses .constructions' qui ont été proposées. Impossible de décider si ,1e flanc enfant d'une sirène' est le sujet de .avarement aura noyé', ou, apposition de ,cela', son complément d'objet direct. Ce n'est pas l'un ou l'autre mais l'un et l'autre. Les m o t s o u groupes de mots ont des valences grammaticales qui s'accrochent diversement selon la lecture, révélant telle ou telle face du sens. Ainsi, lorsqu'on est arrivé au dernier vers, on s'aperçoit que la leçon du poème entier peut se renverser; on avait compris, suivant l'ordre habituel du français (si bouleversé par ailleurs) que le naufrage abolissait le mât; apparaît alors que ce mât, suprême, peut abolir le naufrage, et c'est alors seulement que prennent toute leur valeur cette bave, cette fureur de l'abfme vain". 9
Ich meine, daß Butor mit dieser nur skizzierten Interpretation den Intentionen Mallarmés wesentlich näher kommt als die von dem Anspruch exakter und belegbarer Richtigkeit getragene Interpretation Noulets und vieler anderer Mallarmé-Interpreten. Insbesondere die Rolle der Syntax scheint mir hier in ihrer eigentlichen Funktion erkannt zu sein. An die Stelle einer zwar dislokierten, aber nach gehöriger Umordnung doch klaren und eindeutigen Syntax, die zu einer exakten Erklärung des Wortlauts des Gedichts führt, tritt hier der Gedanke einer „syntaxe plurielle". Deren Merkmal ist es, die von den oben zitierten Interpreten streng gemiedenen Alternativen in der Rekonstruktion des Gedichttextes, d.h. eine Anzahl möglicher Sinnkonstruktionen zur Wahl zu stellen, die als einander gleichwertig verstanden werden. Butor verschiebt dabei das Gewicht auf den Akt der Lektüre, d.h. auf die Aktivität des Rezipienten. „Selon la lecture", d.h. mit fortschreitender Lektüre und — so dürfen wir Butor ergänzen — je nach Richtung und Intensität des Leseakts haben die Wörter und Wortgruppen des Gedichttexts unterschiedliche grammatische Valenzen, d.h. sie erscheinen in wechselnde gramma-
8 9
Vgl. Mallarmé selon Boulez, in: Répertoire II, Paris 1964, S. 2 4 3 - 2 5 1 . Le., S. 2 5 0 .
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tische Bezüge eingebettet. 10 Diese nach und nach aufscheinenden grammatischen Bezugsmöglichkeiten enthüllen ihrerseits wieder verschiedene „faces du sens", also divergierende Sinnfacetten. Butors Konzeption einer „syntaxe plurielle", d.h. einer nicht festlegbaren und daher auch nie abschließbaren Sinngestalt, trifft die Struktur der späten Gedichte Mallarmes im Kern. 11 Ein solches Verständnis von Syntax läßt sich auch durch die theoretischen Äußerungen Maliarmes weit besser rechtfertigen als die Dechiffrierungsversuche, die im Rahmen der Grammatik und am Leitfaden der Kategorie der Verständlichkeit durchgeführt wurden und werden.
10 Mit dieser Auffassung Butors stimmt das Ergebnis Stempels überein, der I.e., S. 44 feststellt, „daß syntaktische Beziehungen in der Schwebe bleiben, daß an ihre Stelle Beziehbarkeiten getreten sind . . . " 11 H. Friedrich, I.e., S. 77, sieht den Spätstil Mallarmes dadurch gekennzeichnet, „daß die Worte nicht mittels grammatischer Beziehungen sprechen, sondern aus sich selbst ihre mehrfachen Sinnmöglichkeiten ausstrahlen". Zu dem Sonett „Eventail" stellt Friedrich an der gleichen Stelle fest: „Auch hat man Mühe, das Satzgefüge zu erkennen, mindestens von der zweiten Strophe an . . . Das Satzgefüge ist zerdehnt und r u f t die gleiche Vieldeutigkeit hervor wie der Gehalt".
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2. Sprache und Dichtung bei Mallarmé
Im Falle Mallarmés kann die Praxis des Dichtens anhand einer relativ ausführlichen, auf hohem kritischen Niveau operierenden Sprach- und Dichtungstheorie erläutert werden. Mallarmés Theorie basiert auf der Konzeption der Dichtersprache als eines selbständigen, über der normalen, durch Sprechnorm, Verständlichkeit und grammatische Regeln gekennzeichneten Sprache sich erhebenden Systems, dessen Zeichen anderer Art sind bzw. andere Einheiten bilden als die der natürlichen Sprache. Alle seine theoretischen Ausführungen begründen mehr oder weniger die ästhetische Notwendigkeit einer Textstruktur, die, jeder Eindeutigkeit und Iinearität abhold, ganz darauf angelegt ist, eine den Leser herausfordernde ,.mobilité de l'écrit" 12 und damit verbunden eine Fiktionalität eigener Art zu bilden, die als ein Spiel von Zuordnungsund dementsprechend auch Dekodierungsmöglichkeiten beschrieben werden kann. Es ist indes zunächst kennzeichnend für Mallarmé, daß sich seine Überlegungen nicht auf die besonderen Zeichenverhältnisse poetischer Sprache beschränkten, sondern auch die Zeichen anderer, außersprachlicher Künste mit einbezogen. Ich möchte wenigstens auf ein Beispiel dafür kurz eingehen, und zwar auf die Interpretation einer Ballettszene, die Mallarmé in einer seiner kleinen Ballettbesprechungen gegeben hat, und die belegt, daß er den Tanz und seine Elemente, die körperlichen Bewegungen, als eine zeichenhafte und signifizierende, d.h. semiotische Praxis gesehen und interpretiert hat. Hier der Text: 1 3 „A savoir que la danseuse n 'est pas une femme qui danse, pour ces motifs juxtaposés qu'elle n 'est pas une femme, mais une métaphore résumant un des aspects élémentaires de notre forme, glaive, coupe, fleur, etc., et qu 'elle ne danse pas, suggérant, par le prodige de raccourcis ou d'élans, avec une écriture corporelle ce qu'il faudrait des paragraphes en prose dialoguée autant que descriptive, pour exprimer,dans la rédaction: poème dégagé de tout appareil du scribe."
Was Mallarmé an der Ballerina interessiert, ist „nicht die Frau, die tanzt", sondern vielmehr deren signifizierende Praxis. Die Ballerina suggeriert bestimmte 12 GEuvr. Compl.,S. 455. 13 I.e., S. 304. Der Text entstammt dem Kapitel „Ballets" aus „Crayonné au théâtre"; Hervorhebungen von Mallarmé.
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Inhalte durch die Zeichen ihrer Körperbewegungen, ihrer Rhythmik und ihrer Gebärden, kurz ihrer „écriture corporelle". Es entsteht so ein Text aus körperlichen Zeichen, der wie ein Gedicht gelesen werden kann, ein Gedicht indes, das von allen Materialien der Schreibkunst (Buchstaben, Wörter, Papier, Tinte etc.) befreit ist. 14 Wird somit Ballett konzipiert als ein außer- bzw. übersprachliches, kommunikationsfähiges Zeichensystem, so ist andererseits auch bemerkenswert, was Mallarmé an dieser Stelle von den Signifikaten eines solchen Zeicheninventars aussagt. Beim Tanz der Ballerina handelt es sich um Zeichen vom direkt abbildenden, ikonischen Typ, der uns bereits mehrfach im System von Dichtersprachen begegnete, und der Inhalt dieser Zeichen ist suggestiv-unendlich; auf ihnen beruht, wie bereits beobachtet, der theoretisch nicht ausschöpfbare Informationsgehalt der Dichtung. In diesem Sinne sagt Mallarmé, daß es vieler Seiten (dialoghafter oder deskriptiver) Prosa bedürfte, um das auszudrücken, was die Tänzerin in den knappen Chiffren ihrer Körperschrift suggeriert. Die Körperbewegungen des Tanzes werden somit als Einzelzeichen einer „écriture", d.h. eines signifikanten Systems verstanden. Auch scheint Mallarmé geneigt zu sein, den gesamten „Text" des Tanzes als ein einheitliches Zeichen zu betrachten, wenn er wenig später von der Tänzerin sagt: „eile te livre à travers le voile dernier qui toujours reste, la nudité de tes concepts et silencieusement écrira ta vision à la façon d'un Signe, qu'elle est". 1 5 Hier wird die gesamte körperliche „Schrift" eines Tanzes als ein einheitliches, individuelles Gesamtzeichen betrachtet, ebenso wie auch dichterische Texte, und insbesondere die des späten Mallarmé, als einheitliche Zeichen eigener, unverwechselbarer Art aufgefaßt werden können. Nach diesen präliminarischen Bemerkungen zu Mallarmés Balletterlebnis nun in Kürze einiges zu seinen Reflexionen über Dichtersprache. Diese umkreisen in erster Linie den Versuch, die Zeichen und Zeichen re lationen des poetischen Textes von denen der natürlichen Sprache abzugrenzen und ihre besondere Funktionalität unter immer neuen Perspektiven und insbesondere auch im Hinblick auf den Leser zu erfassen. Nur die wichtigsten Gedanken seien hier zusammengestellt, die meisten davon aus Texten, die etwa aus der Entstehungszeit des oben zitierten Gedichts stammen. 16 Zunächst zum Verhältnis Umgangssprache - poetische Sprache. 14 Vgl. auch I.e. S. 307: „L'unique entraînement imaginatif consiste, aux heures ordinaires de fréquentation dans les lieux de D a n s e . . . à se demander devant tout pas . . . ,Que peut signifier ceci' ou mieux, d'inspiration, le lire". 15 S. 307. Mallarmé schreibt „signe" in diesem Fall groß, ebenso wie „danse", vgl. Anm. 14. 16 Die folgenden vier Zitate stammen z.B. alle aus „Variations sur un sujet" aus dem Jahre 1 8 9 5 , also dem gleichen Jahr, in dem auch das Gedicht ,,A la nue accablante" in der deutschen Zeitschrift „Pan" in Berlin erschien.
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1. le Poète, avec un délice de chanter, précisément ou d'élever la voix, en pureté, par-dessus les conversations directes applicables à un s u j e t . . . (S. 406) 2. Parler n'a trait à la réalité des choses que commercialement: en littérature cela se contente d'y faire une allusion ou de distraire leur qualité qu'incorporera quelque idée. (S. 366) 3. Un désir indéniable à mon temps est de séparer comme en vue d'attributions différentes le double état de la parole, brut ou immédiat ici, là essentiel. Narrer, enseigner, même décrire, cela va et encore qu'à chacun suffirait peut-être pour échanger la pensée humaine, de prendre ou de mettre dans la main d'autrui en silence une pièce de monnaie, l'emploi élémentaire du discours dessert l'universel reportage dont, la littérature exceptée, participe tout entre les genres d'écrits contemporains. (S. 368) 4. Au contraire d'une fonction de numéraire facile et représentatif, comme le traite d'abord la foule, le dire, avant tout, rêve et chant, retrouve chez le Poète, par nécessité constitutive d'un art consacré aux fictions, sa virtualité (S. 368) Die Sprache des Dichters ist eine Art Gesang und erhebt sich über der Sprache normaler Konversation, die eine direkte Sprache ist und sich auf ein bestimmtes Thema bezieht. Der Gedanke einer poetischen Sprache, die im Unterschied zu der alltäglichen Konversation oder der des Handels („commercialement"!) nicht mehr denotiert und daher auch nicht mehr für bestimmte Themen anwendbar ist, sondern äußere Wirklichkeit lediglich konnotiert, wird im zweiten Beleg wieder aufgegriffen: dichterische Sprache begnügt sich mit Anspielungen auf die Wirklichkeit der Dinge; deren Beschaffenheit wird aufgelöst und in eine abstrakte Vorstellung („idée") überführt. Reinheit, „pureté", so wird schon hier deutlich, bedeutet bei Mallarmé die Freiheit der Sprache von einem denotativen Wirklichkeitsbezug, von dem, was Jakobson die referentielle Funktion der Sprache nannte. 17 In diesem Sinne spricht das dritte Zitat von „einem doppelten Status der Sprache": 18 dem rohen und unmittelbaren der normalen alltäglichen Sprachverwendung und dem „wesentlichen" der poetischen Sprache. Als Beispiel für den ersten, denotativen, linearen Sprachtyp nennt Mallarmé „Erzählen, Unterrichten, und Beschreiben". Diese Sprache, so Mallarmé, ist wie eine Münze, die von Hand zu Hand geht und beliebig weitergegeben werden kann. Als Prototyp denotierender Sprache genügt sie, den Gedankenaustausch der Menschheit, d.h. ihre Kommunikation, aufrecht zu erhalten. Diese „elementare Sprachverwendung" be17 Vgl. Jakobson in: Ihwe, Literaturwissenschaft, S. 521ff. Dazu oben S. 4f. 18 Das Wort „parole" im Mallarmé-Text kann durchaus im Sinne Saussures als Sprachverwendung verstanden werden.
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dient das „weltweite Informationsbedürfnis" („l'universel reportage") und beherrscht das gesamte Schrifttum der Zeit, die Literatur ausgenommen. Im Unterschied zu einer solchen einfachen Münz- und Darstellungsfunktion, wie sie im Sprachgebrauch der Masse vorliegt, so fährt Mallarmé auf der gleichen Seite fort, findet die Sprache, die wesentlich „Traum und Gesang" ist, beim Dichter mit Notwendigkeit ihre eigentliche, die Dichtung konstituierende Virtualität wieder. Worin aber besteht diese Virtualität der Dichtersprache? Mallarmé fährt an der gleichen Stelle folgendermaßen fort: „Le vers qui de plusieurs vocables refait un m o t total, neuf, étranger à la langue et comme incantatoire, achève cet isolement de la parole: niant, d'un trait souverain, le hasard demeuré aux termes malgré l'artifice de leur retrempe alternée en le sens et la sonorité, et vous cause cette surprise de n'avoir ouï jamais tel fragment ordinaire d'élocution, en même temps que la réminiscence de l'objet n o m m é baigne dans une neuve atmosphère". 1 9 ( 3 6 8 )
Nach Mallarmé bildet somit der Vers als ein metrisches und außersprachliches Strukturprinzip aus mehreren Vokabeln ein „neues, einheitliches Wort", das der normalen Sprache „fremd" und von magischer Wirkung ist. Hier wird erneut, aber präziser als zuvor, der translinguistische Status der poetischen Sprache beschrieben. Deren System baut nämlich nicht nur auf dem System der natürlichen Sprache (,.langue" im Sinne Saussures) und deren Regeln auf, sondern, wie man bereits sah, auch auf außersprachlichen Elementen und Zuordnungen, wie z.B. denen der Metrik, wozu u.a. auch der Vers zu zählen ist. Der Vers macht aus mehreren Wörtern der verwendeten Sprache ein „neues, einheitliches Wort", das dem System der verwendeten Sprache „fremd" ist und auch eine andere Wifkung hat als deren Wörter (es wirkt „inkantatorisch", d.h. im wesentlichen konnotativ-flächenhaft). Dieses übersprachliche System des dichterischen Textes schafft sich neue Einheiten, die nicht mit denen des primären Systems der natürlichen Sprache zusammenfallen. 20 Die für diese gültigen Einheiten der Wörter bzw. Lexeme werden zu neuen, andersartigen Einheiten zusammengefaßt: der Vers bildet ein neues Zeichen. Dieses Zeichen ist aber nach Mallarmé auch für sich betrachtet anderer Art als die Zeichen des primären Systems. Vom Vers wird nämlich gesagt, daß er „in souveräner Weise den Zufall leugnet (d.h. überdeckt, beseitigt), der den Wörtern [der natürlichen Sprache] trotz ihrer künstlichen, wechselseitigen Teilhabe an der Sinn- und Klangschicht verblieben ist." Der Sinn dieser wie vieler anderer Stellen ist nicht ganz leicht nachzuvollziehen; doch ist sehr wahrscheinlich, 19 Es handelt sich hierbei um den letzten Abschnitt von „Crise de vers", der im gleichen Wortlaut bereits im „Avant-dire" zum „Traité du Verbe" von René Ghil 1 8 8 6 erschienen war. 20 Vgl. dazu oben S. 2 9 f . und S. 51.
