Aufführungsrituale der Musik: Zur Konstituierung kultureller Vielfalt am Beispiel Österreich 9783839458846

Die Unterscheidung von E-Musik und U-Musik hat ausgedient. Als neuen Ansatz präsentieren Magdalena Fürnkranz und Harald

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German Pages 378 [392] Year 2021

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Aufführungsrituale der Musik: Zur Konstituierung kultureller Vielfalt am Beispiel Österreich
 9783839458846

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Magdalena Fürnkranz, Harald Huber Aufführungsrituale der Musik

texte zur populären musik  | Band 11

Die Reihe wird herausgegeben von Dietrich Helms.

Magdalena Fürnkranz, geb. 1985, ist Senior Scientist am Institut für Popularmusik der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw). Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen unter anderem Performativität und Inszenierung in der Popularmusik, intersektionale, queere und postkoloniale Perspektiven auf musikkulturelle Felder, Musikszenen in Österreich und New Jazz Studies. Harald Huber, geb. 1954, ist österreichischer Musikwissenschaftler, Komponist und Pianist. Er entwickelte an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien ab 1980 den Fachbereich Popularmusik, der 2002 in das künstlerisch-wissenschaftliche Institut für Popularmusik (ipop) mündete. Dort unterrichtet er als Professor für Theorie, Geschichte und Didaktik der Popularmusik und war bis 2019 Mitglied des Leitungsteams. Seit 2006 ist er Präsident des Österreichischen Musikrats, gehörte von 2005-2010 dem Vorstand des Europäischen Musikrats an und ist ständiges Mitglied der »ARGE Kulturelle Vielfalt« der Österreichischen UNESCO-Kommission. Er komponierte über 400 Werke und ist als Musiker in den Bereichen Neue Musik, Jazz, World Music, Rock/Pop, Tanz- und Improvisationstheater aktiv.

Magdalena Fürnkranz, Harald Huber

Aufführungsrituale der Musik Zur Konstituierung kultureller Vielfalt am Beispiel Österreich

Grundlage des Textes ist das von der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw) finanzierte Forschungsprojekt »Performing Diversity«. Die Autoren danken der mdw und dem Institut für Popularmusik (ipop) für die Unterstützung.

Die Autoren danken dem Herausgeber und der GfPM für die Möglichkeit, das Buch in der Reihe zu publizieren sowie den Verantwortlichen des transcript Verlages für die hervorragende Betreuung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Idee: Harald Huber, Grafische Ausführung: Angelika Kratzig Lektorat, Korrektorat & Satz: Philip Stoeckenius, Wien Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5884-2 PDF-ISBN 978-3-8394-5884-6 https://doi.org/10.14361/9783839458846 Buchreihen-ISSN: 2747-3163 Buchreihen-eISSN: 2747-3171 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Vorwort | 7 1

Wissenschaftstheoretische Grundlagen | 9

1.1 1.2 1.3 1.4 1.5

Cultural Turn | 9 Der Begriff der Performativität | 12 Die Uhr der Figur | 18 Stilfeldertheorie | 26 Transkulturalität | 38

2

Vorstudien: Analyse einer selektierten Bildergalerie, eines Musikvideoclips und eines Crossover Konzerts | 41

2.1 Analyse einer Bildergalerie zur Vielfalt der Musik | 41 2.2 Videoanalyse Wiener Blond: „Kaana Waas Warum“ mit Schwerpunkt auf Gestik | 63 2.3 Begleitende Studie zum Projekt „The Cube – Das Crossover Orchester der mdw“ | 67 3

Vergleichende Stilfelder-Analyse von Aufführungsritualen | 73

3.1 Erstellung einer Stichprobe | 76 3.2 Untersuchte Dimensionen und Parameter | 82 4

Die Vielfalt der Musik in Österreich: Zwölf Beispiele österreichischer Musik der Jahre 2010–2015 | 85

Wanda: „Bologna“ | 86 Fijuka: „Ca Ca Caravan“ | 104 Electric Indigo: „DJ @ Taico ‘15“ | 125 Nazar: „Zwischen Zeit Und Raum“ | 134 Die Seer: „Heut Heiratʼ Die Liebe Meines Lebens“ | 152 Andreas Gabalier: „I Sing A Liad Für Di“ | 169 Christian Muthspiel 4 featuring Steve Swallow: „Tears Of Laughter“ | 186 4B) Fatima Spar & The Freedom Fries: „Trust“ | 198 5A) Alma: „Admonter Echojodler“ | 214 5B) 5/8erl in Ehr’n: „Alaba, How Do You Do?“ | 227 1A) 1B) 2A) 2B) 3A) 3B) 4A)

6A) Bernhard Gander: „wegda“ | 246 6B) BartolomeyBittmann: „Centipede“ | 262 Ergebnisse der vergleichenden Stilfelder-Analyse | 275 5.1 Sechs Stilfelder der Musik: Figurenanalyse der Stichprobe | 276 5.2 Zusammenfassende Interpretationen | 282

5

6 Das Konzertexperiment „Clash Concerty“ | 311 6.1 Ensemble Faktor X: Liederzyklus „ Aspekte der Liebe“ | 313 6.2 Buttersaitn Electric Band: Spaß und Party mit „wegda!“ | 323 6.3 Kammeroper: „ Windmills“ | 335

7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6 7.7

Conclusio | 343 Gender: Konstitution von Geschlechtsidentitäten | 345 Ungleichheit: Konstitution von Statusidentitäten | 346 Dramaturgie: Konstitution von Ritualen | 347 Interpretation: Thesen | 349 Skizze einer Theorie der Musikperformance | 351 Methodische Bemerkung | 353 Ausblick | 354

8

Quellenverzeichnis | 355

9

Anhang | 369

7

Vorwort

Auf der Basis der theoretischen Grundlage des „Austrian Report on Musical Diversity“1 setzt sich das Projekt „Performing Diversity“ mit Aufführungsritualen der Stilfelder der Musik in Österreich auseinander. In Form von qualitativen Fallstudien werden Differenzen und Diffusionen zwischen den Stilfeldern „Klassik/zeitgenössische Musik“, „Jazz/improvisierte Musik“, „Volksmusik/World Music“, „Dance/HipHop/Elektronik“, „Rock/Pop Musik“ und „Schlager/volkstümliche Musik“ erkundet. Besonderes Augenmerk liegt auf CrossoverPhänomenen der gegenwärtigen Musiklandschaft. Als Stichprobe wurden österreichische Musik-, Bild- und Filmbeispiele der Jahre 2010-2015 herangezogen. Musikstücke von österreichischen Künstler/innen wie Wanda, Fijuka, Electric Indigo, Nazar, Andreas Gabalier, Die Seer, Christian Muthspiel, Fatima Spar, Alma, 5/8erl in Ehr’n, Bernhard Gander und BartolomeyBittmann sind Bestandteil des Samples. Im Folgenden werden zunächst die theoretischen Grundlagen und die methodischen Zugänge der Studie vorgestellt. Als theoretischer Ausgangspunkt dient ein Stilfelder-Modell, das vom Projektleiter im Rahmen seiner Habilitationsschrift „Der Song und die Stilfelder der Musik“ entwickelt wurde. Die Dokumentation und Analyse von Aufführungsritualen wird anhand von Bild- und Sequenzanalysen geleistet. Dazu wurden eine Bildergalerie und eine Sammlung von Filmdokumenten (Konzerte und Videoclips) angelegt, die die Basis für eine vergleichende Stilfelderanalyse bilden. Gefragt wird nach der Art und Weise der „Konstitution von Kultur“ auf Basis der Analyse der Figuren, die im theatralen Rahmen einer Musikperformance auftreten. Dabei wird unter anderem die Methode der „Figurenanalyse“ nach Jens Eder2 herangezogen. Ein diesbezügliches Forschungsinstrument (Kategorienschema) zur qualitativen

1

Huber et al., 2014

2

Eder 2008

8 | Aufführungsrituale der Musik

Analyse der gewählten Beispiele wurde entwickelt und auf die Stichprobe angewandt. Im Anschluss daran erfolgte eine Verschriftlichung der Ergebnisse entlang der Kategorien des Forschungsinstruments pro Beispiel als Vorbereitung für die Durchführung der vergleichenden Stilfelder-Analyse. Ausgewählte Ergebnisse werden schließlich anhand von drei Dimensionen präsentiert und diskutiert. Neben den performanceanalytischen Aspekten (filmische Erzählweisen und Aufführungsrituale), werden genderspezifische Aspekte (Figuren und Geschlechtskonstruktionen) und kulturtheoretische Aspekte (soziale Ungleichheit und Formen der Hybridität) herausgearbeitet. Eine begleitende Studie untersuchte ein Konzert des Projekts „The Cube – Das Crossover Orchester der mdw“, das am Samstag den 9. Mai 2015 im ORF RadioKulturhaus mit dem Titel „A Journey into Jazz“ stattfand. Unter dem Motto „Symphony Orchestra meets Big Band“ musizierten das Pro Arte Orchester, die ipop-Bigband und Gäste. Begleitend dazu wurde eine Befragung der Mitwirkenden durchgeführt. Als künstlerische Umsetzung von Ergebnissen der Studie wurde die Form des „Clash Concerty“ („Musikgenres verkehrt herum gebürstet: E-Schlager, UKlassik, Impro-Pop, ...“) entwickelt. Musikstücke verschiedener Stilfelder werden dabei in radikal untypische Kontexte und Aufführungsrituale transferiert. Ein solches „Clash Concerty“ fand erstmals am 29. April 2016 an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw) statt. Wir danken allen am „Clash Concerty“ beteiligten Künstlerinnen und Künstlern, dem Projektteam von „Performing Translation“ und der mdw-Universität für Musik und darstellende Kunst Wien für die Förderung unseres Forschungsvorhabens „Performing Diversity“. Harald Huber & Magdalena Fürnkranz

1

Wissenschaftstheoretische Grundlagen

Die theoretischen Grundlagen des Forschungsprojekts „Performing Diversity“, das sich auf die Vielfalt von Aufführungsritualen bezieht, umfassen kulturwissenschaftliche Ansätze (Bachmann-Medick, Fischer-Lichte, Austin, Butler, Bachtin), filmtheoretische Herangehensweisen (Eder, Schuegraf/Smykalla) sowie musik- und kultursoziologische Theorien (Bourdieu, Goffman, Huber).

1.1 CULTURAL TURN In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fanden Entwicklungen in den Geistesund Sozialwissenschaften statt, die das Aufkommen der Kategorie „Kulturwissenschaften“ begünstigten. Zusammenhängend mit dem wachsenden Einfluss der Kultursoziologie wird dies gerne als „Cultural Turn“ beschrieben. Ein nunmehr erweitertes Kulturverständnis ging einher mit der Hinterfragung gesellschaftlicher Werte. Als Meilenstein des Cultural Turns gilt die Etablierung der Cultural Studies1 als Disziplin um etwa 1960. Die Abkehr von einem Kulturbegriff im Sinne der Hochkultur gesellschaftlicher Eliten und die Hinwendung zur Populärkultur des Alltags waren die Folge. Der Begriff „Kultur“ im Sinne von „Hochkultur“ manifestiert sich vor allem in ausstellbaren bzw. aufführbaren „Kunstwerken“. Nun verschob sich der Fokus auf Fragen zu Alltagserscheinungen und Formen der Lebensgestaltung aller gesellschaftlichen Schichten.

1

Die Cultural Studies wurden in den 1960er Jahren von Vertreter/innen der britischen Erwachsenenbildung und von Literaturwissenschaftlern entwickelt. Das Interesse bezog sich vor allem auf die Alltagskultur der Arbeiterklasse und stand auch im Zusammenhang mit der aufkommenden Popkultur. Die Forschung fand vor allem im Umfeld des Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) – gegründet 1964 von Richard Hoggart – unter der Leitung von Stuart Hall statt.

10 | Aufführungsrituale der Musik

Doris Bachmann-Medick beschreibt in ihrem Werk Cultural Turns eine sich durch die Disziplinen ziehende Neufokussierung der Forschung anhand folgender Turns: interpretive turn, performative turn, reflexive turn, postcolonial turn, translational turn, pictorial/iconic turn, spatial turn. Der Kulturbegriff als in sich geschlossenes Bedeutungssystem kann nach Bachmann-Medick unter Verwendung des performance approach aufgebrochen werden. Kultur erscheint dadurch als offener, performativer, veränderbarer Prozess, „der sich mit einem dezidierten Handlungs- und Inszenierungsvokabular erschließen lässt“2. Für das Forschungsprojekt „Performing Diversity“, das sich mit Aufführungsritualen im österreichischen Musikleben beschäftigt, liegt besonders der performative turn im Fokus des Interesses. Der performative turn beschreibt Kultur als „Performance“, geht von Kultur als einem sozialen „Prozess“ aus.3 Bachmann-Medick bezeichnet dies als Weiterführung und Verstärkung des interpretive turn: „Beide wenden sich ausdrücklich von der strukturalistischen Methode ab, Symbolsysteme wie Mythen, Rituale, Verwandtschaften, Geschlechterverhältnisse usw. in binäre Oppositionen einzuzwängen“4. In den Sozialwissenschaften ist seit den 1970er Jahren die Verwendung des Begriffs „kulturelle Performance“ geläufig. Dieser findet nicht nur in Studien zu Theater, Politik und Alltag seine Verwendung, sondern auch in ritualistischen Ansätzen der Ethnologie, in der Sprachphilosophie und in der Linguistik. Bachmann-Medick sieht in der handlungsbezogenen Sprachakttheorie nach John L. Austin einen der Hauptpfeiler des performative turn.5 Bestehende ‚Sprachverhalte‘ werden im „Modus der Aussage“ – im performativen Sprechakt – nicht nur unverändert wiedergegeben, sondern gleichzeitig auch immer wieder neu aktualisiert und weiterentwickelt. Auch die Entstehung und Verbreitung des Aktionismus in der Kunst der 1960er Jahre und des experimentellen Theaters, das sich weg vom Werkbegriff bewegt, haben die Denkfiguren des performative turn mit angeregt. BachmannMedick spricht mittlerweile sogar von einer „Inszenierungsgesellschaft“, die sich gegenwärtig entwickelt hätte, das Internet zu einer virtuellen Bühne für alle Akteur/innen macht und auch politische Darstellungsräume vergrößert: „Solche ästhetischen und medialen Alltagsphänomene schaffen jedenfalls ein gesellschaftliches Bedingungsfeld, das nicht nur einen popularkulturellen Trend zur Performativität nahe legt, sondern gerade das Aufkommen eines theoretischen fokus-

2

Bachmann-Medick 2009, S. 107.

3

Vgl. ebenda, S. 104.

4

Ebenda, S. 104.

5

Austin, John L.: Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart 1994 (Original: 1955)

1 Wissenschaftstheoretische Grundlagen | 11

sierten performativen turn begünstigt“.6 Im Sinne einer postmodernen Wende bekommen nun Begriffe wie Performanz, Performance und Performativität ein besonderes Gewicht als kulturwissenschaftliche Grundbegriffe.7 Einen weiteren Impuls für den performative turn lieferte die ethnologische Ritualanalyse: Rituale sind stabile Handlungsverläufe, die häufig mit Transformationen in Verbindung stehen (Initiation, Eheschließung, Wettbewerb,...): „Rituale sind Inszenierungsmedien symbolischen Handelns, in denen Symbole ausgebildet und verändert werden“.8 Bachmann-Medick erwähnt Victor Turners Ritualanalyse, die auf einer Neuinterpretation des 3-Phasen-Schemas (1909) des französischen Volkskundlers Arnold van Gennep basiert. Das 3-Phasen-Schema besteht aus: 1. Trennungsriten, 2. Schwellen- bzw. Umwandlungsriten und 3. (Wieder-)Angliederungsriten. Die Autorin hebt dabei besonders die „Liminalität“, den Schwellenzustand z.B. während eines Initiationsrituals, hervor. Diese liminalen Schwellen- bzw. Zwischenräume im Ritualverlauf geben Spielraum zur Dekonstruktion von gesellschaftlichen Symbolen und ermöglichen gleichzeitig das Schaffen neuer Handlungsweisen. „Veränderungsmomente ergeben sich bereits aus den Spielräumen der kulturellen Praxis selbst, wie sie durch eine analytische Zergliederung des Rituals in seine spezifische Verlaufsform sichtbar werden“.9 Die „Liminalität“ wurde in weiterer Folge wurde zu einem Schlüsselphänomen im postcolonial turn. 10 Bachmann-Medick spricht weiters auch noch die „Transgression“ als einen weiteren Leitbegriff an: „Mit ihr wird die Praxis der Überschreitung, der Entgrenzung, Karnevalisierung und Durchbrechung von Codes bezeichnet.“11 Hierbei wird u.a. die Performativitätstheorie von Judith Butler (siehe Kapitel 2.2.1) erwähnt. Der Körper rückt ins Zentrum des Forschungsinteresses. Die Identität einer Person ist nicht eindeutig gegeben, sondern wird als Prozess bestehend aus Konstruktionen und performativen Konzepten der Identitätsbildung gesehen. Der Begriff Transgression, der bei Butler das bewusste Überschreiten von Geschlechterrollen, das Ausbrechen aus traditionellen Kontexten beschreibt, lässt in Hinblick auf die aktuelle österreichische Rock-/Popmusikszene an „Conchita Wurst“ denken: eine Kunstfigur, die sich bewusst mit queeren Elementen inszeniert.

6

Ebenda, S. 108.

7

Vgl. ebenda, S. 109.

8

Ebenda, S. 112.

9

Vgl. ebenda, S. 110.

10 Die Zeit wird vom (geographischen) Raum als kulturelle Größe abgelöst. 11 Ebenda, S. 126.

12 | Aufführungsrituale der Musik

Kulturelle Praktiken insgesamt unterliegen also zwar einerseits der Trägheit der Wiederholung des immer Gleichen und Etablierten, eröffnen aber im Rahmen ritualisierter Abläufe auch Möglichkeiten der Kreativität und Neugestaltung, die sogar – längerfristig – zu Veränderungen des rituellen Rahmens selbst führen können. Das klassische Konzertritual etwa mit seinen strengen Kleidungs- und Applausvorschriften, der Vermeidung nicht-werkimmanenter Performance-Elemente (Programmheft statt Moderation) und dem Gebot andächtiger Stille während der Darbietung (Vermeidung störender Geräusche wie Husten, Niesen, Rascheln etc.) wurde in der zeitgenössischen Kunstmusik im 20. Jahrhundert in vieler Hinsicht aufgebrochen. Das Feld der „Musikvermittlung“ führt – zum Zweck der Gewinnung von Publikum – nun zu weiteren Lockerungen des konventionellen Rahmens (Alltagskleidung, Moderation, Aufhebung der Trennung von Bühne und Publikum, alternative Formen von Beifallskundgebungen, ...). Dabei werden experimentell auch Praktiken anderer Musikgenres übernommen (visuelle Bühnengestaltung, Wegfall von Bestuhlung etc.). Doris Bachmann-Medick sieht den performative turn als durchaus anregenden, aber noch nicht ausgereiften Fokus. „Der performative turn ist ausdrücklich grenzüberschreitend und kulturübergreifend noch weiter auszuarbeiten und für kulturvergleichende Untersuchungen nutzbar zu machen.“12 Dies wird in der vorliegenden Studie durch einen Vergleich der unterschiedlichen Aufführungsrituale der Genres bzw. „Stilfelder“ der Musik einzulösen versucht. Die gesamte kulturelle Diversität des österreichischen Musiklebens der Gegenwart bildet dafür den Untersuchungsgegenstand.

1.2 DER BEGRIFF DER PERFORMATIVITÄT Ein Forschungsprojekt, das den Aspekt des Performativen in den Fokus stellt, muss den Anspruch an die theoretische Grundlegung einer Ästhetik des Performativen13 erfüllen. Erika Fischer-Lichte bietet eine historisch-theoretische Definition des Begriffs Performanz in Kunst und Kunstwissenschaften. Sie definiert darin das performative Kunstwerk als Ereignis. Performative Kunst ist an den konkreten Augenblick ihrer Aufführung gebunden, so dass sie erlebt und erfahren werden muss. Dadurch wird nach Fischer-Lichte auch dem Publikum eine bis dahin unerkannte Position zugewiesen: von einem passiv Betrachtenden wird es zum aktiv Handelnden, durch dessen Interaktion mit den auftretenden Künst-

12 Ebenda, S. 131. 13 Fischer-Lichte 2004

12 | Aufführungsrituale der Musik

Kulturelle Praktiken insgesamt unterliegen also zwar einerseits der Trägheit der Wiederholung des immer Gleichen und Etablierten, eröffnen aber im Rahmen ritualisierter Abläufe auch Möglichkeiten der Kreativität und Neugestaltung, die sogar – längerfristig – zu Veränderungen des rituellen Rahmens selbst führen können. Das klassische Konzertritual etwa mit seinen strengen Kleidungs- und Applausvorschriften, der Vermeidung nicht-werkimmanenter Performance-Elemente (Programmheft statt Moderation) und dem Gebot andächtiger Stille während der Darbietung (Vermeidung störender Geräusche wie Husten, Niesen, Rascheln etc.) wurde in der zeitgenössischen Kunstmusik im 20. Jahrhundert in vieler Hinsicht aufgebrochen. Das Feld der „Musikvermittlung“ führt – zum Zweck der Gewinnung von Publikum – nun zu weiteren Lockerungen des konventionellen Rahmens (Alltagskleidung, Moderation, Aufhebung der Trennung von Bühne und Publikum, alternative Formen von Beifallskundgebungen, ...). Dabei werden experimentell auch Praktiken anderer Musikgenres übernommen (visuelle Bühnengestaltung, Wegfall von Bestuhlung etc.). Doris Bachmann-Medick sieht den performative turn als durchaus anregenden, aber noch nicht ausgereiften Fokus. „Der performative turn ist ausdrücklich grenzüberschreitend und kulturübergreifend noch weiter auszuarbeiten und für kulturvergleichende Untersuchungen nutzbar zu machen.“12 Dies wird in der vorliegenden Studie durch einen Vergleich der unterschiedlichen Aufführungsrituale der Genres bzw. „Stilfelder“ der Musik einzulösen versucht. Die gesamte kulturelle Diversität des österreichischen Musiklebens der Gegenwart bildet dafür den Untersuchungsgegenstand.

1.2 DER BEGRIFF DER PERFORMATIVITÄT Ein Forschungsprojekt, das den Aspekt des Performativen in den Fokus stellt, muss den Anspruch an die theoretische Grundlegung einer Ästhetik des Performativen13 erfüllen. Erika Fischer-Lichte bietet eine historisch-theoretische Definition des Begriffs Performanz in Kunst und Kunstwissenschaften. Sie definiert darin das performative Kunstwerk als Ereignis. Performative Kunst ist an den konkreten Augenblick ihrer Aufführung gebunden, so dass sie erlebt und erfahren werden muss. Dadurch wird nach Fischer-Lichte auch dem Publikum eine bis dahin unerkannte Position zugewiesen: von einem passiv Betrachtenden wird es zum aktiv Handelnden, durch dessen Interaktion mit den auftretenden Künst-

12 Ebenda, S. 131. 13 Fischer-Lichte 2004

1 Wissenschaftstheoretische Grundlagen | 13

lerinnen und Künstlern das Kunstwerk erst seinen konkreten Korpus erhält. Die Performance wird zu einem Phänomen, das alle Beteiligten zu Akteur/innen macht. Etymologisch leitet sich das Wort „Performance“ sowie das Eigenschaftswort „performativ“ vom englischen Begriff „to perform“ ab, der sich auf jede Form des Handelns bezieht. Fischer-Lichte ortet in der theatralen Performance gleichzeitig eine referentielle und eine performative Funktion. Während sich die referentielle Funktion auf die Ebene der Darstellung bezieht und semiotisch Figuren, Beziehungen und Situationen entwirft, ist die performative Funktion auf den konkreten Handlungsvollzug der Agierenden (Darstellende wie Zuschauende) und dessen unmittelbare Wirkung bezogen. Fischer-Lichte geht in der Performancekunst von einer Doppelung von Leib-Sein und Körper-Haben aus. Sie ortet einen phänomenalen Leib und einen semiotischen Körper. Die Physis des/der Performenden kann jedoch nicht als vollständig form- und beherrschbares Material, mit dem in der Kunst gearbeitet wird, vorausgesetzt werden. Es existiert eine Dichotomie zwischen dem realen und dem gespielten Körper. Der phänomenale, sinnliche Leib wird im theatralen Rahmen in einen semiotischen, Zeichen tragenden Körper transformiert. Fischer-Lichte spricht von einer bindenden Ko-Existenz der Körper, die die Zusehenden in theatralen Situationen als selbstverständlich betrachten. „Performativität führt zu Aufführungen bzw. manifestiert und realisiert sich im Aufführungscharakter performativer Handlungen.“14 Eine Aufführung kann nur dann stattfinden, wenn Publikum vorhanden ist. Die Präsenz von Akteur/innen und Zusehenden ist obligatorisch, beide Seiten müssen zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort präsent sein. Die Aufführung ist zwar in ihrem Kernkonzept wiederholbar, zu besagtem Zeitpunkt aber einmalig. Folgt eine Inszenierung einem Konzept, das von einem oder mehreren Kunstschaffenden erstellt wurde, folgt eine Performance zwar auch einem vorgegebenen Entwurf, kann aber pro Aufführung abweichen. Diese Annahme ist vergleichbar mit einem Konzert, das eine Setlist/Liederabfolge hat, aber im Moment der Aufführung durch nicht vorhersehbare Ereignisse seine Individualität erhält. Trifft eine Gruppe unterschiedlicher Menschen mit verschiedenen Stimmungen, Bedürfnissen, Ansprüchen aufeinander ist ein solches Geschehen unvermeidbar, jede/r trägt einen individuellen Aspekt zu diesem bei. Die Handlung, die der/die Performende erzeugt, erschafft eine für ihn/sie und das Publikum neue, eigene Realität. Ziel dieser ist, dass sie von einem Publikum erlebt wird. Dieses reagiert körperlich auf das Geschehen, in dem es Emotionen wie Lachen, Klatschen, Weinen zeigt. Alles, was die Figuren während der Per-

14 Ebenda, S. 41.

14 | Aufführungsrituale der Musik

formance machen, stößt auf Publikumsreaktion. Dies geschieht symbiotisch, denn auch alles, was das Publikum tut, beeinflusst den/die Akteur/in. Der Ablauf einer Performance ist somit nicht vollkommen vorhersehbar, weil er durch gewisse, momentane Geschehnisse beeinflusst werden kann. Der französische Schriftsteller und Philosoph Denis Diderot (1713 – 1784) vertrat bereits die Meinung, dass im Blick des Zuschauenden eine Illusion entsteht und dadurch die auf die Figur bezogenen Emotionen hervorgerufen werden. Aufgabe der Darstellung ist es, diese Illusion nicht zu zerstören. „Berührung hat in diesem Konzept nur auf der metaphorischen Ebene einen Platz: Es sind die ‚rührenden‘, die ‚berührenden‘ Stellen, die Emotionen auslösen; es sind die ‚Mienen und Gebärden‘ des Schauspielers, die über den Weg der visuellen Wahrnehmung, des Blicks, den Zuschauer zu ‚berühren‘ vermögen, in ihm ein Gefühl der Nähe zur dargestellten Figur entstehen lassen.“

15

Das angesprochene Konzept des ‚Berührens‘ ist auch auf beim Publikum besonders beliebte Bühnenfiguren bzw. „Stars“ anwendbar. Diese bieten eine besondere Projektionsfläche für Wünsche und Erwartungen des Publikums. Der „Blick“ ist nach Fischer-Lichte, die sich in diesem Punkt auf Diderot bezieht, entscheidend. Dies lässt sich auch auf Performativität im Bereich der Musik anwenden. Eine Aufführung ist somit immer an den/die Künstler/in gebunden, der/die diese durchführt. Gelingt es nicht nur den Bühnenraum, sondern den gesamten Raum zu beherrschen, dann tut der/die Musiker/in dies „indem er – auf geheimnisvolle, ‚magische‘ Weise – auf den Zuschauer einwirkt und ihn dazu bringt, seine ganze Aufmerksamkeit ungeteilt auf ihn zu fokussieren.“16 Aufführungen mit ihren individuellen Inszenierungen und Wirkungen folgen einem konkreten Ziel, nämlich der „Wiederverzauberung der Welt“. FischerLichte beschreibt mit diesem Begriff jene Einwirkungen, die während einer Aufführung das Publikum rühren. Die dadurch entstehende Schwellenerfahrung – jenseits des Alltags – erlaubt es dem/der Akteur/in das Publikum für sich einzunehmen, es zu beeinflussen und schließlich zu transformieren. Fischer-Lichte beschreibt jene Schwellen als „magische Orte“17. Dem Publikum wird die Möglichkeit einer positiven Erfahrung wie die Erlangung von Erkenntnis oder die Übernahme moralischer Prinzipien zugestanden. Die Aspekte der Wiederverzauberung und Magie sind auch im Musikleben zu finden. Spricht man von Stars

15 Ebenda, S. 103. 16 Ebenda, S. 165. 17 Ebenda, S. 315ff.

1 Wissenschaftstheoretische Grundlagen | 15

und ihren Fans, die in jeder Sparte der Musikwelt vorhanden sind, findet man genau diese Wirkung, diese Momente als das Ziel der künstlerischen Arbeit. Kompositionen, gesangliche und instrumentale Fähigkeiten, Gesten und Gebärden, visuelle Gestaltungen etc. finden auf der Bühne statt, um das Publikum in den Bann zu ziehen und eine Schwellenreaktion auszulösen. 1.2.1 Die Performativitätstheorie nach Judith Butler Judith Butler begründete das performative Modell von Geschlecht, in welchem die Kategorien männlich und weiblich als Produkt einer Wiederholung von Handlungen verstanden werden. Die natürliche oder unausweichliche Vorgabe wird hierdurch dekonstruiert.18 Nach der Soziologin Paula-Irene Villa19 gilt Judith Butler als Gallionsfigur für den linguistic turn in der Frauen- und Geschlechterforschung. Die Sprache steht im Zentrum der Forschung, der Diskurs wird zum Modus der Konstruktion sozialer Wirklichkeit. Die diskursive Verbindung von (Zwangs-)Heterosexualität, Geschlechtsidentität und Reproduktion formiert nach Butler das binäre System der Zweigeschlechtlichkeit. Dieses System ist nicht naturgegeben, sondern sozial und kulturell konstruiert. Das System der Zweigeschlechtlichkeit, das durch machtstrukturierte und auch naturwissenschaftliche Diskurse gestützt wird, erscheint alternativlos und somit als naturgegeben. Durch Butlers Arbeit gelingt es, das Konstrukt Geschlecht zu entnaturalisieren, denn „es gibt keine Ontologie der Geschlechtsidentität“20. Die angebliche Natürlichkeit des Geschlechts wird infrage gestellt. Der Geschlechtskörper, der bei Butler als sex bezeichnet wird, wird als Ausdruck hegemonialer Diskurse entlarvt. „Die Kategorie des sex ist von Anfang an normativ; sie ist, was Foucault ein regulierendes Ideal genannt hat. In diesem Sinne fungiert das biologische Geschlecht demnach nicht nur als eine Norm, sondern ist Teil einer regulierenden Praxis, die die Körper herstellt, die sie beherrscht, das heißt, deren regulierende Kraft sich als eine Art produktive Macht erweist, als Macht, die von ihr kontrollierten Körper zu produzieren [...] Anders gesagt, das biologische Geschlecht ist ein ideales Konstrukt“.21

18 Vgl. Butler 1991, S. 25. 19 Vgl. Villa 2012, S. 11f. 20 Butler 1991, S. 217. 21 Butler 1997, S. 21.

16 | Aufführungsrituale der Musik

Zu Butlers Forschungsschwerpunkten zählen die feministische Theorie als kritische Analyse der Geschlechterdifferenz sowie damit verflochtene Fragen von Materialität, Körper und Sexualität, die Diskurs- und die Subjekttheorie. Das Verständnis der Verflechtung von Subjekt und Macht bildet den Ausgangspunkt von Butlers Arbeit. Körper sind immer an ihre kulturspezifische Wahrnehmung gebunden. Das gängige Ideal des sozialen Geschlechts und des biologischen Geschlechtskörpers wird in Butlers Theorie negiert. Hierbei gerät in weiterer Folge auch die Kategorie Frau22 als Subjekt im Feminismus ins Wanken. Butlers Theorie besagt im Sinne Foucaults, dass die subjektbezogene Wahrheit der Sexualität nicht natürlich gegeben ist, sondern durch Regulierungsverfahren erzeugt wird. „Die Vorstellung, daß es eine Wahrheit des Sexus geben könne, wie Foucault ironisch behauptet, wird gerade durch die Regulierungsverfahren erzeugt, die durch die Matrix kohärenter Normen der Geschlechtsidentität hindurch kohärente Identitäten hervorbringen“.23

Nach Judith Butler ist jeglicher Blick auf die Welt diskursiv gerahmt, hierbei stützt sie sich auf die Sprechakttheorie von John L. Austin, die jenen Akt als performativen Sprechakt definiert, der das, was er benennt, in Kraft setzen kann. Diskursive sprachliche Macht gilt nach Butler als das „fundamentale Konstruktionsprinzip von Wirklichkeit“24. Butler sieht in Sprechakten Zitate, die Handlungsspielräumen schaffen, deren Wiederholungen kritisch nutzbares Potential widerspiegeln. Sprachliche Performativität ist eine sich „ständig wiederholende und zitierende Praxis“25. Sprache erschafft also eine soziale Wirklichkeit. Sprechakte sind omnipräsent, sie sind ritualisiert und somit wiederholbar. „Das Sprechen wird nämlich durch den gesellschaftlichen Kontext nicht nur definiert, sondern zeichnet sich auch durch die Fähigkeit aus, mit diesem Kontext zu brechen. Die Performativität besitzt eine eigene gesellschaftliche Zeitlichkeit, indem sie gerade durch 26

jene Kontexte weiter ermöglicht wird, mit denen sie bricht“.

Eine Äußerung ist also immer mehrdeutig definiert, zwischen dem, was gesagt, und dem, was gemeint ist, existiert eine Kluft. Das sprechende Subjekt ist in sei-

22 Vgl. Butler 1991, S. 15f. 23 Butler 1998, S. 38. 24 Bublitz 2010, S. 8. 25 Butler 1997, S. 22. 26 Butler 2006, S. 69.

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ner Konventionalität nicht individuell, sondern ist Teil einer „historischen Sprechgemeinschaft“27, deren Konsens Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft abdeckt. Das Subjekt zitiert und wird gleichermaßen wieder zitiert. Der Sprechakt, die performative Aussage, ist nicht an die Vergänglichkeit des Individuums gebunden. Im Sinne des kulturellen Gedächtnisses nach Assmann 28 ist die performative Äußerung an die kontinuierliche Verwendung von bestimmten Menschen angewiesen, um ihre Bedeutung – also ihren Machtanspruch – weiterzutragen. In Anlehnung an die sprachphilosophischen Überlegungen Austins und Derridas erweitert Judith Butler in den Schriften Gender Troubles und Haß spricht ein Performativitätskonzepts, das sich auf den aktiven Einfluss des Individuums an der Bildung und Formung seiner Identität bezieht. Die Performativität wird zu einem sich kontinuierlich wiederholenden Prozess von Zeichenhaftigkeit. Die angesprochenen Zeichen, auch als semiotische Einheiten bezeichnet, korrespondieren sowohl auf der symbolischen Ebene, also in der Sprache, als auch auf der Ebene der Körperzeichen. Worte kommunizieren einerseits die Vorstellung von Geschlechtlichkeit und manifestieren andererseits das Verständnis von Geschlecht. Dadurch wird der Blick auf den menschlichen Körper formiert und durch geschlechterspezifische Ausprägungen definiert. Dies bezeichnet unter anderem Gesten oder die Form bestimmter Körperteile. Die Symbiose von sprachlichen und körperlichen Zeichen erlaubt keinen Rückschluss auf eine primäre symbolische oder verkörperlichte Existenz der binären Geschlechtsvorstellung. Das Fehlen eines Prototyps für ein authentisches Sein lässt den Körper, in diesen eingeschlossen das soziale und das biologische Geschlecht, als Projektionsfläche für die Inszenierung von Geschlechtlichkeit agieren. Butler spricht nicht nur von einer Form der Selbst-Stilisierung, vielmehr schließt dies einen performativen, einen inszenierenden Akt ein. „[…] einen Akt, der sowohl intentional als auch performativ ist, wobei der Begriff performativ auf eine inszenierte, kontingente Konstruktion der Bedeutung verweist“.29 Die Macht der Sprache darf nicht nur in ihrer deskriptiven Funktion gesehen werden, sie findet ihren Ansatz in der Wirkungsweise, die ihr situationsbezogen zuteil wird. Die Geschlechterzugehörigkeit existiert nach Judith Butler nicht als stabile Identität, von der performative Akte ausgehen, sie entsteht erst durch die Wiederholung dieser Akte. Identität ist nicht nur konstruiert, sondern eine stilisierte Wiederholung von Akten und gleichzeitig eine performative Leistung. Die Ent-

27 Ebenda, S. 70. 28 Assmann 2013, S. 130ff. 29 Butler 1991, S. 200.

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naturalisierung von Geschlechteridentität soll diese zugänglich für andere Formen der Konstitution machen. „Während theatralische oder phänomenologische Modelle das geschlechtlich bestimmte Selbst als seinen Akten vorhergehend betrachten, werde ich Konstitutionsakte nicht nur so verstehen, dass sie die Identität des Akteurs konstituieren, sondern so, dass sie diese Iden30

tität als zwingende Illusion konstituieren, als einen Gegenstand des Glaubens“.

Butler argumentiert auf der Ebene der Phänomenologie und demonstriert, dass Geschlechteridentität als performative Leistung, erzwungen durch gesellschaftliche Interventionen und Tabus, gedacht werden muss. Der Rückbezug führt zu Simone de Beauvoir, die in Le Deuxième Sexe in den Begriffen Frau und Mann eine historisch begründete Situation und kein natürliches Faktum sieht. 31 Der Körper wird zum Träger kultureller und historischer Bedeutungen, zu einer Verkörperung von Möglichkeiten durch historische Gegebenheiten, die den Prozess erweitern oder auch beschneiden können. Die Repräsentation des weiblichen Geschlechtes heißt im Sinne Butlers, sich an die historisch binären Konzepte Frau und Mann anzupassen. Dieser Prozess geschieht nicht freiwillig, sondern sichert viel mehr das Überleben in der konservativen Kultur. In der Untersuchung von Aufführungsritualen der Musik kommt den Aspekten der körperlichen Performance auf der Bühne, im Publikum bzw. in Videoclips eine zentrale Bedeutung zu. Die Symbiose von sprachlichen, gesanglichen und sonstigen körperlichen und medialen Zeichen konstituiert – verstärkt durch ihre oftmalige Wiederholung – geschlechtliche Identitäten. Dabei werden etablierte binäre Konzepte sowohl bestätigt und weiter tradiert als auch aufgebrochen und in Frage gestellt. Dies gilt es in unserer Studie entsprechend zu berücksichtigen.

1.3 DIE UHR DER FIGUR Als zentrales Element von Performance im Bereich der Künste wird in der vorliegenden Studie die „Figur“ angenommen. Hierfür wurden die Kategorien der „Uhr der Figur“ nach Jens Eder als geeignet empfunden. Eder beschäftigt sich in „Die Figur im Film: Grundlagen der Figurenanalyse“ (2008) mit den Ansätzen der Figurenanalyse aus den diversen Richtungen und Schulen der Filmwissen-

30 Butler in Wirth 2002, S. 302. 31 Vgl. ebenda, S. 303.

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naturalisierung von Geschlechteridentität soll diese zugänglich für andere Formen der Konstitution machen. „Während theatralische oder phänomenologische Modelle das geschlechtlich bestimmte Selbst als seinen Akten vorhergehend betrachten, werde ich Konstitutionsakte nicht nur so verstehen, dass sie die Identität des Akteurs konstituieren, sondern so, dass sie diese Iden30

tität als zwingende Illusion konstituieren, als einen Gegenstand des Glaubens“.

Butler argumentiert auf der Ebene der Phänomenologie und demonstriert, dass Geschlechteridentität als performative Leistung, erzwungen durch gesellschaftliche Interventionen und Tabus, gedacht werden muss. Der Rückbezug führt zu Simone de Beauvoir, die in Le Deuxième Sexe in den Begriffen Frau und Mann eine historisch begründete Situation und kein natürliches Faktum sieht. 31 Der Körper wird zum Träger kultureller und historischer Bedeutungen, zu einer Verkörperung von Möglichkeiten durch historische Gegebenheiten, die den Prozess erweitern oder auch beschneiden können. Die Repräsentation des weiblichen Geschlechtes heißt im Sinne Butlers, sich an die historisch binären Konzepte Frau und Mann anzupassen. Dieser Prozess geschieht nicht freiwillig, sondern sichert viel mehr das Überleben in der konservativen Kultur. In der Untersuchung von Aufführungsritualen der Musik kommt den Aspekten der körperlichen Performance auf der Bühne, im Publikum bzw. in Videoclips eine zentrale Bedeutung zu. Die Symbiose von sprachlichen, gesanglichen und sonstigen körperlichen und medialen Zeichen konstituiert – verstärkt durch ihre oftmalige Wiederholung – geschlechtliche Identitäten. Dabei werden etablierte binäre Konzepte sowohl bestätigt und weiter tradiert als auch aufgebrochen und in Frage gestellt. Dies gilt es in unserer Studie entsprechend zu berücksichtigen.

