Natürlich, technisch, chemisch: Verhältnisse zur Natur am Beispiel der Chemie 9783110819243, 9783110150131


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German Pages 204 Year 1996

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Table of contents :
Vorwort der Herausgeber
Kapitel I: Ziele und Grenzen des technischen Umgangs mit der Natur
Schuldigkeit – Zur naturphilosophischen Begründung menschlichen Handelns
Zur Ethik des umsichtigen Naturumgangs
Protokoll der Diskussion
Kapitel II: Begriffliche und historische Analysen
Natürlich künstlich. Philosophische Reflexionen zum Naturbegriff der Chemie
Das Natürliche und das Künstliche
Künstliche Natur
Protokoll der Diskussion
Kapitel III: Natürlichkeit als Problem der Chemie
Natürlich, naturidentisch, künstlich: Beiträge zur Begriffsbestimmung aus der Sicht eines Chemikers
Der Begriff der Natürlichkeit im Spannungsfeld von Produktvermarktung und Rechtsprechung
Natürlichkeit und Chemie – ein Gegensatz in der öffentlichen Wahrnehmung?
Protokoll der Diskussion
Kapitel IV: Schlußdiskussion
Einleitung
Protokoll der Diskussion
Schlußbemerkung
Anhang
Angaben zu den Autoren
Personenregister
Stichwortverzeichnis
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Natürlich, technisch, chemisch: Verhältnisse zur Natur am Beispiel der Chemie
 9783110819243, 9783110150131

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Natürlich, technisch, chemisch

Philosophie und Wissenschaft Transdisziplinäre Studien Herausgegeben von Carl Friedrich Gethmann Jürgen Mittelstraß in Verbindung mit Dietrich Dörner, Wolfgang Frühwald, Hermann Haken, Jürgen Kocka, Wolf Lepenies, Hubert Markl, Dieter Simon

Band 11

W DE G_ Walter de Gruyter · Berlin · New York 1996

Natürlich, technisch, chemisch Verhältnisse zur Natur am Beispiel der Chemie Herausgegeben von Peter Janich und Christoph Rüchardt

w DE

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1996

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. Die Deutsche Bibliothek -

ClP-hinheitsaufnahme

Natürlich, technisch, chemisch : Verhältnisse zur Natur am Beispiel der Chemie / hrsg. von Peter Janich und Christoph Rüchardt. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1996 (Philosophie und Wissenschaft ; Bd. 11) ISBN 3-11-015013-1 NE: Janich, Peter [Hrsg.]; GT

© Copyright 1996 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: Datenkonvertierung durch Knipp Medien und Kommunikation, Dortmund Druck: Ratzlow Druck, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin Einbandgestaltung: Rudolf Hübler, Berlin

Inhaltsverzeichnis Vorwort der Herausgeber

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Kapitel I: Ziele und Grenzen des technischen mit der Natur

Umgangs

Klaus M. Meyer-Abich

Schuldigkeit - Zur naturphilosophischen Begründung menschlichen Handelns 3 Carl Friedrich Gethmann

Zur Ethik des umsichtigen Naturumgangs

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Wolfgang Schonefeld

Protokoll der Diskussion

47

Kapitel II: Begriffliche und historische

Analysen

Peter Janich

Natürlich künstlich. Philosophische Reflexionen zum Naturbegriff der Chemie 53 Gernot Böhme

Das Natürliche und das Künstliche Gernot Böhme

Künstliche Natur

90

80

VI

Inhaltsverzeichnis

Nikolaos Psarros

Protokoll der Diskussion 109 Kapitel III: Natürlichkeit

als Problem der

Chemie

Roland A. Fischer

Natürlich, naturidentisch, künstlich: Beiträge zur Begriffsbestimmung aus der Sicht eines Chemikers. 121 Bernd Fabry

Der Begriff der Natürlichkeit im Spannungsfeld von Produktvermarktung und Rechtsprechung 137 Cornelia R. Karger

Natürlichkeit und Chemie - ein Gegensatz in der öffentlichen Wahrnehmung? 152 Gerd Hanekamp

Protokoll der Diskussion Kapitel IV:

168

Schlußdiskussion

Günter Stock

Einleitung 175 Gerd Hanekamp

Protokoll der Diskussion 177 Günter Stock

Schlußbemerkung

180

Anhang Angaben zu den Autoren 183 Personenregister 191 Stichwortverzeichnis 193

Vorwort der Herausgeber Wo über Leistungen und Risiken der Chemie diskutiert wird, spielt für viele die Unterscheidung von natürlich und künstlich eine zunehmend wichtige Rolle. Das Spektrum der Meinungen reicht von der (vor allem durch Naturwissenschaftler vertretenen) Auffassung, daß die von Physik und Chemie aufgestellten naturwissenschaftlichen Gesetze ein Teil der Natürlichkeit („Naturgesetze") und daher die aus chemischer Forschung und technischer Bearbeitung hervorgegangenen Substanzen im selben Sinne natürlich seien wie die in der Natur vorgefundenen, über die (von einigen Philosophen vertretene) Meinung, „natürlich" sei ein Gegensatz zu „technisch", bis zu einer platten Gleichsetzung von „chemisch" mit „naturwidrig" oder auch „schädlich", wie es z.B. in der Werbung und in Gegenüberstellung zum werbewirksamen Zusatz „bio" oder „biologisch" angetroffen wird. Die Naturwissenschaften haben manches gute Argument dafür vorzutragen, daß Kritiker der Chemie naturwissenschaftlichen Irrtümern aufgesessen seien. Andererseits haben sie zu gewärtigen, daß die Auseinandersetzung um die Natürlichkeit oder Künstlichkeit der Stoffe recht besehen keine innernaturwissenschaftliche Kontroverse ist; hier findet vielmehr eine Debatte über Naturwissenschaften statt, in der andere Kriterien zum Tragen kommen als in der Entscheidung innerchemischer Fachfragen. Die Alltagssprache und die in ihr zum Ausdruck kommenden Alltagsmeinungen sind schon auf den ersten Blick widersprüchlich, wo sie Natur und Natürlichkeit betreffen. Auf der

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Vorwort der Herausgeber

einen Seite gibt es, vor allem in ökologischen Debatten, die Gleichsetzung einer belassenen, d. h. von technischen Eingriffen des Menschen verschonten Natur mit einer auf Natürlichkeit beruhenden Lebensqualität - als gäbe es nicht auch von Natur aus giftige Pflanzen, Pilze, Schlangenbisse, und ebenfalls natürlich auftretende Krankheiten bis zum natürlichen Tod. Andererseits vertrauen Konsumenten chemischen Produkten gegen Infektionskrankheiten, chemisch verbesserten Werkstoffen, chemisch gereinigten oder konservierten Genußund Nahrungsmitteln. So sieht sich die chemische Industrie gleichermaßen einer Nachfrage ihrer Produkte wie einer Kritik ausgesetzt, die, wohl am engagiertesten, aber gelegentlich auch am irrationalsten im ökologischen Bereich angesiedelt sind. Aber auch andere Gebiete wie das der Kunststoffchemie mit seinem Einfluß auf große Bereiche der alltäglichen Lebensbedingungen, der Bereich der Hygiene oder die Entwicklung neuer Treibstofftechnologien sind von der Unterscheidung „natürlich, chemisch, künstlich" betroffen. Diese verfahrene, wohl auf allen Seiten mit Unklarheiten und Widersprüchen belastete Situation wird nicht dadurch einfacher, daß häufig Verteidiger wie Gegner der Chemie denselben Naturbegriff teilen. Dort wird die Kompetenz der Naturwissenschaften, verläßliches Wissen über die Natur zu liefern, nicht in Zweifel gezogen. Lediglich der Umgang mit diesen wissenschaftlichen Ergebnissen solle nach Sicht der Chemiegegner „naturgemäßer" ausfallen. Im Rahmen des vom Stifterverband für die deutsche Wissenschaft betreuten Programms „Chemie und Geisteswissenschaften" hat im November 1994 ein Workshop mit dem Titel „Natürlichkeit und Chemie" stattgefunden. In Zusammenarbeit von Natur-, Kulturwissenschaften und Philosophie unter Einbeziehung der chemischen Industrie sollte versucht werden, aus naturwissenschaftlicher, juristischer, ökonomischer und philosophischer Perspektive eine Klärung in dieser Debatte zu fördern. Absicht des Programms war es, in drei Teilen, die der Kapiteleinteilung dieses Buches entsprechen, zunächst im ersten Teil zwei entgegengesetzte Positionen zu Wort kom-

Vorwort der Herausgeber

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men zu lassen, die am ehesten als „physeomorph" und „technomorph" zu charakterisieren sind. Da es der Absicht nach dabei selbstverständlich nicht um ein Schauboxen zwischen einem Natur- und einem Technik-Enthusiasten ging, läßt sich dieser Gegensatz - immer noch in der Absicht der Planer - am ehesten durch die Blickrichtung charakterisieren, die einmal von der Natur her auf die technische Zivilisation, zum anderen vom technisch handelnden Menschen her auf die Natur bestimmt sind. Diesen Part übernahmen dann, in der Interpretation dieser Aufgabe selbstverständlich ihren eigenen Auffassungen verpflichtet, die Essener Philosophen Klaus-Michael Meyer-Abich und Carl Friedrich Getbmann. Ein zweiter Teil sollte mit den Mitteln von Wissenschaftstheorie und Philosophie einer grundsätzlichen Klärung von Begriffen und Aspekten gewidmet sein. Wieder war die Absicht der Planer, eine eher physeozentrische und eine eher technozentrische Perspektive gegenüberzustellen, wie sie in den Publikationen der Philosophen Gernot Böhme und Peter Janich zu finden sind. Auch hier, wie schon im ersten Teil, zeigten sich die Gegensätze zwischen den Referenten weniger ausgeprägt, als eine Veranstaltungsdramaturgie sich wünschen möchte. In beiden Teilen waren es denn auch eher Gegensätze zwischen den Referenten und dem diskutierenden Teilnehmerpublikum, die die Diskussion belebten. Zu diesen Diskussionen bietet das vorliegende Buch kurze Protokolle. Im dritten Teil sollten, nach dem zunächst unbeabsichtigten Ubergewicht der Philosophen, einschlägige Fachwissenschaften zu Wort kommen. Aus der Sicht des Chemikers berichtete Roland A. Fischer sowohl über die in der Chemie üblichen Unterscheidungen als auch die Vorsicht oder gar Abstinenz gegenüber Sprechweisen, die außerhalb des Diskurses der Chemiker gebräuchlich und wirksam geworden sind. Schon die Rolle des Themas Natürlichkeit und Chemie in der öffentlichen Diskussion legte nahe, sich der juristischen Frage zuzuwenden, wie denn Charakterisierungen chemischer Produkte als „natürlich" im Gegensatz zu eventuell anderen rechtlich zu sehen seien, und in welchem Verhältnis etwa Normie-

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Vorwort der Herausgeber

rungen für die Werbesprache zu ökonomischen Überlegungen von Produktentwicklung und Vermarktung stehen. Diese Frage zu klären übernahm Bernd Fabry. In die gesamte Exposition des Themas und die Planung des Workshops waren Beobachtungen der Planer eingeflossen, wie in den genannten Bereichen begrifflich mit den Gegensätzen von Natur und Technik im Blick auf die Chemie umgegangen wird. Weisen und Gründe der öffentlichen Wahrnehmung von Natur, Umwelt und Chemie sollten deshalb, zumindest zur Kontrolle solcher individuellen Meinungen, sozialwissenschaftlich abgeklärt werden, was im Beitrag der Psychologin Cornelia Karger geschieht. Auch diese Diskussion ist protokolliert. Den Abschluß des Workshops bildete eine Schlußdiskussion, die gleichsam aus der Sicht der Tagungsbeobachter und nicht der Referenten geführt werden sollte. Sie ist eingeleitet und mit einer Schlußbemerkung versehen von Günter Stock, und im vorliegenden Band ebenfalls durch ein kurzes Protokoll dargestellt. Die wissenschaftliche Vorbereitung der Tagung oblag Peter Janich, der dabei durch einen Kreis vor allem jüngerer Vertreter der Chemie, der Philosophie und der Sozialwissenschaften aus Hochschule und Industrie unterstützt wurde. Die einzelnen Teile des Workshops wurden moderiert von den Herren Ortwin Renn (Stuttgart), Jürgen Mittelstraß (Konstanz) und Christoph Rüchardt (Freiburg), die eine keineswegs immer leichte Aufgabe zu bewältigen hatten. Die (wie immer gelungene) organisatorische Betreuung des Workshops lag bei Herrn Dr. Ekkehard Winter vom Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft. Finanziell unterstützt wurde die Tagung vom Fonds der Chemischen Industrie. Peter Janich und Christoph Rüchardt

Kapitel I: Ziele und Grenzen des technischen Umgangs mit der Natur

Klaus Μ. Meyer-Abich

Schuldigkeit - Zur naturphilosophischen Begründung menschlichen Handelns

Die Natur ist das Ganze, von dem wir Menschen ein Teil sind. Die Naturphilosophie handelt dementsprechend nicht nur von einem Teil der Welt, sondern vom Ganzen in seinen Zusammenhängen. In der Umweltkrise der Industriegesellschaft hat sie vor allem das Verhältnis des Menschen zur übrigen Welt zum Thema. Als Praktische Naturphilosophie steht sie vor der Frage, wie Menschen mit den Dingen und Lebewesen der Natur umgehen sollen und dürfen. Daß die Natur für uns nichts Äußerliches ist, sondern daß wir immer schon dazugehören, entspricht jedoch weder dem Stand des allgemeinen noch dem des wissenschaftlichen Bewußtseins. Im üblichen Naturverständnis und in den Naturwissenschaften erspart man sich das Problem unserer Naturzugehörigkeit durch die theistische Fiktion des Menschen als eines sozusagen außerweltlichen Beobachters und Herrschers. Diese Fiktion ist im Krankheitsfall und in der Erfahrung des eigenen Leibs nicht aufrechtzuerhalten; beides wird in der Industriegesellschaft relativ erfolgreich verdrängt. Hinzu kommt nun aber, daß die theistische Fiktion auch in die Umweltkrise hineingeführt hat, denn durch diese sind wir ja allererst wieder an unsere Naturzugehörigkeit erinnert worden. Ich sehe deshalb von vornherein von dieser Fiktion ab, muß dann aber zunächst die entsprechenden Engführungen des Natur- und des Naturwissenschaftsverständnisses öffnen. Dies geschieht vorab im ersten Teil der folgenden Überlegungen, wobei die Argumente etwas knapp gefaßt werden. Wer dieser Lockerungsübung nicht bedarf, kann sich direkt dem zweiten Teil zuwenden: der Entfaltung eines

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menschlichen Selbstverständnisses, in dem die Natur, von der wir ein Teil sind, durch uns etwas gewinnen könnte, was andere Lebewesen nicht oder weniger als wir vermögen: Kultur. Davon handelt abschließend der dritte Teil.

1. Uberwindung der Dichotomie von Natur und Gesellschaft Unter der Natur wird sogar in der Umweltkrise und selbst unter Philosophen in der Regel immer noch die grüne Welt verstanden, die man vor dem Fenster hat oder dort vermißt, also nur die außermenschliche Natur oder das, was nicht wir sind. Alle Beteuerungen, daß wir auch ein Teil der Natur seien, haben daran bisher erstaunlich wenig geändert. Die Beständigkeit dieses ausgrenzenden Naturverständnisses hängt wohl mit einem menschlichen Rechtfertigungsbedürfnis zusammen. Kognitiv wissen wir zwar aus der Abstammungslehre, daß die Tiere und Pflanzen unsere naturgeschichtlichen Verwandten sind; emotional aber empfinden wir diese Verwandtschaft immer noch als genierlich, und zwar in einem leicht nachvollziehbaren Eigeninteresse. Wenn wir nämlich - wie in der germanischen „Edda" berichtet - von Bäumen abstammen oder diese jedenfalls sozusagen unsere naturgeschichtlichen Vettern n-ten Grades sind, wird es rechtfertigungsbedürftig, wie die Industriegesellschaften (und nicht nur sie) mit Wäldern und Bäumen umgehen. Dasselbe gilt für die Kuh in der Massentierhaltung, wenn sie in einem entfernten Sinn sozusagen meine Tante ist. Sich diesem Rechtfertigungsdruck entziehen zu wollen ist - zumal in der industriellen Wirtschaft - höchst naheliegend, denn jeder Rechtfertigungsversuch droht unser Handeln zu disqualifizieren. Die Dichotomie von Natur und Gesellschaft bietet das passende Selbstverständnis, um sich gegen diese Einsicht emotional abzuschirmen. Für die Menschheit gilt danach nämlich eine ganz andere Ordnung als für „die Natur", und zwar eine sittliche und rechtliche, sowie außerdem geschichtliche Ordnung im Gegensatz zu der, welche die Naturwissenschaften beschreiben. Schon diese Verschiedenheit der Ordnungen belegt dann, daß

Naturphilosophische Begründung und menschliches Handeln

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wir nicht so sind wie jene. Und mußten nicht alle Kultur und Zivilisation als menschliche Errungenschaften allererst,gegen die Natur* durchgesetzt werden? In diesem Selbst- und Weltverständnis gibt es allenfalls gesellschaftliche Verpflichtungen für den Umgang mit der außermenschlichen Natur. Demgegenüber wären, wenn wir selbst dazugehören, die - ethischen und rechtlichen - Normen unseres Verhaltens nicht nur als mitmenschliche, sondern vom Ganzen her, d.h. naturphilosophisch zu begründen. In der Umweltkrise kommt es in der Tat darauf an, die Regeln des menschlichen Handelns (wieder) in Einklang mit der Ordnung des Ganzen zu bringen. Auch eine Fülle von individuellen Erfahrungen widerspricht der Dichotomie von Natur verstanden als das, was nicht wir sind - und Gesellschaft, insbesondere die unserer eigenen Leiblichkeit, und zwar nicht nur im Krankheitsfall. Es gehört eine emotionale Hartleibigkeit dazu, nicht nur - mit dem Mut zur absurden Konsequenz, den Philosophen immer wieder bewiesen haben - vorzugeben: Ich bin Geist und habe einen Körper (Hegel), sondern auch so zu leben. Ich gehe darauf hier zunächst nicht weiter ein, sondern halte nur fest, was intellektuell niemand bestreitet, im Herzen die meisten aber nicht wahrhaben wollen, mein Ceterum censeo: Die Natur ist das Ganze, von dem wir ein Teil sind. Dieses Ganze erscheint derzeit als die Vielfalt der gegenwärtigen Welt, hat seinen Zusammenhang aber in der zwischen Vergangenheit und Zukunft ausgespannten Naturgeschichte. Die Natur ist so wenig nur die heutige Welt wie die Menschheit nur die heutige ist. Schon gar nicht ist sie nur die außermenschliche Natur, sondern diese ist ebenfalls ein Teil des Ganzen, allerdings der größere. Zur Unterscheidung sowohl von der Menschheit als auch vom Ganzen der Natur nenne ich sie unsere „natürliche Mitwelt". Das hier betonte Mitsein erinnert an unsere naturgeschichtliche Verwandtschaft in der Lebensgemeinschaft des Ganzen. Demgegenüber hat der übliche Begriff „Umwelt" einen anthropozentrischen Beiklang, der das ursprüngliche Mitsein nicht gelten läßt. Den nicht-menschlichen Teil des Ganzen Die Natur zu nennen und dann keinen eigenen Begriff für das Ganze mehr zu

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haben, hat wesentlich zum Vergessen der menschlichen Naturzugehörigkeit beigetragen und war sogar die entscheidende begriffliche Voraussetzung für die jetzige Umweltkrise. Mit dem falschen Naturverständnis - die Natur sei das, was nicht wir sind - verbindet sich ein unkritisches Mißverständnis der Naturwissenschaft. Dies ist die zweite Engführung, welche der Abschirmung der natürlichen Mitwelt gegen sittliche und rechtliche Normen dient. Das Mißverständnis - genauer gesagt: der Irrtum - besteht darin, die Gesetze der Physik und der andern Naturwissenschaften für Die Gesetze oder Die Ordnung der Natur zu halten. Unkritisch ist dieses Mißverständnis, weil es hinter die kritische Einsicht in die strukturelle Anthropomorphic des menschlichen Erkennens zurückfällt. Wir haben es im Erkennen nicht nur mit den Gegenständen zu tun, sondern dies geschieht menschlich-erkenntnisförmig. Für die Naturwissenschaft bedeutet dies: Sie ist menschliche Einsicht; sie folgt einem Erkenntnisideal (Paradigma), etwas Bestimmtes wissen zu wollen-und anderes nicht. Was hier strukturell für wissenswert gehalten wird, zeigt sich weniger im subjektiven Bewußtsein einzelner Forscher als im Ergebnis. Erkannt wird, wie bestimmte Erscheinungen der Sinnenwelt hervorgebracht werden, wie sie also hervorgebracht werden können (was dann in der industriellen Wirtschaft vervielfacht geschieht). Jede Naturwissenschaft ist ein Kanon derjenigen Regeln, die man beachten muß, wenn man in der Sinnenwelt bestimmte Ziele erreichen will. Ich wähle diese Formulierung in Anlehnung an Paul Lorenzens Satz, die Logik sei der Kanon derjenigen Regeln, an die man sich halten müsse,, wenn man ein Streitgespräch nicht verlieren will. Damit ist weder gesagt, daß die Naturwissenschaften falsch seien, noch, daß sie bloß subjektiv seien. Sie sind aber auch nicht bloß objektiv, sondern jede von ihnen ist ein Wissen, dem also ein Interesse oder eine Wertsetzung vorausliegt, was wissenswert ist. Gilt die Weise, wie in der Sinnenwelt bestimmte Erscheinungen reproduzierbar hervorgebracht werden können, als wissenswert und wird diesem Interesse erfolgreich nachgegangen, so ist die heutige Naturwissenschaft die richtige Antwort auf die gestellte Frage. Die Rieh-

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tigkeit der Antwort enthebt uns aber nicht der philosophischen Rückfrage, ob es überdies eine richtige Frage gewesen ist, die hier eine richtige Antwort gefunden hat. Die Richtigkeit der Antwort ist wissenschaftlich zu beurteilen, die der Frage nicht. Die Wissenschaft ist sozusagen nicht so wissenschaftlich wie ihre Ergebnisse. Die Relativierung der Wissenschaft auf ein vorgängiges Interesse wäre leichter nachzuvollziehen, wenn Alternativen zur Wahl gestellt werden könnten, wie aus verschiedenen Wertsetzungen des Wissenswerten verschiedene Wissenschaften folgten. So schnell aber treten wir nicht aus unserer historischen Situation heraus. Allerdings wird man nicht leichthin behaupten wollen, wir wüßten gerade das, was für die Zukunft der Industriegesellschaft wissenswert sei. Ich denke, es gibt ein Ubergewicht an Zerstörungswissen und einen Mangel an Erhaltungswissen. Außerdem kenne ich keinen Wissenschaftler, der seine Arbeit mit dem heutigen Stand des Wissens für beendet hält, und wer für einen Fortgang des wissenschaftlichen Erkenntnishandelns plädiert, muß immer auch die Möglichkeit eines Wechsels in den Erkenntnisidealen oder Paradigmen anerkennen. Durch einen Wechsel des Leitbilds würde die heutige Naturwissenschaft weniger falsch als teilweise uninteressant, z.B. hinsichtlich der Chlorchemie oder des Atomkernspaltungsprogramms. Beim Blumengießen „gilt" das Fallgesetz in dem Sinn, daß ich es bestätigt finden würde, wenn ich die Bewegung des fallenden Wassers reproduzieren wollte. Diese Reproduktion wird aber erst dann wissenswert, wenn ich nicht nur Blumen begießen, sondern außerdem Uhren bauen oder mit Kanonenkugeln Ziele treffen will. Die Ordnung der Naturwissenschaft also ist eine Weise, wie wir es mit der N a t u r zu tun haben können. Die Physik insbesondere handelt, wie sich erst in der Quantentheorie empirisch gezeigt hat, von Tat-Sachen, nicht nur von den Sachen. So ist sie nicht Die Ordnung der Natur, sondern ein menschliches Handlungswissen. Der Gedanke, dieses Handlungswissens als bloß „instrumenteil" {Habermas) einzugrenzen, ist an den politischen Dimensionen jeder Naturwissenschaft und Technik ge-

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scheitert. Ob eine Naturwissenschaft richtig ist, hängt dementsprechend davon ab, ob das Handeln, dessen Struktur sie ist, richtig ist. Dies aber ist keine naturwissenschaftliche, sondern eine ethische Frage. Darf oder soll ich sogar so mit der natürlichen Mitwelt umgehen, wie es physikalisch, chemisch oder biologisch möglich ist? Die Antwort hängt von der allgemeineren Frage ab, wonach sich mein Handeln im Umgang mit der natürlichen Mitwelt überhaupt richten soll. In diesem Sinn ergibt sich ein Primat der Ethik vor der Naturwissenschaft. Wer sich aus Furcht vor naturalistischen Fehlschlüssen von dieser Folgerung abhalten lassen möchte, kann sich damit beruhigen, daß das Sein und das Sollen hier nur dann verwechselt würden, wenn die Ordnung der Natur keine Sollens- oder Handlungsordnung, sondern eine bloß „deskriptive" Ordnung wäre. Eben dies wird häufig vorausgesetzt, ist aber eine dogmatische Behauptung. Umgekehrt bedeutet der Primat der Ethik vor der Naturwissenschaft nicht, daß das Naturverständnis sozusagen teleologisch wird, ausgenommen man ließe jedes Handeln als teleologisch gelten, weil dabei Ziele - und seien es entgegengesetzte Ziele - im Spiel sind. Nach den vorangegangenen Überlegungen sollten die Irrtümer, welche die Dichotomie von Natur einerseits, Gesellschaft, Geschichte und Kultur andererseits stabilisieren: (1) Natur sei das, was nicht wir sind, und (2) Naturwissenschaft erfasse Die Ordnung der Natur, einer naturphilosophischen Begründung ethischer und rechtlicher Normen für die Menschheit im Ganzen der Natur nicht mehr im Wege stehen. Für eine solche Begründung selbst ist damit aber nur der nötige Freiraum gewonnen. Wir dürfen nun voraussetzen, daß die Tiere und Pflanzen, die Landschaften und die Elemente im Ganzen der Natur, von dem auch wir ein Teil sind, ursprünglich mit uns in der Welt sind, nicht um uns oder für uns. Wir sehen auch: Die Natur hat in uns ein Lebewesen hervorgebracht, das angeborenermaßen kaum „weiß", wozu es da ist und was es soll, sondern dessen Verhalten in besonderem Maß durch Lernen oder Erkenntnis bestimmt ist. Ver-

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nunftfähigkeit ist eine charakteristische Naturausstattung des Menschen, die sich in der Naturgeschichte erst spät entwickelt hat. Sie gewährleistet in unserm Verhalten zwar eine geringere Sicherheit, als andere Lebewesen sie haben, dafür aber eine stärkere Lernfähigkeit. Die neuere Forschung zeigt, daß die meisten Lebewesen „lernen", aber für den Menschen gilt dies immer noch in besonderem Maß. Was also lernen wir aus dem ursprünglichen Mitsein darüber, wozu wir da sind und was wir sollen? 2. Das Mitsein im Ganzen der Natur Eine derzeit dominierende Linie der philosophischen Ethik interessiert sich im wesentlichen dafür, wie die autonomen Präferenzen gleichberechtigter Vernunftwesen oder Kommunikationspartner in wechselseitiger Achtung vereinbart werden können. Ludwig Siep hat in einem bemerkenswerten Aufsatz (1994/1996) daran erinnert, daß man auf diese Weise zwar eine sozusagen wissenschaftliche Sicherheit der Ethik gewinnt, daß aber diese Sicherheit, soweit sie geht, den Preis der Irrelevanz hat. „Läßt man die Frage einmal offen, ob es erfahrungsunabhängige Aussagen über Vernunft und Sprache gibt, so ist doch offenkundig, daß auf solche Aussagen begründete Ethiken zu ,Minimalethiken werden. ... Es fragt sich aber, ob eine - verkürzt gesagt ,anthropologiefreie' - Ethik für die moralischen Probleme der gegenwärtigen Gesellschaft hinreichend ist. ... Das Recht auf Gesundheit oder Bildung, vielleicht auch das auf Arbeit, Wohnung oder eine intakte Umwelt kann vom Staat nicht auf dem Weg des Schutzes individueller Aktivitäten und Interessen, es muß durch Leistungen der staatlichen Administration und durch Staatsausgaben gewährleistet werden" (1994,4ff.). „Keine Ethik kommt ohne Anthropologie aus" (a.a.O. 1). Jede Ethik also beruht auf Annahmen, was der Mensch ist bzw. wozu er da ist. Daß wir im wesentlichen Vernunftwesen seien, ist auch eine solche Annahme. Wenn wir uns fragen,

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- was wir dafür schuldig sind, daß wir nur auf Kosten andern Lebens leben können; oder - wieweit wir mit der Weltveränderung durch Technik gehen dürfen und - welches dabei z.B. das ethisch am ehesten richtige Energiesystem wäre, sind wir auf Annahmen einer sogar naturphilosophisch zu fundierenden Anthropologie angewiesen. Es versteht sich, daß hier umgekehrt die Relevanz den Preis der Verbindlichkeit hat. Dies gilt auch für die naturphilosophisch-anthropologische Begründung ethischer und rechtlicher Normen. Auf die real existierenden Fragen nach Antworten zu suchen und sowohl in diesen Antworten als auch in den darauf zu gründenden Entscheidungen des nicht Gewußten ausdrücklich eingedenk zu sein, halte ich der Tradition der Philo-Sophie jedoch immer noch für angemessener, als möglichst unangreifbare Antworten auf falsche oder irrelevante Fragen zu geben. Das Thema der Ethik ist traditionell, wie wir richtig leben können. Eine naturphilosophische Begründung von Ethik handelt also davon, wie wir in der Natur als ein Teil des Ganzen und im Mitsein mit andern Naturwesen richtig leben können, d.h. unserer Teilhaftigkeit und der der andern Naturwesen am Ganzen der Natur gemäß. Diese jeweilige Teilhaftigkeit ist die besondere Natur eines jeden Lebewesens oder Dings. Ich kann hier nur skizzieren, wie ich mir eine solche Begründung vorstelle. Mein Ausgangspunkt ist, daß unser Handeln ein Ausdruck unseres (expliziten oder impliziten) Selbstverständnisses ist. Ob ich meine, etwas tun oder lassen zu sollen, ob ich mich also zu etwas aufgerufen fühle, hängt davon ab, ob ich mich angesprochen fühle, also davon, wer ich zu sein meine. Wer ich bin und wer ich zu sein meine, muß sich nicht decken. Beides aber hängt zusammen und ist jederzeit ein Ergebnis aller vorangegangenen Bildung. Insoweit Bildung ein Erfahrungsprozeß des lebenslangen Lernens ist, komme ich auch hier mit Ludwig Siep überein, daß das „Leben lernen" (a.a.O. 18) der Gegenstand der Ethik ist. Ausdrücklich setze ich dabei voraus: Wir sind, was wir gewor-

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den sind. Unser Sein ist ein Gewordensein. Andernfalls wären Abstammungsverhältnisse ethisch belanglos. Bildung in dem hier interessierenden Sinn ist immer Bildung der Identität oder des Selbstseins. Sie beginnt im Elternhaus. Die klassische Antwort darauf, wer jemand ist, lautet - jedenfalls in Bezug auf jüngere Leute - Sohn oder Tochter der und der Eltern zu sein. Später kann man noch hinzufügen, ein Schüler welcher Lehrer jemand ist. Durch diese und andere Personen des unmittelbaren Umkreises bildet sich unser ursprüngliches Menschsein, sprachlich und emotional. Zum Selbstverständnis des Erwachsenen gehört außer der familiären - durch das Namensrecht lebenslang besonders herausgestellten - Identität die nationale Zugehörigkeit. Wie stark zumindest die kulturelle Identität mit dem eigenen Volk oder Volksteil ist, merkt man spätestens in andern Landesteilen oder im Ausland. Diese Identität ist durch Sprache und nonverbale Bildung geschichtlich vermittelt. Das Gefühl der persönlichen Originalität beruht in der Regel überwiegend darauf, daß man sich nicht bewußt ist, wieweit jeder unserer Gedanken den Vorfahren geschuldet ist, wieweit diese also in uns weiterleben. Wir sind nur Originale, weil wir nichts wissen {Goethe). Es war ein abwegiger Gedanke, sich eine Gesellschaft als aus Individuen zusammengesetzt vorzustellen, denn es gäbe diese Individuen gar nicht ohne die Gesellschaft, in der sie sind, was sie sind. Dasselbe gilt für unsere weltbürgerliche Identität im Verhältnis zu andern Kulturen. Was wir Deutsche sind, verdanken wir vor allem den orientalischen Kulturen und denen des Mittelmeerraums. In unserer Identität durch andere Menschen, die eigene kulturelle Tradition und durch andere Kulturen gebildet zu sein ist in dem alten Grundsatz zusammengefaßt: Was du bist, das bist du andern schuldig. Jedes Individuum ist auf je individuelle Weise eine Gegenwart der Vergangenheit: von Jahrzehnten, Jahrhunderten, Jahrtausenden, die nicht nur die unseren sind. Wir sind es außerdem den künftigen Generationen schuldig, ihnen zu tradieren, was wir dank der Vorfahren und ein wenig persönlichen Zutuns selber sind. Jedenfalls sprechen gute Gründe dafür, eine Entwicklung, die nicht die unsere ist, ohne

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die wir aber nicht wären, nicht unsererseits außer Kraft setzen zu wollen. Einschließlich der künftigen Generationen ist unser Dasein insoweit der Menschheit insgesamt als einem Ganzen, von dem wir ein Teil sind, geschuldet. Die für eine naturphilosophische Begründung ethischer und rechtlicher Normen entscheidende Frage ist, ob wir außerdem der natürlichen Mitwelt schuldig sind, was wir sind. Ich erinnere hier zunächst daran, daß die Menschheit noch in der jüngeren Vergangenheit nicht so eindeutig begrenzt war, wie es dem aufgeklärten Europäer heute vorkommt. Zu Zeiten der Kolonialisierung Amerikas und Afrikas war es eine hierzulande durchaus strittige Frage, ob die sogenannten Wilden Menschen oder eine neue Art höherer Tiere waren. Im ersten Fall hätte man sie wie Menschen behandeln müssen, was den ökonomischen Interessen entgegenlief; im zweiten Fall konnte man - eine entsprechende Einschätzung der höheren Tiere vorausgesetzt - annehmen, sie als Zwangsarbeiter verschleppen zu dürfen. Die politische Entscheidung beruhte jahrhundertelang auf der letzteren Einschätzung, daß also die „Wilden" keine Menschen seien, so daß ihnen als Menschen unsererseits nichts zusteht. Daß wir heute in der Regel nicht mehr so denken, zeigt die historische Verschieblichkeit der Grenze, sei es durch Einsicht, politische Auseinandersetzungen oder durch technisch-ökonomische Entwicklungen. Was spricht dafür, daß wir auch der natürlichen Mitwelt schuldig sind, was wir sind? Ich beginne mit den höheren Tieren und gehe dann zu den Pflanzen und den Elementen über. Differenziertere Schritte sind möglich, für den gedanklichen Entwurf aber nicht entscheidend. Was die höheren Tiere angeht, so ist die Frage, warum die Feststellung, jedes Individuum sei auf seine Weise eine Gegenwart der Vergangenheit von Jahrzehnten, Jahrhunderten und Jahrtausenden, von diesen zeitlichen Größenordnungen der kulturellen Überlieferung nicht auf die der Stammeientwicklung, also auf Jahrmillionen und mehr erweitert werden sollte. Sind wir nicht auch eine Gegenwart der Zehntausende von Jahren, in denen sich der Homo Sapiens Sapiens entwickelt hat, der Millionen Jahre, in denen der

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Mensch aus der Naturgeschichte hervorgegangen ist, und der Hunderte von Millionen Jahren, in denen sich der Baum des Lebens allmählich entfaltet hat? Die Naturgeschichte hat nicht den Menschen allein hervorgebracht und hätte das auch nicht gekonnt, sondern dazu bedurfte es einer Phylogenese. „Die meisten der menschlichen Gene sind zunächst schon für andere Organismen entwickelt und an diesen erprobt worden in der vielleicht anderthalb Milliarden Jahre zurückreichenden Geschichte des Lebens" {Urban). So wie der einzelne Mensch in eine familiäre und sonstige Gemeinschaft hineingeboren wird, ist die Menschheit insgesamt in eine Gemeinschaft der Natur hineingeboren. Daß wir überhaupt Menschen sind, verdanken wir dieser Gemeinschaft der Natur. Ohne sie wären wir nicht, was wir sind, Menschen überhaupt, so wie wir ohne die Ägypter, Griechen und Römer nicht die Europäer wären, die wir sind. Was wir sind, das sind wir also nicht nur unsern Eltern, unserer Kultur und andern Kulturen schuldig, sondern zumindest phylogenetisch auch unsern naturgeschichtlichen Verwandten im Tier- und Pflanzenreich. Es wäre ja auch merkwürdig, wenn gerade die Menscheit ihre eigene Identität bestimmen würde, nachdem die menschliche Identität vom Einzelnen her durch immer umfassendere Bildungen bestimmt worden war: zunächst durch die Gruppe, in der der Mensch heranwächst, dann durch das Volk und die Kultur, in der die Gruppe ist, was sie ist, sodann durch die heutige Menschheit und ihre Geschichte, in der es viele Kulturen gibt, und schließlich durch die Menschheit überhaupt, einschließlich der künftigen Generationen. Unsere Verwandtschaft mit den höheren Tieren ist für jeden, der sich davor nicht fürchtet, eine Frage der einfachsten Selbsterfahrung. Sie sind uns ähnlich in ihrer physiologischen Organisation, in ihrer Sorge für die Nachkommen, in ihren Bedürfnissen, in ihrem Schmerz. Kann man einem Pferd, einer Kuh, einem Affen oder einer Katze ins Auge sehen, ohne ein Gefühl von Verwandtschaft zu spüren? Es ist eine interessante Frage, was die Tierhaftigkeit mancher Götter und im Christentum die der meisten Teufelsdarstellungen in diesem Zusammenhang be-

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deutet. Tiere sind für die Persönlichkeitsbildung vieler Menschen auch ontogenetisch von großer Bedeutung. Im - geglückten oder mißglückten - Umgang mit Katzen und Hunden, Kaninchen und Pferden, Schildkröten und Vögeln bilden sich Eigenschaften des ganzen Menschen. Dasselbe gilt in anderer Weise für die Ernährung. Wer Fleisch ißt, z.B. Lammfleisch, dieses also der eigenen Identität anverwandelt oder assimiliert, der verdankt dann auch dem Lamm, was er ist. Beides - sowohl die Persönlichkeitsbildung im Mitsein als auch die Assimilation durch Ernährung - gilt gleichermaßen für den Umgang mit Pflanzen. Nach der „Edda", im Selbstverständnis unserer germanischen Vorfahren, sind wir nicht wie Adam - aus Erde, sondern aus Bäumen hervorgegangen. Ask und Embla, die Esche und die Ulme, gelten hier als unsere Vorfahren, und während der großen Katastrophe war das Menschenpaar, das sie überlebte, wiederum in der Weltenesche Yggdrasil geborgen. Die Psychotherapeutin Zeyde-Margreth Erdmann berichtet in einem neuen Buch, wie Menschen, die durch eine Krise gehen, sich in Träumen auf Bäume beziehen und in dieser Wiederverbindung gesunden. Ich nehme an, daß die Beziehung zu Bäumen für die menschliche Identität in Mitteleuropa eine besondere Bedeutung hat, und sehe darin einen Grund, warum das Waldsterben das öffentliche Bewußtsein so unverhältnismäßig viel stärker beeindruckt hat als das Aussterben von Hunderten von Tier- und Pflanzenarten hierzulande zuvor. Im übrigen gilt für die Pflanzenwelt, daß alle tierischen Lebewesen, nicht nur der Mensch, ohne sie nicht leben könnten. Die dritte Grundfrage der naturphilosophischen Anthropologie ist, ob und wieweit wir auch Sonne und Wind, Land und Meer oder generell den Vier Elementen schulden, was wir sind. Ich erinnere hier zunächst daran, daß Menschen etwa gleichzeitig laufen und sprechen lernen, daß also der Mensch in der räumlich unterscheidenden Beziehung zur natürlichen Mitwelt (und zugleich in der zu den Mitmenschen) sprachlich zu sich kommt. Bestimmte Beziehungen zu besonderen elementaren Gegebenheiten kommen hinzu. Beispielsweise werden die Kin-

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der der Küstenbewohner natürlicherweise bei auflaufendem Wasser (Flut) geboren, wohingegen die Menschen mit dem ablaufenden Wasser (Ebbe) sterben. Sie leben also nicht nur am Meer, sondern das Meer lebt in ihnen. Das Meer lebt außerdem in all seinen Bewohnern, Tieren und Pflanzen. Deshalb beruht die Frage: verdanken wir außer den Pflanzen und Tieren, die unsere naturgeschichtlichen Verwandten, unsere natürliche Mitwelt und unsere Lebensgrundlage sind, auch dem Meer, was wir sind?, eigentlich auf einer falschen Trennung. Das Meer ist kein totes Medium, in dem es außerdem Lebewesen gibt, sondern in deren Leben ist das Meer selbst aufgelebt. Dasselbe gilt für die Erde, in der Pflanzen blühen. Denn in der Pflanze verbinden sich die Vier Elemente. Diese sind das und genau das, was eine Pflanze braucht, um zu gedeihen: Erde, Wasser, Luft ( C 0 2 ) und Licht (Energie). Also sind es eigentlich die Vier Elemente, die da - in pflanzlicher Identität - blühen und nicht die Pflanzen für sich. Wenn es aber letztlich die Vier Elemente sind, welche in den Lebewesen aufleben, dann sind wir jenen nicht weniger als diesen schuldig, was wir sind. Überdies gibt es wiederum das phylogenetische Argument, das auch hier zum selben Ergebnis führt. Die andern, denen wir unser Dasein verdanken, sind also nicht nur die Mitmenschen, sondern auch die Lebewesen und Dinge der natürlichen Mitwelt. Sie sind nicht nur andere als wir, sondern zugleich andere wie wir: Wir wie sie und sie wie wir. Unser Leben ist nicht nur das unsere, sondern in jedem Einzelnen lebt alles, was ihn oder sie gebildet hat und so zu ihm oder ihr geworden ist; und in uns allen lebt alles, was die Menschheit gebildet hat und so zu uns allen geworden ist: Vater und Mutter, die eigene kulturelle Tradition, fremde Kulturen, die gesamte Naturgeschichte, Tier und Blume, Baum und Stein. Unser Mitsein mit den Mitmenschen und der natürlichen Mitwelt ist die Bildung oder das Gewordensein durch sie. Nur im Mitsein mit den Mitmenschen gibt es den Einzelnen, und nur im Mitsein mit der natürlichen Mitwelt gibt es die Menschheit. Ohne sie sind wir gar nicht die Menschheit.