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daß Mallarmé mit dem „Zufall" der Wörter der natürlichen Sprache mehr oder weniger das meint, was Saussure die Willkürlichkeit der Zeichen nannte: die Zuordnung eines bestimmten Klangelements (signifiant) zu einer bestimmten Bedeutung (signifié) ist willkürlich. 21 Diese willkürliche oder, wie Saussure auch sagt, „unmotivierte" Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat wird aber in dem sekundären System poetischer Sprache weitgehend durch eine motivierte Relation ersetzt, indem viele Signifikanten das unmittelbar sind, was sie bedeuten und indem die einzelnen Textsegmente (wie z.B. der Vers) weitgehend abbildende, ikonische Funktion haben. Die Zweiseitigkeit des sprachlichen Zeichens, nach Saussure eine „entité psychique à deux faces", 22 wird hier aufgehoben bzw. eingeschränkt: die von den normalsprachlichen Einheiten abweichenden Zeichen des dichterischen Textes erhalten ihre Bedeutung nicht mehr oder nur noch zum Teil aus einer willkürlichen, durch Konvention gefestigten Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat; ihre Bedeutung liegt statt dessen in einer äußeren Ähnlichkeit zwischen diesen. Die Trennung zwischen Signifikant und Signifikat, von der Saussure ausging, ist also hier teils verwischt, teils ganz aufgehoben, und mit ihr der Zufall der Relation zwischen beiden. All dies ist, wie Mallarmé an der zuletzt zitierten Stelle andeutet, Ursache für die „Überraschung", d.h. das Befremden des Lesers darüber, noch nie eine solche „Sprache" gehört zu haben. „La Poésie, so Mallarmé an anderer Stelle, proche de l'idée, est Musique, par excellence". 23 Tatsächlich sind die Zeichen poetischer Sprache, und insbesondere der Mallarmés, denen der Musik ähnlich, die ebenfalls kein System mit festen Zuordnungen zwischen Signifikanten und Signifikaten voraussetzt, sondern Bedeutungen in freiem assoziativen Spiel direkt erzeugt. Die Bedeutung der musikalischen wie der poetischen Zeichen wird geschaffen durch die Art der Verwendung und nicht durch ein präetabliertes System wie das der natürlichen Sprache — in diesem „hohen Sinne" sind bei Mallarmé ähnlich wie in der Musik die Zeichen mit ihrer Verwendung identisch: „au sens haut ou les mots, originellement, se réduisent à l'emploi". 24 Der Dichter aber ist 21 Vgl. Saussure, Coûts, S. 100: „Le lien unissant le signifiant au signifié est arbitraire, ou encore, puisque nous entendons par signe le total résultant de l'association d'un signifiant à un signifié, nous pouvons dire plus simplement: le signe linguistique est arbitraire" (Hervorhebung von Saussure). 22 Cours, S. 99 23 Œuvres Compl., S. 381. 24 I.e., S. 380. Von den Beziehungen zwischen Mallarmés Dichtung und der Musik handelte S. Bernard, Mallarmé et la musique, Paris 1959, die sich u.a. mit dem Verhältnis Mallarmés zu Wagner befaßt und S. 115ff. auch auf das zitierte Sonett eingeht. Eine nähere Untersuchung der in Musik und Dichtung verwendeten Zeichen fehlt jedoch bei Bernard.
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die allein verantwortliche Instanz dieses „Gebrauchs"; „Le Poète, ou littérateur pur, talent à part, tient l'emploi". 25 Dieser „emploi" aber folgt in Mallarmés Konzeption dem Prinzip der „mobilité de l'écrit" 26 und ist den durch Konvention sanktionierten Zuordnungen und Regeln des normalen Sprachgebrauchs mehr oder weniger entgegengerichtet, im Bereich der Semantik ebenso wie in dem der Syntax. An die Stelle der Linearität, der Eindeutigkeit und Sukzession der normalen Sprache treten die Kategorien mobilité, espacement, jeu, fiction u. ä. Programmatisch hat es Mallarmé einmal so formuliert: „Le livre, expansion totale de la lettre, doit d'elle tirer, directement, une mobilité et spacieux [flächenhaft!] par correspondances, instituer un jeu, on ne sait, qui confirme la fiction".27 Der flächenhafte Text erzeugt aus sich selbst eine Beweglichkeit, die auf einem Spiel von Beziehungen beruht, das seinerseits das Wesen der Dichtung ausmacht. Korrespondenzen und Bezugsmöglichkeiten treten an die Stelle denotierter Bedeutungen und der gewohnten syntaktischen Regeln. Als eigentlichen „Gegenstand" seiner Dichtung hat Mallarmé an vielen Stellen die „Idee" bezeichnet, so z.B. in dem folgenden Zitat, wo er Musik und Literatur wieder zusammen aufführt: „la Musique et les Lettres sont la face alternative ici élargie vers l'obscur; scintillante là, avec certitude, d'un phénomène, le seul, je l'appelai, l'Idée". 28 Aber auch von dieser dichtungstheoretischen Zielsetzung her konnte Mallarmés Dichten nur Unruhe und Beweglichkeit sein, kam es ihm doch weniger auf die Idee als vielmehr auf deren Prozeßhaftigkeit an, auf die „sinueuses et mobiles variations de l'Idee". 29 In diesem Sinne konnte Mallarmé Dichtung als „contexte évolutif de l'Idée" 3 0 und den Prozeß des Dichtens wie folgt definieren: „L'acte poétique consiste à voir soudain qu'une idée se fractionne en un nombre de motifs égaux par valeur et à les g r o u p e r . . . ", 31 All diese dichtungstheoretischen Sätze belegen die Grundtendenz der Poetik Mallarmés, auf der Basis der natürlichen Sprache ein sekundäres, durch einen neuen Modus des Signifizierens gekennzeichnetes System mit neuen Zeichen und neuen Zuordnungen zu erstellen. Die eingangs referierten Interpretationsversuche des Sonetts ,,A la nue accablante" machen deutlich, daß man den Sinn dieses sekundären Systems einer Kunstsprache dann am gründlichsten verkennt, wenn man versucht, es auf den Modus significandi des primären Systems zu reduzieren.
25 S. 411. 26 S. 455.
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27 S. 380 28 S. 649.
29 S. 648. 30 S. 653.
31 S. 365.
3. Die „verzweifelte" Praxis der Lektüre
Wörter wie mobilité, vibration, balancement, suspens, équilibre sowie nicht zuletzt auch die Metapher des „Spiels" umschreiben die Grundkategorien eines Dichtens, das sich als unmittelbarer Ausdruck der prozeßhaften Unruhe unseres Geistes versteht. Mallarmé war sich darüber im klaren, daß die sich um eine Idee entfaltenden geistigen Prozesse vor allem durch bestimmte syntaktisch-zuordnende Verfahren ausgelöst werden können: „Mobiliser, autour d'une idée, les lueurs diverses de l'esprit, à distance voulue, par phrases"}2 Freilich entspricht das, was hier „Satz" genannt wird, nicht mehr dem Ordnungsprinzip der französischen Grammatik oder der „normalen" französischen Umgangssprache, das man normalerweise mit Satz bezeichnet. Hier handelt es sich um das Ordnungsprinzip einer Kunstsprache, um eine „abnorme", „unfranzösische" Syntax, die dem Leser wie ein „Stammeln" anmutet und die ein „mobiles", vielschichtiges „Spiel" möglicher Zuordnungen und dadurch hervorgerufener reflexartiger Sinnuancen ermöglicht: Un balbutiement, que semble la phrase, ici refoulé dans l'emploi d'incidentes multiplie, se compose et s'enlève en quelque équilibre supérieur, à balancement prévu d'inversions . . . Les mots, d'eux-mêmes, s'exaltent à mainte facette reconnue la plus rare ou valant pour l'esprit, centre de suspens vibratoire; qui les perçoit indépendemment de la suite ordinaire, projetés, en parois de grotte, tant que dure leur mobilité ou principe, étant ce qui ne se dit pas du discours . . . 3 3
Durch einen vorausberechneten Balance-Akt der Einschübe und Inversionen erzeugt diese Syntax ein „höheres Gleichgewicht", das mit der Ökonomie eines normalsprachlichen Satzes kaum noch etwas zu tun hat. Auf dieses Gleichgewicht muß sich der Leser einstellen. „Equilibre supérieur" besagt zunächst, daß die Beziehungen zwischen den einzelnen, normabweichend verstellten Segmenten in der Schwebe bleiben. Zum anderen ergeben sich dadurch auch Auswirkungen auf die Bedeutungen der Wörter: Indem diese unabhängig von der normalen Wortfolge angeordnet und in fremde, ungewohnte Nachbarschaften versetzt werden, verlieren sie die Eindeutigkeit der normalen Sprache 32 S. 1576. Hervorhebung von mir. 33 S. 386.
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und gewinnen schwebende, vielfältig schillernde Bedeutungen. Das System der Texte des späten Mallarmé ist, wie man auch bei dem Sonett „A la nue accablante" beobachten konnte, darauf angelegt, die Eindeutigkeit der natürlichen Sprache mitsamt ihrem Wirklichkeitsbezug zu transformieren in ein schwebendes Spiel der Zuordnungs- und damit auch der Verstehensmöglichkeiten: „transposer un fait de nature en sa presque disparition vibratoire selon le jeu de la parole". 34 Diese gleitenden Beziehungen zwischen den Segmenten, durch die sich je nach Blickrichtung verschiedene Zuordnungen zwischen den Zeichen ergeben, bieten dem Leser immer neue Sinnmöglichkeiten und Assoziationen an: „Le tour de telle phrase ou le lac d'un distique . . . aident l'éclosion en nous, d'aperçus et de correspondances".35 Daher sind Mallarmés späte Texte in einem hervorragenden Maße durch ein Merkmal gekennzeichnet, das grundsätzlich für alle dichterischen Texte Gültigkeit hat: durch die theoretisch unendliche Zahl möglicher Interpretationen. 36 Die Unruhe dieser Texte überträgt sich auf den Leser, dessen Lektüre durch eine weitgehende Aufhebung aller steuernden oder korrigierenden Kodes geprägt ist. Das meinte Mallarmé, wenn er davon sprach, daß die Lektüre seiner Dichtung eine „pratique désespérée" 37 sei. Schon der Kode der gewählten Sprache erweist sich als nicht oder doch nur lückenhaft anwendbar. Durch den programmatischen Abbau der referentiellen, wirklichkeitsbezogenen Funktionen der verwendeten Zeichen fehlt auch von dieser Seite jede „stabilisierende" Lesehilfe. Erst recht fehlen direkt korrigierende Kodes, wie man sie im Werk Dantes beobachten konnte. In dieser Hinsicht bietet Mallarmé, Begründer der „Moderne", das extreme Gegenbeispiel zur Struktur eines mittelalterlich-christlichen Textes: Dort sind alle Zeichen des Textes gleichsam nach innen auf einen einzigen Punkt hin gerichtet; alle Zeichen fallen letztlich in einem eindeutigen Zeichen zusammen, nämlich in der unitas des christlichen Gottes. Bei Mallarmé sind die Zeichen so angeordnet, daß sie auseinanderzufliehen scheinen in eine verwirrende Unruhe und Konvertibilität. Seine Texte sind stets auf dem Sprung nach neuen Möglichkeiten, wie er es selbst gesehen und formuliert hat: ,4'épars frémissement d'une page ne veuille sinon surseoir ou palpite d'impatience, à la possibilité d'autre chose". 38 Eine verzweifelte Lektüre, fürwahr. Der Leser kann das Spiel des Textes akzeptieren und sich seiner provozierenden Unruhe aussetzen — oder er kann sich dem Text verschließen und diesen gleichsam „gegen den Strich" seiner Struktur lesen. Er kann versuchen, den spezifischen Kode dieser Texte (vibration, jeu, balancement, suspens etc.) 34 S. 857. 35 S. 646.
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36 Zu diesem Gesichtspunkt oben S. 31, 52, 8 8 - 9 0 . 37 S. 647.
38 S. 647.
zu finden und anzuwenden oder er verzichtet darauf in einem Akt der Bequemlichkeit oder Resignation. Folgt er eingefleischten Gewohnheiten, wird er z.B. versuchen, den Text mit dem ihm vertrauten Kode der natürlichen Sprache zu lesen. Das geschieht auch in den oben wiedergegebenen Interpretationsversuchen von De Nardis, Chassé und vieler anderer. Sie lesen den Text gegen den Strich seiner Struktur und der Intentionen seines Autors und versuchen, den mühsamen und komplizierten Prozeß, durch den Mallarmé ein sekundäres signifikantes Zeichensystem unverwechselbarer Art herstellte, wieder auf seine Ausgangsbasis, das primäre System der natürlichen Sprache, zurückzufuhren. Sie fuhren damit eben jenen „alten Satzbau mit invariablem Verb" und mit invariablen Zuordnungen wieder ein, den Mallarmé als eine „chimère" verachtete, 39 und setzen an die Stelle des neuen, globalen Zeichens Text mit seinem schwebenden „indifferenten Sinn", 40 das der natürlichen Sprache „unbekannt" ist, 41 wieder die Verständlichkeit der sprachlichen Münze. Der Akt interpretatorischer Treue besteht in diesem extremen Falle Mallarmés darin, einem Kode zu folgen, der zunächst als Negation faßbar wird: als Abwesenheit regulierender und korrigierender Zeichen — wenn man nicht die Prozeßhaftigkeit des Geistes selbst als einen Kode dieser Texte ansehen will. Interpretatorische Treue heißt bei Mallarmé auch, daß der Leser sich in eine Freiheit versetzt sieht, die in eine verzweifelte Lektüre ausarten kann. Dennoch ist die Mobilität Mallarméscher Texte nicht ohne Grenzen; sie wird in keinem Augenblick chaotisch. Der Leser findet eine Richtlinie vor, nach der sich das „Spiel" der Lektüre bewegen kann und muß, nämlich der Verlauf des Satzes. Dabei ist allerdings der „Satz" Mallarmés zu verstehen als Einheit einer neuen Syntax, die den „alten Satzbau" der natürlichen Sprache ersetzt und dessen traditionell wichtigstes Element, das „invariable Verb", zu einer variablen Größe umbildet, d.h. die vor allem neue Zuordnungsmöglichkeiten bereitstellt. Diese individuelle Syntax (die auf der normalen Syntax aufbaut, aber nicht mit dieser identisch ist) konstituiert die Mobilität der Texte, gibt ihnen aber zugleich jenes Minimum an Nachvollziehbarkeit, das nun einmal für jede Lektüre erforderlich ist. In diesem Sinne nannte Mallarmé die Syntax eine „Garantie" für die „intelligibilité" der Dichtung. 42 Nur darf man „intelligibilité" nicht wie E. Noulet als Erkennbarkeit eines eindeutigen Sinnes, als 39 „La vieille sentence avec un verbe, invariable, me fait l'effet d'une chimère", schreibt Mallarmé am 2 2 . 1 2 . 1 8 8 7 an J. Moréas, vgl. Correspondance, Bd. III ( 1 8 8 5 - 8 9 ) , établie pai H. Mondor et L. J. Austin, Paris 1 9 6 9 , S. 78. 4 0 „Tout é c r i t . . . d o i t . . . présenter, avec les mots, un sens m ê m e i n d i f f é r e n t . . . "; S. 382. 41 S. 368; vgl. das Zitat oben S. 126. 4 2 S. 385; vgl. dazu oben Anm. 7 auf S. 120.
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Verständlichkeit im Sinne der normalen Sprache verstehen.,.Syntax" ist bei Mallarmé ein sekundäres Ordnungsprinzip, das die Lesbarkeit und die Möglichkeit von Interpretationen, nicht aber — wie Noulet möchte — das Auffinden eines bestimmten Sinnes garantiert. Dieses Ordnungsprinzip des Satzes ist der einzige Leitfaden („fil conducteur") der Lektüre, eine „allgegenwärtige Linie", an der der Leser sich bis zu einem gewissen Grade zu orientieren vermag. 43 Es ist in diesem Zusammenhang nicht uninteressant, die Entwicklung Mallarmés.von der Mitte der neunziger Jahre bis zu seinem Tode (1898) zu verfolgen. Wendet man den Blick nochmals zurück zum 1895 erschienenen Sonett „A la nue accablante", so mag es jetzt wie ein Widerspruch erscheinen, daß dieser Text mit seiner mobilen, flächenhaften und nur noch synoptisch zu erfassenden Struktur im konventionellen Kleide einer der bekanntesten und ältesten Gedichtformen der Literatur, eben des Sonetts, erscheint. Von außen her läßt dieses Gedicht in seiner ungemein knappen, konzentrierten Form nicht erkennen, daß es seiner inneren Struktur nach extrem flächenhaft angelegt ist. Dieser Kontrast zwischen der Unruhe der inneren Struktur und der knappen, gebändigten äußeren Form ist einer der Kunsteffekte dieses Gedichts. Dennoch gilt bereits für diesen Gedichttext der ungefähr in dessen Entstehungszeit niedergeschriebene Programmsatz: „Le vers par flèches jeté moins avec succession que presque simultanément pour l'idée . . . "; 4 4 dementsprechend kann auch der Leser nicht sukzessive verfahren, sondern muß sern Auge zwischen Anfang und Ende des Gedichts hin und her schweifen lassen. In seiner Tendenz zur Fläche blieb Mallarmé jedoch auf dieser Stufe nicht stehen. In dem zwei Jahre später (1897) zuerst in der Revue ,,Cosmopolis" veröffentlichten Prosagedicht „Un coup de dés jamais n'abolira le hasard" 45 ist die Tendenz zur flächenhaften Lektüre, zum „espacement de la lecture" 46 zum eigentlichen Konstituens des Textes geworden. In einer eigenwilligen, typographisch untergliederten und durch immer neue, verschieden große Blancs aufgefächerten Anordnung ist der an sich kurze Text über viele Seiten hinweg ausgebreitet, ohne noch auf irgendwelche metrischen Formen Rücksicht zu nehmen. „Das Papier" (so Mallarmé im Vorwort dieses Gedichts) unterbricht immer wieder die Aufeinanderfolge der sprachlichen Segmente, die, am Faden einer einzigen, schon mit dem Titel einsetzenden Satzkonstruktion aufgereiht werden. 47 „Mobilité" ist hier mehr denn je dominierendes Strukturmerkmal eines Textes, der wiederum darauf angelegt ist, die „subdi4 3 Vgl. , / i l conducteur latent", S. 4 5 5 ; und „l'omniprésente Ligne espacée de tout point à tout autre pour instituer l'idée", S. 648. 4 4 S. 654, 45 Der Text des Prosagedichts S. 4 5 7 f f . 46 S. 4 5 5 . 47 ib.