1.3 DIE UHR DER FIGUR Als zentrales Element von Performance im Bereich der Künste wird in der vorliegenden Studie die „Figur“ angenommen. Hierfür wurden die Kategorien der „Uhr der Figur“ nach Jens Eder als geeignet empfunden. Eder beschäftigt sich in „Die Figur im Film: Grundlagen der Figurenanalyse“ (2008) mit den Ansätzen der Figurenanalyse aus den diversen Richtungen und Schulen der Filmwissen-

30 Butler in Wirth 2002, S. 302. 31 Vgl. ebenda, S. 303.

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schaft – strukturalistische, psychoanalytische und kognitive Theorien – sowie den Versuchen mehrere Ansätze zu vereinen. Zusätzlich schafft er ein differenziertes, umfassendes Analysemodell, welches die erwähnten interdisziplinären Vorarbeiten aufnimmt und integriert. Eders Konzept der Figurenanalyse umfasst fiktive Personen, also Figuren in Film, Fernsehen und Videoclips, ihre Eigenschaften, ihr Handeln, ihre Typisierung und die emotionale Anteilnahme, die sie bei Zuschauern auslösen. Das Innovative an Eders Ansatz stellt sein Einbinden der Rezeption dar. Die Analyse einer Figur ist laut Eder unvollständig, wenn sie nur auf der Ebene der verbildlichten Darstellung – also der Performance – verharrt ohne die Rezeption mit einzubinden. „Figurenanalyse ist im Grunde nichts anderes als eine systematische Rekonstruktion und Elaboration verschiedener Rezeptionsformen auf der Basis möglichst genauer Daten und Beobachtungen.“32 Die Figurenanalyse macht nicht nur Aussagen über die analysierten Figuren, sondern auch über die verschiedenen Möglichkeiten ihrer Rezeption. Bei der Figurenanalyse ist zu beachten, dass Figuren durch kommunikative Aushandlungsprozesse entstehen. Im Rahmen dieser Analyse werden nicht nur die Figuren selbst, sondern auch die verschiedenen Prozesse der Figurenrezeption untersucht. Hierbei spricht Eder von der empirischen Rezeption, also der Rezeption auf der Ebene der Zusehenden, der intendierten Rezeption, die die Absicht des/der Filmemachers/in einschließt und der idealen Rezeption (die Art wie diese erlebt werden würde, wenn Filminformationen, Intention der Autor/innen und Interessen der Zuschauer/innen auf optimale Weise korrespondieren würden). Eder spricht die Psychologie der Figurenrezeption an. Diese durchläuft auf verschiedenen Ebenen emotionale und kognitive Prozesse: Wahrnehmung, mentale Modellbildung, Erschließung indirekter Bedeutungen, Schlüsse auf kommunikative Kontexte und Reflexionen über ästhetische Gestaltung. Diese aufeinander aufbauenden Rezeptionsebenen bilden die Grundstruktur für die Figurenanalyse. Figuren werden auf fünf Rezeptionsebenen, durch spezifische kognitive und emotionale Prozesse, gekennzeichnet: Wahrnehmung von Figurendarstellung, Bildung von Figurenmodellen, Erfassung indirekter Bedeutung, Erschließung kommunikativer Kontexte sowie ästhetische Reflexionen.33 Eder teilt in seiner Analyse die Figur in vier Ebenen der Betrachtung: aus ästhetischer Sicht als Artefakte, aus diegetischer Sicht als fiktives Wesen, aus thematischer Sicht als Symbole und aus pragmatischer Sicht als Symptome.34 Diese vier Ebenen stellt Eder als „Uhr der Figur“ dar:

32 Eder, 2008, S. 133. 33 Vgl. ebenda, S. 133f. 34 Vgl. ebenda, S. 140.

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Grafik 1: Die Uhr der Figur

Quelle: Eder 2008, S. 141.

Eder ordnet seinem Modell vier Betrachtungsaspekte zu. Die Figurenanalyse widmet sich demgemäß folgenden Aspekten: „Die Figur als Artefakt“, „Die Figur als fiktives Wesen“, „Die Figur als Symbol“ und „Die Figur als Symptom“. Bevor der/die Zuseher/in eine filmische Figur identifiziert, nimmt er/sie diese bereits anhand ihres audiovisuellen Auftretens wahr. Auf der basalen Wahrnehmungsebene wird die Figur zunächst mit Hilfe vorbewusster Codes interpretiert. Die „Figur als Artefakt“ meint die sinnlich wahrnehmbare Gestalt der Figur und ihre Komponenten wie Körper, Alter, Geschlecht, Herkunft, Kostüm, Frisur, Maske, Requisiten, Stimme, Beleuchtung etc. im Sinne der Intentionen der Filmemacher/innen. Figuren werden im Film also als Artefakte durch audiovisuelle Mittel gestaltet – sie werden entweder durch Schauspieler/innen dargestellt oder künstlich animiert. Aus diesen Eindrücken erstellen die Zusehenden eine eigene Interpretation der Figur, der sie charakteristische Eigenschaften zuschreiben. „Figuren als fiktive Wesen“ zeichnen sich durch körperliche, mentale und soziale Merkmale aus. Sind die Eigenschaften des fiktiven Wesens durch Handlungsstränge von Szenen erfasst, können die Zusehenden diese als Zeichen begreifen, die über die filmische Fiktion hinausreichen und Assoziationen zu übergeordneten Themen/Aussagen herstellen. Die „Figur als Symbol“ untersucht diese verschiedenen Bedeutungen, die in Figuren hineingelesen werden können: ihren symbolischen Gehalt. Die Ergebnisse der bisherigen Rezeption erlauben auch ein Hineinlesen, eine Diagnose realer historisch-gesellschaftlicher Zustände und Verhältnisse. Die Analyse der „Figur als Symptom“ nimmt sich dieser Zusammenhänge an und beschäftigt sich mit dem historisch politischen Kontext, in dem die Filmfigur entstanden ist und ihre Wirkung entfaltet. Die Gestaltungsweise der Figur kann schließlich auf jeder der beschriebenen Ebenen reflektiert werden, sie schließt den Kreis zur Figur als Artefakt. Der Einsatz der Kreisform demonstriert, dass es sich nicht um ein abgeschlossenes Modell handelt. Die Aspekte der Figur, die untersucht werden, kön-

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nen in Wechselwirkung miteinander stehen. Die vier behandelten Rezeptionsaspekte ermöglichen es, Figuren nicht nur als imaginäre Personen, sondern auch als Symbole oder Zeichen zu behandeln. Figuren sind Teile eines Gesamtsystems. Das Modell „Die Uhr der Figur“ erlaubt es, Komponenten wie Hierarchien, Kontraste, Kommunikation oder Interaktion zur Untersuchung hinzuzuziehen. Eder führt dies in einer Vertiefung seines Modells aus: Die Figur steht ihrem Kontext gegenüber, als Haupt- oder Nebenfigur agiert sie in einer bestimmten Aufmerksamkeitshierarchie, als Protagonist/in oder Antagonist/in in einem Feld von Konfliktsituationen und in bestimmten Handlungsräumen. Ein vorhandenes Wertesystem definiert die Figur als gutes oder böses fiktives Wesen. Werte, Wünsche, Triebe und Emotionen bestimmen die Motivationen im Handlungsraum. Handlungsmotivierte Wünsche der Figur stehen in engem Kontext mit dem Sujet des Films. Eder spricht außerdem die emotionale Wirkungsform der Figur an. Das Einbinden der Rezipienten/innen wurde bisher filmtheoretisch allein auf die Identifikationsfläche, die die Figur darstellt, beschränkt. Eder spricht von „einem Netzwerk der imaginativen Nähe zu Figuren“35, das durch mehrere Faktoren gebildet wird. Zu diesen zählen: empfundene räumliche Nähe, zeitliches Begleiten, Verstehen des Innenlebens und partielle Perspektivenübernahme, soziale Vergleiche, Identitäts- und Gruppenzuordnung, Gefühle der Vertrautheit und Ähnlichkeit, Wunschprojektionen, imaginierte Interaktion und – damit verbunden – emotionale Anteilnahme. Das Schicksal des fiktiven Wesens kann Empathie und Sympathie bei den Rezipierenden auslösen. Ein emotionaler Bezug zur eigenen Identität des Rezipierenden wird hergestellt. 1.3.1 Die Figur als Artefakt Figuren werden auf dieser Ebene in ihrem Verhältnis zu den Strukturen und Informationen des Films untersucht. Hierbei steht der Aspekt der vorbewussten Wahrnehmung im Fokus. In einem letzten Schritt der Figurenanalyse kann dieses Wahrnehmungserlebnis nochmals ästhetisch reflektiert werden. Die Grundfrage „Wie und durch welche Mittel wird die Figur dargestellt?“ wird in diesem Schritt der Figurenanalyse beantwortet. Die Darstellungsweise der Figur kann mit Hilfe einer Vielzahl von filmischen Darstellungsmitteln betrachtet werden. Produktionsbezogene Aspekte wie die Besetzung, Mis-en-scéne (Inszenierung: Maske, Kostüm, Licht, Set, Design), das Image, der Schauspielstil, die Kameraführung, die Tongestaltung oder Musik sind hilfreich bei der Beschreibung der sinnlichen Inszenierung von Figuren. Figurenbezogene Informationen aus dem

35 Ebenda, S.149.

22 | Aufführungsrituale der Musik

Handlungsverlauf umfassen die Frage nach dem „Wie“ der Inszenierung. Wie werden verschiedene Funktionen oder Relevanzen durch Darstellungsmittel, Zeichensysteme und Kommunikationswege filmisch vermittelt? Die figurenbezogenen Informationen werden zumeist in Sequenzen gebündelt übermittelt. Bereits ohne Vorwissen bezüglich des Films werden Figuren ArtefaktEigenschaften zugeschrieben. Zu diesen zählen Typisierung, Komplexität, Transparenz, Mehrdimensionalität, Dynamik und ihre jeweiligen Gegenpole. Bestimmte Artefakt-Eigenschaften sind schon in den Ursprüngen der Filmgeschichte zu finden, haben sich im Verlauf dieser zu Charakteristika für die Figurengestaltung zusammengefunden (z.B.: der Blick des Bösewichts, die tanzende Verführerin etc.) Diese Eigenschaften beeinflussen die ästhetische Zuordnung von Figuren auf der Ebene der Rezipient/innen. „Der dominanten Figurenkonzeption des Mainstream-Realismus zufolge sollen Hauptfiguren individuell, autonom, mehrdimensional, dynamisch, transparent, einfach verständlich, konsistent und dramatisch sein.“36 Figuren können nach Eder dann als Artefakt untersucht werden, wenn man ihre Inszenierung anhand filmischer Stilmittel, der Informationsvorgabe auf Produktionsseite, dem Zusammenspiel von ArtefaktEigenschaften und die Zusammensetzung von bereits vorhandenen filmischen Figurenkonstellationen miteinbezieht 1.3.2 Die Figur als fiktives Wesen Die Frage, welche Merkmale, Verhaltensweisen bzw. Beziehungen die Figur als Bewohnerin einer fiktiven Welt aufweist, ist der Fokus der Untersuchung der Figur als fiktives Wesen. Die Figur wird von den Rezipienten/innen als denkendes, handelndes und fühlendes Wesen betrachtet. Durch den Illusionsbruch – durch die vierte Wand – ist dem/der Zuseher/in bewusst, dass die fiktive Figur und der/die Darsteller/in sich voneinander unterscheiden. Der Sänger, der im Musikvideoclip die Rolle des Liebhabers einnimmt, wird in der Figurenanalyse als fiktives, diegetisches Wesen wahrgenommen und nicht als Sänger einer bestimmten Band; in dieser Position agiert er vielfach auch als Kunstfigur. Jens Eder definiert Körperlichkeit, Psyche und Sozialität als die „drei allgemeinsten Eigenschaftsbereiche des Menschen“37. Die Analyse der Körperlichkeit erfolgt auf Basis von optischen Kategorien wie Alter, Körperform und Geschlecht und auch auf Konzepten der non-verbalen Kommunikation. Optische Erscheinungen und die Körpersprache können anhand von Gesicht, Gestalt, Mimik, Gestik, Blick-

36 Ebenda, S. 718. 37 Ebenda, S. 714.

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verhalten, Haltung, Frisur und Kleidung beschrieben werden. Für die Wahrnehmung und Zuschreibung psychischer Eigenschaften sind Sprechakte (Monologe, Dialoge) von entscheidender Bedeutung. Die Sozialität der Figur kann aus ihrem Verhalten in einer sozialen Gruppe, ihrer Zugehörigkeit zu einer oder mehreren, aus ihren Interaktionen mit und Beziehungen zu anderen Menschen und ihrer Macht-/Ohnmachtsposition (Status) untersucht werden. Die Untersuchung der Persönlichkeit einer Figur erfolgt durch die Frage, was das fiktive Wesen in Hinblick auf seine Wahrnehmung, Emotion und Motivation auszeichnet. Das fiktive Wesen wird nicht nur auf der diegetischen Ebene – also der Ebene des Dargestellten – analysiert. Sozialität und Psyche von Figuren wird häufig anhand von Faktoren wie Aussehen, Verhalten, Sprache, Erscheinung in einem situativen Kontext interpretiert. Zusätzlich sind es auch Elemente aus der nichtdiegetischen Welt wie z.B. Filmmusik, Off-Kommentare oder die Bildgestaltung, die zur Konstruktion einer Figur als fiktives Wesen beitragen. 1.3.3 Die Figur als Symbol Jens Eder meint mit dem Terminus Symbol jegliche Form von semiotischer Bedeutung, die die Figur in der Diegese vermitteln soll. Die Frage, wofür die Figur steht (wofür wird sie als Symbol eingesetzt?) wird untersucht. Für diese Untersuchung ist eine vorangehende Analyse der Figur als Artefakt und der Figur als fiktives Wesen unumgänglich. Der Fokus dieses Aspekts liegt im Erschließen von indirekter Bedeutung. Die Rezeption und Interpretation von Filmen beschäftigt sich hauptsächlich mit der Analyse der Figuren als Symbole. Die Untersuchung der Symbolik sollte nicht nur auf der Ebene der Drehbuchautor/innen, Regisseur/innen und Produzent/innen stattfinden, sondern muss vor allem auf der rezeptionsbezogenen Ebene ansetzen. „Im Bereich der Symbolik wandelt sich die Frage, welche indirekten Bedeutungen Figuren haben, zu der Frage, auf welche Bedeutungen die Zuschauer schließen [...]“38. Informationen zu den Charakteren, die bereits auf den vorangehenden Ebenen erfasst wurden, werden von den Rezipierenden weiterverarbeitet. Mit den optisch erkennbaren Eigenschaften der Figur als fiktives Wesen kann z.B. die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, oder mythische Bedeutungen, religiöse Zugehörigkeit assoziiert werden. Dies kann über die Beobachtung der Entwicklung und Eigenschaften einer Figur, metaphorische Verbindungen oder der Wahrnehmung von Ähnlichkeit/Analogien geschehen. Bestimmte Figuren können dadurch zu Allegorien, Thementrägern oder Schlüsselfiguren werden. Bereits in der frühen Theatergeschichte kam es

38 Ebenda, S. 723.

24 | Aufführungsrituale der Musik

zum Einsatz von bestimmten Typen. Dies findet sich auch in filmischen Verarbeitungen wieder. Im Film existiert zum Beispiel neben dem Helden auch der Antiheld, beide Typen sind wiederum in Unterkategorien teilbar. Denkt man musikbezogen, wäre z.B. die Selbstinszenierung des US-amerikanischen Popmusikers „Beck“ im Song und Musikvideoclip „Loser“ beispielsweise eine als Antiheld. Die Inszenierung der Figur als Symbol kann so auch zum Einsatz von unterschwelliger Propaganda in Unterhaltungsformaten verwendet werden. „Die Funktionen der Figur als Symbol bestehen unter anderem in der Herstellung lebensweltlicher Bezüge, der Verdichtung des Komplexen, der Konkretisierung des Abstrakten, der Darstellung des Tabuisierten sowie der Anregung von Imagination und Emotion auf Seiten der Zuseher.“39 Die indirekte Bedeutung von Figuren kann auch über den filmischen Kontext hinausreichen. Dies führt zur Betrachtung der Figur als Symptom. 1.3.4 Die Figur als Symptom Dieser Aspekt untersucht die Figur als Verweis auf Kommunikationsphänomene außerhalb der Diegese, also in der realen Welt. Sie kann Sprachrohr für die Intentionen des/der Regisseur/in sein und hat bestimmte Wirkungen auf das Publikum. Jens Eder wirft die Frage auf „Aufgrund welcher Ursachen ist die Figur so, und welche Wirkung hat sie?“40 Die Symptomatik ist für die kritische Filminterpretation und die Frage nach der Filmrezeption von wesentlicher Bedeutung. Sie gibt Auskunft über den soziokulturellen Hintergrund eines Films oder zum Beispiel über die Mentalität einer bestimmten Gemeinschaft. Das Symptom bezeichnet in Jens Eders Theorie auch die Reflexionsgedanken der Rezipient/innen über bestimmte Figuren als soziokulturelle Faktoren im diegetischen Kontext. Figuren hängen mit der Sozialisation und Kreativität der jeweiligen Filmemacher/innen zusammen und werden häufig auch als Prototyp für bestimmte Menschenbilder gestaltet. Figuren sind mit der Realität auf vielschichtige Weise verbunden, sie entspringen dieser und führen gleichzeitig auf diese zurück. „Warum diese Aspekte von Figur hier unter dem Oberbegriff ‚Symptom‘ zusammengefasst werden, ist erklärungsbedürftig. In der Medizin ist mit ‚Symptom‘ ein wahrnehmbares Krankheitszeichen gemeint; in der Psychoanalyse eine Manifestation unbewusster Wünsche in Form von Erlebnis- und Verhaltensweisen meist psychopathologischer Art. Bordwells ,symptomatic meaning‘ spielt auf diesen krankheitsbezogenen Sinn an. Wenn

39 Ebenda, S. 540. 40 Ebenda, S. 712.

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ich dagegen von Figuren als Symptomen spreche, verwende ich den Begriff in seiner allgemeinsten, alltagssprachlichen Bedeutung: Figuren können – beim ‚normalen‘ FilmSehen wie auch bei der systematischen Filmanalyse – charakteristische Anzeichen für Gegenstände oder Vorgänge sein, mit denen sie kausal verknüpft sind.“

41

Aus den Interaktionen einer Figur können Rückschlüsse auf persönliche Intentionen des/r Filmemachers/in, auf soziokulturelle Aspekte und auf historischgesellschaftliche Konstellationen gezogen werden. Die Figur als Symptom bildet also ein Bindeglied zwischen Realität und fiktiver Erzählung. Die Analyse dieses Aspekts untersucht die Motivation der Ausstattung einer Figur mit bestimmten Eigenschaften (Artefakt, fiktives Wesen, Symbol), aber auch deren Auswirkungen auf die Zusehenden. Bei der Analyse der Figur als Symptom kommen verschiedene Ansätze der Interpretation zum Einsatz. Biografische, soziologische, historische und psychologische Ansätze können in einzelnen Disziplinen wie Gender Studies, Queer Studies, Geschichtswissenschaft, Psychoanalyse etc. vertieft werden. Bei der Analyse der Figur als Symptom bildet der/die Analysierende ein eigenes Gerüst zur Analyse oder versucht eine Rekonstruktion der „Kontextmodelle bestimmter Zuschauer(gruppen)“42. Der Aspekt der Figur als Symptom erzeugt in jedem Fall eine Analyse auf verschiedenen Ebenen, die erstens die Intentionen des/der Filmemachers/in und die Rahmenbedingungen und kulturellen Kontexte umfassen. Die individuelle bzw. kollektive Wirkung der Figur auf die Zusehenden steht an zweiter Stelle. Diese kann identitätsstiftend sein oder zumindest zur Identitätsbildung beitragen und reale Prozesse des sozialen Interagierens beeinflussen. Das kommunikative Zusammenspiel zwischen den Filmemachenden und ihrem Publikum ist die dritte Analyserichtung. Der figurenanalytische Ansatz von Jens Eder erscheint für die Analyse von Aufführungen von Musik in vieler Hinsicht fruchtbar zu sein. Auch musikalische Performances arbeiten mit Artefakten und fiktiven Wesen, die vielerlei symbolische und symptomatische Aspekte aufweisen. Die „Uhr der Figur“ ist daher weitgehend in das Forschungsinstrument der Studie „Performing Diversity“ eingeflossen.

41 Ebenda, S. 541. 42 Ebenda, S. 544.

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1.4 STILFELDERTHEORIE Die Inszenierung von Figuren ist im Bereich der Musik auch abhängig von den Konventionen des Genres, in dessen Rahmen sie sich präsentieren. Wie aber kann die Vielfalt der Genres, Stile und Substile der Musik übersichtlich gemacht werden? Einen Ansatz, die Diversität der Musik der Gegenwart darzustellen, liefert die Stilfeldertheorie. Die Habilitationsschrift „Der Song und die Stilfelder der Musik“43 entwickelt ein sogenanntes Kugelmodell der Stilfelder der Musik. 1.4.1 Bourdieus „Feld“-Begriff als Vorlage für den Begriff „Stilfeld“ Der Begriff „Stilfeld“ bezieht sich auf den „Feld“-Begriff der Kultursoziologie von Pierre Bourdieu. Formen und Werkgestalten von symbolischen und ökonomischen Produkten sind – nach Bourdieu – im Rahmen einer Feldanalyse in wechselseitiger Abhängigkeit mit den Interessen von Kulturproduzent/innen, gesellschaftlicher Wahrnehmung von kulturellen Codes, Dispositionen im betreffenden Feld etc. zu sehen. Zum Beispiel wird das „literarische Feld“ von Bourdieu als ein Gesamtzusammenhang im Rahmen des „Markts der symbolischen Güter“ beschrieben: In den uns interessierenden Feldern kommt es zur antagonistischen Koexistenz zweier Produktions- und Zirkulationsweisen, die entgegengesetzten Logiken gehorchen. An dem einen Pol finden wir die anti-“ökonomische“ Ökonomie der reinen Kunst, die, auf der obligaten Anerkennung der Werte der Uneigennützigkeit und Interesselosigkeit sowie die Verleugnung der „Ökonomie“ (des „Kommerziellen“) und des (kurzfristigen) „ökonomischen“ Profits basierend, die aus einer autonomen Geschichte erwachsene spezifische Produktion und deren eigentümliche Ansprüche privilegiert. [...] Am anderen Pol herrscht die „ökonomische“ Logik der literarisch-künstlerischen Industrien, die aus dem Handel mit Kulturgütern einen Handel wie jeden anderen machen, vorrangig auf den Vertrieb, den sofortigen und temporären Erfolg, gemessen zum Beispiel an der Auflage, setzen und sich damit begnügen, sich der vorgängigen Nachfrage der Kundschaft anzupassen.44

43 Huber 2003 44 Bourdieu, 2001, S. 228 f..

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Die Länge des Produktionszyklus beschreibt Bourdieu als besten Gradmesser für die Stellung eines Unternehmens innerhalb der Kulturproduktion des Feldes insgesamt: „Wir haben so, auf der einen Seite, Unternehmen mit kurzem Produktionszyklus, die die Risiken durch vorweggenommene Anpassung an die erforschbare Nachfrage zu minimieren trachten und über Kommerzialisierungsnetze und Verfahren der Verkaufsförderung (Werbung, Öffentlichkeitsarbeit usw.) verfügen, mit denen der beschleunigte Eingang der Profite durch eine rasche Zirkulation von zu rascher Veralterung verurteilten Produkten gewährleistet werden soll; und auf der anderen Seite Unternehmen mit langen Produktionszyklen, die auf die Akzeptanz der kulturellen Investitionen immanenten Risiken und vor allem die Befolgung der spezifischen Gesetze des Kunsthandels gegründet sind: Mangels eines Marktes in der Gegenwart ist diese gänzlich der Zukunft zugewandte Produktion darauf bedacht, sich einen Lagerbestand an Produkten anzuschaffen, die freilich immer der Gefahr ausgesetzt sind, in den Stand stofflich-materieller Gegenstände zurückzufallen (und als solche, etwa nach Papiergewicht, taxiert zu werden).“45

Die beiden Pole machen deutlich, dass sich jegliche Theorie musikalischstilistischer Diversität auf das gesamte Feld der Musik zu beziehen hat. Ein Stilfeld der Musik ist demnach charakterisiert durch eine spezifische Positionierung innerhalb der von Bourdieu beschriebenen Polarität. Zentral ist hierbei das Prinzip des „Habitus“ als ein historisch ausgebildetes „Erzeugungsprinzips“ und „Klassifikationssystems“, das, selbst strukturiert von den jeweiligen Lebensbedingungen einer Klasse, als strukturierende „generative Formel“ ihres Lebensstils wirksam wird. Als „Klassifikationssystem“ bildet der Habitus ein System von Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata. Im Alltag spricht man hierbei vom Geschmack. Der „Lebensstil“ ist demnach das System der wahrnehmbaren und klassifizierbaren Praktiken und Werke, der „Habitus“ das Prinzip seiner Formung und Beurteilung. Das eigene Urteil, der „Geschmack“, formt wahrnehmbare Praktiken und Werke in ein symbolisches System um. Die soziale Position des Wahrnehmenden und des Objekts/der Person, das/die wahrgenommen wird, bestimmt deren Position im Feld. Anders geschieht dies bei der Alltagsbeobachtung und der wissenschaftlichen Analyse. Sie schließen aufgrund von beobachteten „Praktiken und Werken“ auf einen Habitus und stellen Zusammenhänge zu dessen zugrundeliegenden Lebensbedingungen her. Die „Urteilskraft“ wird als abhängig vom „Geschmack“ gesehen, der seine Basis in der Position der urteilenden Person innerhalb der Struktur der Lebensbedingun-

45 Ebenda, S. 229.

28 | Aufführungsrituale der Musik

gen findet. Ästhetische Urteile sind daher abhängig von der gesellschaftlichen Position der urteilenden Person. Damit vollzieht Bourdieu eine soziologische Transformation: „Stil“ wird als „Lebensstil“ allen gesellschaftlichen Klassen zugestanden und steht in Abhängigkeit von deren besonderen Existenzbedingungen. Bourdieu sieht den Habitus eingebunden in einer Vielzahl von gesellschaftlichen „Systemen“46. Eines dieser Systeme oder Felder, deren stilistische Möglichkeiten unterschiedliche Lebensstile konstituieren, ist die Musik. Bourdieus Untersuchung in Bezug auf die französische Gesellschaft der 1960er und 1970er Jahre definiert drei Haupttypen des Geschmacks: „1. Der legitime Geschmack, d. h. der Geschmack für die legitimen Werke, hier [...] repräsentiert durch „Das wohltemperierte Klavier“, „Die Kunst der Fuge“, das „Konzert für die linke Hand“; im Rahmen der Malerei Brueghel und Goya; versierte Ästheten können ihnen dann noch die anerkanntesten Werke jener Künste an die Seite stellen, die auf dem Weg ihrer Legitimierung sind – Film, Jazz und sogar Chanson (z. B. Léo Ferré, Jaques Douai); sein Auftreten wächst mit steigender Bildung, um bei den Kreisen der herrschenden Klasse mit den größten schulischen Kapitalien zu kulminieren. 2. Der mittlere Geschmack, der sich auf die minderbewerteten Werke der legitimen Künste bezieht, im vorliegenden Rahmen [...] die „Rhapsody in Blue“, die „Ungarische Rhapsodie“, innerhalb der Malerei Utrillo, Buffet und selbst noch Renoir; daneben jedoch auch auf die „legitimsten“ Werke der minderbewerteten Künste, hier die von Jaques Brel und Gilbert Bécaud aus dem Chanson-Bereich; er ist häufiger bei Angehörigen der Mittelklassen als in Arbeiterkreisen oder den „intellektuellen“ Fraktionen der herrschenden Klasse anzutreffen. 3. Der „populäre“ Geschmack, hier [...] repräsentiert durch eine Auswahl von Werken der sogenannten „leichten“ oder aber durch Verbreitung entwerteten „ernsten“ Musik wie „Schöne blaue Donau“, „La Traviata“, die „Arlésiennesuite“, nicht zuletzt aber durch Schlager fern jedes künstlerischen Anspruchs wie jene von Moriano, Guétary und Petula Clark; am häufigsten in den unteren Schichten vertreten, variiert dieser Geschmack zudem noch im umgekehrten Verhältnis zum Bildungskapital (was erklärt, warum er ein wenig

46 Bourdieu spricht beispielsweise von einem „System der Frisuren“ und seinen Beziehungen zu klassenspezifischen Formen des Habitus, der spezielle Formen von Geschmack generiert, in die sich eine bestimmte Frisur einordnet.

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häufiger bei Selbständigen aus Industrie und Handel und sogar bei „cadres supérieurs“ vorkommt als bei Lehrern und Kulturvermittlern).“47

Dieses Zitat belegt, dass eine deterministische Zuordnung zwischen sozialen Positionen und symbolischen Systemen von Bourdieu nicht intendiert war – ein solcher Determinismus wurde ihm häufig vorgeworfen. Das ‚System der Musik‘ hat – wie auch das ‚System der Innenarchitektur‘ oder das ‚System der Kleidung‘ – im Lauf seiner Geschichte stilistische Ausprägungen entwickelt, die für alle Beteiligten einer Gesellschaft identifizierbar sind, auch wenn sie nicht dem Spektrum der eigenen Geschmacksvorstellungen entsprechen. Geschmack ist demnach immer auch Distinktion, ist Abgrenzung von (Musik-)Stilen, mit denen man nicht in Verbindung gebracht werden will bzw. Begeisterung für solche stilistischen Varianten eines Feldes, die im eigenen Lebensstilkonzept eine wesentliche, identifikationsstiftende Rolle einnehmen. Es macht daher durchaus Sinn, sich mit dem ‚System der Musik‘ als solchem auseinanderzusetzen: mit seinen unterschiedlichen stilistischen Ausprägungen und deren gesellschaftlichen Positionierungen (lokale bis globale Szene, Akteure der Produktion, Distribution und Konsumption, Merkmale der Bühnenfiguren und deren Repertoires etc.). Damit wird noch keine Zuordnung zu bestimmten Bildungs-, Berufs- oder Einkommensklassen getätigt, sondern es wird lediglich der Raum der stilistischen Möglichkeiten im Feld der Musik in einem räumlich-zeitlich definierten Rahmen erkundet. Der Feldbegriff von Bourdieu wurde daher in „Der Song und die Stilfelder der Musik“48 zu diesem Zweck entsprechend verfeinert: Die Diversität eines symbolischen Feldes kann, so die Annahme, durch seine relevanten „Stilfelder“ genauer und differenzierter erfasst werden. Im Zentrum des Forschungsinteresses stehen die Differenzen und Diffusionen dieser Stilfelder. Methodisch kann – so der Ansatz – die Diversität und Dynamik des gesamten Feldes durch das Verfahren einer „vergleichenden Stilfelder-Analyse“ erforscht werden. 1.4.2 Kugelmodell der Stilfelder der Musik in Österreich Die vorliegende Studie „Aufführungsrituale der Musik“ beruht auf der Annahme von sechs Stilfeldern, gültig für Österreich im Zeitraum 1995 – 2015. Grundlage dafür war eine Analyse der gesamten österreichischen Tonträgerproduktion des Jahres 1995 auf der Basis von Daten, die seitens der Verwertungsgesellschaft

47 Bourdieu, 1982, S. 36 ff.. 48 Huber 2003

30 | Aufführungsrituale der Musik

„Austro Mechana“ freundlicherweise zur Verfügung gestellt wurden.49 Die Annahme wurde seither regelmäßig überprüft, Crossover-Phänomene und andere Verhältnisse und Entwicklungen der Stilfelder-Konstellation konnten damit gut beobachtet werden. Die sechs Stilfelder sind:      

„Klassik/zeitgenössische Musik“ „Jazz/improvisierte Musik“ „Volksmusik/World Music“ „Dance/HipHop/Elektronik“ „Rock/Pop Musik“ „Schlager/volkstümliche Musik“

Bei der Identifizierung von Stilfeldern wird von folgenden Prinzipien ausgegangen: „Prinzipien der Stilfelder Theorie:50 1. Ein Stilfeldermodell verwendet diejenigen Stilbegriffe, die bei den künstlerisch Tätigen und deren Publikum in Gebrauch sind. 2. Ein Stilfeldermodell geht vom Umfeld dieser Begriffe aus: der spezifischen Form von Kreativität, Infrastruktur und öffentlichen Aufmerksamkeit51, die einen Kontext, eine Tradition, eine Szene konstituieren. 3. Ein Stilfeldermodell versucht die Abgrenzungen und Austauschprozesse zwischen Stilfeldern zu beschreiben. 4. Ein Stilfeldermodell dient der Diskussion gesellschaftlicher Statuszuschreibungen zu Stilfeldern sowie der Beobachtung des historischen Wandels von StilfelderKonstellationen.“

Das Modell vermeidet pauschale Klassifizierungen wie „Ernste Musik – Unterhaltungsmusik“ oder „Kunstmusik – Popularmusik – Volksmusik“ und verwendet stattdessen Genrebegriffe, die bei den Repräsentant/innen der Stilfelder selbst in Gebrauch sind. Bei einem Stilfeldermodell kommt es darauf an, die Selbstdefinitionen der Musikszenen aufmerksam wahrzunehmen und diesen gegenüber etablierten musikologischen Kategorien den Vorzug zu geben. Ein Aspekt des nachfolgenden Kugelmodells beobachtet die Abgrenzungen und

49 Huber 2003 50 Vgl. Huber, 2003, S.75. 51 Als Indikator öffentlicher Aufmerksamkeit können etwa Preisverleihungen gelten.

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Austauschprozesse zwischen Stilfeldern in allen Richtungen. Im Modell wird dies durch Pfeile ausgedrückt. Stilfelder werden demnach als musikalischkreative Kraftzentren begriffen, die einerseits durch ihre Identität, ihre Betonung von Differenz zu anderen musikalischen Ausdrucksformen, andererseits durch eine Fülle von Diffusionen ihre Wirkung entfalten. Das Kugelmodell ermöglicht die Darstellung jeder Art von Verknüpfung zwischen den hier angenommenen sechs Stilfeldern. Konkrete Repertoires von Künstler/innen, Veranstaltungsserien, Labels oder Sendefolgen können entweder als eindeutige Zuordnung zu einem Stilfeld, als Crossover oder als Mehrfachverknüpfung an der Oberfläche oder innerhalb der Kugel verortet werden. Selbstverständlich sind Differenzen und Diffusionen nicht nur zwischen Stilfeldern, sondern auch auf der Ebene der Stile und Substile innerhalb von Stilfeldern im Gange. Das „StilfelderKugelmodell“ ermöglicht es, diesbezügliche Beobachtungen auf ein allgemeines Modell des Systems der Musik zu beziehen. Grafik 2: Stilfelder der Musik: Kugelmodell

Quelle: Harald Huber / Grafische Ausführung: Angelika Kratzig

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Stilfeldermodelle kultureller Ausdrucksformen (der Musik, der Literatur, der Architektur, der Tischsitten, der Kleidung, der Automobile etc.) versuchen nicht nur die Variabilität bzw. Diversität der Erscheinungsformen, sondern auch deren gesellschaftliche Statuszuschreibungen abzubilden. Dabei beziehen sie sich auf den gesellschaftlichen Status von Artefakten und nicht auf Gruppen oder Personen. Das Kugelmodell stellt den Status musikalischer Stilfelder einerseits zweidimensional („oben – unten“) durch Positionierungen in Relation zu einer vertikalen Achse dar. Andererseits aber wird als weitere Ebene eine dreidimensionale Globusdarstellung mit Schrägachse verwendet. Diese ermöglicht eine Zuordnung zu zwei „Polen“ und einem „Äquator“ und steht insgesamt für ein dynamisches Geschehen, das sich starren Fixierungen entzieht. Am „Äquator“ des Modells sind Stilfelder angesiedelt, die in irgend einer Form mit der internationalen Verbreitung ethnischer, vor allem afroamerikanischer Musikformen und der Mischung von elitären und populären Kulturmustern zu tun haben (Jazz, World, Dance, Rock). Die beiden „Pole“ werden im System der Musik in Österreich durch die Stilfelder „Klassik/zeitgenössische Musik“ und „Schlager/volkstümliche Musik“ repräsentiert. Im 20. Jahrhundert haben sich zwischen die Kategorien „E-Musik“ (Ernste Musik) und „U-Musik“ (Unterhaltungsmusik) gemischte, „mittlere“ Ausdrucksformen geschoben, deren Charakteristikum die Verbindung von elitären und populären Kulturmustern darstellt. Diese haben eigenständige Traditionen und Referenzsysteme hervorgebracht (Jazz, Folk/World, Rock/Pop, Dance, ...). Seit dem Jahr 2000, einer Zeitspanne rasch fortschreitender Digitalisierung, wurden weitere Bewegungen der Stilfelder-Konstellation in Österreich durch CrossoverPhänomene sichtbar: In der zeitgenössischen E-Musik haben sich Tendenzen in Richtung Elektronik und Improvisation verstärkt, Jazz und World Music beginnen immer mehr zusammenzuwachsen und ihre Wahrnehmung als künstlerische Ausdrucksformen mehr denn je einzufordern. Eine neue Mischung aus Pop/Rock und volkstümlichem Schlager darf sich über kommerzielle Erfolge freuen und hat – über die traditionelle Funktion als Tanz- und Unterhaltungsmusik hinaus – auch Darbietungsformen in Konzerthallen und TV-Formaten entwickelt. Die Stilfelderkugel repräsentiert einen umfangreichen Ansatz, ein differenziertes Paradigma zur Beschreibung der musikalischen Vielfalt einer Gesellschaft. Es beansprucht, die aus dem 19. Jahrhundert stammende E-Musik/UMusik-Dichotomie, deren heutiger Gebrauch die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts unterschlägt, zu überwinden. Die Methode der vergleichenden Stilfelder-Analyse eröffnet umfangreiche Möglichkeiten der qualitativen und quantitativen Beobachtung der Entwicklungen im Bereich der Diversität kultureller Aus-

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drucksformen und intendiert die differenzierte Weiterentwicklung des Modells in der Zukunft. 1.4.3 Rahmen-Analyse nach Erving Goffman Die Arbeiten des kanadischen Soziologen Erving Goffman (1922 – 1982) beschäftigen sich mit anthropologischen, sozialpsychologischen und psychiatrischen Problemen des sozialen bzw. sozial abweichenden Verhaltens. Im Fokus steht die Frage, wie das Individuum seine strukturell verletzliche Autonomie aufrechterhalten kann. Demnach versucht das Individuum in Interaktionen ein gewisses Bild von sich zu vermitteln, da es weiß, dass es beobachtet wird. Die Fortführung des Gedankenganges mündet darin, dass alle Menschen prinzipiell immer Theater spielen und sich eine Fassade schaffen. Das Theater wird zum Modell für die soziale Welt. Die Ebene der Realität ist im Theater fiktional. Im Theater vor Publikum agierende Darsteller/innen verkörpern auf der fiktiven Ebene verschiedene Rollen. Im Alltag gibt es kein reines Publikum, denn jede/r Zusehende verkörpert eine eigene Rolle. Die Einzelperson spielt ihre Rolle, inszeniert sich selbst, für sich und die anderen Menschen in ihrer Umgebung. „Für unsere Analyse derartiger Darstellungen wird es sich als nützlich erweisen, von der entgegengesetzten Fragestellung auszugehen, und zu untersuchen, wieweit der Einzelne selbst an den Anschein der Wirklichkeit glaubt, den er bei seiner Umgebung hervorzurufen trachtet.“52 In der realen Welt ist der Wechsel zwischen Zusehenden und Darstellenden zu jedem Zeitpunkt möglich. Der/die Zuschauer/in kann unvermutet Teil des Geschehens werden. Goffmans sogenannte „Rahmenanalyse“ stellt ein hervorragendes Instrument dar, das die Ebenen der Alltagserfahrungen von Kulturen und deren künstlerische Transformationen analysieren und verständlich machen kann. Goffman versteht unter „Rahmen“ durch Sozialisation erlernte Erfahrungsschemata, deren Nutzung der Mensch unbewusst durchführt. Situationen können dadurch sinnerfasst werden. Durch „Rahmen“ werden Situationen definiert und der Umgang mit diesen ermöglicht. Der/die Einzelne ordnet jede Situation in einen Rahmen, in ein bestimmtes Erfahrungsschema ein. Ohne einer Verbindung zu einem erlernten Rahmen, ist eine Situation nicht verständlich. „Und wir sagten die Rahmung mache das Handeln für den Menschen sinnvoll.“53 Die Nutzung der einzelnen „frames“ erfolgt unbewusst, Aufmerksamkeit erlangt dies erst durch Irri-

52 Goffman, 1973, S. 19. 53 Goffman, 1980, S. 376.

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tation, durch ein ‚aus dem Rahmen fallen‘, durch eine Verletzung der mit einem Rahmen verbundenen Spielregeln. Eine „Rahmenanalyse“ kann die Ebene des Alltagslebens mit der Welt der Künste verknüpfen. In der Musik stellen „Aufführungsrituale“ eine zentrale Einheit dar.54 Diese können als „Rahmen“ interpretiert werden: zwischen Anfang und Ende dieser Art von Ritualen gelten bestimmte Regeln für alle Beteiligten. Ein „Aus-dem-Rahmen-fallen“ würde Erstaunen, Irritation, Verwunderung, Ablehnung und – in letzter Konsequenz – Sanktionen nach sich ziehen (z.B. lautes Sprechen während eines klassischen Konzerts). Goffman analysierte ausführlich die Wechselbeziehungen zwischen der Performativität von Alltagserfahrungen und dem „Theaterrahmen“. Charakteristisch für den „Theaterrahmen“ sind nach Goffman vor allem:  Offene (als solche erkennbare) Nachahmung dramatischen menschlichen Handelns.  Trennung von Bühnenzone und Zuschauerraum.  Unmittelbar aufeinander reagierende Schauspieler/innen, mittelbar reagierendes Publikum (zuschauen, nicht unterbrechen, Beifall, ...).  Alles Auftretende ist bedeutungsvoll.  Die Schauspieler/innen (als Personen „Subjekte ihres Lebenslaufs“) spielen eine Doppelrolle: ihre Berufsrolle als Bühnendarsteller/innen und die dargestellte Figur. Auch das Publikum befindet sich in einer Doppelrolle: Theaterbesucher/innen und Zuschauer/innen (z.B. bezieht sich Gelächter als Zuschauer/innen auf das Stück, als Theaterbesucher/innen etwa auf eine Panne während der Aufführung). Nicht nur räumliche Grenzen sondern auch zeitliche Klammern stecken den Geltungsbereich des Theaterrahmens ab (z.B. durch Heben und Senken eines Vorhangs). Der Schlussbeifall fegt den Schein hinweg.55

54 Ausgehend von einem „Live Ereignis“ können Aufführungsrituale als solche weiter transformiert (beschrieben, aufgezeichnet, gesendet, ins Internet gestellt etc.) werden. Aufführungsrituale haben gegenwärtig vielfach rein mediale Produkte zur Grundlage (Film, Soundfile, Videoclip etc.) bzw. treten als Mischform von „live“ und „medial“ in Erscheinung (DJ Performance, Live Übertragung im TV, interaktives Internet Konzert etc.) 55 Goffman, 1980, S.151.