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In jedem von uns versammelt sich, wenn nicht die ganze Welt, so doch ein guter Teil von ihr auf je besondere Weise. Die jeweilige Besonderheit des Ganzen in jedem Einzelnen lehrte zu Beginn der Neuzeit Nikolaus von Kues: In jedem Geschöpf ist das Universum dieses Geschöpf (In qualibet enim creatura universum est ipsa creatura; De docta ignorantia II.5; 1.345). Vielleicht hätte auch Leibniz sich über diese Monadologie gefreut, denn all das zuvor beschriebene Mitsein ist die Grundlage der spezifischen und individuellen Vielfalt in der Welt. Ich bin ein Sohn, eine Tochter der Erde, ein Teil des Ganzen. In mir, in jedem meiner Mitmenschen, in den Dingen und Lebewesen der natürlichen Mitwelt lebt das Ganze spezifisch und individuell auf eine je besondere Weise. In diesem Mitsein, in dieser Verwandtschaft, in dieser Gemeinschaft der Natur bin ich, was ich bin. Damit ist nicht gesagt, wir seien ,nichts als' unsere Geschichte, denn es geht jeweils um die Gegenwart der Vergangenheit. In unserer Zeit sind wir die Vergangenheit und das Ganze in Gestalt abendländischer Subjekte, welche die Vergangenheit und das Ganze in ihrem Selbstgefühl entdecken - einiges näher, anderes ferner, manches nur latent, vieles gar nicht. Das Mitsein von Mensch und Tier, Pflanze und Element besteht in der jeweiligen Gegenwart nicht nur auf höchster Ebene, im Ganzen, sondern im gemeinsamen Erwachsensein aus der Naturgeschichte. Pflanzen sind phylogenetisch und ontogenetisch ein Miteinander von Erde, Wasser, Luft und Licht auf eine je spezifisch pflanzliche Weise. Sie sind nicht einfach nur Pflanzen, sondern sie sind die Elemente in der Gestalt von Pflanzen. In demselben Sinn sind auch die Tiere nicht einfach nur Tiere, sondern zu Tieren gewordene Pflanzen, insoweit nämlich der tierische Organismus von Pflanzen abstammt und Pflanzen als Nahrung spezifisch tierisch organisiert. Dasselbe gilt für die Vegetarier unter den Menschen, indirekt aber auch für karnivore Menschen und für Raubtiere, weil die Tiere, von denen diese sich ernähren, ihrerseits wieder animalisch aufgelebte Pflanzen sind. Jeder Mensch also war und ist auf eine je individuelle Weise nicht nur Mensch, sondern auch Tier, Pflanze und Erde, Wasser, Luft und Licht.

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Mit der naturphilosophisch-anthropologischen Entfaltung der Schuldigkeit ist man nun schon halb in der Ethik. Dies ist ein einfacherer und sozusagen elementarerer Weg, als ich ihn früher durch die Erweiterung von Verantwortungskreisen gegangen bin (Meyer-Abich 1984). Tiere, Pflanzen, Elemente sind jetzt nicht mehr nur Verwandte verschiedenen Grads, denen gegenüber wir uns in einer entsprechenden Gradation verantwortlich finden, sondern jeder Mensch ist auf seine Weise selbst seine natürliche Mitwelt und nicht das abendländischneuzeitliche Subjekt, das sich ihr gegenüber bisher abgesetzt hat. Dasselbe gilt für die Lebewesen und Dinge der natürlichen Mitwelt. Der Stein ist er selber nur in dem Umfeld, in dem wir ihn finden - daher die Erfahrung des Wanderers, den schönen Stein in der Regel nicht mitnehmen zu können, weil das Umfeld zurückbleibt. Auch die Pflanze bleibt nicht, was sie war, wenn sie aus ihrer Mitwelt entfernt wird. Tiere sind zwar beweglich, aber sie sind, was sie sind, ebenfalls nur dort, wohin sie gehören, und in der Regel nicht im Zoo. Aus der Umweltbezogenheit jedes Einzeldaseins folgt, daß die Lebewesen und Dinge der Natur ihren Eigenwert nicht je für sich haben, sondern über die Einbettung in ihre nähere und weitere Umgebung immer nur im Ganzen der Natur. Wir sind also auch nicht den einzelnen Lebewesen je für sich schuldig, was wir sind, sondern wir sind es im Ganzen der Natur. Für die Zulässigkeit, Veränderungen in die Welt zu bringen, ist die ergänzende Bestimmung: Eigenwert im Ganzen der Natur {Meyer-Abich 1990), von großer Bedeutung. Sie stammt eigentlich bereits von Nikolaus von Kues: Nichts im Universum taugt etwas, außer in der Einheit und Ordnung des Universums (De conjecturis; II 207). Als Zwischenresümee ergeben sich die folgenden beiden Grundsätze einer holistischen Ethik: (1) Wir Menschen sind dem Ganzen der Natur schuldig, was wir sind. (2) Die Dinge und Lebewesen der natürlichen Mitwelt haben ihren Eigenwert nicht je für sich, sondern im Ganzen der Natur.

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3. Kultur: Kann die Natur durch den Menschen gewinnen? Hinsichtlich der Konsequenzen liegt es auf der Hand, daß das Mitsein aller Dinge keine Unterscheidung derart hergibt, wir könnten Menschen sein, indem wir die natürliche Mitwelt nur haben wollen, sondern in unserm Gewordensein (ontogenetisch und phylogenetisch) sind wir auch Tiere und Pflanzen und die Elemente, nämlich in menschlicher Individuation. In Nietzsches Worten: „Ich habe für mich entdeckt, daß die alte Menschund Thierheit, ja die gesammte Urzeit und Vergangenheit alles empfindenden Seins in mir fortdichtet, fortliebt, forthasst, fortschliesst" (KSA 111.416f.). So wenig wir unserer Leiblichkeit gerecht werden, wenn wir unseren Körper nur haben wollen, so wenig werden wir es der natürlichen Mitwelt als unserer erweiterten Leiblichkeit, wenn wir auch sie nur haben und nicht sein wollen. In der industriellen Wirtschaft die natürliche Mitwelt wie einen Sack voll Ressourcen als unsere „Umwelt" zur Deckung menschlicher Bedürfnisse zu be- oder verwirtschaften, so als seien wir Menschen nur einander schuldig, was wir sind, und die natürliche Mitwelt nichts als für uns da, ist holistisch nicht zu rechtfertigen. Wie aber entsprechen wir unserm Dasein im Ganzen der Natur? Wie steht es z.B. mit dem Essen, dem wir unser Dasein tatsächlich immer wieder neu verdanken? Dies ist eine Schlüsselfrage aller praktischen Naturphilosophie. Es gibt kaum einen existenzielleren Umgang mit einem andern Lebewesen, als es zwischen die Zähne zu nehmen und zuzubeißen. Ich denke zunächst: Wir gehören so sehr zur Natur, daß auch wir nur von anderm Leben leben können. Nicht einmal der Vegetarier weiß hier einen Ausweg, denn auch Pflanzen sind Lebewesen. Ich halte es sogar für falsch, hier Schuld zu empfinden und dann möglichst schuldlos bleiben zu wollen, indem wir nicht von anderm Leben leben. Vielmehr teilen wir diese Lage mit unsern naturgeschichtlichen Verwandten. „Wir nähren uns von dem, aus dem wir stammen (Ex quibus enim sumus, ex illis nutrimur)", sagt Nikolaus von Kues (Idiota de sapientia 1. Buch; III.437). Dies ist die Existenz- und Lebensbedingung des Men-

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sehen. Man sollte aber Schuld und Schuldigkeit - im Sinn von: Was tun wir dafür, daß wir empfangen - unterscheiden. Die Frage ist dann nicht: Wie können wir uns dieser Bedingung entledigen?, sondern: Was sind wir dafür schuldig, daß auch wir nur von anderm Leben leben können? Bei näherer Überlegung (vgl. Meyer-Abich 1990, 94ff) ergeben sich auf diese Schlüsselfrage meines Erachtens die folgenden Antworten: 1. Die Vorgeschichte kommt mit auf den Tisch. Wir sind den Lebewesen, die oder deren Teile wir verspeisen, schuldig, daß sie gelebt haben können, bevor wir ihnen das Leben nehmen, daß sie also nicht der Tierquälerei in der Massentierhaltung oder der entsprechenden Pflanzenquälerei in der industriellen Landwirtschaft ausgesetzt worden sind. 2. Wenn wir schon von anderm Leben leben, sollten wir unsere Nahrung nicht mißmutig in uns hineinmuffeln, weil wir damit schon wieder schuldhaft kannibalisieren, sondern sie in Dankbarkeit und Freude, daß wir uns von einem so guten Fisch oder von einem so aromatischen Gemüse stärken dürfen, festlich zubereiten und verspeisen. Die sorgfältige Verwertung der Abfälle kommt hinzu. 3. Wir sind es dem Ganzen der Natur schuldig, die Kraft, die uns der Fisch oder das Gemüse gegeben hat und vermöge derer wir dann weiterleben, nach bestem Wissen im Interesse des Ganzen einzusetzen, also jedenfalls nicht dafür, daß in Zukunft keine Fische und keine Gemüse mehr artgemäß leben können. Schon dies sind weitreichende Konsequenzen relativ zur gegenwärtigen Praxis. Die darüber hinausgehende Frage, wozu wir eigentlich da sind, was mit der Kraft, welche uns die andern Lebewesen geben, also positiv geschehen soll, ist die nach der Bestimmung des Menschen. Wozu sind wir da in der Welt? Die historische Situation, in der die Frage nach der Schuldigkeit des Menschen in der Natur neu gestellt wird, ist die Umweltkrise. Es versteht sich nicht von selbst, daß in der bisherigen Wahrnehmung der Natur bereits die Unterscheidungen ge-

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macht sind, auf die es nun ankommt. Zum Beispiel ist es bisher unterlassen worden, zwischen dem Ganzen und dem außermenschlichen Teil des Ganzen der Natur klar zu unterscheiden. Diese Unklarheit hat dazu beigetragen, daß wir Menschen uns der eigenen Teilhaftigkeit an der Naturgeschichte nicht hinreichend bewußt gewesen sind. Eine der bisher dominierenden Unterscheidungen war die zwischen Natur und Kultur. Ist dies in der Umweltkrise eine Gegenüberstellung, auf die es ankommt? Ich meine nicht, denn Kultur gilt hier als etwas, was Menschen in die Welt bringen, und Natur als das von Menschen nicht Geprägte. Der Mensch wird also auch hier nicht zur Natur gerechnet, d.h. wir haben keinen Kulturbegriff für das menschliche Handeln in der Natur. Tatsächlich haben die Kulturwissenschaften die Natur seit dem 19. Jahrhundert im wesentlichen den Natur- und Ingenieurwissenschaften überlassen. Dementsprechend ist unserm Handeln in der Natur - unserm Umgang sowohl mit dem menschlichen Leib als auch mit der natürlichen Mitwelt - heute relativ am wenigsten anzusehen, daß wir eigentlich ein Kulturvolk sind. Keinen Kulturbegriff in Bezug auf die Natur zu haben entspricht dem heutigen Naturverständnis aber noch in einem tieferen Sinn. Eine Grundfrage des menschlichen Selbstverständnisses im Ganzen der Natur ist nämlich, ob wir Menschen Veränderungen in die Welt bringen dürfen oder gar sollen, zu denen es ohne Menschen nicht käme, oder ob wir die Welt möglichst so wieder verlassen sollten, als seien wir gar nicht dagewesen. Für die Veränderung treten vor allem die Industrialisten ein, und zwar im Verständnis der Natur als einem Ensemble von Ressourcen. Für die möglichst weitgehende Erhaltung engagieren sich demgegenüber die Umweltschützer. Die Wunschgegner der Industrialisten tun dies sogar in einer Grundorientierung an der unberührten Natur. Ich kann mich hier nicht recht zuordnen, denn ich sehe zwar, daß in der jetzigen Situation vor allem an die Erhaltung oder Erneuerung gefährdeter oder bereits zerstörter Lebensverhältnisse gedacht werden muß, meine aber nicht, daß wir grundsätzlich dazu da sind, die Welt wieder so zu verlassen, als seien wir gar nicht da-

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gewesen. Vielmehr kann meines Erachtens eine Welt mit Menschen durchaus schöner und besser sein als eine Welt ohne Menschen. Soweit das für das industriewirtschaftliche Handeln nicht gilt, finde ich dieses so töricht, daß niemand sagen sollte, zu Besserem seien wir nicht imstande. Ich bin also sowohl Umweltschützer als auch grundsätzlich für die Veränderung, allerdings nur dann, wenn wir uns zunächst ein anderes Bild der Welt machen, nachdem es mit den Veränderungen nun etwas zu weit gegangen ist. Dazu bedarf es vor allem eines revidierten Naturverständnisses. Wer dafür eintritt, daß wir Menschen Veränderungen in die Welt bringen dürfen und sogar sollen, dabei aber die natürliche Mitwelt nicht nur für ein Ensemble von Ressourcen hält, um menschliche Wünsche zu erfüllen, muß nun freilich die wünschenswerten von den nicht wünschenswerten Veränderungen zu unterscheiden helfen. Die ersteren sind diejenigen, die meines Erachtens im eigentlichen Sinn den Begriff Kultur (Pflege) verdienen, die letzteren nicht. In meinem Verständnis ist Kultur weitgehend ein spezifisch menschlicher Beitrag zur Naturgeschichte. Soviel ich sehe, bringen alle Arten von Lebewesen etwas je Besonderes in die Welt, und für die Menschen ist dies wohl noch am ehesten die Kultur, sei es in Gestalt von Kulturlandschaften und Gärten oder von Städten und Kunstwerken. Als dritter Grundsatz einer holistischen Ethik ist dann hinzuzufügen: (3) Kultur ist der menschliche Beitrag zur Naturgeschichte. Das heißt: nicht alles, was wir tun, aber das, was wir tun sollten. Es ist nicht wider die Natur, daß Menschen Veränderungen in die Welt bringen. Jedoch gehört es zur naturgeschichtlichen Ausstattung des Menschen, den Unterschied zwischen denjenigen Veränderungen, durch die wir unserer Schuldigkeit entsprechen, und denen, durch die wir dies nicht tun, zumindest grundsätzlich machen zu können. Ob nun z.B. Pyramiden, Kunstwerke, Kulturlandschaften und in sie eingebettete Städte, Segelboote und Fahrräder als Kultur gelten sollen dürfen, Atomkernkraftwerke, Automobile und FCKW hingegen nicht, ist im Sinn der hier vorgeschlage-

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nen Alternative nicht leicht zu entscheiden. Vermutlich können wir nur selten sicher sein, wieweit die durch Menschen hervorgebrachten Veränderungen in der Naturgeschichte unserer Schuldigkeit gerecht werden. Diese Unsicherheit spricht jedoch nicht grundsätzlich gegen die vorgeschlagene Unterscheidung, denn wir sind in fast allen wesentlichen Entscheidungen unsicher, ob wir das Richtige tun. Die Unsicherheit sollte allerdings nicht so weit gehen, daß alles industriewirtschaftliche Handeln gleichermaßen gerechtfertigt erscheint. Mein eigener Beitrag zur Entwicklung des neuen Leitbilds sind genauere Überlegungen, wie das neue Naturverständnis des Mitseins zu verstehen ist und wieweit es eine naturphilosophische Grundlage ethischer oder rechtlicher Normen sein kann. Es versteht sich, daß es in allen beteiligten Kompetenzund Handlungsbereichen bis hin zum Recht näher bestimmt und nur als eine Gemeinschaftsleistung ganzheitlich entworfen und ein Gegenstand der Willensbildung werden kann. Aus der Sicht des Naturphilosophen trage ich zu der umfassenden Besinnung, wie aus unserer Wirtschaft wieder Kultur werden kann, einstweilen die folgenden fünf Grundgedanken bei: (1) Heuristik des naturgeschichtlich Bewährten: In der Umwelt- bzw. Mitweltkrise kommt es darauf an, die Regeln des menschlichen Verhaltens wieder in Einklang mit der Ordnung des Ganzen zu bringen. Wir suchen unsern Lebensraum im Ganzen der Natur. Vor aller Veränderung also gilt es uns zu vergegenwärtigen, was schon da ist. Dabei können uns die im Verlauf der Naturgeschichte entstandenen Verfahren und Prozesse heuristisch insoweit zum Vorbild dienen, als sie das Ganze der Natur bisher in vielen Millionen Jahren jedenfalls um Größenordnungen weniger gefährdet haben, als die von uns erdachten wissenschaftlich-technischen Prozesse es bereits nach wenigen Jahrzehnten oder Jahrhunderten tun. Insoweit naturgeschichtlich bewährt sind etwa die Photosynthese oder die geschlechtliche Fortpflanzung und die organische Entwicklung (im Gegensatz zum Fortschritt). Nach dem

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heuristischen Paradigma des naturgeschichtlich Bewährten wäre die heutige Biotechnologie wohl zum großen Teil nicht erfunden worden, an ihrer Statt aber andere, zum Teil wohl ebenfalls molekularbiologische Verfahren der biologischen Technik. Insbesondere darf nicht alles als bewährt im Sinn von ,relativ unschädlich' gelten, was ,auch in der Natur vorkommt'. Beispielsweise ist der bloße Hinweis, daß Prozesse der jetzt in vitro praktizierten Art auch in vivo stattfinden, bestenfalls von rhetorischem Interesse und ohne jeden legitimatorischen Wert. Nach dem heuristischen Kriterium des naturgeschichtlich Bewährten wäre über das bloße Vorkommen hinaus vielmehr die Art dieser Bewährung und ihre Vergleichbarkeit z.B. mit Freilandversuchen zu überprüfen. Im übrigen dient ein heuristisches Kriterium immer nur der Eingrenzung grundsätzlich diskutabler Lösungen, niemals der definitiven Rechtfertigung einer von ihnen. (2) Nachhaltigkeit: Zur Einbettung unserer menschlichen Lebensräume in das Ganze der Natur gehört, daß wir nachhaltig wirtschaften. Nachhaltigkeit bedeutet im - ursprünglich forstwirtschaftlich - umfassenden Sinn, daß Lebensverhältnisse insgesamt erhalten bleiben, nicht nur daß die Material und Energiebilanzen ausgeglichen sind. Mit der Erhaltung von Lebensverhältnissen meine ich nicht, daß sich durch den Menschen nichts ändert, wohl aber, daß andere Arten von Lebewesen weiterhin ihre eigenen Lebensräume haben und diese nicht nur allenfalls noch in dem unseren finden können. (3) Würde der Kreatur: In der Schweiz wurde durch die Volksabstimmung vom 17. Mai 1992 ein neunter Zusatz zum Artikel 24 der Bundesverfassung angenommen, durch den „der Mensch und seine Umwelt ... gegen Missbräuche der Fortpflanzungs- und Gentechnologie geschützt" werden sollen. Dem Gesetzgeber wird aufgetragen, dazu in einer näher bestimmten Weise sowohl für den „Schutz der Menschenwürde" zu sorgen, als auch der „Würde der Kreatur" Rechnung zu tragen, und zwar der der Tiere und Pflan-

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zen. Dies ist, soweit ich weiß, der international avancierteste Ansatz, das Mitsein in der Gemeinschaft der Natur auch rechtlich anzuerkennen. Der Artikel 24novies der Schweizer Verfassung kann uns hier zum Vorbild dienen. (4) Gegenwart des Gewordenseins: In der menschlichen Gesellschaft ist jedes Sein ein Gewordensein; nicht nur unser Dasein insgesamt ist geschichtlich, sondern sogar jedes Individuum ist durch Bildung (im weitesten Sinn) geworden, was es ist. Würden wir dieses Kulturprinzip auch in unserm Umgang mit der natürlichen Mitwelt gelten lassen, so wären alle Dinge mitsamt ihrer Vorgeschichte wahrzunehmen, also z.B. Nahrungsmittel einschließlich der Tierund Pflanzenhaltung, der artgemäßen Haltung oder der Tier- und Pflanzenquälerei, die ihnen vorausliegt. Im neuen Bewußtsein könnte die Landwirtschaft wieder zur AgriKultur werden, dasselbe Prinzip aber auch andere Wirtschaftsbereiche erfassen. (5) Zeit lassen: Kulturelle Prozesse brauchen Zeit, diese Zeit muß man ihnen lassen. Demgegenüber ist der Fortschritt seinem Wesen nach umso größer, je weniger Zeit er braucht, also im Grenzfall am größten, wenn er gar keine Zeit mehr braucht. Es gibt heute schon das Problem, daß wir nicht hinreichend abwarten, wieweit Prozesse sich als Fehlentwicklungen erweisen (Kafka 1989), und uns dann vermöge unserer außerordentlichen Flexibilität an Fehlentwicklungen anpassen. Ein Beispiel ist die Herbizidresistenz von Nutzpflanzen, weil durch die sogenannten Pflanzenschutzmittel der Selektionsdruck auf die Nutzpflanzen manipuliert wird. Ein anderes Beispiel wären abgasfeste Bäume statt der Verminderung der Schadstoffemissionen. In der Gen- und Biotechnologie verstärkt sich dieses Problem generell, weil die naturgeschichtlich betroffenen Entwicklungen noch viel größere Zeitkonstanten haben als die kulturellen. Umso mehr kommt es darauf an, allem seine Zeit zu lassen.

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Sowie man grundsätzlich zugibt, daß Menschen Kultur, also Veränderungen in die Welt bringen dürfen und sogar sollen, und den Eigenwert der Lebewesen und Dinge der natürlichen Mitwelt auf das Ganze der Natur hin relativiert, wird es denkbar, sowohl den Verzehr von Individuen, als auch die Unterdrückung nicht nur von Krankheitserregern zu rechtfertigen. Es ist sicher richtig, die Welt so einzurichten, daß Pockenerreger möglichst wenig Schaden anrichten können, aber auch in einem Garten kann man nicht jeder Pflanze ihr Leben lassen. Naturgeschichtlich verwandtschaftliche Rücksichten brauchen uns von dieser Konsequenz nicht abzuhalten, denn in der Menschheitsfamilie gibt es gleichermaßen Konflikte, in denen gegen Verwandte eingeschritten werden muß, z.B. zur Selbstverteidigung, zur Verteidigung von Angehörigen oder im Interesse Dritter. Wo liegt dann die Grenze zu einer Rechtfertigung der massenhaften Artentötung durch die Industriegesellschaften insbesondere seit dem Zweiten Weltkrieg? Die praktisch entscheidende Veränderung, die der holistische Ansatz mit sich bringen würde, ist eine Umkehr der Beweislast. Die Industriegesellschaft lebt bisher nach dem Grundsatz, jedenfalls konsumieren zu dürfen, was die Welt zu bieten hat. Soweit der Schuldigkeitsansatz stattdessen zur Geltung gebracht würde, lautete die Grundfrage, was wir dem Ganzen der Natur schuldig sind. Dabei wären wir vor Irrtümern immer noch nicht sicher, ausgenommen den einen, nicht wenigstens die unserm Dasein angemessene Frage gestellt zu haben.

Literatur Die Edda. Götter- und Heldenlieder der Germanen. Aus dem Altnordischen übertragen, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Arthur Häny. Zürich (Manesse Verlag: Bibliothek der Weltliteratur) 4 1 9 9 2 , 588 S. Erdmann, Zeyde-Margreth: Vom Baum der Erkenntnis zum Baum des Lebens. (Manuskript). Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Jubiläumsausgabe in

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zwanzig Bänden. ... hrsg. von Hermann Glockner. Siebenter Band. 4. Aufl. N D Stuttgart-Bad Cannstadt (Frommann-Holzboog) 1964, 456 S. Kafka, Peter: Das Grundgesetz vom Aufstieg. München (Hanser) 1989. von Kues, Nikolaus : De docta ignorantia. Zweites Buch. In: Philosophischtheologische Schriften. Hrsg. und eingeführt von Leo Gabriel. ... Studienund Jubiläumsausgabe Lateinisch-Deutsch. Band 1. Wien (Herder) 1964, S. 311-417. von Kues, Nikolaus : De conjecturis. In: Philosophisch-theologische Schriften. Hrsg. und eingeführt von Leo Gabriel. ... Studien- und Jubiläumsausgabe Lateinisch-Deutsch. Band 2. Wien (Herder) 1966, S. 1-209. von Kues, Nikolaus : Idiota de sapientia. In: Philosophisch-theologische Schriften. Hrsg. und eingeführt von Leo Gabriel. ... Studien- und Jubiläumsausgabe Lateinisch-Deutsch. Band 3. Wien (Herder) 1967, S. 419-477. Meyer-Abich, Klaus Michael: Aufstand für die N a t u r - Von der Umwelt zur Mitwelt. München (Hanser) 1990, 148 S. Meyer-Abich, Klaus Michael: Wege zum Frieden mit der N a t u r - Praktische Naturphilosophie für die Umweltpolitik. München (Hanser) 1984, 321 S. Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft. In: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (= KSA) in 15 Bänden. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Band 3. Berlin/New York (de Gruyter) 1967-1977. N D München (dtv) 1980, S. 343-651. Siep, Ludwig: Ethik und Anthropologie. Vortrag Konstanz 1994. In: Identität, Leiblichkeit, Normativität. Neue Horizonte anthropologischen Denkens. Hrsg. von A. Barkhaus u.a. Frankfurt/M. (Suhrkamp) Frühjahr 1996 (Seitenzahlen nach Manuskriptfassung). Urban, Martin: Fischgene für Fichten. In: Süddeutsche Zeitung, 15. Sept. 1994, S. 36.

Carl Friedrich

Gethmann

Zur Ethik des umsichtigen Naturumgangs

Für eine verbreitete Form der Kritik an den Naturwissenschaften ist eine Vorstellung von „Natürlichkeit" leitend, die ihnen eine mehr oder weniger illegitime Intervention in eine an sich intakte Natur unterstellt. Zusammen mit dem Topos vom „Menschen als Teil der Natur", ergibt sich daraus das Szenario einer den Menschen und die ihn umgebende Natur aggressiv attackierenden technischen Intervention. Die Bereitschaft zu dieser Form der Intervention wird dann als Grundhaltung neuzeitlich-moderner Naturwissenschaft und Technik entlarvt und einer „alternativen" Wissenschaft gegenübergestellt. Entsprechend wird die Lösung der Probleme der wissenschaftlichtechnischen Kultur in einem sanften, „sein-lassenden" {Heidegger) Naturumgang gesehen. Die Qualifikation z.B. eines Medikaments als „natürlich" im Unterschied zu „künstlich" (auch: „chemisch") erscheint als gleichbedeutend mit „sachgerecht", im Unterschied zu „unsachgerecht" und „wider-natürlich". Die sich in solchen Qualifikationen eher diffus niederschlagenden Intuitionen drücken nicht in erster Linie verschiedene Naturverständnisse im rein kognitiven Sinn aus; vielmehr werden sie durch Vorstellungen über den richtigen Umgang mit der Natur und mit dem darin eingebundenen Menschen angeleitet. Projiziert man den Gegensatz auf die philosophische Diskussionsebene, dann geht es in erster Linie nicht um theoretische, sondern um „praktische Naturphilosophie" 1 , d.h. um die ethi1

Vgl. K.M. Meyer-Abich, Wege zum Frieden mit der Natur. Praktische Naturphilosophie für die Umweltpolitik.

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Carl Friedrich Gethmann

sehe Rechtfertigung eines moralisch zu verantwortenden Naturverhältnisses. - Allerdings zeigt die genaue Rekonstruktion der dabei einschlägigen grundlegenden Prämissen, daß sich theoretische und praktische Fragen, also die Frage des adäquaten Naxurverständnisses und die des adäquaten ~Nztummgangs, miteinander verschränken; dies kann im folgenden nur ansatzweise berücksichtigt werden. Die philosophische Diskussion in Deutschland um die Rechtfertigung der moralischen Verpflichtungen zum Schutz der Natur, der Tiere, der Vielfalt der Arten u.a. spielt sich brennpunktartig zwischen zwei Ethikkonzeptionen ab: dem Utilitarismus und einem naturalistischen Biozentrismus. Auf Basis der utilitaristischen Konzeption1 wird versucht, die Verpflichtungen gegenüber der Natur aus umfassend verstandenen Klugheitsregeln zur Wahrnehmung genuin menschlicher Interessen abzuleiten. Allerdings hat der utilitaristische Ansatz die grundsätzliche Schwierigkeit, daß für ihn das Geltendmachen von Interessen (to make a claim) und das Haben von Interessen (to have a claim) letztlich zusammenfallen müssen, weil sonst der Interessenkalkül ohne „Eingabedaten" bleibt. Der utilitaristische Ansatz bleibt daher im Kern immer ein sehr eng ausgelegter Anthropozentrismus, ein „Humanegoismus" .3

2 3

Vgl. D. Birnbacher, Verantwortung für zukünftige Generationen; ders., „Plädoyer für einen utilitaristischen Ansatz in der angewandten Ethik". Dabei kann außer Betracht bleiben, daß die Klassiker des Utilitarismus für den Tierschutz durchaus Verständnis hatten, wenn auch aus sehr unterschiedlichen Gründen: Ein utilitaristischer Pathozentrismus, wie ihn z.B. J. Bentham vertritt, steht immer vor der Schwierigkeit, daß es Menschen sind, die Begehrungen der leidensfähigen Nicht-Menschen als Interessen deuten und damit deren Art und Umfang festlegen müssen.

Zur Ethik des umsichtigen Naturumgangs

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Die biozentristischen Ansätze4 gehen demgegenüber von Eigenrechten der nicht-menschlichen Naturwesen aus, die gegenüber menschlichen Ansprüchen zur Geltung gebracht werden müssen. Diese Position muß sich jedoch mit einer Reihe von Schwierigkeiten auseinandersetzen. Neben einfachen operativen Problemen (Wer stellt diese Eigenrechte verbindlich fest? Wer vertritt sie gegenüber wem?) entsteht grundsätzlich das ethische Paradox, daß in Konfliktsituationen auch eine Instrumentalisierung der menschlichen Person zugelassen werden müßte; prinzipiell müßte die Möglichkeit bestehen, daß sich das Lebensrecht eines Menschen dem Eigenrecht z.B. eines Tieres zu unterwerfen hat. Eine solche Maxime widerspricht jedoch der strukturellen Zentralität des Menschen (s.u. § 1). Im folgenden wird davon ausgegangen, daß eine EthikKonzeption, die sich auf den Gedanken der Verallgemeinerbarkeit von Maximen stützt, d.h. die Frage der moralischen Beurteilung von Handlungen nicht auf inhaltliche, sondern auf prozedurale Kriterien bezieht, nicht mit den vorgenannten Schwierigkeiten konfrontiert ist. Allerdings muß auch die Ethik der Verpflichtung {Kant) im Hinblick auf die Verpflichtungen gegenüber „der Natur" neu konzipiert werden. Im folgenden sollen diejenigen fundamentalen pragmatischen Phänomene herausgestellt werden, die ein in diesem Sinn neues Verständnis ermöglichen. Je nach ethischer Konzeption ergibt sich ein anderes Verständnis von „Natürlichkeit" und entsprechend auch eine andere Funktion von „Natürlichkeitsprämissen" bei der präskriptiven Beurteilung technischer Interventionen. Diese unterschiedlichen Bedeutungen haben wiederum erhebliche Folgen für die Einschätzung von Naturwissenschaft und Technik. Will man 4

S. vor allem Η .Jonas, Das Prinzip Verantwortung; R. Spaemann, Philosophische Essays; ders., „Technische Eingriffe in die Natur als Problem der politischen Ethik"; K.M. Meyer-Abich, Aufstand für die Natur. - An diesen Positionen wird in der aktuellen Debatte in mehrfacher Hinsicht Kritik geübt; vgl. z.B. J. Mittelstraß, „Aneignung und Verlust der Natur"; V. Gerhardt., „Das Prinzip Verantwortung"; L. Honnef eider, „Der Streit um die Person in der Ethik"; W. Vossenkuhl, „Ökologische Ethik".

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daher die Grundlagen der gegenwärtig verbreiteten kritischen Einstellungen gegenüber Wissenschaft und Technik explizieren und versuchen, auf diese Einstellungen korrigierend einzuwirken, kommt man nicht umhin, sich (neben der unverzichtbaren wissenschaftstheoretischen Klärung des Naturverhältnisses der technisch intervenierenden Naturwissenschaften 5 ) auch mit den grundlegenden ethischen Fragen eines angemessenen Naturumgangs zu befassen. Eine Naturwissenschaft, die großen Teilen der Bevölkerung als „gewaltsam" oder „unangemessen" erscheint, wird schließlich wegen unüberwindbarer Legitimationsprobleme in andere Denkprovinzen verdrängt oder - wenn es keine solchen gibt - untergehen. Aus der Kulturgeschichte wissen wir, daß keine noch so vernünftig erscheinende Erfindung der Menschen - und seien es die Wissenschaften - eine quasi-naturhafte Bestandsgarantie hat. Auch was so vernünftig ist wie die moderne Wissenschaft muß als kulturelle Leistung ständig neu errungen und neu verstanden werden. Ein Teil dieser Deutungsarbeit besteht darin, die moralischen Präsuppositionen moderner Naturwissenschaft nachzuzeichnen und ihre Rechtfertigung zu prüfen.

1. Zentralität Eine der faktisch unerschütterten - durch retorsive Argumentation als unerschütterbar ausweisbaren - Grundlagen menschlicher Handlungserfahrung ist, daß der Ich-Autor einer (Rede-) Handlung nicht ohne semantischen Verlust auf den Akteur einer korrespondierenden Handlungsbeschreibung reduziert werden kann. Dies kann am Beispiel elementarer Redehandlungen gezeigt werden. Während die Äußerung Jch verspreche dir, dich morgen zu besuchen" der Vollzug einer Versprechenshandlung ist, ist die Äußerung 5

Vgl. dazu v.a. P. Janich, Grenzen

der

Naturwissenschaft.