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visions prismatiques de l'Idée" in einer „mise en scène spirituelle exacte" zu erfassen. 4 8 An die Stelle der Texteinheit des Verses tritt jetzt, wie Mallarmé hervorhebt, die Einheit der Seite, für die er ausdrücklich eine „vision simultanée" postuliert. 4 9 Bezeichnend in diesem Sinne ist, daß Mallarmé zunächst für die erste Ausgabe der „Cosmopolis" eine einzelne Seite, dann aber für die von ihm bis zu seinem Tode ( 1 8 9 8 ) betreute endgültige Fassung eine doppelt so große Fläche, nämlich je eine Doppelseite, als Einheit wählte. 5 0 Aber auch die Wahl dieser Einheit beruhte im Grunde nur auf einer buch- und drucktechnischen Notwendigkeit. Seiner inneren Tendenz und Struktur nach hätte man sich diesen T e x t auf einer einzigen weißen Fläche angeordnet zu denken, so daß alle möglichen Zuordnungen mit einem Blick zu erfassen wären: der T e x t als ein perpetuum mobile in der Flächenhaftigkeit der Lektüre. 51
48 ib. 49 S. 455: „ . . . une vision simultanée de la Page: celle-ci prise pour unité comme l'est autre part le Vers ou ligne parfaite". Die neue Textstruktur bringt also zwangsläufig neue Einheiten (d.h. Zeichengrenzen) mit sich: an die Stelle des Verses tritt die Seite. Bedeutung und Funktionalität dieser neuen Einheit und der Anordnung von bedruckter und unbedruckter Fläche wurden früh erkannt. So sagte z.B. Paul Claudel: „Ce rapport entre la parole et le silence, entre l'écriture et le blanc, est la ressource particulière de la poésie et c'est pourquoi la page est son domaine propre, comme le livre est plutôt celui de la prose . . . C'est cette importance de la page, c'est cette idée du rapport nécessaire entre le contenu poétique et son contenant matériel, entre ce plein et ce vide, qui avait inspiré à Stéphane Mallarmé l'idée de sa dernière oeuvre, de ce grand poème typographique . . . "; Paul Claudel, Œuvres en prose, Paris 1965, (Pléiade), S. 7 6 - 7 8 . Hervorhebung von Claudel. 50 Vgl. Œuvres Compl., S. 456, Anmerkung. Zum Gedicht gibt es eine bereits umfangreiche Spezialliteratur, auf die hier nicht einzugehen ist; jedoch sei hingewiesen auf die grundlegenden Untersuchungen von R. G. Cohn, L'Œuvre de Mallarmé. Un coup de dés, Paris 1951, und: Mallarmés Masterwork. New Findings, Den Haag/Paris 1966. 51 Dieses späte Gedicht Mallarmés ist ein wichtiges, aber keineswegs das einzige oder älteste Vorbild für die flächenhaft-typographischen Techniken der modernen „visuellen Poesie"; vgl. dazu die Literaturangaben auf S. 36f., Anm. la. Der Gedanke des „perpetuum mobile" erscheint bezeichnenderweise als Titel eines Gedichtbandes von Pierre Garnier (Paris 1968), eines der bedeutendsten französischen Vertreter des „spatialisme". 133
VI. BECKETT - EIN MISSVERSTÄNDNIS
1. Sprache der Lyrik — Sprache des Romans Tout su tout blanc corps nu blanc un mètre jambes collées comme cousues. Lumière chaleur sol blanc un mètre carré jamais vu. Murs blancs un mètre sur deux plafonds blanc un mètre carré jamais vu. Corps nu blanc fixe seuls les y e u x a peine. Traces fouillis gris pâle presque blanc sur blanc. Mains pendues ouvertes creux face pieds blancs talons joints angle droit. Lumières chaleur faces blanches rayonnantes. Corps nu blanc fixe hop fixe ailleurs. Traces fouillis signes sans sens gris pâle presque blanc. Corps nu blanc fixe invisible blanc sur blanc. Seuls les yeux à peine bleu pâle presque blanc. Tête boule bien haute yeux bleu pâle presque blanc fixe face silence dedans. Brefs murmures à peine presque jamais tous sus. Traces fouillis signes sans sens gris pâle presque blanc sur blanc. Jambes collées comme cousues talons joints angle droit. 1
Der Leser, der sich in Anbetracht der verzweifelten Lektüre dieses Prosatextes fragt, worin eigentlich Kunst und Aufgabe des Prosaschriftstellers bestehe, wird nur an wenigen Stellen eine so klare und eindeutige Antwort finden wie in Jean Paul Sartres bekanntem Traktat über Literatur. 2 Sartre unterscheidet grundsätzlich zwischen der Domäne des Lyrikers und der des Prosakünstlers. Während er dem ersteren konzediert, daß er eine von Kommunikations- und Darstellungszwängen freie, ganz auf sich selbst gerichtete, selbstzweckhafte Sprache, ein „langage-objet" verwendet, bestimmt er demgegenüber die Sprache der Kunstprosa als „wesentlich zweckgebunden", als „langage-instrument" im Sinne des von ihm geforderten politisch-ideologischen Engagements. 3 Und während Sartre, wie bereits erwähnt, für die lyrische Sprache eine komplexere Bedeutungsstruktur einschließlich der besprochenen Semantisierungseffekte und ikonischen Merkmale gelten läßt, 4 fordert er für die Kunstprosa ausdrücklich die denotativ-eindeutige Bedeutungsfunktion der natürlichen Sprache: „La prose est utilitaire par essence; je définirais volontiers le prosa1 2 3 4
Vgl. Samuel Beckett, Bing, in: Têtes-Mortes, Paris 1967, S. 6 1 - 6 6 ; das Zitat dort S. 61. Vgl. Qu'est-ce que la littérature? in: Situation II, Paris 1 9 4 8 , S. 5 5 - 3 3 0 . Vgl. I.e., S. 6 3 ff. Zum ikonischen Charakter lyrischer Sprache vgl. insbes. Le. S. 6 5 - 6 8 .
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teur comme un homme qui se sert des mots . . . L'écrivain est un parleur: il désigne, démontre, ordonne, refuse, interpelle, supplie, insulte, persuade, insinue . . . L'art de la prose s'exerce sur le discours, sa matière est naturellement signifiante: c'est-à-dire que les mots ne sont pas d'abord des objets, mais des désignations d'objets. Il ne s'agit pas d'abord s'ils plaisent ou déplaisent en eux-mêmes, mais s'ils indiquent correctement une certaine chose du monde ou une certaine notion". 5 Offensichtlich beantworten Sartres Ausführungen die Frage nach dem Wesen der Prosa, wie Barthes treffend bemerkt, lediglich „von außen her"; 6 seine Antwort in Sachen Kunstprosa ist nicht von der Beobachtung des fraglichen Objekts, sondern von politischen Zielvorstellungen her bestimmt. Vor allem in zwei Punkten sind Zweifel angemeldet: einmal hinsichtlich der Annahme einer grundsätzlichen strukturellen und funktionalen Verschiedenheit der Kunstsprache der Lyrik und der Prosa; zum andern hinsichtlich der Charakteristik der Kunstprosa als einer begrifflich-exakt denotierenden Sprache. Die genau gegenteilige Position zu der Sartres wird von Maurice Blanchot eingenommen. Blanchot geht wie Sartre von der Existenz zweier „Sprachen", nämlich einer praktischen Umgangssprache und einer Kunstsprache, aus: il suffit de rappeler qu'à coté du langage comme valeur d'échange pratique, on suppose une autre forme de langage qui ne tend pas à une action, qui n'est pas déterminé par un sens et qui, plutôt que le substitut commode d'une idée ou d'un objet, est une somme d'effets physiques et de possibilités sensibles".7 Diese Kriterien der poetischen Sprache werden nach Blanchot durch die Lyrik Mallarmés in exemplarischer Weise erfüllt, von dem er feststellt: „Mallarmé, plus profondément qu'aucun autre, a conçu le langage non pas comme un système d'expression, intermédiaire utile et commode pour l'esprit, qui veut comprendre et se faire comprendre, mais comme une puissance de transformation et de création, faite pour créer des énigmes plutôt que pour les éclaircir".8 Im Unterschied zu Sartre aber fordert Blanchot die gleichen Poetizitätsmerkmale auch für die Sprache der Kunstprosa. Vom Romanautor stellt Blanchot fest: „Le romancier a un tout autre destin que de se faire comprendre, ou plutôt il a à faire saisir ce qui ne peut être entendu dans le langage inauthentique quotidien"; und weiter: „Lui demander alors que son ouvrage ait en toutes ses parties un sens défini et certain pour un autre que lui, c'est peut-être lui demander ce qu'il fera". 9 Auch die Kunstprosa ist also nach Blanchot als 5 6 7 8 9
l.c., S. 70. Essais critiques, París 1964, S. 107. M. Blanchot, Faux pas, Paris 1943, S. 168. l.c., S. 199. l.c., S. 202.
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eine sekundäre Sprache zu verstehen, ein „langage essentiel", 1 0 wie Blanchot i auch sagt, der in Funktionen und Leistungen sich deutlich von dem „langage inauthentique" bzw. dem „langage banal" der Alltagssprache abhebt. 1 1 Für eine derart strukturierte, durch die Abwesenheit eines bestimmten Sinnes gekennzeichnete Prosa sieht Blanchot auch rezeptionsästhetisch ähnliche Wirkungen voraus, wie sie im vorhergehenden für den Leser der Lyrik Mallarmés beobachtet wurden. Vom Prosawerk sagt Blanchot: „II existe par lui-même, et cette existence, aussi rigoureuse, aussi nécessaire que possible, est la seule signification qui soit exigible de lui. S'il persiste au delà de la pensée qu'on en a, il est parfait. Le lecteur se sent désespéré et ravi par ce livre qui ne dépend pas de lui, mais duquel il dépend de la manière la plus souveraine, dans une relation qui met son esprit et son être en danger". 1 2 Maurice Blanchot ist sich aber zugleich darüber im klaren, daß eine solche in ihrer referentiellen und denotierenden Funktion eingeschränkten und damit auch als Gesamtsystem transformierten „Sprache" auch in ihrer äußeren Form ganz anders aussehen wird als die natürliche Sprache, d.h. daß sie auf den Leser einen Eindruck der Verfremdung und der Desorientierung macht und ihn „provoziert". „ L a vraie langue du roman", so führt Blanchot weiter aus, „s'appauvrit et se dessèche. Elle semble perdre à la fois son corps et son âme . . . Elle est là, à titre d'avertissement, pour provoquer le lecteur, grâce à un pouvoir inanalysable . . . " 1 3 Und dann, 1942/43 niedergeschrieben, ein erstaunlicher, eine Entwicklungstendenz moderner Prosa vorwegnehmender Satz: „Une langue qui périt peut parfaitement être un jour reconnue comme nécessaire par un romancier un peu scrupuleux". 1 4 Damit ist gesagt, daß ein aufmerksamer Romanautor eines Tages die Notwendigkeit verspüren könnte, sein Werk nicht mehr wie traditionell üblich auf dem mehr oder weniger unversehrten System der natürlichen Sprache, sondern vielmehr auf der Basis eines verformten bzw. destruierten Systems einer Einzelsprache zu errichten. Blanchots Satz beinhaltet die Einsicht in die Möglichkeit, daß die Wirkung und Funktionalität der sekundären Sprache der Kunst gerade auf der „Zerstörung" der primären Sprache 10 „ L e langage poétique lui [au p o è t e ] semble associé à une possibilité qui non seulement corrige et efface les valeurs du discours journalier mais correspond à ce qu'est le langage dans son essence, à sa capacité de nommer les choses, d'exprimer notre nature dans son fond. Ce langage essentiel embrasse toute l'étendue de l'expression: il va de la parole au silence . . . " , l.c., S. 169. 11 „ . . . cela signifie que la poésie et le discours, loin de constituer des moyens subordonnés, des fonctions très nobles, mais soumises, sont â leur tour un absolu dont le langage banale ne peut même apercevoir l'originalité"; S. 200. 12 l.c., S. 203. 13 S. 203f. 14 l.c., S. 204.
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beruhen kann. Blanchot sieht einige Züge einer solchen Prosakunst bei James Joyce verwirklicht; er weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß der künftige Autor dieser Prosa mit gleichen Problemen konfrontiert werden würde wie Mallarmé.15 Das Prosawerk Samuel Becketts, das im folgenden kurz analysiert werden soll, bestätigt die Vermutungen Blanchots vollauf. Die Prosa Becketts veranschaulicht in der Tat, daß das sekundäre System künstlerischer Prosa sich gerade dadurch neue Zeichenelemente und Zuordnungsmöglichkeiten verschaffen kann, daß es das System der natürlichen Sprache mehr oder weniger verformt, ja teilweise geradezu zerstört. Es veranschaulicht die Tatsache, daß das systemhafte Funktionieren der sekundären Kunstsprache nicht identisch ist mit dem systemhaften Funktionieren der als Material gewählten Sprache. Disfunktion und Destruktion im Bereich des primären Systems haben keineswegs die gleichen Erscheinungen im sekundären System zur Folge — sie sind im Gegenteil Ausweis für die relativ hohe Autonomie der Zeichen künstlerischer Sprache. Mehr noch als das Werk Joyces ist dasjenige Becketts auf einem „langage qui périt" gebaut — gerade aber wegen der hierin realisierten extremen Möglichkeiten kann Becketts Werk grundsätzlich Eigenschaften der Kunstsprache verdeutlichen. Dabei wird sich im folgenden u.a. erweisen, daß Sartres Definition der Kunstprosa keine grundsätzliche Gültigkeit beanspruchen darf, wohl aber diejenige Blanchots, der in ihr ebenso ein übersprachliches System sah wie in der Lyrik. Und es wird sich, was die Autoren Mallarmé und Beckett angeht, in der Tat zeigen, daß sie in mehr als einer Hinsicht vor gleichen und ähnlichen Problemen gestanden haben. Bei beiden Autoren haben demzufolge auch rezeptionsästhetische Überlegungen entscheidendes Gewicht. Indes zeigt das Beispiel Becketts deutlicher noch als dasjenige Mallarmés, daß aus einer normbrechenden Handhabung der natürlichen Sprache folgenschwere Mißverständnisse und Fehlinterpretationen resultieren können. Ich beginne daher mit einem Blick auf die Rezeption Becketts in der neueren Literaturkritik.
15 ib.
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2 . Zur Rezeption Becketts
Die Geschichte der Beckett-Rezeption während der letzten zwanzig Jahre ist symptomatisch für eine weitgehende Unklarheit hinsichtlich der besonderen Zeichenverhältnisse des sprachlichen Kunstwerks. Sie belegt die weitverbreitete, hartnäckige Tendenz der Literaturkritik, die Sprache der Dichtung mit der Sprache gleichzusetzen, die als Material verwendet wird, und illustriert beispielhaft, wie problematisch es ist, Dichtung implizit oder explizit am noch dazu schwer konkretisierbaren Standard einer Einzelsprache (Norm-, Alltags-, Umgangs-, Gemeinsprache) zu charakterisieren und zu interpretieren. In der ständig anschwellenden Sekundärliteratur zu Beckett gibt es eine Feststellung, die in unterschiedlichen Formulierungen, im Kern aber unverändert immer wieder vorgetragen wurde und wird, nämlich die Feststellung vom Zerfall, der Auflösung, der Zerstörung der Sprache bei Beckett. Wesentlich beigetragen zur Verbreitung dieses Topos der Beckett-Kritik hatte die Dissertation von N. Gessner mit dem bezeichnenden Titel „Die Unzulänglichkeit der Sprache. Eine Untersuchung über Formzerfall und Beziehungslosigkeit der Sprache bei Samuel B e c k e t t " . 1 6 Gessner, der sowohl Prosa- wie auch Theaterwerke Becketts untersucht, verwendet keinen Gedanken darauf, daß sprachliche Elemente im Rahmen einer Dichtung einen anderen Status haben könnten als in der Sprache des Alltags und versucht statt dessen, anhand einiger Textbeispiele nachzuweisen, daß mit Becketts Werk der „Untergang des sprachlichen Ausdrucks" 1 7 gekommen sei. Gessner faßt seine Beobachtungen in einem 10-Punkte-Katalog zusammen, wonach sich, kurz zusammengefaßt, folgendes Bild ergibt: Die Sprache bewirkt bei Beckett keinerlei Verständigung mehr. Das Wort ist gleichbedeutend mit Mißverstehen. Dementsprechend findet im Gespräch auch keine Begegnung statt; sprechen ist monologisieren. Die Sprache ist nicht mehr „lebendig", sondern zu „toten Formeln erstarrt". Statt in Mitteilung von Gedanken besteht Sprache nur noch im Ausstoßen „primitiver Sprachfragmente". Die Sprache, hebt Gessner hervor, hat jede Beziehung zur Wirklichkeit verloren; 16 Zürich, 1957. 17 I.e., S. 44.