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Die Arbeiten von Goffman stehen in der Tradition der „Theorie der symbolischen Interaktion“56, die sich vom Pragmatismus bzw. Sozialen Behaviorismus der „Chicagoer Schule“ der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts herleitet. Die Grundannahme des Ansatzes kommt in einem von William Isaak Thomas im Jahr 1923 formulierten Theorem zum Ausdruck: „Jene Situationen, die von den daran beteiligten Menschen als real definiert werden, sind real in ihren Konsequenzen“57. Die soziale Konstruktion von Wirklichkeit zeigt sich in der Perspektive, von der aus eine Situation definiert wird, und durch deren Handlungsrelevanz. „Symbolische Interaktion“ – vor allem auf der Basis von Sprache – definiert Menschen durch Situationen und deren Verhalten aufgrund ihrer Einschätzungen. Dabei können erhebliche Differenzen entstehen: „London – Ein Mann aus der Menge fasste seinen Spazierstock fester, als er gestern drei Männer eine belebte Straße in der Nähe des Trafalgar Square hinunterrennen sah, gefolgt von Polizisten. Er wusste, was seine Pflicht war, wenn die Polizei Räuber verfolgte. Er hob seinen Stock auf schlug ihn einem der Männer über den Kopf und verschwand von der Szene. Er wollte nichts als ein unbekannter Held sein. Der Verletzte wurde in ein Krankenhaus gebracht, wo seine Platzwunde genäht wurde. Gestern Abend beklagte der 30-jährige Schauspieler Michael McStay mit brummendem Schädel, dass sich die Filmszene als allzu realistisch erwiesen hatte. ‚Ich meine, es ist ein Arbeitsunfall‘, sagte er, ‚aber ich glaube doch, dass er mir einen Drink schuldig ist‘.“58

Dieses Beispiel zeigt drei verschiedene Situationsdefinitionen: Im Verständnis des Passanten handelte es sich um eine reale Verbrecherjagd, im Verständnis des Schauspielers um eine Filmszene: die dramatische Darstellung einer Verbrecherjagd. Die Situationsdefinition des verletzten Schauspielers ist schließlich die eines Arbeitsunfalls. Ein „Drink“ würde als Wiedergutmachung akzeptiert werden. Goffman unterscheidet zwischen „primären Rahmen“, „Modulationen“ und absichtlichen „Täuschungsmanövern“. Primäre Rahmen sind entweder „natürliche Rahmen“, die die Interpretation der physischen Vorgänge der natürlichen Welt in Raum und Zeit zum Gegenstand haben oder „soziale Rahmen“, die den Intentionen der handelnden Personen als Deutung zugrunde liegen – im Sinne einer Antwort auf die Frage „Was geht hier eigentlich vor?“.

56 Rose in Hartmann, S.266ff. 57 Helle, 1992, S.57. 58 Goffman, 1980, S.341f.

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„Zusammengenommen bilden die primären Rahmen einer sozialen Gruppe einen Hauptbestandteil von deren Kultur, vor allem insofern, als sich ein Verstehen bezüglich wichtiger Klassen von Schemata entwickelt, bezüglich deren Verhältnissen zueinander und bezüglich der Gesamtheit der Kräfte und Wesen, die nach diesen Deutungsmustern in der Welt vorhanden sind. Man muss sich ein Bild von dem oder den Rahmen einer Gruppe, ihrem System von Vorstellungen, ihrer „Kosmologie“ – zu machen versuchen [...].“59

Die Frage „Was geht hier eigentlich vor?“ wird vom Filmteam des Trafalgar Square-Beispiels beantwortet durch „Es wird nur gespielt!“.60 Die Verbrecherjagd in Goffmans Beispiel wurde vom unwissenden Passanten als „primärer Rahmen“ interpretiert. Er hat dementsprechend im Sinne eines von ihm geglaubten Pflicht- und Ehrenkodex gehandelt. Als Filmszene jedoch handelte es sich um eine „Modulation“, um ein Schauspiel. Die Figur des flüchtenden Verbrechers wurde realitätsgetreu dargestellt, d.h. der Schauspieler hat die Erwartungen, die mit seiner Berufsrolle verbunden sind, hundertprozentig erfüllt. Sowohl Passant als auch Schauspieler sind aus der Sicht des jeweils anderen „aus dem Rahmen gefallen“: Jener durch gewalttätige Störung von Dreharbeiten, dieser durch ein offensichtliches Verhalten wider die gesetzliche Ordnung (erkennbar an der Flucht vor polizeilicher Verfolgung). Schließlich wurde der Vorfall zu einer „Episode“ sowohl im Leben des Filmschauspielers als auch im Leben des Passanten, die z.B. durch Erzählungen im Bekanntenkreis oder durch Presseberichte in weiterer Folge moduliert werden kann. Sowohl „Dreharbeiten“ wie auch „Mithilfe der Bürger bei Verbrechensbekämpfung“ und auch das Ritual, durch einen „Drink“ ein Missverständnis zu bereinigen sind bekannte und legitime frames der „westlichen“ Kultur. Die physischen Ergebnisse des Stockschlages am Kopf des Schauspielers wurden im Krankenhaus überdies im Sinne eines „natürlichen Rahmens“, als „Platzwunde“ diagnostiziert und losgelöst vom sozialen Rahmen des Tatherganges, entsprechend behandelt. Das ausgewählte Beispiel gibt auch einen ersten Hinweis auf das spezielle Interesse Goffmans bezüglich der Möglichkeiten der Transformation von primären Rahmen in spielerische Situationen. Solche „Modulationen“ sind nach Goffman definiert durch:  Transformation eines Materials, das bereits im Rahmen eines Deutungsschemas sinnvoll ist,

59 Ebenda, S.37. 60 Solche Modulationen können auch bei Tieren, etwa in Form von spielerischen Jagdoder Kampfszenen beobachtet werden.

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 Bewusstheit der Beteiligten bezüglich der Umwandlung,  Setzen von zeitlichen und räumlichen „Klammern“,  Bearbeitung von Ereignissen sozialer Bezugssysteme (diese scheinen besser geeignet, als solche natürlicher Bezugssysteme),  Wahrnehmung der Beteiligten der Modulation als Modulation. Als „Modul“ werden etwa scherzhafte Handlungen, Tagträume und Fantasien, Drehbücher, Wettkämpfe und Sportarten, Zeremonien und Rituale, Proben und Üben von Handlungssequenzen, Demonstrationen und Dokumentationen, rückblickende Beschreibungen und Analysen u.v.a. angesehen. Ein „Modul“ ist nach Goffman „[...] das System von Konventionen, wodurch eine bestimmte Tätigkeit, die bereits im Rahmen eines primären Rahmens sinnvoll ist, in etwas transformiert wird, das dieser Tätigkeit nachgebildet ist, von den Beteiligten aber als etwas ganz anderes gesehen wird.“61

Diese Konventionen lassen sich zunächst – mit einigen Modifikationen – auch in der Welt der Musik und des Tanzes feststellen. „Die Nachahmung dramatischen menschlichen Handelns“ wird hier durch musikalische und choreographische Prozesse ersetzt die – insgesamt und in ihren Details – in komplexerer Weise mit kulturellen Bedeutungen aufgeladen sind als das Sprechtheater. Die Berufsrollen sind hier von Musiker/innen und Tänzer/innen besetzt, die im Rahmen des Dargebotenen unmittelbar aufeinander reagieren. Selbstverständlich gibt es – vor allem in religiösen Kontexten – Rituale, in denen Musik und Tanz eine wesentliche Rolle spielen, die aber nicht den Konventionen des Theaterrahmens entsprechen. Solche Rituale als „Theater“ zu interpretieren würde von Gläubigen als ernstzunehmender Regelverstoß angesehen werden. Von anwesenden Nicht-Gläubigen wird zumindest ein respektvolles „Täuschungsmanöver“ erwartet (ein äußerlicher Mitvollzug gewisser Handlungen) um den Ablauf des Rituals nicht zu stören. Damit ist die Argumentation nun schon mitten im Kernbereich der Frage nach den Konventionen von Aufführungsritualen von Musik und ihrer genretypischen Variationsbreite angelangt. Vom Publikum etwa wird in einigen Stilfeldern die stille, ungeteilte Aufmerksamkeit erwartet (Andachtsritual), in anderen Stilfeldern der aktive, körperliche Mitvollzug (Animationsritual). Als „Rahmen“ kann aber auch die Form einzelner Musikstücke angesehen werden – z.B. die

61 Ebenda, S.55.

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Gattung des Liedes, des Songs, die – je nach Stilfeld – unterschiedlichen Konventionen gehorcht. Die Rahmen-Analyse ist nicht nur bestrebt, unterschiedliche Situationsdeutungen herauszuarbeiten, sondern versteht sich allgemein als Theorie menschlichen Handelns im Schnittpunkt von Realität und Kultur. Kulturell etablierte, von den einzelnen Individuen erlernte Rahmen dienen der Kontinuität der sozial konstruierten Wirklichkeit und schaffen die Möglichkeit von Handlungssicherheit. Der Song ist beispielsweise ein solcher, weltweit erlernter Rahmen. Niemand wundert sich über gesanglich dargestellte „Gefühle auf Abruf“ – auch wenn das Dargestellte ohne Einbettung in eine stringente Geschichte ertönt – sofern sie als Song identifiziert werden können. „Jedenfalls sind die Sänger gewohnheitsmäßig mit dem erschreckendsten Gefühlsausdruck bei der Hand, und zwar ohne die lange Vorbereitung wie in einem Bühnenstück. [...] Als Sänger trägt der Mensch sein Herz in seiner Kehle; als Alltagsmensch geht er im Allgemeinen weniger aus sich heraus. Man kann sagen, nur als Sänger zeige er Gefühle auf Abruf, und ebenso kann man sagen, nur als Konversationsteilnehmer tue er es nicht. Beides sagt uns nichts über die Person als solche; beides sagt etwas über Figuren in Rahmen.“62

Goffmans Zitat über die „Aufführung von Schlagern“ versucht, wesentliche Merkmale des Rahmens „Singen populärer Lieder“ herauszuarbeiten und Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu Bühnenaufführungen aufzuzeigen. Die „Rahmenanalyse“ eignet sich zur kulturwissenschaftlichen Analyse audiovisueller künstlerischer bzw. kultureller Rituale (z.B. Konzerte, Musikfilme oder Tanzveranstaltungen) und ist daher in die Methodik der Studie eingeflossen. Sie richtet die Aufmerksamkeit der Forschung auf die Unterschiede der jeweils geltenden Konventionen von Musik-Aufführungen und auf die zu beobachtenden Grenzüberschreitungen.

1.5 TRANSKULTURALITÄT Die kulturwissenschaftlichen Ansätze, die von Doris Bachmann-Medick als „Cultural Turns“ zusammengefasst wurden, sind an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien seit 2013 durch interdisziplinäre Projekte wie „Per-

62 Ebenda, S.615.

38 | Aufführungsrituale der Musik

Gattung des Liedes, des Songs, die – je nach Stilfeld – unterschiedlichen Konventionen gehorcht. Die Rahmen-Analyse ist nicht nur bestrebt, unterschiedliche Situationsdeutungen herauszuarbeiten, sondern versteht sich allgemein als Theorie menschlichen Handelns im Schnittpunkt von Realität und Kultur. Kulturell etablierte, von den einzelnen Individuen erlernte Rahmen dienen der Kontinuität der sozial konstruierten Wirklichkeit und schaffen die Möglichkeit von Handlungssicherheit. Der Song ist beispielsweise ein solcher, weltweit erlernter Rahmen. Niemand wundert sich über gesanglich dargestellte „Gefühle auf Abruf“ – auch wenn das Dargestellte ohne Einbettung in eine stringente Geschichte ertönt – sofern sie als Song identifiziert werden können. „Jedenfalls sind die Sänger gewohnheitsmäßig mit dem erschreckendsten Gefühlsausdruck bei der Hand, und zwar ohne die lange Vorbereitung wie in einem Bühnenstück. [...] Als Sänger trägt der Mensch sein Herz in seiner Kehle; als Alltagsmensch geht er im Allgemeinen weniger aus sich heraus. Man kann sagen, nur als Sänger zeige er Gefühle auf Abruf, und ebenso kann man sagen, nur als Konversationsteilnehmer tue er es nicht. Beides sagt uns nichts über die Person als solche; beides sagt etwas über Figuren in Rahmen.“62

Goffmans Zitat über die „Aufführung von Schlagern“ versucht, wesentliche Merkmale des Rahmens „Singen populärer Lieder“ herauszuarbeiten und Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu Bühnenaufführungen aufzuzeigen. Die „Rahmenanalyse“ eignet sich zur kulturwissenschaftlichen Analyse audiovisueller künstlerischer bzw. kultureller Rituale (z.B. Konzerte, Musikfilme oder Tanzveranstaltungen) und ist daher in die Methodik der Studie eingeflossen. Sie richtet die Aufmerksamkeit der Forschung auf die Unterschiede der jeweils geltenden Konventionen von Musik-Aufführungen und auf die zu beobachtenden Grenzüberschreitungen.

1.5 TRANSKULTURALITÄT Die kulturwissenschaftlichen Ansätze, die von Doris Bachmann-Medick als „Cultural Turns“ zusammengefasst wurden, sind an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien seit 2013 durch interdisziplinäre Projekte wie „Per-

62 Ebenda, S.615.

1 Wissenschaftstheoretische Grundlagen | 39

forming Translation“63 oder die mehrjährige Ringvorlesung „Transkulturalität_mdw“64 in spezifischer Weise weiterentwickelt worden. Der Terminus „Transkulturalität“ hat mittlerweile Eingang sowohl in das Leitbild, den Entwicklungsplan, als auch in die Diversitätsstrategie der mdw gefunden. In diesem Diskurs nehmen Begriffe wie Performativität, Translation, Hybridität, Third Space etc. einen zentralen Platz ein. Da sich auch das vorliegende Projekt „Performing Diversity“ in diesem kulturwissenschaftlichen Feld verortet, sollen nun abschließend die Grundlinien dieses Zugangs zusammengefasst werden: Transkulturalität: Kulturen sind keine abgeschlossenen Entitäten. Der historische Prozess (die Geschichte der Menschheit) zeigt ihre vielfältigen Durchdringungen und Vermischungen. Transkulturalität ist aber nicht nur ein Merkmal von Gesellschaften sondern auch von Individuen.65 Daher zeigen kulturelle Hervorbringungen vielfach hybride Züge. Postcolonial Studies haben eindringlich darauf hingewiesen, dass Hybridität immer im Kontext hierarchischer Machtkonstellationen zu sehen ist. Translationen (Übersetzungen kultureller Hervorbringungen) finden dementsprechend zumeist in nicht-egalitären Verhältnissen statt. Seitens untergeordneter Bevölkerungsgruppen werden häufig kreative „third spaces“ entwickelt: Denkmuster, Artefakte, Rituale und andere Handlungsweisen die ihren Interessen innerhalb aktueller Gegebenheiten symbolisch Ausdruck verleihen.66 Performativität: Transkulturelle Verhältnisse werden tagtäglich durch performative Akte bestätigt bzw. weiterentwickelt. Künstlerische Aufführungen sind Teil dieses gesellschaftlichen Prozesses. Dabei ist nicht nur das Geschehen auf der Bühne sondern auch die Interaktion zwischen KünstlerInnen und Publikum relevant.67 Mediale Technologien haben neue audiovisuelle Präsentationsformen erzeugt. Musikbezogene Kurzfilme (Videoclips) können als Material für Performanceanalysen herangezogen werden. Dabei werden – u.a. über Homologien von Musik, Bild und Text und eine Analyse der gezeigten Figuren 68 – kulturelle Codes ermittelt.

63 Hasitschka (Hg.) 2014 64 Hemetek u.a. (Hg.) 2019 65 vgl. Welsch 2000 66 vgl. Bhabha 2011 67 vgl. Fischer-Lichte 2012 68 vgl. Eder 2008

40 | Aufführungsrituale der Musik

Diversität: Transkulturelle Verhältnisse treten innerhalb einer Gesellschaft u.a. durch unterschiedliche Stilfelder der Musik in Erscheinung. Stilfelder (Musikszenen) werden durch genretypische Produktions-, Distributions- und Rezeptionsformen konstituiert. Die unterschiedlichen kulturellen Codes können u.a. durch Analysen von fiktionalen oder dokumentarischen Filmen beobachtet werden. Durch eine vergleichende Analyse treten nicht nur typische Erscheinungsformen von Stilfeldern sondern auch vielfältige Crossover- und Hybridisierungsprozesse zu Tage. Daraus können Hinweise auf transkulturelle Entwicklungen gewonnen werden – z.B. darauf wie sich Regeln von Aufführungsritualen oder Haltungen und Kulturmuster im Spektrum von elitär bis populär verändern.

2

Vorstudien Analyse einer selektierten Bildergalerie, eines Musikvideoclips und eines Crossover Konzerts

In der ersten Phase des Forschungsprojekts wurde eine Sammlung von Fotos, die stilfeldtypische Aufführungsrituale zeigt, angelegt. Diese Bildergalerie diente einer ersten Erkundung von stilfelderspezifischen Ritualen, Gesten und Positionen im (Bühnen-)Raum bzw. zwischen Bühne und Publikum. Als erster Versuch einer Figurenanalyse wurde der Musikvideoclip „Kaana Waas Warum“ des Duos „Wiener Blond“ mit Schwerpunkt auf der Funktion von Gesten analysiert. Eine begleitende kleine Studie erforschte ein Konzert des institutsübergreifenden Projekts „THE CUBE – Das Crossover Orchester der MDW“. Dabei erfolgte eine Untersuchung von Übersetzungsprozessen die beim Aufeinandertreffen von „klassischen“ und popularmusikalischen Konventionen vor sich gehen.

2.1 ANALYSE EINER BILDERGALERIE ZUR VIELFALT DER MUSIK Die folgende Darstellung konzentriert sich – im Sinne einer ersten Annäherung – auf stilfeldspezifische Aufführungsrituale, Gesten und Positionen. Jedes Bild wird kurz interpretiert, dabei wird der Fokus auf typische Elemente der Gestik gelegt, die „Sprache der Hände“ als Indikator für stilfeldtypische Phänomene genommen:

42 | Aufführungsrituale der Musik

Klassik / zeitgenössische Musik Klassik Abbildung 1: Klassik

Quelle: Kim Matthäi Leland

In sakralen und weltlichen Aufführungsräumen klassischer Musik gelten die Konventionen des Andachtsrituals. Applaudiert wird am Ende von Werken: die Aura der Komposition soll nicht gestört werden. Der/die Dirigent/in umfasst mit seiner Gestik das Orchester.

2 Vorstudien | 43

Neue Musik Abbildung 2: Neue Musik

Quelle: Nate Nutt / Topology

Die Konventionen für das Stilfeld „Klassik“ gelten auch für den Bereich der Neuen Musik. Die Konzertbühne und das Gebot der Stille und ungeteilten Aufmerksamkeit seitens des Publikums sind unbedingter Bestandteil des Rituals. Es gibt Versuche, Konventionen kontrolliert aufzubrechen wie z.B. Wandelkonzert, Weinverkostung und andere. Abbildung 3: Der Dirigierstab

Quelle: Rita Mayers

44 | Aufführungsrituale der Musik

In der Gestik des Stilfeldes „Klassik/zeitgenössische Musik“ nimmt die Haltung des Dirigierstabs eine wichtige Stellung ein. Der Stab ruht in den Händen des Dirigenten/der Dirigentin, unterstützt die Emotionen der Musik und lenkt das musikalische Geschehen. Die Gestik des Dirigierens signalisiert Konzentration, Aufmerksamkeit, am Punkt sein. Jazz / improvisierte Musik Jazz Abbildung 4: Jazz

Quelle: mic.bruns

Der Jazz ist ein mittlerweile etabliertes afroamerikanisches Stilfeld und stellt den/die Improvisationskünstler/in in den Mittelpunkt. Nach einem Solo darf während eines Musikstücks applaudiert werden. Die Gestik stellt einerseits die Virtuosität der Hände am Instrument in den Mittelpunkt, andererseits die Bewegungsmöglichkeiten des Körpers insgesamt. Die tiefe Verbindung der Musiker/innen zu ihren Instrumenten wird häufig auch auf dem Cover von Tonträgern abgebildet.

2 Vorstudien | 45

Traditonal Jazz Abbildung 5: Tradtional Jazz

Quelle: Duncan P. Schiedt

Historisch hat sich der Jazz vom Animationsritual des Showbusiness in Richtung Andachtsritual bewegt. Die Trennung zwischen Musikschaffenden und Publikum ist gegeben, die Inszenierung der Künstler/innen vermittelt jedoch den Eindruck spontanen Agierens. World / Volksmusik World Music Abbildung 6: World Music

Quelle: http://www.hubertvongoisern.com

46 | Aufführungsrituale der Musik

Die Begegnung der verschiedenen Musikkulturen der Welt inkludiert auch eine Begegnung der Sprachen, der Tänze, der Rituale. Diese werden häufig aus dem Lebenszusammenhang losgelöst und auf eine Konzertbühne gestellt, die Bezugnahme auf das Alltagsleben bleibt aber wesentlich. Volksmusik Abbildung 7: Volksmusik

Quelle: Ausser Bradlmusi

Abbildung 8: Volksmusik

Quelle: dieseer.at

Volksmusik wird als Teil alltäglicher Inszenierungen gezeigt. Das Klatschen („Paschen“) ist in diesem Fall Teil der musikalischen Praxis.

2 Vorstudien | 47

Abbildung 9: Volksmusik

Quelle: Marliese Mendel

Die Geste des Harmonikaspielers meint etwa „Auf geht‘s!“, „Jetzt geh ma‘s an, jetzt wird g‘feiert!“ Dance / Elektronik Dance / Rave Abbildung 10: Dance / Rave

Quelle: www.essentialibiza.com

Die elektronische Tanzmusik versteht sich als Medium der Interaktion zwischen DJ und tanzendem Publikum. Zusätzlich wird das Sinneserlebnis durch LightShows und Visuals unterstützt.

48 | Aufführungsrituale der Musik

Abbildung 11: Dance / Rave

Quelle: ProtoplasmaKid

Handy-Kurzfilme werden vom Publikum noch während der Veranstaltung ins Internet gestellt. Abbildung 12: Dance / Rave

Quelle: : DJ Tiesto von Hannah Davies

Die Gestik des DJs, der sich vom Publikum abhebt, in dem er frontal auf einem Podest steht, zeigt häufig Siegerposen, z.B. das Victory-Zeichen.

2 Vorstudien | 49

HipHop / Soul / R’n’B HipHop Abbildung 13: HipHop

Quelle: Chris Willis

Im unmittelbar damit verwandten HipHop werden die Rapper als „Masters of Ceremony“ bezeichnet. Der Tanz hat sich in diesem Genre zu einer akrobatischen Kunstform entwickelt, die ihrerseits einem Publikum präsentiert wird. Durch die Anerkennung des HipHop als „street culture“ hat sich neben der Musik auch der Tanz als Stilmittel dieses Genres etabliert. Break-Battles lassen Künstler/innen und Publikum miteinander verschmelzen. Zusehende können für eine begrenzte Zeitspanne zu Akteur/innen werden.

50 | Aufführungsrituale der Musik

Abbildung 14: HipHop

Quelle: Eesy Eric Sell

Die Gestik zeigt eine heftige Unterstützung des Sprechens, ist Teil der Rhetorik. Soul Abbildung 15: Soul

Quelle: Andre Soulies

Im Soul-Shouting unterstreichen die Hände die emotionale Botschaft.

2 Vorstudien | 51

Rock/Pop Musik Rock Abbildung 16: Rock

Quelle: Frédéric Loridant

Im Rock ist die körperliche Aktion wichtiger Bestandteil der Performance. Im Gegensatz zu anderen Genres dominiert im Pop-/Rockbereich die Interaktion mit dem Publikum. Der performative Austausch zwischen der Band und den Zuhörenden ist fixer Bestandteil eines solchen Events. Vom stehenden Publikum wird intensive Anteilnahme erwartet: Mitsingen, Mittanzen, Klatschen oder noch exzessivere Interaktionsformen wie z.B. „stage diving“.

52 | Aufführungsrituale der Musik

Heavy Metal Abbildung 17: Heavy Metal

Quelle: Hülya Karatay

In der Gestik haben sich Stereotypen etabliert wie z.B. die „Devils Horns“ – in der deutschen Metal-Szene auch als „Pommesgabel“1 bekannt. In Italien wird die Teufelshand als „Mano Cornuta“ bezeichnet und als ‚Untreue anzeigende‘ oder ‚das Böse abwehrende‘ Geste eingesetzt. Exkurs: Die Geste „Mano Cornuta“ in der Rock Musik „Cornuto“ (zu Deutsch: „Der Gehörnte“) ist ein Mann, dessen Frau ihn betrogen hat – ihm sozusagen die „Hörner aufgesetzt“ hat. Zurückzuführen ist die Herkunft auf die Legende des Minotauros. Pasiphaë, die Gattin des kretische Königs Minos, hatte mit einem weißen Stier ein Kind gezeugt. Deren Sohn Minotauros kam mit Hörnern zur Welt. Ein offensichtlicher Beweis des Ehebruchs. Im Bereich des Aberglaubens kann eine Person, die Unglück abwehren möchte, die „Mano Cornuta“ einsetzen. In der Heavy Metal-Szene steht das Zeichen für ein Gruppengefühl, die Szene-Identität und gleichzeitig die Begeisterung für die Musik. Der genaue Ursprung des Zeichens ist umstritten. So sieht sich Gene Simmons, Bassist von „Kiss“, als Urheber der Geste, weil er auf dem

1

Jordan, 2012, o.S..

2 Vorstudien | 53

Cover des Albums Love Gun (1977) deutlich damit zu sehen sei. Der ehemalige Sänger von „Black Sabbath“ Ronnie James Dio hingegen bezeichnet sich als Urheber der Geste im Heavy Metal, er habe das „Mano Cornuta“-Zeichen von seiner abergläubischen Großmutter übernommen. „It’s an Italian thing I got from my Grandmother called the „Maloik“ (wird von Dio im Interview so ausgesprochen, das Wort lautet „Malocchio“; Anmerkung der Autor/innen). It’s to ward off the Evil Eye or to give the Evil Eye, depending on which way you do it. It’s just a symbol but it had magical incantations and attitudes to it and I felt it worked very well with Sabbath.“2 Auch in der Rockmusik ist die Geste teilweise verbreitet. Abgebildet war sie bereits 1968 von John Lennon auf Promo-Fotos zum Album Yellow Submarine der Beatles und auch von der Lennon darstellenden Zeichentrickfigur auf Plakaten und Albumhüllen von Yellow Submarine. Elvis Presley setzte die „Mano Cornuta“ bei einem Auftritt in der Ed Sullivan Show 1956 ein. Er performte den Song „Hound Dog“. Der Sänger zeigte zunächst nur mit dem Zeigefinger auf das Publikum, im weiteren Verlauf wurde diese jedoch zur „Mano Cornuta“3.

2

EvilG. 2001, o.S..

3

Vgl. youtube. Minute 2’13’’. Elvis Presley. Hound Dog On Ed Sullivan Show.

54 | Aufführungsrituale der Musik

Schlager / volkstümliche Musik Schlager Abbildung 18: Schlager

Quelle: Smalltown Boy

Das Stilfeld Schlager vermittelt die Inszenierung künstlicher Schönheit durch Blumenschmuck, adrette Kleidung und illusionsreiche Bühnengestaltung. Das Lied, das dem Publikum aus dem Herzen spricht, steht im Zentrum der Performance. Intensive Beteiligung wie Mitsingen, Schunkeln, Tanzen etc. ist erlaubt und erwünscht.

2 Vorstudien | 55

Abbildung 19: Schlager

Quelle: Jan-Peter Kasper

Der Blick schaut in ein imaginäres Land, die Gestik unterstreicht die Worte illustrierend und emotional. 2.1.1 Geste und Position im (Bühnen-)Raum Gestik ist die Gesamtheit der Gesten, die als Bewegungen der zwischenmenschlichen Kommunikation dienen. Insbesondere Bewegungen der Arme, der Hände und des Kopfes begleiten oder ersetzen Mitteilungen in einer jeweiligen Lautsprache. Gesten sind Zeichen der nonverbalen Kommunikation. „Der Austausch von Information ist mit Gefühlen verbunden und die Äußerung von Gefühlen ist ohne Zeichen nicht möglich.“4 Gestik und Gestikulation zeigen mentale Abläufe, und sie sind ein aktueller Ausdruck der Psyche einer Person. Der Begriff „Geste“ geht auf das lateinische Wort „gestus“ zurück das Haltung (des Körpers), Bewegung (von Händen) und Gebärden (Gesten) bezeichnet.

4

Fricke 2003, S. 185.

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„Gestus“ ist das Partizip Perfekt von gerrere, das „machen“, „sich verhalten“ bedeutet. „In etymologischer Hinsicht bezieht sich das Wort auf den in der Welt bewegten Körper, auf Tätigkeiten der Hand, auf menschliche Handlungen, auf Emotionen ausdrückende und darstellende Bewegungen einzelner Körperteile, auf die Performativität des Körpers und sozialer Handlungen.“5

Im 16. Jahrhundert ist die Bedeutung von „gesten machen“ als Beschreibung für die Handlungen von öffentlichen Spaßmachern belegt – eine Entlehnung aus lat. „gestus“, das die Gebärden eines Schauspielers oder Redners umfasst. Die lateinische Wortform „Gestus“ war dennoch bis ins 18. Jh. gültig Die Eindeutschung beginnt mit Gotthold Ephraim Lessings Verwendung des Plurals „Gesten“ in der Schrift Hamburgische Dramaturgie im Jahr 1767 und der Singularform „Geste“ bei Friedrich Schiller in Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795). Aus dem ursprünglichen Maskulinum Gestus wurde die feminine Form Geste – möglicherweise unter Einfluss des Synonyms Gebärde, das feminin ist. In der Kunstwissenschaft wird zwischen Gebärde (unbewusste Bewegung einer inneren Stimmung) und Gestik (entspringt einem reflektierten Bewusstsein ) unterschieden. Die Geste wird als phänotypisches6 Zeichen oder als Funktionsträger gelesen. Eine Geste kann einen nicht auf Kommunikation ausgerichteten Zweck erfüllen oder an eine/n Kommunikationspartner/in gerichtet sein. „Die Popkunst hat seit ihres Bestehens im Bereich der Gestik eigene semantische Codes ausgebildet, die jeweils vom zeitgenössischen Publikum auch verstanden werden.“7 Der Wandel der Bedeutung von Gesten vollzieht sich unterschiedlich schnell in den verschiedenen Stilfeldern. Gesten können im Laufe der Zeit neue Bedeutungen erlangen, oder ihre Bedeutung trotz Änderungen des musikalischen Kontexts behalten. Man spricht sowohl von Zitaten als auch von Neuschöpfungen. „Häufig agiert der Pop-Künstler in einem Spannungsfeld zwischen Privatperson und Bühnenfigur. Oft ist es deshalb äußerst schwer, eine öffentlich ausstellende Geste von einer privaten zu trennen, vor allem wenn die Irritation Teil der Ästhetik ist.“8

5 6

Wulf (u.a.) 2011, S. 7. (durch Erbanlagen und Umwelteinflüsse geprägtes) Erscheinungsbild eines Organismus

7

Jooß-Bernau 2010, S. 94.

8

Jooß-Bernau 2010, S. 395.

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Die Rezipierenden verbinden bestimmte Gesten mit Bühnenfiguren. Eine bestimmte Handbewegung oder der Umgang mit einem Instrument wird bewusst mit einem/r Künstler/in assoziiert. Ohne Interaktion des Körpers kann die Geste nicht existieren. Selbst die ruhende Geste wird aus einer verharrenden Bewegung erzeugt. „Die Geste liegt in der Bewegung, – auch die ruhende oder posenhafte Geste -, ohne sie, die Bewegung, wäre die Geste nichts. Aber die Geste verrichtet ihre Arbeit in der Bewegung, ohne die sie, die Bewegung nichts wäre. Denn nur mit der Offenheit des ZuKünftigen, was in der Geste liegt, kann die Bewegung sich realisieren.“9

Betrachtet man die Geste als Form der Interaktion, ist sie ein Aspekt des körperlichen Ausdrucksverhaltens verschiedener Akteur/innen und deren Bezugnahme aufeinander. Die Relation von Gesten und die dadurch ausgelöste Reaktion ergibt ein Schema, das eine signifikante Zuordnung zulässt. „Gesten wohnt ein transgressives Potential inne, mit dem sie herkömmliche Bedeutungskonventionen unterlaufen und ein Jenseits zur Artikulation bringen.“10 Die Geste auf der Bühne, variierend in den verschiedenen Stilfeldern, ist immer schon etwas, was gesehen wurde, etwas „Bekanntes“. Durch das Wiedererkennen der Gesten ist dem Publikum sein eigenes zukünftiges Handeln bewusst. „Die Geste wäre so etwas wie die Wiedereinholung der Fühlbarkeit im Akt der Signifikation. Ein flüchtiges zeitliches Moment des Übergangs an der Grenze von Dingwerdung und reflexionsloser entmenschlichter Fühlungshypertrophie.“11 Der dezente Applaus, der tosende Beifall oder der Jubel wird durch die vorhergehende Gestik der Musikschaffenden bestimmt. Die Reaktion der Rezipierenden ist automatisiert, man weiß, was zu tun ist. Jedes Stilfeld erlaubt in seinem autarken Zustand ein weitläufiges Spektrum an Gesten. Selbst wenn die Geste mehrfach wiederholt wird, liegt in ihr etwas Transgressives. Der Umgang mit einem Instrument ist – trotz unzähliger Wiederholungen – immer eine neue Herausforderung. Diverse Arten des Gitarrenspiels stehen zum Beispiel in Verbindung mit herausragenden Künstler/innen. Pete Townshends Windmühlenschlag oder Jimi Hendrix‘ Ausführungen des Gitarrenspiels mit den Zähnen oder hinter dem Rücken gelten als Beispiele für gestische Selbstinszenierungen von Künstler/innen. Die Imitation ausgewählter Gesten auf

9

Skrandies in Görling 2009, S. 140.

10 Karger in Görling 2009, S. 244. 11 Karger in Görling 2009, S. 250.

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der Bühne ordnet sich bewusst in eine von Künstler/innen ausgehende Traditionslinie ein. „Das Bild der Pop-Bühne verweist wohl nicht auf eine bestimmte Ästhetik, sondern ist gekoppelt an ein visuelles Grundmuster, das sich ins kulturelle Gedächtnis eingegraben hat. Hierbei kommt es nicht darauf an, eine bestimmte ästhetische Form als Vergleich zu bemühen, sondern die Gesamtheit eines kulturellen Musters zu konstatieren.“12

Vergleicht man die Anordnung einer Rock-Band während eines Auftritts mit einem Symphonie-Orchester werden kulturell vordefinierten Parallelen sichtbar. Die Aufstellung von Musikschaffenden auf der Bühne funktioniert schematisch strukturiert. Es ist unmöglich die Rhythmusgruppe an der Bühnenrampe und die restlichen Musiker/innen dahinter zu positionieren. Bereits ein auf der rechten oder linken Bühnenseite platziertes Schlagzeug wirkt auf Rezipierende ungewöhnlich. Die Frage, wann sich dieses formal-ästhetische Muster der Bühneneinteilung historisch manifestiert hat, lässt sich am Vorbild der griechischen Antike beantworten. Bis zu Einführung mehrerer interagierender Schauspieler durch Aischylos hatte der Chor in seiner Gesamtheit neben dem Protagonisten eine Darstellungsfunktion. Eine Vergleichsfunktion zur heutigen Pop-Bühne weist das barocke Theater auf. Mirgit Legler und Reinhold Kubik beschreiben in „Prinzipien und Quellen der barocken Gestik“13 folgende Grundregeln zur Aufstellung der Darsteller/innen auf der Bühne: „1. Die Aufstellung spiegelt – auf der Bühne wie im Leben festen Regeln folgend – den sozialen Rang der Figur wider. Bei zwei Personen nahm die höhergestellte Person oder die Dame die rechte Position (rechts –“stage right“) – vom Zuschauer aus gesehen. Bei drei oder mehr Personen stand die höchste Person in der Mitte oder rechts („stage right“) von der Mitte [...] 6. Personen, die in der Szene überhaupt schwiegen, standen hinter den sprechenden Personen.“

Analog dazu existieren auf der Rock-/Popbühne Hierarchien, sichtbar an der Stellung der Musiker/innen. Den Leadsänger/innen wird ein zentraler Platz ein-

12 Jooß-Bernau 2010, S. 99. 13 Kubik, Legler in Siegmund 2003, S. 56.

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geräumt. Die Präferenz der rechten Bühnenseite ist zusätzlich vorhanden, diese wird von Leadgitarrist/innen oder Keyboarder/innen bevorzugt. Der Sozialhierarchie weicht auf der Popbühne die performative Hierarchie. Man unterscheidet hierbei die Rangordnung von Melodie-, Begleit- und Rhythmusinstrumenten. „Gibt beispielsweise ein Musiker seinen Kolleginnen durch eine bestimmte Geste, einen Einsatz, ähnlich einem Dirigenten, lässt sich diese Geste [...], auf zweierlei Art lesen: Einmal ist zu fragen, auf welches Zeichenrepertoire sich die Geste beruft, ob es beispielsweise festgelegte Gesten gibt, mit denen MusikerInnen untereinander kommunizieren, zum anderen gilt es, die Frage der Botschaft zu stellen; was bedeutet und was bewirkt die Geste.“14

Die Lautstärke, der bewusste Einsatz von Verstärkern, und der definierte Rhythmus wirken direkt auf den Körper der aktiv und passiv Agierenden ein, die Musik wird verkörperlicht. „Rock- und Popkonzerte leben in der Regel von ausdrucksstarkem gestischem Verhalten, welches jedoch oft nicht oder nur rudimentär von Sprache begleitet wird.“15 Der Einsatz von Gesten beim Rockkonzert verbindet Band und Publikum zu einer Einheit, die nur während des Erlebens des Konzerts existiert. Die Musik wird durch die Verwendung von kollektiver, körperbezogener Gestik erlebbar gemacht. Die Musizierenden übersetzen das musikalische Erlebnis in Gesten, das körperliche Ausdrucksverhalten reproduziert die Musik. „[...] a musical gesture motivates imitative representations that are not confined to the modality in wich they are produced (for example, the finger and arm movement of a violinist). This means that a gesture has a meaning which is at once in accord with its mode of production and transcendent of its mode of production.“16

Die angesprochene Finger- und Armbewegung des/der Violinist/in imitiert also nicht einfach nur das gestische Verhalten dieses Berufsstandes, sondern steht im Einklang mit ihrer Produktionsweise und überschreitet diese. Die Bewegung des/der Geigenspielenden verweist auf das gespielte Instrument, verankert im kulturellen Gedächtnis der Rezipierenden. Prägender als die Gestik der Musizierenden im Symphonieorchester ist die des/der Dirigent/in. Der funktionelle bzw. produktionstechnische Aspekt des Dirigierens manifestiert sich in der partiturge-

14 Jooß-Bernau 2010, S. 92. 15 Blaschke, Mattig in Wulff (u.a.) 2011, S. 75. 16 Cox in Gritten, King 2006, S. 51.

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leiteten Interaktion mit dem Orchester, darüber hinaus transzendiert sich diese Gestik im Sinne eines Personalstils und Showelements. Am Ende des jeweiligen Musikstücks wird zunächst die Spannung gehalten und letztlich durch eine entspannungslösende Geste dem Publikum ein Signal zum Applaus gegeben. Im Bereich Dance/HipHop/Elektronik etwa ist der Stellenwert der Gestik im musikalischen Repertoire nicht wegzudenken. Der/die MC wird zum/r Zeremonienmeister/in, der/die die Performance mit einem gestischen Einsatz eröffnet, begleitet und auch wieder beendet. Die Bewegung lässt sich von der Musik inspirieren, dies geschieht auch umgekehrt. Die körperlichen Quellen der Musik sind der Tanz und der Mund (Beatboxing und/oder Rap). Durch tänzerische Einlagen der B-Boys und B-Girls wird die Publikumsanimation verstärkt. Die Funktion des/der DJs findet neben der Publikumsanimation auch in der Produktion der Tracks und im Scratchen ihre Umsetzung. Die Schallplatte erhält durch die Gesten des Scratchenden neue Bedeutungen, die über ihre Funktion als Tonträger hinausgeht. Der Klangkörper geht durch den Einsatz des/der DJs über seine akustische Reproduktion hinaus. Das Ergebnis ist improvisiert und nicht wiederholbar. Die Performance nicht auf die Sekunde genau imitierbar. „[...] Im Loopen und Scratchen finden sich analytische Mikroimprovisationen über den Ereignishorizont einer Geste ein [...]“17 Der Prozess der Improvisation eingeleitet durch die Geste des Scratchens entzieht sich der Imitierbarkeit auf musikalischer Ebene, die Geste selbst findet ihre Imitierung in mannigfacher Weise, doch der erzeugte Klang ist einzigartig. Daraus folgt, dass Gesten und Positionen im Bühnenraum geeignete Indikatoren für Stilfeldervergleiche zu sein scheinen. 2.1.2 Exkurs: Die „vierte Wand“ als Analysekategorie Eine vergleichende Analyse der Stilfelder kann auch unter dem Gesichtspunkt der sogenannten „vierten Wand“ erfolgen. Als „vierte Wand“ wird in der Theaterwissenschaft die zum Publikum hin offene Seite einer Guckkastenbühne bezeichnet. Sie ist eine imaginäre Wand und wurde zum zentralen Begriff in der Theorie des naturalistischen Theaters gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Innerhalb einer Bühnenhandlung existiert eine imaginäre vierte Wand, weil die Darsteller/innen sie im Spiel als vorhanden beachten, diese weder durchschreiten noch mit dem Publikum interagieren. Ein/e Akteur/in kann jedoch aus der Rolle fallen und in dieser Weise die vierte Wand durchbrechen. Zum Beispiel indem er/sie auf Beifallskundgebungen aus dem Publikumsraum reagiert.