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Jemand verspricht dir, dich morgen zu besuchen, und derjenige, der das verspricht, bin ich" jedenfalls kein Versprechensvollzug. Unter naheliegenden Randannahmen könnte es gut der Bericht über einen Versprechensvollzug sein (oder eine andere Art der Beschreibung wie Erzählung, Erläuterung usw.). Auch ohne ausgefeilte Klassifikation von Redehandlungen dürfte einsichtig sein, daß das Ein-Versprechen-Geben pragmatisch etwas anderes ist als z.B. das Einen-Bericht-Geben. Dies zeigt sich besonders in der in den „wesentlichen Bedingungen" (Searle) formulierten Verpflichtung, die Redehandlungen kennzeichnen. Während der Vollzug des Versprechens nur dann Erfolg hat, wenn sich der Autor des Versprechens beizeiten daranmacht, die versprochene Handlung auszuführen, hängt der Erfolg des Vollzugs des Berichts über ein Versprechen davon ab, daß der Bericht verläßlich ist, jedenfalls nicht davon, daß sich der Autor des Berichtens verpflichtet, Η zu tun, wenn er berichtet, daß jemand versprochen hat, Η zu tun. Die Verwechslung des Vollzugs-Ich mit dem Berichtsgegenstand „Ich" soll im folgenden als Jehler der Verwechslung von Vollzugs- und Berichtsperspektive" bezeichnet werden. Es handelt sich um einen typischen Kategorienfehler im Sinne von G. Ryle6. Daß es sich tatsächlich um einen Fehler handelt, zeigt das folgende retorsive Argument: Ein Wesen, das sich selbst als handlungs-vollziehend erfährt, kann sich nicht restlos als bloßen Berichtsgegenstand setzen. Denn gesetzt, es berichte über etwas, dann ist es unhintergehbar der Ich-Autor der Handlung des Berichtens (wenn auch nicht zwingend der berichteten Handlung). Wer sich einmal und prinzipiell als Handlungsautor erfährt, kann sich selbst zwar bezüglich eines jeden jeweiligen Handlungsvorkommnisses als bloßen Berichtsgegenstand setzen, nicht aber jeden Handlungsvorkommnisses schlechthin. Der Handlungsautor kann sich nicht schlechthin wegdenken.

6

G. Ryle, The Concept of Mind.

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Damit zerfällt die Klasse der möglichen Berichtsgegenstände vollständig und disjunkt in zwei Teilklassen: • solche, für die unterstellt wird, daß sie schlechthin Gegenstände eines Berichts bezüglich eines Handlungsvorkommnisses sein können („Objekte"), • solche, für die unterstellt wird, daß sie bei Strafe des Feh-

lers der Verwechslung von Vollzugs- und Berichtsperspektive

nicht schlechthin Gegenstände eines Berichts bezüglich eines Handlungsvorkommnisses sein können („Subjekte"). Um diese Struktur zu illustrieren, bietet sich die Metapher von Zentrum und Peripherie an.7 Ein Betrachter steht selbst immer im Zentrum seines Gesichtskreises, er mag sich hinbewegen, wohin er will. Dagegen mag ein Beobachter dieses Betrachters ihn irgendwo in seinem eigenen Gesichtskreis piazieren. Die Nicht-Substituierbarkeit der Vollzugsperspektive durch die Berichtsperspektive kann metaphorisch daher auch so beschrieben werden, daß der Autor sich selbst notwendig als Zentrum (seiner Welt) präsupponiert. Man kann daher zu Recht von einem strukturellen Anthropo„zentrismus" sprechen. Diese strukturelle Charakterisierung des Handlungsautors ist jedoch streng von der Selbstermächtigung von Menschen zu einem ausbeuterischen Naturverhältnis zu unterscheiden.8 Die Struktur der Zentralität ist auch zu beachten, wenn die Bedeutung des Topos vom „Menschen als Teil der Natur"9 untersucht wird. Die Versuchung liegt nahe, die Wendung so zu 7

8 9

Die Einführung von Zentralität als philosophischer Terminus erfolgt mit Blick darauf, daß die gegenwärtige Diskussion als Auseinandersetzung um den Anthropo-zentrismus und andere Zentrismen (Bio-, Kosmo-, Öko-, Patho- u.a.) geführt wird. Im übrigen erzeugt der Vorgänger-Terminus „Subjektivität" immer noch die Assoziation, man wolle durch die Verwendung dieses Terminus etwas „spalten" (nämlich das Subjekt vom Objekt). Bei der Verwendung der Metaphorik von Zentrum und Peripherie wird hoffentlich deutlich, daß „unterscheiden" nicht „spalten" bedeutet. Vgl. L. Schäfer, Das Bacon-Projekt. Dieser Topos wird vor allem von den „biozentristischen Ansätzen" (vgl. Anmerkung 4) in den Vordergrund gestellt.

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interpretieren, als weise ein außenstehender, unbeteiligter Berichterstatter dem Menschen seinen Platz unter den Plätzen anderer Lebewesen an. Tatsächlich ist es aber der sich als handelnd erfahrende Mensch, der „sich" einen Platz anweist. „Der Mensch ist Teil der Natur", sagt der Mensch. Dieser Sicht scheint vor allem entgegenzustehen, daß die sich rasant entwickelnden Naturwissenschaften vom Menschen das anthropozentrische Selbstverständnis zunehmend erschüttern. Wird nicht immer deutlicher, daß das menschliche Handeln auch nur ein (wenn auch besonders komplexer) verursachter Wirkungszusammenhang ist, auch wenn wir die kausalen Parameter noch nicht hinreichend gut verstehen? Die Frage zeigt, daß ein enger Zusammenhang zwischen der Unterscheidung von Vollzugs- und Berichtsperspektive und der pragmatischen (handlungstheoretischen) Frage der terminologisch adäquaten Rekonstruktion von Handlungen besteht. Um es auf eine einfache Alternative zuzuspitzen: Sind Handlungen als Wirkungen von Ursachen (Kausalismus) oder Ursachen von Wirkungen (Finalismus) zu interpretieren? Daß sich Handlungen als Wirkungen von Ursachen beschreiben lassen und daß solche Beschreibungen gut etablierten Zwecken dienen, kann als unbestritten gelten. Dies hindert jedoch nicht, daß die Zweckperspektive unerschütterbar diejenige ist, die der Handelnde selbst als Autor des Handlungsvollzuges einnimmt. Dieser methodische Primat der Zweckperspektive läßt sich in verschiedenen Varianten demonstrieren. Z.B. muß sich derjenige, der verschiedene Terminologien zur Handlungsdeutung zur Verfügung hat (etwa eine kausalistische und eine finalistische), fragen, welche er zu welchem Zweck wählen soll. Beispielsweise liegt nahe, daß sich die kausalistische Sicht immer dann empfiehlt, wenn Störungen eines erwartbaren Handlungsablaufs (mit dem Zweck ihrer Bewältigung) erklärt werden sollen. Ersichtlich unterliegt jedoch der Einsatz kausaler Erklärungsmuster einem Zweck (etwa dem Zweck des Erklärens). Grundsätzlich zeigt das: Der Handelnde versteht sein

Handeln primär als Zweckrealisierungsversuch (was immer ihm auch über die Ursachen seiner Handlung berichtet wird).

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Die strukturelle Zentralität des Menschen läßt sich in einer operativen und in einer kognitiven Lesart darstellen. Operativer Aspekt: Für den Menschen ist unvermeidbar, daß er seine Wirklichkeitsbewältigung als seine (menschliche) vollzieht. Handlungsumstände sind nur als Bedingungen und Begrenzungen des menschlichen Herstellens und Handelns gegeben. Das bedeutet allerdings nicht, daß der Mensch diese Umstände produziert; vielmehr treten sie ihm häufig gerade als aus anderen Ursprüngen als seinen Handlungen gegeben entgegen („Tat-sachen"). Kognitiver Aspekt: Der Mensch ist für sich selbst in seiner Wirklichkeitserfassung unhintergehbar, d.h. die Wirklichkeit ist ihm nur als menschlich erfahrene gegeben. Das bedeutet allerdings nicht, daß er die Wirklichkeit als von ihm produzierte wahrnimmt, in vielen Fällen wird sie ihm gerade als „anders", nicht-menschlich, gegeben („Gegen-stände").

2. Tutorische Verpflichtung Die Sphäre der praktischen Vernunft betritt man, sobald berücksichtigt wird, daß der Akteur mit seinen Zwecksetzungen auf andere Akteure trifft, von denen er unterstellt, daß sie ihr Handeln ebenfalls in der Vollzugsperspektive verstehen. Somit hat der Akteur damit zu rechnen, daß Zwecke aufeinandertreffen, die nicht zugleich (nicht nur: nicht gleichzeitig) zu realisieren sind. Ist die Zwecksetzung des Akteurs vor allem anderen dadurch ausgezeichnet, daß sie sich nicht vollständig in eine (z.B. kausale) Fremdzuschreibung auflösen läßt, gilt diese Auszeichnung jedoch für alle Akteure gleichermaßen, und treffen unvereinbare Zwecke aufeinander, so gibt es keine „natürliche" Privilegierung von Zwecksetzungen. Man befindet sich in der Situation des „Konflikts". Konflikte unter Gleichrangigen lassen sich nur lösen durch Aufgeben, Verändern oder Ausgleichen von Zwecken. Solche Konfliktbewältigungen können in einer groben Klassifikation non-diskursiv (durch mehr oder weniger drastische Formen

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von Gewalt) oder diskursiv (durch schrittweises Durchlaufen [discurrere] von Gründen und Gegengründen) erfolgen. Besteht ein Interesse an gewaltfreier Konfliktbewältigung, werden die Akteure versuchen, „Diskurse" zum Zwecke der Konfliktbewältigung zu führen. Da es sich um Diskurse über Handlungen und Handlungsweisen (εΦη, mores) handelt, sollen sie „moralische" Diskurse genannt werden. 10 Eine wichtige, in jedem Ethos vorwegentschiedene Frage ist die, wem die Diskursparteien die Kompetenz zuerkennen, an moralischen Diskursen gleichberechtigt teilzunehmen. Die verschiedenen Paradigmen philosophischer Ethik (Tugend-, Verpflichtungs- und Nutzenethik) kommen darin überein, daß diese Frage „universalistisch" zu beantworten ist. Die Rechtfertigung für den Universalismus liegt in folgender Überlegung: Gesetzt, man spreche jemandem, der zweckorientiert handelt, im Konfliktfall die moralische Kompetenz ab; dann ist der Konflikt nicht bewältigt, sondern urgiert. Also wird man zweckmäßigerweise die Extension der moralischen Kompetenz auf „alle" beziehen, somit wenigstens auf alle, die in der Lage sind, Konflikte zu erzeugen, d.h. wenigstens auf alle, die sich darauf verstehen, andere mit Begehrungen, Ansprüchen, Interessen usw., also Modi von Aufforderungen, zu konfrontieren. „Alle" sind in erster Näherung also diejenigen, die sich auf das Auffordern verstehen. Die Diskussion um die praktische Naturphilosophie hat jedoch gezeigt, daß durch diese Rechtfertigung des Universalismus keineswegs schon klar ist, wie der Umfang von „alle" zu bestimmen ist. Bekanntlich erfordert die logisch klare Verwendung von „alle" aber die Festlegung des Scopus, der unterstellt werden soll. Würde man nun argumentieren, „alle" , das seien genau die Exemplare der Art homo sapiens sapiens, würde man sich in eine argumentative Schwierigkeit ver-

10

Vgl. zum Ansatz C.F. Gethmann, „Proto-Ethik"; ders., „Lebensweltliche Präsuppositionen praktischer Subjektivität"; ders., „Praktische Geltungsansprüche und ihre Einlösung".

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wickeln, die zu Recht als „Speziezismus" kritisiert worden ist.11 Gegen den Speziezismus spricht, daß es Phänomene von unabweisbarer Evidenz zu geben scheint, die uns zwingen, die moralische Kompetenz Wesen, die nicht Menschen sind, zuzusprechen (z.B. den leidensfähigen Tieren), und Menschen, bei denen keine Zwecksetzungen erkennbar sind (z.B. Föten, geistig Schwerstbehinderten), abzusprechen. Somit bleibt die Frage, wem man mit guten Gründen moralische Kompetenz zusprechen soll, und nach welchen Regeln diese Zusprechung erfolgen sollte. Nach den Überlegungen zur Zentralität in § 1 unterstellt jeder zwecksetzende Akteur für sich selbst die Kompetenz der Teilnahme an moralischen Diskursen, denn er wird sich (wenn er ernsthaft seine Zwecke verfolgt) auch die Fähigkeit zuschreiben, diese in moralischen Diskursen zu vertreten - dies übrigens unbeschadet der Tatsache, daß er es vielleicht vorzieht, seine Zwecke mit non-diskursiven Mitteln durchzusetzen. Es geht um ein wesentliches Element der Selbsterfahrung des Handelns: um ein „Können". Der Handelnde, indem er sicher ist, daß er die Handlung ausführen kann, ohne sie auszuführen, verfügt über ein Handlungsschema12 unabhängig von der faktischen Performanz der Handlung. Es geht hier also um das pragmatische Verhältnis von Kompetenz und Performanz, nicht um die metaphysische Frage von Potenz und Akt. In der Berichtsperspektive bleibt die Rede über das Können eines Akteurs allerdings immer problematisch: Selbst wenn jemand eine Bewegung ausführt, die unter üblichen Bedingungen die Ausführung einer Handlung wäre, kann man sich bezüglich der Könnensunterstellung irren. Wer die Möglichkeit, über das Können zu reden, bestreitet, hat daher die Berichtsperspektive eingenommen, denn in der Vollzugsperspektive unterstellt der Akteur notwendig ein Können im Unterschied zum Handeln.

11 12

Vgl. dazu P. Singer, Praktische Ethik, Kap. 3; zur Kritik C.F. „Subjektivität und Species". W. Kamiah / P. Lorenzen, Logische Propädeutik, 95 - 101.

Gethmann,

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Hier geht es um das Können, die Realisierung von Zwecken zu planen und sich durch Handlungen auf den Pfad der Realisierung zu begeben. Wer Zwecke setzt, kann erfahren, daß diese mit anderen von ihm selbst oder von anderen gesetzten Zwecken konfligieren können. Sich auf das Auffordern zu verstehen, heißt somit nicht, Aufforderungen tatsächlich auszuführen. Beim Auffordern als elementarem Redehandeln ist, wie beim Handeln überhaupt, zwischen der Fähigkeit und ihrer Ausübung, zwischen Kompetenz und Performanz zu unterscheiden. Sich auf das Auffordern verstehen hat die mögliche Folge, Konflikte auslösen und an Diskursen um ihre Bewältigung teilnehmen zu können. Man kann daher von moralischer Kompetenz" sprechen. Bisher wurde von der Unterstellung ausgegangen, moralische Kompetenz realisiere sich in präsentischen Kommunikationssituationen, d.h. solchen, in denen sich Erwachsene mit durchschnittlicher Performanz zeit- und ortsnah gegenüberstehen. Wird in solchen Situationen präsentischer Kommunikation die moralische Kompetenz anerkannt, dann soll von direkter moralischer Kompetenz gesprochen werden. Grundsätzlich sind Lebenswelten mit ausschließlich direkter moralischer Kompetenz denkbar. Unsere moralische Praxis übersteigt die Bedingungen präsentischer Kommunikation jedoch in mehrfachen Dimensionen: Wir befinden uns in Kommunikation mit zeitlich und räumlich entfernten Kommunikationspartnern und mit Partnern, die in ihrer Performanz vom durchschnittlichen Erwachsenen in vielen Dimensionen abweichen. In solchen Fällen anerkennen wir indirekte moralische Kompetenz. In diesem Zusammenhang ist ein besonderes Phänomen der Handlungserfahrung die Wahrnehmung stellvertretender Kompetenz. Entsprechend gibt es Diskurse mit Abwesenden (fiktive Diskurse), Diskurse kraft Delegation von Diskurskompetenz (advokatorische Diskurse) und Diskurse aufgrund der Übertragung einer moralischen Vormundschaft (tutorische Diskurse). Die Wahrnehmung stellvertretender Kompetenz ist nun der entscheidende Ansatz, der es pragmatisch möglich macht, von Rechten künfti-

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ger Generationen, von nicht (mehr) geschäftsfähigen Menschen oder von Tieren zu sprechen. Vor allem die Bedeutung der moralischen Vormundschaft ist häufig in den Diskussionen um die moralische Kompetenz zu wenig berücksichtigt worden. Die Wahrnehmung moralischer Vormundschaft hängt zunächst wesentlich von der moralischen Kompetenz der unzweifelhaft Kompetenten ab. Die Frage, wie wir mit Föten, Schwerstbehinderten, Tieren usw. umgehen welchen moralischen Status wir ihnen zuschreiben - wird nicht durch quasi-metaphysische Attribute (z.B. Selbstbewußtsein), sondern durch die moralische Kompetenz der Kompetenten bestimmt - d.h. durch die Frage, wie diese miteinander umgehen und als was sie sich wechselseitig moralisch wahrnehmen. Aus der tutorischen Wahrnehmung von Rechten derer, die nicht oder nur eingeschränkt zur Performanz fähig sind, ergeben sich spezifische Rechte und Pflichten, die nicht an bestimmte Performanzen der betreffenden moralisch Kompetenten gebunden sind.

3. Paradigmen umsichtigen Naturumgangs Der Autor der Handlung kann in einem moralischen Diskurs seine Zwecke gewissermaßen zur Debatte stellen, d.h. im Interesse der Konfliktbewältigung auf sie verzichten oder sie verändern. Er kann sich jedoch nicht selbst zur Debatte stellen, weil er dann am moralischen Diskurs nicht mehr teilnehmen würde. Die Struktur der Zentralität hat also sowohl ein theoretisches wie ein praktisches Moment. Der Autor der Handlung kann sich - bei Strafe des Fehlers der Verwechslung von Vollzugs- und Berichtsperspektive - weder wegdenken noch auf sich verzichten. Ein Ethos des Verzichts, wie es z.B. von Jonas gefordert wird, hat grundsätzlich da seine Grenze, wo der Verzichtende auf seine Funktion als Autor des Verzichts verzichten wollte. Die Respektierung der Natur durch den Menschen hat nach den Überlegungen zur Zentralität dort ihre Grenzen, wo es um das Zweck-Mittel-Verhält-

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nis zwischen menschlichen Personen und anderen Wesen geht, d.h. im Konfliktfall darf der Mensch niemals Mittel für nichtmenschliche Wesen sein. Das schließt aber keineswegs aus, daß der Mensch Pflichten gegenüber der nicht-menschlichen Natur hat, nämlich - wie erläutert - tutorische Pflichten. In diesem Sinne kann man auch problemlos von „Rechten der Natur" sprechen, die allerdings strenggenommen keine „Eigenrechte" sind. Die Rede von „Rechten" impliziert, daß nichtmenschliche Naturwesen Anspruch darauf haben können, vom Menschen verantwortlich behandelt zu werden. In diesem Sinne wird dann der Begriff „Natur" richtig in präskriptiven Prämissen verwendet. Wir sprechen in einer präskriptiven Verwendung des Wortes von „Natürlichkeit". Für dieses Verständnis von Natürlichkeit macht es keinen grundsätzlichen Unterschied, ob der Naturumgang mit Unterstützung von Geräten (Maschinen, Anlagen), also im engeren Sinne „technisch", erfolgt. Allerdings fügt die moderne Technik den ethischen Problemen des nicht-technischen Handelns zwei wichtige Problemdimensionen hinzu: Technisches Handeln steht in besonders dramatischem Sinne unter den Bedingungen der Unsicherheit (die Zwecke des Handelns werden nur mit Wahrscheinlichkeit erreicht) und der Ungleichheit (die Kostenträger sind oft nicht die Nutznießer technischer Installationen). Die dadurch entstehenden Probleme des Handelns unter Risiko mit verschärften Konsequenzen bezüglich der Verteilungsgerechtigkeit können hier nicht weiter verfolgt werden. 13 Mittel unterliegen übrigens keineswegs zwingend dem Regime der Ausbeutung oder auch nur der Beliebigkeit, sondern sind zweckgerecht zu behandeln. Allerdings bedarf es dazu einer Rehabilitierung des Zweck-Gedankens in bezug auf die nicht-menschliche Natur und einer entsprechenden Ausformulierung der Zweck-Mittel-Rationalität des Handelns. 14 13 14

Vgl. C.F. Gethmann, „Ethische Probleme der Verteilungsgerechtigkeit im Umweltstaat". Vgl. J. Mittelstraß, „Leben mit der Natur"; L. Honnef eider, „Natur als Handlungsprinzip".

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Ein Handeln, das die Rechte aller von diesem Handeln Betroffenen einbezieht, und gegebenenfalls von der Bereitschaft getragen ist, die Zwecke dieser Handlungen im Konfliktfall mit anderen Rechtsträgern in einem moralischen Diskurs abzuwägen, heiße „umsichtig" (circumspect). Damit wird auf die Einführung des Terminus „Umsicht" durch M. Heidegger Bezug genommen: „Der gebrauchend-hantierende Umgang ist aber nicht blind, er hat seine eigene Sichtart, die das Hantieren führt und ihm seine spezifische Dinghaftigkeit verleiht. Der Umgang mit Zeug unterstellt sich der Verweisungsmannigfaltigkeit des ,Um-zu'. Die Sicht eines solchen Sichfügens ist die Umsicht."15

Eine mit der Struktur der Zentralität verträgliche Forderung ist die des umsichtigen Handelns gegenüber anderen Akteuren und nicht-menschlichen Wesen. Gemäß einer Ethik des umsichtigen Naturumgangs unterstehen die nicht-menschlichen Naturwesen wie die menschlichen Personen dem „utopischen", jeweils konkret handlungsorientierenden Gedanken, harmonische Elemente eines „Reiches der Zwecke"16 sein zu sollen, d.i. einer Gesellschaft, in der alle Menschen selbstbestimmt nur noch nach verallgemeinerbaren Maximen handeln. Der Gedanke des umsichtigen Naturumgangs enthält jedoch noch zahlreiche Unklarheiten, die eine genauere Explikation des Begriffs „Natur" notwendig machen. Dabei zeigt sich, daß „die Natur" nicht nur horizontal strukturiert werden muß (daraus ergeben sich „Sektoren" des Naturumgangs), sondern daß der Begriff „Natur" auch in unterschiedlichen Suppositionen verwendet wird. So ist beispielsweise unter Tierschutz etwas anderes zu verstehen als unter Artenschutz, obwohl in beiden Fällen die gleiche Grundgesamtheit der Tiere (beim Artenschutz zusätzlich die der Pflanzen) betroffen ist. In diesen beiden Fällen wird „Natur" einmal in materialer, zum anderen in formaler Supposition verwendet. Je nach Supposition hat man unter „umsichtigem Naturumgang" etwas anderes zu verstehen. Ent-

15 16

Sein und Zeit, 69. I. Kant, Grundlegung

zur Metaphysik

der Sitten, 433 ff.

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sprechend ergeben sich nicht nur verschiedene Sektoren, sondern auch verschiedene Modelle (Paradigmen) des Naturumgangs. Während die Differenzierung nach Sektoren eher bekannte Probleme herbeiführt (z.B. Forderung des Vegetarismus für fleischfressende Tiere bei Einhaltung des Postulats artgerechter Tierhaltung), wird die Differenzierung nach Paradigmen oft wenig berücksichtigt. Sie soll daher abschließend an den drei Schutz"objekten" „Natur", „Tier" und „Art" illustriert werden.

3.1

Naturschutz

Der umsichtige Umgang des Akteurs „Mensch" mit der Natur ist durch einen operativen und kognitiven Anthropozentrismus geprägt. Negativ formuliert bedeutet das, daß ein bloß ästhetisches Naturverhältnis für den Menschen nicht realisierbar ist, noch daß er es sich leisten könnte, wenn er als Exemplar und Spezies überleben will. In der öffentlichen Diskussion haben wir es allerdings nicht so sehr mit einem Ökozentrismus zu tun, sondern mit einem mehr oder weniger expliziten ethischen Naturalismus. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, die Bedeutung des Ausdrucks „Natur" in moralischen Kontexten zu präzisieren. Danach darf „Natur" im Interesse der Vermeidung von MißVerständnissen nicht als Nominator oder Prädikator verstanden werden. „Natur" ist vielmehr ein Abstraktor, d.h. ein Ausdruck, der die Weise bezeichnet, wie eine Gegenstandsregion zu verstehen ist.17 Mit „Natur" meinen wir die Gegenstände, insoweit sie ohne menschliches Zu-Tun entstanden sind. D.h. wir betrachten die Gegenstände, wie sie uns zunächst und zumeist lebensweltlich nicht begegnen. Treten die Gegenstände uns „natürlich" entgegen, befinden wir uns in einer lebensweltlichen Ausnahmesituation. Eine Gegenstandsregion als Natur zu verstehen, ist ein Sonderfall von Kultur. 17

W. Kamiah / P. Lorenzen, Logische Propädeutik, 101 - 104.

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Naturgemäß handeln heißt nicht, Handlungsorientierungen aus Bewegungsregularitäten einer bestimmten Klasse von Gegenständen abzulesen, wie das gemäß einer bestimmten Lesart von „Natur-Ethik" gesehen wird. Naturgemäß handeln heißt vielmehr, die Handlungsorientierungen unter Respektierung der Tatsache zu setzen, daß vieles (einschließlich unserer selbst) ohne unser Zu-Tun entstanden ist. Naturgemäß handeln heißt, uns und andere Gegenstände nicht als bloßes „Ge-stell" (Produkt) unserer selbst zu behandeln. Beispielsweise muß der Bildhauer die Natur des Stoffes respektieren. Diese Forderung schließt jedoch nicht aus, daß die Skulptur vollständig sein Werk ist. Naturgemäß handeln heißt anerkennen, daß das Spektrum der Handlungsmöglichkeiten beschränkt ist. Auch wenn wir nicht machen können was wir wollen, sagt uns „die Natur" allerdings nicht, was wir tun sollen.18

3.2 Tierschutz Die traditionelle Ethik der Verpflichtung scheint genau zwei Sorten moralischer Gegenstände zu unterstellen: diejenigen, die Träger moralischer Berechtigung und Verpflichtung sein können - menschliche Personen; und diejenigen, für die das nicht gilt - Sachen. Diese moralische Zweisphärenkonzeption wird in der Tat von Kant und den sich an ihn anschließenden Ethikkonzeptionen vertreten; sie gewinnt ihre Plausibilität auch dadurch, daß sie aus dem Römischen Recht in das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch übernommen worden ist. Das Problem, das uns heute deutlicher als seinerzeit Kant vor Augen steht, liegt darin, daß die leidensfähigen Tiere zwar in der Tat keine Träger von Verpflichtungen sind, daß sie aber in der entscheidenden Dimension der Leidensfähigkeit eine starke Ähnlichkeit mit menschlichen Personen aufweisen. Aus dem 18

Vgl. L. Honnefelder, „Natur als Handlungsprinzip"; D. Birnbacher,,„Natur als Maßstab menschlichen Handelns"; einen Diskussionsüberblick gibt U. Hampicke, „Naturschutz und Ethik".

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Leiden (z.B. Schmerz empfinden) wirkt eine Art Verpflichtung auf den Menschen, diese Wesen zu respektieren nach Analogie der Verpflichtung, andere menschliche Personen zu respektieren. Diese Sicht ist v.a. dann plausibel, wenn der kategorische Imperativ auf die Leidensfähigkeit abstellt. Ein Beispiel für diese Variante ist die „praktische Grundnorm", die W. Kamiah aufgestellt hat: „Es ist jedermann jederzeit geboten zu beachten, daß seine Mitmenschen bedürftig sind wie er, und demgemäß zu handeln." 19

Kraft tutorischer Verpflichtung ist dieses Moralprinzip auch auf die leidensfähigen Tiere zu beziehen. Die Frage der moralischen Rechte von Tieren läßt sich nicht auf ein empirisches Attribut, das man einem Wesen mehr oder weniger zuverlässig zuschreibt, auch nicht auf die Leidensfähigkeit, zurückführen. Uber die Begehrungen der Tiere können wir zwar nur im Berichtsmodus sprechen, dies gilt jedoch für andere Menschen zunächst auch. Ein entscheidender Unterschied besteht allerdings darin, daß andere Menschen prinzipiell ihre Begehrungen aus der Vollzugsperspektive dartun können, so daß diese Bekundungen wesentliche Kooperationsbestandteile bei der Deutung von Begehrungen sein können. Tiere sind dagegen (soweit wir bisher erfahren) bei der Interpretation möglicher Begehrungen grundsätzlich nicht deutungskooperativ. Die Deutungen bleiben in einem qualitativ entscheidenden Sinn hypothetisch. Dennoch erstreckt sich auf sie unsere tutorische Verpflichtung zu handeln, wie wenn sie in moralischen Diskursen Begehrungen zur Geltung bringen könnten.

3.3

Artenschutz

Die Überlegungen zum Schutz der menschlichen Person und zum Schutz der leidensfähigen Tiere beziehen sich in erster Linie auf Individuen bzw. Exemplare, nicht auf Arten. Die Fra19

Philosophische Anthropologie,

96.

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ge des Artenschutzes liegt also quer zur Frage des Handelns in bezug auf Individuen und Exemplare. Es ist ein besonderes ethisches Problem, einen argumentativen Ubergang von den moralischen Rechten von Individuen und Exemplaren zu den von ihnen gebildeten Arten vorzunehmen. Jedenfalls ist die Art ein sekundäres abstractum; anders formuliert: Es gibt keine Gattungs- oder Artenwürde. Daher beziehen sich die Uberlegungen zur Artenvielfalt und zum Artenschutz in erster Linie auf die Teile der Natur, die nicht durch einen kategorischen Imperativ (menschliche Personen) oder analoge Überlegungen (leidensfähige Tiere) moralisch besonders ausgezeichnet sind. Es geht darum, den Gedanken des Naturschutzes „naturgerecht" auf die Arten anzuwenden. Die Verantwortung menschlichen Umgangs mit der Natur in ihrem Artenreichtum darf dabei nicht mit einem praktischen Prinzip der Konstanz der Arten gleichgesetzt werden. Vielmehr müssen wir auch praktisch die Wende von der Auffassung der Artenkonstanz zum dynamisch-evolutiven Naturzusammenhang vollziehen. Das bedeutet: Das Entstehen und Vergehen von Arten ist Teil eines dynamischen Prozesses, der Bedingung (und nicht Begrenzung) der Artenvielfalt ist. Ein Festschreiben eines Status quo der Arten, selbst wenn möglich und wünschenswert, dient gerade der Reduzierung des Artenreichtums. In kurzfristiger Perspektive gilt im übrigen: „Die Natur" wirkt eher artenreduzierend, „der Mensch" eher artenerhaltend. Auch die Gentechnik ist von Haus aus nicht artenreduzierend, sie kann auch artenerhaltend oder sogar artenerzeugend eingesetzt werden. Auch wenn wir sicher sein könnten, daß wir eine Art definitiv nicht brauchen, spricht das jedoch noch nicht für ihre Vernichtung. Hier gilt in der Tat: Arten haben (als abstracta) keine Interessen (allenfalls Exemplare von Arten), aber wir haben unter Umständen Interessen an ihnen. Und nur wir haben - wenn überhaupt jemand - an ihnen Interesse. Diese Maxime ergibt sich durchaus aus zweckrationalen Überlegungen. Da wir die zukünftigen Bedürfnisse der Menschheit nicht kennen, haben wir uns den genetischen

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Bestand als genetische Bank möglichst weitgehend zu erhalten. Ferner soll der Naturhaushalt, soweit der Mensch von ihm abhängt, systemisch funktionieren. Dies hindert nicht, unter Umständen bestimmte Arten von Mikro-Organismen auszurotten. Gleichwohl gilt - vor allem angesichts der Unzulänglichkeiten des Wissens im Zweifel den Gen-Pool zu erhalten.

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Carl Friedrich Gethmann

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Wolfgang Schonefeld

Protokoll der Diskussion

Ziele und Grenzen des technischen Umgangs mit der Natur Positionen und Ergehnisse in der Diskussion zu den Vorträgen von Prof. Dr. K. Meyer-Ahich und Prof. Dr. C. Gethmann. Gethmann beginnt seine Bemerkungen zur Ethik des Naturumgangs mit der Untersuchung der gebrauchssprachlichen Funktion von „Natürlichkeitsprämissen". Damit ist - in rekonstruierender Redeweise - derjenige Teil von Argumenten gemeint, in denen Begriffe wie ,Natur oder Natürlichkeit' eine maßgebende Rolle spielen. Gethmann konstatiert hier im verbreiteten Sprachgebrauch die Vermischung von präskriptiven und deskriptiven Elementen. Die Natürlichkeitsprämissen enthalten demzufolge im allgemeinen sowohl Hinweise auf ein bestimmtes NaturVerständnis als auch Empfehlungen für einen bestimmten Naiurumgang. Unsere heutige Problemlage verleihe - darin sieht Gethmann eine Ubereinstimmung mit Meyer-Abich, der von einem Primat der Ethik gegenüber den Naturwissenschaften spricht den präskriptiven Elementen einen Vorrang vor denjenigen, die das Naturverständnis betreffen. Gethmann weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß aus der Darlegung eines Naturverständnisses wenig für das menschliche Handeln folge. Die Grundlage der Gethmannschen Überlegungen zur Ethik bildet die im Text ausgeführte „Zentralität". Hier handelt es sich um einen „strukturalen" Anthropozentrismus, mit dem Gethmann auch die von Meyer-Ahich als Mitverursacher des „Um" weltproblems diagnostizierte Konzeption des abendländischneuzeitlichen Subjekts verteidigen möchte: Nicht diese Sub-

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jektkonzeption sei für den ausbeuterischen Naturumgang verantwortlich, sondern eine mangelnde „Umsichtigkeit". Der umsichtige Naturumgang verlange weder eine neue Ethik, noch eine neue Wissenschaft, sondern vielmehr eine neue Art der Bezugnahme der Ethik auf die Umweltprobleme. Zwar sei unser neuzeitliches Subjektverständnis faktisch nicht mit dem umsichtigen Naturumgang versöhnt, jedoch stelle es sich als versöhn bar dar, d. h. auf der Grundlage eines strukturell verstandenen Anthropozentrismus lasse sich ein taugliches Konzept von Naturschutz, Tierschutz und Artenschutz errichten. Darüberhinaus hält Gethmann nur die anthropozentristische Fundierung des Naturschutzes - im Unterschied etwa zur ö&ozentristischen - für kompatibel mit den Errungenschaften der neuzeitlichen politischen Geschichte, die insbesondere einen weltanschaulichen Minimalismus hervorgebracht habe und damit individuelle Freiheitsrechte sicherstelle. Meyer-Abich erklärt sich einverstanden mit dem Grundsatz des „umsichtigen" Naturumgangs, sieht aber ein Hauptproblem des Gethmannschen Ansatzes im Anthropozentrismus. Für diese Auszeichnung des menschlichen Standpunktes finde sich bei Gethmann keinerlei Begründung. Meyer-Abich erblickt darin eine Fortführung der neuzeitlichen Subjektkonzeption. Die Eigenwerte werden der natürlichen Mitwelt gerade durch diese anthropozentrische Subjektkonzeption entzogen. Daher liege ihm weniger an einer Begründung von Eigen rechten der natürlichen Mitwelt, wie Gethmann es im Sinn hat, als vielmehr an einer Begründung von deren Eigen werten. Auch Böhme plädiert im Sinne von Meyer-Abich für eine Revision des Subjektbegriffs. An Gethmanns Ethikkonzeption kritisiert er, daß sie zwar ein Interesse an einer ethisch kontrollierten Beziehung zur Natur erkennen lasse, aber andererseits die Naturwesen nicht als Partner moralischen Handelns anerkenne, sondern zu diesem Zweck erst moralisch kompetente „Tutoren" heranziehen müsse. Die Spaltung zwischen Mensch und Natur, die im neuzeitlichen Subjektbegriff angelegt sei, verlaufe im übrigen auch durch den Menschen selbst und zeige sich

Protokoll der Diskussion

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in Form einer ausbeuterischen, instrumentalisierenden Beziehung zum eigenen Leib. Diesen Einwänden begegnet Gethmann, indem er den operativen Aspekt des Anthropozentrismus näher erläutert. Durch die Prokalamation von Eigenwerten Ungeborener oder Tiere usf. läßt sich nach Gethmann der operative Aspekt des strukturalen Anthropozentrismus insofern nicht ersetzen, als es stets jemanden geben muß, der diese Werte („operativ") geltend mache. Gerade der Hinweis auf Ungeborene und Tiere mache die Tutorschaft zu einem unabweisbaren Konzept, denn hier gebe es nur die Alternative, daß sich entweder niemand oder die moralisch Kompetenten für sie einsetzen würden und gewisse Pflichten geltend machten, die von den Betreffenden selbst nicht reklamiert werden können. Gethmann hält den Topos des Menschen als „Teil des Ganzen" , den Meyer-Abich vertrete, für unklar. Natur werde z.B. in Form von manchen Mikroorganismen auch als Bedrohung erfahren. Es könne daher auch nicht Lösung des Umweltproblems sein, sich in die Natur als Teil „einzupassen". Der Mensch müsse sich gegen die Natur mitunter auch wehren, und hier komme ein Aspekt von Bedrohung und Distanz gegenüber der Natur ins Spiel. Mehrere Anfragen erhält Meyer-Abich in bezug auf seine These von der „Schuldigkeit" des Menschen gegenüber der „natürlichen Mitwelt". Zunächst korrigiert Meyer-Abich hier moralische Lesarten der Schuldigkeit. Sie sei von Schuldhaftigkeit im moralischen (insbesondere christlichen) Sinne zu unterscheiden, weil Schuldigkeit für uns unvermeidbar sei und schon daher nicht mit moralischer Schuld identifiziert werden dürfe: Als Menschen seien wir Teil einer „Ernährungsgemeinschaft", aus der wir nicht heraustreten könnten. Darüberhinaus stünden wir in abstammungsbedingten Verwandtschaftsverhältnissen zu allen Tieren, Pflanzen und letztlich auch zur unbelebten Natur. In diesem Sinne, also aufgrund von Abstammung und Ernährung, seien wir der natürlichen Mitwelt etwas „schuldig".