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es gelingt ihr nicht mehr, Wirklichkeit darzustellen. Die vergebliche Suche des „adäquaten Worts" fuhrt zu sinnloser Häufung der Wörter sowie zur Reihung von Synonymen und offenbart so den „sprachlichen Leerlauf. Auch durch Überbetonung wird die Unzulänglichkeit des Wortes sichtbar. Das alles aber führt zum „Untergang des begrifflichen Denkens" in einem „Wortchaos". Als letzten Punkt fügt Gessner hinzu, daß der Zerfall der „gliedernden, ausdrucksvollen Interpunktion" die „Entwertung des Wortes" vollständig mache.18 Es soll nicht bestritten werden, daß Gessner mit diesen Beobachtungen einige Merkmale der Prosa Becketts durchaus erkannt hat. Es trifft zu, daß diese Prosa nicht der Kommunikation (im gewöhnlichen Sinne) dient, daß sie weitgehend „monologisch" ist und den Bezug zur äußeren Wirklichkeit weitgehend aufgegeben hat. Entscheidend ist hier allein Perspektive und Maßstab der Bewertung dieser Merkmale. Gessner tritt nämlich nicht deskriptiv an den ästhetischen Befund der Prosa Becketts heran, sondern betrachtet diesen von vornherein unter normativem Gesichtspunkt, nämlich am Parameter der Leistungen und Funktionen der vertrauten, durch Grammatik und Logik regulierten Sprache des täglichen Bedarfs. Er beschreibt nicht, sondern bewertet. Und da Becketts Prosa bis hinab zur Interpunktion kaum noch etwas (außer dem Material der verwendeten Wörter) mit dem System und der Norm 19 der natürlichen Sprache gemeinsam hat, kommt es zu einem durchgehenden Negativ-Katalog. Alle Kriterien Gessners sind negativ. Sie gipfeln in der Feststellung der Entwertung des Wortes und des Untergangs des begrifflichen Denkens. Gessner unterscheidet nicht zwischen Sprache und Kunstsprache. Die Regeln der ersten müssen nach ihm auch für die zweite gelten. Und jede Veränderung, Abweichung von System und Norm der natürlichen Sprache erscheint in dieser Sicht als ein „Ungenügen". Die normative Haltung führt übrigens Gessner so weit, daß er, um die Sprache vor weiterem Verfall zu bewahren, als Prototyp und Musterbeispiel einer vernünftigen, verstehbaren und deskriptiv leistungsfähigen Sprache die Prosa ausgerechnet Saint Exupörys vorschlägt.20 Die von Gessner entwickelten Gesichtspunkte sind später oft wiederholt worden. Ein paar Beispiele für viele. So stellt etwa Zeltner-Neukomm fest: „Das Ungenügen der Sprache ist ein pathetisches Thema des 20. Jahrhunderts
18 Vgl. Gessner, passim und insbes. den zusammenfassenden 10-Punkte-Katalog auf S. 71f. 19 Wir meinen System und soziale Norm der Sprachverwendung im Sinne Coserius, vgl. oben S. 2 2 - 2 4 . 20 Vgl. das Kapitel „Die neue Formulierung der Welt durch Antoine de Saint-Exupéry" bei Gessner, I.e., S. 1 1 5 - 1 2 1 .
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. . . Aber erst bei Beckett ist dieses Thema in keiner Weise herauszulösen". 21 In einer späteren Publikation geht sie noch weiter und formuliert: „Sein [Bekketts] ganzes Prosawerk verbirgt hinter dem scheinbar und vordergründig Formlosen ein genau organisiertes, subtil verästeltes Widerstandsnetz gegen die Sprache und zwar - da es keine andere gibt — aus eben der Sprache gewoben, die er sabotiert." 22 Ein anderer Kritiker spricht ebenfalls von „Sabotage gegen die Sprache" und stellt fest: „Der Schriftsteller kann auf die Unzulänglichkeit der Sprache auf zweierlei Weise reagieren. Er kann versuchen, sie zu überwinden oder zu überspielen, oder aber er weist deutlich auf sie hin, klagt sie an, indem er bis an den Rand geht. Beckett wählt den zweiten Weg". 23 Und weiter: „Wenn das Wort versagt, gibt es fast keinen Ausweg mehr". 2 4 Auch in einer vor kurzem erschienenen Gesamtdarstellung des französischen Romans der Gegenwart steht der Abschnitt über die Sprache Becketts ganz unter dem Gedanken der „Unzulänglichkeit der Sprache", der zugleich den Titel des Kapitels liefert, und an anderer Stelle ist die Rede vom „machtlosen Wort" Becketts und des Nouveau Roman überhaupt. 25 Solche und ähnliche Äußerungen durchgeistern fast die gesamte Sekundärliteratur zu Beckett. Doch Beckett errichtet kein „Widerstandsnetz" gegen die Sprache; er klagt sie, d.h. die natürliche Sprache, nicht an und er sabotiert sie auch nicht — wie könnte er auch. Sein Ziel war vielmehr, eine Kunstsprache eigener und unverwechselbarer Art zu erstellen, und dazu war es, gemäß der von ihm ins Auge gefaßten Kunstrichtung notwendig, von System und Norm der natürlichen Sprache weitgehend zu abstrahieren. Die so entstehende neue Sprache läßt sich jedoch, wie im folgenden zu belegen sein wird, kaum mit dem Klischee der „Unzulänglichkeit der Sprache" oder des ,.machtlosen Wortes" charakterisieren. Mit dieser unangemessenen Betrachtungsweise der Kunstprosa unter dem Gesichtswinkel der natürlichen Sprache hängt ein weiteres Mißverständnis der Beckett-Kritik zusammen. Man ist es von der normalen Sprache gewöhnt, daß sie in der Lage ist, Wirklichkeit zu beschreiben und darzustellen. Hinzu kommt, daß man auf eine lange Tradition der Kunstprosa zurückschauen kann, in der Beschreiben und Darstellen äußerer Wirklichkeit eine wesentliche, oft dominierende Rolle gespielt hat. Beides, die Anlehnung an die Norm der natürli21 G. Zeltner-Neukomm, Das Wagnis des französischen Gegenwartromans, Reinbek 1960, S. 149. 22 Die eigenmächtige Sprache. Zur Poetik des Nouveau Roman, Olten/Freiburg 1965, S. 122. 23 K. Schoell, Das Theater Samuel Becketts, Freiburg 1967, S. 32. 24 I.e., S. 33. 25 W. Wehle, Französischer Roman der Gegenwart. Erzählstruktur und Wirklichkeit im Nouveau Roman, Berün 1972, S. 88 und 223.
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chen Sprache und an die Norm der traditionellen Darstellungs- bzw. Wiedergabeästhetik führte viele Kritiker Becketts dazu, ihm einen weiteren Punkt als Negativum anzukreiden, der in Wirklichkeit ein innovatorisches Positivum darstellt, nämlich die Tatsache, daß diese Prosa, wie Gessner richtig sah, den Bezug zur Wirklichkeit lockert bzw. aufgibt. Beispielhaft ist in dieser Hinsicht die Dissertation von U. Dreysse, „Realität als Aufgabe. Eine Untersuchung über Aufbaugesetze und Gehalte des Romanwerks von Samuel Beckett". 26 Obwohl Dreysse einleitend vom Ende der realistischen Ära und der Entwicklung der neueren Prosa handelt, ordnen sich doch ihre Untersuchungen, wie bereits der Titel andeutet, ganz der einen Perspektive unter, daß es nämlich irgendwie und letztlich doch Aufgabe des Romans sei, Realität darzustellen. Dementsprechend durchforscht Dreysse nun das gesamte Prosawerk Becketts in der Absicht, trotz allem doch noch Reste einer wenn auch noch so fragmentarischen Darstellung zu finden. In diesem Sinne kann sie sogar den relativ späten Roman „Comment c'est" (1961) noch unter dem Aspekt der „Wiederentdeckung einer elementaren Wirklichkeit"27 sehen, obwohl sie zu dem gleichen Roman dann schließlich feststellen muß: „Selbst die Dinge, einzige Gewißheit und Inbegriff von Wirklichkeit und Sein, entziehen sich dem Zugriff des Erzählers. . . " 2 8 Dreysse, die sich auch den Topos von der Unzulänglichkeit der Sprache zu eigen gemacht hat, steht trotz gewisser Einschränkungen und Modifikationen im Grunde fest auf dem Boden einer für Beckett inadäquaten Wiedergabeästhetik. So kann es denn auch nicht ausbleiben, daß ihre Ergebnisse, ähnlich wie die Gessners, durchgehend negativ sind: sie werden im Schlußkapitel unter den Kategorien der „Negation", der „Elimination und Reduktion", sowie der „Non-Finalität und Approximation" zusammengefaßt. 29 Es war das Verdienst der Dissertation von Manfred Smuda, vor einigen Jahren die von der Kritik in darstellungsästhetischer Hinsicht explizit oder implizit verwendeten Kategorien einer kritischen Prüfung unterzogen zu haben. 30 „Die Beckett-Iiteratur der letzten zehn Jahre", stellt Smuda treffend fest, „läßt eine Grundtendenz von Textverständnis sichtbar werden, das seine Kategorien unter dem Zwang einer Ästhetik der Tradition aufstellt, ohne deren Anwendbarkeit auf ein neues literarisches Faktum geprüft zu haben." 31 Mit Recht sieht Smuda die Unangemessenheit der bisherigen Beckett-Interpretationen in einem Textverständnis begründet, „das den idealistischen Formbe26 27 28 29 30 31
Frankfurt 1967. I.e., S. 142ff. S. 163. Vgl. das Kapitel „Ergebnisse", S. 1 6 6 - 1 8 9 . M. Smuda, Becketts Sprache als Metasprache, München 1970. I.e., S. 14.
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griff der Repräsentation von Wirklichkeit auf die moderne Dichtung anzuwenden versucht". 32 Fast immer aber, wenn dichterische Sprache unter dem Gesichtspunkt der Wiedergabe von Wirklichkeit betrachtet und bewertet wird, liegt neben der Orientierung an traditioneller Ästhetik bewußt oder unbewußt auch eine Anlehnung an die Norm der durchschnittlichen Sprachverwendung (Gemeinsprache) vor, bei der wir einen funktionierenden Bezug zur äußeren Wirklichkeit, die referentielle Komponente der Sprache, ebenso voraussetzen wie das gewohnte Funktionieren im Rahmen zwischenmenschlicher Kommunikation (die konative und phatische Funktion im Sinne Jakobsons). 33 Will man von dem Ausfall bzw. der Reduktion dieser Funktionen bei Beckett auf eine Unzulänglichkeit schließen, so charakterisiert man damit dessen Prosa auf der Ebene der von praktischen Kommunikations- und Darstellungszwängen belasteten Umgangssprache. Becketts Kunstsprache kann jedoch nur in der Perspektive einer Freisetzung von pragmatischen Zwängen gewürdigt werden. übrigens scheint mir die Bezeichnung „Metasprache", die Smuda für Becketts Prosa vorschlägt, nicht die glücklichste zu sein. Zwar enthalten die Kunstsprachen Mallarmes, Becketts und vieler anderer, vor allem moderner Autoren mehr oder weniger auch metasprachliche Elemente, doch kann der Terminus „Metasprache" der Vielschichtigkeit und Gefügehaftigkeit dieser Kunstsprachen nicht gerecht werden. Wie ist Becketts Prosa im einzelnen gebaut?
32 ib. 33 Zu den Funktionen Jakobsons oben, S. 4f.
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3. Becketts Prosa als Kunstsprache
Eines der unübersehbaren Merkmale der Prosa Becketts sind die häufigen ironischen Hiebe auf die sprachregulierenden, normativen Systeme wie Grammatik, Stilistik und Rhetorik. So unterbricht etwa Molloy seinen konfusen „Bericht" über sein Erlebnis mit einem Polizisten, indem er plötzlich einwirft: „Je parle au présent, il est si facile de parier au présent, quand il s'agit du passé. C'est le présent mythologique, n'y faites pas attention". 3 4 Als Parodie auf das stilistische Bemühen um die Wahl der geeigneten Erzählzeit und zugleich als Hinweis auf die Stil- und Zeitlosigkeit der hier waltenden Kunstsprache muß etwa die folgende Bemerkung Molloys gewertet werden: „Ma vie, ma vie, tantôt j'en parle comme d'une chose finie, tantôt c o m m e d'une plaisanterie qui dure encore, et j'ai tort, car elle est finie et elle dure à la fois, mais par quel temps du verbe exprimer cela?" 3 5
An anderer Stelle fällt der Satz: „II est peut-être déjà trop tard" — woran Molloy folgende Bemerkung knüpft: „C'était en latin, nimis sero, je crois que c'est du latin. C'est gentil, les impératifs hypothétiques". 3 6
An wieder anderer Stelle etwa die generelle Verurteilung aller Stilfiguren: „Ou que j'exprime sans tomber aussi bas que dans l'oratio recta, mais au moyen d'autres figures, toutes aussi mensongères, comme par exemple ,11 me semblait que' o u J'avais l'impression que' etc. car il ne me semblait rien du tout et je n'avais aucune impression d'aucune sorte . . . " 3 7
Bemerkungen dieser Art — die Belege ließen sich stark vermehren — beleuchten schlagartig den Abstand, den die Kunstsprache Becketts von normalem Sprachgebrauch gewonnen hat, der weitgehend den konventionellen Regelnder Grammatik, des Stils bzw. der Rhetorik unterworfen ist. Hier wird bereits 34 35 36 37
Molloy, ed. 1 0 / 1 8 , Paris 1963, S. 33. I.e., S. 46. S. 115. S. 116.
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eine Tendenz der Beckettschen Prosa sichtbar, die sich am besten mit den Worten des „Unnennbaren" zusammenfassen ließe: „Ce qu'il faut éviter, j e ne sais pourquoi, c'est l'esprit de système". 3 8 Es ist im Grunde diese schon hier sichtbar werdende Abkehr Becketts von jeder systemhaften, normorientierten Domestizierung von Sprache, die ihm immer wieder den Vorwurf der Zerstörung, der Sabotage von Sprache eingetragen hat. Doch eben diese Abkehr von konventionellen und vertrauten Systemen gestattet es Beckett, ein autonomes und originelles, d.h. modellbildendes System einer sekundären Sprache zu verwirklichen. Dabei ist die ironische Distanz, die diese Sprache zu konventioneller Regelhaftigkeit gewinnt, nicht nur als Distanz zu normalem Sprechen, sondern, wie die zitierten Beispiele bereits verdeutlichen, auch als Distanz zu traditioneller Erzählprosa zu verstehen. Als Beispiel dafür sei eine der unzähligen kleinen Episoden zitiert, die der „Unnennbare" im Laufe seiner unermüdlichen sprachlichen Tätigkeit vorträgt und der er den Titel „L'émotion" verleiht: Ils s'aiment, se marient, pour mieux s'aimer, plus c o m m o d é m e n t , il part à la guerre, il meurt à la guerre, elle pleure, d'émotion, de l'avoir aimé, de l'avoir perdu, hop, se remarie, pour aimer encore, plus c o m m o d é m e n t encore, ils s'aiment, on aime autant de fois qu'il le faut, qu'il le faut pour être heureux, il revient, l'autre revient, il n'est pas mort à la guerre, après tout, elle va à la gare, il meurt dans le train, d ' é m o t i o n , à l'idée de la retrouver, elle pleure, pleure encore, d'émotion encore, de l'avoir perdu encore, hop, retourne à la maison, il est m o r t , l'autre est mort, la belle mère le détache, il s'est pendu, d'émotion, à l'idée de la perdre, elle pleure, pleure plus fort, d'émotion, de l'avoir aimé, de l'avoir perdu, en voilà une histoire, c'était pour que je sache ce que c'est que l'émotion, ça s'appelle l'émotion, ce que peut l'émotion, données des conditions favorables, ce que peut l'amour, alors c'est ça l'émotion, ce que c'est que les trains, le sens de la marche, les chefs de trains, les gares, les quais, la guerre, l'amour, les cris déchirants . . . " , 3 9
Nur einen Augenblick lang mag es scheinen, als solle die Geschichte eines Heimkehrers bzw. einer Frau zwischen zwei Männern erzählt werden. Rasch löst sich der anfangs noch bestehende Zusammenhang in einem Wirbel hektisch hervorgestoßener, asyndetischer Satzkola auf; in den folgenden Zeilen verliert der „Erzähler" bald vollends den Faden und wendet sich anderen, ebenso vagen „ T h e m e n " zu. Offensichtlich hat man es nicht mit einer Erzählung, sondern mit einer Parodie des Erzählens zu tun. Es ist reine Ironie, wenn der Unnennbare wenig später räsonniert: „En voilà une histoire, j e les croyais finies, toutes oubliées, elle est peut-être nouvelle, toute fraîche, est-ce le retour au monde fabuleux, non, seulement un rappel. . . " , 4 0 Nein, eine Rück3 8 L'Innommable, Les Editions de Minuit, Paris 1 9 5 3 , S. 9. 3 9 I.e., S. 1 9 9 f . 4 0 S. 2 0 1 .