17 Gaigg (u.a.) in Görling 2009, S. 181.

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Der Chor des Theaters der griechischen Antike stand zwischen den handelnden Personen und dem Publikum. Der Chor bot Informationen zum Inhalt der Aufführungen und dem Publikum eine Hilfestellung, um dieser zu folgen. Zusätzlich kommentierte er die Handlung und zeigte den Zusehenden, wie ihr ideales Verhalten auszusehen hätte. In der griechischen Antike gab es keine direkte Trennung zwischen dem Aufführungsraum und dem Publikum. Diese Trennung war auch zu Beginn der Neuzeit noch nicht vorhanden, so wird überliefert, dass in Francis Beaumonts Stück The Knight of the Burning Pestle aus dem frühen 17. Jahrhundert drei Personen durch Zurufe aus dem Publikumsraum die Schauspieler zur Änderung des Stücks aufriefen. In der französischen Klassik kam es erstmals zur Vermeidung von Illusionsbrüchen für das Publikum. Eine klare Trennung zwischen der Bühne und dem Publikumsraum wurde angestrebt. Im Unterhaltungstheater war das Spiel zum Publikum, also das Heraustreten aus der Handlung, weiterhin gängig. Zu den gängigen Stilmitteln zählten Extempores – Improvisationen als Einlage im Schauspiel, einer Rede oder in der Musik (diese setzen in der Regel eine fundierte Beherrschung der jeweiligen Kunstform voraus) und das A-part-Sprechen (eine Bühnenfigur sagt etwas in Richtung Publikum, dies kann improvisiert oder aus dem Libretto entnommen sein, die Dialogpartner sollen diese Aussage nicht mitbekommen, die Worte sind für die Zusehenden bestimmt). Im Jahr 1758 erschien Denis Diderots Stück Der Hausvater18, welches das A-part-Sprechen als verbreitete Unsitte der Schauspieler/innen verstand. Die im 19. Jahrhundert entstandene Vorstellung einer „vierten Wand“ korrespondiert mit der Bereitschaft etwas Fiktivem Glauben zu schenken. Der englische Dichter Samuel Taylor Coleridge bezeichnete diese 1817 als „willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit“ im englischen Originaltext als „willing suspension of disbelief“19 ausgeführt. Damit bezieht er sich auf die Bereitschaft eines Rezipienten, die Vorgaben eines fiktionalen Werkes (etwa eines Romans oder eines Spielfilms) vorübergehend zu akzeptieren, sogar wenn diese fantastisch oder unmöglich sind. Sie erklärt auch, warum das Wissen des Publikums um die Fiktionalität des Erzählten sich nicht störend auf den Kunstgenuss auswirkt. Diese Bereitschaft der Akzeptanz fiktiver Handlungen wird auch von Goffman als typisch für den „Theaterrahmen“20 gesehen. Bei Musikveranstaltungen kann die „vierte Wand“ zur Unterscheidung von Andachtsritual und Animationsritual herangezogen werden. Während das An-

18 Französischer Originaltitel: Le Père de famille. Discours sur la poésie dramatique. 19 Coleridge 1834, S. 174. 20 Vgl. Goffman 1980, S. 143.

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dachtsritual eine klare Trennung zwischen Musiker/innen und dem Publikum etabliert, versucht das Animationsritual diese bewusst zu durchbrechen. Das Bildmaterial zeigt, dass sich die Konventionen der einzelnen Stilfelder innerhalb dieser Polarität positionieren: Vom Publikum wird entweder ungeteilte stille Aufmerksamkeit oder körperlich aktives Mitmachen oder eine Mischform beider Rituale erwartet. Unter dem Gesichtspunkt der Trennung von Bühne und Publikum kann nun ein erster Ansatz einer vergleichenden Stilfelderanalyse versucht werden: Die Aura der Komposition darf bei Konzerten des Stilfelds Klassik/zeitgenössische Musik nicht gestört werden, deshalb erfolgt der Applaus erst am Ende von Werken. Die Konventionen des Andachtsrituals werden im Bereich der Neuen Musik zwar strikt beachtet aber nicht starr beibehalten. Es existieren Versuche diese kontrolliert aufzubrechen und das Publikum in das Ereignis einzubinden. Gemischte Konventionen weist das Stilfeld Jazz/improvisierte Musik auf. Die historische Entwicklung vom Animationsritual des Showbusiness in Richtung Andachtsritual führte tendenziell zu einer Trennung zwischen Musikschaffenden und Publikum. In Jazzclubs ist jedoch üblicherweise die ungeteilte Aufmerksamkeit mit der Möglichkeit zu essen und zu trinken verbunden. Nach gelungenen improvisierten Solis darf und soll während eines Musikstücks applaudiert werden. Das Repertoire des Stilfelds Volksmusik/World Music wird mittlerweile weitgehend aus alltäglichen Gebrauchszusammenhängen herausgelöst und auf Konzertbühnen oder medialen Kanälen inszeniert. Die Einbindung des Publikums durch gemeinsames Klatschen, Singen und Tanzen ist jedoch „live“ weiterhin möglich und erwünscht. Kulturelle Zugehörigkeit wird häufig auch durch gemeinsame Kleidung (Tracht) unterstrichen. Die elektronische Tanzmusik gilt als Kommunikationsmittel zwischen DJ und tanzendem Publikum. Im HipHop steht neben der Musik auch der (akrobatische) Tanz als Verbindungsglied zwischen Musikschaffenden und Publikum. Jede/r wird animiert, Teil des Erlebnisses zu sein. Elektronische Medien sind integrierender Bestandteil des Stilfeldes Dance/HipHop/Elektronik sowohl in der Produktion („Remix“) der Aufführung („Rave“, „Party“, „Clubbing“), der Distribution („Tracks“) und des interaktiven Konsums über das Internet („Clips“ and „Comments“). Im Pop-/Rockbereich und auch im Schlager ist die Interaktion mit dem Publikum fixer Bestandteil jedes Konzerts. Das Publikum soll mitsingen, mittanzen, klatschen und andere Formen der physischen Anteilnahme praktizieren. Im Stilfeld Rock-/Pop Musik kann das Animationsritual verschiedene stilspezifische

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Codes (Outfit, Gestik) enthalten und im Extremfall in Richtung „stage diving“ gehen (ein Bandmitglied springt ins Publikum und wird kollektiv auf Händen getragen und weitergereicht). Im Stilfeld Schlager/volkstümliche Musik werden Bierzelt-Rituale wie z.B. Schunkeln oder Tanzen im Gänsemarsch praktiziert (bzw. in Fernsehshows inszeniert). Auch hier spielen stilspezifische Codes, die Bühne und Publikum miteinander verbinden, eine wichtige Rolle (Lederhose, Dirndl, ...). Die Moderation (Conférance) der Musiker/innen, der verbale und mimisch-gestische Kontakt mit dem Publikum zwischen den Musikstücken, fungiert in beiden Stilfeldern als wichtige Brücke. Da in weiterer Folge vor allem Musikvideos als Forschungsmaterial herangezogen werden, wurde zunächst eine Analyse und Interpretation anhand eines ausgewählten Clips probeweise durchgeführt: Wiener Blond „Kaana waas warum“ (2015).

2.2 VIDEOANALYSE WIENER BLOND: „KAANA WAAS WARUM“ MIT SCHWERPUNKT AUF GESTIK In aktuellen Videoclips ist der Stellenwert der Gestik im Bewegungsrepertoire nicht mehr wegzudenken. Deshalb wird im Folgenden das Video „Kaana Waas Warum“ des Duos „Wiener Blond“ – ein Crossover von Wiener Lied, HipHop und Austropop – mit Schwerpunkt auf die Funktion der Gesten untersucht. Verena Doublier und Sebastian Radon bilden das Duo Wiener Blond, das sich selbst in die Genres „Wienerlied“, „Beatbox“ und „Pop“ einreiht. Ihre Textund Musikkreationen werden von einer Loop-Station, einer Gitarre und einer Cajon begleitet. Der Song „Kaana Waas Warum“ des Duos kann dem Genre Dialektpop zugeordnet werden. Das Beatboxing gibt den Takt vor, Verena Doublier und Sebastian Radon singen gleichzeitig dazu. Ein Backgroundchor ist während des Refrains zu hören, sonst dominieren Radons und Doubliers Stimmen und das Beatboxing den Song, andere musikalische Stilmittel werden nicht verwendet. Lyrics von „Kaana Waas Warum“21 Kaana waas warum, na und kaana waas wiesoWarum bist du vo durt und warum bin i vo doKaana waas warum, kaana kann des recht versteh-

21 Wiener Blond: Lyrics Kaana waas warum. https://www.musixmatch.com/de-/songtext /Wiener-Blond/Kaana-waas-warum (Zugriff: Juni 2021)

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Codes (Outfit, Gestik) enthalten und im Extremfall in Richtung „stage diving“ gehen (ein Bandmitglied springt ins Publikum und wird kollektiv auf Händen getragen und weitergereicht). Im Stilfeld Schlager/volkstümliche Musik werden Bierzelt-Rituale wie z.B. Schunkeln oder Tanzen im Gänsemarsch praktiziert (bzw. in Fernsehshows inszeniert). Auch hier spielen stilspezifische Codes, die Bühne und Publikum miteinander verbinden, eine wichtige Rolle (Lederhose, Dirndl, ...). Die Moderation (Conférance) der Musiker/innen, der verbale und mimisch-gestische Kontakt mit dem Publikum zwischen den Musikstücken, fungiert in beiden Stilfeldern als wichtige Brücke. Da in weiterer Folge vor allem Musikvideos als Forschungsmaterial herangezogen werden, wurde zunächst eine Analyse und Interpretation anhand eines ausgewählten Clips probeweise durchgeführt: Wiener Blond „Kaana waas warum“ (2015).

2.2 VIDEOANALYSE WIENER BLOND: „KAANA WAAS WARUM“ MIT SCHWERPUNKT AUF GESTIK In aktuellen Videoclips ist der Stellenwert der Gestik im Bewegungsrepertoire nicht mehr wegzudenken. Deshalb wird im Folgenden das Video „Kaana Waas Warum“ des Duos „Wiener Blond“ – ein Crossover von Wiener Lied, HipHop und Austropop – mit Schwerpunkt auf die Funktion der Gesten untersucht. Verena Doublier und Sebastian Radon bilden das Duo Wiener Blond, das sich selbst in die Genres „Wienerlied“, „Beatbox“ und „Pop“ einreiht. Ihre Textund Musikkreationen werden von einer Loop-Station, einer Gitarre und einer Cajon begleitet. Der Song „Kaana Waas Warum“ des Duos kann dem Genre Dialektpop zugeordnet werden. Das Beatboxing gibt den Takt vor, Verena Doublier und Sebastian Radon singen gleichzeitig dazu. Ein Backgroundchor ist während des Refrains zu hören, sonst dominieren Radons und Doubliers Stimmen und das Beatboxing den Song, andere musikalische Stilmittel werden nicht verwendet. Lyrics von „Kaana Waas Warum“21 Kaana waas warum, na und kaana waas wiesoWarum bist du vo durt und warum bin i vo doKaana waas warum, kaana kann des recht versteh-

21 Wiener Blond: Lyrics Kaana waas warum. https://www.musixmatch.com/de-/songtext /Wiener-Blond/Kaana-waas-warum (Zugriff: Juni 2021)

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Manche hams hoit oarsch und andere hams scheKaana waas warum, na und kaana was wieso Wieso is des a so dass du vo durt bist und ned vo do Warum waas des kaana, kaana kann des irgendwie versteh Du host durt den Kirzan zogn und wir hams do so sche Casablanca-Zigarettn, Feuerwerksraketen Goldene Manschetten und Parkemedtablettn Warum hob i des scho und warum host du des ned? Bled. Wir wohnen in der Wohnung von der Mama Des Toschngöd vom Papa des daspar ma Mit dem moch ma dann am Samstag Ramba Zamba Jede Wochn weu wir wolln ja nix versama Wir wohnen in der Wohnung von der Mama Des Toschngöd vom Papa des daspar ma Auf a Navi und an seidenen Pyjama Andre Leut tan von an so am Standard trama Kaana waas warum, kaana checkt warum ma des mochtWir san den ganzen Tog auf Facebook, sogoa in da NochtDass bei unsrer Generation glei die Wirtschaft krochtIs ka Wunder wamma so wia mia mit Wossa kochtSpüh di ned mit uns, spüh di liaba mit deim Leben So an Johrgang wia den hots scho lang nimma gebn Wir san da Inbegriff von Orientierungslosigkeit Wos unsre Lehrer vo friara besonders gfreit Wir wohnen in der Wohnung von der Mama… A jeda hots scho gheart und kaana hots vagessn Kaana hots verstandn – oba olle hommas gfressn Weil a jeda waas genau, dass ma des zum Leben braucht Wia a Haus und a Auto und a Liacht in da Nocht Kaana wüs gern hean – oba es geht bergab Solang kaana checkt – wos des ois mit uns mocht Wir ham so viel zum Essn, oba kaana wird satt Weil a jeda mecht gern hobn wos ka ondara hot

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A Villa am Meer statt da Wohnung im Parterre An super Körperbau, an Porsche und a Trüffeldessert Warum host du des scho und warum hob I des ned? Bled.

Videoanalyse zu „Kaana Waas Warum“ mit Schwerpunkt auf Gestik Das Geschehen ist an der Theke eines Fleischhauers – erkennbar an der Kulisse – angesiedelt. Im Intro werden einige Utensilien der Reihe nach eingeblendet: Semmeln bilden eine vertikale, Essiggurken eine horizontale Linie mit Wursttellern an den Enden. Die erste Strophe wird von mechanischem Zubereiten von Wurstsemmeln begleitet. „Wiener Blond“ ist mit dem Aufschneiden von Semmeln beschäftigt. Die zackigen Bewegungen sind dem Rhythmus des Songs angepasst. Während des Refrains (0:40) sind die Gesten des Semmelzubereitens in der Luft – also ohne Utensilien – zu sehen: Semmel in der Hand, Wurst auf der Schulter, Wurst wird weggefegt, Beckendrehung, dann kommt die Gurkenscheibe in die Semmel, zumachen, einpacken. Im Hintergrund imitieren Backgroundtänzer und -tänzerinnen die Bewegung, bewegen zusätzlich die Beine im Takt. Diese Bewegungen deuten auf die mechanische Arbeitswelt, also auf fließbandartige Arbeitsprozesse, hin. Während der zweiten Strophe sind Kulisse und Theke rot, die Kleidung des Duos weiß. Der farbliche Unterschied verweist auf den Unterschied Tag (weiß) und Nacht (rot). Die Semmeln werden wieder in zackiger Bewegung aufgeschnitten. Mit der Zeile „Wir san den ganzen Tog auf Facebook, sogoa in da Nocht“ erfolgt ein zusätzlicher Verweis auf die Nacht als Textebene. Die Band bezeichnet die heutige Generation als „Inbegriff von Orientierungslosigkeit“ während sie weiterhin wie am Fließband Wurstsemmeln einpackt. Das Bewegungsrepertoire bei der Wiederholung des Refrains entspricht der ersten Version, allerdings wechselt der szenische Hintergrund, es kommt zu einer Vermischung von Tag und Nacht. Bei dem Wort „träumen“ erlangt die Geste des Festhaltens – in diesem Fall von imaginären Wurstsemmeln – Bedeutung. Das Duo verharrt im dritten Abschnitt in dieser Position. Im Background werden typische Moves der B-Boys und B-Girls aufgeführt, in denen Beine, Oberkörper und Hände in Bewegung kommen. Die Tänzer und Tänzerinnen sind auch ohne das Gesangsduo zu sehen, sie tanzen individuell, stehen also im Gegensatz zu den mechanisch wiederkehrenden Arbeitsbewegungen.

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Bei der zweiten Wiederholung des Refrains erfolgt die Montage verschiedener Sequenzen: das Duo beim Wurstsemmel Zubereiten, an der Seite der Theke stapeln sich fertige Semmeln, der Background ist nun auch alleine bei tänzerischen Solis zu sehen. Diese beinhalten Sprünge, ausgelassene Bewegungen und für HipHop typische Tanzgesten. Als weitere Beispiele der zusammenhängenden Bild- und Textebene sind anzuführen: Bei der Zeile „Jede Wochn weu wir wolln ja nix versama“ schaut die Sängerin auf die Uhr, bei dem Wort „Rambazamba“ findet ausgelassenes Hüftwackeln statt. Immer wieder sind Elemente aus der Choreographie des Refrains zu sehen. Die letzte Zeile wird starr vor der Theke gesungen, die Semmeln sind nun fertig verpackt. Am Ende erfolgt die Auflösung des Geschehens mit dem Hinweis: „Feinkost Semmulator 2“, das Video imitiert hier also ein Computerspiel. Auf der Homepage von „Wiener Blond“ wird das Musikvideo als „Unsere Hommage an die Wurschtigkeit der Nation, jetzt in Bild und Ton online!“22 angekündigt. Fazit: Der Musikvideoclip von Wiener Blond unterstreicht visuell den Text des Songs „Kaana Waas Warum“. Obwohl das Duo sich einer Zuschreibung zu einem spezifischen Genre widersetzt, können durch die Analyse des Clips bestimme Inszenierungsstrategien herausgelesen werden. Eine Choreografie, die auf stupide Arbeitsabläufe und die Wiener Wurstsemmel als Metapher für „Wurschtigkeit“ anspielt, der Einsatz von Backgroundtänzerinnen, die die typischen Moves von B-Boys und B-Girls imitieren und die Präsenz der Farben Weiß und Rot (der österreichischen Flagge) verweisen exemplarisch auf die Einflüsse der Genres Wiener Lied, HipHop und Austropop. Durch den Einsatz der Videoclipanalyse kann neben klanglichen und textlichen Parametern auch die Funktion von visuellen Komponenten für das Gesamtkonzept einer musikalischen Inszenierung in Hinblick auf die (Neu-)Konstitution von Kultur durch Kunst untersucht werden. Die Analyse und Interpretation audiovisueller Sequenzen verspricht alle relevanten Bedeutungsträger der musikalischen Kommunikation in den Blick zu bekommen. Um allerdings die stilfeldtypischen Interaktionen von Bühne und Publikum beobachten zu können wird es notwendig sein, nicht nur künstlich gestaltete Videoclips sondern auch Filmdokumente von Live-Aufführungen ins Sample zu nehmen.

22 Wiener Blond Homepage. Allgemeines. (Zugriff: Juni 2021)

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2.3 BEGLEITENDE STUDIE ZUM PROJEKT „THE CUBE – DAS CROSSOVER ORCHESTER DER MDW“ Im Rahmen des Projekts „THE CUBE – Das Crossover Orchester der MDW“ fand am Samstag, den 9. Mai 2015, ein Konzert im ORF Radio Kulturhaus mit dem Titel „A Journey into Jazz“ statt. Unter dem Motto „Symphony Orchestra meets Big Band“ musizierten das Pro Arte Orchester der mdw, die ipop-Bigband und Gäste. Dieses Konzert war Teil des Gesamtprojekts „Performing Translation“ der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Begleitend dazu wurde eine Befragung der Mitwirkenden durchgeführt. Dabei ging es institutsübergreifend um die Untersuchung von Übersetzungsprozessen und deren künstlerische, wissenschaftliche und pädagogische Darstellung. Die Kooperation von Musikerinnen und Musikern aus Klassik und Popularmusik ist ein Feld, in dem eine Vielzahl von Translationen (Übersetzungen) stattfindet. Die Erfassung dieser Erfahrungen untersuchten wir im Rahmen einer qualitativen Studie, die in Kooperation mit dem Organisator von „CUBE“ Horst-Michael Schaffer durchgeführt wurde. Den Teilnehmenden wurde nach der Generalprobe ein Fragebogen ausgeteilt, der folgende Bereiche beinhaltete:  Welche Rolle (Instrument, Dirigent/in,...) spielen Sie/spielst du im Projekt »A Journey Into Jazz«?  Welchen Bereich würden Sie/würdest du als deine musikalische Herkunft (Klassik, Jazz/Pop, ...) bezeichnen?  Wie erleben Sie/erlebst du die Begegnung von Klassik und Jazz/Pop?  Welche Herausforderungen stellen sich und wie werden sie bewältigt?  An welchen Stellen bzw. in welchen Situationen muss Neues gelernt werden (bitte um ein konkretes Beispiel)?  Welche Unterschiede gibt es zwischen den Aufführungsritualen in Klassik und Jazz/Pop?  Was nehmen Sie /nimmst du aus dem Projekt für dich mit? Die Befragung fand am 9. Mai 2015 statt. 16 der 17 befragten Personen waren aktiv am Crossover-Projekt beteiligt. Eine Person nahm an der Umfrage in der Position eines Wissenschaftlers im Rahmen der Forschungsprojekte „Performing Translation“ und „Performing Diversity“ teil. Die teilnehmenden Musiker/innen spielten folgende Instrumente: Violoncello (2x), Flöte (2x), Trompete (2x), Klavier, Bratsche, Violine, Oboe, Fagott, Kontrabass, Tenorsaxophon und Posaune. Auch einer der Dirigenten nahm an der Befragung teil.

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Bezüglich der musikalischen Herkunft der befragten Personen zeigte sich folgendes Bild: Acht Personen bezeichneten die Klassik, fünf Personen Jazz/Pop und vier Personen beide Bereiche als ihre musikalische Herkunft. Die Frage „Wie erleben Sie/erlebst du die Begegnung von Klassik und Jazz/Pop?“ wurde mehrheitlich positiv beantwortet. Dreizehn Personen befanden die Zusammenarbeit als wertvoll, vier der Befragten beantworteten die Frage negativ. Von einigen befragten Personen wurde das gemeinsame Lernen und Erleben und der Verweis darauf, dass es genreübergreifende Projekte öfters geben sollte angemerkt: „Es sind 2 verschiedene Typen von Mensch, die aufeinander stoßen. Es sollte öfters stattfinden, damit dies kein so großes ‚Schockerlebnis‘ wird“ / „Ich bin der Meinung, dass die Grenzen zwischen den Gattungen immer mehr und mehr unklar werden. Es gibt Pop/Jazz Elemente auch bei Mozart und Beethoven und klassische Formen in der Theorie von Jazz. Beide Seiten haben den Anderen vieles anzubieten und wir können sehr viel von den Anderen lernen. Ich unterstütze solche Projekte und glaube, dass sie nicht nur Spaß machen, sondern auch eine unersetzbare Rolle spielen im Leben eines/r modernen Musikers/in“. Negativ wurde die ungenügende Vorbereitung des Orchesters, aber auch die Lautstärke der BigBand bewertet: „Die Musik ist gut, aber sehr laut, sobald die BigBand spielt, sind die Holzbläser nicht hörbar. Die Dynamik ist mindestens eine Stufe lauter als im klassischen Bereich. Insgesamt steht Rhythmus im Vordergrund“ / „Es ist komplizierter als gedacht, das Orchester hat die Musik leider nicht so ernst genommen und war im Vergleich zur BigBand relativ schlecht vorbereitet“. Die Zusammenarbeit von Pro Arte Orchester, ipop-Bigband und Gästen war mit künstlerischen Herausforderungen verbunden. Zu diesen zählten das Timing und die Rhythmik, die Lautstärkenanpassung, feine und unerwartete Tempoänderungen, Phrasierungen und vor allem das allgemeine Zusammenspiel. Die Arbeit mit wechselnden Dirigenten wurde als Herausforderung beschrieben, da in beiden Genres unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Führung eines Orchesters gelten: „Da wir eher Jazzmusik in diesem Projekt spielen, liegen die Herausforderungen eher beim Orchester, weil ‚die nicht zählen können‘ bzw. finden wir den Beat anders.“ Die Bewältigung dieser Herausforderung wurde von den Probanden unterschiedlich beantwortet. Das konzentrierte Zählen, der Wunsch nach mehr Geduld seitens der Jazzmusiker/innen, nach eigenen Streicherproben und der Wunsch nach häufiger stattfindenden Crossover-Veranstaltungen dieser Art wurden erwähnt: „Noch mehr Erfahrungen! Viele Veranstaltungen helfen uns“ zählten zu den vorgeschlagenen Bewältigungsstrategien.

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Da von Seiten der Musiker/innen nur 16 Fragebögen retour kamen, musste über mögliche Gründe nachgedacht werden. Auf den hohen Anteil von nichtdeutschsprachigen Mitgliedern des Pro Arte Orchesters hätte eventuell durch eine Befragung in englischer Sprache Rücksicht genommen werden können. Bei einer Kooperation von Musikerinnen und Musikern aus Klassik und Popularmusik finden eine Vielzahl von Translationen (Übersetzungen) statt. Die Befragten wurden gebeten, konkrete Beispiele für die Erfassung dieser Erfahrungen zu beschreiben: „Rhythmische Muster in ‚Dangerous Liaison’“ / „Das „in-time“-Spielen, man muss immer auf den Bass hören, um pünktlich sein zu können“ / „Anpassung der Artikulation/Solistische Taktsicherheit“ /“nicht rausfliegen bei vielen Pausetakten mit Taktwechsel und Form, die nicht sofort ins Ohr geht“ / „Die Klassiker müssen ganz genau den Rhythmus spielen, die Noten werden ohne Phrasierung gespielt. An sich nicht schwer, aber ich beobachte, dass den meisten dies schwerfällt. Auch ‚open‘ scheinen die meisten nicht ganz zu begreifen. Ich glaube nicht, dass die Bigband sehr anders spielen muss, nur weil ein Orchester dabei ist“ / „Wie man jeden Einsatz in Vierteln geben muss, auch wenn eine Tempoangabe in den Jazzcombo-Halben steht (Takt 83, 94)“/ „Ghost notes, sehr viel forte, ‚on time‘ zu spielen“ / „An das Dirigieren der Klassiker muss man sich sicherlich erst mal gewöhnen“ / „Artikulation von Rhythmen, Patterns“ / „Es ist relativ wichtig, den Dirigenten gut lesen zu können“ / „Im großen Orchester hat man als Trompeter eine andere Funktion als in der Bigband. Man hat keine führende Rolle, man ist nur eine Klangfarbe von vielen“. Häufig wurden die unterschiedlichen Konzeptionen von Rhythmus angesprochen: „time“-Konzept im Jazz, „Atmungs“-Konzept in der Klassik. Auch die unterschiedlichen Grundauffassungen der Kommunikation zwischen Dirigent/in und Ensemble wurden erwähnt: Klassisches Dirigat: Ereignis avisieren, Jazz Big Band Leitung: Ereignis zeitlich punktgenau treffen. Ein Fokus der Untersuchung lag auf den Unterschieden zwischen den Aufführungsritualen in Klassik und Jazz/Pop. Das Aufführungsritual im Jazz/Pop wurde als léger beschrieben, als im Gegensatz zur „geordneten Disziplin im großen Orchester beim klassischen Repertoire“ stehend. Die Spontanität im Jazz/Pop im Gegensatz zur Klassik wurde erwähnt. In der Klassik schlägt der Dirigent voraus. Die unterschiedlichen Auffassungen des Themas „time“ sowie Dirigat wurden genannt. „Die Hauptsache ist das Tempogefühl. Im Bereich der Klassik ist ein Tempo viel elastischer, im Jazz aber ist es fix. Die Drums führen das Ganze“. Dem Jazz werden von einem Befragten „lustige“, „schöne“ Momente zugeschrieben, der Klassik „seriöse“, „emotionale“, „auch traurige“ Momente. Die Publikumsreaktion war ein weiterer Unterschied. „Oft ist das Publikum bei klassischen Konzerten ganz still und hört nur zu, keine physische Be-

70 | Aufführungsrituale der Musik

wegung. Ich glaube, dass es erlaubt ist, dass man sich beim Jazz oder Popkonzert mehr (mit den Rhythmen) bewegen darf“ / „Lange Töne werden hingestellt, die Einsätze sind immer betont. In der Klassik werden Töne mehr ausgekostet und lange Töne immer entwickelt“. Unterschiede des Betretens der Bühne wurde genannt: „Das ‚auf die Bühne Kommen‘ wird in der Klassik sicherlich anders zelebriert als im Pop, auch mit dem gemeinsamen Einstimmen“ / „Die Bigband stimmt normalerweise Backstage, Orchester auf der Bühne“. Die Improvisation im Jazz wird von den Musiker/innen, die sich der Klassik zuordnen, betont: „Jazzer spielen mehr nach Gehör – so soll es klingen, egal wie und was notiert ist“/ „In der Klassik gibt es durch eine lange Tradition sehr strenge Rituale. Im Jazz ist alles relativ spontan und freier“. Kritik an den universitären Ressourcen, die eine Ungleichheit zwischen Jazz/Pop und Klassik schafft, wird von einem/r Jazzmusiker/in geübt: „Meiner Meinung nach werden für die klassische Abteilung mehr Ressourcen von Seiten der Uni zur Verfügung gestellt (z.B. Instrumentenwart)“. Der Kleidungs- und Dirigierstil sind weitere Kriterien „Klassik: schwarz, Jazz: bunte Hemden, Dirigent weißes Hemd / Dirigierstil: Leichtigkeit/Eleganz (Klassik), Rhythmusmaschine (Jazz)“. Der individuelle Nutzen des Crossover-Projekts wurde von den Teilnehmer/innen mehrheitlich (elf Personen) als bereichernde persönliche Erfahrung beschrieben. Eine der befragten Personen gab das Honorar als persönlichen Mehrwert an, drei Personen konnten einen Nutzen für die eigene Spieltechnik mitnehmen, zwei Personen gaben „nichts“ an. Das Publikum ist während des Konzerts im bestuhlten Publikumsraum gesessen, es fanden Applausrituale statt, es wurde mitgewippt am Platz, niemand stand auf. Durch das Programm wurde per Ansage geführt. Fazit: Durch die Kooperation von Ensembles aus den Genres Klassik und Jazz entstand ein „neues“ Feld, in dem eine Vielzahl von Translationen stattfand. Die Teilnehmer/innen beobachteten Unterschiede im Probenablauf, in der Wahrnehmung des eigenen Instruments in einer andersartigen Ensemblekonstellation, im Stil der musikalischen Performance, der Art der Kommunikation zwischen Dirigent und Ensemble und in der Inszenierungsstrategie des eigenen und anderen Genres. Obwohl die Musiker/innen sich tendenziell einer dezidierten musikalischen Herkunft zugeschrieben haben, war das Interesse an einer stilfeldübergreifenden Zusammenarbeit gegeben. Projekte wie „A Journey into Jazz“ können daher im Sinne einer (Neu-)Konstitution von Kultur durch künstlerische Transgression interpretiert werden. Das Forschungsprojekt „Performing Diversity“ will in weiterer Folge die Varianten der Performativität von Musik durch die Analyse und Interpretation von

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Videoclips und durch Ritualanalysen von Musikveranstaltungen untersuchen. Im folgenden Kapitel soll daher nun die Methode der vergleichenden StilfelderAnalyse skizziert und die Stichprobe vorgestellt werden.

3

Vergleichende Stilfelder-Analyse von Aufführungsritualen

Die Analyse von Performances der ausgewählten musikalischen Genres erfolgt in weiterer Folge anhand von Musikvideos und Filmdokumentationen von Auftritten. Für diese Analysen wurden zwölf Beispiele ausgewählt: Filmmaterial österreichischer Interpret/innen aller sechs Stilfelder, Berücksichtigung von Gender- und Crossover-Aspekten. Die vergleichende Stilfelder-Analyse gründet sich auf methodische Ansätze der qualitativen und quantitativen Sozialforschung, der Semiotik sowie auf analytische und vergleichende Verfahren der Musikwissenschaft. Wie bereits im wissenschaftstheoretischen Kapitel dargelegt (1.4 Stilfeldertheorie), liegt die Basis des Forschungsansatzes in der Grundstruktur der kultursoziologischen Analysen von Pierre Bourdieu. In methodischer Hinsicht operiert die vergleichende Stilfelder-Analyse mit einer Matrix, die die sechs Stilfelder des österreichischen Musiklebens abbildet. Sie dient der Diskussion einzelner Vergleichs-Parameter. In Hinblick auf die Untersuchung von Aufführungsritualen muss eine Anpassung dieser Parameter vorgenommen werden. In die Methode der qualitativen Aufführungs- und Videoclipanalyse ist auch der von Martina Schuegraf und Sandra Smykalla beschriebene Zugang im Artikel „Zwischen Popfeminismus und Mainstream – Inszenierungsstrategien von Künstler/innen im Musikvideoclip“ eingeflossen. Der Ansatz wurde im Rahmen des Workshop „Gendered Bodies in Motion“ entwickelt, in dem zwei Videoclips der Sängerinnen Madonna und Peaches analysiert wurden. Die Untersuchung der emanzipatorischen Potenziale beider Künstlerinnen erfolgt u.a. in Anlehnung an den im Theoriekapitel vorgestellten Ansatz von Judith Butler. Die Autorinnen bezeichnen das Vorgehen als „experimenteller Versuch [...], aus der Perspektive medien- und gendertheoretischer Ansätze popkulturelle

74 | Aufführungsrituale der Musik

Phänomene zu betrachten“1. Die Methode ist ein „mehrdimensionales Analyseraster“2 auf Basis von „sensitizing concepts“ von den Autorinnen als „theoretische Standortbestimmung“3 bezeichnet. Sie erläutern ihre Herangehensweise wie folgt: „Es geht bei der Clip-Analyse um die Darstellungen der bewegten Körper und die damit einhergehenden Geschlechtermanifestationen, -zitationen, -variationen und -transformationen. Es werden Aneignungs- und Ermächtigungsstrategien sowie Subversionsstrategien herausgearbeitet und diese abschließend vor dem Hintergrund popfeministischer Überlegungen reflektiert.“4

Der deskriptive Ansatz erlaubt einen intensiven und mehrschichtigen Zugang zum Material. Bei der verwendeten Methode handelt es sich um eine mehrteilige Analyse, die in einem ersten Schritt aus einer genauen und detaillierten Beschreibung des Gesehenen besteht. Im Fokus steht die genaue Wahrnehmung der Inszenierungen und ihrer Bestandteile. Im Rahmen der detaillierten Beschreibung muss auf die verschiedenen Ebenen der Inszenierung geachtet werden 5:  Musikalische Ebene: Beschreibung der Charakteristika des Musikgenres  Narrative Ebene: Plot des Videoclips wird zusammengefasst bzw. nacherzählt  Textliche Ebene: Analyse des Songtextes gemeint, auch in Bezug auf die gezeigten Inhalte

1

Schuegraf/Smykalla, 2010, S.164.

2

Ebenda.

3

Ebenda, S.165.

4

Ebenda, S. 164

5

Vgl. ebenda, S.171f.

3 Vergleichende Stilfelder-Analyse von Aufführungsritualen | 75

Eine weitere Fokussierung erfolgt anschließend in Bezug auf die folgenden Aspekte6:  Inszenierung des Clips: Filmästhetik, Kameraeinstellungen, Beleuchtung u.a.  Die gezeigten Figuren: Kulturell konnotierte geschlechtliche Darstellungen und Verkörperungen  Semantische Ebene: Es handelt sich dabei um die Analyse verwendeter Symboliken, Zitate sowie Bezüge, beispielsweise auf andere Videoclips oder Personen Die qualitative Videoclipanalyse von Martina Schuegraf und Sandra Smykalla eignet sich als methodische Ergänzung für die Untersuchung der Konstruktion von Figuren. Ihre Figurenanalyse beschäftigt sich – analog zur „Uhr der Figur“ von Jens Eder – mit statischen und dynamischen Elementen einer Performance. In Zusammenfassung der theoretischen und methodischen Grundlagen des Forschungsprojekts können nun unsere zentralen Fragestellungen formuliert werden: Inwiefern werden kulturelle Konstanten (Stilfelder-Klischees) neuerlich konstituiert und bekräftigt, inwiefern werden sie aufgebrochen, ironisiert, gemixt? Mit dem Fokus auf die Performanz ergeben sich zwei zentrale Forschungsfragen, die den Prozess der (Neu-)Konstitution von Kultur durch Musikstücke umfassen: Welche kulturellen Entitäten werden durch welche Formen der Darstellung bekräftigt bzw. aufgebrochen? WAS konstituiert der Interpret/ die Interpretin in seiner/ ihrer Performance kulturell? WIE macht sie/er das (in Bezug auf die Konventionen des Stilfeldes)? Das Augenmerk wird also auch auf Crossover-Phänomene gelegt, die vorgefestigte, starre Vorstellungen dieser sogenannten genretypischen Prototypen dekonstruieren. Für jedes Stilfeld wurden zwei Interpret/innen bzw. Formationen ausgewählt und nach dem in Kapitel 4.2 beschriebenen Forschungsinstrument (inhaltsanalytisches Kategorienschema siehe Anhang, S. 356 ff.) analysiert.

6

Vgl. ebenda, S.172.

76 | Aufführungsrituale der Musik

3.1 ERSTELLUNG EINER STICHPROBE Um einen vollständigen Stilfeldervergleich durchzuführen, müssen einerseits typische Beispiele für alle Stilfelder und andererseits geeignete Vergleichsparameter definiert werden. Für das Projekt „Performing Diversity“ wurde zunächst eine Bildergalerie entlang des Parameters „Gestik: die Sprache der Hände“ und in weiterer Folge ein Sample von österreichischen Musikfilmen (Konzertmitschnitten und Videoclips), bestehend aus jeweils zwei Beispielen pro Stilfeld, ausgewählt. Der Auswahl ging eine umfangreiche Recherche bezüglich Chartplatzierungen, Preisverleihungen und anderen Formen öffentlicher Präsenz in den Jahren 2010 – 2015 in Österreich voraus.7 Die vorangehende Studie „Austrian Report on Musical Diversity“ (ARMD) der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien hatte zum Ziel, die Struktur und Entwicklung der Vielfalt der Musik in Österreich im Beobachtungszeitraum 2000 – 2010 zu untersuchen. Musikalische Vielfalt wurde entlang von neun von den Autor/innen Harald Huber und Lisa Leitich definierten Dimensionen des Musiklebens und anhand von sechs Stilfeldern der Musik untersucht. Als Dimensionen dafür wurden definiert: 1. Basisdaten (Österreich Werbung), 2. Stilfelder (Crossovers), 3. Bildung (Schulen), 4. Förderung (Subventionen), 5. Veranstaltungen (Events), 6. Markt (Ton- & Bildträger), 7. Medien (Rundfunk), 8. Entwicklung (Kulturaustausch), 9. Forschung (Disziplinen). Die Weiterführung des ARMD in den Dimensionen „Musik & Veranstaltungen“ und „Musik & Markt“ war für die Gewinnung einer relevanten Stichprobe für das Forschungsprojekt „Performing Diversity“ nützlich. Die Materialauswahl der zu analysierenden Musikvideos und Aufzeichnungen von Auftritten erfolgte daher unter anderem über die österreichischen Jahrescharts der Jahre 2010-2015. Um das Repertoire detaillierter zu beobachten wurde eine Auswertung der „Austria Top 75 Longplay Jahrescharts“ durchgeführt. Dabei wurden zunächst die Anteile des internationalen und nationalen Repertoires (inklusive „Klassik“) erhoben und in weiterer Folge das nationale Repertoire aufgeschlüsselt. Da die Jahrescharts nicht alle Musiksparten abdecken, wurden zusätzlich österreichische Musikpreise und Awards, Daten zu Musikveranstal-

7

Die Grundlage der Stichprobe bildete die Auswertung der Austria Top 75 Longplay Jahrescharts, des Amadeus Austrian Music Award in allen Kategorien, sowie zusätzlich des Austrian World Music Award, des Ernst-Krenek-Preises der Stadt Wien, des Musik-Aktionsprogramms des BMeiA „The New Austrian Sound of Music“ (NASOM) und der Präsenz österreichischer KünstlerInnen bei überregional bedeutenden Festivals (Popfest Wien, Jazzfestival Saalfelden, ...).