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Wolfgang Schonefeld

Daran wird von einem Teilnehmer kritisiert, daß aus der bloßen Konstatierung von Verwandtschaftsverhältnissen keinerlei Verpflichtungen abzuleiten seien, da aus einem wie auch immer gearteten Sein kein Sollen folge. Unbeantwortet bleibt auch die Frage, von welcher Warte aus es möglich sein soll, einerseits die Naturwissenschaften als „Fiktionen eines deistischen Standpunktes" zu betrachten (siehe Text), andererseits aber von Verwandtschaft im phylogenetischen Sinne sprechen zu können. Die Feststellung von Abstammungsbeziehungen werde nicht durch bloßes Hinsehen gestützt, sondern rekurriere auf eine wissenschaftliche Naturgeschichtsschreibung. In diesem Punkt mache Meyer-Abich offenbar Anleihen bei genau den Fiktionen des „deistischen Standpunktes", die zuvor mit dem Hinweis zurückgewiesen wurden (siehe Text), sie hätten uns in die Umweltkrise hineingeführt. Ein ins Spiel gebrachtes „Gedankenexperiment", wonach vernunftbegabte, außerirdische Wesen die Erde besuchen, zeigt vielleicht nochmals die Unterschiede der beiden - von Gethmann als gegensätzlich bezeichneten - Konzeptionen: MeyerAbich verweist auf den Urknall, um zu begründen, daß sich die Verwandtschaftsverhältnisse nicht auf irdische Lebensformen beschränken; Gethmann macht darauf aufmerksam, daß in seiner Konzeption die Vernunftswesen für den moralischen Diskurs ausgezeichnet worden seien und es schon im Rahmen irdischer Verhältnisse eine empirische Frage sei, ob einem Wesen Vernunft zuzusprechen sei oder nicht.

Kapitel II: Begriffliche und historische Analysen

Peter Janich

Natürlich künstlich. Philosophische Reflexionen zum Naturbegriff der Chemie

0) Einleitung Die Großalternativen, die man zum Gegensatz „natürlich/ künstlich" aufmachen kann, führen immer wieder auf die Frage, wie man es mit der Sprache hält: geht es hier vor allem um ein Sprachproblem oder nicht? Sozusagen an einem Pol dieser Alternative stehen Positionen, die das Unterscheidungsproblem von natürlich und künstlich in der Chemie gleichsam in der Sache selbst, z.B. in den naturgesetzlichen Eigenschaften von Atomen und Molekülen in Lebewesen und in Kunstprodukten sehen; daß sich all dies dann auch in Sprache ausdrückt, sei eine unvermeidliche Trivialität, eine Nebensache, aber nicht der Ort des Problems. Am entgegengesetzten Pol findet sich dann die Auffassung, daß es Wörter und ihre Verwendung, mithin Begriffe seien, die Meinungen und Politik mit dem Unterschied von natürlich und künstlich machen. Für diese konträren Sichtweisen, wonach sich einerseits Probleme und ihre Lösungen gleichsam von selbst ihre Sprache suchten, und andererseits das Sprechen das Denken und damit das Handeln bestimme, lassen sich durchaus auch einige Übereinstimmungen feststellen, wo es um Probleme und Widersprüche bezüglich der Chemie geht. Diese Übereinstimmungen betreffen sowohl Ziele (wie den Abbau irrationaler Naturwissenschafts- und Technikfeindlichkeit) als auch inhaltliche Analysen, wonach der moderne Zivilisationsmensch in seinem alltäglichen Leben eine geradezu aberwitzige Fülle von Widersprüchen im Umgang mit der Natur zu erkennen gibt. Trotz solcher Übereinstimmungen soll hier jedoch die genannte Großalternative aufgegriffen und zugespitzt werden, um aus

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der Sicht der Philosophie - das Problem von Widerspruch und Irrationalität im Umgang mit der Chemie auf dem Feld der Naturbegriffe und mithin der meinungsmachenden Sprache zu lokalisieren - nicht, um es nur zu beschreiben, sondern um nach ursächlichen Erklärungen und nach Strategien der Abhilfe zu suchen. Wer - aus verständlicher Ungeduld - z.B. zur Bewältigung von Akzeptanzproblemen der Chemie sogleich bei der Frage nach der Durchsetzharkeit des naturwissenschaftlichchemisch doch längst Gewußten beginnt, sei eingeladen, seine Ungeduld für eine Weile des philosophischen Nachdenkens auszusetzen; sicher nicht, um ein philosophisches Allheilmittel gegen aktuelle Probleme der Chemie zu gewinnen, wohl aber, um eine etwas andere, konstruktiv-philosophische Perspektive auf das immer schon chemisch Gewußte zu gewinnen. Es spricht nämlich einiges dafür, daß das zu Vermeidende kontraproduktiv durch die Naturwissenschaften selbst miterzeugt wird. Im Rahmen des Programms „Chemie und Geisteswissenschaften" des Stifterverbandes hat Hubert Markl in seinem inzwischen in mehreren Varianten publizierten Vortrag „Die Natürlichkeit der Chemie" (z.B. in: J. Mittelstraß, G. Stock (Hrsg.), Chemie und Geisteswissenschaften, Berlin 1992, S. 139-157) eindrucksvoll dargelegt, wie widersprüchlich selbst aus der Sicht des Naturalisten, die Markl einnimmt, die heute modischen Meinungen sind, die sich auf das Schlagwort von der Schädlichkeit des Chemischen und der Nützlichkeit oder Bekömmlichkeit des Biologischen reduzieren. In Argumentationszielen wie in der Diagnose widersprüchlicher Meinungen über das gestörte öffentliche Verhältnis zur Chemie gibt es hier mehr Ubereinstimmung als Dissens zwischen dem naturalistisch argumentierenden Biologen und dem kulturalistisch argumentierenden Philosophen. Ganz anders jedoch in der Frage, worauf denn die Störungen des öffentlichen Verhältnisses zur Chemie beruhten: Sind es tatsächlich die „gottserbärmlich mageren Chemiekenntnisse" zu denen auch gezählt wird, „daß man herzlich wenig davon weiß, was wirklich als natürlich gelten darf, d. h. wie es in

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der Natur, vor allem in der lebendigen Natur eigentlich zugeht, oder noch genauer: wie chemisch es in ihr zugeht" (S. 141)? (Wo hätten die Naturwissenschaften eine brauchbare Definition von „natürlich" angeboten?) Ist es also allein naturwissenschaftliches Unwissen, das so viele Leute in die Irre führt? Und ist es dabei die Verführung der Öffentlichkeit durch eine naturwissenschaftlich dilettantische Journaille, die den Alkoholiker nicht die Giftigkeit des Alkohols, sondern „Submikrogrammreste von Pflanzenschutzmitteln" in seinen Getränken fürchten lassen? Oder sind es vielleicht doch Wirrungen in genau den sprachlichen Mitteln, ohne die sich die (auch von Biologen) kritisierten Meinungen gar nicht bilden und zur Handlungsorientierung kommen könnten? Hier läßt sich fragen, wer in Wahrheit die Meinungsmacher sind: die Multiplikatoren in den Medien, die den Laien Glanz und Elend der modernen Naturwissenschaften nahebringen, oder als erste Urheber doch die Naturwissenschaften selbst, sobald sie nicht mehr ihrem eigenen Geschäft von naturwissenschaftlicher Forschung und Lehre nachgehen, sondern über Naturwissenschaften propagieren, debattieren und philosophieren? Die Entscheidung, bei einer philosophischen Analyse und, soweit möglich, Reparatur von Naturhegriffen anzusetzen und zu hoffen, am Ende etwas gegen Mißverständnisse ausrichten zu können, die zu ungerechtfertigter Feindschaft gegen Naturwissenschaft und Technik führen, ist von dem schwachen, aber unheilbaren Optimismus getragen, daß für das Geschäft der Vernunft auch zwischen den lauten Tönen von Machtkampf, Entscheidungsfreude und Durchsetzungswillen eine Chance geduldiger Aufklärung bleibt: Dahinter steht die Tatsache, daß zwar Sprache und das sich in ihr vollziehende Denken nicht aller Lebenspraxis Anfang und Ende sind, daß sich aber über Meinungen nun einmal nicht anders vernünftig diskutieren läßt als in ihrer sprachlichen Form. Oder zeigen sich nicht auch Meinungen z.B. zum Ausländerproblem in Deutschland als Sprache, Wortwahl und begriffliche Sorgfalt (oder ihrem Gegenteil), vom dumpf-dummen Grölen der „Ausländer-raus" -Schreier bis zu den Subtilitäten besorg-

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ter Verfassungsjuristen und Bevölkerungspolitiker, die politische Offenheit mit kultureller Identitätswahrung vereinbaren wollen? Zeigen sich nicht auch von den verquasten Sprachgebräuchen abstruser Sekten bis zu den Spitzfindigkeiten moraltheologischer Höhenflüge immer wieder Begriffe als das, woran sich die Geister scheiden? Niemand erwartet oder verlangt gar, daß grölende Neonazis oder zum (Selbst-)Mord anhaltende Sektengurus durch Sprachkritik zu beeindrucken seien, so wenig wie der Chemie-geschreckte Öko-Fan durch Wissenschaftstheorie. Aber eine Wissens- und Handlungselite sollte für begriffliche Differenziertheit doch zu gewinnen sein. So verstehen sich auch die folgenden Überlegungen nicht als Empfehlungen, die sich etwa direkt durch den Wissenschaftsjournalisten an die lebensmittelkaufende Hausfrau oder an den bürgerinitiativen, neben einem Chemiebetrieb wohnenden Vater bringen lassen, sondern als Einladung vor allem an diejenigen Chemiker in Hochschule und Industrie, und letztlich an all diejenigen, die sich Gedanken und Sorgen über ihre Wissenschaft und deren Verhältnis zur Öffentlichkeit machen. Dazu werde ich folgendermaßen vorgehen: In einem ersten, „analytischen" Teil versuche ich darzulegen, daß die modernen Naturwissenschaften unter der Meinungsführerschaft der Physik den Gegensatz zwischen einem antiken, vor allem aristotelischen, und einem neuzeitlichen, vor allem galileischen Naturbegriff nicht bewältigt haben, und deshalb gerade in unserem Jahrhundert, mit verstärkter Kraft sogar in unserem Jahrzehnt dabei sind, eine brauchbare Unterscheidung von natürlich und künstlich im erkenntnistheoretischen Sinne zu vernebeln, um ihn als politischen Bumerang schmerzhaft wieder zurückzubekommen. In einem zweiten, „synthetischen" Teil sollen einige begriffliche Klärungen dazu beitragen, den handlungsorientierenden Charakter erkenntnistheoretischer Unterscheidungen sichtbar zu machen. In einem dritten, „praktischen" Teil soll dann noch einmal auf die These „Begriffe machen Meinungen und Meinungen machen Handlungen", auf natürlich und künstlich in der Chemie eingegangen werden.

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1) Der Gegensatz von natürlich und künstlich in den Naturwissenschaften (Analytischer Teil) Der Gegensatz von natürlich und künstlich, von Natur und Technik kommt terminologisch in den Naturwissenschaften selbst nicht vor. Er gehört den Theorien über die Naturwissenschaften an, den historischen ebenso wie den philosophischen. Durch sie wird - dies ist längst ein Allgemeinplatz der einschlägigen Fächer geworden - ein Umdenken diagnostiziert, wo die neuzeitlichen Wissenschaften mit Beginn der klassischen Mechanik im 17. Jahrhundert die antike, aristotelische Physik überwinden. Aristoteles hatte, immer mit Blick auf menschliche Handlungen, der Natur, („physis", dem griechischen Vorläuferbegriff des Lateinischen natura) den Begriff der „techne", also der Kunst oder Kunstfertigkeit, gegenübergestellt. Vor allem in der Dativform, eingedeutscht, „von Natur aus" bzw. „von Kunst aus", also „natürlich" bzw. „künstlich", dient Aristoteles die Unterscheidung zur Erklärung von Geschehnissen in der Welt. Es sind nach Aristoteles im allgemeinsten Sinne „Bewegungen", von der (in der neuzeitlichen Physik gleichsam allein übrig gebliebenen) Ortsbewegung von Körpern bis zu den qualitativen Veränderungen und dem Entstehen und Vergehen, für die Aristoteles klärt, ob sie natürlich oder künstlich, d. h. „von selbst" oder „von Menschen gemacht" sich ereignen. In dieser Gegenüberstellung wird, darauf hat die Geschichtsschreibung der Physik vielfach hingewiesen, jede vom Menschen hervorgerufene Veränderung in der Natur naturwidrig. Natürlicherweise fallen danach Körper, schwerer als ihr umgebendes Medium, nach unten, und nur der Mensch wirft sie naturwidrig nach oben. Aristoteles war nicht sehr erfolgreich in der Lösung von Problemen, die die klassische Mechanik seit Galilei gelöst hat, etwa die Beschreibung und Erklärung von Wurfbahnen. Eine Wurfparabel, idealiter oder unter dem Einfluß von Luftwiderstand, ist in der Tradition der neuzeitlichen Mechanik nicht mehr naturwidrig, sondern „gehorcht den Naturgesetzen". Das Künstliche, das für die mechanische Physik (im Sinne unserer heuti-

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gen Wortverwendung) auch das Technische war, dem dann das Natürliche (wie die Planetenbewegungen im Schwerefeld der Sonne) begrifflich untergeordnet wurden, wurde für die modernen Naturwissenschaften insgesamt das Naturgemäße. Und genau diesen Umschlag des Künstlichen vom Naturwidrigen zum Naturgemäßen haben die modernen Naturwissenschaften nicht vollständig bewältigt. Sie haben sich nämlich, unter dem Druck vielfältiger sogenannter Grundlagenkrisen, ein Selbstverständnis und eine Erkenntnistheorie zugelegt, denen es nicht mehr darum geht, die Objekte der eigenen Forschung in natürliche und künstliche zu unterscheiden. Dabei ist - aus Sicht der Chemie könnte man heute sagen: leider - die Physik zum Meinungsführer geworden. Die Physik des 20. Jahrhunderts hat mit den Entwicklungen der relativistischen und Quantenphysik eine Naivität der klassischen Physik überwunden, die darin bestand, den Objektbereich der eigenen Forschung und Theorie selbstgewiß und selbstvergessen einfach zu behandeln. Da aber klassische Theorien bezüglich der Grundbegriffe von Raum, Zeit und Kausalität in Grundlagenkrisen geraten waren, sah sich die Physik genötigt, das naive Verhältnis des Wissenschaftlers gegenüber seinem Untersuchungsgegenstand aufzugeben und, gleichsam von der nächst höheren Warte aus, die Wechselwirkung des Naturforschers mit seinem Forschungsgegenstand zu betrachten. Sie hat den „Beobachter" eingeführt. Bei A. Einstein ist dies der mit Uhr und Meßstab ausgerüstete Kosmonaut, bei M. Planck, W. Heisenberg und Niels Bohr der in Komplementarität und Unschärferelation hineingezwungene Experimentator. All dies ist in der Literatur ausgiebig behandelt. Weitestgehend, wenn nicht gar durchgängig übersehen wurde dabei, daß die Überwindung der klassischen Naivität durch die moderne Physik nur halbherzig gelungen, am Ende gar mißlungen ist. Messung und Experiment sollen das Natürliche oder Naturgesetzliche mit Hilfe des Künstlichen oder Technischen, der Meß- und Experimentierapparaturen, zu erkennen geben. Aber ob es der mit einer Uhr bewehrte, bewegte Beobachter der relativistischen Physik oder der experimentelle Eingriff im quan-

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tenphysikalischen Meßprozess ist, die Physik (und eine zu ihrer Affirmation angetretene empiristische Wissenschaftstheorie) faßt das Technische nur wieder nach Naturgesetzen. Technik wird nicht als das vom Menschen nach Zwecken Hervorgebrachte und damit als das durch Zwecke Definierte gesehen, sondern nur als das naturgesetzlich Funktionierende. Man sagt dafür auch kurz: Technik ist Anwendung von Naturwissenschaft. Ob die Lebenszeit schneller kosmischer Mesonen relativistisch „erklärt" und damit ein Elementarteilchen analog einer mit einem menschlichen, zeitmessenden Beobachter versehenen „Welt" betrachtet wird, oder ob gegenwärtig wieder eine heftige Debatte um das Einstein-Podolsky-Rosen-Vdir^doxon entbrannt ist und dort über die Erkennbarkeit der Welt allein analytisch aus physikalischen Gesetzen argumentiert wird, der Gegensatz von natürlich und künstlich nach Auffassung moderner Physiker spielt erkenntnistheoretisch, keine Rolle, ja, wird mit naturalistischen Interpretationen a priori als irrelevant eingestuft. Die Physik, für manchen Chemiker heute die wichtigste Leitdisziplin, hat sich gleichsam auf die Fahnen geschrieben: Alles ist natürlich. Zwar bestreitet selbstverständlich kein Physiker, daß es ein immenser technischer Aufwand sowohl an Labor- und Gerätetechnik als auch an mathematischbegrifflicher Theorie ist, der das Natürliche oder Naturgesetzliche zu erkennen gibt. Aber beharrlich repetiert die naturwissenschaftliche Paradedisziplin ihre Erkenntnistheorie aus dem Rückspiegel, wonach die Naturgesetze selbst erklären, wie sie durch den Menschen zu erkennen seien. Und leider folgt ihr die Chemie darin: Die Argumentationswege führen auch in der Chemie von den anerkannten Theorien zur Erkennbarkeit ihrer Objekte. Was in Physik und Chemie noch ein eher nebensächlicher Aspekt naturwissenschaftlicher Erkenntnisproduktion war, wurde für die Biologie neuerdings explizit Untersuchungsgegenstand: nämlich die Erkenntnisfähigkeit des Menschen, die er ja sowohl lebensweltlich wie in den Wissenschaften einsetzt. Ob es nun das Ensemble der Naturwissenschaften ist, die sich heute von der Sinnesphysiologie bis zur Neurobiologie und

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Kognitionspsychologie mit der Beschreibung und Erklärung menschlicher Erkenntnisfähigkeit als Organismusleistung befassen, oder ob es die Naturgeschichtsschreibung ausgehend von der Darwinistischen Evolutionstheorie bis zur „Evolutionären Erkenntnistheorie" ist, der Unterschied zwischen natürlich und künstlich, zwischen natürlich und kultürlich, zwischen naturgesetzlich und vom Menschen gesetzt, wird zwar nicht bestritten, aber ignoriert oder mißverstanden: Was immer der Mensch als Künstlich-Technisches hervorbringt, wird zumindest programmatisch als Fortsetzung von Naturgeschehen interpretiert. Das Künstliche oder Technische habe zwar - schließlich leugnet ja niemand unsere technische Zivilisation und die modernen Naturwissenschaften als einen Teil von ihr - die Natur im aristotelischen Sinne als das Vorgefundene, das seinen Antrieb zur Veränderung in sich selbst trägt, erheblich verändert; aber daß erkannte Natur stets die vom Menschen veränderte ist, ja, daß ein Erkennen der Natur allein am Erfolg und Mißerfolg und damit am Erreichen oder Verfehlen der Zwecke der Naturveränderung stattfindet, wird von Biologen so wenig gesehen wie von anderen Naturwissenschaftlern, denen die Unterscheidung ihrer Wissenschaft von deren Objektbereich nebensächlich erscheint. In jüngerer Zeit hat sich die Chemie umso mehr in diese naturalistische Erkenntnistheorie eingeschaltet, je mehr ihr im Verhältnis zur Biologie die Rolle einer Hilfswissenschaft einerseits, einer Reduktionsbasis andererseits zugefallen ist. Dies zeigt am deutlichsten wieder die Sprache, genauer, eine Paradigmenverschiebung in der Chemikersprache: In einer Grobeinteilung, die durch die hier gebotene Kürze gerechtfertigt sein mag, lassen sich drei große Sprünge auf dem Weg zur heutigen Sprache der naturwissenschaftlichen Chemie nennen: (1) Chemie wurde zur modernen Naturwissenschaft durch Einführung exakter Messungen vor allem von Gewicht, Temperatur, Drücken und Volumina, von elektrischen Spannungen, Stromstärken usw. Die Chemie hat diese Meßkünste weithin von der Physik übernommen und dabei die Auffassung importiert, es seien Naturgesetze, die das Funktionieren und

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den Erfolg dieser Techniken erklärten, wie das Hebelgesetz die Waage, das Pendelgesetz die Uhr usw. Dabei ist schon in der Physik übersehen worden, daß Meßapparaturen und ihre kompetente Anwendung durch Erfindung, Konstruktion, Bau und Aufrechterhaltung von Meßapparaten nach menschlichen Zwecken in die Welt kommen, und daß die selbstverständliche Kompetenz jeden Experimentators, funktionierende von gestörten Meßgeräten zu unterscheiden, nur darin besteht, diese Zwecke zu beachten. Defekte dagegen, die in technischer Durchsetzung dieser Zwecke bei der tatsächlichen Laborforschung schnellstmöglich behoben werden, führen nicht aus dem Bereich des naturgesetzlich Gültigen heraus; oder kurz, naturgesetzliches Wissen allein erlaubt niemals, zwischen gelingender und mißlingender Meßpraxis, zwischen brauchbaren und unbrauchbaren Daten zu unterscheiden. Damit hat die Chemie von der Physik bezüglich ihrer grundlegenden Meßkünste das Mißverständnis übernommen, das technisch Künstliche sei hinreichend durch das naturgesetzlich Akzeptierte erklärt. (2) Die Vielfalt chemisch untersuchter Phänomene, natürlicher wie künstlich hervorgebrachter, hat durch das AtomMolekül-Konzept eine höchst erfolgreiche, theoretische Ordnung erfahren. Analysieren und Synthetisieren in der speziellen Bedeutung, chemische Verbindungen zu lösen oder zu schaffen, wurden als umkehrbare Prozesse interpretiert, bei denen sich der technisch handelnde Chemiker des Baukastens der Natur bedient. (Immerhin hat der Chemiker, der in die stoffliche Welt experimentierend eingreift, in der Baukastenmetapher für die Welt des Stofflichen noch den Platz dessen, der aktiv mit den Naturbausteinen spielt.) Aber auch hier ist das Künstliche oder Technische gegenüber dem Natürlichen auf eine für Chemie und Naturwissenschaft prägend gewordene Weise unterbewertet: Die Prozesse des Teilens und Zusammenfügens in der chemischen Analyse und Synthese (in dem soeben angegebenen, eingeschränkten Sinne des Lösens bzw. Schaffens chemischer Verbindungen) übergehen einen in der Technik höchst relevanten Unterschied: Wer, um es an einem beliebten Beispiel zu erläutern, eine Pendeluhr aus Zahnrädern, Wellen, einem Pen-

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del usw. zusammenbaut (oder als philosophischer Emergenztheoretiker sich wundert, daß eine Uhr als komplexeres System die Zeit mißt, was das einzelne Zahnrad nicht kann), setzt nicht „Teile" zusammen, die aus irgendeinem Prozeß des Teilens hervorgegangen sind. Vielmehr baut er „Komponenten" zu einem Gerät zusammen, die ihrerseits als Mittel für einen Zweck, nämlich für die vorher festgesetzte und damit explizit bekannte Funktion des Gesamtgeräts konstruiert und hergestellt wurden. Nur wer die Baukastenmetapher für Atome und Moleküle als theoretische Vorgabe für uneingeschränkt gültig hält, kann auf den Einfall kommen, das Teilen natürlich vorgefundener Stoffe durch chemische Verfahren entspreche gleichsam dem Suchprozeß, den ein sorgfältiger Uhrmacher durchläuft, der eine ihm unbekannte, defekte Uhr zerlegt, um dabei ihre Funktion allererst zu erkennen und sie nachher wieder zu einer funktionsfähigen Uhr zusammenzusetzen. In der Baukastenmetaphorik bedient sich die Chemie also explizit einer Anleihe beim Technisch-Künstlichen, verkürzt sie aber wieder auf das Naturgesetzliche und verweigert damit die Unterscheidung, welche Anteile unseres Wissens über die Funktion von Komponenten und Komponiertem (chemischen Verbindungen), und welche über Geteiltes und Teile (chemische Bestandteile) unseren technischen Zwecken geschuldet sind. Erst dadurch läßt sich aber unterscheiden, welche Anteile unseres Wissens auf der Erfahrung beruhen, technische Zwecke tatsächlich im Labor realisieren zu können, und welche Anteile im Setzen von Zwecken und im Erfinden von Mitteln liegen. (3) Neuerdings wird die Baukastenmetaphorik zugunsten einer Anthropomorphisierung der Objekte der Chemie verlassen. Zur Beschreibung und Erklärung von Reaktionsmechanismen, vor allem bei der Bildung komplexer Moleküle, ist man dazu übergegangen, in höchst anschaulicher Weise den Molekülen „menschliche" Fähigkeiten zuzusprechen, sich etwa einen Reaktionspartner zu suchen, Reaktionspartner zu testen, abzulehnen, usw. „Molecular recognition", also das Erkennen eines Reaktionspartners durch ein Molekül, ist die aktuellste Form eines Naturalismus, der die Vereinigung zweier Moleküle bis auf

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das Sprachniveau von Theologen hebt, die die Vereinigung von Adam und Eva als „sich erkennen" bezeichnen. Der Sprung von der Baukastenmetaphorik zur anthropomorphen Beschreibung molekularen Geschehens macht den menschlichen Beobachter und Interventionisten (jedenfalls sprachlich) überflüssig. Das ist vor allem dort von Belang, wo etwa periodisch pulsierende Schwankungen chemischer Gleichgewichte, oder (nach höheren Prinzipien der Selbstorganisation) die Ausbildung eindrucksvoll schöner Muster in Reagenzgefäßen hergestellt, beobachtet und diskutiert wird. Man fühlt sich auf Entdeckungsreise zu den Selbstorganisationsprinzipien der Natur, die den Chemikern eine erhebliche Mitsprache an der Erklärung des Evolutionsgeschehens sowohl im kosmologischen wie im ontogenetischen Zusammenhang einräumen. Es kommt hier nicht darauf an, die Kritisierbarkeit schon des Programms zu erläutern, das solchen emergenztheoretischen Ansätzen zugrunde liegt. Für das Thema künstlich/natürlich in der Chemie kommt es nur auf den Hinweis an, wie in diesem neuesten Schritt der Entwicklung chemischer Fachsprache wieder alles der Natur in die großen Schuhe geschoben wird, das Künstlich-Technische im handwerklich-technischen wie begrifflichen Sinne jedoch zumindest unbeachtet und undiskutiert bleibt. So kann zusammenfassend zu diesem Schnelldurchgang von der nacharistotelischen, klassischen, relativistischen und Quantenphysik über die Biologie zur Chemie gesagt werden, daß die Naturwissenschaften ihre Abkehr vom Aristotelismus nicht bewältigt haben. Sie tragen der positiven Leistung neuzeitlicher Naturwissenschaften nicht Rechnung, daß sie gegenüber der antiken nicht mehr kontemplativ distanziert über Natur spekulieren und theoretisieren (obgleich auch dies auf hohem begrifflichen Niveau und mit legitimen Geltungsansprüchen geschehen kann), sondern durch technisch-künstliche Intervention über technische Beherrschung ihr verläßliches Kausalwissen produzieren. Ihnen ist damit ein geklärter Naturbegriff abhanden gekommen: Die Natur wird zum Agenten auch dort, wo in der Wissenschaft tatsächlich der forschende und reden-

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de Mensch handelt. Sie wird damit zur Erklärungsinstanz für etwas, was gar nicht der Erklärung im naturwissenschaftlichen Sinne offensteht: für die Naturwissenschaften selbst. Deshalb sei jetzt im zweiten, synthetischen Teil versucht, einige Aspekte eines Naturbegriffs für die Chemie zu beleuchten, der eine andere Sicht auf die Künstlichkeit unter (hoffentlich) allen für den Chemiker auftretenden Hinsichten erlaubt.

2) Die Ordnung von Naturbegriffen (Synthetischer Teil) „Natur" ist nicht nur ein höchst geläufiges Wort unserer Alltags- und Bildungssprache, es ist auch, wie schon die Hinweise im vorangegangenen Teil zeigen, ein höchst gefährliches Wort, weil abgesunkene philosophische, theologische, wissenschaftliche und weltanschauliche Traditionen in ihm als Teilbedeutungen mitschwingen. Diese können hier nicht begriffsgeschichtlich diskutiert werden, sollen aber systematisch aufgezählt und kurz erläutert werden, um die bei Gegenbegriffen des Künstlichen oder Technischen mitgeführten Assoziationen zu sehen. (1) Da ist zunächst, zugleich der aristotelischen Unterscheidungsabsicht nahestehend, die Rede von Natürlichem und Künstlichem als Objekt, um dessen Herkunft oder Zustandekommen es geht. Wenn etwa in Alltag und Medizin natürliche und künstliche Zähne unterschieden werden, oder in einem Blumenladen neben den gewachsenen Pflanzen auch künstliche aus Plastik oder Stoff und Draht zu kaufen sind, so findet sich dort die reine, aristotelische Unterscheidung zwischen Gewachsenem und vom Menschen handwerklich Erzeugtem. Wichtig daran ist, daß es ein Mensch ist, der das Künstliche, synonym, das Technische erzeugt hat. Vogelnester oder Spinnennetze etwa, die wie menschliche Kunstprodukte als selbständige Gegenstände in der Natur vorzufinden sind, sollen dagegen nicht zu den technischen Produkten zählen. „Künstlich" oder „technisch" beziehe sich nämlich immer auf die Zweck-Mittel-Rationalität menschlicher Handlungen

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und damit auf die Zwecksetzungskompetenz des Menschen. Die Kunstfertigkeit des Menschen besteht darin, auf gesetzte Zwecke hin geeignete Mittel zu wählen, und dies zu einer Kunst in dem Sinne auszubilden, als er diese Mittel frei wählen (d. h. die Wahl erwägen und sprachlich begründen) sowie sich ihrer reproduzierbar bedienen kann. Diese Unterscheidung von natürlich und künstlich, die zu Prädikatoren für vorfindliche Dinge wie gewachsene oder aus Gold gegossene Zähne, gewachsene oder aus Plastik verfertigte Blumen, immer schon vorfindliche Himmelskörper (wie dem Mond) oder künstliche Satelliten, aber auch die von Vögeln gebauten Nisthöhlen oder die vom Menschen in den Forst gehängten Nistkästen usw. führt, betrifft immer nur bestimmte Aspekte der besprochenen Dinge: Selbstverständlich bedient sich der Dentist, der den Goldzahn gießt, letztlich immer einiger Materialien, die, wenn auch weiter technisch bearbeitet, in der Natur vorgefunden werden. Und so bei allen anderen technischen Produkten. Außerdem wird der menschliche Erzeuger solcher Produkte notwendig immer auch Qualitäten seiner Produkte miterzeugen, die nicht im Bereich seiner direkten Zwecksetzungen liegen - Aristoteles hatte dafür eine eigene Kategorie: das Beiläufige oder Zufällige, to kata symbebekos - so, wie jeder Goldzahn beiläufig eine bestimmte Farbe hat, oder wissenschaftliche Meßinstrumente ein Gewicht, usw., obwohl es deren Erzeuger gerade nicht um diese Qualitäten geht. Natürliche und künstliche Dinge zu unterscheiden heißt also, denjenigen Aspekt hervorzuheben, der als Zweck menschlicher Herstellung das Produkt (seine }JFunktiona) definiert. Der Rest ist beiläufig, d. h. Nebenwirkung, oder „natürlich". Die geschilderte Unterscheidung gilt nicht nur für Dinge, sondern wird auch für Ereignisse verwendet, wie sich an den alltäglichen Ausdrücken von einem „natürlichen Tod" oder einer „künstlichen Befruchtung" zeigt. (2) Mindestens ebenso geläufig ist uns in der Alltagssprache, daß wir eine selbstverständliche Sache „natürlich" nennen: Wir reden von der Natur als dem Wesen einer Sache. Dabei muß das Selbstverständliche keineswegs auf ein selbstverständlich

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gewordenes, naturgesetzliches Wissen zurückgeführt werden. Es ist auch selbstverständlich und in diesem Sinne natürlich, daß Eltern immer älter als die Kinder sind und Junggesellen unverheiratet, daß Primzahlen (außer 13) nicht durch 13 teilbar sind, daß man sich beim Schachspielen an die Regeln hält, daß man einen Beruf erlernen muß und vieles andere mehr. Wir beziehen uns also mit der Bezeichnung eines Sachverhalts als „natürlich" auf eine herrschende Anerkennung eines Sachverhalts. Solche Sachverhalte können in Sprachgebräuchen, in moralischen oder nicht-moralischen Regeln, in Sitten und Gebräuchen, in alltäglichem technischem Know-how und anderem mehr bestehen. Erheblich daran ist, daß hier immer ein normativer Aspekt mitschwingt: Ob etwas natürlich ist bzw. als natürlich anerkannt wird, wird durch Übereinstimmung mit faktisch anerkannten Normen entschieden. Während also die voranstehende Unterscheidung von natürlich und künstlich bei Dingen und Ereignissen zur Erklärung ihrer Herkunft diente, und damit einen deskriptiven, wahrheitsfähigen Aspekt betraf, haben wir es hier mit einem normativen oder präskriptiven Aspekt zu tun: Wer das Wort „natürlich" verwendet, verbindet damit den Anspruch, bestimmte Normen als anerkannt unterstellen zu dürfen, oder erwartet dafür Zustimmung - und umgekehrt bei „künstlich" eine Ablehnung, ein Verbot, einen Ausschluß durch anerkannte Vorschriften. (Den deskriptiven und den präskriptiven Gebrauch von natürlich und künstlich nicht hinreichend zu trennen, erweist sich als einer der wichtigsten Fehler, die die Diskussion um die Chemie belasten.) (3) Einen weiteren Naturbegriff, genauer einen Aspekt eines solchen, mag man dort erkennen, wo der Hinweis auf Natürlichkeit oder Natur das handelnd Unverfügbare meint (im Unterschied zu dem handelnd Unverfügten in der ersten Bedeutung der Artefakte wie den Goldzähnen). Eine gerade unter dem Einfluß von Naturwissenschaften und Technik aufgeklärte Menschheit hat in vielfacher Weise an die Stelle des nach eigenem Willen handelnden, personal vorgestellten (z.B. christlichen) Gottes die Natur gesetzt. Ob wir von Naturkatastrophen und der Unausweichlichkeit der Naturgesetze

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beim Schleudern eines Autos auf regennasser Straße sprechen, ob wir daran denken, daß jedes menschliche Leben natürlicherweise nur endlich lange dauert, und kein Mensch den Zeitpunkt seines eigenen Endes kennt, ob die Natur als Erhabenes schön oder schrecklich anmutet, immer tritt hier Natur als säkularer oder profaner Ersatz für den bzw. die das Schicksal der Menschen bestimmenden Gott bzw. Götter auf. Im Blick auf den Aspekt der Unverfügbarkeit geben sich die Naturwissenschaften unentschlossen: Einerseits kann naturwissenschaftlich-technisches Wissen die Natur schier beliebig in Dienst nehmen und über sie verfügen (wenn sie auch dabei gelegentlich das Risiko des Zauberlehrlings läuft, mit den Folgen dieser Indienstnahme nicht mehr zurechtzukommen). Andererseits gelten gerade die Naturgesetze als unüberwindliche, technisch eben gerade unverfügbare Grenzen. Dabei werden - aus philosophischer Sicht paradox gerade solche grundlegenden Prinzipien, Sätze, Axiome oder Postulate, die im Aufbau der Theorie die fundamentalste Rolle spielen, als das am wenigsten Verfügbare eingeschätzt (wie z.B. Erhaltungsprinzipien der Masse, der Energie, der Symmetrie o. ä.), paradox, weil diese nun gerade nicht durch Erfahrung erkannt sind, sondern durch Setzung das Gewinnen naturwissenschaftlich-technischer Erfahrung erst ermöglichen. Die Naturwissenschaft hält also wegen der Ausblendung des Konstitutionsgrundes seiner Gegenstände im zweckrationalen menschlichen Handeln gerade das für das Unverfügbarste, was sich erkenntnistheoretisch als nicht unverfügbar widerfahrnishaft, sondern gerade als durch Menschen gesetzt oder als Wissen über das eigene Handeln erkennen läßt. Naturwissenschaften kennen m. a. W. auch einen Naturbegriff, wo „Natur" das Unverfügbare ist, halten aber (häufig) mangels methodologischer Reflexion gerade das für besonders „naturgesetzlich", was einen besonders kultürlichen, nämlich menschlichen Setzungs- oder Handlungscharakter hat: die Prinzipien der Naturwissenschaft. (4) Schließlich spielt noch ein vierter Begriff von natürlich und künstlich für die Naturwissenschaften und die Chemie eine

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wichtige Rolle, nämlich als Metkodenunterscheidung oder als Reflexionsbegriffe. Die Einsicht, daß „Natur an sich" kein Gegenstand der neuzeitlichen Naturwissenschaft sein kann, sondern immer nur „Natur in Wechselwirkung mit dem künstlich in sie eingreifenden Menschen", verweist auf die Aufgabe, das Wortpaar natürlich/künstlich (im Unterschied zur prädikativen Verwendung nach (1)) noch auf eine weitere Weise, nämlich als „Reflexionstermini" zu bestimmen. Dazu ist erst, der Kürze halber an einem Beispiel, das Definitionsverfahren für Reflexionstermini zu erläutern, dann für „natürlich" und „künstlich" vorzuführen und schließlich in seiner Tragweite für die Chemie zu erläutern. Der Reflexionsterminus „Zeit" läßt sich für den naturwissenschaftlichen und den philosophischen Gebrauch derart bestimmen, daß wir zunächst ein Adjektiv „zeitlich" als Sortierbezeichnung für Wörter einführen: früher, später, gleichzeitig, Dauer, gleichlang, Sekunde, vergangen, gegenwärtig, zukünftig, und andere Wörter mögen „zeitlich" heißen im Unterschied etwa zu räumlichen (wie z.B. auf, unter, kugelförmig usw.) oder stofflichen (wie z.B. rot, metallisch, süß, undurchsichtig usw.). Eine Anleihe bei Kants Rede von den Reflexionsbegriffen nehmend, nennen wir „Zeit" einen Reflexionsterminus, weil wir ihn benützen, um auf unsere sprachlichen Mittel zu reflektieren,, (hier auf die Unterscheidung der zeitlichen von anderen Wörtern und Aussagen). Dafür sagen wir dann kurz in der Sprache des Alltags, der Wissenschaften und der Philosophie, man rede „über Zeit", was aber nichts anderes bedeutet, als daß das Substantiv Zeit hier lediglich anzeigt, daß wir uns im Feld der zeitlichen Aussagen mit zeitlichen Wörtern bewegen. Die Einführung des substantivischen Reflexionsterminus „Zeit" erzeugt also keinen neuen Gegenstand, sondern grenzt nur Aussagenbereiche gegeneinander ab. Es entstehen also auch keine neuen Sachverhalte oder gar empirische Tatsachen, wo Reflexionstermini benützt werden. Im Bereich erkenntnistheoretischer Reflexionen zur Frage, was wir von der Wirklichkeit erkennen können, und auf welche Weise, sind die substantivischen Reflexionstermini „Natur"