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kehr in die Welt des Erzählens ist den Helden Becketts für immer verstellt; kaum mehr als eine vage Erinnerung ist ihnen davon geblieben. Die autonome Kunstsprache dieser Texte ist offensichtlich aus jeder deskriptiven und referentiellen Funktion im normalsprachlichen Sinne entlassen. Die Maxime des „éviter l'esprit de système" ist in einem doppelten Sinne wirksam geworden: in einer Verformung bzw. Reduktion der natürlichen Sprache ebenso wie in der Auflösung der logisch-kausal aufbauenden Erzählsystematik. Die hier vollzogene Abkehr vom normalen Gebrauch der natürlichen Sprache zeigt sich unübersehbar darin, daß diese Prosa sich neue Einheiten geschaffen hat: anstelle der normalen Folge gegliederter Sätze finden wir eine dichte und ununterbrochene Folge kleiner und kleinster Kola, in deren rhythmischer Unruhe jeder Zusammenhang zu versickern scheint. Eine verfremdende Interpunktion, die offensichtlich andere Funktionen hat als in der normalen Sprache, hält diese Gliederung in kleinste Segmente ununterbrochen und ohne jede weitere Einteilung über Hunderte von Seiten aufrecht. Nicht minder stark aber ist die vertraute Systematik des Erzählens verändert worden: an die Stelle wirklichkeitsgetreuen Darstellens sind ein paar subjektive, parodierende Reminiszenzen an ein nicht mehr zu rekonstruierendes Ereignis getreten. Gleiches läßt sich auch in „Malone meurt", dem zweiten Roman der Trilogie (1951), beobachten. Alles, was Malone in diesem Roman „erzählt", die Geschichte der Familie Saposcat, der Louis, die Geschichte von Macmann und von Lemuel, all diese Erzählfragmente vermeiden jeden konkludenten Wirklichkeitsbezug. Sie bewegen sich auf der Ebene einer, wie Beckett sagen würde,,,nicht-logischen Darstellung von Phänomenen" und erfassen diese, ohne sie „in die Verständlichkeit zu verzerren" und ohne sie „in eine Kette von Ursache und Wirkung zu zwängen". 41 Was Beckett mit dieser Prosa einlöst, ist die schon im ProustEssay theoretisch begründete Absage an „die groteske Täuschung der realistischen Kunst — dieser erbärmlichen Festlegung von Linie und Oberfläche und die zeilenschinderische Vulgarität der Literatur der Beschreibungen". 42 Nicht Festlegung, sondern Offenheit, so lautet, generell gesagt, die Maxime von Becketts Ästhetik. „Inutile de se raconter des histoires" 43 — so weiß es der Unnennbare und mit ihm alle Helden der Trilogie; ein Grundsatz übrigens, 41 Diese Formulierungen verwendet Beckett zur Bestimmung des Proustschen „Impressionismus": „Mit seinem Impressionismus meine ich seine nicht logische Darstellung von Phänomenen in der Reihenfolge und Genauigkeit ihrer Wahrnehmung, bevor sie in die Verständlichkeit verzerrt wurden, um in eine Kette von Ursache und Wirkung gezwängt zu werden"; vgl. Samuel Beckett, Proust, Zürich 1960, S. 71. Diese Kriterien sind auch deswegen auf die Prosa Becketts anwendbar, weil Beckett in seinem Essay - trotz des Titels - weitgehend in eigener Sache handelt. 4 2 I.e., S. 63. 4 3 L'Innommable, S. 166.
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der weitgehend dem Mallarméschen „éviter le régit" 44 entspricht. Nein, Realität ist gewiß nicht die Aufgabe dieser Prosa. Es ist dem Kritiker also leicht gemacht, Becketts Kunst mit negativen Kategorien zu beschreiben: keine normale Sprache, kein Erzählen von Geschichten, keine Realität (jedenfalls keine äußere) — und man kann diesen Gesichtspunkt sehr leicht ausbreiten, indem man je nach Neigung die Destruktion der sprachlichen Kommunikation, des Individuums oder der Gesellschaft oder gar der ganzen modernen Welt hervorhebt. Dafür gibt es in der Sekundärliteratur zu Beckett reichlich Belege. Man muß sich aber der Tatsache bewußt sein, daß man damit nicht den Kern von Becketts Ästhetik und seines Kunstschaffens trifft. Diesen Kern beschreibt man besser positiv. Das kann bereits das soeben zitierte Fragment der Heimkehrerepisode verdeutlichen. In diesem Textbeispiel wird sicherlich etwas destruiert bzw. verformt: einmal die gesellschaftlich etablierte Norm der Sprache, zum andern das systematische, normale Erzählen. Die so entstehende sekundäre Kunstsprache jedoch, die erst auf dem Boden der Reduktion traditioneller und konventioneller Elemente sich entfalten kann, bietet für sich betrachtet keineswegs ein negatives Bild. Sie wird in dem zitierten Text keineswegs destruiert, sondern kreiert: frei von pragmatischen Zwängen (Kommunikation, Information) und frei von jeder darstellerischen Last im Dienste der Mimesis der äußeren Welt, geht sie aus den Trümmern der „Geschichte" hervor. Beckett wählt, wie schon angedeutet, für seine Prosa neue Einheiten: kurze, oft extrem kurze rhythmische Kola und als nächst höhere Einheit einen „Satz", der allerdings wie derjenige Mallarmés nicht mehr mit dem Satz der natürlichen Sprache zu verwechseln ist. So führen z.B. die Segmente, die die „Heimkehrerepisode" einleiten (,41s s'aiment, se marient. . . "), von Anfang an ein ungewöhnlich starkes, rhythmisch-dynamisches Eigenleben; in einer als Willkür erscheinenden Freiheit des Setzens fragmentarisieren sie den erzählerischen Anlauf. Gegen Ende der zitierten Stelle werden die Kola noch kürzer, der Rhythmus noch eigenwilliger (und für normales Erzählen zerstörender). Bezeichnend ist, daß dieser „Satz" buchstäblich aus der „Geschichte" (oder ihren Fragmenten) heraus- und davonläuft. Die Texteinheit, an deren Beginn das zitierte Fragment einer Erzählung steht, erstreckt sich insgesamt über gut eineinhalb Seiten. Im Normalfall traditioneller Prosa dienen mehrere Sätze dem Erzählen einer Geschichte — hier aber umfaßt ein einziger Satz, der einer neuen Ordnung entstammt, mehrere erzählerische bzw. thematische Ansätze, ohne sie jedoch auszuführen. Diese Kunstsprache ist autonom; sie setzt sich selbst und ist ihr eigenes Maß. Sie ist kaum noch durch grammatische, pragmatische oder traditionell-ästhetische Zwänge 44 CEuvres Compl., S. 455.
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festgelegt und begründet, sondern begründet sich selbst und zugleich die Struktur des Textes. Es ist eine sekundäre, modellbildende Sprache. Mit der Prozeßhaftigkeit und Autonomie der Sprache Becketts hängt ein weiteres Spezifikum dieser Prosa zusammen, auf das näher einzugehen ist, und das zu ähnlichen Beobachtungen führt, wie sie schon bei Mallarmé gemacht wurden. Das vielleicht auffallendste Merkmal der Beckettschen Prosa ist das ständige Setzen und Aufheben einer Aussage, der Wechsel von Behauptung und Verneinung. 45 Der folgende Satz, mit dem der Unnennbare zu Beginn des gleichnamigen Romans über die Abfassung seiner Niederschrift (die nach der Fiktion des Textes den Roman „L'Innommable" bilden wird) meditiert, mag uns dieses Merkmal vor Augen führen: „Ces choses que je dis, que je vais dire, si je peux, ne sont plus, ou pas encore, ou ne furent jamais, ou ne seront jamais, ou si elles furent, ou si elles sont, ou si elles seront, ne furent pas ici, ne sont pas ici, ne seront pas ici, mais ailleurs". 4 6
Der Satz wird eröffnet mit einer Aussage, die sich auf zwei Daten erstreckt „Ces choses, que je dis", d.h. es gibt Dinge, und sie werden von einem Ich ausgesagt. Jede der beiden Aussagen wird nun durch die folgenden 13 meist sehr kurzen Satzglieder Schritt für Schritt relativiert und schließlich in einen Schwebezustand völliger Ungewißheit überführt. Der zunächst konkret angekündigte Akt des Sagens gewisser Dinge („Ces choses que je dis") wird zunächst futurisch als reine Projektion abgeschwächt: „que je vais dire" — aber auch diese Projektion wird ihrerseits grundsätzlich abhängig gemacht von einem potentiell einschränkenden „si je peux". Auch die zunächst als gewiß ausgesagten Dinge „Ces c h o s e s . . . " werden relativiert. Zunächst wird gesagt, daß sie nicht mehr da s i n d , , , . . . ne sont plus". Damit wird ihre Präsenz geleugnet, aber immerhin von ihrer Existenz so viel belassen, daß sie in der Vergangenheit einmal da waren. Das folgende Satzglied hebt aber auch diese Modalität auf: „ou pas encore", d.h. die besagten Dinge werden wieder in eine unbestimmte Zukunft entrückt. Dann wird die zuvor gemachte Einschränkung „ne sont plus" d.h. der Verweis auf die vergangene Existenz, ihrerseits aufgehoben durch die Alternative „ou ne furent jamais"; und ebenso die Möglichkeit eines künftigen Seins („ou pas encore") nunmehr radikal verneint: „ou ne seront jamais". Nun aber werden, unter satzrhythmischer Beschleunigung, 45 Vgl. W. Iser, Der implizite Leser, S. 253f.: „Die Satzkonstruktion dieses und der folgenden Romane [gemeint sind die 3 Romane der Trilogie Becketts: Molloy (1951), Malone meurt ( 1 9 5 1 ) und L'Innommable ( 1 9 5 3 ) ] besteht vielfach aus deutlich gegeneinander versetzten Verläufen . . . Wie immer die Entgegensetzung im einzelnen auch beschaffen sein mag, der beinah unaufhörliche Wechsel zwischen Behauptung und Negation bleibt das Kennzeichen der sprachlichen Textur in allen drei Romanen." 46 I.e., S. 24.
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alle Möglichkeiten, getrennt nach Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in einem hypothetischen si-Satz noch einmal durchgespielt: „ o u si elles furent, ou si elles sont, ou si elles seront"; und diese Möglichkeiten dann in der gleichen Reihenfolge in jeder konkretisierbaren Präsenz verneint: ,/ie furent pas ici, ne sont pas ici, ne seront pas ici". Hervorzuheben ist einmal die Tatsache, daß alle Relativierungen, Glied für Glied, ihrerseits nochmals relativiert werden dadurch, daß sie als Alternativen vorgetragen werden. Ein reihendes, die Satzkola strukturierendes ou-ou-ou hält sie alle in einer schwebenden Gleichwertigkeit. 47 Und das zweite: Auch das Schlußglied des Satzes bringt trotz des einleitenden „mais" keinerlei präzise Aufschlüsse über den Verbleib der zuvor in ihrer Präsenz abgerückten Dinge. Stand im vorangehenden eine negative, wenn auch konkrete Aussage: „pas ici", so heißt es nun in völliger räumlicher Unbestimmtheit: „mais ailleurs". Alles wird in eine unverbindliche Ferne gerückt — aber doch, und darin liegt ein weiterer wichtiger Punkt, keineswegs verneint. Der zweite mit „ou si" eingeleitete Satzteil entrealisiert zwar die Dinge, zieht sie insbesondere aus der unmittelbaren Gegenwart heraus, hebt sie aber nicht völlig auf, sondern läßt die Möglichkeit ihres Daseins bestehen: „ou si elles f u r e n t . . . ne furent pas i c i . . . mais ailleurs". Dinge werden benannt, leuchten einen Augenblick lang in den Facetten vergangenen, gegenwärtigen oder zukünftigen Vorhandenseins auf, um sogleich in die Schwebe eines „ A n d e r s w o " zu entschwinden. Ein gleich dichtes, weil meist aus kurzen Satzkola geflochtenes N e t z schwebender Relativierungen überzieht, wie der Unnennbare es in dem besprochenen Satz selbst ankündigt, die gesamte Niederschrift des namenlosen Helden, d.h. den ganzen Romantext. Der Grad der Relativierung der einzelnen aneinander und gegeneinander gesetzten Sätze oder Satzglieder reicht dabei von minimalen, fast an Wiederholung grenzenden Differenzierungen des Typs: „Moi que voici, moi qui suis i c i . . . ", 4 8 , j e ne vois rien d'autre, j e ne vois plus rien" 4 9 bis hin zur schroffen Antithese: „Ici tout est clair. Non, tout n'est pas clair"; 5 0 „je veux dire qu'il me vît ou qu'il ne me vît pas"; 51 „Un poméranien je crois, mais je ne crois pas". 5 2 Auch im folgenden Textbeispiel pendeln die gegenläufigen Schläge der einander relativierenden Satzglieder zwischen zwei nahezu identischen Satzkola am Beginn und einer antithetischen Fügung am Schluß: 47 Zu diesem bei Beckett häufigen „ o u " - bemerkt U. Dreysse treffend: ,, . . . die ,oder' führen immer wieder zu einer neuen Verzweigung und machen jede zugreifende Feststellung unmöglich", vgl. Realität als Aufgabe, S. 53. 48 L'Innommable, S. 24. 49 Ib., S. 172. 50 Ib., S. 12. 51 Molloy, S. 12. 52 Ib., S. 13.
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Moi que voici, moi qui suis ici, que ne peux pas parler, ne peux pas penser, et qui dois parler, donc penser peut-être un peu, ne le peux seulement par rapport à moi qui suis ici, à ici où je suis, mais le peux un peu, suffisamment, je ne sais pas comment, il ne s'agit pas de cela, par rapport à moi qui fus ailleurs, qui serai ailleurs, et à ces endroits où je fus, où je serai. Mai je n'ai jamais été ailleurs, usw. 53
Daß diese syntaktischen Pendelschläge auch — meist durch Verkürzung der einzelnen Kola — hektischer verlaufen und zugleich stärker gegeneinander versetzt werden können, mag ein letzter Textausschnitt veranschaulichen: si c'est moi qui cherche, trouve, perds, retrouve, reperds, cherche encore, ne trouve plus, ne cherche plus, cherche encore, trouve encore, perds encore, ne cherche plus, si c'est moi ce que c'est et si ce n'est pas moi, qui c'est, et ce que c'est, usw.
Wie bei Mallarmé einzelne Wörter, so geraten hier die einzelnen, aufeinander folgenden Segmente rasch aus einem festen, grammatischen Bezugsrahmen. Mag dieser in den ersten Satzgliedern dem Leser noch präsent bleiben, in der 53 L'Innommablp, S. 24f. Typographische Anordnung bei diesem und dem folgenden Textbeispiel von Verf. 54 I.e., S. 171.
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Aufeinanderfolge der zahlreichen mehr oder weniger sinnwidrigen, nie ganz harmonisierenden Segmente geht Eindeutigkeit unweigerlich verloren. 55 Das gilt gerade im Hinblick auf den meist weit überdurchschnittlichen Umfang der Sätze, der besonders in „Malone meurt" und in „L'Innommable" zu beobachten ist. Der zuletzt zitierte Text ist z.B. nur ein winziger Ausschnitt aus einem ,?Satz", der in der zitierten Ausgabe nicht weniger als achteinhalb Seiten umfaßt. Es ist einer der längsten des Romans; viele sind wesentlich kürzer, einige umfassen sogar nur wenige Wörter; im Durchschnitt sind sie jedoch spürbar länger als Sätze „normaler" Prosa, und dabei durchgehend in kleine und kleinste rhythmische Glieder zerlegt. In Becketts Trilogie, und zwar vor allem in den beiden letzten Romanen, hat die äußerlich noch intakt scheinende Interpunktion weitgehend ihre ursprüngliche regulierende und grammatisch gliedernde Funktion verloren. Es kommen hauptsächlich zwei Zeichen vor, die nahezu funktionsgleich gebraucht werden: Komma und Punkt. Beide Zeichen dienen dazu, die einzelnen, einander relativierenden Satzglieder voneinander abzutrennen. Es spielt in den meisten Fällen keine wesentliche Rolle, ob etwa zwei Glieder innerhalb eines Satzes durch ein Komma oder das letzte und eiste Glied zweier angrenzender Sätze durch einen Punkt voneinander getrennt werden: die Pendelbewegung der gegeneinander versetzten Glieder bleibt erhalten, weder syntaktisch noch sinngemäß wird eine abgrenzende Eindeutigkeit erreicht. Punkt und Komma haben segmentierende Funktion; auf das Fragmentarisieren des Textflusses kommt es an, nicht auf eine grammatisch logische Untergliederung. Die Setzung des Punktes erscheint oft willkürlich. Oft werden kleine Sätze in die Satzgefüge aufgenommen, ohne als solche gekennzeichnet zu werden. Nicht selten sind Fügungen des Typs: „ . . . puis on se raconte n'importe quoi, en disant, Ce ne sont plus des histoires, alors que ce sont toujours des histoires... " 5 6 Hier wird die (gedachte) wörtliche Rede nur durch die große Initiale des ersten Wortes gekennzeichnet, im übrigen wird dieser Satz jedoch, ebenso wie die übrigen Glieder, lediglich durch zwei Kommata abgegrenzt. Es entfallen Doppelpunkt, Anführungszeichen und Punkt. Eine nivellierende Interpunktion fügt diesen Satz ebenso ein wie die übrigen Satzglieder. In diesen Zusammenhang gehört auch die Beobachtung, daß es im „Innommable" mit Ausnahme der einleitenden Seiten keine Absätze gibt. Nach dem letzten Absatz auf Seite 29 läuft die Prosa dieses Romans 55 U. Dreysse, I.e., S. 54, beschreibt diesen Vorgang im Blick auf „Molloy" so: „Verwirrt taucht der Leser aus der Lektüre dieser Gebilde auf - für deren Bau das Satzmodell: Affirmation - Einschränkung oder Gegenbehauptung - Präzisierung - Präzisierung und ein In-den-nächsten-Satz-Hinüberreichen typisch sind , ohne sich orientieren zu können, ohne das Bewußtsein zu haben, Bescheid zu wissen oder zumindest einer endgültigen Erfahrung Schritt für Schritt entgegenzugehen". 56 Ib., S. 163.