3 Vergleichende Stilfelder-Analyse von Aufführungsritualen | 77

tungen sowie Teilnehmer/innen des Musik-Aktionsprogramms „The New Austrian Sound of Music“8 herangezogen. In den Album-Jahrescharts (Top75) von 2010-2015 finden sich folgende österreichische Künstler/innen auf den Plätzen 1-25: Andreas Gabalier (12x), Die Seer (6x), Die Wiener Philhamoniker (4x), Udo Jürgens (4x), Semino Rossi (2x), Hubert von Goisern (2x), Hannah (2x), Wanda (2x), EAV (2x) und Kiddy Contest Kids (2x). Je 1x: Trackshittaz, Falco, Nockalm Quintett, Julian LePlay, Rainhard Fendrich, Seiler und Speer, Bilderbuch und Conchita Wurst.9 Im Jahr 2000 startete der Amadeus Austrian Music Award (AAMA) mit der Ambition, das gesamte österreichische Musikleben jährlich durch Preise abzubilden und der Öffentlichkeit zu präsentieren. Der Amadeus Austrian Music Award ist der größte österreichische Musikpreis im Bereich der populären Musik. Der Preis wird in verschiedenen Kategorien seit dem Jahr 2000 jährlich an die in Österreich erfolgreichsten nationalen und internationalen Musiker/innen verliehen. Fünf Kategorien des Amadeus Austrian Music Award sind genre-unabhängig: Album des Jahres, Best Live-Act, Song/Single des Jahres, FM4 Award und Lebenswerk. Die anderen sieben Kategorien entsprechen etwa folgenden Genres: Alternative, Electronic/Dance, HipHop/R’n’B, Jazz/World/Blues, Pop/Rock, Schlager, Volkstümliche Musik. Die genauen Bezeichnungen der jeweiligen Kategorie variierten zwischen 2010-2015. Andreas Gabalier gewann den Award im Jahr 2012 in der Kategroie „Schlager“, 2013 und 2014 in der Kategorie „Volkstümliche Musik“ und im Jahr 2016 in der Kategrie „Volksmusik“.10 Weiters wurden der „Austrian World Music Award“ sowie der „Ernst Krenek Preis“ der Stadt Wien herangezogen. Der Austrian World Music Award ging 2010 an das Duo „Jenner / Mori“, 2011 an „Mamadou Diabate & Percussion Mania“, 2014 an „Madame Baheux“ und 2015 an „Federspiel“, gefolgt von

8

Das BMeiA unterstützt junge österreichische Musiker/innen bei Auftritten im Ausland in einem speziell dafür eingerichteten Programm. Ensembles, Bands und Musiker/innen aus den Genres Pop/Rock/Elektronik, Jazz/Improvisation, World/Neue Volksmusik, Neue Musik, die für dieses Programm ausgewählt werden, erhalten bei Auftritten im Ausland vermehrte Unterstützung.

9

Vgl. Website Austrian Charts (Zugriff: Juni 2021).

10 Vgl. Website Amadeus Austrian Music Awards. Daten & Fakten (Zugriff: Juni 2021).

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„Alma“.11 Der Krenek Preis ging 2010 an Richard Dünser, 2012 an Berhard Gander und 2014 an Johanna Doderer.12 Im Rahmen des Musik-Aktionsprogramm „The New Austrian Sound of Music“ (kurz NASOM) wurden in der Kategorie Neue Musik in den Jahren 2012/13 folgende Künstler/innen gefördert: Bernd Klug, Duo Soufflé, Tamara Friebel, Daniel Lercher und Christine Schörkhuber. In der Kategorie Neue Volksmusik/World waren es 5/8erl in Ehr’n, Holstuonarmusigbigbandclub, Federspiel, Catch Pop String Strong und Martin Mallaun. Im Bereich Pop galt die Unterstüzung für den Zeitraum 2013/14 Mile me Deaf, König Leopold, Bensh, Fijuka und A.G.Trio. In der Periode (2015/16) wurden in der Kategorie Klassik BartolomeyBittmann, Duo Aliada, Florian Feilmair, Giocoso String Quartet und Trio Alba gefördert.13 Weiters wurden Auftritte bei renommierten Festivals als Grundlage für die Auswahl herangezogen (Jazzfestival Saalfelden, Popfest Wien). Aus einer daraus hervorgehenden ‚shortlist‘ wurde letztlich nach folgenden Gesichtspunkten eine endgültige Auswahl getroffen: 1. Eines der beiden Musikbeispiele sollte für typische Konventionen des Stilfeldes, das andere für Crossover-Tendenzen des Stilfeldes stehen; 2. Die Hauptfiguren der beiden Performances sollten in allen Stilfeldern ein möglichst ausgewogenes Geschlechterverhältnis aufweisen; 3. Bei Videoclips, die keine Live-Aufführungssituation zeigen, sollte eine Live-Filmsequenz des identischen Musikstücks vorliegen. Damit sollte sichergestellt werden, dass Fragen bezüglich Normalität & Hybridität, Geschlechterkonstruktionen & Queerness bzw. nach Interaktionen zwischen Bühne & Publikum entsprechend behandelt werden können. Die folgende Grafik zeigt die gesamte Stichprobe der qualitativen Studie, bestehend aus insgesamt 6 x 2 = 12 Filmbeispielen von Musikstücken. Alle Beispiele waren über die Internet Plattform „youtube“ im Zeitraum der Untersuchung audiovisuell zugänglich.

11 Vgl. Website Austrian World Music Awards (Zugriff: Juni 2021). 12 Vgl. Website Ernst Krenek Preis (Zugriff: Juli 2020). 13 Vgl. Website The New Austrian Sound of Music (Zugriff: Juni 2021).

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Grafik 3: Vergleichende Stilfelder-Analyse: Stichprobe

Diese Darstellung der Stichprobe der vergleichenden Stilfelder-Analyse (VSA) des Forschungsprojekts zeigt in der jeweils ersten Zeile des Stilfeldes das „konventionelle“ Beispiel, in der jeweils zweiten Zeile das Beispiel mit „Crossover“Aspekten. Etwa wurde im Stilfeld „Rock- und Popmusik“ (RPM) der Song „Bologna“ von Wanda als typisch für das Stilfeld in den Jahren 2010 – 2015 in Österreich eingeschätzt, in „Ca Ca Caravan“ von Fijuka sind demgegenüber hybride Tendenzen des Stilfeldes erkennbar. „Bologna“ zeigt – davon unabhängig – eine männliche Hauptfigur (Sänger) und ein von Schauspieler/innen gespieltes Pärchen, „Ca Ca Caravan“ zwei weibliche Hauptfiguren (als Sängerinnen und Schauspielerinnen) sowie Männer im Rahmen einer Raumschiffbesatzung. Da die Clip-Ästhetik des Stilfeldes „RPM“ gerne Sujets außerhalb des LiveKonzertmitschnitts realisiert, musste bei beiden Nummern ein solcher zusätzlich gesucht und für die Analyse bereitgestellt werden. Im Stilfeld „Volksmusik/Folk&World“ wurden die Performances von zwei musikalischen Kollektiven, in denen männliche und weibliche Musiker tätig sind, untersucht. Das als stilfeldkonform eingeschätzte Ensemble Alma produziert keine Musikvideoclips, hier wurde auf die Dokumentation eines Live-Auftritts zurückgegriffen. In dem Beispiel „Alaba, how do you do?“ von 5/8erl in Ehr’n werden hybride Tendezen des Stilfeldes gezeigt. 5/8erl in Ehr’n bezeichnen sich als Vertreter/innen des

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„Wiener Soul“ und setzen subversive Elemente in ihren Kompositionen und Performances ein. Das Ensemble produziert zusätzlich experimentelle Musikvideoclips, die nicht einer Konzertsituation entsprechen. So musste zusätzliche eine Live-Performance der Gruppe für die vergleichende Stilfelder-Analyse herangezogen werden. Die folgende Auflistung zeigt an erster Stelle des Stilfeldes das „konventionelle“ Beispiel, an zweiter Zeile das Beispiel mit „Crossover“-Aspekten mit den zugehörigen analysierten Musikvideoclips und/oder Live-Performances. Unter den jeweiligen Beispielen befindet sich die musikwirtschaftliche Begründung (Chartplatzierungen, Auszeichnungen, Förderungen) für die Auswahl. Stilfeld „Klassik/zeitgenössische Musik“ (KZM) Bernhard Gander „weg da!“ – Österreichisches Ensemble für Neue Musik – Live-Auftritt bei KAZ – KUNST AUS DER ZEIT“ (Bregenzer Festspiele 2011) Preise/Auftritte: Ernst-Krenek-Preis der Stadt Wien 2012 Crossover: BartolomeyBittmann „Centipede“– Musikvideo & Live Auftritt „Parovskapproved“ Preise/Auftritte: „New Austrian Sound of Music“ BMeiA 2016/2017 Stilfeld „Jazz/improvisierte Musik“ (JIM) Christian Muthspiel 4 feat. Steve Swallow „Tears of Laughter“ – Live-Auftritt Preise/Auftritte: 3 Tage Jazz – Jazzfestival Saalfelden 2015, Artists in residence (musik aktuell/NÖ) 1997 Crossover: Fatima Spar and the Freedom Fries „Trust“ – Performance im Rahmen der „Long Way From Home“ Istanbul Acoustic Sessions & Live-Auftritt Preise/Auftritte: 3 Tage Jazz/Jazzfestival Saalfelden 2014 Stilfeld „Volksmusik/World Music“ (VWM) ALMA „Admonter Echojodler“ – Live-Auftritt beim Schrammel Klang Festival Litschau 2013 Preise/Auftritte: Popfest 2014, 2. Preis Austria World Music Awards 2015 Crossover: 5/8erl in Ehr’n „Alaba, How do you do?“ – Musikvideo & Live Auftritt „Heit hea i dem Regn zua“ Posthof Linz Preise/Auftritte: Amadeus in der Kategorie „Jazz/World/Blues“ (2012, 2013 und 2015), Popfest 2015, 3 Tage Jazz/Jazzfestival Saalfelden 2014

3 Vergleichende Stilfelder-Analyse von Aufführungsritualen | 81

Stilfeld „Dance/HipHop/Elektronik“ (DHE) Electric Indigo – DJ-Set – Live-Auftritt bei TAICOCLUB’15 Preise/Auftritte: Popfest 2014, Wien Modern 2015 Crossover: Nazar/Falco „Zwischen Zeit und Raum“ – Musikvideo & Live-Auftritt Nazar feat. Yasmo & S.K. Invitational“An Manchen Tagen“ am Popfest Wien Preise/Auftritte: Amadeus in den Kategroien „HipHop/R’n’B“ (2013), „Bestes Video“ für An manchen Tagen (2014), „Hip Hop/Urban“ (2015), Popfest 2014 Stilfeld: „Rock&Pop Musik“ (RPM) Wanda „Bologna“ – Musikvideo & Live Auftritt Preise/Auftritte: Amadeus 2015 „Alternative Pop / Rock“ und „FM4 Award“, Jahrescharts 2015 Crossover: Fijuka „CA CA CARAVAN“- Musikvideo & Live-Auftritt Preise/Auftritte: „New Austrian Sound of Music“ BMeiA 2014/2015, Popfest 2013 und 2014 Stilfeld „Schlager/volkstümliche Musik (SVM) Seer „Heut heirat die Liebe meines Lebens“ – Musikvideo & Live Auftritt Preise/Auftritte: Jahrescharts 2010-2015 (6 x vertreten) Crossover: Gabalier „I sing a Liad für Di“ – Musikvideo & Live-Auftritt Preise/Auftritte: Jahrescharts 2010-2015 (12 x vertreten), Amadeus in den Kategorie „Schlager“ (2012), „Best Live Act“ (2012/2015), „Volkstümliche Musik“ (2013 und 2014)

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3.2 UNTERSUCHTE DIMENSIONEN UND PARAMETER Zur Strukturierung des Vergleichs der gewählten Beispiele wurde ein inhaltsanalytisches Kategorienschema entwickelt, das dem Analyseprozess als Leitlinie dient. Die Analyse des audiovisuellen Produkts beginnt mit der Faktische Ebene (Distributionsdaten der Beispiele), darauf folgt eine Untersuchung der auditiven und performativen Gestalt. Das stiltypische Zusammenwirken von Sprache, Stimme und Musik, der „Sound“ (Besetzung, Arrangement und Tontechnik), die dargestellte Szene (Schauplätze, Figuren, Gestaltung des Musikvideoclips / der Performance, Zusammenfassung des untersuchten Clips) und das Verhältnis von textlicher, visueller und auditiver Ebene werden im Detail untersucht. Besonderes Augenmerk wird auf „Third Spaces“, kulturelle Zwischenräume, die durch ein „aus dem Rahmen-Fallen“ (vgl. Goffman 1980) entstehen, gelegt. A Analyse des audiovisuellen Produkts  A1 Faktische Ebene: Titel des Musikstücks / Datum der Aufführung bzw. der Veröffentlichung des Musikvideos  A2 Personelle Ebene: Name des/r Interpret/in, oder der Gruppe der Interpret/innen sowie deren Geschlecht, Alter, Herkunft und kultureller Hintergrund, Verhältnis Autor/innen zu Interpret/innen  A3 Musikalische Ebene: Das Musikstück, seine Form und Besetzung, Partitur/Noten, bei einem Song die Lyrics, Genre/Crossover (Bedeutungsmöglichkeiten)  A4 Literarische Ebene: Analyse des Songtexts / des Libretto / der Lyrics  A5 Räumliche Ebene: Schauplatz des Auftritts, die Situation in der dieser stattfindet (Live-Auftritt/Musikvideoclip)  A6 Performative Ebene: Einsatz der Performance, Filmästhetik, Kameraeinstellungen, Beleuchtung u.a., Analyse des Songtextes, Rückbezug des Songtexts auf die gezeigten Inhalte  A7 Narrative Ebene: Plot des Videoclips wird zusammengefasst bzw. nacherzählt  A8 Kulturelle Ebene: Stilfelderbezug: Verhältnis von Text-, Bild- und Audioebene (Homologien?) Entstehen „Zwischenräume“ (Third Spaces)? Im Sinne der Interpretation konstituierender Komponenten dient „Die Uhr der Figur nach Jens Eder“ als Basis für das weitere Vorgehen. Es werden in weiterer Folge die Konstruktion von Figuren und als nächster Schritt die Interpretation dieser Konstruktionen herausgearbeitet. Zu den Parametern zählen die Rollen-

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konstruktion, die optische Inszenierung der Figur, Gestik und Mimik, geschlechtliche De/Konstruktion und die von Eder definierten Analysekriterien „Die Figur als Artefakt“, „Die Figur als fiktives Wesen“, „Die Figur als Symbol“, „Die Figur als Symptom“. B Figurenanalyse  B1 Rolle: Welche Rolle nimmt der/die Interpret/in in der Szene ein? Wie definiert sich die Funktion / der Status des/der Künstlers/in im Rahmen des Auftritts? Einfache oder komplexe Figurenkonstruktion?  B2 Inszenierung: optische Inszenierung der Figur: Kostüm / Make Up / Frisur / figurbezogene Requisite etc.  B3 Bewegung: Bewegungsrepertoire, Mimik / Gestik und wenn es sich um ein Lied handelt die Stimme / die Gesangslinie  B4 Geschlecht: Genderspezifische Darstellungen sowie Verkörperungen, Grad der Bedeutung / Dekonstruktion von Geschlecht  B5 Zitate: Bezüge zu anderen Videoclips, Songs, Personen, kulturellen oder kulturgeschichtlichen Entitäten  B6 „Die Uhr der Figur“ nach Jens Eder (Eder 2004): o B6a „Die Figur als Artefakt“ – Gestaltung, Inszenierung der Figur o B6b „Die Figur als fiktives Wesen“ – Körper, Persönlichkeit, Sozialität der Figur o B6c „Die Figur als Symbol“ – indirekte Bedeutung, Symbolik/Metapher o B6d „Die Figur als Symptom“ – kommunikative Ursache/Wirkung, soziokultureller Kontext Die Kategorie Bühne und Publikum ist für eine Analyse von Aufführungsritualen unumgänglich. Für Stilfelder, in denen Konzerte als Andachtsrituale inszeniert werden, konnten im Rahmen der Recherche viele Filmdokumentationen von Aufführungen mit Publikumsbeteiligung gefunden werden. In anderen Stilfeldern werden in Musikvideoclips häufig bestimmte clipästhetische Sujets realisiert, die nicht in Zusammenhang mit Live-Konzertmitschnitten stehen. Im folgenden Teilabschnitt des Kategorienschemas wird die Bühne wird als Gesamtkonzept betrachtet, Tontechnik, Beleuchtung, Interaktion mit dem Publikum und das Verhalten der Konzertbesucher/innen bilden diese Kategorie.

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C Bühne und Publikum  C1 Gesamtkonzept: Die Bühne wird als Gesamtkonzept betrachtet. Sind Musiker/innen sichtbar, gibt es Backgroundtänzer/innen, eine Choreographie, ein Bühnenbild, Requisiten?  C2 Technik: Die Technik – als Teil der Bühne – ist ein weiterer Aspekt: das audiovisuelle Konzept, der Ton, das Licht.  C3 Bühne / Publikum: Existiert Interaktion zwischen Bühne und Publikum? Welche Regeln und Konventionen gelten für das Publikum bezugnehmend auf das Stilfeld? Gibt es Bestuhlung, darf getanzt werden, herrscht Stille, darf bzw. soll gesprochen/mitgesungen werden? Die Kategorie Zusammenfassende Interpretation verbindet die Textanalyse mit der Analyse von Kontexten und untersucht die Aufführungsrituale hinsichtlich der zentralen Fragestellungen des Forschungsprojekts. D Zusammenfassende Interpretation     

D1 Kulturen/Erfahrungswelten D2 Musikstile D3 Performance Stil D4 WAS konstituiert der Interpret / die Interpretin kulturell? D5 WIE macht sie / er das (in Bezug auf die Konventionen des Stilfeldes)?  D6 Wie und in welcher Form finden Übersetzungen (Translationen) statt?  D7 Ergebnisse der Analyse des Aufführungsrituals

4

Die Vielfalt der Musik in Österreich Zwölf Beispiele österreichischer Musik der Jahre 2010-2015

Die Analyse der einzelnen Musikbeispiele der Stichprobe erfolgte anhand des im vorigen Kapitel beschriebenen Forschungsinstruments in der chronologischen Reihenfolge der durchgeführten Analysen. Sie beginnt mit Aspekten der Produktion der Filmsequenz wie Titel, Musik, Lyrics, Schauplatz, Plot, Kamera, ..., setzt fort mit einer detaillierten Figurenanalyse der gezeigten Performance (die Figur als Artefakt, fiktives Wesen, Symbol und Symptom), fokussiert dann auf die Interaktionen zwischen Bühne und Publikum (Andachts- oder Animationsritual) und kommt schließlich zu zusammenfassenden Interpretationen entlang der beiden Hauptfragestellungen betreffend die performative Konstitution von Kultur:  WAS konstituiert der Interpret/die Interpretin in seiner/ihrer Performance kulturell?  WIE macht sie/er das (in Bezug auf die Konventionen des Stilfeldes)? Im Zuge der Erstellung der folgenden Einzelanalysen wurden die einzelnen Parameter des Kategorienschemas manchmal in unterschiedlichem Umfang behandelt. Alle Analyseergebnisse werden durch die zusammenfassende Auswertung und Darstellung in Form von 6-Felder-Matrizen für die vergleichende Stilfelder-Analyse aufbereitet und fließen so in die Interpretation entlang der Hauptkategorien ein:  Performanceanalytische Aspekte (Erzählweisen und Aufführungsrituale)  Genderspezifische Aspekte (Figuren und Geschlechtskonstruktionen)  Kulturtheoretische Aspekte (Soziale Ungleichheit und Formen der Hybridität)

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1A) WANDA: „BOLOGNA“ A Analyse des audiovisuellen Produkts  A1 Faktische Ebene: Titel des Musikstücks / Datum der Aufführung bzw. der Veröffentlichung des Musikvideos Der Song „Bologna“ der Band Wanda befindet sich auf dem Album „Amore“, das gleichzeitig mit dem Musikvideoclip „Bologna“ am 17.10.2014 veröffentlicht wurde.  A2 Personelle Ebene: Name des/r Interpret/in, oder der Gruppe der Interpret/innen sowie deren Geschlecht, Alter, Herkunft und kultureller Hintergrund; Verhältnis Autor/innen zu Interpret/innen Wanda wurde 2012 in Wien gegründet. Die Band ist nach Wanda Kuchwalek „Wiens einzigem weiblichen Zuhälter“ benannt. Wanda besteht aus Marco Michael Wanda (bürgerlicher Name: Fitzthum, Gesang, Lyrics), Manuel Christoph Poppe (Gitarre, Background-Gesang), Christian Hummer (Keyboard, Klavier, Background-Gesang), Reinhold Weber (Bass, Background-Gesang) und Lukas Hasitschka (Schlagzeug, Background-Gesang). Im Oktober 2014 wurde das Debütalbum „Amore“ vom österreichischen Label Problembär Records veröffentlicht. Es stieg von null auf Platz 13 in die österreichischen Alben-Charts ein. Die Musik von Wanda wird von Paul Gallister komponiert und arrangiert, die Texte schreibt Sänger Marco Michael Wanda.  A3 Musikalische Ebene: Das Musikstück, seine Form und Besetzung, Noten, Umgang mit Genrekonventionen: Bestätigung / Überschreitung (Crossover) Sänger Marco Wanda bezeichnet den Stil der Band als „Popmusik mit Amore“1. Musikalisch ist der Song „Bologna“ dem Genre Indie-Rock mit Elementen aus dem Pop und dem Rock’n’Roll zuzuordnen. Gesungen wird „Bologna“ von Marco Wanda, im Refrain werden Backgroundvocals eingesetzt. Instrumental wird der Song von Schlagzeug, Gitarre und Bass begleitet.

1

Vgl. Gschmeidler 2015, o.S.

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 A4 Literarische Ebene: Titel / Lyrics, Analyse des Songtexts / des Librettos (Bedeutungsmöglichkeiten) Lyrics: „Bologna“2 (Musik: Paul Gallister, Text: Michael Marco Fitzthum) Ich kann sicher nicht mit meiner Cousine schlafen, obwohl ich gerne würde, aber ich trau mich nicht! Ich kann sicher nicht mit meiner Cousine reden, obwohl ich gerne würde, aber ich trau mich nicht! Tante Ceccarelli hat in Bologna Amore gemacht! Amore, meine Stadt Tante Ceccarelli hat einmal in Bologna Amore gehabt! Bologna, meine Stadt Ich kann sicher nicht mit meiner Cousine reden, obwohl ich gerne würde, aber wir trauen uns nicht! Ich kann sicher nicht mit meiner Cousine tanzen, obwohl ich gerne würde, aber sie traut sich nicht! Tante Ceccarelli hat in Bologna Amore gemacht! Amore, meine Stadt Tante Ceccarelli hat einmal in Bologna Amore gehabt! Bologna, meine Stadt Und eins merk dir genau Wenn jemand fragt, wohin du gehst, sag nach Bologna! Wenn jemand fragt, wofür du stehst, sag für Amore, Amore! Wenn jemand fragt, wohin du gehst, sag nach Bologna! Wenn jemand fragt, wofür du stehst, sag für Amore, Amore! Tante Ceccarelli hat in Bologna Amore gemacht! Amore, meine Stadt Tante Ceccarelli einmal in Bologna Amore gehabt! Bologna, meine Stadt Tante Ceccarelli hat in Bologna Amore gemacht! Amore, meine Stadt Tante Ceccarelli einmal in Bologna Amore gehabt! Bologna, meine Stadt Bologna, meine Stadt Bologna, meine Stadt

Der Erzähler des Songs „Bologna“ kann das sexuelle Begehren gegenüber seiner Kusine nicht ausleben. Er vermeidet jeden näheren Kontakt, traut sich auch nicht mit ihr zu sprechen oder zu tanzen. Der Refrain verweist auf die Stadt Bologna, in der die Tante des Protagonisten ein sexuelles Erlebnis hatte. In der Textzeile „Tante Ceccarelli hat einmal in Bologna Amore gehabt“ wird hervorgehoben,

2

Wanda, Marco. Songtext „Bologna“.http://www.songtexte.com/songtext/-wanda/bolo gna-234910cb.html (Zugriff: 28.Jänner 2016).

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dass es sich um ein einmaliges Erlebnis gehandelt hat. Der Koitus wird mit der Metapher „Amore gehabt“ umschrieben. Gleichzeitig steht die Stadt Bologna für die Liebe und für den Erzähler, der Bologna als „seine“ Stadt bezeichnet. Der Autor und Sänger des Songs Marco Michael Wanda spielt mit den Wörtern „Amore, „Bologna“, „Stadt“ und dem klingenden Namen „Ceccarelli“, einem geläufigen italienischen Nachnamen. Der inzestöse Inhalt des Songs wird bereits mit dem ersten Satz eingeleitet und mündet schließlich in eine Lobeshymne an die Stadt Bologna. Bestimmte Textzeilen werden auch auf rhythmischer Ebene verhandelt. Betonungen einzelner Worte des Textes stehen zur musikalischen Erwartung quer. Dies zählt zu Stilmitteln, die im Indie-Rock gängig sind („... einmal in BOlogna Amore gemacht, ...).  A5 Räumliche Ebene: Schauplatz des Auftritts, die Situation in der dieser stattfindet (Live-Auftritt / Musikvideoclip) Das Musikvideoclip „Bologna“ ist in der gleichnamigen Stadt angesiedelt. Es setzt sich aus Außenaufnahmen auf verschiedenen Straßen und Plätzen, vor einem Gemüseladen, auf dem Turm Asinelli, sowie Innenaufnahmen in einem Restaurant und einem Zimmer zusammen.  A6 Performative Ebene: Analyse der Filmsequenz: Figuren, Bewegungsabläufe (statisch / dynamisch), Kameraeinstellungen, Beleuchtung, ästhetische Aspekte, u.a. Im Intro des Videoclips sind Aufnahmen der Stadt Bologna aus der Vogelperspektive (bird’s eye view) und in Aufsicht (extreme high angle shot) bei Tageslicht zu sehen. Der Schnitt wechselt zu einem unbekannten Mann und einer unbekannten Frau in der Kameraeinstellung Halbtotale (medium long shot). Die Beiden stehen schüchtern auf einer dunklen Straße mit Straßenlampen beleuchtet. Sie sind zeitlos gekleidet. Er trägt ein Hemd mit Hosenträgern, sie eine Bluse. Der Schnitt wechselt zu Marco Wanda, dem Sänger von Wanda, im medium long shot. Der Gesang setzt ein und auch er setzt sich in Bewegung. Der Song beginnt mit „Ich kann sicher nicht mit meiner Kusine schlafen“ der Sänger deutet er mit der rechten Hand in die Kamera. Er wirkt selbstbewusst, hat eine Zigarette in der Hand. Marco Wanda repräsentiert also das Gegenteil des Paares, auf das der Schnitt wechselt und das sich langsam in Bewegung setzt. Der Mann geht voran, bemerkt, dass die Frau etwas langsamer geht. Bei der Zeile „Ich

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kann nicht sicher nicht mit meiner Kusine reden“ zieht er sie zu sich. Er umarmt sie bei „ich trau mich nicht“. Eine Überblendung auf Marco Wanda folgt, der vor einer Eingangstür Tanzbewegungen vollführt. Der Refrain setzt ein und der Sänger ist nun tanzend auf der Straße zu sehen, geht in die Knie. Die Einstellung wechselt in die Totale (long shot). Bei den Worten „Amore, meine Stadt“ greift sich der Sänger ans Herz. Beim Singen der zweite Zeile des Refrains „Tante Ceccarelli [...]“ deutet Marco Wanda mit der rechten Hand in die Kamera, als würde er auf ein imaginäres Publikum zeigen. Der Refrain schließt mit „Bologna, meine Stadt“, gleichzeitig geht der Sänger wieder in die Knie. Der gesamte Refrain wird in einer Kamerafahrt (long shot) gedreht, das Liebespaar ist nicht zu sehen. Die zweite Strophe beginnt mit einer Kamerafahrt über die Dächer Bolognas, wieder in einem long shot. Der Schnitt in einen medium long shot zeigt den Mann und die Frau in einem Restaurant sitzend. Halbgefüllte Weingläser stehen auf dem Tisch. Das Lokal ist zeitlos eingerichtet, es sind weiße Tischdecken und Wände zu sehen, auf denen eine Vielzahl von schwarz-weißen Bildern hängen. Bei „Ich kann sicher nicht mit meiner Kusine reden“ folgt ein zoom-out. Die Protagonist/innen heben ihre Gläser. Während des zweiten Teils des Refrains „[...] obwohl ich gerne würde aber wir trauen uns nicht! Ich kann sicher nicht mit meiner Cousine tanzen, obwohl ich gerne würde aber sie traut sich nicht!“ ist Marco Wanda tanzend die Straße entlanggehend zu sehen (medium long shot). Es ist wieder Nacht. Wanda nimmt die Position des Geschichtenerzählers ein. Bei dem Wort „tanzen“ tanzt der Sänger, bei „sie traut sich nicht“ schwingt er die Hüften und macht sexualisierte Bewegungen. Die Musik leitet den Refrain ein und das Paar wird auf der Aussichtsplattform des Turm Asinelli eingeblendet. In der Halbtotalen (medium long shot) dreht der Mann die Frau zu sich, sie dreht sich weg. Der Schnitt leitet zu Marco Wanda über, der Sänger geht die Straße entlang und singt. Bei „Amore gemacht“ geht er in die Knie. Das Paar agiert während dieser Passage unterschiedlich zu der jeweiligen Tageszeit. Bei den Worten „Amore, meine Stadt“ ist das Paar zum Beispiel bei Nacht zu sehen. Es geht umschlungen die Straßen entlang. Die vokale Bridge wird mit den Worten „Eins merk dir genau“ eingeleitet. Auf den Schnitt auf ein Feinkostladenschild mit der Aufschrift „Ceccarelli“ in einem medium close-up folgt ein Schnitt auf Marco Wanda der Halbtotalen (medium long shot). Die Textzeile „wenn jemand fragt, wohin du gehst“ wird visuell von dem tanzenden Paar begleitet. Marco Wanda singt die Worte „sag nach Bologna“ und deutet mit seiner Zigaretten auf den Boden, somit manifestiert er die Stadt im Song.

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Die Zeile „Wenn jemand fragt, wofür die stehst“ visualisiert das Paar beim Tanzen. Die nächste Einblendung zeigt den Mann und die Frau rauchend vor einer Tür. Die Knäufe symbolisieren ein Kirchentor. Bei der Wiederholung des Wortes „Amore“ schauen Mann und Frau bewusst in die Kamera. Der Schnitt wechselt zu Marco Wanda, der mit seinem Finger direkt in die Kamera deutet. Die Einstellungsgrüße medium long shot wird während der vokalen Bridge beibehalten. Auf diesen Teil folgt die instrumentale Bridge. Der Gitarrist Manuel Christoph Poppe sitzt auf einem Fensterbrett. Es ist hell. Er ist als einziger Instrumentalist im Musikvideoclip zu sehen. In einem medium close-up wird er beim Spielen der Gitarre gefilmt. Abbildung 20: Manuel Poppes Gitarrensolo über den Dächern der Stadt Bologna.

Quelle: Musikvideoclip „Bologna“ 1’54’’.

Die Kamera fokussiert das Paar, das der Aussichtsplattform des Turm Asinelli steht. Ein langsames Reichen der Hände wird gefilmt. Der Schnitt wechselt für wenige Sekunden zu Manuel Christian Poppe, der in einem close-up zu sehen ist. Die Einstellungsgröße wird beibehalten. Immer wieder wechselt der Schnitt zwischen Poppe und dem Paar, immer in Großaufnahme. Ein Kuss wird angedeutet, doch nach einer Einblendung der spielenden Hände des Gitarristen wendet sich das Paar voneinander ab. Der Refrain setzt ein, der Gitarrist ist für ein paar Sekunden in einem head and shoulder close-up zu sehen. Der Schnitt leitet zu dem Paar über, das bei Nacht auf den Straßen Bolognas steht. Bei der Zeile „Wenn jemand fragt, wohin du gehst, sag nach Bologna!“ bewegt die Frau die Hüften, der Mann steht daneben und sieht in die Kamera. Der Schnitt wechselt zu Marco Wanda, der „Wenn

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jemand fragt, wofür du stehst“ in die Kamera singt. Bei den Worten „Sag für Amore“ ist wieder das Paar zu sehen, das die Straßen entlang läuft. Das zweite „Amore“ wird von Marco Wanda auf die leere Straße geschmettert. Die Wiederholung des Refrains erfolgt durch einen Schnitt von Marco Wanda, der eine Zigarette raucht, auf den namenlosen Mann, der auch eine Zigarette rauchend vor einer Mauer steht. Auf dieser befindet sich die unbekannte Frau, die einen Knicks macht. Die Einstellungsgrüße medium long shot ändert sich während der Nachtsequenz nicht. Der Gesang setzt wieder ein, die Szenerie wechselt (Tageslicht). Die Frau sitzt im Eingangsbereich eines Gemüseladens, wird im medium close-up gefilmt. Mit dem Schnitt wechselt die Einstellungsgröße in einen medium long shot. Nun ist auch der Mann sichtbar, der vor dem Gemüseladen steht und in einen Apfel beißt. Bei „Amore gemacht“ ändert sich die Szenerie. Der letzte Teil des Songs ist visuell in der Nacht angesiedelt. Das Paar darf nun offen interagieren. Hierbei wird die Protagonistin aktiver. Die Frau tanzt auf der Straße, macht einen Knicks auf der Mauer. Marco Wanda ist bei Nacht auf der Straße zu sehen. Er agiert mit den Armen, tanzt zum Refrain mit. Der Schnitt wechselt auf das Gesicht der Frau in einer Großaufnahme, das vom Schatten ihres Hutes bedeckt ist. Ein weiterer Schnitt führt die Szenerie in ein Schlafzimmer. Ein männlicher Unterkörper und ein weiblicher, nackter Rücken (medium close-up) sind zu sehen. Es folgt ein Schnitt in einen medium long shot. Der Frauenkörper wirft eine leere Flasche aus dem Fenster. Bei den Worten „Amore gemacht“ schlendert Marco Wanda langsam und gestikulierend eine Straße entlang, bei „Bologna, meine Stadt“ geht er in die Knie. Das Fade-Out des Songs zeigt das Paar laufend durch Bologna. Zuerst in einem medium close-up, die Kamera wirkt hierbei wie eine Handkamera, die auf die Erschütterungen beim Laufen reagiert. Der Schnitt zeigt das Paar vor dem vermeintlichen Kirchentor stehen. Das Paar läuft in Zeitlupe über einen Zebrastreifen, die Frau verliert den Hut. Die letzte Einstellung zeigt Marco Wanda auf der Straße entlanggehend gehend die Textzeile „Bologna, meine Stadt“ singen. Der letzte Ton erklingt, er wirft seine ausgerauchte Zigarette in Richtung Kamera. Bologna wird vom Ort des angedeuteten Inzests zu Wandas Stadt, der eine Hymne gewidmet wird.  A7 Narrative Ebene: Plot des Videoclips wird kurz zusammengefasst bzw. nacherzählt, Zusammenwirken von Musik, Text und Bild Ein Mann und eine Frau stehen auf der Straße, langsam beginnen sie sich zu bewegen. Anhand der roten Dächer, die am Anfang des Videos eingeblendet wer-

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den, ist zu erwarten, dass das Musikvideo in Bologna – bekannt auf Grund der roten Dächer als „rote Stadt“ – angesiedelt ist. Immer wieder wechselt der Schnitt zwischen dem Sänger von Wanda, der durch die Straßen Bolognas geht und singt, und den beiden Menschen. Das Paar in dem Musikvideoclip personifiziert die angesprochene Kusine und den Erzähler. Diese Anspielung wird im Laufe des Musikvideoclips nicht aufgelöst. Indie-Rock mit Elementen aus dem Pop und dem Rock’n’Roll bilden den musikalischen Rahmen des Songs „Bologna“. Erzählt wird die Geschichte vom Sänger Marco Michael Wanda, der in seiner Inszenierung den Konventionen eines Indie-Rockstars entspricht.  A8 Kulturelle Ebene: Stilfelderbezug, Verhältnis von Text-, Bild- und Musikebene (Homologien), entstehen „Zwischenräume“ (Third Spaces)? Homologien Bereits zu Beginn des Musikvideoclips wird verdeutlicht, dass es sich hierbei um Bologna handelt. Die Kameraperspektive bestätigt durch Luftaufnahmen der „roten Stadt“ diese Annahme. Zu Beginn der Bridge ist ein visueller Verweis in Form eines Ladenschildes auf die Herkunft des Namens „Ceccarelli“, der im Song besungenen Tante, zu erkennen. Dies ist ein Feinkostladen. Marco Wanda wird bewusst als Geschichtenerzähler inszeniert. Bei dem Wort „tanzen“ tanzt der Sänger, bei „sie traut sich nicht“ schwingt er die Hüften und macht sexualisierte Bewegungen. Marco Wanda spielt also mit den Klischees eines Indie-Rockstars. Die letzte Einstellung zeigt Marco Wanda auf der Straße die Textzeile „Bologna, meine Stadt“ singend.

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Abbildung 21: Der Geschichtenerzähler Marco Wanda im Hintergrund Bologna.

Quelle: Musikvideoclip „Bologna“ 2’48’’.

Die Laufzeit des Songs ist mit der Länge einer Zigarette vergleichbar. Der letzte Ton verklingt, Marco Wanda wirft seinen Zigarettenstummel in Richtung Kamera. Musikalisch ist der Song dem Genre Indie Rock zuzuordnen, was das Spiel mit Tabus wie Inzest und gleichzeitig die Inszenierung Marco Wandas als maskulinen Antihelden zulässt. Die sexualisierten Bewegungen des Sängers harmonieren mit dem Rhythmus der Gitarrenklänge und dem verstörenden Text. Third Spaces Die Zwischenräume, die im Musikvideoclip „Bologna“ entstehen, sind nicht auf der visuellen Ebene einzuordnen. In seiner Inszenierung unterscheidet sich der Musikvideoclip kaum von anderen im Stilfeld „Rock/Pop Musik“. Die Zwischenräume sind im Text des Songs „Bologna“ zu finden. Hier findet ein bewusstes Spiel mit dem Tabuthema „Inzest“ statt. Das lyrische Ich darf nicht mit seiner Kusine schlafen, heißt es zu Beginn des Songs. Der Refrain relativiert die Aussage, in dem der direkte Bezug zu einer Verwandten hergestellt wird. Die Kusine ist namenlos, die im Refrain erwähnte Tante hat einen Namen. „Tante Ceccarelli hat in Bologna Amore gemacht! Amore, meine Stadt. Tante Ceccarelli hat einmal in Bologna Amore gehabt! Bologna, meine Stadt“. Der direkte Zusammenhang zwischen der namelosen Kusine und Tante Ceccarelli wird nicht hergestellt. Der/die Zuhörende erfährt nicht, ob Besagte die Mutter der Kusine ist und möglicherweise ein Bespiel für die Beziehung von Cousin und Cousinein der familiären Vergangenheit des erzählerischen Umfelds. Der intime Beziehungswunsch des lyrischen Ichs und seiner Kusine wird im Laufe des Songs

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verharmlost. Die sexuelle Begierde wird durch den Wunsch emotionaler bzw. körperlicher Nähe abgelöst. „Ich kann sicher nicht mit meiner Cousine reden, obwohl ich gerne würde, aber wir trauen uns nicht!“ bzw. „Ich kann sicher nicht mit meiner Cousine tanzen, obwohl ich gerne würde, aber sie traut sich nicht!“. Die Frage nach dem lyrischen Ich wird in Wandas „Bologna“ aufgeworfen. Ob der Sänger Marco Wanda als auktorialer Erzähler oder Ich-Erzähler im Videoclip agiert, erschließt sich aus der Inszenierung nicht. Einerseits beginnt der Song mit dem Wort „Ich“, andererseits wird die Geschichte, die der Musikvideoclip erzählt, von einem Mann und einer Frau dargestellt. Dieser unbekannte Mann wurde bewusst mit einem Schauspieler besetzt und nicht mit dem Sänger der Band Wanda. Das lyrische Ich wird im Musikvideoclip also in Sänger und Schauspieler aufgespalten, es erfolgt bis zum Ende des Songs keine moralische Bewertung. Der Bandname „Wanda“ ist eine Hommage an die 2004 verstorbene Wanda Kuchwalek. Die „Wilde Wanda“ war bis dato Wiens einzige namhafte Zuhälterin. Gerade dieses bewusste Spiel mit tabuisierten Themen trägt zum Erfolgskonzept der Band bei. Die Thematik des Songs „Bologna“, der Inzest thematisiert, erzeugt in Kombination mit dem Bandnamen und der Inszenierung des Musikvideoclips Spannung, die nicht aufgelöst wird. Das Spiel mit sexuellen Sujets ist bereits in der Bluesgeschichte von Bedeutung. Wanda greift diese Tradition auf und führt sie mit der musikalischen Aufbereitung und der Inszenierung im Videoclip des Songs „Bologna“ weiter. B Figurenanalyse  B1 Rolle: Welche Rolle nimmt der/die Interpret/in in der Szene ein? Wie definiert sich die Funktion / der Status des/der Künstlers/in im Rahmen des Auftritts? Einfache oder komplexe Figurenkonstruktion? Marco Wanda übernimmt die Funktion des Erzählers. Er ist nur dann zu sehen, wenn gesungen wird, bewegt die Lippen synchron zum Text. Er kann das Paar, das Musikvideo agiert, diegetisch nicht beeinflussen, greift nicht physisch in das Geschehen ein. Er wirkt selbstbewusst, hat eine Zigarette in der Hand und bewegt sich – trotz der Ich-Form des Textes – außerhalb der Erzählung.  B2 Inszenierung: optische Inszenierung der Figur: Kostüm / Make Up / Frisur / figurenbezogene Requisite etc.