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und „Technik" hilfreich, um die sprachlichen Mittel unserer lebensweltlichen und wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung zu sortieren. Dies ist eine andere Verwendung als die oben unter (1) genannte Unterscheidung von Dingen und Ereignissen nach natürlich und künstlich. Wenn wir bei einem Waldspaziergang einen Schlüssel finden, und diesen selbstverständlich für ein verlorenes Kunstprodukt, nicht für einen gewachsenen Gegenstand halten, so tun wir etwas anderes, als wenn wir darauf reflektieren, ob Atome und Moleküle, Volumen, Masse und Druck, chemische Reaktionen und Verbindungen, und andere „Gegenstände" der Chemie bzw. der Naturwissenschaften der Natur oder der Technik angehören. All die genannten Beispiele stehen für Technisches. Das heißt, wenn wir einem Objekt z.B. zuschreiben, ein bestimmtes Gewicht oder eine bestimmte Temperatur zu haben, oder einem Diamanten, aus Kohlenstoff zu bestehen, bewegen wir uns im Bereich der Technik - wegen der dabei verwendeten technischen Sprache, die ihre definitorische Festlegung an technischen Laborverfahren erhält. Dies ruft erwartbar den Widerspruch von Naturwissenschaftlern hervor, die gerade das Haben eines bestimmten Gewichts, einer bestimmten trägen Masse, einer bestimmten Temperatur oder auch einer bestimmten chemischen Zusammensetzung dem Bereich des Natürlichen zurechnen. Dabei wird jedoch verkannt, daß zwischen der prädikativen Verwendung von natürlich und künstlich (wie in Anwendung auf den im Wald gefundenen Steinpilz oder den Schlüssel) und der reflexiven Verwendung von „natürlich" und „künstlich" genau derjenige Unterschied steht, der Wissenschaft von NichtWissenschaft unterscheidet: Es sind erst die technischen und theoretischen Veranstaltungen des Menschen, z.B. Meß- und Experimentierverfahren zu etablieren und natürliche Dinge (im prädikativen Sinne von „natürlich") diesen Verfahren zu unterwerfen, die uns das Urteil begründen, ein Körper habe ein bestimmtes Gewicht oder eine bestimmte chemische Zusammensetzung. Die Verwendung der Wörter Natur und Technik bzw. von natürlich und technisch (oder künstlich) als Reflexionstermini

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dient mit anderen Worten der erkenntnistheoretischen Unterscheidung, ob wir uns solcher sprachlicher Mittel bedienen, die unser eigenes poietisch handwerkliches wie sprachlich begriffliches Handeln unter wissenschaftlichen Geltungsansprüchen (: das „Technische") betreffen-dafür kurz auch: „Methoden" - , oder ob wir solche sprachlichen Mittel benützen, die das Empirische, Widerfahrnishafte, am Gelingen oder Mißlingen unserer technischen Handlungen Gelernte (das wissenschaftlich erkannte „Natürliche", z.B. „Naturgesetze") betreffen. Auch der Gegensatz von „hergestellt" und „festgestellt" trifft hier zu: Das Technische ist immer das Hergestellte, das Natürliche das Festgestellte. Die Unterscheidung solcher Definitionsverfahren und Begriffstypen mag sich für den Chemiker auf den ersten Blick reichlich abstrakt ausnehmen - im prädikativen Sinne soll „natürlich" so viel heißen wie „gewachsen", oder „ohne Einwirkung des Menschen entstanden", „künstlich" so viel wie das vom Menschen verfertigte; im reflexiven Sinne wird über die Erkenntnis- und Geltungsbedingungen hergestellter und festgestellter Sachverhalte gesprochen. Aber auch hier gilt: nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie. Dies mögen einige Beispiele veranschaulichen: Wo die (prädikative) Unterscheidung von Steinpilz und Hausschlüssel als natürlich und künstlich noch jedem Menschen völlig unproblematisch ist, wird es schon schwieriger zu beantworten sein, wohin z.B. Haustiere und Kulturpflanzen gehören, die der Mensch gezüchtet hat, die es aber so „in freier Natur" nicht gibt oder gäbe. Berücksichtigt man die oben gegebene Erläuterung, daß auch die prädikative Unterscheidung von natürlich und künstlich immer nur Aspekte von Dingen und Ereignissen, nicht aber die Dinge und Ereignisse sozusagen als Ganze betreffen, so sind Haustiere und Kulturpflanzen als „künstlich" einzustufen - ungeachtet der Tatsache, daß sie mit den „natürlichen" Tieren und Pflanzen ungezählte Eigenschaften gemeinsam haben. Diese - immer noch prädikative - Unterscheidung läßt sich auch auf chemische Produkte übertragen: Alles Stoffliche, das

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der Mensch nicht in seinen Stoffeigenschaften verändert hat, heißt natürlich. Alle veränderten Stoffe dagegen heißen künstlich, wie Wein, Zement, Glas, praktisch alle Farben, alle gekochten Nahrungs- und Heilmittel usw. Diese Unterscheidung taugt also dazu, das ohne menschliches Zutun Vorgefundene vom (auf menschliche Zwecke bezogen) handwerklich Zugerichteten zu trennen. Was dabei aber noch keine Rolle spielen soll - so mögen die Beispiele verstanden werden - , ist die Abhängigkeit solcher Bearbeitungsverfahren der „Naturstoffe" zu „Kunststoffen" von der Geltung oder Anerkennung chemischer Theorien. Ein schlichtes handwerkliches oder technisches Knowhow, das sich in den meisten Fällen durch Vor- und Nachmachen erlernen läßt, reicht hier aus. Auch diese Unterscheidung ist im täglichen Leben innerhalb einer technischen Zivilisation höchst fruchtbar und enthält bereits den Ausdruck „Kunststoff", der ja bekanntlich kein chemischer Fachausdruck ist. Auch wird der Laie und der Chemiker das Wort Kunststoff (immer noch: prädikativ) auch mit Nutzen auf solche „Kunststoffe" anwenden, deren Verfügbarkeit nun definitiv einer hochentwickelten chemischen Theorie geschuldet ist. (Dies sieht man schließlich dem Produkt nicht an, und es kommt ja bei dieser Unterscheidung auch nur darauf an, festzustellen, daß das entsprechende Exemplar durch menschliche Bearbeitung entstanden ist.) Von ganz anderer Art aber sind die Beispiele, bei denen Chemiker nicht selten den Eindruck haben, es läge am Laienverstand oder am Mangel chemischen Wissens, wenn z.B. Vitamin C in reifen Paprikaschoten und ein in der Fabrik synthetisiertes Vitamin C als verschieden, als gleich, als identisch oder sonstwie bezeichnet werden. In extremen Fällen wie der öffentlichen Rede von einer „Gen-Kartoffel" oder einem „chemischen Bier" beklagen sich Chemiker dann, daß mangelndes chemisches Fachwissen dem Laien naturwissenschaftliche Irrtümer diktierten und zur Desorientierung der Praxis führten. Diese Fälle lassen sich durch die Reflexionstermini „natürlich" und „künstlich" einfangen:

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Immer wenn (wie bei „Vitamin C " ) ein chemischer Fachausdruck vorkommt, der unter Chemikern eine hinreichend normierte und explizierte Verwendung hat und im Rahmen empirisch bestätigter Theorien beherrscht wird, macht es in der Tat überhaupt keinen Sinn, von natürlich und künstlich im prädikativen Sinne zu sprechen: Es gibt da nämlich nicht die Gegenstände, auf die man mit dem Finger deuten und sagen könnte, diese seien natürlich, jene künstlich. Nur die Paprikaschoten sind natürlich in diesem Sinne, aber das in ihnen enthaltene Vitamin C taucht eben nur in Abhängigkeit einer gut bestätigten naturwissenschaftlichen Behauptung über den Vitamin C Gehalt von Paprikaschoten und damit im Rahmen eines wissenschaftlich normierten Redens mit Hilfe des Terminus technicus „Vitamin C" oder „Ascorbinsäure" auf. Hat man diesen Unterschied einmal eingesehen, wird man den Fehler zu vermeiden wissen, von einer „natürlichen" und einer „künstlichen" Ascorbinsäure (prädikativ) sprechen zu wollen, um etwa über eine Substanz in einem Reagenzglas zum Ausdruck zu bringen, das erstere sei aus Pflanzen extrahiert, letzteres synthetisiert worden. Beide sind nun einmal im prädikativen Sinne gleich künstlich. Aber auch das reflexiv gemeinte „natürlich" ist nicht überflüssig, wo der gesamte Bereich von chemischen Gegenständen wie Atomen, Molekülen, Elementen, Verbindungen usw. zu den reflexiv künstlichen zählt: Jeder Chemiker weiß so gut wie jeder Chemie-Philosoph, daß Chemie eine empirische Wissenschaft ist, d. h., daß der künstlich-technische Charakter aller chemischen Produkte nicht bedeutet, daß der Chemiker beliebiges machen könne. Auch in der Chemie gilt, wie in allen Wissenschaften und wie im Leben, daß Machen-wollen und Machen-können zweierlei ist. Was technisch möglich und was technisch unmöglich in der Chemie ist, ist als Unterschied seinerseits wieder „natürlich" im reflexiven Sinne. Die traditionell übliche Sprechweise dafür ist, zu sagen, die technischen Möglichkeiten der Chemie seien naturgesetzlich begrenzt. Damit hat sich ergeben, daß der reflexive Begriff von natürlich und künstlich benötigt wird, um die Auffassungen

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der Chemiker von Naturgesetzlichkeit einerseits, und von der Ununterschiedenheit chemischer Elemente und Verbindungen in natürlich vorgefundenen und technisch hergestellten Dingen andererseits zu rekonstruieren.

3) Natürlich Chemie (Praktischer Teil) Die vier Naturbegriffe sind, das ist noch einmal hervorzuheben, nicht für das Publikum gedacht, das Naturwissenschaft und Technik ablehnend gegenübersteht, sondern soll der Erklärung von Ursachen dieser Ablehnung dienen, die in Selbstverständnis und Selbstdarstellung der Naturwissenschaften liegen. Die prädikative Verwendung von „natürlich" und „künstlich" zur Unterscheidung von Dingen und Ereignissen, die der Mensch gemacht oder bewirkt hat, von solchen, die nicht, auch nicht als Nebenwirkungen, durch ihn verursacht sind, ist deshalb von elementarer Bedeutung, weil sie zugleich unsere Unterscheidung von Unschuld und Schuld betrifft: Eine der grundlegendsten und wichtigsten Unterscheidungen, die schon das Kleinkind beim Hineinwachsen in das Zusammenleben mit anderen Menschen zu lernen hat, ist die Unterscheidung von Selbstgemachtem, Verursachtem, Verschuldetem, sei es absichtsvoll oder fahrlässig, von dem, was andere verschulden oder verursachen, und vor allem von dem, was niemand verursacht und dennoch geschieht. Vor aller Wissenschaft und vor aller ethischen Theorie lernt und beherrscht jeder normalsinnige Mensch die Unterscheidung von Zurechenbarem (üblicherweise unterschieden nach absichtlich und versehentlich) und Nicht-Zurechenbarem. Genau deshalb ist es ein fataler Irrtum, wenn ein Naturwissenschaftler, der („naturalistisch") alles Technisch-Künstliche dem Natürlichen subsumiert, in philosophischen Unterscheidungsbemühungen von Natur und Technik nur wissenschaftstheoretische Haarspaltereien sieht und den moralischen Aspekt der Unterscheidung verkennt.

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Diejenigen, die sich der Unterscheidungsaufgabe von Zurechenbarem und Nicht-Zurechenbarem nicht entziehen, haben dann freilich immer noch die Aufgabe, das entsprechende Wissen zu erwerben, mit dem sie das Natürliche vom Künstlichen im praktischen Anwendungsfalle trennen können. Ein solches Wissen ist in den meisten Fällen ein naturwissenschaftliches. Wo es etwa um den Treibhauseffekt oder das Ozonloch geht, stellt sich bekanntlich die Frage, inwieweit es sich dabei um menschlich Verursachtes, und selbstverständlich als Nebenwirkung Verursachtes, handelt. Es ist wohl auch unbestritten, daß dazu nicht nur erhebliche chemische Kenntnisse, sondern z.B. auch Langzeitbeobachtungen meteorologischer und geophysikalischer Art gehören, die wir heute historisch nicht haben, und die nicht einfach durch technischen Aufwand im Labor zu besorgen oder zu substituieren sind. Damit sei angedeutet, daß die prädikative Unterscheidung von natürlich und künstlich, so simpel sie an den Einführungsbeispielen erscheint, in ihrer Anwendung auf tatsächliche Probleme im Zusammenhang mit den Technikfolgen der Chemie erhebliches naturwissenschaftliches Wissen erfordert. In dieser Hinsicht ist Positionen wie derjenigen von H. Markl, die eingangs erwähnt wurde, durchaus zuzustimmen: Die Öffentlichkeit muß naturwissenschaftlich besser informiert sein, was auch, wie Markl in „Chemie heute" (Ausgabe 1994/95, S. 48-50) empfiehlt, über einen „ausreichenden Chemie- und Biologieunterricht für alle Schüler" gefördert werden kann. Zugleich aber verfolgt ein naturwissenschaftliches Informieren der Öffentlichkeit überhaupt nur dort eine für unser Problem sinnvolle Aufgabe, wo die Unterscheidung von natürlich und künstlich ernst genommen wird, d. h., wo sich auch der Naturwissenschaftler die Rededisziplin abverlangt, (1) das zweckrational technisch Erzeugte - unter expliziter Angabe der Zwecke - auch zu benennen und vom Natürlichen, nicht Mensch-Gemachten zu unterscheiden, und (2) die theorieoder wissenschaftsabhängigen Unterscheidungen zu explizieren. Das heißt aber, daß es hier gerade nicht - wie Markl

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meint - um die Überwindung eines „dummen Vorurteils" ginge, wonach das Natürliche als gesund und bekömmlich, das Künstlich-Technische als schädlich und verwerflich gilt, sondern um ein (philosophisches) Vorurteil der Naturwissenschaften selbst. (Gegen die These vom dummen Vorurteil des chemischen Laien spricht außerdem, daß wohl jeder durchschnittlich gebildete Zeitgenosse weiß: Das Natürliche ist immer sowohl bekömmlich und nützlich als auch schädlich und giftig; denn wer würde nicht der Giftigkeit von Knollenblätterpilzen, Tollkirschen, Schimmel auf Brot und Nüssen, oder von giftigen Bissen einiger Schlangen wissen? Wer wüßte nicht, daß auch der natürliche Tod tödlich, die natürlichen Zähne im Unterschied zu den künstlichen schmerz-empfindlich und kariesgefährdet, die natürliche Geburt bei natürlich auftretenden Komplikationen für Mutter und Kind ganz natürlicherweise tödlich, jedenfalls gefährlicher als bei Hilfe durch chirurgische Technik sind, Naturkatastrophen katastrophal und überhaupt die Natur gar nicht so schön und bekömmlich ist, wie sie in der Werbung manchmal erscheint. Und wer wüßte nicht, daß er bei vernünftigen, selbst bei unvernünftig schwärmerischen Schritten auf ein einfacheres, „naturgemäßeres", „natürlicheres" Leben auf Chemie weder verzichten kann noch will? O b dies der Klebstoff für jedes Material, der Anstrich für jeden Zweck, die Imprägnierung der Kleidung, die natürlich natürliche Konservierung von Lebensmitteln oder irgendetwas anderes ist, oder allerspätestens, wenn der tobende Eiterzahn gezogen werden muß und die schmerzstillende Spritze begrüßt wird, es spricht kein empirischer Befund dafür, daß für den normal gebildeten Durchschnittsdeutschen die Ablehnung von Technik und Naturwissenschaft und insbesondere von Chemie tatsächlich auf dem intellektuellen Niveau der Waschmittelwerbung und ihren Gleichsetzungen erfolgt.) Anstatt aber soziologische Spekulationen von Biologen oder Philosophen zu diskutieren, soll abschließend auf das Unterscheidungsdefizit in naturwissenschaftlichen Selbstdarstellungen eingegangen werden. Und dieses betrifft alle vier Naturbegriffe.

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Der zweite Naturbegriff - natürlich im Sinne von selbstverständlich, künstlich im Sinne von unnatürlich, einer anerkannten Norm widersprechend - ist, wenn auch erst auf den zweiten Blick, für das Akzeptanzproblem der Chemie einschlägig. Normative oder vorschreibende Aspekte spielen nämlich prinzipiell bei allen Dosierungsfragen eine Rolle - und man wird schwerlich ein Beispiel des Einsatzes von Chemie nennen können, wo Dosierungsfragen unwichtig wären. Es ist kein chemischer, sondern ein philosophischer Denkfehler, wenn, in ökologischen Debatten, bei der Künstlichkeit der Chemie und der Natürlichkeit des Lebens an eine strikte Dichotomie von Tun und Unterlassen gedacht wird: der ökologisch bessere Mensch zeige sich im Unterlassen, im Verzicht auf Technik. Denn „Leben" in irgendeinem für den Menschen relevanten Sinne ist unausweichlich ein Wechselwirken mit und ein Eingreifen in die Natur (im Sinne von (1)) und kann noch nicht einmal durch die radikalste Lösung der Selbstbeseitigung eines Menschen umgangen werden. Es ist eine philosophisch gedankenlose Erfindung, aus dem aristotelischen Konzept der Natur als dem von Menschen nicht Gemachten den Begriff einer Natur ohne den Menschen zu konstruieren. Eine solche Konstruktion wäre nicht selbstkonsistent, und auch die naturbelassene Natur als Norm definiert sich immer nur relativ zu den Unterlassungen bekannter Handlungen wegen unerwünschter Folgen. Was damit zugleich zurückgewiesen wird, ist der Begriff der Natur als göttlicher Schöpfung, über den Menschen nur sprechen können, wenn sie sich zutrauen, selbst die Brille des göttlichen Schöpfers aufzusetzen, die Schöpfung wie ihr eigenes Produkt zu betrachten und dabei z.B. zu erwägen, ob sie die Welt nicht lieber ohne den Menschen geschöpft hätten. Das Natürliche mit dem normativen Anspruch, für ein menschliches Leben in der Natur das rechte Maß zu finden, ist immer eine Normierungsaufgabe für, d. h. an die Adresse einer naturwissenschaftlich-technischen Praxis und kann nicht durch diese ersetzt werden. Oder einfacher ausgedrückt: Der Chemiker hat sich in Auseinandersetzung mit der Öffentlichkeit immer auch im Rahmen seiner naturwissenschaftlichen Fach-

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kompetenz an den Normierungsaufgaben für Dosierungen zu beteiligen, darf aber nicht dem Irrtum verfallen, daß dies ein rein naturwissenschaftliches Problem sei. Normierungskompetenz ist eben immer auch moralische und politische Kompetenz, und wird weniger durch eine spezielle Wissenschaftsethik als vielmehr durch die Urteilskraft des mündigen und informierten Bürgers geleistet. Hier müssen ihm wissenschaftliche und philosophische Bemühungen der Technikfolgenbeurteilung zu Hilfe kommen, die ihrerseits aber nicht ersetzen können, daß sich in den üblichen (und verbesserungsfähigen) Entscheidungswegen durchsetzt, was insgesamt in einem hoch zivilisierten Land politisch und technisch getan werden soll. Die Naturbegriffe (3) und (4) hängen für die Chemie eng zusammen: Das Natürliche als das Naturgesetzliche, dem Menschen Unverfügbare im Unterschied zum Machbaren, und die erkenntnistheoretische Unterscheidung, was wir in eine Naturwissenschaft wie Chemie technisch und begrifflich investieren, und was wir aus diesen Investitionen als empirischen Ertrag erhalten, stehen in einem Bedingungsverhältnis: Das letztere liefert die Unterscheidungskriterien für das erstere. Die Wissenschaft Chemie lotet die Grenzen des technisch Verfügbaren empirisch aus. Praktisch folgt für die Chemie daraus die Aufgabe, zu überdenken, was dem Chemiker im Rahmen seiner Fachkompetenz als das unveränderbar Naturgesetzliche erscheint, und was seinem Eingriff offensteht. Die heute innerhalb der Gemeinschaft einzelner Naturwissenschaften faktisch anerkannten Selbstverständnisse sind zwar sozialpsychologisch identitätsstiftend und insofern weder verzichtbar noch nebensächlich. Aber sie sind auf eine frappierende Weise losgelöst von der tatsächlichen Forschungspraxis. Die oben gegebenen Beispiele können dies belegen: Auch der Naturwissenschaftler und Chemiker, der sich kaum mit wissenschaftstheoretischen Fragen seiner Disziplin befaßt, wird intuitiv speziellere von allgemeineren Gesetzen seiner Disziplin, grundlegendere von nebensächlicheren Ergebnissen, Prinzipien und dergleichen unterscheiden. Dabei werden gerade solche Gesetze, die grundlegend für andere sind, am we-

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nigsten zur Disposition gestellt. Wissenschaftshistorische Analysen zur Physik (etwa von I. Lakatos oder H. Dingler) haben dies als durchgängige Praxis und als gerechtfertigt ausgewiesen. Beispiele sind allgemeine Erhaltungs- und Symmetrieprinzipien. Es ist allerdings zu beobachten, daß viele Naturwissenschaftler aus dem Festhalten solcher Prinzipien den falschen Schluß ziehen, dies seien die besonders fest stehenden, weil empirisch besonders gut abgesicherten Naturgesetze. Tatsächlich jedoch handelt es sich bei solchen weitreichenden Grundsätzen um prinzipielle Methodenentscheidungen und Begriffs- bzw. Verfahrensfestlegungen, die deshalb nicht zur Disposition gestellt werden, weil auf ihnen ganze Gebiete der Naturwissenschaften aufbauen. Selbstverständlich sind sie keine willkürlichen Setzungen, sondern haben einen Bewährungsprozeß hinter sich, was ihnen nichtsdestotrotz den Status eines menschengemachten, „künstlichen" Mittels beläßt, Naturgesetzliches zu erkennen, statt Naturgesetzliches zu sein. Praktisch bedeutet dies, daß das wohl bei Naturwissenschaftlern vorherrschende Gefühl, sie könnten doch nicht einfach technisch-künstlich machen, was sie wollten, sondern nur im Rahmen des naturgesetzlich Möglichen forschen, als naturalistisches Mißverständnis ersetzt werden sollte durch die Einschätzung, daß zwar technisch-künstlich nicht Beliebiges gemacht werden kann (unabhängig davon, ob es soll oder darf), aber daß die Grenzen der Verfügbarkeit nur erkannt werden können in den Grenzen, die die Bewährungs- und Unterscheidungsinstanzen des allgemeinen gesellschaftlichen Lebens liefern. Mit anderen Worten, die Berufung der Naturwissenschaften auf Naturgesetze einerseits und der Optimismus technischer Machbarkeit auf der anderen Seite kommen erst dann in ein ausgewogenes Verhältnis, wenn die Naturwissenschaften sich selbst nicht immerfort naturgesetzlich, sondern als menschliche Praxis begreifen. Im Vergleich mit der Physik hat die Chemie eine Revision nach relativistischem Vorbild noch vor sich - und dabei die Chance, aus den Fehlern der Physik zu lernen. Wer den anthropozentrischen und Handlungscharakter der Chemie,

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die Zweckrationalität ihres technischen Fundaments und ihre Eingebundenheit in eine außerwissenschaftliche, lebensweltliche Praxis erkennt, kann den Bereich des Unverfügbaren von dem des Verfügbaren unterscheiden durch Relativierung auf Bedürfnisse, Zwecke und Mittel, diese Zwecke zu erreichen. Er braucht sich weder kosmologisch noch erkenntnistheoretisch auf das naturgesetzlich Unverfügbare - entschuldigend oder triumphierend - zu beziehen. Die Verantwortung für die Wissenschaften wird dadurch an die Wissenschaften zurückgegeben. Die Wissenschaften, allen voran die Chemie kann dadurch aus ihrer Defensivposition, immer nur Angriffe abwehren zu müssen, heraustreten, um z.B. ihre Rolle als Uberlebensund Ökologiewissenschaft neu zu definieren. Über die dabei sich durchsetzenden normativen Orientierungen wird die Wissenschaft nicht allein befinden können, wird aber auch nicht die gegenwärtig politisch befürwortete Fremdbestimmung hinnehmen müssen. Ob dabei - in diesem umgekehrten Durchgang der vier Naturbegriffe von (4) nach (1) die Unvermeidlichkeit des Technischen weiterhin mit dem Schädlichen und das Natürlich-Unveränderte mit dem Schönen und Nützlichen assoziiert wird, darf bezweifelt werden. Eine rechtfertigungsfähige Forschungspolitik als das, was letztlich institutionell durchgesetzt werden soll und durch menschliche Handlungen zu realisieren ist, folgt eben doch in erster Linie den Meinungen, die die Agenten haben, die ihrerseits sich nicht zuletzt an den Unterscheidungen und damit Begriffen wie dem Naturbegriff der Chemie orientieren.

Gernot Böhme

Das Natürliche und das Künstliche

Technik und Natur, das Künstliche und das Natürliche. Wenn man das so schön auseinanderhalten könnte - dann hätten wir wohl keine Orientierungsprobleme. Eine Natur, wohleingerichtet und zweckmäßig, deren höchstes Produkt, Nutzer und Endzweck der Mensch ist - sie gälte es zu achten und zu bewahren. Eine Natur, dem Menschen vorgegeben als Basis und Einschränkung seiner Selbstentfaltung - ihr gälte es zu folgen in der Einrichtung einer menschlichen Lebensform. Eine Natur als die große Mutter und Meisterin - ihr könnte man vertrauen, ihr nacheifern bei allem technischen Herstellen. Aber was heißt denn schon Natur? Wir stellen die Lüneburger Heide unter Naturschutz, und das ist gut so. Doch die Lüneburger Heide ist ein Produkt des Raubbaus, nämlich des Raubbaus der Hanse, die ganze Eichenwälder verschlang, um ihre Koggen auszurüsten. Als schützenswertes Biotop ist die Lüneburger Heide nicht stabil, ohne menschliche Arbeit und Nutzung würde sie zum Wald regredieren, wo nicht Verkarstung und Versumpfung das unmöglich machte. Naturschutz heißt hier also nicht Absperrung und Bewahrung vor dem Menschen, sondern heißt, genauer besehen, Konservierung und Subventionierung einer obsoleten Wirtschaftsform - der Heidschnuckerei.

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Was ist Natur? Wir bevorzugen Naturkost und suchen unsere Nahrung mühsam zusammen bei Biobauern und Reformhäusern. Was sonst sollen wir auch machen in einer Wirtschaftsform, die in der Produktion alles auf Verwohlfeilerung und schnellen Kapitalumschlag setzt. Sollte man Herbizide mitessen, um auf Seiten der Produzenten die menschliche Arbeit des Jätens zu ersparen? Wachstumshormone, um die Profite zu erhöhen? Oder Antibiotika, um den Viehbestand zu sichern? Aber, ist etwa ein hormonell behandeltes Kalb nicht Natur? Und umgekehrt, sind denn die Bioäpfel das, was wir in den heimischen Wäldern finden könnten? Und ist etwa Gülle ein ökologisch besseres Düngemittel als es Guano war oder chemische Kompositionen heute? Wir sollten naturgemäß leben, unsere Kreatürlichkeit anerkennen, den Leib wiedergewinnen. Allerdings, woran sollte man sich auch sonst orientieren? Aber heißt das etwa, die Kinder erwarten wie den Regen? Und wenn nicht, ist dann Enthaltung natürlicher als der Gebrauch von Antikonzeptiva? Soll man etwa Krankheiten auf sich nehmen, die man vermeiden kann, und wenn ja, welche Krankheiten gehören dann zur Natur des Menschen? Masern ja, Scharlach nein? Und den Leib wiedergewinnen: Ist etwa Jogging natürlich oder Yoga? Natur nennen wir das Gegebene, natürlich ist, was in der Natur vorkommt. Wir unterscheiden es von dem, was vom Menschen gemacht ist. Das scheint eine brauchbare Definition und eine klare Orientierung. Die Natur ist älter als der Mensch, und es läßt sich bestimmen, was nur durch ihn in die Welt kam. Aber kann er denn anderes herstellen, als was von Natur aus möglich ist? Sind etwa Transurane oder durch künstliche Polymerisation hergestellte Fasern nicht Natur? Und überhaupt: Gehört nicht der Mensch selbst zur Natur? Wirkt nicht in ihm und durch ihn die Natur? Ist nicht alles, was wir Kultur und Technik nennen, nur ein Schritt, gar ein Fortschritt der Evolution? Die Orientierung an Natur erweist sich als brüchig. Im historischen Moment, in dem der Bestand der äußeren Natur,

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mit dem der Mensch seit je rechnete, gefährdet ist, in dem Natur ein knappes Gut wird, steht nicht einmal der Begriff Natur als verläßliche Ressource zur Verfügung. Die klassischen Entgegensetzungen von Natur und Technik, Natur und Zivilisation, Natur und Satzung, kurz: der klassische Unterschied dessen, was von selbst da ist, und dessen, was durch den Menschen gemacht ist, verliert an Trennschärfe. Was heißt schon Natur, wenn sie nicht mehr von ihrem Anderen, der NichtNatur, unterscheidbar ist, die ihr Distinktheit und Konturen verlieh? Können wir diesen Verlust hinnehmen, oder besser gefragt, wie könnten wir es, da uns ja der klassische Naturbegriff unter den Händen schwindet? Am Anfang, und das heißt hier bei den frühen griechischen Philosophen, war Natur (Physis) das Ganze. Erst in der griechischen Aufklärung trat dieses Ganze auseinander: Der Mensch wurde sich seiner Selbständigkeit bewußt und fand sich einem anderen Selbständigen, der Natur, gegenüber. Ein Zeuge für diesen Prozeß ist uns der Sophist Antiphon. Von ihm berichtet Aristoteles die Geschichte mit dem Bett: Man vergrabe, soll er gesagt haben, ein hölzernes Bettgestell in der Erde. Wenn es dann treibt, was ja bei manchen Hölzern denkbar ist, dann entsteht daraus wieder Holz, nicht aber ein Bettgestell. Aristoteles hat den in dieser Anekdote angelegten Unterschied von Natur und Technik zu einer Grundunterscheidung alles Seienden erhoben: Von Natur aus Seiendes ist solches, das das Prinzip seiner Bewegung in sich hat, während das, was durch Technik ist, das Prinzip seiner Bewegung, d. h. sowohl seine innere Organisation als auch seine Herstellung und Reproduktion dem Menschen verdankt. Durch die Entgegensetzung des natürlich Seienden und des vom Menschen Gemachten erhielt der Begriff der Natur eine normative Funktion. Natur war das große Vorbild, an dem sich der Mensch zu orientieren hatte. In seinen Werken, den Werken der Kunst, der Technik und der Politik, wie in der Lebensführung hatte er sich an der Natur zu orientieren, sollten diese Werke gut sein. Umgekehrt diente Natur als Basis der Kritik an menschlichen Werken und Einrichtungen. So heißt es schon bei Antiphon: „Die Gebote der Gesetze

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sind willkürlich, die der Natur dagegen notwendig." Und weiter: „Von Natur sind wir in allen Beziehungen gleich geschaffen, Barbaren wie Hellenen." Das ist der Ursprung des Naturrechtsgedankens. Natur als Orientierungsrahmen Man spricht heute viel von Naturzerstörung und meint damit die Ausrottung von Arten, die Verseuchung der Umweltmedien, die Abholzung des tropischen Regenwaldes und die Entstehung des Ozonlochs. Das alles ist schlimm; schlimmer noch aber ist die Zerstörung von Natur als Orientierungsinstanz. Es sind die Fortschritte der Möglichkeiten technischer Manipulation und Herstellung, die einen wachsenden Orientierungsbedarf erzeugen. Ethik hat Konjunktur: Bioethik, Medizinethik, Technikethik und gar Ethik des guten Lebens. Aber es ist gerade der Fortschritt der Technik, der uns des großen verläßlichen Orientierungsrahmens beraubt, der Natur. Die Auflösung des normativen Naturbegriffs war mit dem Aufbruch der neuzeitlichen Naturwissenschaft bei Galilei schon vorprogrammiert. Dieser Wissenschaft ging es von Anfang an nicht mehr um die Natur, so wie sie uns umgibt, in ihrer, sei es nun durch Vernunft oder von einem weisen Schöpfer gesetzten schönen Ordnung. Sondern es ging ihr um Natur als das gesetzlich Mögliche. Der Unterschied von Natur und Technik war damit im Prinzip aufgehoben. Alles, was die Technik bewerkstelligte, war ja doch nur „das gesetzlich Mögliche", also Natur. Deshalb konnte auch Natur im technischen Zusammenhang, im Apparat, im Experiment erkannt werden. Die Produkte der Technik sollten deshalb auch die vorliegende Natur überschreiten und in ihren Leistungen übertreffen. Gleichwohl folgt die neuzeitliche Technik noch lange der Maxime der Nachahmung der Natur. Bis ins 20. Jahrhundert hinein verstand sie sich als Organersatz, Organverlängerung, Organentlastung. Immer standen ihr dabei die weit raffinierteren „ökonomischeren", stabileren Lösungen

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der Natur, die uns umgibt, als Vorbild vor Augen. Ausläufer dieses Denkens finden sich heute noch in der Bionik. Aber das technische Programm der Nachahmung der Natur war in einem Maße erfolgreich, daß man heute nicht daran zweifelt, daß jedes Naturprodukt technisch reproduziert werden kann, jeder Naturprozeß simuliert und schließlich substituiert werden kann. Diese erst in unserem Jahrhundert möglich gewordene technische Reproduzierbarkeit von Natur ist der zweite große Stoß, den der normative Naturbegriff erhält. Natur, die man im Prinzip machen kann, verliert ihre Aura, ihre Würde als etwas, was zugleich Vorbild und Schranke für menschliches Handeln darstellt. Verunsicherung Der Verlust, den wir damit erfahren, scheint unabwendbar. All die landläufigen Beschwörungen von Natur sind nur Nachrufe, rufen einem Entschwindenden nach und offenbaren so indirekt den Verlust. Es scheint, daß uns erst jetzt mit dem Verlust des normativen Naturbegriffs jener Schwindel erfaßt, von dem Nietzsche in seinem Aphorismus „Der tolle Mensch" spricht.

„Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen f Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten Dieser Schwindel ist moralisch, ästhetisch und politisch. Die moralische Verunsicherung betrifft vor allem die Natur, die wir selbst sind, den Leib. Durch die Möglichkeit technischer Lebensverlängerung wird der Zeitpunkt des Todes eines Menschen zu einer Spitzfindigkeit oder einer Sprache der Willkür. Durch die Möglichkeiten pränataler Diagnostik, genetischer Analyse und demnächst genetischer Therapie wird fraglich, was man überhaupt noch bei der Grundausstattung eines menschlichen Lebewesens als Natur hinnehmen soll. Durch die Möglichkeiten der Prothetik und der Organtransplantation schwindet zusehends die Möglichkeit, sich mit dem eigenen Leibe zu identifizieren. Man spürt, daß man gegenüber den

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grenzenlosen Möglichkeiten der Manipulation irgendwo nein sagen muß, daß es die Würde des Menschen verlangt, etwas an sich selbst auch hinzunehmen. Aber wo hier die Grenzen zu setzen sind, ist offen. Eine Berufung auf eine „Natur des Menschen" ist nicht mehr möglich. Die ästhetische Verunsicherung ist nicht nur eine des Geschmacks, sondern betrifft die Rolle von Natur in der Ästhetik überhaupt. Ob das Künstliche dem Natürlichen oder das Natürliche dem Künstlichen ästhetisch vorzuziehen sei, war allerdings eine Frage des Geschmacks und wurde historisch und schichtspezifisch einmal so und einmal so entschieden. Dabei wurde der Unterschied von künstlich und natürlich aber fraglos vorausgesetzt. Erst jetzt im Zeichen schwindender Natur wird auffällig, daß überhaupt Naturgegenständen, Naturformen, daß Naturszenen eine so bedeutende Stellung in der Ästhetik zukommt. Es gibt offenbar ein ästhetisches Bedürfnis nach Natur. Und je klarer das wird, desto mehr wird es durch künstliche Natur befriedigt: Natur als Bild, Natur als Dekor, Natur als touristisch arrangierte Szenerie. Das wirft die Frage auf: Wie kann sich das Bedürfnis nach Natur mit der Geste der Natürlichkeit zufriedengeben? Und wenn man schon Natur machen muß: Grüngürtel, Parks, Mails und künstliche Landschaften - wie soll sie dann aussehen? Die ästhetische Verlegenheit wird im besten Fall zu einer Flucht in die Ökologie. Die politische Verunsicherung gegenüber der Natur zeigt sich in dem maßlosen Ausbau von Behörden, Verordnungen und Gesetzen, die das gesellschaftliche Verhalten gegenüber der Natur regeln sollen, einerseits und in der Konzeptionslosigkeit der Naturpolitik andererseits. Daß Natur überhaupt ein Politikum werden konnte, heißt, daß, was Natur ist und wie sie sein sollte, zum Thema politischer Auseinandersetzungen wird. Trotzdem setzt die Naturpolitik voraus, daß schon feststünde, was Natur ist, und daß man anderswoher, nämlich aus der Wissenschaft, erfahren könne, wie sie zu sein habe. Naturpolitik formuliert sich folglich als Natursc/wCzpolitik. Sie versteht Natur ganz traditionell als das Gegebene und setzt sie in Gegensatz zu dem, was der Mensch veranstaltet. Abgesehen davon, daß eine

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solche Politik zum Scheitern verurteilt ist, weil Natur als bloß zu Schützendes langfristig immer kleiner werden muß, verhindert sie gerade, daß Natur zum Politikum wird. In allen drei Bereichen: der Moral, der Ästhetik, der Politik, macht die Berufung auf Natur einen kläglichen Eindruck. In der Moral möchte man sich auf die Natur des Menschen als sein unveränderliches Wesen beziehen, in der Ästhetik beschwört man Natur als Symbol außer- und vorgesellschaftlicher Freiheit, in der Politik möchte man die historisch gewordene Natur als das unterstellen, was von selbst da ist. All das ist Ausweichen, ist Augenwischerei, man verlängert die Probleme und macht sie schlimmer, indem man sie mit den Begriffen denkt, die durch eben diese Probleme obsolet geworden sind, und sie mit den Instrumenten zu lösen versucht, die für ihre Entstehung verantwortlich sind. Aber können wir denn auf den klassischen Naturbegriff verzichten, auf den Naturbegriff, der durch die Entgegensetzung zu Technik, Kunst und menschlicher Satzung bestimmt war? Geben wir damit nicht ein Kritikpotential aus der Hand, das für die Änderung unseres Verhaltens unentbehrlich ist? Heißt nicht den Unterschied von Natur und Technik aufzugeben, sich schlicht dem Strudel zu überlassen, dem Chaos, oder wie man es sonst nennen mag: Evolution und Selbstorganisation? War nicht dieser klassische Naturbegriff an das Bewußtsein des Menschen geknüpft, ein selbsttätiges und damit auch verantwortliches Wesen zu sein? Vorläufig jedenfalls können wir auf den Naturbegriff nicht verzichten. Vorläufig, d. h. unter der Perspektive, daß langfristig der klassische Naturbegriff kein tragfähiges Fundament mehr ist. Aber vorläufig heißt nicht spielerisch oder unernst. Im Gegenteil: Seit Descartes wissen wir, daß die provisorische Moral vielleicht die eigentliche Moral, jedenfalls bitterernst ist, weil sie nämlich die Moral ist, die keine Letztbegründung abwarten kann, die Moral, die unter Handlungsdruck steht. Fragen wir also, was die Situation verlangt.