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ohne Unterbrechung durch bis zum Schluß. Die Satzgrenze hat keine Bedeutung mehr - auch die nicht seltenen eingeschobenen Fragen ändern den merkwürdig schlingernden, gegen Schluß spürbar hektischer werdenden Fluß dieser Prosa nicht. Der taumelnde, in kleinsten Segmentierungen hin und her schwankende Gang dieser Prosa läßt in keinem Augenblick die Gewißheit eines Sinnes, sondern nur das Bewußtsein eines sich wechselseitig aufhebenden Spiels von Sinnmöglichkeiten aufkommen. Was der Namenlose in seiner Niederschrift festhält, ist auf keinen Sinn hin festlegbar, sondern spiegelt lediglich das Funktionieren seines Geistes und ähnelt damit jener „vibration", in der Mallarmé das Wesen des Geistes sieht. Wir tun Becketts Intentionen keinen Abbruch, wenn wir die Prosa dieses Romans in Anlehnung an Mallarmés Formulierung als sprachliche Fixierung der „cercles vibratoires de notre pensée" verstehen. Darstellung des Geistes als sprachliche Tätigkeit, als unruhevolles Schweben zwischen unendlichen Möglichkeiten, als „suspens vibratoire". Die Sprache dieses Romans läßt ebensowenig wie die des Mallarméschen Gedichts ein konkretes Bezugnehmen auf die Wirklichkeit zu, sie gestattet nach dem Willen ihres Schöpfers keine Festlegung auf klare Linien und Konturen. Der Text ist, wie der Mallarmés, gegen den Strich herkömmlicher Darstellungsästhetik, gegen eine „Festlegung von Linie und Oberfläche" geschrieben. 57 Wie im engeren Kontext der Satzsegmente, so bleibt auch im Gesamtumfang des Romans der Sinn schwebend. So oft auch der Namenlose mit dem Gedanken spielt, eine Geschichte („une histoire", „une chose") zu erzählen, so kommt es doch bei ihm noch weniger als zuvor bei Molloy und Malone zu größeren gefügten Sinnzusammenhängen, und selbst der einzige Bezugspunkt dieser Prosa, das sprechende Ich, ist nur in vagen, verschwimmenden Umrissen zu erahnen. 58 Becketts Sprache verläuft, ähnlich wie die Mallarmés, gegen die Erwartung des grammatisch Üblichen, der gewohnten, sprachlich-logischen Gliederung. Die Norm der Grammatik wird bei Beckett überspielt durch den Gestaltungszwang einer Kunst, die auf Wiedergabe eines logisch nicht Faßbaren, nicht Beschreibbaren gerichtet ist, nämlich auf die Bewegung des Geistes selbst. Nicht auf Mimesis der Wirklichkeit, sondern mit Mallarmés Worten auf Wiedergabe der „sinueuses et mobiles variations de l'Idée". 59 57 Beckett, Proust, S. 63. 58 Von dieser Beobachtung gehen die Versuche aus, die Trilogie Becketts als Darstellung des Identitätsproblems bzw. der Identitätssuche zu deuten. Man übersieht dabei o f t die Tatsache, daß auch unter philosophischem Aspekt die Prosa Becketts eine Einengung auf einen Gehalt nicht zuläßt. Beckett äußerte dazu: „Wenn sich der Gegenstand meiner Romane in philosophischen Begriffen ausdrücken ließe, hätte ich keinen Grund gehabt, sie zu schreiben" (nach G. D'Aubarède, „En attendant Beckett", in: „Nouvelles littéraires" vom 16.2.1961, S. 7; zitiert nach K. Birkenhauer, Samuel Beckett in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Hamburg 1971, S. 8). 59 Œuvres Compi., S. 648.
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Die sekundäre Kunstsprache Mallarmés und Becketts ist gekennzeichnet durch eine „entregelte" Syntax, d.h. durch ein System neuer Einheiten und neuer Zuordnungen. Beckett segmentiert seinen Text in Satzglieder, die in den meisten Fällen mehrere, oft in „normaler" Folge und Anordnung erscheinende Wörter umfassen, setzt aber dann die einzelnen Segmente so gegeneinander, daß das beobachtete Schweben des Nicht-zum-Sinn-Kommens eintritt. Mallarmé, im engen Raum von ein oder zwei Sätzen operierend, arbeitet auch mit dem Versetzen von einzelnen Satzgliedern, geht aber zur Erreichung des sinnhemmenden Verfremdungseffekts anders vor: er isoliert einzelne Wörter, löst sie aus ihrer normalen syntaktischen Fügung und verpflanzt sie in eine fremde, „unlogische" Umgebung. 60 Aus der Lockerung der logisch nicht festlegbaren Beziehungen resultiert die Vielzahl der Deutungsmöglichkeiten. Bei Beckett wird das Verfremden, das „Stammeln" („balbutiement") der Sätze vor allem auch durch deren Länge sowie durch die Dauer des sprachlichen Pendeins im Romanganzen erreicht, in dessen Verlauf jeder logische und grammatische Zuordnungsversuch scheitert. Gemeinsam ist der Sprache beider Autoren, daß sie jeden direkten Bezug zur Wirklichkeit meidet, jeder deskriptiven Festlegung entgegenwirkt, der Entstehung eines bestimmten Sinns und damit auch rezeptionsästhetisch dem Nachvollzug eines aufzufassenden Sinnes entgegengerichtet ist. Eine solche Kunstsprache, die sich nur in ihrer Form darbietet, jeden Sinn in ihre Sprachform zurücknimmt, nannte Beckett „unmittelbaren Ausdruck" bzw. „eine Form mit strenger, innerer Bestimmung". Eine der wenigen Stellen, an denen sich der wortkarge Ire über das Verhältnis Form-Inhalt mit einer gewissen Ausführlichkeit geäußert hat, ist der frühe Traktat „Dante . . . Bruno. Vico . . . Joyce". 6 1 Zu Joyces „Work in Progress" bemerkt Beckett folgendes: „Wenn wir uns dem „Work in Progress" zuwenden, sehen wir, daß der Spiegel gar nicht so konvex ist. Hier haben wir Seiten und Seiten unmittelbaren Ausdrucks. Und wenn Sie es nicht verstehen, meine Damen und Herren, dann deshalb, weil Sie zu dekadent sind, um es aufzunehmen. Sie sind nicht zufrieden, wenn die Form nicht so scharf vom Inhalt getrennt ist, daß Sie den einen begreifen können, fast ohne sich die Mühe zu geben, die andere zu lesen. Die6 0 D o c h sind auch bei Beckett die Fälle nicht selten, in denen ein einzelnes Wort durch syntaktische Mittel isoliert und verfremdet wird, z.B. dann, wenn die durch Interpunktion abgetrennten Satzsegmente auf den Umfang eines Wortes zusammenschrumpfen. Vgl. das Textbeispiel auf S. 150. 61 Der Traktat erschien bereits 1 9 2 9 , doch ist an der engagierten Ernsthaftigkeit dieser Abhandlung nicht zu zweifeln - im Unterschied zu den häufig zitierten späteren Interview-Äußerungen, in denen sich Beckett fast immer launisch, karg und ablehnend gibt. Die deutsche Übersetzung des Traktats in: Samuel Beckett, Stücke, Kleine Prosa, Auswahl in einem Band, Frankfurt a.M., 1967, S. 9 - 2 9 .
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ses schnelle Abschäumen und Verschlingen der dünnen Sahneschicht des Sinns wurde durch das, was ich einen fortwährenden Prozeß reichlicher intellektueller Speichelbildung nennen möchte, ermöglicht. Die Form, die ein willkürliches und unabhängiges Phänomen ist, kann keine höhere Aufgabe als die eines Anreizes für einen dritt- oder viertkonditionierten Reflex tröpfelnden Verständnisses erfüllen". 62 Kein Zweifel, daß mit diesen Sätzen Grundlagen der Ästhetik Becketts formuliert sind, die dieser in den folgenden Jahren zwar weiterentwickelt, aber im Grundsätzlichen nicht mehr verändert hat. Becketts engagierter Eifer wendet sich gegen eine Trennung von Sinn und Form, die es ermöglicht, einen Sinngehalt zu konsumieren, ohne auf Form zu achten. Das schnelle „Verschlingen der dünnen Sahneschicht des Sinns" ist in allen Romanen möglich, die auf einer „realistischen" Kunstauffassung, auf einer Wiedergabeästhetik traditioneller Prägung fußen. Der leichte Konsum eines Sinngehalts übersieht jedoch gerade das Wesentliche des sprachlichen Kunstwerks: seine Vieldeutigkeit und Offenheit, d.h. die von ihm angebotene Vielfalt möglicher Interpretationen. Aus ähnlichen Überlegungen heraus polemisiert Beckett wenig später in seinem Proust-Essay gegen „die groteske Täuschung der realistischen Kunst — dieser erbärmlichen Festlegung von Linie und Oberfläche — und die zeilenschinderische Literatur der Beschreibungen". 63 Aber noch rund vierzig Jahre später geht Beckett allen Fragen nach dem Sinn seiner Werke aus dem Wege. So notierte Michael Haerdter in seinem Bericht von den Proben der Berliner Aufführung des „Endspiels" (1967): „Die zurückhaltenden Fragen nach dem Sinn des .Endspiels' sind seltener geworden. Becketts beharrliche Weigerung, sie zu beantworten, hat sich hingegen als sinnvoll erwiesen. Seine Figuren geben die Antwort: sie liegt in ihrer so unermüdlichen wie vergeblichen Suche nach dem Sinn". 6 4 An die Stelle des Sinns tritt die Suche nach Sinn. Form, ein „unabhängiges Phänomen", kann „keine höhere Aufgabe als die eines Anreizes für einen dritt- oder viert-konditionierten Reflex tröpfelnden Verständnisses erfüllen". Damit ist man ganz in der Nähe Mallarmes. An die Stelle des Verstehens tritt die Unruhe der Suche, an die Stelle des Sinnes suggestive Form, an 62 I.e., S. 19. An der gleichen Stelle auch eine Bemerkung zum Titel „Work in Progress": „Der Titel dieses Buches ist ein gutes Beispiel für eine Form mit strenger, innerer Bestimmung." 63 Proust, S. 63. 64 Materialien zu Becketts „Endspiel", Frankfurt a.M. 1970 2 , S. 66. Haerdter weist in diesem Zusammenhang auf eine Stelle aus „Play" hin, wo M, eine der drei Gestalten dieses Spiels, sagt: „Ich weiß jetzt, all das war nichts anderes als . . . Spiel" (Samuel Beckett, Auswahl in einem Band, S. 322). In der von Beckett selbst besorgten französischen Übersetzung ist „play" allerdings mit „comedie" wiedergegeben, vgL Comedie et actes divers, Paris 1966, S. 23.
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die Stelle des Inhalts vielfältig gebrochene Reflexe, mobilisiert durch das Aneinanderstoßen sinnwidrig bzw. sinnhemmend versetzter Formteile. 6 5 Auch die Poetik Becketts fußt somit auf rezeptionsästhetischen Überlegungen. Man kann ein Gedicht, aber auch einen Roman so rezipieren, daß man einen Sinn abliest, ohne auf die Form zu achten. Sowohl Mallarmé wie Beckett erzwingen die Aufmerksamkeit des Lesers für ihre Kunstsprache, indem sie den Sinn in die Form zurücknehmen, in einem radikalen Sinne „Form und Inhalt untrennbar" machen. „Lecture désespérée" auch diejenige Becketts! Der Leser wird mit einer merkwürdig zerklüfteten, ineinander verkeilten Sprachform konfrontiert, in der das Auge, kleine und kleinste Sinnreflexe haschend, in quälender Unruhe umherirrt, ohne im Labyrinth der Fragmente den Faden eines verifizierbaren Sinnes zu erblicken. Die Texte beider Autoren deroutieren den Leser, sie halten sich in der Schwebe des Sowohl-als-auch, sie gestatten kein Wiedererkennen. Mallarmés „Parier n'a trait à la réalité des choses" 6 6 findet bei Beckett ein Echo in Sätzen wie „Dire, c'est inventer", 6 6 3 „Parier il n'y a que ç a " 6 7 und „Tout se ramène à une affaire de paroles, il ne faut pas l'oublier", 6 8 oder in Becketts Abneigung davor, einen T e x t „in die Verständlichkeit zu verzerren". 6 9 Die Kunstsprache beider Autoren will nur Impuls, nur Anreiz sein, sie ist etwas Prozeßhaftes, „zitternd vor Unruhe nach anderen Möglichkeiten", 7 0 sie ist „work in progress". Doch wozu dient die Lektüre dieser Texte? Mallarmé, der sich die Frage nach dem Zweck der „lecture désespérée" auch stellte, beantwortete sie mit den Worten: „A un j e u " . 7 1 Wir müssen das auch für Becketts Prosa akzeptie6 5 Gerade hier drängt sich die Parallele zur bildenden Kunst auf. Vgl. dazu das skurrile, aber für Beckett ungemein bezeichnende Gespräch zwischen Beckett und G. Duthuit über Bram van Velde, in dem sich Beckett gegen die Tendenz wehrt, in der Malerei „nach Kräften möglichst viel oder möglichst wahr oder möglichst schön auszudrücken": „Andere haben gemerkt, daß Kunst nicht notwendigerweise Ausdruck ist . . . Ich möchte sagen, daß Bram van Velde der erste ist, dessen Malerei des Anlasses in jeder Gestalt und F o r m , sowohl des ideellen als auch des materiellen, beraubt oder, wenn Sie wollen, entledigt ist, und der erste, dessen Hände nicht durch die Gewißheit gebunden sind, daß Ausdrücken eine unmögliche Handlung ist", vgl. Samuel Beckett, Auswahl in einem Band, S. 1 0 8 . 6 6 Œ u v r e s Compi., S. 3 6 6 . 6 6 a Molloy, S. 4 0 . 67 Nouvelles et T e x t e s pour rien, Les Editions de Minuit, Paris 1 9 5 8 , S. 1 3 9 . 6 8 Diesen und weitere Belege für die jeden äußeren Wirklichkeitsbezug überspielende Sprachaktivität der Helden Becketts bei L. Janvier, Beckett par lui-même, Paris 1 9 6 9 , S. 1 3 1 f . 6 9 Proust, S. 7 1 . 7 0 Ich übersetze damit Mallarmés „palpite d'impatience, à la possibilité d'autre c h o s e " . S. 6 4 7 . 71 Œ u v r e s Compi., S. 6 4 7 : „Strictement j'envisage . . . la lecture c o m m e une pratique
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ren, wo die Metapher des „Spiels" nicht selten anzutreffen ist. Spiel ist die Tätigkeit aller drei Helden der Romantrilogie. Mit tickhaftem Insistieren hebt es vor allem Malone zu Beginn seines Romanwerks hervor: „C'est un jeu maintenant, je vais jouer. J e n'ai pas su jouer jusqu'à présent . . . Maintenant ça va changer, je ne veux plus faire autre chose que jouer. Non, je ne vais pas c o m m e n c e r par une exagération. Mais je jouerai une grande partie du temps, dorénavant, la plus grande partie, si je p e u x " . 7 2
Und noch einmal, drei Seiten später, kategorisch: „II faut jouer maintenant". 73 Der Leser muß diesem Imperativ folgen, wenn er die Kunstsprache dieser Romane nachvollzieht, eine.Sprache, die jedes Erzählen schon im Ansatz unterläuft, jeden aufscheinenden Sinn zurücknimmt. Wozu aber dieses Spiel? Auch unter diesem wirkungsästhetischen Aspekt ergibt sich für Mallarmé und Beckett eine im wesentlichen übereinstimmende Antwort. Denn wenn schon nicht die Sprache selbst, so hat doch das „Spiel" mit ihr seinen „Sinn". Der Nachvollzug einer sinnwidrigen, nur in Reizen, Impulsen wirksamen autonomen Kunstsprache setzt im Leser eine Fülle von Wahlmöglichkeiten frei, wie dies durch keine logische, an der Verständlichkeit festgemachte Sprache möglich wäre. Im vibrierenden Aktualisieren von Sinnmöglichkeiten erfährt der Leser — in der Fiktion der Dichtung — eine Freiheit, in deren Unruhe sich das Funktionieren des Geistes spiegelt. Nur dichterische Sprache, Fiktion, kann diese Unruhe freisetzen: „La fiction . . . semble être le procédé même de l'esprit humain". 74
désespérée . . . ce semble que l'épars frémissement d'une page ne veuille sinon surseoir ou palpite, à la possibilité d'autre chose . . . A quoi sert cela - A un j e u . " 7 2 Malone meurt, S. 9f. 7 3 Ib., S. 13. 7 4 Mallarmé, Œ u v r e s Compi., S. 8 5 1 .