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Die Inszenierung Marco Wandas entspricht der eines Indie-Rockers. An den Knien zerrissene Jeans, aber mit Hemd und Sakko bekleidet. Das Gewand ist in der Farbe Schwarz gehalten. Die Haare sind kurz. Abbildung 22: Marco Wandas Inszenierung als Indie-Rocker.

Quelle: Musikvideoclip „Bologna“ 0’47’’.

Das unbekannte Paar ist unauffällig gekleidet. Der Mann trägt ein gestreiftes Hemd mit Hosenträgern und hat kurze Haare. Die Frau eine helle Bluse und einen langen Rock, die Haare sind lang und offen. Ihre Identitäten bleiben verborgen. Abbildung 23: Das unbekannte Liebespaar.

Quelle: Musikvideoclip „Bologna“ 0’14’’.

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 B3 Bewegung: Bewegungsrepertoire, Mimik / Gestik und wenn es sich um ein Lied handelt die Stimme / die Gesangslinie Marco Wanda bewegt sich dem Rhythmus und Tempo der Musik entsprechend. Während der Strophen des Songs sieht man ihn die Straßen Bolognas entlanggehen. Setzt der Refrain mit seinen melodischen Elementen ein, beginnt er ansatzweise mitzutanzen.  B4 Geschlecht: Genderspezifische Darstellungen sowie Verkörperungen, Grad der Bedeutung / Dekonstruktion von Geschlecht Marco Wanda verkörpert einen maskulinen Indie-Rockstar. Sein Auftreten, seine Bewegungen, die versuchte Coolness, die die Zigarette in der Hand auslösen soll, entsprechen den Klischees des Genres Rock. Das unbekannte Paar passt sich oberflächlich der geschlechtlichen Binarität an. Die Frau wirkt zurückhaltend, schüchtern, verhält sich im Hintergrund. Im Obstladen sitzt sie auf der Treppe, während der Mann dominant auf der Straße steht und in einen Apfel beißt. Die Frau liegt in der Szene im Zimmer auf dem Bett, der Mann lehnt am Fenster. Wieder beißt der Mann in den Apfel, dies steht in Kontrast zur biblischen Erzählung von Adam und Eva, in der die Frau das „Unheil“ in Gang setzt. Es ist auch die Frau im Video Bologna, die die leere Weinflasche aus dem Fenster wirft. Das Paar teilt sich eine Zigarette, was auf ein ausgeglichenes Machtverhältnis verweist.  B5 Zitate: Bezüge zu anderen Videoclips, Songs, Personen, kulturellen oder kulturgeschichtlichen Entitäten Der Einsatz von Zigaretten und Weinflaschen im Musikvideoclip ist ein Verweis auf das Genre des Rock. Ein liberaler Umgang mit legalen Drogen wird transportiert.  B6 „Die Uhr der Figur“ nach Jens Eder (Eder 2004): o B6a „Die Figur als Artefakt“ – Gestaltung, Inszenierung der Figur Als Hauptfigur wird in diesem Fall der Sänger ausgewählt: Der bürgerliche Name des Sängers Marco Wanda lautet Michael Marco Fitzthum. Der Name der Band Wanda verdeutlicht Marco Wandas Funktion in dieser. Obwohl er Namensgeber und Bandleader ist, vermittelt sein Auftreten im Musikvideoclip den

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Zusehenden die Position eines Einzelgängers. Der Text, der den Tabu „Inzest“ verhandelt, wird von einer eher unscheinbaren Figur gesungen, die eine schwarze Jeans mit Loch im Knie trägt und – eine Zigarette rauchend – durch die Straßen Bolognas schlendert. Die reduziert coole Inszenierung des Sängers entspricht den Konventionen des Stilfeldes. Marco Wanda vertritt die Generation des musikalischen Nachwuchses in der Indie-Rock-Szene. o

B6b „Die Figur als fiktives Wesen“ – Körper, Persönlichkeit, Sozialität der Figur

Marco Wanda kann sofort als Sänger der Band Wanda identifiziert werden. Der Gesang setzt ein und er bewegt den Mund im Musikvideoclip. Er ist immer alleine im Bild zu sehen. Durch die Frage, wer das lyrische Ich im Musikvideoclip verkörpert, entsteht ein Querstand. Der Sänger steht dem männlichen Protagonisten im Video gegenüber. Das lyrische Ich fällt durch den bewussten Einsatz eines männlichen Schauspielers auseinander. Die Geschichte wird vom Sänger erzählt, in der Narrative darf ein anderer Mann begehren. o

B6c „Die Figur als Symbol“ – indirekte Bedeutung, Symbolik/Metapher

Die Figur Marco Wanda verkörpert das Klischee des Indie-Rockstars. Marco Wanda übernimmt die Rolle des romantisierten Einzelgängers, die in diesem Genre gerne inszeniert wird. Er erzählt als Sänger die Geschichte, kann sie nicht beeinflussen, steht somit für das Inzest-Tabu. Marco Wanda verkörpert die Gradwanderung zwischen dem Verbotenen, dem Anstößigen und dem Aufregenden dieses Songs. Somit personifiziert er stimmlich, lyrisch und performativ im Musikvideoclip den Rock-Sänger. Marco Wanda ist sich bewusst, dass die Story, die er erzählt, das Tabu „Inzest“ verhandelt. Die Textzeile „Ich würde gerne, aber ich trau mich nicht“ („sie traut sich nicht“, „wir trauen uns nicht“) verweist auf dieses Wissen. Im Sinne der Goffman‘schen Rahmenanalyse werden dabei die Grenzen des Rahmens von erlaubten Liebesbeziehungen angesprochen, aber nicht überschritten. o

B6d „Die Figur als Symptom“ – kommunikative Ursache/Wirkung, soziokultureller Kontext

Der Inzest-Tabu ist in der heutigen Gesellschaft etabliert, Verstöße dagegen werden strafrechtlich geahndet, denkt man an jüngste Vorfälle in Österreich

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(z.B. Fall Fritzl). Das Thema wurde in den letzten Jahren jedoch musikalisch kaum verhandelt. Die experimentelle Sexualität wird in „Bologna“ zu einem gesellschaftlichen Thema. Mit dem Ausdruck „Amore gemacht“, muss das Wort „Sex“ nicht fallen, doch die Interpretation weiß, was gemeint ist. Die Band Wanda bedient sich unverblümt dem Klischee von „Sex, Drugs and Rock’n’Roll“, das in der Rockmusik gerne zugegen ist. Ein Grundbedürfnis der Jugend wird zum musikalischen Allgemeininteresse. Die Frage, ob Marco Wanda direkt oder indirekt in das inzestuöse Begehren verstrickt ist, wird aufgeworfen, aber nicht beantwortet. C Bühne und Publikum Wanda „Bologna“ – Live Auftritt in: Wien Gasometer, April 2014 https://www.youtube.com/watch?v=tDNj-h9FooY  C1 Gesamtkonzept: Die Bühne wird als Gesamtkonzept betrachtet. Sind Musiker/innen sichtbar, gibt es Backgroundtänzer/innen, eine Choreographie, ein Bühnenbild, Requisiten? Zusätzlich zum Videoclip wurde eine Live-Performance von „Bologna“ analysiert, um die Interaktion zwischen Bühne und Publikum untersuchen zu können. Die Band Wanda tritt live in folgender Besetzung auf: Marco Michael Wanda (Gesang), Manuel Christoph Poppe (Gitarre, Background-Gesang), Christian Hummer (Keyboard, Klavier, Background-Gesang), Reinhold Weber (Bass, Background-Gesang) und Lukas Hasitschka (Schlagzeug, Background-Gesang). Auf der Bühne befinden sich die Musiker und ihre Instrumente. Die Band bewegt sich ausgelassen auf der Bühne, tanzt und springt mit. Kleidung und Styling entsprechen dem Genre Indie-Rock (Jeans, T-Shirts bzw. Hemden) und somit den Konventionen des Stilfelds. Marco Wanda trägt das Hemd offen, ähnelt in seinem Auftreten dem Rockstar-Typus der späten 1960er Jahren, erinnert an Jim Morrison von The Doors. Dieses Rockstar-Klischee wird mit Wanda erneut etabliert. Das Neue an Wanda ist der Einsatz von deutschsprachigen Texten, in anderen Songs auch im Wiener Dialekt gehalten.  C2 Technik: Die Technik – als Teil der Bühne – ist ein weiterer Aspekt: das audiovisuelle Konzept, der Ton, das Licht. Die Bühne ist zu Beginn des Auftritts in dunkelblaues Licht getaucht. Erst als das instrumentale Intro einsetzt wechselt die Beleuchtung. Während des gesam-

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ten Songs ist die Bühne in den Farben Dunkelblau, Violett und Rot beleuchtet. Bei den Worten „Amore“ und „Bologna“ im Refrain erstrahlt die Bühne in weißem Licht. Dies geschieht auch während der Bridge. Das Publikum wird animiert bei den Worten „Amore“ und „Bologna“ mitzusingen. Geschieht dies, wandern die Lichtkegel ins Publikum.  C3 Bühne / Publikum: Existiert Interaktion zwischen Bühne und Publikum? Welche Regeln und Konventionen gelten für das Publikum bezugnehmend auf das Stilfeld? Gibt es Bestuhlung, darf getanzt werden, herrscht Stille, darf gesprochen/mitgesungen werden? Das Publikum befindet sich in der Situation eines Rockkonzerts. Es steht dicht gedrängt, es darf getanzt und mitgesungen werden. Bereits vor Beginn des Songs, der als Zugabe gespielt wurde, bemerkt Marco Wanda „Wir haben ein Problem: ich will nicht gehen“. Diese Worte animieren das Publikum und es erklingen Jubelschreie. Der Sänger interagiert weiter mit dem Publikum: „Und ihr habts es euch verdient.“ Die Jubelschreie reißen nicht ab. Marco Wanda spricht weiter: „Wenn jemand fragt, wofür du stehst, sag...“. Die Antwort des Publikums ist laut und deutlich zu hören „Für Amore“. Sobald der Song erklingt, tanzt das Publikum, es werden Menschen von anderen Menschen auf die Schultern genommen, andere heben die Hände. Der Musikstil von Wanda ist auch in der Konzertsituation eindeutig dem Genre Indie-Rock zuzuordnen. Das StageDiving, eine Komponente, die bei Live-Auftritten im allgemeinen Genre Rock häufig vertreten ist, ist bei diesem Auftritt nicht zu beobachten. Die Band tanzt ausgelassen auf der Bühne. Vor allem beim Refrain springt das Publikum im Takt mit. Beim Wort „Tanzen“ schwingt Marco Wanda die Hüften – wie er es im Video tut – und imitiert mehr eine sexuelle Geste als eine Tanzbewegung. Das Gitarrensolo wird von Marco Wanda mit einem „Yeah“ angekündigt. Der Band Wanda gelingt es, vor allem dank dem Sänger Marco Wanda, ständig in Kontakt mit dem Publikum zu stehen. „Wenn jemand fragt, wofür du stehst“ wird vom Publikum mit „Amore“, „Wenn jemand fragt, wohin du gehst“ mit „Bologna“ beantwortet. Am Ende des Songs verabschiedet das Publikum die Band mit tosendem Applaus und Pfeifen. Marco Wanda springt auf der Bühne auf und ab und deutet mehrmals ins Publikum.

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Abbildung 24: Schlussapplaus und Verbeugung.

Quelle: Live-Auftritt 4’35’’.

Die Band umarmt sich, verbeugt sich vor der Menge, dreht sich um und verbeugt sich mit dem Rücken zum Publikum. Die entstehende Distanz wird von der Menge mit Zugabe-Rufen honoriert. Marco Wanda formt mit seinen Fingern ein Herz für die Menge. Dann geht die Band von der Bühne. D Konvention/Konstitution  D1 Kulturen/Erfahrungswelten Das Musikvideo und der Live-Auftritt zu „Bologna“ entsprechen den Konventionen des Indie-Rocks auf musikalischer Ebene und in der visuellen Inszenierung. Im Mittelpunkt steht eine Figur, die mit Tabubrüchen spielt. Dieser Umgang mit Tabus versetzt den Song und seinen Interpreten in eine progressivrevolutionäre Rolle.  D2 Musikstile In „Bologna“ ist kein Crossover zu erkennen, der Song entspricht in seiner Besetzung (E-Gitarre, E-Bass, Schlagzeug, Keyboard) den Kriterien des IndieRocks.

 D3 Performance Stil

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Marco Wanda animiert das Publikum, sich durch Gesang, Klatschen und Tanzen aktiv an der Performance zu beteiligen. Er bewegt sich ausgelassen auf der Bühne, tanzt und singt mit sich verausgabender Stimme. Körperlicher Einsatz, der an seine Grenzen geht, dominiert die Performance. Abbildung 25: Marco Wandas körperlicher Einsatz dominiert die Performance.

Quelle: Live-Auftritt 2’35’’.

 D4 WAS konstituiert der Interpret/ die Interpretin in seiner/ihrer Performance kulturell? Der Inhalt des Songs „Bologna“ beschäftigt sich mit dem Tabuthema Inzest. Ein Thema, das gesellschaftlich zwar präsent ist, aber kaum musikalisch verhandelt wird. Mit diesem Tabubruch gelingt es Wanda dem Image der „bösen Buben“ des Rock, dem Image der Tabubrecher zu entsprechen. Wanda inszeniert sich im Herzstück der Rockmusik. Das Klischee von Sex, Drugs and Rock’n’Roll wird wiederbelebt.  D5 WIE macht sie/er das (in Bezug auf die Konventionen des Stilfeldes)? In diesem Fall wird in deutscher Sprache gesungen, so kann die Inzest-Thematik auch vom Publikum verstanden werden. Dies unterstreicht das beabsichtigte Image. In seiner Inszenierung entspricht der Sänger dem Typus des hedonistischen Rockstars. Er trägt ein offenes Hemd und eine zerrissene Hose. In der

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Hand hält er immer eine Weinflasche und/oder eine Zigarette. Marco Wanda singt mit heiserer Stimme. Der Umgang mit dem Publikum kann als kommunikativ bezeichnet werden. Die Band tritt in klassischer Rockbesetzung: Gesang, E-Gitarre, E-Bass, Keyboard und Schlagzeug auf.  D6 Wie und in welcher Form finden Übersetzungen (Translationen) statt? Eine Erfahrung wird in die Stilmittel des Genres Indie-Rock übersetzt. Die Verarbeitung dieser Erfahrung erfolgt in der musikalisch-poetischen Form des Rocksongs. Abbildung 26: Die Erben der Tante Ceccarelli.

Quelle: Musikvideoclip „Bologna“ 1’47’’.

Die ungeklärte Frage des lyrischen Ichs, die Anonymität der beiden Protagonist/innen, der Verweis, dass „Ceccarelli“ ein Feinkostladen ist, führt zu Verstörungen in der Rezeption. Obwohl die Story des Songs eindeutig von Marco Wanda erzählt wird, bekommt er im narrativen Teil keine Funktion zugeschrieben. Die Erben der Tante Ceccarelli kreieren ein Mysterium, das auf auditiver und visueller Ebene ungelöst bleibt. Translationen im Sinne der Interaktion von Kulturen finden nur zwischen der Geschichte der Rockmusik und ihrer Aktualisierung in Österreich statt.  D7 Ergebnisse der Analyse des Aufführungsrituals

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Mit dem Song „Bologna“ erschafft die Band Wanda das Stilfeld nicht neu, belebt es jedoch wieder (Revival des Rocks der 1960er Jahre „Sex, Drugs and Rock’n’Roll“, zusätzlich mit deutschen Texten ausgestattet). Wanda bewegt sich auf der Ebene der Intimität (Inzest-Tabu), scheut sich nicht vor dem versteckten Spiel mit gesellschaftlichen Konventionen und Tabus. Dennoch liegt der Fokus liegt auf dem Sänger Marco Wanda (Inszenierung des Einzelgängers im Musikvideoclip, als Frontmann auf der Bühne). In der Live-Performance, die eindeutig ein Animationsritual darstellt, spielen interaktive Momente zwischen Bühne und Publikum eine entscheidende Rolle. Der Videoclip greift zwar einige Elemente der Live-Performance auf (zusätzlich zum Frontsänger ist auch noch der Gitarrist zusehen), es überwiegen allerdings konkrete Illustrationen von Textinhalten (Bologna als Schauplatz, Cousin & Cousine, der Laden der Tante Ceccarelli etc.).

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1B) FIJUKA: „CA CA CARAVAN“ A Analyse des audiovisuellen Produkts  A1 Faktische Ebene: Titel des Musikstücks / Datum der Aufführung bzw. der Veröffentlichung des Musikvideos Das Musikvideo „Ca Ca Caravan“ von Fijuka wurde am 13.09.2015 veröffentlicht. Der Song befindet sich auf dem Album „Use My Soap“, das am 25. September 2015 bei Seayou Records erschienen ist.  A2 Personelle Ebene: Name des/r Interpret/in, oder der Gruppe der Interpret/innen sowie deren Geschlecht, Alter, Herkunft und kultureller Hintergrund; Verhältnis Autor/innen zu Interpret/innen Fijuka besteht aus Ankathie Koi (Katharina Winkelbauer, Gesang/Synthesizer) und Judith Filimónova (Judith Walzer, Bass/Gesang). Das 2011 gegründete deutsch-österreichische Duo (Burghausen/Wien) hat sich auf der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien kennengelernt. Der Bandname Fijuka hat keine eindeutige Definition. Clara Schmidl spricht dies in einem Interview an: „Es kursieren – teils auch von Ihnen selbst unterfüttert – verschiedene Theorien darüber, was FIJUKA bedeutet: Ungarisch für „kleiner Junge“, Serbisch für „kleine Schublade“, Swahili für „kleine Geister“? Google Translate bietet auch Bosnisch für „Trillerpfeife“ ...“3 Die Frage wird von dem Duo nicht beantwortet. Genau wie der Bandname ist auch die Musik von Fijuka nicht eindeutig definierbar. Sie fällt in den Kontext der Popmusik, Einflüsse aus Rock, Elektronik und in manchen Songs auch aus dem Jazz sind zu hören. Das Debutalbum „Fijuka“ erschien im Jahr 2013. Die Musikerinnen sind in den 1980er Jahren geboren. Die Band Fijuka schreibt und interpretiert ihre Songs selbst.  A3 Musikalische Ebene: Das Musikstück, seine Form und Besetzung, Noten, Umgang mit Genrekonventionen: Bestätigung / Überschreitung (Crossover) Walter Gröbchen beschreibt Fijukas Musik: „Es ist ein multi-instrumentaler, experimentierfreudiger Pop, immer auf der Suche nach neuen Wegen der Klanger-

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ebenda.

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zeugung.“4 Musikalisch ist „Ca Ca Caravan“ dem Genre Pop zuzuordnen mit Elementen der elektronischen Musik. Gesungen wird der Song von Ankathie Koi, im Refrain sind Backgroundvocals zu hören. Die Instrumentalbegleitung erfolgt durch Synthesizer (Patrick Stürböth), Schlagzeug (Ivo Thomann) und Bass (Judith Filimónova).  A4 Literarische Ebene: Titel / Lyrics, Analyse des Songtexts / des Librettos (Bedeutungsmöglichkeiten) Lyrics „Ca Ca Caravan“5 (Words: Ankathie Koi / Music: Fijuka, Patrick Stürböth) You hear a strange, big „Bang“ In a thick thick night And you really really really wanna look inside The UFO wohoho You want to talk To the creatures Cause you need to hide So you really really really wanna slip inside The UFO wohoho You want to dance with The creatures And you don’t mind To fold your arms around the slimy guys wohoho Did you really get by? Did you really aim high? Or is tonight just an occasion To leave everybody high and dry? wohoho They mutter: „Time is now behind the times And we were never here And you were never born my friend Time, you can’t define the time And you were never here And now it’s time to leave my friend“ You want to be with

4

Gröbchen, 2015, o.S.

5

Der Songtext wurde freundlicherweise von Fjiuka zur Verfügung gestellt.

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The creatures And your thoughts are wild And you really really want to stick your finger inside The UFO wohoho You claim „I come in peace!“ And „I am alone!“ But once they let you in You push them off their throne in the The UFO wohoho Did you really get by? Did you really aim high? Or is tonight just an occasion To leave everybody high and dry? Wohoho „Time is now behind the times And we were never here And you were never born my friend Time, you can’t define the time And you were never here And now it’s time to leave my friend“

Ankathie Koi beschreibt den Song und seine Entstehung mit den Worten: „Im Text geht es schon darum, dass ein Mann mit einem UFO abhaut. Das waren Bilder, die ich schon beim Schreiben des Textes im Kopf hatte. Dass es im Endeffekt so aussieht, hätte ich mir trotzdem nicht gedacht.“6. Die erzählende Person hört in der Nacht einen Knall und wird auf ein UFO aufmerksam. Die Person möchte das UFO erkunden und mit seinen Insass/inn/en sprechen. Dieser Wunsch ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass sich die handelnde Figur verstecken muss und hierfür das UFO gewählt hat. Die Kontaktaufnahme wird weitergeführt, der Wunsch mit den Kreaturen zu tanzen und diese zu umarmen ausgesprochen. Gleichzeitig entstehen Selbstzweifel, die Person fragt sich, ob sie ihre Erwartungen nicht zu hoch gesetzt hat und ob sie diese Gelegenheit wirklich nützen kann. Die Kreaturen bestärken die Entscheidung, die aber die irdische Existenz der erzählenden Person auslöschen würde. Dieses Angebot gefällt ihr, sie gibt vor in Frieden zu kommen und alleine zu sein. Eigentlich möchte die erzählende Person die Herrschaft über das UFO und die seiner Insass/innen an sich reißen. Mit der Wiederholung des Refrains wird die Entscheidung bekräftigt.

6

Khom 2005, o.S..

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Der Song beschreibt das Streben nach Flucht (Eskapismus). Die mögliche bessere Welt befindet sich nicht im irdischen Raum, sondern fern der Erde. Der Zusammenhang von Raum und Zeit wird in Frage gestellt, im Refrain sogar negiert. Das Geschlecht der erzählenden Person ist nicht definierbar.  A5 Räumliche Ebene: Schauplatz des Auftritts, die Situation in der dieser stattfindet (Live-Auftritt / Musikvideoclip) Schauplätze des Musikvideos sind ein Raumschiff, eine Raumstation und ein fremder, wüstenartiger Planet. Gedreht wurde u.a. im nie in Betrieb genommenen AKW Zwentendorf7.  A6 Performative Ebene: Analyse der Filmsequenz: Figuren, Bewegungsabläufe (statisch / dynamisch), Kameraeinstellungen, Beleuchtung, ästhetische Aspekte, u.a. Der Musikvideoclip beginnt mit einem long shot auf zwei Planeten in einer Milchstraße. Es ist keine Musik zu hören. Die Kamera zoomt auf die beiden Himmelskörper. Mit einem Schnitt wechselt die Szenerie (long shot) auf einen fremden Planeten. Es sind Geräusche einer Maschine zu hören. Ein kleines Raumschiff befindet sich im Landeanflug auf einen Planeten. Es wirkt parodistisch, wie die Raumkapsel langsam hinuntergelassen wird. Eine Überblendung wechselt die Szenerie auf den Planeten. Zwei unbekannte Frauen in RaumschiffOffiziersuniformen sind mit silbernen, futuristisch wirkenden Handfeuerwaffen auf dem Planeten zu sehen. Die Szenerie erinnert an Science-Fiction-Serien der 1960er Jahre. Eine Frau hat halblange blonde Haare und schräg geschnittene Stirnfransen, die andere längere rötlich-brünette Haare. Beide tragen Abzeichen auf ihren Gewändern. Geräusche von Schuhen, die auf Steine treten, sind zu hören. Die Kamera zoomt in einen medium long shot. Die blonde Frau richtet die Waffen in Richtung Kamera, hält mit ihrer Hand die andere Frau auf und ruft: „Watch out! It’s the super evil snake woman.“ Durch einen Schnitt (long shot) wird die angesprochene Kreatur gezeigt. Eine am ganzen Körper grün geschminkte Frau ist zu sehen. Es folgt ein Zoom. Sie lehnt auf einem Felsen und blinzelt. Ihre Augen wirken reptilienartig. Im medium long shot sind die beiden Protagonistinnen beim Hantieren mit Feuerwaffen zu sehen. Der Schnitt wechselt zu der Schlangenfrau, die sich langsam vom Felsen erhebt. Plötzlich sind ro-

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Pausch, Christian. Wash your hands. Ein Leitfaden durch Fijukas zweites Album „Use My Soap". http://fm4.orf.at/stories/1763134/ (Zugriff: Juni 2021).

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safarbene Schüsse zu sehen. Sie steht auf. Die nächste Kameraeinstellung fokussiert die beiden Protagonistinnen, die sich hinter einem Felsen verstecken. Die rothaarige Protagonistin sagt „She seems to be invincible“. Schnitt auf die Schlangenfrau, die zwischen Felsen hockt, und den Körper bewegt. Alle Einstellungen sind im medium long shot zu sehen. Die blonde Frau fragt „Do you see these rocks up there?“, im Bild ist ein Stein auf einem Felsen. Die Einstellung wechselt auf die Protagonistinnen, die hinter einem Stein stehen, nun ist auch die „super evil snake woman“ zu sehen (long shot). Sie steht ein paar Meter entfernt auf einer freien Fläche, geht langsam auf die beiden Frauen zu. Bei 0’33’’ folgt ein Schnitt auf die blonde Protagonistin, die auf die freie Fläche läuft, in die Knie geht und mit den Armen wedelnd ruft „I’m here you ugly reptile mutant“. Der Schnitt wechselt zur Schlangenfrau, die Superkräfte zu haben scheint. Sie wirft einen Stein in Richtung der blonden Protagonistin. Diese kann knapp ausweichen. Der Stein schlägt auf, er wirkt schwer. Der Schnitt wechselt zu der anderen Protagonistin. Mit „I hope you know what you are doing, Caty“ wird einer der beiden Protagonistinnen ein Name gegeben. Der Schnitt wechselt zu Caty, die einen Fels entlang geht. Die Schlangenfrau folgt ihr. Es sind Reptiliengeräusche zu hören. Caty dreht den Kopf nach hinten und ruft „Now!“. Bei 0’54’’ erfolgt ein Schnitt auf die andere Frau, die ihre Pistole nach oben richtet. Schnitt auf einen großen Felsen, es folgt ein Lasergeräusch, man sieht einen roten Laserstrahl. Ein größerer Stein wird gespalten, seine Kleinteile rollen den Felsen hinunter. Der Schnitt wechselt zur Schlangenfrau (medium long shot), die von den Steinen getroffen wird und zu Boden fällt. Die beiden Frauen gehen auf die Schlangenfrau zu. Die Musik setzt ein (0’58’’). Die rötlich-brünette Protagonistin sagt „That was close. Are you alright?“. Caty bejaht und ergänzt „Let’s leave this god forsaken planet“. Die beiden gehen aus dem Bild. Bei 1’11’’ setzt der Gesang ein. Gleichzeitig wechselt der Schnitt in den Weltraum. Man sieht die Milchstraße und die Rückseite eines Miniatur-Raumschiffs. Der Schnitt wechselt in das Raumschiff (medium long shot). Caty und ihre Kollegin sitzen am Steuer. Währenddessen ist die Textzeile „And you really really really wanna look inside The UFO“ zu hören. Der Gesang ist nicht Teil der Diegese. Die Innenausstattung erinnert an die Kulisse der Serie „Star Trek“ (im deutschsprachigen Raum als „Raumschiff Enterprise“ bekannt, von 1966-69 in den USA erstausgestrahlt). Caty drückt auf Knöpfe, ihre Kollegin hält zwei Steuerhebel in den Händen. Die Szenerie wechselt wieder in den Weltraum in einen long shot. Die Textzeile „So you really really really wanna slip inside The UFO“ lässt die Szenerie wieder für einige Sekunden in das UFO wechseln. Die

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Raumkapsel fliegt an Planeten vorbei, die kaum größer sind als das Raumschiff. Diesem folgt ein größeres Raumschiff. Das andere Raumschiff fliegt frontal auf die Kamera zu, diese Anordnung zeigt eine Bedrohung für die beiden Protagonistinnen an. Der Schnitt wechselt wieder in Catys Raumschiff. Ihre namenlose Kollegin erkennt auf dem Bildschirm die Bedrohung. Der gesprochene Text wird während des Gesangs von Untertiteln abgelöst: „Unidentified starfighter approaching“. Das bedrohliche Raumschiff schießt grüne Strahlen ab. Die beiden Protagonistinnen drehen einander die Köpfe zu. Die Szene wechselt in den Weltraum, die Strahlen des anderen Raumschiffs treffen nicht. Szenenwechsel zurück in die Raumkapsel: Caty hält sich am Equipment fest, es wirkt als würde das Raumschiff rütteln. Sie streckt die Hand zur Steuerung des Raumschiffs aus. Wieder ein kurzer Szenenwechsel in den Weltraum, das bedrohliche Raumschiff schießt noch immer Laserstrahlen. Der Wechsel in Catys Raumschiff erfolgt mit einem close-up. Eine Hand betätigt einen Schalter. Catys Raumschiff verliert an Flughöhe, das andere Schiff fliegt darüber. Bei Minute 1’53’’ wird auch der Name der zweiten Protagonistin genannt mit „Activate hypersonic laser cannon, Judy“. Judys Antwort ist anhand ihrer Mundbewegung ersichtlich: „Copy that“. Dieses Gespräch wird durch eine Technik des Filmschnitts namens ShotReverse-Shot dokumentiert. So ist für die Zusehende das mittlerweile beschossene, angreifende Raumschiff zu sehen. Der Schnitt wechselt zwischen Judys Händen an den Steuerhebeln, dem beschossenen Raumschiff aus der Ansicht aus dem Cockpit und aus der Weltraum-Ansicht. Mit einer Rauchwolke verschwindet das Raumschiff (Rückenansicht aus dem Cockpit). Durch das filmtechnische Stilmittel Shot-Reverse-Shot sieht man Judy und Caty einander ein „High five“ geben. Bei 2’10’’ setzt der Refrain ein. Ein close-up auf Judys Hände zeigt, dass das Raumschiff nun in eine andere Richtung gelenkt wird. Die Szene wechselt in den Weltraum, das Raumschiff fliegt eine Kurve. Wieder zurück im Cockpit (medium close-up) sind die Protagonistinnen, die mit den angedeuteten Bewegungen des Raumschiffs mitgehen, zu sehen. Die Mienen wirken versteinert, erinnern an Androiden aus Science-Fiction Filmen. Ein Bezug zur Technik der ScienceFiction-Filme der 1960er Jahre wird hergestellt. Ein Schnitt in den Weltraum zeigt das Raumschiff schneller werdend, bis es Lichtgeschwindigkeit erreicht. Während die Textzeile „And we were never here. And you were never born my friend.“ zu hören ist, wird das Raumschiff von einem orangenen Kreis mit weißem Rand abgelöst. In ihm erscheinen die Worte „FIJUKA Space Patrol“ in Rosa und Magenta. Bei 2’28’’ schiebt das von links kommende Raumschiff den Schriftzug weg. Ein Schnitt ins Cockpit zeigt Caty beim Sprechen der Worte „We’re heading back to base“. Der anvisierte Planet ist im Bild zu sehen. Er ist

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grau und besteht aus einer rauen Oberfläche. Das Miniatur-Raumschiff fliegt auf diesen zu. Der Schnitt wechselt in einen long shot auf den felsigen Planeten, der aus einem See, Gräsern und einer weißen, runden Raumstation besteht. Diese erinnert in ihrer Form an den Todesstern der Filmreihe „Star Wars“, allerdings in der Farbe Weiß. Die zweite Strophe wird in der Raumstation eingeleitet (medium long shot / 2’37’’). Die Textzeile „You want to be with the creatures“ markiert den Auftritt einer weiteren Figur. Caty und Judy gehen auf einen Mann zu, der ein Buch in der Hand hält. Auch er trägt ein das Abzeichen, das Judy und Caty tragen, auf seinem Oberteil. Durch die Aussage „We’ve taken care of the super evil snake women“ wird seine Position als Vorgesetzter definiert. „I knew I could rely on you“ festigt diese Position. Zeitgleich ist die gesungene Textzeile „You want to be with the creatures and your thoughts are wild“ zu hören. Die beiden Frauen drehen sich um und verlassen den Raum. Caty und Judys Raumschiff verlässt den Planeten. Auf der Suche nach neuen Kreaturen und Abenteuern. Der Textausschnitt „your thoughts are wild“ verweist auf die Abenteuerlust der beiden Protagonistinnen. Der Schnitt wechselt vom long shot auf den Planeten in den Weltraum. Die Kameraeinstellung verändert sich nicht. Im Raumschiff werden die beiden Frauen in einem medium close-up gezeigt. Caty spricht in ein Mikrofon: „Fijuka Space Patrol is off to save the galaxy“. Währenddessen ist die Textzeile „You claim „I come in peace! And I am alone!“ zu hören. Der Schnitt in die Kommandozentrale der Raumstation zeigt einen Mann mit Headset, der an einem Pult sitzt. Er antwortet „Take care and godspeed!“ (zu lesen als Untertitel), neben ihm steht der Vorgesetze der beiden Frauen. Auditiv wird „But once they let you in you push them off their throne in the The UFO“ verarbeitet. Bereits bei 3’03’’ findet die Story ihr Ende, es bleibt offen, ob die beiden Heldinnen die Kommandozentrale für sich einnehmen wollen. In Rückblenden werden nun die Figuren des Videoclips vorgestellt. Die beiden Männer in der Raumstation notieren etwas auf ihren Blöcken, das Wort „FEATURING“ erscheint in weißen Buchstaben. Der Schnitt wechselt auf den Mann, der zuvor ein Headset getragen hat. Er notiert etwas, lacht in die Kamera. Die Worte „Patrick Stürböth als Lt. JAMES STORCH“ erscheinen. Der Name des Offiziers wurde im Musikvideoclip bis dato nicht genannt. Der Schnitt zeigt ihn kurz bei der Arbeit mit Headset. Wechselt nach wenigen Millisekunden zu der nächsten Figur. Der Vorgesetze von Caty und Judy dreht sich auf seinem Drehstuhl in Richtung Kamera. Er steckt sich eine Zigarre in den Mund. Die Worte „Ivo Peter Thomann as Capt. FRANCIS“ erscheinen. Capt. Francis zieht an der Zigarre, lächelt, hebt eine Augenbraue.

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Die Szenerie wechselt wieder ins Raumschiff. Caty und Judy sind in Rückenansicht in einer medium long shot-Einstellung zu sehen. Der Refrain setzt mit den Worten „They mutter [...]“ ein. Sie drehen die Köpfe und lachen in die Kamera. Das Wort „STARRING“ erscheint. Eine Rückblende (long shot) zeigt die beiden Frauen auf einer Wiese laufend mit Laserpistolen in der Hand, aus denen Laserstrahlen geschossen werden. Eine weitere Rückblende (medium long shot) zeigt Judy mit Pelzmütze, Pelzgilet und Pelzarmstulpen in einer Berglandschaft. Sie hält ein Gerät in der Hand, das mit einem Mikrofon und einem Kabel verbunden ist. Sie erinnert an das Bild der weiblichen Agentin in SpionageSerien und -Filmen der 1960er Jahre. Während sie in das Mikrofon spricht, erscheint die Einblendung „Judith Filimónova as JUDY JUPITER“. Die Szenerie wechselt in einen head and shoulder close-up, erneut ist Judy beim Bedienen des Raumschiffs zu sehen. Sie lächelt in die Kamera. Eine weitere Rückblende (medium long shot) zeigt Judy in einer Nachtszene. Sie springt mit der Waffe in der Hand über einen Felsen und landet auf Kies. Diese Szene wirkt wie eine Verfolgungsjagd, der/die Verfolgte ist jedoch nicht zu sehen. Eine weitere Rückblende (medium long shot) zeigt das Judy und Caty in einen Rückschiff/einer Raumstation vor einer Schiebetür stehen. Die Tür geht auf, beide stürmen in den Raum. Schnitt in einen head and shoulder close-up auf Caty, die beim Bedienen eines Geräts zu sehen ist. Sie dreht sich lächelnd zur Kamera. Die Bildunterschrift „Ankathie Koi as CATY COSMOS“ erscheint. Die nächste Rückblende (medium close-up) erinnert an James Bond-Filme. Wie die Perserkatze, die das Oberhaupt der Terrororganisation „Spectre“ Ernst Stavro Blofeld am Arm trägt, hält Caty einen Hund im Arm und einen Cocktail in der anderen Hand. Sie trinkt einen Schluck davon. Ein Schnitt auf Caty in einem head and shoulder close-up zeigt die Figur sich lächelnd in die Kamera drehend. In einer weiteren Rückblende in ein medium close-up ist Caty mit Laserpistole auf die Kamera gerichtet zu sehen. In der nächsten Szene klettern Caty und Judy in einer Raumstation/in einem Raumschiff in eine Öffnung. Durch den Dutch Angle, eine schräge Kameraperspektive in Fotografie und Film, ist ein Teil des Raumes schräg zu sehen. Diese Perspektive vermittelt die Gefahr der Aktivität. Der Schnitt in den medium long shot zeigt die beiden Frauen einen schmalen Steg entlang gehen. Ein weiterer Schnitt setzt den Kamerafokus auf ein blinkendes, rotes Schild mit dem Wort „Danger“. Die Gefahr der Situation wird verdeutlicht. Beide Frauen laufen zu einer runden Tür, die Ähnlichkeit mit Türen aus den Star Wars-Filmen aufweist. Sie öffnen diese schwerfällig. Ein Schnitt in die Nachtszene zeigt die Frauen weglaufen, sie werden von Laserstrahlen beschossen. Es folgt eine Rückblende

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(long shot) in eine Berglandschaft. Caty und Judy ausgestattet mit Pelzaccessoires deutet auf etwas, das nicht im Bild ist. Der Schnitt wechselt zu Judy (medium shot), die schockiert an der Kamera vorbeiblickt. Ein weiterer Schnittwechsel führt zurück in das Raumschiff, also in die Ausgangssituation der Rückblenden. Zwei andere Raumschiffe fliegen über das Raumschiff der beiden Frauen. In sehr kurzen Sequenzen werden einige weitere Rückblenden zu einer Montage verarbeitet. So wird Judy in einer Eishöhle gezeigt, die beiden Männer in der Raumstation sind kurz zu sehen, Caty beim Werfen eines Steines, beide Frauen lachend auf die Kamera zugehend. Eine sich öffnende Lifttür zeigt die beiden Protagonistinnen langsam die Pistolen hebende ihre Rücken aneinander drehend. Diese Pose erinnert an die Posen des Agenten James Bond. Bei den Worten „You were never here and now it’s time to leave my friend“ ist das Raumschiff von hinten zu sehen, wie es aus dem Bild verschwindet. Ein knapp 40sekündiger Abspann begleitet von der Melodie des Prologs deklariert alle am Video beteiligten Personen. Nicht nur Konzept, Regie und Kamera übernommen von Anselm Hartmann und Marie-Thérèse Zumtobel werden genannt, sondern auch Make-up, Kostüm und Förderstellen. Der im Prolog gesprochene Dialog wurde von Katie Harvey and Julie Cummings synchronisiert. Durch das Einblenden der Credits erhält der Musikvideoclip eine neue dramaturgische Komponente, erlangt den Charakter eines Kurzfilms.  A7 Narrative Ebene: Plot des Videoclips wird kurz zusammengefasst bzw. nacherzählt, Zusammenwirken von Musik, Text und Bild Der Musikvideoclip beginnt mit einem Prolog, der die Landung einer Raumkapsel auf einem felsigen Planeten zeigt. Die beiden Insassinnen, die WeltraumAgentinnen Caty Cosmos und Judy Jupiter werden von einer außerirdischen Kreatur angegriffen.

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Abbildung 27: Bildausschnitt aus dem Prolog.