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Was verlangt die Situation? Zunächst der menschliche Leib: Es mag schon sein, daß sich heute nicht mehr sagen läßt, was am Menschen Natur ist und was ihm zur Disposition steht. Aber wo immer man die Grenze setzt, daß er sich selbst gegeben ist und sich mit Gegebenem auseinanderzusetzen hat, gibt der Freiheit des Menschen erst Kontur. Es macht die Würde des Menschen aus, auch etwas an sich selbst hinnehmen zu können, und deshalb ist das Beharren und ein Nein gegenüber Manipulation, wo immer man es aufrichtet, ein Signum von Humanität. Das mag für den einen die Forderung nach einem würdigen Tod sein, das mag für den anderen schon die Ablehnung von Bluttransfusionen sein, das mag für dritte der Verzicht auf genetische Aufklärung sein. Wie immer man sich entscheidet, das Eigentliche des Menschseins definiert sich heute nicht mehr durch einen Unterschied gegen die Tierheit oder gegen die Gottheit, sondern durch die Grenze, die man der an sich schrankenlosen Manipulation des menschlichen Leibes entgegensetzt. Sodann die Ästhetik: die Holzmaserung auf dem Elektronikgerät mag absurd, die Plastikblumen im Flughafenrestaurant lächerlich, die Hydrokulturen des städtischen Grüns pervers erscheinen - aber was wären wir ohne sie? Wie würde unsere Welt ohne die Allgegenwart von Naturformen aussehen? Heisenberg hat einmal von einem horror vacui vor einer Welt gesprochen, in der der Mensch nur noch sich selbst begegnet. Er hatte recht. Im Bedürfnis des Menschen nach Natur zeigt sich das Bedürfnis des Menschen nach dem anderen seiner selbst. Es geht nicht um Schönheit, die konnte man seit je auch in den vollendeten Formen der Geometrie finden; es geht auch nicht um Erhabenheit, in dieser Hinsicht mag ein Atompilz noch jedes Bergmassiv übertreffen. Sondern es geht um die Erfahrung von Spontaneität und Selbsttätigkeit außer uns, von etwas, das nicht wir selbst sind und das uns gleichwohl anspricht. Das ist auch ein Argument für „wilderness" und Naturreservate. Aber dieses andere bleibt noch spürbar in der stilisierten Wachstumslinie einer japanischen Tuschezeichnung und selbst noch in den

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Kelchen künstlicher Blumen. Solange man mit den ästhetischen Bedürfnissen des Menschen rechnet, wird man auf die Physiognomie der Naturformen nicht verzichten können. Schließlich zur Naturpolitik: Nicht mehr Naturschutz, sondern Renaturierung wird die Parole. Man mag Umweltkatastrophen erfolgreich verdrängen, weil sie längst schon im Gange sind, aber eine Schwelle ist spürbar überschritten. Nicht mehr die Lüneburger Heide oder der Naturpark Deutsche Alpen sind die Symbole gegenwärtiger Naturpolitik, sondern Emscher Park, Hambacher Loch, Bitterfeld. Schon nicht mehr Bewahrung, sondern Wiederherstellung oder überhaupt Herstellung von Natur ist die Maxime. Dieser Rekurs auf Natur ist kein romantisches revenons ä la nature, noch ein konservatives Beharren auf agrarischen Kulturlandschaften. Das Anlegen von Biotopen, das Wiederherstellen von Kreisläufen, die Wiedereinsetzung der selbstregenerativen Kraft von Wasser, Boden und Atmosphäre entspringen der bitteren Einsicht, daß das Projekt der Naturbeherrschung gescheitert ist und daß ein totales Ökomanagement den Menschen überfordern würde. Die Technik, die den Menschen entlasten sollte, hat ihm mehr und mehr aufgeladen, was früher die Natur für ihn tat. Die Technik, die angetreten war, die Natur zu beherrschen und zu kontrollieren, hat von Generation zu Generation immer weitere Techniken erzwungen, durch die die Schäden der vorhergehenden repariert und die Unkosten der Naturbeherrschung kompensiert werden mußten. Renaturierung, ökologischer Rückbau oder gar Deindustrialisierung, das mögen provisorische Strategien sein und langfristig den Menschen nicht von der Last befreien, für den Fortgang der Evolution verantwortlich zu sein. Aber gegenwärtig ist der Rekurs auf Natur schlicht ein Gebot der Ökonomie. Natur und Technik, das Künstliche und das Natürliche, eine provisorische, aber noch unentbehrliche Entgegensetzung. Sie wird überwunden werden müssen in einem Verständnis von Natur, nachdem Natur wieder das Ganze des Seienden meint und in einem Selbstverständnis des Menschen, in dem er sich selbst als zur Natur gehörig begreift. Die Perspektive auf sol-

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che Zukünfte mag uns die Freiheit geben, vorläufig das Nötige zu tun: künstliche Natur; in sie hineinzuspringen mit dem Phantasma neuer Ganzheiten hieße, die Widersprüche zu leugnen, die es gegenwärtig zu denken, und den Entgegensetzungen ausweichen, die es auszutragen gilt.

Literatur G. Böhme: Für eine ökologische Naturästhetik, Frankfurt; edition suhrkamp, 1989. G. Böhme·. Natürlich Natur. Uber Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt; edition suhrkamp, 1992.

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I. Einleitung Künstliche Natur - ein Paradox. Oder bezeichnet der Ausdruck ein Ubergangsstadium, vielleicht ein Zögern oder eine Inkonsequenz? Sind Beispiele künstlicher Natur Zeugnisse nostalgischen Festhaltens an einem Zustand der Welt, der gerade im Schwinden ist, oder Anzeichen künftiger Versöhnung eines alten Gegensatzes? Das Natürliche und das Künstliche schließen sich aus, so verstand man die Ausdrücke bisher: Natur ist das, was von selbst da ist, künstlich dagegen das Menschenprodukt. In Grimms Wörterbuch der deutschen Sprache (Ausgabe 1873) lesen wir: „Jetzt gilt es (das Wort,künstlich') wesentlich einseitig zu Kunst in ihrem Gegensatz zur Natur." Mit dem „jetzt" signalisiert das Wörterbuch allerdings, daß vorher das Wort „künstlich" durchaus auch anders verstanden werden konnte, nämlich im Sinne von „kunstreich", „raffiniert", besondere Kompetenz oder Wissen ausdrückend. In diesem Sinne konnte auch davon die Rede sein, daß die Natur in ihren Werken „künstlich" verfahre, und die Rede von einer „Kunst der Natur" war - insbesondere im 18. Jahrhundert - sehr verbreitet. Es wurden damit jene Charakterzüge der Natur apostrophiert, die Einheit, Zweckmäßigkeit, Funktionalität der Organisation erkennen ließen. Solche Redeweisen finden sich im 18. Jahrhundert besonders im Einzugsbereich der Physikotheologie, d. h. jener naturkundlichen Bücher, in denen aus der Einheit, Schönheit und ZweckmäßigAus „Natürlich Natur. Über Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit" © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1992.

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keit der Natur auf einen weisen und intelligenten Urheber, auf einen göttlichen Ingenieur als Urheber der Natur geschlossen werden sollte. Ich wähle als Beispiel eine Stelle aus Sulzers Moralischen Betrachtungen über die Werke der Natur (1770): „Man lernt so aus der Natur auch Erfindungen. Sind denn, sagte er, die Erfindungen der Kunst was anders, als Nachahmungen der Natur? Es ist eine alte Anmerkung, daß die Künste aus der Natur hergenommen sind, daß die Spinne den Menschen spinnen und weben, die Schwalbe und der Biber bauen, die Schiffsmuschel segeln gelehrt haben. Allein diese Anmerkungen treffen die Sache noch nicht. Man kann sagen, daß alle Erfindungen der Künste, entweder aus dem Reiche der Natur wirklich hergenommen, oder in demselben wenigstens ungleich vollkommener anzutreffen sind. Die Natur ist die ursprüngliche Werkstätte aller Künste; eine unendliche Rüstkammer der künstlichen Maschinen, die alles, was die Menschen erfunden haben, weit übertreffen". 1 Hier wird also die Natur als die ursprüngliche Künstlerin, oder genauer, der ursprüngliche Künstleringenieur verstanden. Die menschlichen Künste betreiben nichts anderes als die Natur und bleiben in ihren Errungenschaften weit hinter ihren zurück. Die Natur ist das Vorbild, von dem so etwas wie menschliche Kunst und Technik sich als Nachahmung herleitet.

II. Produkte von Technik und Kunst sollen wie Natur, künstliche Natur sein Damit kommen wir auf die berühmte Nachahmungsthese: Kunst und Technik wurden von der Antike bis weit ins 19., zum Teil sogar ins 20. Jahrhundert hinein als Nachahmungen der Natur verstanden. Was bedeutete diese These? Was verstand man unter Natur, bzw. wie wurden Kunst und Technik verstan-

1

Johann Gottlieb Sulzer, Versuch einiger moralischer Betrachtungen die Werke der Natur, Berlin 1750, S. 38 f.

über

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den, wenn sie in einer Nachahmungsbeziehung zur Natur gesehen wurden? Die Nachahmungsthese geht, von mehr oder weniger deutlichen Vorformulierungen etwa bei Piaton abgesehen, auf Aristoteles zurück. In seinen Physikvorlesungen schreibt er: „Uberhaupt vollendet die Technik teils das, was die Natur nicht erreicht, teils ahmt sie sie nach." 2 Der griechische Ausdruck, der hier mit „Nachahmung" übersetzt wird, ist der Ausdruck Mimesis. Er hat in der Ästhetik des 20. Jahrhunderts, besonders durch Adorno, eine Renaissance erfahren. Dabei knüpfte man an einen Sinn von Mimesis an, der in der traditionellen Nachahmungslehre eher eine untergeordnete Rolle spielte. Die Mimen sind ja die Schauspieler, die etwas zur Darstellung bringen, etwas gegebenenfalls nur Geistiges, vielleicht Phantastisches oder Utopisches. Mimesis kann aber auch, und das ist für die Nachahmungslehre der entscheidende Sinn, soviel bedeuten wie Reproduktion, d. h. Nachbildung, oder Nachmachen, verfahren wie ein anderer.3 Kunst und Technik - das wäre dann die These des Aristoteles - bilden die Natur nach oder verfahren selbst wie die Natur. Nun war es allerdings die Auffassung Aristoteles' ? wie übrigens auch schon Piatons, daß die bildenden Künste - weniger die musischen4 - Natur abbilden. Die Werke der Technik aber galten als Nachahmungen der Natur, insofern die handwerklichen Künste so verfuhren wie Natur, nämlich teleologisch. Aristoteles sagt, daß die Natur, wenn sie einen Tisch machen wollte oder könnte, so vorgehen würde wie der Tischler, nämlich geeignetes Material zusammensuchen und dieses dem gewünschten Zweck entsprechend organisieren würde. Die Nachahmungsbeziehung wird hier also von einem teleologischen Verständnis der Natur getragen. In der Na-

2 3 4

Phys., Β 8, 199a, 15 ff. H. Koller, Die Mimesis in der Antike. Nachahmung, Darstellung, Ausdruck, Berlin 1954. G. Bien, Bemerkungen zu Genesis und ursprünglicher Funktion des Theorems von der Kunst als Nachahmung der Natur, in: Bogawus. Zt. f. Literatur, Kunst und Philosophie, Heft 2, Münster 1964, S. 2 6 - 4 3 .

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tur entstehen aber nun keineswegs Tische, und insofern werden die technischen Künste durchaus im Gegensatz zur Natur verstanden. Sie überlisten nämlich die Natur, sie zwingen sie zu Bewegungsverläufen und Effekten, die jenseits natürlicher Tendenzen und ihnen geradezu entgegengesetzt sind, para physin, wie Aristoteles sagt. Dieser Gegensatz von Natur und Technik wird von Aristoteles sogar ontologisch begründet: Es handelt sich um verschiedene Typen des Seienden. Natürlich ist, was das Prinzip seiner Bewegung in sich hat, d. h. in seiner Fortentwicklung und Reproduktion durch sich selbst bestimmt ist, während technisch dasjenige Seiende ist, das das Prinzip seiner Bewegung, also seine Entstehung, Organisation und sein Entwicklungsprinzip vom Menschen hat.5 Wir sehen also, daß an ihrem Ursprung die Nachahmungsthese keineswegs besagt, daß die Technik die Werke der Natur nachbildet. Sie verfährt lediglich wie Natur, nämlich zweckmäßig. Je mehr nun seit Beginn der Neuzeit die Natur mechanistisch verstanden wurde und der Begriff der Zweckmäßigkeit in der wissenschaftlichen Betrachtung der Natur zurückgedrängt wurde, desto mehr wurden die „wunderbaren Werke der Natur", ihre „Technik", d. h. ihre innere Organisation und ihr zweckmäßiges Verfahren, auffällig. Die Nachahmungsthese wurde nun gerade so verstanden, daß es der Gipfel handwerklich-technischer Vollkommenheit sei, die Werke der Natur durch Mechanismen zu reproduzieren. Die Automatenschwärmerei des 18. Jahrhunderts ist der deutlichste Ausdruck davon, Vaucansons Ente ihr bekanntestes Beispiel.6 Das Ziel dieser Nachahmung der Natur in der Automatenkunst erscheint heute absurd. Was soll es für einen Sinn haben, eine automatische Ente zu konstruieren? Auf der anderen Seite erscheinen aber auch heute noch die Lösungen, die die Natur für bestimmte Probleme gefunden hat, als vorbild5

Phys., B l .

6

A. Sutter, Göttliche Maschinen. Die Automaten für Lebendiges bei Descartes, Leibniz, La Mettrie und Kant, Frankfurt 1988. Zu Vaucansons Ente im besonderen siehe D'Alemberts Artikel Automates in der Encyclopedie.

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lieh. Es wird deshalb immer noch als lohnend angesehen, die Natur unter technischen Gesichtspunkten zu studieren, nicht nur, um sie als solche zu erkennen, sondern auch, um sie zumindest als Heuristik für technische Entwicklungen zu verwenden. Das ist das Gebiet der natürlichen Konstruktionen und der Bionik. Uber diesen pragmatischen Zusammenhang hinaus ist aber die Technik auch theoretisch bis in unser Jahrhundert hinein im Rahmen der Nachahmungsthese verstanden worden. So in dem ersten Beispiel einer Technikphilosophie, in Ernst Kapps Grundlinien einer Philosophie der Technik (1877)/ Freilich tritt einem aus Ernst Kapps Buch die Nachahmungsthese in einer sehr eigentümlichen Form entgegen: Für Ernst Kapp ist Technik Organprojektion. Diese Organprojektion geschieht nicht etwa durch ein genaues Studium der Organe und ihre apparative Nachbildung, sondern vielmehr unbewußt. Ernst Kapp glaubt, daß der Mensch, spezieller der Ingenieur, in seiner Tätigkeit unbewußt sein Inneres nach außen kehrt, sich veräußerlicht - und dadurch natürlich auch im äußeren sich selbst erkennt. U m dafür ein charakteristisches Beispiel zu zitieren: „Die Nerven sind Kabeleinrichtungen des thierischen Körpers, die Telegraphenkabel sind Nerven der Menschheit! Und, fügen wir hinzu, sie müssen es sein, weil das charakteristische Merkmal der Organprojektion das unbewußte Vorsichgehen ist" (a.a.O., S. 141). Ernst Kapp ist mit dieser eigentümlichen Auffassung ein später Erbe romantischer Naturphilosophie. Diese hatte angenommen, daß der Geist in der Materie ist, daß im schöpferischen Menschen unbewußt die Natur selbst tätig ist und daß schließlich in seinen Werken, insbesondere den Werken der Kunst, der Geist zu sich selbst komme. Im Rahmen dieses Denkens kann die Technik auch als eine unbewußte Veräußerlichung der organischen Strukturen des Menschen verstanden werden. Ernst Kapp war in dieser Auffassung bestärkt durch die Entdeckung, daß beispielsweise die Lamellenführung im Oberschenkelknochen den Konstruktionsprin7

E. Kapp, Grundlinien einer Philosophie der Technik. Zur Entstehungsgeschichte der Cultur aus neuen Gesichtspunkten, Braunschweig 1877.

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zipien von Brückenträgern sehr ähnlich ist. Man könnte diese Verhältnisse natürlich auch nüchterner beschreiben, indem man sagt: Für die Erfüllung bestimmter Funktionen findet die Technik auf der Basis der Naturgesetze dieselben oder ähnliche Optimierungen, wie sie auch in der organischen Natur realisiert sind. Die theoretische Auffassung von Technik als Naturnachahmung hat dann noch einmal bei Arnold Gehlen eine bestimmte, nämlich anthropologische Bedeutung gefunden. In seinem Buch Die Seele im technischen Zeitalter (1957) 8 definiert er Technik als Organersatz. Hier ergibt sich das Nachahmungsprinzip daraus, daß die Aufgabe der Technik ist, den Menschen in seinen organischen Leistungen zu entlasten bzw. zu verstärken. Technikentwicklung ist also fortgesetzte Organentwicklung und schreitet in ihren späteren Phasen vom Organersatz zum Ersatz des Organischen fort. Nachahmung wäre danach nicht direkte Nachbildung, sondern funktionale Nachahmung - notfalls mit durchaus nichtorganischen Mitteln. Nicht berücksichtigt bleibt in dieser Theorie, daß die Technik durchaus auch nichtorganische Funktionen erfüllen kann, etwa gesellschaftliche. Solche, die man unter Umständen gerade als die charakteristischen moderner Technik ansehen könnte: Produktion, Verkehr, Kommunikation werden nur mühsam unter dem Begriff der Organfunktion subsumiert. Schon bei Kapp kann man eine ähnlich vage Ausweitung der Theorie beobachten, wenn er behauptet: „Die Darstellung der Organprojektion (schreitet) von solchen Artefacten, die in derbsinnlicher Nachbildung der natürlichen Werkzeuge bestehen, zu denjenigen fort, bei welchen die handgreifliche Materie gegen zunehmend geistige Durchsichtigkeit zurücktritt" (a.a.O., S. 78). Aber es geht jetzt nicht um Kritik dieser Theorien, sondern um die Feststellung, daß sie Technik durch die Grundidee der Nachahmung der Natur verstehen.

8

A. Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, Hamburg 1957.

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Was bedeutet diese Auffassung nun für die Rede von der künstlichen Natur? Sie bedeutet, daß „künstliche Natur", so gesehen, keineswegs ein Paradox enthält, weil nach ihr das Wesen der Technik ja gerade darin besteht, die Natur nachzumachen. Werke der Technik sind deshalb eo ipso künstliche Natur. Sie sollen, was sonst die Natur von selbst zuwege bringt, mit menschlichen Mitteln erreichen, sie sollen Natürliches ersetzen, verstärken oder funktionale Äquivalente schaffen. Für die Kunst stellen sich die Verhältnisse im Grund ähnlich dar, wenngleich die Nachahmungsthese hier eine wechselvolle Geschichte aufweist. Daß Kunst Nachahmung der Natur zu sein hat, ist insbesondere durch die Ästhetik con Charles Batteux9 im 18. Jahrhundert gegen die vorhergehende Maxime der Künstlichkeit formuliert worden. Sie galt noch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein. Nachahmung der Natur konnte hier wie bei der Technik heißen, so wie die Natur zu verfahren oder auch die Werke der Natur nachzubilden. Das kann hier im einzelnen nicht ausgeführt werden. Ich möchte nur die entscheidende Formulierung aus Kants Kritik der Urteilskraft zitieren: „Die Kunst kann nur schön genannt werden, wenn wir uns bewußt sind, sie sei Kunst, und sie uns doch als Natur aussieht" (§ 45) Die Kunst schafft demnach etwas, das so aussehen soll wie Natur: künstliche Natur. Auch hier folgt, daß künstliche Natur keineswegs etwas Befremdliches ist, sondern dasjenige, was von der Kunst gerade erwartet werden sollte.

III. Weder Technik noch Kunst sind „künstlich" Nun gibt es aber eine wichtige andere Traditionslinie der Auffassung von Technik und Kunst, nach der beider Werke nicht sinnvoll künstlich genannt werden können, und schon gar nicht künstliche Natur. Beginnen wir mit der Technik. Die neuzeit9

M. Schenker, Charles Batteux und seine Nachakmungstheorie in Deutschland, Leipzig 1909; J . v. Lühe, Natur und Nachahmung. Untersuchungen zur Batteux-Rezeption in Deutschland, Bonn 1979.

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liehe Technik ist zugleich mit der neuzeitlichen Naturwissenschaft etwa zur Zeit Galileis entstanden. An ihrem Ursprung steht die Aufhebung des Gegensatzes von Natur und Technik. Die entscheidende Einstellungsänderung bei Galilei, die zur neuzeitlichen Naturwissenschaft geführt hat, besteht darin, daß für ihn die Natur im Apparat keineswegs gezwungen wird, etwas ihren eigenen Tendenzen Entgegengesetztes, Widernatürliches zu vollbringen, sondern daß alles, was im technischen Apparat geschieht, durchaus natürlich ist und daß er sogar die Natur als solche viel reiner und klarer zeigt, als man sie etwa durch die Beobachtung der „Natur da draußen" erkennen könnte.10 Freilich - das sei nebenher gesagt - ist mit dieser Einstellungsänderung eine Veränderung der Auffassung dessen verbunden, was als „natürliche Tendenz" anzusehen ist. Nicht die Bewegung zum Erdmittelpunkt ist für alle Körper die natürlichste Tendenz - wie Aristoteles lehrte - , sondern vielmehr die Trägheitsbewegung.11 Charakteristisch für die genannte Einstellungsänderung ist die Tatsache, daß „Mechanik", die nach der griechischen Tradition eine Techniklehre außerhalb der Wissenschaft war, nun zur ersten und maßgebenden Naturwissenschaft wird. Diese Leitfunktion behält sie bis weit ins 19. Jahrhundert hinein. Mit der Mechanik als prototypischer Naturwissenschaft war die Einheit von Naturwissenschaft und Technik für neuzeitliche Naturwissenschaft von Anfang an charakteristisch. Was Natur ist, wurde im technischen Zusammenhang, nämlich im Experiment, erforscht. Thema der Naturwissenschaft war damit nicht mehr die faktische Natur, die „Natur da draußen", sondern vielmehr das gesetzlich Mögliche. Es folgt daraus, daß die „Natur da draußen" selbst nur eine Realisierung von Natur darstellt, daß das Feld von Natur im Sinne von Möglichkeit sehr viel weiter ist. Für die Technik andererseits folgt daraus, daß sie nichts 10 11

F. Krafft, Die Stellung der Technik zur Naturwissenschaft in Antike und Neuzeit, in: Zt. Technikgeschichte, Bd. 37 (1970), Nr. 3, S. 189 - 209. St. Toulmin, Voraussicht und Verstehen. Ein Versuch über die Ziele der Wissenschaft, Frankfurt 1968, Kap. 3 und 4.

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anderes als Natur ist, daß sie lediglich naturgesetzlich Mögliches realisiert. Sie ahmt also die Natur, in ihren Werken nicht nach. Für diese Auffassung gibt es charakteristische Beispiele wie das Rad, oder besser, den Wagen und das Flugzeug.12 Für den Wagen gibt es kein Vorbild in der Natur, und auch vom Flugzeug kann man nicht sagen, daß es etwa den Vogelflug oder den Flug irgendeines Tieres nachahmt. Von der Nachahmung könnte man im Rahmen dieser Auffassung von Natur nur im platonischen Sinne reden, denn nach Piaton ist ja auch die faktische, die sinnliche Natur bereits eine Nachahmung bzw. Darstellung der Ideen. Auch nach dieser Redeweise wäre es aber sinnlos, Produkte der Technik als künstliche Natur zu bezeichnen. Denn nach Piaton sind Produkte des Handwerks, wie etwa Tische, ebenso nur Darstellungen der ewigen Ideen wie die Naturdinge, etwa Pferde. Es zeigt sich also, daß die Auffassung von Technik als Nachahmung der Natur keineswegs selbstverständlich ist, sondern daß sie vielmehr das Wesen neuzeitlicher, und das heißt eben naturwissenschaftlicher Technik nicht trifft. Aber auch unabhängig davon hat die Nachahmungsthese seit der frühen Neuzeit Widerspruch erfahren. Blumenbergu hat auf eine sehr schöne Stelle in Cusanus Schrift De mente hingewiesen. Hier wehrt sich der Idiota, d. h. ein wohl handwerklich tätiger Privatmann, gegen die Nachahmungsthese mit folgendem Satz: „Coclear extra mentis nostrae ideam non habet exemplar - der Kochlöffel hat außerhalb der Vorstellung unseres Geistes kein Vorbild", und er fährt dann an späterer Stelle fort: »Non enim in hocimitorfiguram cuiuscumque rei naturalis - ich ahme nämlich in ihm nicht die Figur irgendeines natürlichen Dinges nach."14 Eine entsprechende Entwicklung könnte man für die Kunst aufweisen. Sie rückt seit dem 19. Jahrhundert entschieden von der Nachahmungsthese ab. Es sei hier nur ein Satz von Paul 12 13 14

S. Krämer, Technik, Gesellschaft und Natur, Frankfurt 1987. H . Blumenberg, Nachahmung der Natur". Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen, in: Studium Generale 10 (1957), S. 266 - 283. Zitiert nach: Blumenberg, a.a.O., S. 268.

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Klee angeführt, in dem die Parallelität zur neuzeitlichen Natur und Technik sehr deutlich wird. Er sagt, „daß das Sichtbare im Verhältnis zum Weltganzen nur ein isoliertes Beispiel ist und daß ganz andere Wahrheiten latent in der Überzahl sind" ,15 Für Paul Klee ist Kunst deshalb nicht Nachahmung der Natur im Sinne der faktischen, sichtbaren Natur: „Kunst gibt nicht das Sichtbare, sondern macht sichtbar."16

IV. Künstliche Natur Man könnte das bisher Gesagte zusammenfassen in der These, daß nach einem konservativen Technikbegriff jedes Produkt der Technik künstliche Natur ist, daß es dagegen nach einem progressiven Technikbegriff sinnlos ist, technische Produkte als künstliche Natur zu bezeichnen. Wenn Technik die Natur nachahmt, so sind ihre Produkte künstliche Natur, wenn Technik dagegen nur Möglichkeiten realisiert, so hat sie keine wesentliche Beziehung zu der faktisch realisierten Natur. Nun gibt es aber künstliche Natur, d. h. Produkte von Kunst und Technik, die wir mit gutem Grund und mit einer bestimmten Pointe so nennen, und wir weisen mit dem Ausdruck „künstliche Natur" auf den besonderen und prekären Status dieser Produkte. Ich will zunächst eine Liste solcher Produkte geben, um mich dann schrittweise einer Klärung ihrer ambivalenten Stellung zu nähern. Als erstes ist auf die Verwendung von Natur zu ästhetischen Zwecken hinzuweisen. Der ästhetische Raum ist besetzt durch 15

16

Zitiert nach W. Haftmann, Paul Klee. Wege bildnerischen Denkens, Frankfurt 1961, S. 71. Haftmann, der leider seine Zitate nicht nachweist, zeigt aber auch, daß Klee der Nachahmungsthese in gewisser Weise durchaus nahestand. So zitiert er folgenden Satz Klees: „Vielleicht werden Sie von Natur aus zu eigenen Gestaltungen kommen und eines Tages selber Natur sein, bilden wie Natur" (a.a.O., S. 93). Erster Satz von Klees Beitrag für den Sammelband Schöpferische Konfession, in: Katalog, Paul Klee. Wachstum regt sich. Klees Zwiesprache mit der Natur (Hg. E.-G. Güse), München 1990, S. 57.

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künstliche Blumen, Bäume, Pflanzen überhaupt, sie erscheinen in Architektur und Design als Ornament, künstliche Tiere füllen als Plüschmenagerie die Kinderzimmer. Das 19. Jahrhundert schuf sich in Wintergärten und -palästen, Palmenhäusern und Floren künstliche Paradiese. 17 Heute finden sich diese in Einkaufs- und Badecentern. Hieran schließen sich die künstlichen Landschaften, die heute über Abraumhalden oder auch in Wüsten geschaffen werden. Dabei ist auch an die kleineren oder größeren Renaturierungsprojekte zu denken, von der Renaturierung eines betonierten und begradigten Baches bis zum Emscher Park. Schließlich kann man, was in dieser Gruppe künstliche Natur heißt, bis hin zu den Science-fiction-Projekten, den Glaskuppelstädten in den Polregionen der Erde oder gar extraterrestrischen Siedlungen, verfolgen. Die nächste große Gruppe künstlicher Natur umfaßt die technische Reproduktion, Gestaltung und Steuerung des menschlichen Körpers. Das fängt an mit dem künstlichen Schlaf und geht bei der künstlichen Gestaltung von leiblichen Prozessen bis zur künstlichen Beatmung und Dialyse. Dann folgt der Bereich der künstlichen Organe, der Prothesen, angefangen von den Zähnen über künstliche Glieder, künstliche Nieren, vielleicht einmal bis zur künstlichen Haut und dem künstlichen Herzen. Ferner ist an den sich entwickelnden Sektor der Reproduktionstechnologie zu denken. Hier fängt man an bei der künstlichen Befruchtung und erreicht sein Ziel vielleicht einmal bei der künstlichen Gebärmutter. Und schließlich ist hier auch die künstliche Intelligenz zu nennen, so sehr sich ihre Vertreter heute dagegen wehren. 18 Für die letzte Gruppe der Produkte, bei denen man von „künstlicher Natur" spricht, möchte ich prototypisch die 17

St. Koppelkamm, Künstliche Paradiese, Gewächshäuser und Wintergärten des 19. Jahrhunderts, Berlin 1988. 18 jy4 lot of anxiousness and hostility against AI is motivated by phantastic speculations about so-called ;reasoning machines' which are not technologically justified in any way." K. Mainzer, Knowledge-based Systems, in: Zt. f . allg. Wissenschaftstheorie, 21 (1990), S. 48.

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künstlichen Werkstoffe nennen. Vielleicht sind auch die künstlichen Elemente in diese Gruppe einzuordnen, mit Sicherheit aber die synthetischen Lebewesen. Warum, das wäre die erste Frage, spricht man bei all diesen Produkten von „künstlich", was zeichnet sie gegenüber anderen technischen Produkten aus? Denn niemand würde ein Auto künstlich nennen, ebensowenig wie einen Löffel oder das Rad - und die künstlichen Elemente, die ich eben erwähnte, nennt man in der Regel eben doch nicht so, sondern Transurane. Im Gegensatz zu solchen technischen Produkten, die nur naturgesetzliche Möglichkeiten realisieren, sind diejenigen, die man künstliche Natur nennt, offenbar solche, die sich an der gegebenen Natur orientieren. Es stellt sich somit die zweite Frage: warum diese Orientierung an der gegebenen Natur? Sie stellt sich um so schärfer, als sich ja in unserem zweiten Durchgang ergeben hat, daß neuzeitliche Technik ihrem Wesen nach gerade nicht an die gegebene Natur als Vorbild gebunden ist. Handelt es sich hier lediglich um Anachronismen? Handelt es sich um technische Konstruktionen, die sich noch nicht entschieden von traditionalen Bindungen freigemacht haben, quasi um historische Reminiszenzen von der Art der ersten Autos, die noch so aussahen wie Kutschen ohne Pferde?19 Ich gehe noch einmal die genannten vier Gruppen künstlicher Natur durch, zunächst die künstliche Natur im ästhetischen Bereich. Hier würde die genauere Analyse zeigen, daß es für den zivilisierten Menschen gerade aufgrund seiner Naturferne ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Natur gibt, das aber als ästhetisches auch durch die „Geste der Natürlichkeit" befriedigt werden kann. Bei der zweiten Gruppe - künstliche Landschaften, Renaturalisierungsprojekte etc. - sind es andere Gründe, die zur Orientierung an der gegebenen Natur führen. Hier ist maßgebend, daß trotz aller menschlichen Gestaltung der Globus im ganzen 19

H. Lübbe, Was beißt: „Das kann man nur historisch erklären?", K. Hübner, A. Menne (Hg.), Natur und Geschichte, X. Dt. Kongreß Philosophie, Kiel 8. - 12. Okt. 1972, Hamburg 1973, S. 207 - 216.

in: für

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noch immer Natur ist. Was also Bestand haben soll, muß sich irgendwie in die Gesamtnatur Erde einfügen oder wird von dieser langfristig eingeholt. Deshalb handelt es sich in der Landschaftsgestaltung häufig um Wiederherstellung von Natur, um Ersatz, um Zurückführung in einen naturnahen Zustand. Für diese Strategie sind auch die Erfahrungen, die der Mensch mit dem Projekt der Naturbeherrschung gemacht hat, maßgeblich. Es hat sich nämlich gezeigt, daß die Naturbeherrschung langfristig den Menschen nicht von Arbeit entlastet, sondern im Gegenteil überlastet, weil durch Schäden und Nebenfolgen und zur Stabilisierung für jeden technischen Eingriff in die Natur in steigendem Maße Reparatur- und Steuerungstechnologien notwendig werden. Daher ist langfristig häufig Renaturierung ökonomischer als weitere technische Ausgestaltung. Die dritte Gruppe betraf, um es mit einem Schlagwort zu sagen, den Prothesenmenschen. Hier ist die Orientierung an der gegebenen Natur ebenfalls plausibel. Der Mensch ist als Leib Natur, und deshalb muß sich alle Manipulation am Menschen an seiner Natürlichkeit orientieren. Allerdings droht hier der Ausbruch aus dieser Orientierung, etwa in der Gentechnologie, der Reproduktionstechnologie und in der Mensch-MaschineSymbiose, durch die man zentrale Funktionen, wie die der Lunge oder des Herzens, ersetzt. Die letzte Gruppe von Beispielen künstlicher Natur spielt eine Sonderrolle. Wie bei den künstlichen Elementen könnte man ja auch bei künstlichen Werkstoffen oder synthetischen Lebewesen einfach davon sprechen, daß hier Möglichkeiten realisiert werden, die im Prinzip in der Natur liegen, daß sie also die Bezeichnung „künstlich" zu Unrecht tragen. Die Redeweise rechtfertigt sich hier offenbar dadurch, daß unter Natur auch ein fester Bestand von Wesen verstanden wurde: Es gibt - glaubte man - von Natur aus bestimmte Materialien und bestimmte Spezies. Was von Natur gegeben war, gliederte sich - etwa nach Aristoteles - in die Elemente, die homogenen Materien, die Organe und die Spezies. Gegenüber der technischen Manipulation war das ein fester Bestand. Wenn der Mensch nun neue Materien, neue Spezies schafft, so erweitert er „künstlich" den N a -

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turzustand. Faktisch findet dabei allerdings eine Orientierung an der gegebenen Natur statt, da diese Erweiterung im Rahmen der vorhandenen Bestandsgliederung erfolgt. Zusammenfassend läßt sich zu dieser Ubersicht über Beispiele künstlicher Natur sagen: nicht die Produkte der Technik als solche sind künstlich, sondern nur diejenigen, die die vorliegende Natur zum Maßstab nehmen. Daß in diesen Fällen die Natur gegenüber der Technik die N o r m bildet, gibt diesen technischen Produkten durchweg einen ambivalenten Charakter, der Grund zu sehr unterschiedlichen Bewertungen ist.

V. Der Widerstand gegen die Künstlichkeit Diese Bewertung kann man in ästhetische, politische und ethische gliedern. Die ästhetische Bewertung ist abhängig von Schichten und Moden. So konstatiert Kant in seiner Ästhetik, der Kritik der Urteilskraft, ein Interesse an Natürlichkeit als solcher, bemerkt aber gleichzeitig, daß dieses Interesse eine gewisse Bildung voraussetze. 20 Auch heute würden wohl die ästhetisch gebildeten Schichten künstliche Blumen auf dem Tisch eher als degoutant empfinden, während in den höfischen Kreisen der Feudalzeit gerade die Künstlichkeit einen ästhetischen Wert darstellte. Man denke nur an die Epoche des Manierismus. In der Kunstgeschichte selbst hat es eine mehrfache Umbewertung von Natürlichkeit und Künstlichkeit gegeben. Heute sind beide Richtungen gleichzeitig präsent. So bevorzugen die einen Künstler natürliche Materialien und versuchen, diese auch gerade in ihrer Materialität zur Geltung zu bringen, die anderen setzen mit Entschiedenheit auf Künstlichkeit: Acrylfarben, Plexiglas, Plastik. Aber auch in anderen Bereichen, die man nicht zur Ästhetik zählen würde, ist die Frage Natürlichkeit versus Künstlichkeit häufig eine Geschmackssache. So galt, Babies selbst 20

I. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 42.

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zu ernähren, zeitweise als unfein, dagegen künstliche Babynahrung, Klinikgeburt usw. als chic und modern. Diese Bewertungen folgten, wie für den Prozeß der Zivilisation typisch, dem gesellschaftlichen Gefalle, d. h., die Höherbewertung der Künstlichkeit setzte zunächst bei den höheren gesellschaftlichen Schichten ein und wurde dann Schritt für Schritt von den anderen übernommen.21 Gegenwärtig befinden wir uns eher in einer Gegenbewegung, einer Phase der Zuwendung zur Natürlichkeit als Lebensstil - von der Ernährung über die Kleidung bis zur natürlichen Geburt. Diese Bewegung scheint schichtunabhängig zu sein. Die politisch-gesellschaftliche Bewertung von Natürlichkeit versus Künstlichkeit orientiert sich gewöhnlich an einem Verständnis von Technik als Herrschaft. Der feministische Widerstand gegen die Reproduktionstechnologie ist ein Beispiel dafür. Frauen kämpfen heute gegen die Manipulation im Bereich der natürlichen Reproduktion bemerkenswerterweise nicht unter Berufung auf Natur, sondern weil sie in der Reproduktionstechnologie eine Ausweitung männlicher Herrschaft in einen weiblichen Bereich hinein und über den weiblichen Körper sehen.22 Auch sonst organisiert sich der Widerstand gegen die künstliche Natur nicht durchweg durch eine Berufung auf Natur. Er wird vielmehr politisch, weil das Projekt der Naturbeherrschung mit einer Herrschaft von Menschen über Menschen23 verbunden ist und weil die damit gegebenen Risiken gesellschaftlich ungleich verteilt sind.24 Da das Pro21

22

23 24

Siehe dazu: G. Böhme, Wissenschaftliches und lebensweltliches Wissen am Beispiel der Verwissenschaftlichung der Geburtshilfe, in: G. Böhme, Alternativen der Wissenschaft, Frankfurt 1980. G. Corea, Mutter Maschine. Reproduktionstechnologien - von der künstlichen Befruchtung zur künstlichen Gebärmutter, Berlin 1986; P. Β radisch, E. Feyerabend, U. Winkler (Hg.), Frauen gegen Gen- und Reproduktionstechnologie, München 1989. Anders F. Akashe-Böhme, Selbstbestimmung an den Grenzen der Natur, in: U. Konnertz (Hg.), Grenzen der Moral. Ansätze feministischer Vernunftkritik, Tübingen 1991, S. 1 3 - 2 9 . O. Ulrich, Technik und Herrschaft, Frankfurt 1977. U. Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt 1986.