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SCHLUSSBETRACHTUNG
Versteht man Geist als Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem, so läßt sich Dichtung als eine Aktivität begreifen, in der diese Relation ein höchstes Maß an Freiheit, Vielfalt und Beweglichkeit erreicht. 1 Jede natürliche, geschichtlich gewordene Sprache stellt ein System von Konventionen dar, das eine begrenzte Zahl von größtenteils willkürlichen Zeichen nach akzeptierten Regeln verwendet. Das konventionelle System der Sprache, die wir von Kindesbeinen an erlernen und gebrauchen, übt, wie viele Autoren mehr oder weniger empfunden haben, einen schwer zu überschätzenden Einfluß auf unser Denken aus, indem es die geistigen Prozesse regularisiert und kanalisiert. 2 Konventionell geprägte Sprache erweist sich zu kaum mehr fähig, als die praktischen Bedürfnisse des täglichen Lebens zu befriedigen; sie ist, wie Valéry formuliert, „in der Regel wenig geeignet, die Stadien eines Denkens auszudrücken, das sich vom praktischen Lebensbezug entfernt: sie taugt kaum zu tieferen und präziseren Zwecken als denen, die die Handlungen des alltäglichen Lebens bestimmen". 3 Aus diesem Dilemma entstehen die Fach- und SpezialSprachen, darunter auch die Kunstsprache der Literatur. 4 Die in der Kunstsprache als einer „neuen Sprache" angestrebte, durch eine größere Mobilität in Auswahl, Zuordnung und Begrenzung der Zeichen gekennzeichnete Freiheit der Kombinatorik ist in der Lage, auch die nicht konventionalisierten und nicht registrierten Prozesse des Denkens wiederzugeben, ja sie kann, wie die Formulierungen Mallarmés nahelegen, direkt als Ausweis und Abbild der Prozeßhaftigkeit des Geistes verstanden werden. Das Unbehagen moderner Autoren an Zeichen und System der natürlichen Sprache faßte Valéry in der kategorischen Feststellung zusammen: „Nous pensons, nous écrivons dans un langage auquel nous ne cro-
1 2 3 4
„Esprit est relation entre signes et choses signifiées"; so Paul Valéry in den Cahiers, ed. J. Bordeneuve, A. Maurois et Cl. Valéry, Paris 1957 ff., Bd. 20, S. 45. Paul Valéry sagt davon: „ . . . il régularise tout le mécanisme mental, dont il est en somme une classification . . . "; vgl. Cahiers, I.e., Bd. 3, S. 308. Paul Valéry, Œuvres, Bd. I, S. 657. So auch Valéry an der zuvor zitierten Stelle: „De là naissent les langages techniques, et parmi eux, la langue littéraire". 157
yons plus". 5 Aber auch für ältere Autoren gilt, wie das Beispiel Dantes zeigte, zumindest grundsätzlich, daß sie auf der Suche nach Möglichkeiten sind, ihren Ausdruck gegenüber dem System der natürlichen Sprache funktional zu erweitern und zu semantisieren. Die sich letztlich für alle ergebende Frage wie denn diese neue Sprache aufzubauen sei,6 hat indes jeder Autor für sich beantworten müssen. Wie unterschiedlich diese Antworten ausfallen können, dafür haben die vorstehenden Kapitel eine Reihe von Beispielen gebracht. Nachdem einleitend gezeigt worden war, daß die Analyse- und Beschreibungsversuche der Linguistik bzw. Textlinguistik, die sich ausschließlich oder doch maßgebend am primären System der natürlichen Sprache orientieren, im konkreten Applikationsversuch auf dichterische Texte mehr oder weniger unbefriedigend bleiben, wurde im zweiten Teil des ersten Kapitels zunächst theoretisch der „translinguistische" Status des dichterischen Textes abgeleitet. Grundlage dafür ist die Feststellung, daß das „Material" der Dichtkunst grundsätzlich anderer Natur ist als die Materialien anderer Künste. So gebrauchen etwa Bildhauerkunst und Malerei in Steinen und Farben einfache, ungeformte Materialien, Rohstoffe im eigentlichen Sinne, während das Material der Dichtung durch eine gegebene natürliche Einzelsprache, d.h. durch ein funktionierendes, komplexes Zeichensystem gestellt wird. Die Sprache der Dichtung ist stets eine auf und über dieser Grundlage sich erhebende sekundäre Kunstsprache, also ein sekundäres System, das die Zeichen des primären neu kombiniert und zuordnet. Die Funktionen dieser sekundären Kunstsprache sind nicht nur grundsätzlich andere, sondern auch wesentlich reichere und vielfältigere als die der natürlichen Sprache. Diese zusätzliche Semantisierung und Funktionalisierung entsteht u.a. dadurch, daß neben sprachlichen auch außersprachliche Zeichen in das Gesamtsystem der Dichtung integriert werden, so z.B. signifikante Personenkonstellationen, Ereignisse, Handlungen, Gesten usw. in erzählender Dichtung oder im Bühnenstück. Daran schloß sich ein kurzer Ausblick auf neuere Literatur zur Semiotik des literarischen Textes an. A m Beispiel eines Figurengedichts Apollinaires und insbesondere eines Gedichttextes von V . Hugo wurde in Kap. II näher dargelegt, welche außersprachlichen Zeichen und Zuordnungen in das Gesamtsystem einer Dichtung eingehen können. War im Falle des Figurengedichts Apollinaires auf den ersten Blick klar, daß die hier aufgenommene Menge natürlicher Sprache nach außersprachlichen, d.h. in diesem Falle bildhaft-malerischen Verknüpfungen verformt worden war, so zeigte doch auch der eher „normalsprachlich" anmutende T e x t 5 6
Cahiers, ed. J. R o b i n s o n ( P l é i a d e ) , Paris 1973, Bd. I, S. 411. So fragt sich z . B . V a l é r y : „ M a i s c o m m e n t en construire un autre, et c o m m e n t le conc e v o i r ? " ; ib.
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Hugos, wie tiefgreifend hier Zeichen und Kombinatorik der natürlichen Sprache durch außersprachliche (translinguistische) Kombinationen und Zuordnungen verändert wurden, so z.B. durch Metrik, Interpunkton und Typographie. Hervorgehoben wurden u.a. die sich ergebenden neuen Begrenzungen der Zeichen, ihre hierarchisch-flächenhafte Zuordnung, die zu synoptischer Lektüre zwingt, sowie die durch zahlreiche Semantisierungseffekte in allen Schichten des Textes sich ergebende hohe Konnotationsleistung des Textes. Im zweiten und dritten Teil des gleichen Kapitels wurden anhand von Grenzfällen Gewicht und Wirkung außersprachlicher Poetizitätssignale beschrieben. Der Zeichenebene der Personen und Handlungen ist das dritte Kapitel gewidmet. In dessen erstem Teil wurden formalistische und strukturalistische Beschreibungsversuche von Erzähltexten, die von dieser Zeichenebene ausgehen, diskutiert. Zurückgewiesen wurde u.a. der Gedanke, durch eine aus der Analyse einer einzigen unter vielen Zeichenebenen eines Textes gewonnene Formel das Gesamtsystem eines Erzähltextes darstellen zu können. Kritisiert wurde insbesondere die syntagmatisch verfahrende Analyse von Erzähltexten sowie die Tendenz, eine Grundstruktur des Erzählens (etwa in Form einer universal gültigen Erzählgrammatik) als festes ontologisches Objekt zu hypostasieren. Der zweite Teil des Kapitels führte demgegenüber ein hierarchisches Modell eines Erzähltextes vor, das ein wesentlich konkreteres Bild von dessen Vielschichtigkeit und vertikaler Funktionalität entwirft. Kritisiert wurde die diesem Modell zugrundeliegende Voraussetzung eindeutiger Zuordnungen zwischen Zeichen (Textsegmenten) und Funktionen, die das für die Rezeption von Dichtung konstitutive Moment einer Vielzahl möglicher Zuordnungen verkennt. Diese im Lektüre- bzw. Rezeptionsprozeß aktualisierten „gleitenden" Zuordnungen können wohl kaum in einem Modell operationeil dargestellt werden. Das vierte Kapitel war bestimmten Textpraktiken Dantes gewidmet. Beabsichtigt war nicht eine Analyse der Dichtungssprache Dantes insgesamt; vielmehr ging es ausschließlich darum, am Beispiel von Dantes „Commedia" zu zeigen, wie außersprachliche Zeichensysteme — in diesem Falle das signifikante System der christlichen Symbolzahlen sowie das der Substitution von Zeichen dienende Umkodierungssystem der Gematria — in die Kunstsprache einer Dichtung integriert werden können und in welchem Maße sie zur Semantisierung der Zeichen und zur Verdichtung und Vervielfältigung der Funktionen beitragen können. Die wenigen Beispiele aus der Praxis Dantes ließen erkennen, daß es in der Kunstsprache der Dichtung Modi des Zeichengebrauchs und der Zeichenverknüpfung gibt, die am besten unter dem Gesichtspunkt einer „Strategie" beschrieben werden können (vgl. den Katalog „strategischer" Maßnahmen oben S. 109f.). Hervorgehoben wurde in diesem Zusammenhang die Tat159
sache, daß dem Dante-Text — z.B. in Form des Systems der symbolischen Zahlen — korrigierende Kodes beigegeben sind, die die Interpretation des Textes in eine vom Autor intendierte Sinnrichtung zu lenken suchen. Sind die Zeichen in Dantes Dichtung so angelegt, daß sie gleichsam nach innen auf einen einzigen Punkt zustreben, auf den einen christlichen Sinn hin verweisen, so scheinen im Unterschied dazu die Zeichen der späten Dichtung Mallarmés, von denen das fünfte Kapitel handelte, auseinanderzufliehen in eine nicht mehr zu vergewissernde Unruhe und Konvertibilität. Im einzelnen wurde dargelegt, welchen Abstand die Kunstsprache Mallarmés von der konventionellen Sprache des täglichen Gebrauchs gewinnt; in diesem Sinne konnte zu Recht von Mallarmé gesagt werden, daß er eine Spache ausgebildet habe, „die fast ausschließlich die seine war". 7 Die extreme Offenheit und Variabilität der Zuordnungen in diesen Texten sowie die Abwesenheit korrigierender Kodes trägt entscheidend dazu bei, die Lektüre dieser Texte zu einer „verzweifelten Praxis" zu machen. Die Grundstruktur dieser Texte, die mit den Schlüsselbegriffen „mobilité", „Vibration", „balancement" u.a. umschrieben werden kann, sowie die innere oder äußere „Flächenhaftigkeit" dieser Texte erzwingen auf der Rezipientenseite eine synoptische Lektüre und lösen ein „Spiel" möglicher Zuordnungen aus, in deren Unruhe sich die Prozeßhaftigkeit des Geistes widerspiegelt. Ein Blick auf die unterschiedlichen Theorien Jean Paul Sartres und Maurice Blanchots zum Phänomen der Kunstsprache leitete das sechste Kapitel ein, das der Kunstprosa Samuel Becketts gewidmet ist. Blanchots Gedanke, daß auch ein Jangage qui périt" eine Notwendigkeit für einen Romanautor sein könnte, kann auf die Tatsache vorausweisen, daß die Kunstsprachen moderner Prosaautoren, wie z.B. diejenige Becketts, in entscheidenden Punkten auf einer normbrechenden, verformenden, „destruierenden" Handhabung des Materials der natürlichen Sprache aufbauen. Eben diese Tatsache erwies sich als Anlaß eines gerade in der Beckett-Rezeption, aber auch darüber hinaus verbreiteten Mißverständnisses, demzufolge man,uneingedenk der Nichtidentität von Sprache und Kunstsprache, immer wieder versucht war, aus der Tatsache des in den Kunstsprachen zu Kunstzwecken verformten und „destruierten" Materials der natürlichen Sprache auf eine allgemeine Unzulänglichkeit bzw. Untauglichkeit der gegebenen Einzelsprachen, ja sogar auf einen „Untergang des begrifflichen Denkens" im „Wortchaos" zu schließen. Mit der Kritik an dieser im Grunde normativen Einstellung, die das Phänomen der Kunstsprache nicht beschreibt, sondern lediglich am Raster der natürlichen Sprache bewertet, verband sich die Kritik an einer für Beckett ebenfalls inadäquaten traditionellen „Wiedergabeästhetik". Die Kunstsprache Becketts erwies sich als in hohem Maße durch Pro7
Vgl. oben S. 21, Anm. 93a.
160
zeßhaftigkeit und weitgehende Autonomie in der Setzung und Begrenzung der Zeichen bestimmt. Durch Ausklammern bzw. Verändern der für die Normalsprache gültigen Regulierungen (Interpunktion, Grammatik, insbesondere Syntax) entsteht eine Kunstprosa mit neuen Einheiten und schwebenden, „unlogischen" Zuordnungen, deren extreme „ O f f e n h e i t " ähnlich wie diejenige Mallarmés gegen die Festlegung von Linien und Konturen gerichtet ist. Daraus ergaben sich auch rezeptionsästhetisch ähnliche Folgerungen wie für den Leser Mall armés. In der vorliegenden Studie ging es darum, einige Aspekte und Ausschnitte aus der Zeichenkombinatorik poetischer Texte aufzuzeigen. Dabei wurde deutlich, daß die Kunstsprache der Dichtung bei aller Vielgestaltigkeit im einzelnen stets ein janusköpfiges Phänomen bleibt. Paul Valéry hat auch in diesem Punkt richtig gesehen, wenn er sagt: „Un poète use à la fois de la langue vulgaire . . . et du langage qui s'oppose à celui-ci". 8 So bleibt die eine Seite der Dichtung der natürlichen Sprache zugewandt, aus der sie ihr Material schöpft; die andere aber ist ihr abgewandt und ausgerichtet auf den weiten Spielraum theoretisch unendlicher Möglichkeiten der Zeichenkombinatorik. Daß dabei Haltung und Distanz zum Material der benutzten Einzelsprache fast vor Autor zu Autor schwankt, ist evident. Nicht jeder Autor empfand es in gleichem Maße wie Rilke als „Verpflichtung", seine Sprache von der normalen Gebrauchssprache „gründlich, wesentlich zu unterscheiden". 9 Aber im Grundsätzlichen trifft Rilke den Kern der Sache, wenn er hervorhebt, daß kein Wort im Gedicht identisch ist mit dem gleichlautenden Gebrauchswort, ebenso wie etwa Valéry, der wiederholt die Tatsache unterstrich, daß der Dichter sich nicht im System der Umgangssprache, sondern in „einem anderen sehr unterschiedlichen System" bewege. 1 0 Dichtung ist wesentlich „Suche nach einer neuen Sprache", 1 1 Suche nach neuen modi significandi, die in gleicher Weise durch Veränderung wie durch Neuschöpfung von Zeichen aufgebaut werden können. Im Bereich der Dichtung aktiviert und dynamisiert sich der uranfängliche Zeichen trieb des geistbegabten Menschen. „Der Sprache suchende Mensch sucht Zeichen, unter denen er, vermöge der Abschnitte, die er in seinem Denken macht, Ganze als Einheiten zusammenfassen k a n n " , sagt Wilhelm von Humboldt. 1 2 In diesem Sinne ist Dichtung der freieste und an Möglichkeiten reichste Spiel-Raum der Zeichensuche, der Zeichenfindung.
8
Œ u v r e s , Bd. I, S. 6 5 7 .
9
Vgl. o b e n S. 2 1 .
10 „ . . . il ne se m e u t pas dans le s y s t è m e de la langue vulgaire, mais dans un autre système bien d i s t i n c t " ; Œ u v r e s , Bd. II, S. 1 2 6 3 . 11 G u i l l a u m e Apollinaire, vgl. o b e n S. 2 0 . 12 S c h r i f t e n zur S p r a c h e , ed. M. B ö h l e r , S t u t t g . 1 9 7 3 , S. 3 f .