Quelle: Musikvideoclip „Ca Ca Caravan“ 0’31’’.

Dieser Angriff wird abgewehrt, die Raumkapsel kehrt zur Raumstation zurück. Der eigentliche Song beginnt. Die Frauen überbringen die Nachricht und erhalten Lob vom Captain der Raumstation. Sie verlassen die Raumstation wieder mit ihrem Raumschiff. Immer wieder sind im Musikvideoclip bildliche Zitate aus Serien und Filmen der 1960er Jahre zu sehen. In weiterer Folge werden die Protagonistinnen und Protagonisten des Musikvideoclips in Rückblenden vorgestellt. Es erfolgt ein 40sekündiger Abspann mit Credits, was aus dem Musikvideoclip einen Kurzfilm macht. Die eigentliche Geschichte, die der Text von „Ca Ca Caravan“ in der musikalischen Form eines Popsongs erzählt, wird nicht verbildlicht. Viel mehr findet eine Fortführung dieser statt. Das Weltall wird bereits von der Menschheit beherrscht.  A8 Kulturelle Ebene: Stilfelderbezug, Verhältnis von Text-, Bild- und Musikebene (Homologien), entstehen „Zwischenräume“ (Third Spaces)? Homologien Der Musikvideoclip zu „Ca Ca Caravan“ wird als eine Episode von „Fijuka Space Patrol“ inszeniert, erhält den Charakter eines Kurzfilms. Es existiert ein Prolog, in dem gesprochen wird und es keinen Einsatz von Musik gibt. Die Überbringung des Triumphes gegen die „super evil snake woman“ wird mit Untermalung des Songs „Ca Ca Caravan“ inszeniert. Ein Abspann ist außergewöhnlich für einen Musikvideoclip. Bei „Ca Ca Caravan“ dauert dieser 40 Sekunden und zählt alle am Videodreh beteiligten Personen und Institutionen auf. Der im Prolog gesprochene englischsprachige Dialog wurde von native speakers

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synchronisiert. Schnell wechselnde Schnitte und Kameraeinstellungen und die Inszenierung des Musikvideoclips charakterisieren diesen als Kurzfilms in Anlehnung an das Genre Science-Fiction. Songtext, Musik und optische Inszenierung beziehen sich allerdings nur lose aufeinander: Songtext und Videoclip bedienen das Weltraum-Sujet ohne gemeinsamem Handlungsstrang, die Musik (Elektro Pop / Glam Rock) weist keine über die Pophistorie hinausgehenden Referenzen auf. Third Spaces Der Chorus des Songs hat die Relativität von Zeit zum Thema. Die Erforschung von unbekannten Sphären seit den 1950er Jahren, geprägt durch den sogenannten Wettlauf ins All zwischen den USA und der Sowjetunion, fand Einzug in die populäre Kultur. Nach der Mondlandung 1969 griffen Musiker/innen dieses Sujet in ihren Songs auf. Die Relativitätstheorie als Weltbild wurde bereits in den späten 1960er Jahren und den frühen 1970er Jahren in den Glam-Popsongs von David Bowie thematisiert und findet sich bei Fijuka wieder. Bildlich wird der dies in einer Weltraumstory verarbeitet, wie es auch in einigen Musikvideoclips von Bowie geschehen ist. Mit „Ca Ca Caravan“ erfolgt eine Erneuerung der konstitutiven Elemente der Pop/Rock-Kultur durch Rückgriffe auf die jüngere Vergangenheit. Ein „Third Space“ entsteht durch parodistische und ironisierende Elemente, die diesen Zusammenhang von Science-Fiction Genre und Popmusik dekonstruieren. Abbildung 28: Untertitel dokumentieren die diegetischen Dialoge.

Quelle: Musikvideoclip „Ca Ca Caravan“ 2’56’’.

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B Figurenanalyse  B1 Rolle: Welche Rolle nimmt der/die Interpret/in in der Szene ein? Wie definiert sich die Funktion / der Status des/der Künstlers/in im Rahmen des Auftritts? Einfache oder komplexe Figurenkonstruktion? Fijuka kreiert die Filmfiguren Caty Cosmos und Judy Jupiter für den Musikvideoclip „Ca Ca Caravan“. Mit dem Nachnamen sind bereits Referenzen zum Weltraum gegeben. Die Vornamen sind an die beiden Künstlernamen angeglichen. Im Videoclip erzählen die beiden nicht die Story des Songtextes, sondern sind Akteurinnen einer fiktiven weiteren Geschichte. Die beiden Frauen treten gemeinsam auf, die Präsenz im Musikvideoclip ist ausgeglichen. Die Story des Clips dreht sich um die Raumschiffbesatzung „Fijuka Space Patrol“. Die Band Fijuka verkörpert im Musikvideoclip nicht sich selbst, sondern zwei Heldinnen im Weltraum. Die Sängerinnen nehmen die Funktion von Schauspielerinnen (Filmfiguren in der Diegese) ein. Wenn die Akteurinnen den Mund während des Songs bewegen, dann sind es Dialoge, die gesprochen werden und für die Zusehenden als Untertitel zu sehen sind.  B2 Inszenierung: optische Inszenierung der Figur: Kostüm / Make Up / Frisur / figurbezogene Requisite etc. Das Outfit der beiden Sängerinnen referiert auf die popkulturelle WeltraumNostalgie der 1960er Jahre, denkt man zum Beispiel an Jane Fondas Inszenierung in „Barbarella“ (Roger Vadim/1968). Judy trägt ein lilafarbenes bauchfreies ärmelloses Top, das an den Schultern golden ist, dazu einen lilafarbenen Minirock, den eine goldene Borte ziert. An der Brust hat sie ein Abzeichen, das an das Symbol der Serie „Star Trek“ erinnert. Sie ist im Stil der 1960er Jahre geschminkt (Smokey Eyes), der Lippenstift hat den Ton der Haarfarbe. Judy trägt eine rötlich-brünette Perücke. Caty trägt einen lilafarbenen, ärmellosen Body, der an den Schultern golden ist. Auch sie hat ein Abzeichen, das an das Symbol der Serie „Star Trek“ erinnert, an der Brust. Caty trägt eine hellblonde Perücke, einen Pagenkopf mit schräg geschnittenen Stirnfransen. Ihr Make-Up beschränkt sich auf Smokey Eyes, die Lippen sind nicht farblich geschminkt. Beide Frauen tragen futuristische Laserpistolen, die sie auch einsetzen.

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Abbildung 29: Fijukas Inszenierung als Weltraumheldinnen mit optischen Rückgriffen auf die Populärkultur der 1960er Jahre.

Quelle: Musikvideoclip „Ca Ca Caravan“ 4’35’’.

 B3 Bewegung: Bewegungsrepertoire, Mimik / Gestik und wenn es sich um ein Lied handelt die Stimme / die Gesangslinie „Ca Ca Caravan“ ist ein Popsong, der im Musikvideoclip zu einem Kurzfilm erweitert wird. Der Gesang wird unterstützt von Synthesizer, Schlagzeug und Bass. Gesang und Mundbewegungen harmonieren im Musikvideoclip nicht miteinander.  B4 Geschlecht: Genderspezifische Darstellungen sowie Verkörperungen, Grad der Bedeutung / Dekonstruktion von Geschlecht „Fijuka Space Patrol“ entspricht optisch der Inszenierung von Frauen in ScienceFiction-Serien und -Filmen der 1960er Jahre. Beide Musikerinnen tragen sehr kurze, körperbetonte Kleidung und Perücken. Trotz der optischen Sexualisierung werden zwei Frauen inszeniert, die Weltraumabenteuer erleben und gegen fremde Kreaturen kämpfen. Dies war filmgeschichtlich in 1960er Jahren hauptsächlich Männern vorbehalten. Frauen waren zwar Teil des Teams, mussten jedoch häufig am Raumschiff bleiben und dieses betreuen. Sie durften keine Abenteuer außerhalb des geschützten Raums erleben. Im Musikvideoclip sind es die Männer, die beiden Gastmusiker auf Fijuks Album „Use my Soap“, die in der Kommandozentrale bleiben. Parodistische filmgeschichtliche Zitate und überzogene Mimik sind typisch für diesen Musikvideoclip.

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 B5 Zitate: Bezüge zu anderen Videoclips, Songs, Personen, kulturellen oder kulturgeschichtlichen Entitäten Im Musikvideoclip „Ca Ca Caravan“ wird eine Reihe von filmischen Zitaten und Bezügen zu Serien- und Filmklassikern der 1960er Jahre verarbeitet. Bereits der Prolog erinnert an eine Kampfszene aus der Serie „Star Trek“, die im Internet unter dem Namen „Worst Fight Scene Ever“8 kursiert. Im Cockpit der Raumkapsel bewegen sich die Protagonistinnen mit den angedeuteten Bewegungen des Raumschiffs mit. Die Mienen wirken versteinert, erinnern an Androiden aus Science-Fiction-Verfilmungen. Ein Bezug zur Technik der Science-Fiction-Filme der 60er Jahre wird hergestellt. Eine Raumstation auf dem Planeten mit Kommandozentrale erinnert in ihrer Form an den Todesstern der Filmreihe „Star Wars“, allerdings in der Farbe Weiß. Beide Frauen laufen in einer Rückblende zu einer runden Tür, die Ähnlichkeit mit Türen in Raumschiffen aus „Star Wars“ aufweist. Eine sich öffnende Lifttür zeigt die beiden Protagonistinnen langsam die Pistolen hebend ihre Rücken aneinander drehend. Diese Pose erinnert an Filmplakate der Reihe „James Bond“. Wie die Perserkatze, die das Oberhaupt der Terrororganisation „Spectre“ Ernst Stavro Blofeld am Arm trägt, hält Caty einen Hund im Arm und einen Cocktail in der anderen Hand.

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Vgl. Star Trek. „Worst Fight Scene Ever“. https://www.youtube.com/watch-?v=Z1eFd USnaQM. (Zugriff: Juni 2021).

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Abbildung 30: Filmisches Zitat aus „James Bond“ im Abspann.

Quelle: Musikvideoclip „Ca Ca Caravan “ 3’46’’.

 B6 „Die Uhr der Figur“ nach Jens Eder (Eder 2004): o B6a „Die Figur als Artefakt“ – Gestaltung, Inszenierung der Figur Katharina Winkelbauer alias „Ankathie Koi“ und Judith Walzer alias „Judith Filimónova“ verkörpern die Weltraum-Agentinnen „Caty Cosmos“ und „Judy Jupiter“. Fijuka inszeniert sich als Team. Zwei jungen Frauen befinden sich auf Weltraummission. Sie stehen im ständigen Dialog miteinander in Kontakt. Die Frauen kämpfen, verwenden Waffen, besiegen ein außerirdisches Wesen und lenken ein Raumschiff. o

B6b „Die Figur als fiktives Wesen“ – Körper, Persönlichkeit, Sozialität der Figur

Caty Cosmos und Judy Jupiter können nicht als Sängerinnen des Duos Fijuka identifiziert werden. Einzig der Name „Fijuka Space Patrol“ lässt einen diegetischen Bezug zu der Band zu. Die beiden Frauen sind meistens gleichzeitig im Bild, ihnen wird eine gleichberechtigte Funktion zugeschrieben. Kleidung und Styling entsprechen den Vorstellungen von Weltraumheldinnen in ScienceFiction-Serien der 1960er Jahre. Sie sind als Teil der erzählten Geschichte von

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narrativer Bedeutung. Die beiden Figuren sind keine Musikerinnen aus der Gegenwart, sondern Teil der Weltraum-Nostalgie. o

B6c „Die Figur als Symbol“ – indirekte Bedeutung, Symbolik/Metapher

Fijuka vertritt die Generation des musikalischen Nachwuchses der Wiener Pop/Rock/Elektronik-Szene. Obwohl Fijuka Teil einer neuen musikalischen Szene ist, verkörpern die beiden Frauen optisch das Klischee von Popsängerinnen. Die Musikerinnen tragen extravagante, meistens anliegende Kleidung. Ankathie Koi und Judith Filimónova verkörpern selbstwusste, erfolgreiche Musikerinnen, in der österreichischen Musikszene auch noch im 21. Jahrhundert unterrepräsentiert. Die im Musikvideoclip erzählte Geschichte können sie nicht beeinflussen, sie sind Teil der Diegese. Judith beschreibt die Funktion folgendermaßen „Unsere Charaktere in dieser Mission. Wir müssen einige Planeten retten.“9 Die beiden Musikerinnen bilden eine Projektionsfläche für die Nostalgie in Bezug auf Science-Fiction Serien der 1960er Jahre, verarbeitet in Klängen des 21. Jahrhunderts. o

B6d „Die Figur als Symptom“ – kommunikative Ursache/Wirkung, soziokultureller Kontext

Im Musikvideoclip zu „Ca Ca Caravan“ werden die beiden Musikerinnen zu Filmfiguren. Sie wechseln ihre Namen, tragen Science-Fiction-Kostüme und besteigen ein Raumschiff. „Wir haben lustige Kostüme an, so ein bisschen 60erJahre-Raumschiff-Nostalgie, Raumschiff-Orion-artig gehalten, sehr ironisch, extrem bunt. Es passiert extrem viel.“10 Der parodistische Umgang mit der Thematik bettet das Video in den Kontext der soziokulturellen Gegenwart ein. Als Weltraumagentinnen können die beiden Frauen frei agieren, unterstehen aber dennoch einem Kapitän/Vorgesetzen. Die Figurenkonstellation kann als Indiz für ein Aufbrechen von Geschlechterklischees gelesen werden, insofern können Bezüge zum feministischen Diskurs hergestellt werden.

9

Judith Filimonova in Schmidl, 2015, o.S.

10 Ankathie Koi in ebenda.

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C Bühne und Publikum Fijuka „Ca Ca Caravan“ Live Auftritt Wien Chelsea November 2013 https://www.youtube.com/watch?v=MHAL8JYXvTY  C1 Gesamtkonzept: Die Bühne wird als Gesamtkonzept betrachtet. Sind Musiker/innen sichtbar, gibt es Backgroundtänzer/innen, eine Choreographie, ein Bühnenbild, Requisiten? Zusätzlich zum Videoclip wurde eine Live-Performance von „Ca Ca Caravan „analysiert, um die Interaktion zwischen Bühne und Publikum untersuchen zu können. Fijuka tritt in folgender Besetzung auf: Gesang/Keyboard (Ankathie Koi), Schlagzeug (Ivo Thomann) und Bass/Backgroundvocals (Judith Filimónova). Es gibt keine Backgroundtänzer/innen, auch keine offensichtliche Choreografie. Ankathie Koi bewegt Arme und Körper zum Takt der Musik. Auch wenn sie das Keyboard betätigt ist der Körper in Bewegung, das Keyboard wird durch eine Art Tigerfell geschmückt. Demgegenüber wirkt Judith Filimónova als Bassistin eher statisch und unbeweglich (stabil und fokussiert). Die Inszenierung entspricht dem Genre Glam-Pop. Judith Filimonova trägt ein Minikleid, Ankathie Koi eine glitzernde Hose und ein schwarzes T-Shirt. Der Schlagzeuger Ivo Thomann ist schwarz gekleidet. Die Musikerinnen sind geschminkt, die Haare sind hochgesteckt und toupiert (JW) bzw. offen (AK).  C2 Technik: Die Technik – als Teil der Bühne – ist ein weiterer Aspekt: das audiovisuelle Konzept, der Ton, das Licht. Die Bühne ist während des Auftritts in rotes Licht getaucht. Das Publikum tanzt teilweise im Takt der Musik. Es gibt keine Aufforderung zum Mitsingen. Zu Beginn des Auftritts hört man einige Menschen sprechen, diese Geräusche verstummen beim ersten Refrain. Während der Performance ist das klirrende Geräusch einer umfallenden Flasche zu hören. Der Song klingt aus, das Publikum applaudiert und jubelt.

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Abbildung 31: Inszenierung des Bühnenraums.

Quelle: Live-Auftritt „Ca Ca Caravan“ 3’19’’.

 C3 Bühne / Publikum: Existiert Interaktion zwischen Bühne und Publikum? Welche Regeln und Konventionen gelten für das Publikum bezugnehmend auf das Stilfeld? Gibt es Bestuhlung, darf getanzt werden, herrscht Stille, darf gesprochen/mitgesungen werden? Das Publikum befindet sich in der Situation eines Popkonzerts. Es steht, es darf getanzt und mitgesungen werden. Die Musikerinnen bewegen sich auf der Bühne zum Takt der Musik, genau wie das sichtbare Publikum. Das Publikum wird weder zum Mitsingen noch zum Mittanzen animiert. Auf den Einsatz des Schlagzeugs antwortet das Publikum mit kurzen Jubelrufen. Die Band Fijuka steht während des Songs nicht in direktem Kontakt mit dem Publikum. Der Song ist zu Ende und das Publikum reagiert mit Applaus und Jubelrufen. D Zusammenfassende Interpretation  D1 Kulturen/Erfahrungswelten Das Musikvideo zu „Ca Ca Caravan“ ist an das Science-Fiction-Genre der 1960er Jahre angelehnt. Diese Weltraumnostalgie wird in Form eines GlamPopsongs verarbeitet, jedoch durch die subtile Machart des Videoclips dekonstruiert. Im Fokus der Story stehen zwei weibliche Figuren, die Selbstbewusstsein und Eigenständigkeit verkörpern, sich gleichzeitig hedonistisch positionieren.

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 D2 Musikstile „Ca Ca Caravan“ ist ein Popsong mit Elementen der elektronischen Musik und des Glam Rock.  D3 Performance Stil Fijuka verhält sich den Konventionen des Pop entsprechend. Die Kostüme im Musikvideoclip, die glitzernden Outfits bei der Live-Performance, das bewusste Styling in der öffentlichen Inszenierung bieten Identifikationsfläche für das Genre. Die Musikerinnen spielen ihre Instrumente selbst, während der Performance werden sie von einem Schlagzeuger begleitet. Im Genre Pop finden Gesang/Backgroundgesang und das Spielen von Instrumenten häufig getrennt voneinander statt. Abbildung 32: Die Musikerinnen agieren als Instrumentalistinnen und Sängerinnen auf der Bühne.

Quelle: Live-Auftritt „Ca Ca Caravan“ 1’04’’.

 D4 WAS konstituiert der Interpret/ die Interpretin in seiner/ ihrer Performance kulturell? In dem Musikvideoclip „Ca Ca Caravan“ findet die Dekonstruktion von Machart und Inhalt des Science Fiction Genres der 1960er Jahre statt. Beiden Musikerinnen agieren als Filmfiguren. Sie wechseln ihre Namen, tragen Science-

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Fiction-Kostüme und besteigen ein Raumschiff. Sie werden zu einem Teil einer Story.  D5 WIE macht sie / er das (in Bezug auf die Konventionen des Stilfeldes)? Der Song „Ca Ca Caravan“ beschäftigt sich mit der Flucht aus dem Alltag. Ankathie Koi beschreibt den Song und seine Entstehung mit den Worten: „Im Text geht es schon darum, dass ein Mann mit einem UFO abhaut. Das waren Bilder, die ich schon beim Schreiben des Textes im Kopf hatte. Dass es im Endeffekt so aussieht, hätte ich mir trotzdem nicht gedacht.“11 Der Musikvideoclip ist eine Parodie in Form eines Kurzfilms mit Prolog, Song und Abspann. Die Protagonistinnen sind Teil einer Raumschiff-Besatzung. Die gewollt dilettantische Inszenierung aller Kulissen und „special effects“ wird ungeschminkt kenntlich gemacht. Im Musikvideo wird eine Vielzahl von visuellen und musikalischen Zitaten verhandelt.  D6 Wie und in welcher Form finden Übersetzungen (Translationen) statt? Die Reflexion aktueller Lebenswelten – ein Traum von einer Flucht mit einem Raumschiff und sich daran anschließende Gedanken über Raum und Zeit – werden in die Stilmittel des Genres Glam Pop übersetzt. Das Video zu „Ca Ca Caravan“ transformiert den Song in einen eigenständigen Kurzfilm. Die Regisseurinnen des Films erzählen nun die Geschichte zweier Personen, die Weltraumabenteuer erleben. Dabei werden mediengeschichtliche Zitate parodistisch verarbeitet. Das „lyrische Ich“ hat sich offenbar im Lauf des kreativen Prozesses verändert: Ankathie Koi verweist darauf, dass sie beim Schreiben des Songs an einen Mann dachte, das Geschlecht bleibt jedoch im Songtext unbestimmt und die Hauptfiguren werden im Video von Frauen dargestellt.  D7 Ergebnisse der Analyse des Aufführungsrituals Konstitutive Elemente der Pop/Rock-Kultur werden durch Rückgriffe auf die jüngere Vergangenheit (Verwendung des Weltraumsujets und von Glam-PopElementen im Stil von David Bowie, Ankathie Kois Stimmlage erinnert an Kate Bush, die Bedeutung des Bandnamens als Mysterium) revitalisiert. Das Auffüh-

11 Khom 2005, o.S..

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rungsritual entspricht den Erwartungen an ein Rock-/Popkonzert (tanzendes Publikum beim Live-Auftritte, es darf Alkohol getrunken werden). Die Musikerinnen durchbrechen die starre Trennung von Gesang und Instrumenten im Popsong. In der öffentlichen Inszenierung bietet Fijuka Identifikationsfläche für die weibliche diy-Mentalität im Genre der neuen Wien Rock/Pop-Welle.

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2A) ELECTRIC INDIGO: „DJ @ TAICO ‘15“ A Analyse des audiovisuellen Produkts  A1 Faktische Ebene: Titel des Musikstücks / Datum der Aufführung bzw. der Veröffentlichung des Musikvideos Der Auftritt von Electric Indigo bei dem japanischen Elektro-Dance-Festival Taico Club 2015 fand am 31.5.201512 statt. Die Aufnahme des DJ Sets wurde am 14.7.2015 auf youtube veröffentlicht, der Clip dauert 5’58’’.  A2 Personelle Ebene: Name des/r Interpret/in, oder der Gruppe der Interpret/innen sowie deren Geschlecht, Alter, Herkunft und kultureller Hintergrund; Verhältnis Autor/innen zu Interpret/innen Susanne Kirchmayr (*1965) arbeitet als Techno-DJ und Musikproduzentin unter dem Künstlernamen Electric Indigo. Der Künstlername setzt sich aus der Farbe Indigo und Kirchmayrs Affinität zu elektronischer Musik zusammen. Electric Indigo startete ihre Karriere im Jahr 1989 in Wien als Jazz- und Funk-DJ, wechselte stilistisch zu Detroit Techno und Chicago House. Von 1993 bis 1996 war sie in Berlin für den Vertrieb des Plattenlabels Hard Wax verantwortlich.13 Electric Indigo stellt ihre DJ-Sets selbst zusammen. Im Jahr 1998 rief Kirchmayr eine internationale Plattform für weibliche DJs, Produzentinnen und Künstlerinnen im Bereich der elektronischen Musik namens female:pressure ins Leben. Die webbasierte Datenbank wurde zur Förderung der gegenseitigen Unterstützung und Kommunikation, sowie als Informationsquelle über Künstlerinnen eingerichtet.  A3 Musikalische Ebene: Das Musikstück, seine Form und Besetzung, Noten, Umgang mit Genrekonventionen: Bestätigung / Überschreitung (Crossover) Bei dem untersuchten Material handelt es sich um den Ausschnitt eines DJ Sets von Electric Indigo. Der Track ist dem Genre Techno zuzuordnen. Die DJ befindet sich an den Turntables, arbeitet mit Platten und dem Mischpult. Sie vermei-

12 Taicoclub. Timetable 2015, o.S. 13 Vgl. Website der Künstlerin Electric Indigo

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det im analysierten Ausschnitt brachiale Sounds und Lautstärken und bringt eher feingliedrig-verspielte Tanzgrooves und -patterns.  A5 Räumliche Ebene: Schauplatz des Auftritts, die Situation in der dieser stattfindet (Live-Auftritt / Musikvideoclip) Der Auftritt findet open air im Rahmen des japanischen Elektro-Dance-Festival Taico Club statt. Electric Indigo performt auf einer Bühne, das Equipment befindet sich auf einem Pult vor ihr. Vor der Bühne tanzt das Publikum im Freien.  A6 Performative Ebene: Analyse der Filmsequenz: Figuren, Bewegungsabläufe (statisch / dynamisch), Kameraeinstellungen, Beleuchtung, ästhetische Aspekte, u.a. Die Kamera dokumentiert in verschiedenen Einstellungsgrößen (extreme long shot, long shot, medium long shot, medium shot, medium close-up) den Auftritt des weiblichen DJs und die Reaktionen des Publikums darauf. Der Beginn des Clips zeigt Electric Indigo in einem extreme long shot auf der Bühne, ein Schnitt fokussiert die DJ und zeigt ihren Rücken beim Bedienen des DJ-Pults in einem medium shot, ihre Hände bei der Arbeit in einem medium close-up. Ein Schnitt folgt auf das Publikum, wechselt zu den Händen der DJ und wieder auf das Publikum in einem medium shot. Immer wieder sind einzelne Individuen beim Tanzen zu sehen. Die Aufnahme versucht die Gesamtstimmung des Festivals einzufangen. Bei Minute 1’23’’ schwenkt die Kamera aus dem Geschehen an den Rand des Publikumsbereichs. Auf einem Gerüst sitzt eine Frau. Sie beobachtet das Geschehen und hält einen Fotoapparat in der Hand. Der Schnitt wechselt in die tanzende Menge. Im Video ist leichter Regen erkennbar, einige Besucher/innen tragen Wind-/Regenjacken. Bei Minute 1’52’’ ist ein medium close-up auf den wippenden Schuh eines Festivalbesuchers zu sehen. Wiederkehrende Schnitte zwischen Electric Indigo und dem Publikum zeigen die Aktion der DJ und die Reaktion der Festivalbesucher/innen. Bei Minute 2’44’’ betritt ein Mann die Bühne, dieser filmt das Publikum mit seinem Mobiltelefon. Gleichzeitig verstärkt die DJ den Beat und hebt die Arme, um dies auch visuell zu verdeutlichen. Man hört vereinzeltes Jubeln. Die Menschen beginnen ihre Tanzbewegungen zu beschleunigen, auch die Arme kommen vermehrt zum Einsatz. Der Mann verschwindet mit einem Schnitt von der Bühne, das Publikum tanzt ausgelassen weiter. Bei Minute 3’17’’ sind Seifenblasen im Publikumsraum zu sehen.

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Ab Minuten 3’24’’ liegt der Fokus vermehrt auf der DJ. Electric Indigo wird in einem long shot gefilmt. Sie ist mit dem DJ Pult beschäftigt, das Publikum tanzt ausgelassen. Die Kamera filmt vom Bühnenraum in das Publikum, ein Schnitt wechselt in den Bühnenraum, und wieder auf die DJ (alle Einstellungen im medium close-up). Während die DJ das Pult und den Plattenspieler bedient, wippt ihr Kopf im Takt zur Musik. Bei Minute 4’00’’ wendet sich die Kamera wieder den Tanzenden zu. Die sich bewegende Menge soll gleichzeitig mit tanzenden Individuen eingefangen werden. Die Kamera nähert sich der DJ und dokumentiert deren Auftritt (CD-Wechsel bei 4’30’’). Die letzte Minute des Videos zeigt abwechselnd long shots auf das Publikum und medium close-ups auf die DJ. Ausgelassener Tanz zum Beat ist nur noch bei wenigen Besucher/innen zu sehen, die meisten wippen – wie die DJ – ruhig mit dem Oberkörper zum Beat des Tracks.  A7 Narrative Ebene: Plot des Videoclips wird kurz zusammengefasst bzw. nacherzählt, Zusammenwirken von Musik, Text und Bild Bei der Aufnahme handelt es sich um einen Auftritt bei einem elektronischen Musikfestival. Das Publikum tanzt zu den Beats, die die DJ erzeugt. Die Interaktion mit dem Publikum erfolgt über die Musik, die DJ vermeidet in ihrer Inszenierung über die Arbeit als DJ hinausgehende Showelemente.  A8 Kulturelle Ebene: Stilfelderbezug, Verhältnis von Text-, Bild- und Musikebene (Homologien), entstehen „Zwischenräume“ (Third Spaces)? Homologie Electric Indigos Auftritt beim Elektro-Dance-Festival Taico Club 2015 wird von einer Kamera dokumentiert. Die DJ steht im Fokus der Aufnahme, die Kamera fängt gelegentlich die Reaktion des Publikums ein. Die Künstlerin steht auf einer Bühne, hebt sich somit vom Publikum ab. Die Zuseher/innen tanzen zu den Klängen, die die DJ produziert. Während Electric Indigos Auftritt betritt ein Mann die Bühne, der mit seinem Smartphone das Publikum filmt. Die Menschen im Publikum heben die Arme und tanzen animiert weiter. Die kurze visuelle Abweichung vom eigentlichen Geschehen auf der Bühne (die DJ und ihre Geräte befinden sich alleine auf der Bühne), die offensichtliche Tatsache, dass auch das Publikum dokumentiert wird, führt zu einer Steigerung der Publikumsmotivation. Zwischen der Musik und der filmischen Dokumentation gibt es bruchlose Übereinstimmung, 100-prozentige Homologie. Auch filmische Aufzeichnungen

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seitens des Publikums sind im Stilfeld übliche Bestandteile des Aufführungsrituals. Verbale Zeichen kommen nicht vor. Third Space Electric Indigo verkörpert eine gegenkulturelle Bewegung, eine spezielle Position innerhalb einer internationale Partyszene, die sich in den 1990er Jahren weltweit verbreitet hat. Diese Clubszene kann selbst als „Third Space“ bezeichnet werden, da sie von den Akteur/innen als Raum zur kollektiven Verarbeitung gesellschaftlicher Defizite gesehen wird. B Figurenanalyse  B1 Rolle: Welche Rolle nimmt der/die Interpret/in in der Szene ein? Wie definiert sich die Funktion / der Status des/der Künstlers/in im Rahmen des Auftritts? Einfache oder komplexe Figurenkonstruktion? Electric Indigo steht auf einer Bühne, vor ihr befindet sich das Equipment. Dies entspricht dem Auftrittsschema eines/r DJ/s. Auf Grund ihrer Positionierung auf der Bühne lenkt sie das Geschehen. Die Musik wird von der DJ erzeugt, sie kann die Tanzgeschwindigkeit des Publikums beeinflussen.

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Abbildung 33: Electric Indigo bei ihrer Performance.

Quelle: Live-Auftritt Taico Club 2015 3’41’’.

 B2 Inszenierung: optische Inszenierung der Figur: Kostüm / Make Up / Frisur / figurbezogene Requisite etc. Die DJ ist schwarz gekleidet, trägt schwarze Kopfhörer. Einzig ihr rotes Festivalband am Handgelenk hebt sich von der schwarzen Bühne ab. Die Haare sind zu einem Zopf gebunden, Electric Indigo hat einen Sidecut (Haare an einer Seite rasiert). Sie trägt Kopfhörer. Diese sind Erkennungsmerkmal der DJ und Teil des Equipments.  B3 Bewegung: Bewegungsrepertoire, Mimik / Gestik und wenn es sich um ein Lied handelt die Stimme / die Gesangslinie Electric Indigo bewegt den Oberkörper zum Takt der Musik. Ab und zu schaut sie ins Publikum und lächelt als Reaktion auf das tanzende Publikum. Das von erfolgreichen Techno-Star DJs bekannte Heben der Hände zur Animation des Publikums setzt die DJ nur einmal ein.  B4 Geschlecht: Genderspezifische Darstellungen sowie Verkörperungen, Grad der Bedeutung / Dekonstruktion von Geschlecht Seit den Ursprüngen der elektronischen Tanzmusik (EDM) versteht sich die Szene als egalitär. Trotzdem herrschte lange Zeit ein deutliches Ungleichgewicht zwischen männlichen und weiblichen DJs. Im analysierten Clip wird die Bühne

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wird zu einem Ort der Dekonstruktion geschlechtlicher Identitäten: Electric Indigos Performance weist keine genderspezifischen Merkmale auf. Unauffällige schwarze Kleidung, kein erkennbares Make Up, Fokussierung auf das Equipment und die Musik.  B5 Zitate: Bezüge zu anderen Videoclips, Songs, Personen, kulturellen oder kulturgeschichtlichen Entitäten Die Aufnahme des Auftritts dokumentiert die Publikumsanimation der DJ. Es wird keine Story erzählt, es sind keine spezifischen Verweise auf andere Auftritte, Personen oder Performances zu erkennen. Der Ausschnitt des DJ-Sets entspricht den Kriterien eines elektronischen DJ-Sets.  B6 „Die Uhr der Figur“ nach Jens Eder (Eder 2004):

o

B6a „Die Figur als Artefakt“ – Gestaltung, Inszenierung der Figur

Susanne Kirchmayr inszeniert sich unter dem Künstlernamen Electric Indigo als DJ in der Techno-Szene. Ihre Bewegungen entsprechen dem Beat der Musik. Die Bühne und das Equipment definieren sie als DJ. Anhand der Positionierung der Kopfhörer und der Hände an den Turntables ist sie als Erzeugerin der Musik erkennbar. o

B6b „Die Figur als fiktives Wesen“ – Körper, Persönlichkeit, Sozialität der Figur

In der Aufzeichnung des DJ-Sets liegt der Fokus auf der DJ Electric Indigo. Sie ist dunkel und unauffällig gekleidet, somit kann die Musik bewusst in den Vordergrund treten. Das Publikum ist zu ihr gewandt, zeigt der DJ mit den Tanzbewegungen, dass es an der Musik Gefallen findet. Electric Indigos Positionierung auf der Bühne definiert sie gegenüber dem Publikum als höhergestellt. Sie inszeniert sich nicht als fiktives Wesen. o

B6c „Die Figur als Symbol“ – indirekte Bedeutung, Symbolik/Metapher

Electric Indigo ist als Urheberin der Musik erkennbar. Sie steht als Vertreterin für den Bereich elektronische Musik auf der Bühne. Die Kriterien an den Auftritt einer Künstlerin aus dem Bereich Techno werden erfüllt. Das Publikum steht zu

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ihr gedreht, agiert nach dem Call-Response-Prinzip. Electric Indigo erhält durch die Bewegungen des Publikums Reaktionen auf ihre Aktionen. o

B6d „Die Figur als Symptom“ – kommunikative Ursache/Wirkung, soziokultureller Kontext

Electric Indigo hat sich als erfolgreiche, österreichische DJ weltweit etabliert. Der Auftritt und die Reaktion des Publikums bei einem japanischen Musikfestival unterstützen Electric Indigos Position in der Musikszene. Als Figur ist sie Protagonistin einer globalisierten Partykultur in der sie feministische Anliegen vertritt, verkörpert also sowohl Aspekte der Globalisierung als auch des Feminismus. C Bühne und Publikum  C1 Gesamtkonzept: Die Bühne wird als Gesamtkonzept betrachtet. Sind Musiker/innen sichtbar, gibt es Backgroundtänzer/innen, eine Choreografie, ein Bühnenbild, Requisiten? Die Bühne ist komplett in schwarz gehalten, entspricht auch Electric Indigos Outfit. Es sind dem Genre entsprechend nur die DJ und ihr Equipment auf der Bühne zu sehen. Einzig die roten Boxen heben sich vom schwarzen Gesamtkonzept ab. Zu den Requisiten zählen die Kopfhörer der DJ, ihre Turntables, Plattenspieler und CD-Spieler. Eine Choreografie gibt es nicht, die DJ bewegt den Oberkörper im Beat der Musik. Diese Bewegungen machen mehr den Anschein eines natürlichen Affekts als einer einstudierten Choreografie.  C2 Technik: Die Technik – als Teil der Bühne – ist ein weiterer Aspekt: das audiovisuelle Konzept, der Ton, das Licht. Der Auftritt beim Festival findet im Open-Air-Rahmen bei Tageslicht statt. Es gibt keine gesonderte Beleuchtung, keine zusätzlich erstellen Visuals. Der Ton wird durch Lautsprecher verstärkt.  C3 Bühne / Publikum: Existiert Interaktion zwischen Bühne und Publikum? Welche Regeln und Konventionen gelten für das Publikum bezugnehmend auf das Stilfeld? Gibt es Bestuhlung, darf getanzt werden, herrscht Stille, darf gesprochen/mitgesungen werden?

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Das Publikum reagiert auf den Beat, den die DJ erzeugt. Es tanzt dem Beat entsprechend schneller bzw. langsamer. Als ein Mann die Bühne betritt, der die Publikumsreaktion aufzeichnen möchte, animiert er das Publikum zusätzlich die Arme zu heben und das Tempo des Tanzes zu beschleunigen. Dies geschieht durch den Einsatz eines Smartphones, mit dem gefilmt wird. Dem Publikum wird auf der unbestuhlten Wiese vor der Bühne Raum zur Bewegung gegeben. Der Rahmen des Auftritts ist unkonventionell, bietet der DJ und ihrem Publikum gleichermaßen Freiheit in der Selbstinszenierung. D Zusammenfassende Interpretation  D1 Kulturen/Erfahrungswelten Electric Indigo verkörpert eine erfolgreiche DJ aus dem deutschsprachigen Raum bei einem internationalen Festival in Japan, versteht sich als Figur einer globalen Partykultur.  D2 Musikstile Der analysierte Ausschnitt des Tracks entspricht den Konventionen des elektronischen Musikgenres Techno.  D3 Performance Stil Die Kopfhörer und die Positionierung an den Turntables weisen Electric Indigo als DJ aus. Sie bedient ihr Equipment konzentriert. In ihrer Bewegung ist die DJ ruhig, wippt den Oberkörper zum Beat der Musik. Im Gegensatz zu manchen Star-DJs hebt Electric Indigo nicht die Hände zur Publikumsanimation, vollführt keine übertriebenen Gesten, wie z.B. das Victory-Zeichen, das unter anderem von DJs aus Großraumdiscos bekannt ist.  D4 WAS konstituiert der Interpret/ die Interpretin in seiner/ ihrer Performance kulturell? Electric Indigo hat sich als Techno-DJ, Musikproduzentin und Förderin von Frauen in der (elektronischen) Musik etabliert. Sie repräsentiert das Bild einer erfolgreichen Frau in der elektronischen Musikszene und wird diesbezüglich von nachfolgenden Generationen als Role-Model gesehen. Das entspricht auch ihrer Inszenierung beim japanischen Elektro-Dance-Festival Taico Club.

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 D5 WIE macht sie/er das (in Bezug auf die Konventionen des Stilfeldes)? Die optische Inszenierung von Electric lässt die Musik in den Vordergrund rücken, die Person, die diese erzeugt, steht im Hintergrund. Die Inszenierung eines Personenkults wird vermieden. Der Sound ist minimalistisch-leicht-angenehm. Im analysierten Ausschnitt dominiert konstanter Beat, die DJ vermeidet brachiale Sounds und Lautstärken. Abbildung 34: Optische Inszenierung auf der Bühne.

Quelle: Live-Auftritt Taico Club 2015 1’06’’.

 D6 Wie und in welcher Form finden Übersetzungen (Translationen) statt? Die Künstlerin kreierte aus den Ingredienzien von Chicago House und Detroit Techno einen eigenen Stil, den sie international weitervermittelt. Sie bietet als feministische DJ Identifiktionsfläche in einer männerdominierten Musikkultur.  D7 Ergebnisse der Analyse des Aufführungsrituals Das Musikvideo zeigt eine enge Interaktion zwischen DJ und Crowd, die ohne sonstige Showelemente auskommt. Der lockere Minimalismus der Musik findet seine Entsprechung in der Gesamtinszenierung des Festivalauftritts. Das Aufführungsritual dient der Publikumsanimation, dem Tanzen in einer elektronisch geprägten Welt.