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jekt der Naturbeherrschung ein gesellschaftliches Projekt ist, verlangt die Einsicht in seine Obsoletheit ohnehin nach einer gesellschaftlichen Revision. Insofern ist es nicht erstaunlich, wenn der Gegensatz Natürlichkeit versus Künstlichkeit zu einem politischen geworden ist. Die explizite Berufung auf Natur und der Widerstand gegen Künstlichkeit artikuliert sich aber in der Regel doch ethisch, oder besser gesagt, moraltheologisch. Natur wird dann als substantieller Wert angesehen. Das gelingt allerdings im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit von Natur eigentlich nur dann, wenn man die gegebene äußere Natur - etwa die Artenvielfalt - bzw. die Natur des Menschen durch eine Schöpfungsordnung absichern kann. Von daher ist der konstante Widerstand des päpstlichen Lehramtes gegen die Reproduktionstechnologie wohl begründet. Ohne eine solche Absicherung ist der moralische Widerstand gegen Künstlichkeit wohl nur über ein konsensuell herzustellendes, menschliches Selbstverständnis zu begründen. So sieht etwa der Computerwissenschaftler Weizenbaum die Grenzen der künstlichen Intelligenz nicht so sehr durch die Frage gegeben, was an menschlichen Intelligenzleistungen die Maschine übernehmen kann, sondern vielmehr durch die Entscheidung, welche Intelligenzleistungen den Menschen vorbehalten bleiben sollten.25 Er meint nämlich, daß es der Mensch sich selbst, d. h. seiner Würde, schuldig sei, bestimmte Beurteilungs- und Entscheidungsfunktionen nicht aus der Hand, oder besser gesagt, aus dem Kopf zu geben. Was dabei menschlicher Natur ist, d. h. als Gegegebenes bewahrt bleiben soll, wird dann allerdings selbst zur „Satzung". Im moralischen Widerstand gegen die fortschreitende Künstlichkeit wird es paradoxerweise zum Signum menschlicher Selbstbestimmung, einiges an sich und der äußeren Welt als Natur hinzunehmen. Diese Art von Widerstand gegen Künstlichkeit wäre eingebettet in das sich abzeichnende neue menschliche Selbstverständnis, dessen Besonderheit gerade in der Integration der 25

J. Weizenbaum, Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft, Frankfurt 1978.

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Gernot Böhme

Leiblichkeit besteht. Leib zu sein heißt ja, selbst Natur zu sein. Und das heißt, in sich selbst einen Grund zu respektieren, der nicht manipuliert und hergestellt werden kann.

VI. Den Naturzustand des Menschen kündigen? Damit haben wir den springenden Punkt, der die Frage der künstlichen Natur ästhetisch, politisch und moralisch so heikel macht, berührt: Es geht hier letzten Endes um das menschliche Selbstverständnis, das Verständnis des Menschen, seiner selbst im Verhältnis zur Natur, die er selbst ist, und zur äußeren Natur. Versuchen wir, uns die Bedeutung dieser Frage durch eine Spekulation mit historischen Zeitskalen klarzumachen. Was ist zu erwarten, wenn die Geschichte der künstlichen Natur, d. h. die Technikgeschichte der Natur, in demselben Tempo fortschreitet wie bisher? Vergleichen wir die erdgeschichtlichen Perioden mit den technikgeschichtlichen. Das Alter unserer Erde beträgt mehrere Milliarden Jahre, Leben gibt es darauf seit etwa einer Milliarde Jahren. Die Säugetiere traten erst im Tertiär auf, d. h. vor etwa 70 Millionen Jahren, und der Mensch erschien im Holozän, d. h. vor etwa einer Million Jahre. Dagegen die Technikgeschichte: Man kann ihren ersten großen Einschnitt mit der neolithischen Revolution, die etwa vor 20 000 Jahren stattfand, bezeichnen. Was ist seither geschehen? Die Schrift und das Rad sind etwa 3 000 Jahre alt, Dampfmaschinen und Werkzeugmaschinen gibt es seit 200 Jahren, die Geschichte der Telekommunikation, der künstlichen Düngung, der Kältemaschinen datiert von etwa 1850. Computer, Radar, Laser, Biotechnologie entwickelten sich erst in den letzten fünfzig Jahren. Wenn man nun betrachtet, in welchem Maße die Technikgeschichte seit der neolithischen Revolution die Natur auf der Erde verändert hat, d. h., wenn man die 20 000 Jahre, in denen es bisher so etwas wie künstliche Natur gibt, vergleicht mit den Milliarden Jahren der Erdgeschichte, dann eröffnet sich eine schwindelerregende Perspektive: Man denke sich die Technikgeschichte selbst in erdgeschichtliche Zeiträume ex-

Künstliche Natur

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trapoliert. Wir sind mit technischen Prognosen gewohnt, vielleicht bis zum Jahre 2 000 zu gehen, oder 2 020. Aber was könnte sich dann entwickeln, wenn man der Technik, sagen wir, 1 000 Jahre gibt oder 10 000 oder sogar eine Million Jahre? Diese Perspektive macht deutlich, was mit der Frage nach der künstlichen Natur auf dem Spiel steht. In erdgeschichtlichen Dimensionen ist ohne weiteres so etwas wie die Besiedelung des Weltraums möglich, es ist eine Aufspaltung der menschlichen Spezies in künstlich an unterschiedliche Lebensbedingungen angepaßte Unterarten oder gar eine Auflösung der Gattung Mensch denkbar.26 Es sind Lebewesen denkbar, die sich nur noch in ständiger Symbiose mit Maschinen reproduzieren. Unter solchen Perspektiven bezeichnet der Ausdruck „künstliche Natur" in der Tat ein Zwischenphänomen, eine Grenze oder vielleicht auch den Punkt einer evolutionären Entscheidung. Es geht um die Frage, ob der Mensch sich entschließt, endgültig seinen Naturzustand zu kündigen. Der Ausdruck „Naturzustand" wird gewöhnlich als ein romantischer verstanden, er geht auf die Zeit der Aufklärung, auf Hobbes und auf Rousseau zurück. Bei diesen Autoren wurde Naturzustand allerdings als etwas verstanden, was der Mensch immer schon verlassen hat, als ein entweder sehr fern zurückliegender vorzivilisatorischer und vortechnischer Zustand oder überhaupt nur als ein hypothetischer Zustand, durch den die Richtung des zivilisatorischen Trends verdeutlicht werden sollte. Wir haben in unserem Jahrhundert gerade durch die Zivilisationsschäden und die Umweltkatastrophen gelernt, daß der Naturzustand keineswegs etwas ist, das in irgendeiner theoretischen oder historischen Ferne zu uns liegt. Wir haben gelernt, daß wir immer noch Natur sind und auf einen natürlich gegebenen Lebensraum angewiesen sind. Allerdings ist dieser Lernprozeß ein negativer. Wir sind auf unsere Angewiesenheit auf Natur gerade dadurch aufmerksam geworden, daß dieser Grund, der fraglos vorausgesetzt wurde, vielfach nicht mehr trägt. Die außerordentliche Bedeutung und vielfältige Rolle von 26

Dr. Dyson, Innenansichten.

Erinnerungen

an die Zukunft, Stuttgart 1981.

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Gernot Böhme

künstlicher Natur in unserer Gegenwart markiert eine Situation, in der der Mensch noch akzeptiert, daß er in und mit der Natur existieren muß, in der er aber nicht mehr damit rechnen kann, daß sich seine natürliche Existenz von selbst vollzieht. So trauert er ästhetisch um Verlorenes und beschwört es in Simulakren, so hilft er sich mit Reparatur und Ersatznaturen, so träumt er sich in geplante Welten neuer Sicherheit hinein. „Künstliche Natur" bezeichnet allerdings ein Zögern und eine Unentschlossenheit. „Künstliche Natur" ist ein Signum einer Menschheitsperiode, in der vielleicht die endgültige Kündigung des Naturzustandes zur Debatte steht. Im Prinzip stehen zwei Wege offen.27 Auf dem einen Weg akzeptiert sich der Mensch selbst als Natur und versucht, die technische Entwicklung in Harmonie mit dem Naturzustand zu bringen. Auch dieser Weg erfordert neue technologische Entwicklungen, nämlich solche, die man mit Ernst Bloch „Allianztechniken" nennen könnte. Auf dem anderen Weg setzt man auf Supertechnologie, d. h. auf den großen Durchbruch, durch den der Mensch endgültig seine eigene Existenz in Regie nimmt und den Naturzustand verläßt. Beide Richtungen zeichnen sich bereits ab - welche dominant werden wird, ist wohl weniger eine Frage der Technikentwicklung als vielmehr eine Frage der politischen Auseinandersetzung über Technik und Natur.

27

Vgl.: W. Schäfer, Die Büchse der Pandora. Über Hans Jonas, Technik, Ethik und die Träume der Vernunft, in: Merkur 34 (1989), S. 292 - 304.

Nikolaos Psarros

Protokoll der Diskussion

Einleitung der Moderators In seinen einführenden Bemerkungen sprach Prof. Mittelstraß das Problem des „großzügigen" Umgangs mit dem Begriff „Natur" an, das auf der alltagssprachlichen Vertrautheit mit diesem Begriff und seinem Gebrauch beruhe. Dieser Irrtum werde jedoch schnell erkennbar, wenn das Wort „Natur" in unterschiedlichen Diskurskontexten unterschiedliche Bedeutungen annimmt. Ein weiterer wichtiger Umstand sei, daß dieser Begriff auf eine lange Geschichte zurückblickt, so daß sein heutiger Gebrauch sich stets an überlieferten begriffsgeschichtlichen Unterscheidungen orientiere. Dabei scheine es, daß alle bisher vertretenen Auffassungen über den Begriff „Natur" heute immer noch diskutabel seien. Auf die beiden Referenten überleitend, erläuterte der Moderator, daß es bei ihren Beiträgen um die Gegenüberstellung eines physiomorphen und eines technomorphen Naturbegriffes handele.

Zusammenfassung der Diskussion Der erste Kommentar richtete sich an Prof. Janich und betraf das naturalistische Verständnis der Naturwissenschaftler, insbesondere der Chemiker. Die Diskussionsteilnehmerin stimmte zwar zu, daß das von Janich skizzierte naturalistische Wissenschaftsverständnis für die Mehrheit der heute lebenden und der historisch bedeutsamen Naturwissenschaftler zutreffen. Sie bemerkte jedoch, daß im Begriff des „Naturgesetzes" ein anderer Naturbegriff als der Aristotelische wirksam sei. Die Aufstellung

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Nikolaos Psarros

von Naturgesetzen - etwa durch Galilei oder Newton - zeige gerade, daß die Wissenschaftler nicht an der Erkenntnis der natürlichen Zweckursachen interessiert seien, sondern an der Gewinnung von empirischen Sätzen, die die ungestörte Funktion ihrer Geräte betreffen. Ferner widersprach die Diskussionsteilnehmerin der Ansicht Janichs, die Chemiker hätten ein naturalistisches Methodenverständnis. Um ihren Einwand zu untermauern, berief sie sich auf die Chemiegeschichte und wies auf die „Vorläufigkeit" des Lavoisierschen Elementbegriffes hin. Auf diesen Einwand antwortete Janich, daß es ihm nicht um eine wissenschaftsinterne Debatte um Bedingungen der Möglichkeit der Rechthaberei gehe, sondern um Unterscheidungsmöglichkeiten, um Begriffsbildung und ihre Zwecksetzungen. Deswegen habe er keinen Bezug auf Geschichte genommen, sondern seine Naturalismusdiagnose aus dem rezenten Verständnis der Chemie abgeleitet. Auch der nachdenkliche Physiker und Chemiker sei nämlich davon überzeugt, daß die Reproduzierbarkeit seiner Experimente „naturbedingt" ist. Es ist aber so, sagte Janich, daß die „Wiederkehr des Gleichen" auf dem menschlichen Bedürfnis beruht, technische Prozesse reproduzierbar zu machen. Erst nachdem man weiß, daß dies innerhalb von technischen Zwecksetzungen möglich ist, können Naturereignisse in Kategorien wie „wiederkehrend" und „nichtwiederkehrend" eingeordnet werden.. In einem Kommentar zum Referat von G. Böhme wurde bemängelt, daß von ihm ein weiteres Gegensatzpaar, nämlich „natürlich/widernatürlich", nicht thematisiert worden ist. „Widernatürlich" ist nicht im normativen Sinne, sondern etwa als „im Gegensatz zu den natürlichen Anlagen, zum natürlichen Bau eines Lebewesens" gemeint. Als Beispiel wurde die Bipedalität des Menschen angeführt, woraus man ableiten könne, daß die kriechende Arbeitshaltung in englischen Minen des 18. Jahrhunderts oder das Dauersitzen des Philosophen am Schreibtisch in diesem physiologischen Sinne „widernatürlich" sei, ohne daß daraus irgendwelche moralischen Gebote abgeleitet werden könnten. Der Diskussionsteilnehmer meinte, gerade dieser Aspekt des „Widernatürlichen" - also gegen das „Wesen" -

Protokoll der Diskussion

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sei der dominantere bei Aristoteles und nicht der Gegenstand „natürlich/technisch". Das Problem, das Böhme zum Gegenstand seines Referats gemacht habe, sei nicht die Auflösung des Unterschieds „natürlich/technisch", sondern das des Auffindens von Kriterien für den Gegensatz „natürlich/widernatürlich" vor allem in bezug auf den Menschen. Ein anderer Teilnehmer stellte ferner fest, daß die historische Rekonstruktion Böhmes nicht zutreffend sei, da schon in der Antike ein doppelter Technikbegriff vorhanden war, nämlich die Unterscheidung zwischen mimetischer und poietischer Technik. Bei Aristoteles wurde der mimetische Aspekt der Technik in den Vordergrund gestellt und als ihr Ziel die Vollendung der Natur per Nachahmung formuliert. Die Chemie habe aber einen Sonderweg beschritten, insofern sie in Form der Alchemie gezwungen war, auf übernatürliche Ursachen zur Erklärung der von ihr hervorgerufenen Phänomene zurückzugreifen. Eine weitere Frage an Böhme betraf das Argument, die Technik, die angetreten sei, um die Natur zu beherrschen, habe sich zuletzt nur damit befaßt, die von ihr erzeugten Schäden zu reparieren. Dagegen wurde die These vertreten, bei der Entwicklung der Technik handele es sich um einen Optimierungs- und Verbesserungsprozeß. Als Beispiel wurde die ständige Verbesserung der Autos auf ihren „eigentlichen" Zweck hin, nämlich die Erhöhung der Mobilität, angeführt. Es werde ständig versucht, die Nebenwirkungen des Autoverkehrs z.B. durch den Einbau von Katalysatoren oder durch eine andere Verkehrspolitik zu eliminieren. Ein weiterer Einwand desselben Teilnehmers bezog sich auf die These Böhmes, daß ein „Naturbedürfnis" bestehe, das sich u.a. auf die Dekoration von Gebrauchsgegenständen mit „Naturmustern" (z.B. Holzmaserung) auswirke. In seiner Antwort bestätigte Böhme, daß der Begriff des Widernatürlichen bei Aristoteles keine moralische Komponente habe. Diese Konnotationen sind erst mit dem Christentum aufgekommen, wenn etwa Homosexualität bei Paulus als verwerflich, weil widernatürlich, und somit nicht in Gottes Ab-

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Nikolaos Psarros

sieht, verurteilt wird. Ebenfalls nichtaristotelisch, sondern Bestandteil der biblischen Schöpfungsgeschichte, ist der Gedanke der Vollendung der Natur durch der Menschen. Diese Tradition wurde dann von J. Böhme u. Schelling wiederaufgenommen und fortgeführt. G. Böhme bekräftigte seine These, daß die heutige Hauptbeschäftigung der Technik in der „Renaturierung" , „Rekultivierung" und allgemeinen Reparatur der durch die Menschen hervorgerufenen Schäden bestehe, auch wenn dies sich aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten nicht rechne. Die zweite Diskussionsrunde begann mit eine Frage an Janich bezüglich des Begriffspaares „natürlich/künstlich". Nach Ansicht des Diskussionsteilnehmers habe Janich weder gezeigt, daß die Chemie diese Unterscheidung mache, noch nach welchen Kriterien sie vorzunehmen sei. Ein Blick auf die Physik zeige übrigens, daß auch dort der Unterschied zwischen „Natürlichem" und „Künstlichem" verwischt werde, wenn etwa ein bekannter französischer Physiker behaupte, ein Hammer sei genauso natürlich wie der Schnabel eines Vogels, da er den Menschen im Zuge der Evolution einen Vorteil verschafft habe. Aus diesen Ausführungen folge, so der Diskussionsteilnehmer, daß es zur Begründung dieser terminologischen Unterscheidung eines außerwissenschaftlichen Standpunktes bedürfe. In einem ähnlichen Tenor bewegten sich die von einem anderer Diskussionsteilnehmer angeführten Beispiele aus der Virologie und der Geomikrobiologie. Er stellte nämlich die Frage, wie man zwischen zwei in ihren physiologischen Eigenschaften völlig identischen Viren unterscheiden könne, von denen aber der eine von Menschen „manipuliert" worden sei. Die Grenze zwischen „Natürlichem" und „Künstlichem" würde im Falle der zur Erzförderung verwendeten Bakterien oder im Falle der Erzeugung „einfacher" Mikroorganismen im Labor ebenfalls „verwischen". Der Aspekt der Eingriffsmöglichkeit in natürliche Prozesse wurde auch von einem dritten Diskussionsteilnehmer hervorgehoben, vor allem im Hinblick auf die tatsächlich stattfindende Intervention, etwa durch die Gentechnik.

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Auf diese Frage eingehend sagte Janich, er sei auch der Meinung, daß die Unterscheidung „natürlich/künstlich" kein originär naturwissenschaftliches Problem sei, sondern von außen an diese herangetragen werde. Dies bedeute allerdings nicht, daß es sinnlos wäre, diese Unterscheidung zu treffen, sondern man müsse immer angeben, zu welchen Zwecken sie gemacht werde. Die Unterscheidung zwischen „Natürlichem" und „Künstlichem" ist somit stets kontextgebunden. Diese Unterscheidungsmöglichkeit bleibt auch im Falle von künstlich erzeugten Organismen erhalten, denn es ist stets möglich, die Geschichte ihrer Erzeugung zu erzählen, und sie somit von naturwüchsig vorgefundenen Lebewesen zu unterscheiden. Die gegen Böhme gerichteten Einwände und Fragen behandelten die Themen „Gefährdung der Natur", „Szenarien des Naturumganges" und „Ganzheit der Natur". Zum ersten Thema wurde bemerkt, daß nicht die „Natur an sich" gefährdet sei, sondern der Mensch als ihr Bestandteil. Das gehe aus einer Auswertung von GAU-Szenarien hervor. Daraus folge, daß nicht die Natur an sich gerettet oder wiederhergestellt werden müsse, sondern die Natur, die in einem ästhetischen Verhältnis zum Menschen stehe. In diesem Zusammenhang wurde auf das historische Faktum hingewiesen, daß die Naturbewegung erst nach der Erschließung der Natur für die breiten Massen der Bevölkerung entstand. Somit sei das Begriffspaar „Natur/Technik" in dem Sinne zu rekonstruieren, daß „Natur" die Bedingungen für würdevolle Entfaltung und „Techne" die Möglichkeiten der Freiheitsgestaltung stelle. Der zweite Punkt wurde mit der Frage angesprochen, für welchen Umgang mit der Natur Böhme denn plädiere. Dazu wurde bemerkt, daß seine Naturuntergangsszenarien fatalistisch seien und es schwer nachvollziehbar sei, wie man ohne Technik den errungenen Lebensstandard erhalten und das noch vorhandene Elend besiegen könne. Die letzte Frage an Böhme behandelte das Problem der Ganzheit der Natur. Der Diskussionsteilnehmer vertrat die Ansicht, nur eine ganzheitliche Betrachtung, die den Menschen einschließe, schaffe das zur Emanzipation des Menschen benötigte

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Nikolaos Psarros

kritische Potential. Die sogenannte „Akzeptanzkrise" der chemischen Industrie führte er auf eine mangelnde Kommunikation zwischen ihr und der Gesellschaft zurück. Zum ersten Fragenthema sagte Böhme, die Erkenntnis, daß der Mensch und nicht die Natur gefährdet sei, stelle eine Trivialität dar. Denn die Natur als das Vorliegende ist immer und überall vor dem Menschen vorhanden. Er widersprach allerdings der Meinung, die Menschheit könne ausgerottet werden. Für Böhme stelle sich nicht das Problem der Extinktion der Spezies, sondern einer menschenwürdigen Lebensführung. Das von ihm angeführte Beispiel eines Radfahrers mit Gasmaske in Paris veranschauliche die Situation, in die künftig immer mehr Menschen geraten würden. Gewiß, man könne mit Gasmaske in der Großstadt überleben, es stelle sich aber die Frage, ob das die angestrebte Lebensführung sein sollte. Um dies zu verhindern, müssen die Menschen die natürliche Komponente ihres Wesens „wiederentdecken", sie müssen anerkennen, daß sie langfristig von der Natur abhängig sind und demgemäß handeln. Diese Einstellung sei nicht fatalistisch, weil gerade Böhme für eine planmäßige Naturgestaltung und nicht für eine bloß konservierende Naturerhaltung eintrete. Zur These der Ganzheit der Natur sagte er, eine Integration aller Phänomene in die Natur würde zum Verlust von kritischem Potential führen, da dadurch auch Kriterien für schlechte Entwicklungen preisgegeben würden. Es folgte eine Reihe von an Prof. Böhme gerichteten Fragen. Zunächst wurde gefragt nach den Plänen der „Renaturierung", d.h. nach der Instanz, die über die korrekte Anschauung der Natur entscheidet. In diesem Zusammenhang wurde darauf hingewiesen, daß auch die Tcchnik z.B. in Form der pränatalen Diagnostik oder einer gentechnologisch gestützten Therapie durchaus zur menschenwürdigen Lebensführung beitragen könne. In einem anderen Redebeitrag wurde festgestellt, daß die Unterscheidung zwischen „Natur" und „Technik" zunächst eine sprachliche sei - auch bei Aristoteles. Es erhebe sich dann die Frage, wozu man einen ontologischen Naturbegriff in die Dis-

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kussion einführen müsse, da zur Rechtfertigung von „Renaturierungsmaßnahmen" u. dgl. die von der Sprachphilosophie bereitgestellten Mittel ausreichend seien. Daran schloß sich die von einem anderen Diskussionsteilnehmer gestellte Frage, ob es denn - unter der auch von Böhme geteilten Prämisse, daß die Technik der Verbesserung des menschlichen Lebens diene nötig sei zu „renaturieren". Welche Zwecke würden mit einer solchen Maßnahme verfolgt? In diesem Zusammenhang wurde bemerkt, daß die Entscheidung, keine Grenze mehr zwischen Natur und Kultur zu ziehen, ebenfalls kulturell bedingt sei. Diese Fragenrunde schloß mit einem Hinweis auf den Umstand, daß die Umwelt- und Lebensprobleme der industriell entwickelten Länder ihren Schrecken verlieren, angesichts der Tatsache, daß der größte Teil der Erdbevölkerung im Elend sein Dasein friste. Böhme betonte in seiner Replik, daß er kein Anhänger der „Zurück zur Natur-Bewegung" sei, sondern daß er die Gestaltung einer humanen Natur als Ziel habe. Schließlich könne man die Frage nach der Reaktion auf die Zerstörung der Umwelt durch eine Massenauswanderung von der Erde weg lösen. Bezüglich der Unterscheidung „Natur"/„Technik" meinte er, auch Aristoteles hätte diese Unterscheidung ontologisch gemeint und zwar mit überzeugenden Argumenten. Die Frage nach dem kulturellen Charakter dieser Unterscheidung bzw. ihrer Aufhebung bejahte er, betonte aber, daß wir diese Unterscheidung immer noch brauchen, auch wenn sie uns in unserem Alltag aus den Händen schwindet. Der Hinweis auf das Welthungerproblem könne ein Weitermachen mit der heutigen Form der Technik nicht rechtfertigen. Welthunger und Verelendung in der dritten Welt seien keine technischen, sondern politische Probleme. Es sei sogar so, daß ein Festhalten an den überlieferten Technikvorstellungen solche Probleme verschlimmere, aufgrund der damit verbundenen Verschwendung. Ein Diskussionsteilnehmer schloß sich diesen Bemerkungen spontan an und gab zu bedenken, daß zur Bewältigung der Krise die Dynamik der durch die Technik verursachten Veränderungen stärker berücksichtigt werden müßten.

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Nikolaos Psarros

In der letzten Diskussionsrunde wurde an Janich die Frage gerichtet, ob der von ihm diagnostizierte „falsche Naturbegriff der Chemiker" von der Naturrechtdiskussion des 18. Jhds. stamme. Die Fragerin behauptete, daß dieser commonsense Naturbegriff über die Disziplingrenzen hinweg wirksam sei, und forderte Janich auf aufzuklären, welchen Naturbegriff denn Philosophiestudenten hätten. Als Reaktion auf einen Redebeitrag wurde schließlich von einem Diskussionsteilnehmer die These vertreten, daß nicht die Verbesserung der Lebensumstände der Menschheit, sondern die Profitmaximierung die Handlungsmaxime der Technikbetreiber sei. Das Desideratum sei deshalb, den ethischen Rahmen und die Ziele der Technikbestätigung zu definieren und nicht die Technik selbst. In einer kommentierenden Zusammenfassung der beiden Referate stellte Prof. Gethmann fest, daß die von Janich und Böhme vertretenen Ansichten nicht koexistieren könnten. Böhme benutze den Naturbegriff in der Metaphorik einer Handlungsschranke, um an seinem kritischen Potential festhalten zu können, während Janichs Begriffsanalyse zeige, daß er diese Rolle nicht spielen könne. Denn der prädikative Gebrauch des Wortes „Natur" sei Ergebnis kultureller Umstände und kulturell determinierter Zwecke, während der abstraktive Gebrauch im Sinne eines Reflexionsterminus keine eindeutige Zuordnungen von Dingen oder Ereignissen als „natürlich" erlaube. Um das kritische Potential zu erhalten, schlug Gethmann vor, anstatt der Schrankenmetapher die Ausspruchsmetapher zu bemühen. In seinem Schlußwort nahm Janich die Frage nach dem Naturbegriff der Philosophiestudenten auf und betonte erneut, daß es ihm nicht um eine Umfragestatistik gehe, sondern um ein Weltbild, das in mehreren Publikationen, Lehrbüchern usw. wirksam sei. Er stimmte dem Kommentar Gethmanns zu und unterstrich erneut, daß die Probleme beim Umgang mit dem Naturbegriff aus dem unterschiedlichen Sprachgebrauch des Wortes „Natur" entspringen. Böhme entgegnete hingegen, sein Naturbegriff habe mit „Schranke" nichts zu tun, sondern sei ontologisch gemeint. Die Natur zwinge uns gewisse Lösun-

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gen auf, und wir seien angehalten, mit unserem Handeln diese Lösungen entweder zu vermeiden oder „schneller" und „kontrollierter" herbeizuführen. In seinem Schlußplädoyer bekräftigte Böhme erneut, daß die zentrale Existenzfrage der Menschheit in der Zukunft die Frage nach der Gestaltung einer humanen Lebenswelt sei.

Kapitel III: Natürlichkeit als Problem der Chemie

Roland, Α. Fischer

Natürlich, naturidentisch, künstlich: Beiträge zur Begriffsbestimmung aus der Sicht eines Chemikers.

absolut,künstlich'

sind lediglich Wunder, da sie nicht möglich sind".1

Die vertrauten Adjektive „natürlich", „naturidentisch" und „künstlich" gilt es, wie das Thema sagt, aus der Sicht eines Chemikers fachlich zu untersuchen, vielleicht begrifflich so zu präzisieren, daß ganz klar wird, was dabei chemisch zu denken ist. Doch als Chemiker muß ich schon zu Beginn meines Aufsatzes feststellen: diese Worte sind keine chemischen Fachtermini, wie etwa „Element" oder „Verbindung". Das heute gültige chemische Theoriegebäude enthält in seinen Fundamenten keine Unterscheidung zwischen „natürlicher" und „künstlicher" Chemie. Das Unterfangen, ein System von Definitionen, Fundamentalsätzen und logischen Folgerungen anzubieten, das, allein aus den chemischen Theorien gespeist, in der präzisen Festlegung von chemisch-natürlich, chemischnaturidentisch und chemisch-künstlich gipfelt, muß scheitern. Hier weise ich auch auf den Artikel von Hubert Markig „Die Natürlichkeit der Chemie" in Chemie und Geisteswissenschaften (1992) hin. Was ich darüberhinaus noch anbieten kann resultiert aus meiner persönlichen Erfahrung im Umgang mit „Chemie" und der noch immer ungeteilten Freude und Faszination am „Bildungsbetrieb" der Stoffe. Als junger Chemiker, der seinen „Doktor" nicht über „Naturstoffe", nicht in „Biochemie" , nicht einmal in „Organischer Chemie", geschweige denn in „Analytischer Chemie", sondern in einem sehr speziellen Bereich der anorganisch-synthetischen Chemie gemacht hat, 1

Aus Stanislaw Lern, „Die Stimme des Herrn", Frankfurt/M., Suhrkamp, 1983, 1. Auflage S. 268.

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Roland A. Fischer

befinde ich mich dem Thema gegenüber in einer recht extremen Ausgangsposition. Inwieweit meine Ansichten repräsentativ für die Chemikergemeinschaft, die „Chemie" als Wissenschaft oder als Technikdisziplin sind, sei dahingestellt und dem Urteil des Lesers überlassen. Entgegen der sicher nicht nur in den Naturwissenschaften verbreiteten Tradition, für eigene Gedanken, Schlußfolgerungen und Reflexionen ein Netz aus Querverweisen auf eine Vielzahl anderer Autoren und Autoritäten zu knüpfen, ist es meine Absicht, den Wert oder Unwert der folgenden Ausführungen ganz schutzlos auf mich selbst zu nehmen. Es ist das Anliegen dieses Beitrags, die besondere Ambivalenz oder Unschärfe, ja die Nutz- oder Sinnlosigkeit der Wörter „natürlich", „naturidentisch" und „künstlich", in ihrer Anwendung zur Differenzierung chemischer Sachverhalte vom Standpunkt eines Chemikers sichtbar und in dieser bewußt gewählten persönlichen Form vielleicht in besonderer Weise nachvollziehbar zu machen. Wenn mir sprachliche und gedankliche Schärfe und Exaktheit nicht immer hinreichend gelingen, z.B. in der Unterscheidung zwischen dem Gegenstandsbereich der Chemie und der Wissenschaft Chemie (als Kulturleistung) so bitte ich um Nachsicht. Andererseits sind vielleicht gerade diese Defizite eine Anregung für eine konstruktive Diskussion. Für einen Chemiker entfaltet sich die Uberfülle der stofflichen Vielgestaltigkeit der Erfahrungswelt vor allem auf der Grundlage der chemischen Atom-, Molekular- und Strukturtheorie. In diesem Sinne verstehe ich mich als Chemiker als „Baumeister" (theoretisch und experimentell erfaßter) mikroskopischer Objekte und Strukturen, nicht unähnlich einem Architekten, der z.B. ein Haus konstruiert. Die Zielsetzung ist, immer leistungsfähigere Methoden der stofflichen Gestaltung zu erarbeiten. Chemie ist ein hochkomplexes Handwerk, das vor allen Dingen, auf einem großen Arsenal von Werkzeugen (Apparaten), Verfahren, Rezepturen, Meßgeräten und ähnlichem beruht. Das chemische Erfahrungswissen ist in seiner überwältigenden Fülle nur aufgrund absichtsvoller Handlungen von „Chemikern" im Zusammenhang von Experiment und

Natürlich, naturidentisch, künstlich

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Beobachtung angehäuft worden. So steckt auch in jedem, der mit stofflichen Veränderungen oder Wirkungen absichtsvoll umgeht, experimentiert oder diesen schlicht beobachtende Aufmerksamkeit zollt und sich Fragen darüber stellt, ein Stück Chemiker. Viele Aspekte des von Chemikern erbrachten Kulturguts und entwickelten Denkens sind uns allen so vertraut, daß wir das „Chemische" daran vielleicht gar nicht mehr ohne weiteres erkennen. Wenn es, wie das Thema vorschlägt, nun präzise darum geht, Effekte und Ergebnisse menschlichen (chemischen) Handelns und Wirkens von solchen abzugrenzen, für deren Eintreten der Einfluß des Menschen als unerheblich angenommen werden darf, so beziehen sich alle chemischen Aussagen zunächst auf künstlich hergestellte Sachverhalte. Es ist ganz klar, ohne einen Experimentator und dessen Intentionen gibt es keinen Experimentalbefund. Man darf wohl vermuten, daß das Eintreten einer Sonnenfinsternis kaum davon beeinflußt wird, ob wir es beobachten. Das Bierbrauen ist demgegenüber eine künstliche Angelegenheit, denn ohne Wirken und die Absicht von Menschen ist nicht anzunehmen, daß der Gerstensaft in die Flasche in unseren Kühlschrank kommt. Spannend wäre es, ein Experiment zu ersinnen, das eine Sonnenfinsternis herbeiführt, diese wäre dann wohl künstlich. Man könnte den Anwendungsbereich der Eigenschaft „natürlich" auch auf die belebte Natur, die Welt der Organismen, auf das „Biologische" eingrenzen. Dies kann aus einer bestimmten Sicht zweckmäßig sein. Für seine chemische Arbeit zieht der Chemiker daraus jedoch keinen Nutzen. Auch fühle ich mich außerstande zu präzisieren, was im chemischen Sinne als belebte Natur bezeichnet werden soll - welches System von chemischen Prozessen hinreichend für das Phänomen Leben ist. Daher möchte ich fortan das Wort „natürlich" einfach als das verstanden wissen, was der Mensch weder gemacht noch verändert hat. Zweierlei Betrachtungsweisen sind sorgfältig voneinander zu trennen: Man kann die Frage stellen, ob ein aktueller Vorgang oder Ablauf im Sinne der obigen Beispiele natürlich oder

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Roland Α. Fischer

künstlich ist. Man kann andererseits die Frage stellen, ob ein bestimmtes „Ding", hier zweckmäßigerweise eingegrenzt auf einen (chemischen) „Stoff", natürlich oder künstlich ist. Letztere Frage zielt auf die „Vergangenheit" des infrage stehenden „Objekts" hin, nämlich darauf, ob es durch einen künstlichen oder natürlichen Vorgang entstanden ist. Im Bild 1 habe ich versucht, in groben Zügen die Welt der Stoffe aus der Sicht des Chemikers, d. h. im Rahmen seiner chemischen Arbeitsmethoden und Theorien, zu skizzieren. Uber unbehandelte Stoffe, also natürliche Stoffe können ohne Bearbeitungsschritte (im weitesten Sinne) keine chemischen Aussagen gewonnen werden. Aus chemischer Sicht weiß man nichts über natürliche Stoffe, ohne diese irgendwie zu bearbeiten. So fällt es mir leicht, einer Feststellung wie der folgenden zuzustimmen: „Denn das Natürliche, im ursprünglichen Verständnis als das, was der Mensch weder gemacht noch verändert hat, ist kein Gegenstand der Chemie.... Naturwissenschaftlich erkannte Natur ist immer technisch zugerichtete Natur" (P. Janich, „Wozu Philosophie der Chemie?", in Chemie in unserer Zeit, 1994,28, S. 145). Alle Stoffe, seien sie zunächst unbearbeitet, also „natürlich", oder „künstlich", d. h. durch eine Anzahl von Bearbeitungsschritten, z.B. unter Anwendung von festgelegten Rezepturen aus „natürlichen" hervorgegangen, stellen sich dem Chemiker zunächst als Mischungen wieder anderer Stoffe dar. Man spricht z.B. von heterogenen Stoffen und homogenen Stoffen. Zum grundlegendsten Methodenrepertoire und Erfahrungsschatz eines jeden Chemikers gehört es zu wissen, wie Stoffe in wieder andere Stoffe zu zerlegen sind, bzw. wie ein bestimmter Stoff aus anderen Stoffen durch Mischung zu (re-)konstruieren ist. Die Frage taucht auf, ob Stoffe vorzufinden oder herstellbar sind, welche nicht „gemischt" sind. Ein solcher „Reinstoff", also ein Stoff, der, mikroskopisch gedacht, ausschließlich aus ein und derselben diskreten Teilchensorte z.B. aus Molekülen) zusammengesetzt ist, ist jedoch ein abstraktes Denkobjekt, das chemisch prinzipiell nicht herstellbar ist und auch nicht un-

Natürlich, naturidentisch, künstlich

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ter den „natürlichen Stoffen" vorgefunden werden kann. In Abhängigkeit von der Genauigkeit und Güte der analytischen Techniken stellen sich für den Chemiker alle Stoffe nur als mehr oder weniger „rein" dar, d. h. sie sind der idealisierten Form des Reinstoffs mehr oder weniger nah oder als ausgesprochenes Gemisch entsprechend fern. Ebensowenig wie es möglich ist, die „absolute Länge" eines Stabes anzugeben, kann die „Reinheit" eines Stoffes nur im Rahmen bestimmbarer Genauigkeit festgelegt werden (vgl. dazu den Vortrag von Prof. G. Tölg anläßlich des Workshops „Chemie zwischen Naturerkenntnis und Know-how", Wissenschaftszentrum Bonn-Bad Godesberg, 12. und 13. März 1993). Alle natürlichen Stoffe2 sind für den Chemiker Ausgangspunkt oder „Rohstoffe" seiner chemischen Arbeit. Mit seinem chemisch-physikalischen Instrumentarium und im Rahmen der Atom-, Molekular- und Strukturtheorie ist der Chemiker nun in der Lage, über die für das Auge unsichtbaren mikroskopischen, die Stoffe konstituierenden Objekte, z.B. Moleküle, viel auszusagen. Für unsere Zwecke genügt es hier, zu akzeptieren, daß eine der Expertisen von Chemikern darin besteht, mit angebbarer Genauigkeit und reproduzierbar vergleichend die Identität oder Nicht-Identität von (mikroskopischen) Molekülen in (makroskopischen) Stoffen festzustellen. Der gesamte Vorgang, der zu einer solchen Feststellung führt, ist im Sinne unserer obigen ganz allgemeinen Auffassung von „natürlich" und „künstlich" - selbstverständlich künstlich, ist übrigens auch wahrlich eine Kunst und spielt sich gedanklich in dem als gestrichelt umrahmten Kasten von Bild 1 ab. Dies sei nur zur erneuten Verdeutlichung der Sachlage angemerkt, daß chemische Aussagen nur auf der Grundlage chemischer Theorien und Begriffe, also vor dem Hintergrund der historisch hervorgebrachten Wissenschaft Chemie, den man kennen muß, sinnvoll sind.