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LITERATURHINWEISE
Nicht alle Arbeiten, die im Text erwähnt wurden, sind im folgenden aufgeführt; umgekehrt sind hier auch einige Arbeiten genannt, auf die im Text nicht verwiesen wurde. Eine lückenhafte, aber doch brauchbare Gesamtbibliographie zu dem hier behandelten Fragenkreis liegt jetzt vor in: A. Eschbach, Zeichen — Text — Bedeutung. Bibliographie zu Theorie und Praxis der Semiotik, München 1974. Abastado, C., Expérience et théorie de la création poétique chez Mallarmé, Paris 1 9 7 0 (Archives des lettres modernes, n ° 1 1 9 ) A m m a n n , H., Die menschliche R e d e . Sprachphilosophische Untersuchungen, D a r m s t a d t 3 1 9 6 9 ( f o t o m e c h . Nachdruck der 1. Aufl. 1 9 2 5 / 2 8 ) Apollinaire, G., OEuvres poétiques, ed. M. Adéma und M. Décaudin, Paris 1 9 6 5 Barthes, R . , Critique et vérité, Paris 1 9 6 6 -
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Mythologies, Paris 1 9 7 0 (zuerst 1 9 5 7 )
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Malone meurt, Paris 1 9 5 1
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Nouvelles et t e x t e s pour rien, Paris 1 9 5 5
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F i n de partie, suivi de A c t e sans paroles, Paris 1 9 5 7
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C o m m e n t c'est, Paris 1 9 6 1
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Têtes-Mortes, Paris 1 9 6 7
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W a t t , Paris 1 9 6 8 (zuerst engl. 1 9 5 3 )
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Proust, Zurich 1 9 6 0 (zuerst engl. 1 9 3 1 )
-
Stücke. Kleine Prosa. Auswahl in einem Band, F r a n k f . 1 9 6 7
163
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INDEX
Abastado, C. 119 Abweichungsstilistik 3 action (bei Barthes) 83ff. additives System 104 adjuvant 75f. Äquivalenz 6 - 8 , 13, 14, 18 Aktant - actant 75f., 8 4 - 8 6 Aktantenkategorien - catégories actantielles 75f. Aktantenmodell - modèle actantiel 76, 86 Akteur - acteur IS Anapher 9 4 , 1 1 0 , 111 Antithese, antithetisch 149f. Antonym 10 Apollinaire, G. 20, 3 5 - 3 7 , 40, 158, 161 Arbiträrietät s. Willkürlichkeit Armstrong, R. P. 68 associatif (bei Saussure) 74 asyndetisch 145 Augustin 97, 112 autoreflexive Botschaft 31, 32 Ballet 123f., s. auch Tanz Balzac, H. de 89 Barbi, M. 97 Barthes, R. 26, 31, 47, 50, 52, 6 5 - 6 7 , 80, 8 2 - 9 1 , 136 Baudelaire, C. 8 Baumgärtner, K. 1 5 - 1 7 Beatrice 9 7 , 9 9 , 1 0 5 - 1 0 8 , 1 1 1 , 113f. Beckett, S. 27, 1 3 5 - 1 5 6 , 160f. B e n n , G . 16 Benveniste, E. 83 Bernard, S. 127 Beziehungsbündel - paquet de relation 72 Bier wisch, M. 9 - 1 1 , 17 Bildhauerkunst 1 8 , 5 3 , 158 Birkenhauer, K. 152
Blanchot, M. 1 3 6 - 1 3 8 , 160 Boccaccio, G. 7 7 - 8 1 Boethius 101 Bond, James 32, 85 Boulez, P. 121 Bram van Velde 155 Brecht, B. 10, 1 6 , 2 7 , 6 2 f . Bremond, C. 33, 86 Bühler, K. 24f. Bühnenbild 27 Bühnendichtung s. Theater Butor, M. 121f. Carmen figuratum 36 Casini-Barbi 106 catalyse (bei Barthes) 85f., 89 Chabrol, C. 33 Chadwick, C. 119 Chassé, C. 1 1 9 , 1 3 1 Chatman, S. 3f., 41 Chomsky, N. 2 , 1 4 , 78 Claudel, P. 133 Code, code s. Kode Codewechsel-Code 44 Cohen, J. 5 5 - 6 1 Cohn, R. G. 133 content (bei Hjelmslev) 50 Coseriu, E. 19, 2 2 - 2 5 , 28, 44, 66, 140 coup de dés 90, 132 Dante, A. 9 1 - 1 1 5 , 1 5 3 , 1 5 8 , 159f. D'Aubarède, G. 152 Deduktion 82 Dekodieren 4 6 , 4 7 , 5 5 , 5 7 , 59, 123 Delà s, D. - Filliolet, J. 40, 48, 56f. Delbouille, P. - Munot, P. 51 DeNardis, L. 118f„ 131 Dencker, K. P. 37 Denotation, denotativ 45, 8 8 , 1 1 1 , 1 2 8 , 1 3 5 f .
169
destinataire 75f., 86 destinateur 75f., 86 Distribution 93ff. di Giovanni, A. 93 Dornseiff, F. 104 Dressler, W. 3 f . , 4 4 Dreysse, U. 142, 149, 151 Dundes, A. 68 Duthuit, G. 155 Eco, U. 15, 3 0 - 3 2 , 47, 66, 81, 1 1 3 - 1 1 5 écriture 84, 87 - corporelle 123f. Eimermacher, K. 68 Ejchenbaum, B. 67 Eluard, P. 58 Emblematik 26 emploi des mots 127f. Entautomatisierung 48 Eröffnungssignal 44 erschwerte Form 48 Erzähleinheit - unité narrative 84ff., 87 Erzählgrammatik - grammaire narrative 65, 75, 77ff. universale - 78, 81, 159 Erzählhaltung 71, 87 Eschbach, A. 33, 163 espacement de la lecture 132 s. auch Flächenhaftigkeit Evokation 25 Evolution (literarische) 67 expression (bei Hjelmslev) 50 fiction 128, 156 Figurengedicht 36f. Filliolet, J. s. Delas Fischer, J. L. 68 Flächenhaftigkeit, flächenhaft 40, 48, 88, 92, 111, 126, 128, 132, 159, s. auch spacieux, spatialisation und espacement Fleming, J. 88 Folklore-Forschung 68 fonction (bei Barthes) 83ff. - cardinale s. noyau Francesca da Rimini 94f., 97f., 114 Freud, S. 61 Friedrich, H. 119, 122 Futurismus 36 Garnier, P. 37, 133 Gary-Prieur, M.-N. 5 1 Gebrauch s. usage
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Gematrie, gematrisch 1 0 3 - 1 0 8 , 1 1 0 - 1 1 5 , 159 generative Grammatik - grammaire générative 3, 14f. Genette, G. 58 Gessner, N. 139f., 142 Ghil, R. 126 gleitende Zuordnungen 89f. Globalisierungsleistung (des Rezipienten) 4 8 , 5 9 , 89 Glossematik 33 Gogol, N. V. 67 Göngora, L. de 119 grammaire universelle s. Erzählgrammatik Grammatikalität 9 Grammatikalitätsstufen 2 Graphie, Schreibweise 87, 95, 105f., 110 Gregorius Magnus 102 Greimas, A . J . 3 3 , 7 5 - 7 7 , 8 4 Grenzen (Begrenzung) der Zeichen s. Zeichengrenzen Grimmelshausen, H. J. C. von 46 Grundfaktoren sprachlicher Kommunikation 4f. Grundordnungsarten sprachlichen Verhaltens 6 - 8 Gülich, E. 44 Gunzenhäuser, R. 9 Haerdter, M. 154 Harris, Z. S. 3 Handlungskreis 70, 75, 76, 84 hasard 126, 132 Heißenbüttel, H. 37 Hell, A. 93 Hellgardt, E. 104, 112 Hierarchie, hierarchisch 7, 30, 51, 52, 80, 83, 87, 89, 91f., 159 Hjelmslev, L. 22, 33, 47, 50, 74 Hopper, V. F. 1 0 4 , 1 1 2 Hugo, V. 3 7 - 5 4 , 55, 59, 63, 158f. Humboldt, W. von 161 Identitätsproblem 152 idéogramme lyrique 36 Idiolekt 31 I h w e . J . 1 , 3 , 4 , 7 , 8 , 12, 15, 17 Impressionismus 146 Index (bei Peirce) 26 indice (bei Barthes) 8 4 - 8 6 , 88f.
lex etgratia 97,111 Induktion 82 lexie 90 Informationsspeicherung 60, 6 2 , 9 0 , 1 2 4 Linearität, linear 51, 56, 69f., 72,76, 77, Ikon, ikonisch, Ikonizität 26, 29f., 40, 53f„ 88,89,91,111,123,128 59, 111,124, 127,135 Lotman, J. M. 25f„ 28, 29f., 32, 40,51, 67 Ikon bei Peirce 26 Malerei 18, 53,158 Interpunktion 42f., 56, 58, 140,146, Mallarmé, S. 21, 45, 117-133, 136-138, 151,153,159, 161 1 4 8 , 1 5 3 - 1 5 6 , 157,160, 161 Intertextualität 11,92 Mauron, C. 119 Intrige 66ff., 74, 80, 91 Meletinskij, E. 68, 71 Iser, W. 119, 148 Menninger, K. 104 Jakobson, R. 4 - 8 , 13f., 17, 26, 31f„ 48, Metasprache, metasprachlich 5 , 7 9 , 142f. 78, 125, 143 Metatext 118 Janvier, L. 155 Metrik 2ff„ 28,41ff„ 51f., 5 4 , 1 2 6 , 1 5 9 jeu 14, 128,130, 155,156 s. auch Spiel Michaud, G. 119 Joyce, J. 138, 153f. micro-univers 75 Kempner, F. 61 Mimesis 147, 152 Klopfer, R. 17f. Koch, W. A. 80 mobilité de l'écrit 123, 1 2 8 , 1 2 9 , 1 3 2 , 1 6 0 Mode 18, 25, 26, 65f. Kode 4, 5, 10,14, 19, 31,44, 89f., 92, Molino, J. 51 112-115, 130f. bereichernder - 114 Motiv, Motivkombinationen 68 korrigierender - 112, 114f„ 130, 160 motivation poétique 58 willkürlicher - 114f. Munot, P. s. Delbouille Kohärenz 3, 4,111 Musik - musique 13f., 18, 53, 127,128 Kohäsion 3 Mythem 7 2 - 7 4 Mythos - mythe 26, 66, 71ff„ 81 Kombination 6, 14,18, 72, 74, 97, 159 narration (bei Barthes) 83f., 87 Komik 61 Naumann, W. 119 konkrete Dichtung, konkrete Poesie 16, 37 Konnotation, konnotativ 45, 46, 4 7 , 4 9 - 5 2 , Nisin, A. 47 Norm 2 2 - 2 4 , 44, 4 6 , 1 4 0 , 1 4 1 , 143,147, 59,88, 111, 126 152 Konstruktions-Sprache 47, 51 individuelle - 23f. Kontext 5, 16, 3 1 , 4 5 , 5 0 , 107 soziale - 23f., 44, 49 Kontiguität 6, 8, 74 Normabweichung 2 , 9 , 1 1 , 1 6 , 129,146 Kreuzer, H. 9 Noulet, E. 120f., 131f. Kriminalroman 84f., 88 Nouveau roman 141 Kristeva, J. 54 noyau (bei Barthes) 85f., 88f. Lacan, J. 54 numerus perfectus - vollkommene Zahl langage-instrument 135 101, 108 langage-objet 135 Odysseus 1 0 1 - 1 0 5 , 1 1 1 langage second 65 Ödipus-Mythos 7 1 - 7 4 Lange, W.-D. 54 Offenheit der Textstruktur 15,46, 52, 88, langue 21ff., 126 Lausberg, H. 7 90,130,146,160f. lecture horizontale 91 Oomen, U. 17 lecture verticale 91 opposant 75f. Leseeinheit s. lexie Organon-Modell 24f. Levin, S. R. 3f. Paradigmatik 6, 7, 74, 76f., 86, 87, 91 Parallelismus 1 0 , 1 6 , 1 7 , 5 2 Lévi-Strauss, C. 7 1 - 7 5 , 7 7 , 81, 88
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Parodie 62f., 144,145f. parole 21ff., 125 Paronomasie 6f. Peirce, C. S. 26 perpetuum mobile 133 Petrocchi, G. 92 poème typographique 133 poetische Funktion der Sprache (bei Jakobson) 5 poetische Kompetenz 9 Poetizität 7 , 9 , 11, 13, 14, 17, 3 0 , 5 5 - 6 3 , 110f„ 136 Skala der - 9 Posner, R. 7, 8 Pragmatik 16, 30, 147 Preminger, A. 3 Propp, V. 6 8 - 7 2 , 75, 83, 84, 85, 86, 87 Proust, M. 146, 152, 154 Queneau, R. 61 f. Racine, J. B. 12, 27 Raible, W. 31, 78 récit 8 2 - 8 4 , 8 7 , 9 0 , 9 1 éviter le - 147 Redundanz 45 Regieanweisungen 27 Reim, Reimschema 2, 4 1 - 4 5 , 53,58, 63, 111 Rekurrenz 16, 17 relation (bei Hjelmslev) 50 Rhythmus - rythme 53f., 5 7 - 5 9 Rilke, R.-M. 21, 161 Rimbaud, A. 17 Russische Formalisten 47f., 67 Ruwet, N. 8, 1 2 - 1 5 , 1 9 , 2 5 , 4 1 Saint-Exupéry, A. de 140 Sapegno, N. 106 Saporta, S. lf. Sartre, J.-P. 39, 135f., 160 Saussure, F. de 20, 21f„ 26, 49, 111, 125, 126, 127 Schema - schéma 22 Schérer, J. 119 Schichtenmodell 80ff., 91 Schlußsignal 43f. Schmidt, S. J. 37, 48 Schmidt-Radefeldt, J. 21 Schoell, K. 141 Sebeok, T. A. 1,4, 17 172
Seifert, H. 113 Selektion 6, 14, 18, 74, 80 semiotisches Feld 31, 66 Sequenz - séquence 7, 69, 78, 86 Elementar - (séquence élémentaire) 86 komplexe - (séquence complexe) 86 Signal (bei Bühler) 24 àklovskij, V. 47,51, 67 Smuda, M. 142f. Sonett, Sonettform 11, 117ff., 130, 132 Souriau, E. 75 spacieux 128 spatialisation 30, 40, 57 spatialisme 37, 133 Spiel 127,129, 130,154, 156,160, 161 s. auch jeu Sprache ais Münze 125f., 131 gebremste - 47 Stankiewicz, E. 16 Stempel, W.-D. 19, 25, 48, 6 6 , 1 1 9 , 1 2 2 Stier le, K. 33,51, 75 Stil, Stilistik, Stilfigur 2, 3, 7, 11, 13, 71, 84, 111, 117, 144 Striedter, J. 48, 67 Strukturalismus 67, 77, 81 Sue, E. 32 Surrealismus 36 Symbol (bei Bühler) 24 Symbol (bei Peirce) 26 Symptom (bei Bühler) 24 synoptisch 48, 92, 132, 159, 160 s. auch vision simultanée Syntagmatik 6, 7, 62, 69, 70, 74, 76f., 83, 8 4 , 8 5 , 8 7 , 9 1 , 159 syntaxe plurielle 121f. Tanz 18, 25, 123f. technopaignia 36 Text, Textbegriff 30, 51 texte pluriel 90 Textstrategie 91, 108-111, 159 Theater 27, 66 Thesis-System 104 Todorov, T. 7 7 - 8 1 , 82, 83, 88 Trabant, J. 31, 33 Transformationsgrammatik s. generative Grammatik Transkription, Transkriptionsversuche 44f., 59, 61, 63, 117-120
trans-lmguistque 66 Typographie, typographische Anordnung 30, 36, 39ff„ 44, 49, 5 5 - 6 3 , 1 3 2 f . , 150 Ulixes 104f., 110 s. auch Odysseus Universalien, universal 78, 81, 82, 88,159 usage (bei Hjelmslev) 22 ut pictura poesis 36 valences grammaticales 121f. Valéry, P. 20f., 25, 29,47, 54, 58,157, 158, 161 Verfremdung, Verfremdungseffekt 47, 48, 146, 153 Vergil 99 vertikal 51, 74, 83,159 vision simultanée de la page 133 visuelle Poesie 3 5 - 3 7 , 133 Vulgata 112 Wagner, R. 127 Wais, K. 119
Warning, R. 47 Wartburg, W. von 92 Wehle, W. 141 Weinreich, U. 17 Weinrich, H. 44, 47 Werbetext 13,65 Werbung 18, 25,65 Wiedergabeästhetik 142,154, 160 Willkürlichkeit der Zeichen 20, 49, 111, 127,157 Zahlenchiasmus 102f. Zahlenpoetik 91ff. Zahlensymbolik 26, 96ff., 112-115, 159 Zaubermärchen 6 8 - 7 0 , 75, 76 Zeichenbegriff 24f., 26, 29f. Zeichengrenzen 29f., 51f., 126, 133, 161 Zeltner-Neukomm, G. 140f. Zufall 126f. s. auch hasard
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