2

Beispiele für „natürliche Stoffe" wären etwa Steinsalz, Meerwasser, Sand, Marmor usw.

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Eine Fülle von Stoffen, die in künstlichen Vorgängen erzeugt werden, d. h. Stoffe, die nicht notwendigerweise so wie sie sind in der Natur vorkommen, enthalten nun Teilchenbzw. Molekülsorten, die chemisch-methodisch ununterscheidbar sind von in natürlich vorfindlichen Stoffen enthaltenen Molekülen. Ein Beispiel: Bier enthält Alkohol-Moleküle. Bier ist künstlich. Die Alkohol-Moleküle im Bier sind folglich künstlich - oder nicht? Eine Möglichkeit, chemisch-technisch recht reinen Alkohol zu erzeugen, besteht in der katalytischen Hydratisierung von Ethen. In dieser Weise gewonnener Alkohol (so nicht vorfindlich in der Natur) besteht überwiegend ebenfalls aus Alkohol-Molekülen. Fraglos sind diese künstlich. Sie sind aber chemisch ununterscheidbar von den Bier-AlkoholMolekülen. Untersucht man den Saft eines vom Baum gefallenen faulenden Apfels, so stellt man ebenfalls die Anwesenheit von Molekülen fest, die ununterscheidbar von den beiden vorher genannten Molekülsorten sind. Hier ist man geneigt, diese Moleküle als natürlich entstanden, mithin „natürlich" zu bezeichnen. Die Alkohol-Moleküle im Bier und im technischen Alkohol sind, wenn man so will, als naturidentisch im Vergleich mit den Apfel-Alkohol-Molekülen anzusehen, „völlig" natürlich sind sie nicht. Eine Verbraucherinformation auf dem Etikett einer Bierflasche etwa derart: „enthält einen naturidentischen Sucht- und Rausch-Stoff" wäre in diesem Sinne völlig korrekt. Selbstverständlich kann man im künstlich aus natürlichen Stoffen (Hopfen, Gerste, Quellwasser und Bierhefe) hergestellten „homogenen Stoff" Bier (heterogen, wenn es sich z.B. um bayerisches Hefe-Weißbier handelt) nach nichtnaturidentischen Molekülsorten suchen, deren Vorgeschichte dann künstlich sein muß. Diese Moleküle wären dann im Laufe der Herstellung mit oder ohne Absicht ins Endprodukt Bier gelangt. In Abhängigkeit von der Genauigkeit und Empfindlichkeit der verfügbaren analytisch-chemischen Methoden wird einer solchen Suche heutzutage kaum der Erfolg verwehrt bleiben. Es könnte sich z.B. herausstellen, daß eine derartige, nicht-naturidentische Molekülsorte schon im verwendeten

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Rohstoff Quellwasser enthalten ist, und man daher annehmen müßte, daß diese Molekülsorte nicht ohne das - in diesem Falle vielleicht sogar unabsichtliche - Zutun des Brauers dort hineingekommen ist. Vom Standpunkt des Chemikers aus gesehen verliert im Augenblick einer solchen Einsicht streng genommen das verwendete Quellwasser sein Attribut „natürlich", da es sich als vom Menschen stofflich verändert erwiesen hat. Wir können unser Gedankenexperiment auch noch weiterführen, indem wir annehmen, daß die fragliche Bierprobe und alle verwendeten Rohstoffe sich tatsächlich als absolut frei von nicht-naturidentischen stofflichen Komponenten erweisen. Ist das Kunst-Produkt Bier dann mit Sicherheit in stofflicher Hinsicht auch natürlich, also völlig frei von künstlichen Einflüssen auf seine Stofflichkeit? Ein weiteres Beispiel möge die Sachlage verdeutlichen. Ein geschickter Fälscher kopiert z.B. van Goghs „Brücke von Arles" so perfekt, daß die Fälschung mit allen verfügbaren Methoden vom Original ununterscheidbar geworden ist. Beide Gemälde hängen nun nebeneinander. Für welchen Betrachter wäre die Frage, welcher Künstler welches Bild gemalt hat, unerheblich? Wäre der Preis, den beide Kunstwerke auf einer Auktion erzielten, ebenfalls identisch? Offensichtlich spielt der Kontext, d. h. nicht unmittelbar chemische Zusammenhänge (wie etwa die Bestimmung der strukturchemischen Identität von Molekülen) eine wichtige Rolle für die Festlegung von „künstlich" oder „natürlich" - und die damit verbundenen Haltungen und Gefühlslagen. Ein Problem taucht vielleicht auf. Wie kann man Natürlichkeit und damit dann auch Naturidentität von Molekülen überhaupt behaupten, wenn doch klar ist, daß Moleküle (wie auch chemische Verbindungen oder chemische Elemente) streng genommen nur im technisch-künstlichen „Licht" eines chemischen Laboratoriums „gesehen" werden können, was sie ja alle dann in gewisser Weise zu Kunstprodukten macht. Wie ist die Naturidentität oder Nichtnaturidentität von Stoffen und Molekülen feststellbarf

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Um die „Alkohol-Moleküle" des gärenden Apfelsafts zu „sehen" , muß der Chemiker diesen doch mittels eines chemischen Instrumentariums aufbereiten, muß also ein Stück „Natur zurichten", bearbeiten, verändern, und bestimmten Zielsetzungen anpassen. Umgekehrt, wer garantiert, daß das fragliche Stück Natur nicht seinerseits selbst schon vom Menschen in irgendeiner Form gerichtet wurde, bevor die konkrete analytische Arbeit aufgenommen wurde. Etwas überspitzt ausgedrückt: Kommen die Alkohol-Moleküle nicht erst durch die Beobachtungsmethoden des Chemikers in gewisser Weise in den Apfelsaft hinein - denn über völlig naturbelassenen Apfelsaft, also ohne ihn anzurühren, können wir ja schließlich keine Aussage machen. Und damit verbunden ist die Frage: Wie stellen wir fest, ob der gärende Apfelsaft völlig naturbelassene ist? Ich weiß nicht, ob der hier unternommene Versuch, einen nicht selten gehörten Einwand richtig vorzutragen, gut genug gelungen ist. Auch kann ich nicht sagen, ob dieser Einwand in irgendeiner Weise besonders bedenkenswert oder stichhaltig ist. Er würde mich in dieser oder einer besser ausgearbeiteten Form jedenfalls nicht irritieren. Erstens gehört es zu den grundlegendsten Uberzeugungen eines Chemikers, angeben zu können, welche seiner Methoden, mit denen er stofflichen Objekten zu Leibe rückt, diesen stoffliche Gewalt antun und welche nicht. Präzise: Eine Rezeptur, die man als Chemiker anwenden wird, um die Alkohol-Moleküle im Apfelsaft, Bier oder Industriealkohol „sichtbar" zu machen, ist derart, daß er getrost annehmen darf, daß die AlkoholMoleküle unbedingt vor Anwendung der Rezeptur völlig ungestört im noch nicht veränderten Analysenobjekt schon vorgelegen haben. Ohne diese Sicherheit gäbe es keine analytische Chemie, und Chemiker könnten nicht die geringste Ahnung davon entwickeln, was sich in stofflicher Hinsicht in unserer Welt tut. Zweitens: Um den in natürlichen Objekten enthaltenen Stoffen bzw. Molekülen das Prädikat „natürlich" zuschreiben zu können (bzw. künstlich hergestellten Stoffen das Prädikat naturidentisch), muß eine Vorstellung von der (stofflichen) Ver-

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gangenheit von Natur-Objekten investiert sein und zwar derart, daß eingegrenzt werden kann, in welchem Umfang Aktivitäten des Menschen die stoffliche Qualität des fraglichen Objekts beeinflußt oder verändert haben könnten. Jetzt müssen wir die statische Ebene der Stoffe und Moleküle verlassen und uns stärker einer dynamischen, also historischen oder zeitlich gerichteten Sichtweise nähern. Wir wenden uns nun explizit „natürlichen" und „künstlichen" chemischen Vorgängen zu. Alle Vorgänge sind letztlich von großer Komplexität. Die Frage ist, was der Beobachter oder Experimentator als charakteristisch und wesentlich für die Beschreibung und Erfassung eines Vorgangs ansehen möchte. Unter Rückgriff auf einige Elemente aus der chemischen Fachsprache würde sich der Versuch einer solchen Einengung der Betrachtung von Vorgängen auf das für einen Chemiker als wesentlich Erachtete, nämlich das „Chemische" daran, etwa so anhören:

Bei chemischen Vorgängen (Reaktionen) tritt Stoff Umwandlung ein; und, entsprechend auf der Teilchenehene: die Verteilung und die räumlichen Beziehungen von Atomen in Molekülen (oder Festkörpern) werden neu geordnet. Nun gilt es erneut eine Expertise von Chemikern zu akzeptieren, nämlich die, daß sie in der Lage sind, diese bei chemischen Vorgängen ablaufenden Reorganisationen sowohl auf der makroskopischen Stoffebene als auch auf der mikroskopischen Teilchenebene reproduzierbar zu erfassen. Unter diesem Blickwinkel erscheint nun eine ungeheure Fülle von zunächst wohl unterscheidbaren Abläufen aus chemischer Sicht als identisch, sei es ein Vorgang in einer lebenden Zelle, in einem Reagenzglas im kalten Licht des Laboratoriums oder in der Hitze eines Hochofens. Die Verschiedenheit von Vorgängen, bei denen stoffliche Veränderungen zu beobachten sind, kommt wesentlich auch durch einen nicht chemischen Kontext zustande. Ein Beispiel: Ein Blitz schlägt in eine Birke; diese fängt Feuer und verbrennt; es bildet sich Asche. Jemand lädt Freunde zu einer Grillparty ein, wozu er Birkenscheite als Feuerholz verwendet. Auch in diesem Fall gibt es Feuererscheinung und Aschenbildung. Ohne Zweifel hat man es mit zwei unterscheid-

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baren Vorgängen zu tun. Letzterer wäre, wie das Beispiel „Bierbrauen" , ohne absichtsvolle menschlicher Handlung nicht zustande gekommen. Er wäre demnach als „künstlich" anzusehen. Wer sich nun schwer tut, zwischen den beiden Vorgängen z.B. im Hinblick auf die Aschenbildung einen wesentlichen Unterschied zu sehen, denkt - chemisch. Auch das Brandroden von Urwaldflächen ist künstlich. In chemischer Hinsicht sind aber viele der damit einhergehenden Abläufe ununterscheidbar von einem ohne Zutun des Menschen ausgelösten Waldbrand. Vom Standpunkt eines Chemikers aus gesehen, sind chemische Reaktionen also nicht ohne weiteres in natürliche oder künstliche zu differenzieren. Es ist schwierig, Vorgänge, die auf natürliche Weise, d. h. ohne Zutun des Menschen in Gang gesetzt sind und ablaufen (Waldbrand durch Blitzschlag) von solchen abzugrenzen, die durch Handeln des Menschen also auf künstliche Weise ausgelöst wurden (Brandrodung). Gibt es nun für einen chemischen Vorgang, der auf künstliche Weise ausgelöst wurde oder werden könnte, chemische Entsprechungen, die auf natürliche Weise ausgelöst werden können, so sind jene künstlichen chemischen Vorgänge wohl als naturidentische chemische Vorgänge zu bezeichnen. Im strengeren Sinn „künstlich" wären dann nur diejenigen chemischen Vorgänge, deren chemischer Ablauf ohne das Zutun des Experimentators undenkbar; unmöglich sind. Bezogen auf die stoffliche Ebene sind dann alle diejenigen von Chemikern erzeugten Stoffe (bzw. die sie konstituierenden Moleküle) ,/ibsolut künstlichderen Bildung ohne das Zutun des Menschen als unmöglich aufzufassen ist. Ein Beispiel: Jemand trinkt absichtsvoll soviel vom (künstlichen) Bier, daß er in einen Rauschzustand fällt. Es besteht die Frage, ob der Rausch als Vorgang im chemischen Sinne künstlich ist? Ich denke, es wird Einigkeit herrschen mit der Auffassung, daß der Rausch eine natürliche Wirkung übermäßigen Biergenusses auf die stoffliche Struktur des menschlichen Organismus ist. Die Absicht, durch Bier berauscht zu werden, hat diese Möglichkeit selbstverständlich nicht erst geschaffen. Der Rauschzustand ist die natürliche Wirkung eines künstlichen

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Vorgangs, nämlich einer menschlichen Handlung. Was macht einen Chemiker nun so sicher, daß es tatsächlich natürliche chemische Vorgänge sind (also chemische Möglichkeiten, die der Mensch nicht selbst gemacht hat), die den Rausch herbeiführen und dieser nicht eine künstliche Konsequenz des künstlich hergestellten Bieres ist? Nun, man könnte sagen, daß der Genuß einer ausreichenden Menge faulender, bzw. in Gärung übergegangener Apfel bei manchen Naturvölkern eine beliebte Praxis ist, die der Technokrat (Winzer, Bierbrauer, Schnapsbrenner) „nur" industrialisiert hat; auch bei bestimmten Affenund Elefanten-Gruppen wurden durch „Apfelwein" verursachte Rauschzustände beobachtet. Chloral ist ein künstlicher chemischer Stoff, für den es im Gegensatz zum Bier-Alkohol offenbar keine natürliche Entsprechung gibt und für dessen Wirkungen wohl auch keine menschenunabhängigen Szenarien aufzufinden sind. Chloral wirkt betäubend auf den Menschen. Sind nun endlich die chemischen Vorgänge künstlich und die Wirkung ebenfalls künstlich, die Chloral auf die stoffliche Struktur des menschlichen Organismus hat? Ich will nun versuchen, solche vielleicht „absolut" künstlichen chemischen Reaktionen und damit hervorgebrachte Stoffe oder in sie verwickelte Stoffe näher zu betrachten. Alkohol ist ein chemisch herstellbarer Stoff, dessen charakteristische Moleküle naturidentisch sind. Etwas unpräzise formuliert gilt: Alkohol ist ein Naturstoff. Das Bierbrauen ist ein künstlicher Vorgang. Diejenigen chemischen Vorgänge beim Bierbrauen, die - auf der Teilchenebene gedacht - für die Alkohol-Molekül-Bildung entscheidend sind, sind zwar vom Braumeister ausgelöst, aber nicht „künstlich", denn sie sind weitgehend identisch etwa zu den chemischen Reaktionen, welche für den Alkohol im gärenden Apfel verantwortlich sind. Man könnte also sagen, daß beim künstlichen Vorgang des Bierbrauens auch „naturidentische" chemische Vorgänge ablaufen bzw. Stoffe beteiligt sind. Ist man sicher, daß bei einem bestimmten Verfahren zur Bierherstellung ausschließlich solche chemischen Vorgänge in Gang gesetzt werden, die im Sinne unserer Betrachtung naturidentisch sind, so könnte man

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etwas großzügig von „natürlichem" Bier oder „naturreinem" Bier usw. sprechen. Bestimmte Interpretationen des sogenannten „Reinheitsgebots" der Bierherstellung bewegt sich im Rahmen dieser Zusammenhänge. Es muß hier angemerkt werden, daß die Natur-Adjektive, auch wenn sie einem stofflichen Objekt korrekt zugeordnet sind, selbstverständlich keinerlei Aussage über dessen Bekömmlichkeit für den Menschen oder die Umwelt enthalten. Diese Frage ist nur innerhalb eines weit über das unmittelbar Chemische hinausgehenden Kontexts sinnvoll. Die Freisetzung naturidentischen Kohlendioxids durch die (künstliche) Verbrennung organischer Stoffe durch den Menschen ist schließlich solange kein Problem, solange es sich nicht um außerordentlich große Mengen in außerordentlich kurzer Zeit handelt. Ich denke es ist unstrittig, daß für die Bewertung von Ereignissen und Abläufen, an denen auch chemische Vorgänge teilhaben, nicht allein chemische Gesichtspunkte von entscheidender Bedeutung sind. Ich darf hier vielleicht auch einen Satz aus Hubert Markls Aufsatz „Die Natürlichkeit der Chemie" anführen: „Die Nebenwirkungen des DDT-Verbots haben mit Sicherheit mehr Menschen das Leben gekostet, als die Nebenwirkungen des DDT." D D T ist wie Bier ein künstlicher Stoff. DDT-Moleküle verdienen aber das Prädikat „naturidentisch" nicht. Wäre D D T naturidentisch (z.B. aufgefunden in irgendwelchen Tiefseeorganismen), wäre es dann nicht verboten worden? Ob die Produktion, die Anwendung und die Verteilung von D D T in unserer Welt ein Fluch oder ein Segen ist oder war, läßt sich an der Künstlichkeit dieses Stoffes nicht ablesen. Wie steht es nun mit der petrochemischen Herstellung von Alkohol aus (z.B. durch die Ethen-Hydratisierung)? Ich habe zwar nicht sehr gründlich nachgeforscht, doch scheinen Beispiele für eine natürliche Stoffumwandlung von Ethen und Wasser zu Alkohol weniger naheliegend zu sein, als die alkoholische Gärung. Um mich als Chemiker jedoch von der Künstlichkeit der Ethen-Hydratisierung zu überzeugen, müßte ein Argument vorgebracht werden, das zeigt, daß die Bildung von

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Alkohol aus Ethen und Wasser ohne handelndes Eingreifen des Menschen grundsätzlich ausgeschlossen ist, daß diese Möglichkeit grundsätzlich nicht besteht. Halten wir fest: Die betäubende Wirkung von Chloral auf den menschlichen Organismus ist für einen Chemiker „natürlich", da kein Chemiker die chemischen Möglichkeiten, welche die chemische Struktur des Chlorals und die des Organismus zulassen, erdacht oder gemacht hat. Wenn ich nun an die chemischen Reaktionen und Stoffe denke, mit denen ich seit vielen Jahren als Experimentator befaßt bin, so bin ich außerstande, eine natürliche Entsprechung zu den von mir in den Glasapparaturen und in der künstlichen Umgebung meines Laboratoriums ausgelösten stofflichen Veränderungen anzugeben. Wie kommt es nur, daß ich von einer gewissen „Natürlichkeit" der von mir absichtsvoll ausgelösten und beobachteten chemischen Ereignisse so felsenfest überzeugt bin, obwohl sie den Chemismen, die wir Chemiker in der uns umgebenden belebten wie unbelebten Natur zu erkennen glauben, doch so fern sind? Eine gründliche Reflexion über „Natürlichkeit und Chemie" auch in diesem Sinne wäre schon so tief Philosophie, daß ich mich daran nicht versuchen kann. Nur so viel sei gesagt: Es ist viel weniger das Erleben des Erfolges chemischer Handlungen als das Erleiden des oft alles überwältigenden Mißerfolges chemischer Handlungen, das mir als Chemiker suggeriert, eine Art Jäger und Sammler in einem nicht von mir selbst noch von anderen Menschen vorgebenen, sondern eben „naturgegebenen" Revier chemischer Möglichkeiten zu sein. Im Pendeln zwischen Erfolg und Mißerfolg chemischer Handlungen zwischen den als möglich und als unmöglich erfaßten chemischen Ereignissen offenbart sich für mich ein Aspekt der Wirklichkeit der Natur. Die chemischen Verbindungen und chemischen Elemente, die in chemischen Laboratorien oder Fabriken vorzufinden sind, und die chemischen Reaktionen, die man als Chemiker benutzt oder auslöst, um stoffliche Veränderungen herbeizuführen, sind allesamt künstlich und stellen in hohem Maße bearbeitende Natur dar. Sie alle repräsentieren für mich nichts-

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destoweniger natürliche chemische Möglichkeiten der Stoffumwandlung. Chemische Unmöglichkeiten kann der Chemiker nicht ermöglichen. In diesem prozeßhaften Sinn sind dann alle chemischen Phänomene zutiefst Natur. Die Rede von einer „künstlichen" Chemie, die ihren Begriff von Künstlichkeit an bestimmte chemische Prozesse bindet, ist für mich dann unsinnig und damit nutzlos. Die stofflichen und stofflich-verändernden Wirkungen menschlicher Handlungen erscheinen mir aus chemischer Sicht, d. h. wenn gesehen in den prozeßhaften Prinzipien chemischer Vorgänge, nicht unterscheidbar zu sein von nicht durch menschlichen Einfluß ausgelösten Stoffumwandlungsprozessen. In der Tat betreibt der Mensch doch mit seiner Technik nichts anderes als einen gigantischen chemischen Stoffwechselprozeß. Die Adjektive „natürlich", „naturidentisch" und „künstlich" für chemische Sachverhalte mögen für bestimmte nichtchemische Zwecke und aus bestimmten Blickwinkeln gute Dienste tun, zur Bewertung chemischer Vorgänge, im Hinblick auf die Spannung zwischen Können und Sollen und zur Rechtfertigung irgendeiner chemisch-stofflichen menschlichen Handlungspraxis taugen diese Begriffe aber nicht. Sie sind allesamt viel zu oberflächlich und zu vorurteilsträchtig. Aus der Wissenschaft Chemie, die ich als die ständig wachsende Summe der als möglich erkannten stofflichen Veränderungen und damit verbundenen Wirkungen verstehe, kann ich als Chemiker keinerlei Antworten auf Wertfragen extrahieren. Wohl aber bietet die Wissenschaft Chemie die unverzichtbare und unablässig zu erweiternde Grundlage dazu, einsichts- und verantwortungsvoll die natürlichen Konsequenzen des so ausgedehnten stofflichen Handelns von uns allen zu erfassen. Der Weg vom Können zum Dürfen, die Entscheidung zwischen Wünschenswertem und zu Meidendem aber ist gerade nicht chemischer Natur.

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Natürlich, naturidentisch, künstlich

chemisch aufbauend . = >

chemisch zerlegend

Identität ?

in der Natur vorfindliche Stoffe

in der Natur nicht notwendig vorfindliche Stoffe

heterogene Stoffe

heterogene Stoffe Lösungen

Lösungen chemische Verbindungen

homogene Stoffe

homogene Stoffe Reinstoffe

Reinstoffe

chemische Elemente

unbearbeitete Stoffe

natürliche Stoffe stoffliche

Veränderungen

bearbeitete Stoffe

=> künstlicheStoffe

Abbildung 1

Addendum Eine Reihe kritischer Anmerkungen und Fragen zu obigem, in nahezu unveränderter Form wiedergegebenen Beitrag sowie bestimmte, im Verlauf der Diskussionen im Rahmen des Workshops „Natürlichkeit und Chemie" wiederholt thematisierte Aspekte führten zu diesem kurzen, über das „Chemische" hinausgehenden Nachtrag. Die Natur und damit auch die „natürlichen" chemischen Prozesse (von der Photosynthese bis zum Vulkanismus) habe Vorbildcharakter im Sinne einer jahrmillionenlangen bewährten evolutionären Ordnung. (Zu diesem auf Aristoteles zurückgehenden Naturbegriff siehe den Beitrag von Prof. G. Böhme) Dieses Vorbild gelte es zu erkennen und es, wo möglich, nachzuahmen oder gar zu „verbessern" (siehe den Beitrag von Prof. Meyer-Abich). Ganz abgesehen davon, daß die Chancen einer Technik und einer entsprechenden Wissenschaft wohl recht pessimistisch

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einzuschätzen sind, die sich an den Zeiträumen und den wohl kaum vorstellbar komplexen Zusammenhängen orientiert, welche für das Kriterium „bewährt" im chemisch-biologischgeologisch-evolutionären Sinne wesentlich sein dürften, scheint mir das credo in eine solche „Biomimese-Technik" noch in anderer Hinsicht fragwürdig. Wäre denn eine durch chemische, biologische und gentechnische Verfahren hergestellt Pflanze, die in der Form eines Bettgestells wächst, um an Antiphons Beispiel zu erinnern, und deren Samen selbstverständlich wieder ausgewachsene Bettpflanzen liefert, die man sich als Hydrokultur im naturnahen Schlafzimmer dann zweckmäßig halten kann, natürlicher als ein gezimmertes Bettgestell, das keine Früchte treibt? So abwegig ist dieses Beispiel nicht, denn die bekannte fäulnisinhibierte „Gen-Tomate" ist, chemischbiologisch, nichts anderes als ein entfernter Verwandter der hypothetischen Bettpflanze, und alle Kulturpflanzen und NutzTiere von denen wir leben ebenso. Der Gegensatz zu dem in der Natur Vorfindlichen entsteht doch weniger durch die verwendeten technischen Mittel, sondern vielmehr durch unsere Zielsetzungen, Wünsche und Absichten, die deren technischer Realisierung vorausgehen. Um es auf den Punkt zu bringen: Das Widernatürliche ist doch weniger die millionenfache Herstellung eines erdölfressenden und schadstoffproduzierenden, auf chemischen Prozessen also auf „Chemie" basierenden Verbrennungsmotors, es sind vielmehr die Wünsche nach Mobilität und Freiheit eines Jeden. Ist es dann zu weit hergeholt, wenn in der auf die Befriedigung nicht weniger elementarer Wünsche angelegten technischen „Prothetik" sogar die Würde des Menschen gefährdet gesehen wird, wie es z.B. G. Böhme darlegt? A b s o l u t „künstlich" sind nur Wünsche, denn sie sind nicht vorgesehen in der bewährten Ordnung der Natur. (frei nach Stanislaw Lern.)

Bernd Fabry

Der Begriff der Natürlichkeit im Spannungsfeld von Produktvermarktung und Rechtsprechung

1. Einleitung Die Henkel K G a A gehört zu den weltweit führenden Herstellern oleochemischer, d.h. auf nachwachsenden Ressourcen basierender Chemierohstoffe, wie beispielsweise Fettsäuren, Fettsäureester, Fettalkohole und deren Folgeprodukten, die überwiegend Anwendung im Bereich der Wasch-, Spül- und Reinigungsmittel („Detergents") sowie der Kosmetik finden. Des weiteren ist die Henkel K G a A auch Anbieter einer Vielzahl von Produkten, die unmittelbar für den Endverbraucher gedacht sind. Die Spannweite reicht dabei von bekannten Waschmitteln wie P E R S I L ( R ) oder W E I S S E R R I E S E ( R ) über Spülmittel wie P R I L ( R ) bis hin zu Klebstoffen wie z.B. P R I T T ( R ) oder P A T T E X ( R ) . Allen diesen Produkten liegt die Philosophie zugrunde, daß sie neben höchstmöglichem Leistungsvermögen sicher für den Verbraucher und soweit als möglich verträglich für die Umwelt sein sollen. Ein wichtiger Bestandteil dieses Unternehmensgedankens ist der Einsatz von nachwachsenden Rohstoffen, vorzugsweise pflanzlichen Ölen, Proteinen und Kohlenhydraten, die nach chemischer Derivatisierung zu Produkten - seien es chemische Zwischenerzeugnisse oder Markenartikel - führen, die nach unserer Uberzeugung dem Gedanken der Umweltverträglichkeit soweit als möglich Rechnung tragen [1]. Ein Produkthersteller, der beispielsweise einen neuen Emulgator für die Formulierung von Cremes und Lotionen oder ein Spülmittel mit verbesserter Leistung in den Markt einführen will, begibt sich schon in dem Augenblick, in dem er den neuen Stoff im Werk produziert und an einen externen Kunden

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Bernd Fabry

bemustert (juristisch: „in Verkehr bringt") an den Rand eines Dschungels von Gesetzen und Rechtsverordnungen, Richtlinien und Durchführungsbestimmungen, den er in der Regel nur in Begleitung eines kundigen Führers durchqueren kann. Eine Ubersicht, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, ist in Abbildung 1 wiedergegeben: CHEMIEGESETZGEBUNG * * * * * * *

StörfallVerordnung TA Luft/Wasser Chemikaliengesetz GefahrstoffVerordnung Detergentiengesetz Kosmetikverordnung Lebensmittel- und BedarfsgegenständeG.

GEWERBLICHER RECHTSSCHUTZ PRODUKT

* *

Patentrecht Warenzeichenrecht

ALLGEMEINE GESETZGEBUNG * *

Produkthaftungsgesetz Wettbewerbsrecht UWG

Abb.l: Relevante Gesetzgebung bei Herstellung und Vermarktung von Chemieprodukten bzw. Markenartikeln (Auswahl)

Das Schema soll im folgenden näher erläutert werden: 1. Schon bei der Herstellung von chemischen Stoffen ist die Störfallverordnung zu berücksichtigen, die beispielsweise regelt, welche baulichen und organisatorischen Maßnahmen zu treffen sind, um Störfälle wie etwa das unbeabsichtigte Austreten von gefährlichen Stoffen so weit als möglich zu verhindern bzw. die mit der Produktion verbundenen potentiellen Gefahren für die Beschäftigten und die U m welt zu minimieren. Auf den Schutz der Umwelt nehmen

Natürlichkeit,"Produktvermarktung, Rechtsprechung

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auch die Technischen Anweisungen Luft und Wasser Bezug, die vereinfacht dargestellt vorgeben, welche Mengen von Fremdstoffen pro Zeiteinheit über das Abgas oder Abwasser in die Umwelt abgegeben werden dürfen. Das Chemikaliengesetz und die Gefahrstoffverordnung als zugehörige Durchführungsbestimmung regeln, welche Stoffe überhaupt „in Verkehr gebracht" werden dürfen bzw. welche Vorgaben erfüllt sein müssen, bevor eine neue Chemikalie den Weg vom Hersteller zum Kunden antreten darf. Ergänzt wird dies durch spezielle Normen, wie beispielsweise das Detergentiengesetz oder die Kosmetikverordnung. In ersterem wird beispielsweise festgelegt, welche Anforderungen an die biologische Abbaubarkeit ein Tensid erfüllen muß, ehe es z.B. als Waschrohstoff oder Spülmittel eingesetzt werden kann. Die genannten Beispiele stellen einen Ausschnitt der Chemiegesetzgebung dar. Üblicherweise sind in der Industrie Chemiker mit solchen Problemen befaßt. 2. Ein sehr wichtiger Bereich des gewerblichen Rechtsschutzes ist das Patentrecht. Für den Produkthersteller sind hierbei zunächst zwei Fragestellungen von Bedeutung: • Darf das Produkt im Hinblick auf Schutzrechte des Wettbewerbs vertrieben werden ? • Kann das Produkt durch ein eigenes Schutzrecht geschützt und somit monopolisiert werden ? Ein weiterer Aspekt ist die Eintragung von Warenzeichen, wie beispielsweise „PERSIL", in ein entsprechendes Register. Ein einmal eingetragenes Warenzeichen bietet dem Rechtsinhaber Schutz vor Nutzung dieses Warenzeichens oder einer verwechslungsfähigen Nachahmung durch Dritte. Diese Aufgaben werden in der Regel von freiberuflichen Patentanwälten oder entsprechend qualifizierten Industriechemikern bzw. von Rechtsanwälten oder Warenzeichenabteilungen in größeren Unternehmen wahrgenommen. 3. Das Produkthaftungsgesetz betrifft die Folgen, die einen Hersteller treffen können, wenn im Zusammenhang mit seinem Produkt ein Schaden entsteht. Das Gesetz regelt da-

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bei die Haftung auch ohne Verschulden, d.h. die Haftung tritt automatisch ein, wenn ein Hersteller ein fehlerhaftes Produkt in Verkehr gebracht hat und dadurch jemand geschädigt wird. Ein Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit ist das angebliche Auftreten von Gewebeschäden bei der wiederholten Verwendung eines Waschmittels des Wettbewerbs. In einem solchen Fall sieht das Gesetz eine teilweise Umkehrung der Beweislast vor. Das heißt, der Hersteller hat zu beweisen, daß sein Produkt fehlerfrei war, als er es in Verkehr brachte. Dies stärkt natürlich die Position des Verbrauchers, den Produkthersteller verpflichtet es hingegen zu einem besonders hohen Maß an Vorsicht und Verantwortung. Das weite Feld des Wettbewerbsrechts regelt schließlich die Formen des fairen Wettbewerbs und hat eine besonders hohe Bedeutung für Werbeaussagen. Der gesamte Bereich der allgemeinen Gesetzgebung ist schließlich den Juristen vorbehalten. Die mit dem Begriff der „Natur" und der „Natürlichkeit" verbundenen rechtlichen Probleme sollen im folgenden an Hand von Beispielen aus dem Patentrecht und dem Wettbewerbsrecht illustriert werden.

2. Beispiele aus dem Patentrecht Die Möglichkeit, Erfindungen zum Patent anzumelden und ihre gewerbliche Nutzung zu monopolisieren, ist in der Gesetzgebung aller Industrienationen verankert. Dem liegt die Philosophie zugrunde, einem Erfinder einen Schutz auf sein geistiges Eigentum zu gewähren und im Gegenzug durch die Offenlegung der Erfindung der Allgemeinheit einen neuen Ausgangspunkt für weitere Innovationen zu schaffen. Allein beim Europäischen Patentamt wurden 1995 über 70.000 Erfindungen zum Patent angemeldet und mehr als die Hälfte erteilt. Ein Gegenstand, auf den ein Patent erteilt wird, muß nach internationalen Ubereinkommen drei Anforderungen erfüllen:

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• er muß neu sein, • er muß erfinderisch sein und • er muß gewerblich anwendbar sein. Doch nicht alles, was der menschlichen Kreativität entspringt, kann auch durch ein Patent geschützt werden. So heißt es beispielsweise in Artikel 53 des Europäischen Patentübereinkommens: Europäische Patente werden nicht erteilt (...) für Pflanzensorten oder Tierarten sowie für im wesentlichen biologische Verfahren zur Züchtung von Pflanzen oder Tieren; diese Vorschrift ist auf mikrobiologische Verfahren und auf die mit Hilfe dieser Verfahren gewonnenen Erzeugnisse nicht anzuwenden." Macht das Patentrecht demnach vor der Natur halt oder anders formuliert: kann man die „Natur" patentieren? Mehrere Präzedenzfälle, die diesen Punkt betreffen, haben in der jüngeren Vergangenheit für einiges Aufsehen gesorgt: 1. So wurde im Frühjahr 1992 die Öffentlichkeit durch einen Pressebericht aufgeschreckt, wonach die National Institutes of Health in den USA rund 2750 anonyme DNA-Sequenzen des menschlichen Genoms, die vielleicht Teile von Genen darstellen, zum Patent angemeldet haben [2]. Inzwischen wurde die Patentanmeldung zurückgewiesen. Es gibt jedoch bereits Patente für eine Reihe von DNA-Sequenzen, die zur Herstellung von nützlichen Stoffen wie z.B. Interferon dienen können, aber nicht auf diese speziellen Anwendungen beschränkt sind. Es ist daher Prof. Friedrich Vogel, dem ehemaligen Direktor des Instituts für Humangenetik und Anthropologie an der Universität Heidelberg, nur zuzustimmen, wenn er in einem Beitrag für die Naturwissenschafliche Rundschau hierzu schreibt: „Für unser Gefühl ist es eine absurde und offensichtlich tief perverse Vorstellung, daß irgendeine Institution Patentrechte auf Teile unseres Körpers besitzen könnte [3]." 2. Die Natur, d.h. lebende Organismen und ihre Teile werden jedoch offenbar in steigendem Maße patentfähig. Philip Leder und Timothy Steward von der Harvard-Universität

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in Boston hatten 1985 menschliche Krebs-Gene in MäuseEmbryonen übertragen und so in deren Erbgut verankert. Diese transgenen Mäuse sind extrem anfällig für Brustkrebs und stellen unter der Bezeichnung „OncoMouse" begehrte Testobjekte für die Krebsforschung dar; 1988 wurde auf die Krebsmaus ein US-Patent erteilt [4]. In den USA führte das OncoMouse-Patent zu empörten Reaktionen, denn was von den einen als notwendige Anpassung des Patentrechtes an den technischen Fortschritt empfunden wird, erscheint anderen als Frevel an der Schöpfung. „Stealing Gods stuff" nannte es der konservative Senator Hatfield und konnte mit seiner Kampagne gegen Tierpatente ein vorübergehendes Moratorium erreichen. Auch das Europäische Patentamt hat auf die HarvardKrebsmaus ein Patent erteilt (s. Abbildung 2), 30 weitere Anträge zur Patentierung von lebenden Organismen laufen. War die Prüfungsstelle des EPA noch in erster Instanz der Uberzeugung, Artikel 53b des Europäischen Patentübereinkommens schließe die Patentierbarkeit von Tieren definitiv aus, hat die Technische Beschwerdekammer jedoch der Anmelderin Recht gegeben und festgestellt, „zwar seien Tierarten nicht patentierbar, Tiere als solche dagegen schon". Dies erscheint auch im Kreise von Fachleuten mehr als spitzfindig. Was den wesenhaften Unterschied zwischen einer Tierart und einem Tier ausmacht, muß nun erst einmal definiert werden. Nachdem gegen die Entscheidung der Kammer mehrere hundert Einsprüche eingegangen sind, bleibt jetzt zu prüfen, ob das KrebsmausPatent nicht gegen die guten Sitten oder die öffentliche Ordnung verstößt. Eine mehrtägige mündliche Verhandlung vor dem Europäischen Patentamt, die im November 1995 stattgefunden hat, ist ohne Ergebnis geblieben und vertagt worden. Die Chancen, Patente auf die Natur und ihre lebenden Organismen dauerhaft zu verhindern, sind abseits von jeder Ethikdiskussion wohl eher gering. Wie von B. Härlin im GreenpeaceMagazin ausgeführt wird, kann bereits einem Protokoll einer

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