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2B) NAZAR: „ZWISCHEN ZEIT UND RAUM“ A Analyse des audiovisuellen Produkts  A1 Faktische Ebene: Titel des Musikstücks / Datum der Aufführung bzw. der Veröffentlichung des Musikvideos „Zwischen Zeit & Raum“ ist ein posthumes Duett von Nazar und Falco, der zugehörige Musikvideoclip wurde am 15. August 2014 veröffentlicht. Der Track ist die erste Single-Auskopplung des am 22. August 2014 erschienen Album „Camouflage“ des Rappers Nazar. Falcos Samples sind dem Song „Die Königin von Eschnapur“ entnommen. Dieser wurde auf dem postumen Falco-Album „Verdammt wir leben noch“ im Jahr 1999 erstmals veröffentlicht.  A2 Personelle Ebene: Name des/r Interpret/in, oder der Gruppe der Interpret/innen sowie deren Geschlecht, Alter, Herkunft und kultureller Hintergrund; Verhältnis Autor/innen zu Interpret/innen Nazar wurde als Ardalan Afshar am 20. September 1984 in Teheran geboren, seine Jugend verbrachte er in Favoriten, dem 10. Wiener Gemeindebezirk. Der Rapper ist iranischer und türkisch-afscharischer Abstammung. Nach einem Auftritt in Deutschland im Jahr 2006 wurde er vom Label Assphalt Muzik unter Vertrag genommen, im Jahr 2008 erschien Nazars erstes Studioalbum „Kinder des Himmels“.  A3 Musikalische Ebene: Das Musikstück, seine Form und Besetzung, Noten, Umgang mit Genrekonventionen: Bestätigung / Überschreitung (Crossover) Die musikalische Vorlage für „Zwischen Zeit & Raum“ bildet Falcos Song „Die Königin von Eschnapur“ (1995). Der Songtext wurde von Falco geschrieben, die Musik entstand in Zusammenarbeit von Falco mit Thomas Lang und Thomas Rabitsch. Die Beats für „Zwischen Zeit & Raum“ stammen von den Berliner Musikproduzenten Djorkaeff & Beatzarre. Die Strophen wurden in ihrem Reimschema beibehalten, jedoch von Nazar neu getextet. Rap- und Gesangsteile stammen stellenweise von Falcos „Die Königin von Eschnapur“ und werden von Nazar vokal ergänzt. Die instrumentale Hook am Beginn und die Rap-Parts im Refrain unterscheiden „Die Königin von Eschnapur“ von „Zwischen Zeit &

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Raum“. In Nazars Version werden arabeske Streichermelodien eingespielt, Orientalismus als Stilmittel kommt zum Einsatz.  A4 Literarische Ebene: Titel / Lyrics, Analyse des Songtexts / des Librettos (Bedeutungsmöglichkeiten) Lyrics „Zwischen Zeit & Raum“14 (Musik: Djorkaeff & Beatzarre, Falco, Thomas Lang, Thomas Rabitsch / Text: Falco, Nazar) [Verse 1 – Nazar] Ich bin der lebenslang gewählte Prinz der Good Life Crew Vom süßen Leben steht mir mehr als nur ein Bruchteil zu Es gibt nur wenige, die machen, der Rest sieht zu Und treten aus dem Schatten unsres schlechten Rufs Auf der Suche nach dem Glück, Geld, Sex und Ruhm Vergessen morgens wieder was wir in den Nächten tun Haben ne Schwäche für alles was schimmert und glänzt Greifen zu, auch wenn wir uns daran die Finger verbrenn’ [Prechorus – Falco] Denn wir Männer sind dieselben Und ihr Frauen, Frauen, Frauen Ihr seid es auch, nur unsere Zeichen Die sind verändert, und eure Titel sind es auch Zum Beispiel deiner, für mich bist Du [Chorus – Falco – (Nazar)] Du bist die Königin von Eschnapur Und du trägst zumeist nur die Armbanduhr (Zwischen Zeit und Raum) yeah, yeah (Gefangen zwischen Weiß und Grau) yeah, yeah Du bist die Kaiserin von Kasachstan Du behältst zumeist nur die Krone an (Zwischen Zeit und Raum) yeah, yeah

14 Nazar, Falco. Lyrics „Zwischen Zeit & Raum“. http://genius.com/Nazar- zwischenzeit-und-raum-lyrics (Zugriff: Juni 2021).

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(Teilen wir den gleichen Traum) [Verse 2 – Falco] So, ich bin der lebenslang gewählte Präsident Im Club der Söhne edler Sänger Wir haben unsre Ideale Doch vorwiegend hatten wir das Spiel Die Weiber und den Gin Wir fliegen hin und wir fliegen her Wir haben wirklich regen Flugverkehr Und wer sich morgen noch daran erinnert Der war nie dabei, nur wir sagens nimmer laut Doch es ist wirklich nichts vorbei [Prechorus – Nazar] Denn wir Männer sind dieselben wie ihr Frauen Unsere Zeichen sind verändert, unsre Welten sind es auch Doch wenn wir uns dann traun, verschmelzen wir im Rausch Werden dann zu Helden und erhellen jeden Raum Haben denselben Traum doch verschiedene Titel Schau mir in die Augen und du siehst in den Spiegel Und dass wir uns verlieren, lasse ich nicht zu Ich halte an dir fest, denn für mich bist du [Chorus – Falco – (Nazar)] Du bist die Königin von Eschnapur Und du trägst zumeist nur die Armbanduhr (Zwischen Zeit und Raum) yeah, yeah (Gefangen zwischen Weiß und Grau) yeah, yeah Du bist die Kaiserin von Kasachstan Du behältst zumeist nur die Krone an (Zwischen Zeit und Raum) yeah, yeah (Teilen wir den gleichen Traum) Uu-uh, was überbleibt, ist original – al – al Uu-uh, was von uns überbleibt, ist alles original – al – al

Nazar bezeichnet sich als lebenslang gewählter „Prinz der Good Life Crew“. Dies ist auch der Titel eines Songs auf Nazars Album „Fakker Lifestyle“ (2013). Bereits die erste Textzeile des Songs verweist auf Nazars Werk und seinen Le-

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bensstil. Er genießt das Leben mehr als andere. Der schlechte Ruf der Spaßgesellschaft wird thematisiert. Der Drang nach Geld, Sex, Ruhm und Nächte, an die man sich nicht mehr erinnern möchte, wird dezidiert angesprochen. Gleichzeitig verweist Nazar metaphorisch auch auf die negativen Folgen: „.. Greifen zu, auch wenn wir uns daran die Finger verbrenn’“. Der Chorus stammt aus Falcos Song „Die Königin von Eschnapur“. Der Text stellt Männer und Frauen auf eine Ebene, unterstellt somit Egalität. Falco bezeichnet die besungene Frau als „Königin von Eschnapur“, sie wird im Laufe des Refrains zur „Kaiserin von Kasachstan“. Gegenstände wie eine Armbanduhr oder eine Krone zeichnen die besungene Frau aus. Die Nennung der getragenen Symbole verweist gleichzeitig auf eine intime Beziehung zwischen dem Erzähler (Falco) und der besungenen Person, denn sie trägt diese Gegenstände „zu meist nur“. Der Refrain erhebt die besungene Frau zu einer gleichwertigen Person „Zwischen Zeit und Raum. Teilen wir den gleichen Traum“. Die zweite Strophe wird von Falco gerappt. Dieser erhebt sich zum „lebenslang gewählte(n) Präsident im Club der Söhne edler Sänger“. Gleichzeitig diffamiert er diese Position, da er hauptsächlich Frauen, Alkohol und den Jetset begehrt. Der Eskapismus wird durch den Wunsch sich an bestimmte Ereignisse nicht mehr erinnern zu können unterstützt. Die Wiederholung des Chorus führt den geschlechtlichen Egalitätsgedanken weiter aus. Zuvor wird auf die unterschiedlichen männlichen und weiblichen Lebenswelten verwiesen, die erst durch Mut im Rausch verschmelzen. Die Textzeile „Schau mir in die Augen und du siehst in den Spiegel“ referiert auf die beschriebene Egalität. Der Verweis „was von uns überbleibt, ist alles original“ verweist in der Textebene auf die Funktion des Künstlers Falco in dem Song, dessen Originalsamples verwendet wurden.  A5 Räumliche Ebene: Schauplatz des Auftritts, die Situation in der dieser stattfindet (Live-Auftritt / Musikvideoclip) Der Musikvideoclip wurde in einem Studio gedreht. Er besteht aus der Montage verschiedener Sequenzen, die entweder den Rapper Nazar fokussieren oder Bezug zu Falcos Musikvideoclips und Auftritten aufweisen.  A6 Performative Ebene: Analyse der Filmsequenz: Figuren, Bewegungsabläufe (statisch / dynamisch), Kameraeinstellungen, Beleuchtung, ästhetische Aspekte, u.a.

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Der Musikvideoclip beginnt mit einer Montage, die verschiedene Frauen kostümiert und geschminkt zeigt. Die akustische Begleitung erfolgt durch arabeske Streichermelodien. Bei Minute 0’05’’ erscheint die Spiegelung einer Frau (Figur A) in Zwangsjacke sitzend (long shot) mit der Einblendung „NAZAR FILMS“. Direkt darauf ist eine weibliche Figur in Falcos typischem Outfit mit Frisur und Sonnenbrille zu sehen, die vor einer Leinwand, auf die ein Auftritt Falcos projiziert wird, steht. Das Wort „Go“ wird wiederholt, der Beat setzt ein. Falcos „Hehe“ ertönt, gleichzeitig werden verschiedene Sequenzen, die verschiedene Frauen zeigen, zu einer Sequenz zusammengesetzt. Darüber ist das Konterfeit Falcos bzw. Falcos Silhouette beim Singen mit dem Mikrofon gelegt. Während einer Pause des Tanzbeats wechselt der Schnitt zu Nazar, zu einer tanzenden Frau (Figur B), dann wieder zu Nazar. Dieser sitzt auf einem Sofa, neben ihm liegt Figur B (medium close up). Während Nazar rappt, wird das Prinzip der Montage fortgesetzt. Der Rapper ist in verschiedenen Kameraeinstellungen, an verschiedenen Orten, in verschiedenen Outfits zu sehen. So ist er in mehreren Sequenzen von hängenden Leuchtröhren umgeben. Das Bild wird gespiegelt, die Kamera fokussiert Frauenbeine, der Schnitt wechselt zu der Rückenansicht einer anonymen, nackten Frau. Der Rap wird von einer arabesken Streichermelodie untermalt. Textliche Metaphern werden verbildlicht, zum Beispiel bei der Textzeile „Haben ne Schwäche für alles was schimmert und glänzt“ (Figur A stark geschminkt im Bild) oder bei „Greifen zu, auch wenn wir uns daran die Finger verbrenn’“ (Nazar berührt eine Leuchtröhre). Falcos Gesangsteil setzt bei 0’41’’ ein. Figur A ist im Anzug mit Sonnenbrille und stark rosa geschminkten Lippen im Bild (head and shoulder close-up). Dazu ertönt Falcos Stimme mit „Denn wir Männer...“. Es folgt ein Schnitt auf Figur B (head and shoulder close-up), die einen Body trägt. Sie singt mit. Ein Schnitt fokussiert die tanzende Frau, die nun in einem medium close-up zu sehen ist. Die Montage wechselt zu Figur A, dann wieder zurück zu Figur B. Die Frau trägt nun eine rote Uniform, die an jene, die Falco bei Auftritten in den frühen 1980er Jahren getragen hat, erinnert. Das Bild wechselt wieder zu Figur B, die einen Body trägt und tanzt. Während der Textzeile „Nur unser Zeichen“ ist Figur A in einer Zwangsjacke zu sehen, das Bild (medium long shot) wird gespiegelt. Die Montage zeigt das Bild von Figur A in Anzug mit Sonnenbrille, sie singt mit, in der nächsten Einstellung wird nur der Kopf vierfach gespiegelt. Eine dritte weibliche Figur (Figur C) tritt auf. Sie trägt ein sportliches Outfit. In der folgenden Montage sind Figur A und Figur B in verschiedenen Outfits tanzend oder singend zu sehen, es erfolgt eine Einblendung von Falcos Silhouette. Bei 01’01’’ beginnt der von Falco gesungene Refrain. Tanzende Frauen ersetzen den verstorbenen Falco. Bei Nazars Rap der Worte „Zwischen Zeit und

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Raum“ sitzt der Rapper wieder auf dem Sofa, neben ihm sitzt Figur B. Falcos Stimme ist mit „Yeah, Yeah“ zu hören, zu sehen ist Figur B in einer Zwangsjacke. Während der Fortführung des Refrains sind wiederholt Figur A, Figur B und Figur C in kurzen Einstellungen zu sehen, sie tanzen und/oder singen. Bei der Textzeile „Zwischen Zeit und Raum. Teilen wir den gleichen Traum“ ist Nazar vor einer Wand zu sehen, die genau wie der Fußboden mit geometrischer Tapete tapeziert ist. Die nächste Strophe wird mit einer Montage von Spiegelungen eingeleitet. Figur B im Body ist bei der Textzeile „So, ich bin der lebenslang gewählte Präsident“ zu sehen, bei den Worten „Im Club der Söhne edler Sänger“ liegt wird Falcos Silhouette (dargestellt von einem nicht beleuchteten männlichen Schauspieler) eingeblendet. Die Hand bewegt sich langsam den Kopf hinunter. Die Einstellung wechselt zu Figur B und wieder zurück zu der Silhouette Falcos, im Hintergrund Figur B in roter Uniform und Figur C in bauchfreier schwarzer Uniform zu sehen (long shot). In der weiteren Montage ist die geschminkte Figur A, Figur C in Uniform, Figur B im Body und immer wieder die Silhouette Falcos und ihr Schatten in Überblendungen zu sehen. Die Re-Konstruktion Falcos geschieht durch leichtbekleidete Frauen und die Silhouette des Sängers, die von einem männlichen Schauspieler dargstellt wird. Auch Nazar ist in längeren Sequenzen zu sehen, umgeben von Lichtern und auch im leeren Raum. Der Rap wird von Handbewegungen unterstützt, im Hintergrund läuft ein Live-Auftritt Falcos. Die Worte „Schau mir in die Augen und du siehst in den Spiegel“ unterstützt Nazar gestisch, er deutet auf seine Augen, bei „Haben denselben Traum“ deutet er auf seine Schläfen. Das Ende dieser Strophe und der Einsatz längerer Sequenzen erlauben es Nazar gestisch aktiver zu agieren. Der zweite Chorus besteht aus einer Montage bereits im Video verwendeten Filmmaterials. Filmausschnitte von Figur A, Figur B, Figur C, Nazar, Falcos Silhouette und Aufnahmen eines Auftritts des Künstlers im Bildhintergrund werden aneinandergereiht. Dieser Teil endet mit der Wiederholung des Satzes „Uu-uh, was überbleibt ist original – al – al“. Die Bewegungen der Figuren im Musikvideoclip werden verlangsamt. Der Fokus liegt auf dem Wort „original“, hier sind Aufnahmen des singenden Falcos im Hintergrund zu sehen (z.B. davor befindet sich Figur A, die in einer Zwangsjacke am Boden sitzt). Der Track endet mit dem Einsatz von musikalischen Orientalismen. Zusätzlich ist die Produktplatzierung für den Energy Drink „Wild Dragon“ zu erwähnen. In einer 2sekündigen Sequenz ist die Spieglung von Figur C in einem close-up im Bild zu sehen. Sie nimmt einen Schluck des Getränks. Ein Schnitt wechselt die Szenerie. Falco ist Gitarre spielend (head and shoulder close-up) in einem Röhrenfernsehgerät zu sehen, das auf einer Säule steht. Der Schnitt wechselt auf Falcos ehema-

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ligen Produzenten und Keyboarder Thomas Rabitsch. Dieser sitzt auf dem Sofa, auf dem Nazar auch in Teilen der Montage saß. Er richtet eine Fernbedienung in Richtung Kamera und beendet mit einem Klick den Musikvideoclip.  A7 Narrative Ebene: Plot des Videoclips wird kurz zusammengefasst bzw. nacherzählt, Zusammenwirken von Musik, Text und Bild Der Track „Zwischen Zeit & Raum“ ist ein posthumes Duett zwischen Falco und Nazar. Singt/rappt Nazar, sieht man den Rapper in verschiedenen Outfits bei der Performance seiner Parts. Wird Falco gesampelt, werden drei Frauen in verschiedenen Situationen und die Silhouette von Falcon zu einer Montage zusammengeschnitten. Die weiblichen Akteure bewegen teilweise den Mund dem Text entsprechend. Diese Sequenzen weisen Referenzen zu Musikvideos und Auftritten Falcos auf. Das Video endet mit dem Auftritt von Falcos ehemaligem Musikproduzenten Thomas Rabitsch. Er sitzt auf einem Sofa und beendet mit einer Fernbedienung den Musikvideoclip.  A8 Kulturelle Ebene: Stilfelderbezug, Verhältnis von Text-, Bild- und Musikebene (Homologien), entstehen „Zwischenräume“ (Third Spaces)? Homologien Textliche Metaphern werden verbildlicht, zum Beispiel bei der Textzeile „Haben ne Schwäche für alles was schimmert und glänzt“ (Figur A stark geschminkt im Bild) oder bei „Greifen zu, auch wenn wir uns daran die Finger verbrenn’“ (Nazar berührt eine Leuchtröhre). In „Zwischen Zeit & Raum“ werden arabeske Streichermelodien gesampelt. Der bewusste Einsatz von Orientalismen könnte ein Verweis auf Nazars Herkunft sein. Der Rapper ist iranischer und türkischafscharischer Abstammung. Allerdings sind die gesampelten Melodien nicht einer Region zuzuordnen, sondern unterstützen das Konstrukt „Orientalismus“.

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Abbildung 35: Mit filmtechnischen Hilfsmitteln wird ein künstliches Duett zwischen Falco und Nazar realisiert.

Quelle: Musikvideoclip „Zwischen Zeit & Raum“ 2’23’’.

Der Track weist Rap- und Gesangselemente auf, HipHop-Beats modernisieren Falcos Vorlage „Die Königin von Eschnapur“. Im Musikvideoclip können beide Künstler gleichwertig agieren, Falcos physische Abwesenheit wird durch die Silhouette des Künstlers, Leinwandprojektionen seiner Auftritte und Frauen, die in Kostümen, die an Falcos berühmteste Outfits erinnern, kompensiert. Frauen sind in der Visualisierung des Genres HipHop häufig passiv vertreten. Sie sind Backgroundtänzerinnen, haben keinen aktiven Part in der Vermittlung von Musik. Im Musikvideoclip „Zwischen Zeit und Raum“ tanzen sie während des Rap-Teils von Nazar, haben die Funktion von gutaussehenden und leicht bekleideten Accessoires. Anders funktioniert dies während des Gesangteils von Falco. Hierbei werden sie durch Kostüme und Mundbewegungen zu den Texten zur Projektionsfläche des Mythos „Falco“. Third Spaces Der Songtitel „Zwischen Zeit & Raum“ verweist auf den Schwellenzustand zwischen Zeit und Raum und entfernt den Track somit von der Realität. In diesem Zustand kann der Mythos „Falco“ aufrechterhalten werden und ermöglicht ein posthumes Duett mit Nazar. Falcos Welt wird mit Hilfe von Technik auf den Ebenen Musik / Samples, Lyrics und Visualisierung in die Gegenwart transformiert. Jene Welt, die Hedonismus als Gegensatz zur bürgerlichen Biederkeit konstruiert, Machismus mit Frauenverehrung kombiniert und Drogenkonsum

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verherrlicht, wird retrospektiv in die HipHop Kultur der 2010er Jahre geholt und mit orientalischen Elementen angereichert. HipHop Kultur wird zur jugendkulturellen Gegenwelt, die die Botschaften „Die Zeit des Rock‘n‘Roll ist nicht vorbei“ bzw. „Fight for your right to party“ transportiert. Abbildung 36: Weibliche Figur in einem Kostüm, das an Falcos Bühnenoutfit angelehnt ist.

Quelle: Musikvideoclip „Zwischen Zeit & Raum“ 0’48’’.

B Figurenanalyse  B1 Rolle: Welche Rolle nimmt der/die Interpret/in in der Szene ein? Wie definiert sich die Funktion / der Status des/der Künstlers/in im Rahmen des Auftritts? Einfache oder komplexe Figurenkonstruktion? Nazar übernimmt die Funktion des Erzählers. Er ermöglicht Falco einen posthumen Auftritt in einem Musikvideoclip/Track. Nazar ist nur während seines Rap-Teils zu sehen, bewegt die Lippen synchron zum Text.  B2 Inszenierung: optische Inszenierung der Figur: Kostüm / Make Up / Frisur / figurbezogene Requisite etc. Im Musikvideoclip „Zwischen Zeit & Raum“ trägt Nazar verschiedene Outfits. Jeans, weite Pullover mit großen Aufdrucken, weite Hemden. Die Haare sind kurz, Nazar hat einen getrimmten Bart. Seine Kostümierung weist keine Referenz zu Falco auf. Nazar agiert als eigenständiger Künstler im Musikvideoclip.

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Das Frauen im Musikvideoclip – bezeichnet als Figur A, B und C – tragen Kostüm, die sequenzweise an Falcos Kostümierung in diversen Musikvideoclips und Performances angelehnt sind. Die Frauen sind körperbetont bekleidet. Ihre Identitäten bleiben verborgen.  B3 Bewegung: Bewegungsrepertoire, Mimik / Gestik und wenn es sich um ein Lied handelt die Stimme / die Gesangslinie Nazar bewegt sich dem Rhythmus und Tempo der Musik entsprechend. Während seiner Rap-Teile ist er im Bild, bewegt den Mund entsprechend dem gerappten Text. Setzt der Refrain mit seinen melodischen Elementen ein, ist Nazar nur im Bild, wenn er unterstützend zum Sample Falcos rappt. Für einen Musikvideoclip aus dem Genre HipHop ist eine Reduzierung der Gestik erkennbar. Erst während der Hook agiert Nazar mit Händen. Die reduzierte Gestik kann als Verweis auf das Crossover zwischen Pop und HipHop gelten.  B4 Geschlecht: Genderspezifische Darstellungen sowie Verkörperungen, Grad der Bedeutung / Dekonstruktion von Geschlecht Frauen sind in der Visualisierung des Genres HipHop häufig passiv vertreten. Sie sind Backgroundtänzerinnen, haben keinen aktiven Part in der Vermittlung von Musik. Im Musikvideoclip „Zwischen Zeit & Raum“ tanzen sie während des Rap-Teils von Nazar, haben die Funktion von leicht bekleideten Accessoires. Anders funktioniert dies während des Samples (Falco). Hierbei werden die Akteurinnen durch Kostüme und Mundbewegungen zu den Texten zur Projektionsfläche des Mythos „Falco“. Die Kostüme sind körpernahe geschnitten, es findet eine Sexualisierung der Projektionsfläche statt.

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Abbildung 37: Beispiel für die Sexualisierung weiblicher, namenloser Figuren.

Quelle: Musikvideoclip „Zwischen Zeit & Raum“ 2’24’’.

 B5 Zitate: Bezüge zu anderen Videoclips, Songs, Personen, kulturellen oder kulturgeschichtlichen Entitäten Mit der Projektion von Aufnahmen von Falcos Auftritten wird der Künstler im Musikvideoclip „Zwischen Zeit & Raum“ visuell eingebunden. Die Silhouette Falcos ist während seiner Gesang-Teile zu sehen. Die Frauen – Figur A, B und C – im Musikvideoclip tragen Kostüme, die an Falcos Auftritte, Alben Cover und Musikvideoclips erinnern. Zu erwähnen sind unter anderem die Zwangsjacke aus dem Musikvideoclip „Jeanny“ und eine rote Uniform, die an jene, die Falco bei Auftritten in den frühen 1980er Jahren getragen hat, erinnert. Ein schwarzer Anzug mit Haartolle und Sonnenbrille verweist auf Metamorphose15 von Hansi Hölzl zu Falco.

15 Vgl. Website des Künstlers Falco: „Auf der ersten Tour mit dessen Hallucination Company gebiert Hans 1977 den Rockstar Falco. Eines Abends soll er beim Chef im schicken Anzug, Sonnenbrille und gegeltem Haar auftaucht sein: „Sag heut Abend bitte nicht ‘Am Bass Hans Hölzel‘ sondern ‘Falco Gottehrer’.“ Wenige Tage später bleibt es bei Falco – inspiriert vom ostdeutschen Schispringer Falko Weißpflog.“

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Abbildung 38: Weibliche Figur in einer Zwangsjacke, die an den Musikvideoclip „Jeanny“ erinnert.

Quelle: Musikvideoclip „Zwischen Zeit & Raum“ 2’43’’.

 B6 „Die Uhr der Figur“ nach Jens Eder (Eder 2004): o B6a „Die Figur als Artefakt“ – Gestaltung, Inszenierung der Figur Nazar vertritt die musikalische zweite Generation von Migrant/innen in der österreichischen HipHop-Szene. Der Sänger möchte keinen konservativen Durchschnittsbürger repräsentieren. Er ist als Rapper im Video präsent. Nazars Inszenierung unterstreicht den maskulinen Typus des Rappers. Mit der Frage, wer das lyrische Ich im Musikvideoclip verkörpert, entsteht ein Querstand. Nazar steht der posthumen Inszenierung Falcos im Video gegenüber. Das lyrische Ich fällt durch den bewussten Einsatz zweier männlicher Figuren auseinander. Die Geschichte wird von zwei Künstlern erzählt. Die Ich-Inszenierung kann bewusst keiner individuellen Figur zugeordnet werden. o

B6b „Die Figur als fiktives Wesen“ – Körper, Persönlichkeit, Sozialität der Figur

Nazar kann sofort als Urheber des Tracks „Zwischen Zeit & Raum“ identifiziert werden. Der Rap-Teil setzt ein und er bewegt den Mund im Musikvideoclip. Er ist immer im Vordergrund des Bilds zu sehen. Seine Kleidung und sein Styling stellen einen Bezug zum Genre HipHop her. Er rappt, befindet sich in Bewegung und gestikuliert.

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o

B6c „Die Figur als Symbol“ – indirekte Bedeutung, Symbolik/Metapher

Nazar repräsentiert den Typus des maskulinen Rappers mit Migrationshintergrund. Er erzählt eine Geschichte, kann sie nicht beeinflussen, kann allerdings den verstorbenen Sänger Falco posthum zu Wort kommen lassen. Nazar verkörpert eine Gratwanderung zwischen der Gegenwart des deutschsprachigen HipHops und den goldenen Zeiten des Austropop – also Falcos Gegenwart. Nazars Status als erfolgreicher deutschsprachiger Rapper ermöglicht es dem Musiker künstlerisch zu experimentieren. Dies erlaubt es ihm den verstorbenen Künstler Falco in einem Track zu featuren. Nazar äußerte sich in Interviews dazu, dass er keinen Anspruch auf Tantiemen hat. „Tatsächlich muss Nazar auf jegliche Rechte an dem Duett verzichten, was so viel bedeutet wie, er verdient sich eben nicht dumm und dämlich mit der Single. Rechte an „Zwischen Zeit und Raum“ besitzen Thomas Rabitsch sowie Sony und Falcos Stiftung.“16

Nazar wagt den Schritt in die Hochblüte des Austropop, er verzichtete auf jegliche Rechte an dem Duett, kann aber somit als österreichischer Rapper mit Migrationshintergrund Teil davon werden. o

B6d „Die Figur als Symptom“ – kommunikative Ursache/Wirkung, soziokultureller Kontext

Globale Konflikte, die Menschen zur Migration zwingen, prägen seit Jahrzehnten das weltpolitische Geschehen. Von Migrant/innen wird unverzügliche gesellschaftliche Integration erwartet. Nazar wird gerne als positives Beispiel erfolgreicher Migration gesehen. Geboren in Teheran, aufgewachsen im Wiener Bezirk Favoriten, konnte er seine Karriere mit der Unterstützung von deutschen Musikproduzenten starten. Die Bezeichnung „Nazar“ steht nach abergläubischer Vorstellung für den bösen Blick. Das Nazar-Amulett ist ein augenförmiges Amulett und soll vor eben diesem Blick schützen. Der Orientalismus, den bereits Nazars Künstlername projiziert, setzt sich in seiner Musik fort. Immer wieder werden arabeske Melodien gesampelt.

16 Lösch, Sabrina. HIP HOP TRIFFT AUF AUSTROPOP – EIN FEATURE MIT EINER LEGENDE. http://www.delaymagazine.at/hip-hop-trifft-auf-austropop-einfeature-mit-einer-legende. (Zugriff: Juni 2021).

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C Bühne und Publikum Da es keine Aufzeichnung eines Live-Auftritts von „Zwischen Zeit & Raum“ gibt, wurde zur Performance-Analyse folgendes Video herangezogen: Nazar feat. Yasmo & S.K. Invitational „An Manchen Tagen“ Live-Auftritt am Wiener Popfest Juli 2014 https://www.youtube.com/watch?v=XAnqVjxh91M  C1 Gesamtkonzept: Die Bühne wird als Gesamtkonzept betrachtet. Sind Musiker/innen sichtbar, gibt es Backgroundtänzer/innen, eine Choreographie, ein Bühnenbild, Requisiten? Zusätzlich zum Videoclip wurde eine Live-Performance von Nazar analysiert, um die Interaktion zwischen Bühne und Publikum untersuchen zu können. Da der Song „Zwischen Zeit & Raum“ aus urheberrechtlichen Gründen nicht live performt wurde, wurde ein anderer Song, der Crossover-Merkmale aufweist, ausgewählt. Nazar trat am Wiener Popfest unter anderem mit der Rapperin Yasmo und der Band SK Invitational auf. Die Band definiert ihr Genre als „Hip Hop/Jazz/Electronic“ und besteht aus folgender Besetzung: Stephan Kondert (Bandleader, Bass, Komposition), FLIP (Rap), THAIMAN (Rap), Christoph Mallinger (Geige), Peter Kronreif (Schlagzeug), Andi Lettner (Schlagzeug, Producing), Matthias Löscher (Gitarre), Andi Tausch (Gitarre), Philipp Nykrin (Keyboard, Synth-Programming), Fabian Rucker (Saxophon), Christian Kronreif (Saxophon), Ohrwalder Martin (Trompete), Hermann Mayr (Posaune), Bastian Stein (Trompete) und Phillip Harant (Saxophon). Auf der Bühne befinden sich die Musiker/innen, Notenständer und ihre Instrumente. Die Band, Nazar und Yasmo bewegen sich ausgelassen auf der Bühne, gehen auf und ab, gestikulieren. Nazar trägt einen weiten Pullover mit großflächigem Aufdruck, die Band hat Anzug bzw. elegante Hosen mit Hemden, T-Shirts und dazu Sakkos an. Yasmo trägt ein elegantes, cremefarbenes glitzerndes Kleid, das Haar offen und MakeUp. Die optische Inszenierung der verschiedenen Künstler/innen auf der Bühne ist keinem eindeutigen Genre zuzuordnen. Nazar repräsentiert den Rapper, die Mitglieder der Band („Hip Hop/Jazz/Electronic“) sind elegant gekleidet. Der Keyboarder trägt ein für den HipHop typisches Cap und einen Anzug. Yasmo, die in den Bereichen Rap und Poetryslam und dem Crossover Jazz/HipHop aktiv ist, trägt ein elegantes Kleid. Diese optische Vielfalt verbildlicht das musikalische Crossover der Version des Songs „An Manchen Tagen“.

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Abbildung 39: Optische Inszenierung der Künstler/innen beim Auftritt Nazars mit Yasmo und der Band SK Invitational am Wiener Karsplatz.

Quelle: Live-Auftritt am Popfest Wien 2’35’’.

 C2 Technik: Die Technik – als Teil der Bühne – ist ein weiterer Aspekt: das audiovisuelle Konzept, der Ton, das Licht. Der Auftritt finden am Wiener Karlsplatz im Rahmen des Popfests 2014 statt. Die Bühne ist während des Auftritts in violettes Licht getaucht. Das Publikum steht vor der Bühne und bewegt sich zum Beat.  C3 Bühne / Publikum: Existiert Interaktion zwischen Bühne und Publikum? Welche Regeln und Konventionen gelten für das Publikum bezugnehmend auf das Stilfeld? Gibt es Bestuhlung, darf getanzt werden, herrscht Stille, darf gesprochen/mitgesungen werden? Das Publikum steht, es darf getanzt und mitgerappt/-gesungen werden. Sobald der Song erklingt, bewegt sich das Publikum zur Musik, einige Menschen heben die Hände. Die Akteur/innen auf der Bühne bewegen sich ausgelassen mit. Es sind typische Gesten, Handbewegungen, die man in dem Genre erwartet zu sehen. Nazar steht nicht ständig in Kontakt mit dem Publikum, aber er kündigt Yasmo, die im letzten Drittel der Performance ihren Auftritt hat, mit den Worten „Wien, macht mal nen riesengroßen Applaus für Yasmo“ an. Yasmo kontert mit „Nazar“. Das Publikum applaudiert, hebt die Hände. Während Yasmos Rap ist das Publikum ruhig, die Bewegungen sind langsam. Nazar steht mit einem Handtuch in der Hand in der Ecke der Bühne. Als Nazar wieder rappt, geht ein Raunen durch das Publikum. Die Bewegungen der Menschen werden schneller,

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vereinzelt sind „devil horns“ zu sehen. Yasmo stellt sich an den Rand und hebt die Hände. Der Song ist zu Ende und das Publikum reagiert mit tosendem Applaus, die Menschen springen teilweise auf und ab. Trotz des Crossovers und der z.B. vorhandenen Notenständer kann die Konzertsituation eindeutig als Animationsritual beschrieben werden. D Zusammenfassende Interpretation  D1 Kulturen/Erfahrungswelten Das Musikvideo und der Live-Auftritt von Nazar entsprechen den Konventionen des HipHop auf musikalischer Ebene und in der visuellen Inszenierung des Rappers. Im Mittelpunkt steht der Rapper umgeben von Künstlern und Künstlerinnen aus anderen Genres. Diese Synthese schafft ein musikalisches und visuelles Crossover und ermöglicht Nazar die Zusammenarbeit mit Falco. Die Silhouette des Künstlers und knapp bekleidete Frauenkörper werden zur posthumen Projektionsfläche. Die „Auferstehung“ des Künstlers gelingt mit technischen Hilfsmitteln, rechtfertig den Songtitel „Zwischen Zeit und Raum“.  D2 Musikstile Der Track „Zwischen Zeit & Raum“ und sein dazugehörigen Musikvideoclip ist musikalisches und ein mediales Crossover. Nazar trifft auf Falco, HipHop trifft auf Popmusik. Ein verstorbener Künstler wird posthum auditiv und visuell zum Leben erweckt.  D3 Performance Stil Nazars Performance am Wiener Popfest und im Musikvideoclip „Zwischen Zeit und Raum“ entspricht den Konventionen des HipHop. Der Künstler animiert das Publikum beim Live-Auftritt. Im Musikvideoclip untermalen wiederholt Gesten den Songtext. Der rappende Einzelgänger, der Kleidungsstil, das Verhalten beim Auftritt und Nazars öffentlichen Inszenierung bieten Identifikationsfläche für das Genre und schreiben Nazar Credibility zu.  D4 WAS konstituiert der Interpret/ die Interpretin in seiner/ ihrer Performance kulturell?

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Nazar und Falco repräsentieren gleichermaßen den maskulinen Typus „Rapper“. Diese Figurenkonstruktion wird visuell und textlich unterstützt, unter anderem durch den Einsatz von knapp bekleideten Backgroundtänzerinnen und Textzeilen wie „vorwiegend hatten wir das Spiel, die Weiber und den Gin“. Gleichzeitig unterstellt der Track weibliche Egalität, die erste Textzeile der Hook lautet „denn wir Männer sind dieselben wie ihr Frauen“. Abbildung 40: Beispiel für den Einsatz weiblicher, namenloser Figuren als Ausstattungselement neben dem maskulinen Rapper.

Quelle: Musikvideoclip „Zwischen Zeit & Raum“ 2’03’’.

 D5 WIE macht sie/er das (in Bezug auf die Konventionen des Stilfeldes)? „Zwischen Zeit & Raum“ ermöglicht es Nazar posthum einen Track mit Falco zu veröffentlichen, den er als sein großes Vorbild beschreibt. Das künstliche Duett mit dem verstorbenen Sänger erlaubt dessen stimmliche Präsenz mit seinem Song „Die Königin von Eschnapur“. Der Third Space, der zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit existiert, bietet dem Rapper und den Verwaltenden von Falcos Nachlass die Möglichkeit einer posthumen Zusammenarbeit. Falcos „Die Königin von Eschnapur“ wird von Nazar textlich an die Gegenwart und die Klischees des Rap angepasst: Der Verweis auf die „Good Life Crew“ ist einerseits ein Track von Nazar auf dem Album „Fakker Lifestyle“, andererseits auf ein seit 2012 in Wien tätiges Event-Kollektiv, das hauptsächlich elektronische Musik vermarktet. Leicht bekleidete Background-Tänzerinnen werden zur sexualisierten Projektionsfläche entsprechend dem HipHop Genres.

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 D6 Wie und in welcher Form finden Übersetzungen (Translationen) statt? Eine posthum publizierte, musikalische Erfahrung wird in die Stilmittel des aktuellen HipHop übersetzt. Nazars Rap ist auch in Samples Falcos zu hören. Er erhält somit die dominante Funktion im Duett. Inhaltlich wird der Track zu einer Spielfläche für binäre sexuelle Identitäten. Der männliche „Lover“ (Falco und Nazar) besingt eine namenlose (nackte) Frau, gleichzeitig wird Egalität konstruiert. Durch den Einsatz von knapp bekleideten Backgroundtänzerinnen wird das Image des Rappers mitgetragen.  D7 Ergebnisse der Analyse des Aufführungsrituals Die untersuchten Beispiele Nazars zeichnen den Künstler als experimentierfreudig hinsichtlich musikalischer und visueller Crossover (Recycling und Neuinterpretation eines Falco Songs, visuelle Auferstehung des Künstlers) aus, der Rapper steht im Mittelpunkt des untersuchten Materials, trotz des Crossovers „HipHop/Jazz“ beim Liveauftritt (Notenständer auf der Bühne, Musiker tragen teilweise Anzügen) werden die Konventionen des HipHop (Animationsritual, Vorstellung und Zwischenapplaus für Gastkünstler/innen, teilweiser Einsatz von Frauen als sexualisierte Projektionsfläche) erfüllt.

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3A) DIE SEER: „HEUT HEIRAT‘ DIE LIEBE MEINES LEBENS“ A Produktion (Ton/Bild)  Faktische Ebene: Titel des Musikstücks / Datum der Aufführung bzw. der Veröffentlichung des Musikvideos Das Musikvideo „Heut heirat‘ die Liebe meines Lebens“ von der steierischen Band Seer wurde am 27.05.2014 veröffentlicht. Der Song befindet sich auf dem Album „Echt Seerisch“, das am 30. Mai 2014 erschienen ist.  A2 Personelle Ebene: Name des/r Interpret/in, oder der Gruppe der Interpret/innen sowie deren Geschlecht, Alter, Herkunft und kultureller Hintergrund; Verhältnis Autor/innen zu Interpret/innen Die Band Seer wurde 1996 gegründet und ist in Grundlsee im steirischen Teil des Salzkammerguts angesiedelt. Die Seer bestehen aus: Alfred Fred Jaklitsch (Gesang, Gitarre), Astrid Wirtenberger (Gesang), Sabine „Sassy“ Holzinger (Gesang), Wolfgang Luckner (Schlagzeug), Jürgen Leitner (Steirische Harmonika), Thomas Eder (E-Gitarre), Dietmar Kastowsky (E-Bass) und Mario Pecoraro (Keyboard). Die Seer entstanden als Musikprojekt, das Elemente der traditionellen Volksmusik und Popmusik verbindet. Die Bandmitglieder sind zwischen 30 und 60 Jahre alt und kommen aus verschiedenen österreichischen Bundesländern.  A3 Musikalische Ebene: Das Musikstück, seine Form und Besetzung, Noten, Umgang mit Genrekonventionen: Bestätigung / Überschreitung (Crossover) Das Musikstück „Heut heirat die Liebe meines Lebens“ ist dem Stilfeld Schlager zuzuordnen. Es ist ein 4 Chord Song mit Verse-Chorus-Bridge. Der Song ist folgendermaßen besetzt: Gesang, Gitarre, Cajón, Harmonika, Gitarre, E-Bass, Keyboard. Gesungen wird in einer österreichischen Dialekt-Sprache, nicht in Hochdeutsch.  A4 Literarische Ebene: Titel / Lyrics, Analyse des Songtexts / des Librettos (Bedeutungsmöglichkeiten)

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Lyrics „Heut heirat die Liebe meines Lebens“17 (Musik & Texte: Alfred Jaklitsch) I ruaf nur on, denn I wollt wissen, wies dir noch oll der Zeit jetzt geht. Für mich woars hoart dich zu vermissen, weil mei Welt sich um dich dreht. Jemond is dron, der sogt wegen der Hochzeit, da wären jetzt olle ausser Haus. Es wär nicht möglich mit dir zu reden und legt auf. Heut heirat die Liebe meines Lebens, in meine Tram hob I mirs oft vorgstellt. I bin noch nicht bereit dich aufzugeben, heut heiratst und für mi zerbricht a Welt. Heut heirat die Liebe meines Lebens, die letzte Hoffnung geht runte´r den Boch. Heut heiratst und olles woar vergebens, denn I liab dich immer noch. A letztes Mol würd I dich so gern sehn, an letzten Blick würd I gern riskiern. Wie würds uns 2 in dem Moment gehen, dabei dich für immer zu verliern. Heut heirat die Liebe meines Lebens, in meine Tram hob I mirs oft vorgstellt. I bin noch nicht bereit dich aufzugeben, heut heiratst und für mich zerbricht a Welt. Mit der Erinnerung, dass es mich irgendwo gibt. Du sollst wissen und gspiarn dass I dich immer no liab 17 Jaklitsch, Alfred. Lyrics „Heut heirat die Liebe meines Lebens“. http://www.dieseer .at/seiten/alben/echt_seerisch/liedtexte/01_heut_heirat_die_liebe.pdf 2021).

(Zugriff:

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Heut heirat die Liebe meines Lebens, in meine Tram hob I mirs oft vorgstellt. I bin noch nicht bereit dich aufzugeben, heut heiratst und für mich zerbricht a Welt. Heut heirat die Liebe meines Lebens, die letzte Hoffnung geht runter den Boch. Heut heiratst und olles woar vergebens, denn I liab dich immer noch.

Der Song thematisierte die Aufarbeitung einer beendeten Beziehung. Eine Frau versucht einige Zeit nach einer Trennung – die genaue Zeitspanne ist nicht bekannt – ihren ehemaligen Lebensgefährten telefonisch zu kontaktieren. Sie hat die Beziehung noch nicht verarbeitet und möchte mit ihm sprechen. Diese Bitte wird ihr verwehrt, da sich dieser zum Zeitpunkt des Anrufs auf seiner eigenen Hochzeit befindet. Das Motiv der Hochzeit mit einer anderen Frau wird im Refrain aufgegriffen. Die Erzählerin hat in dem Anruf die letzte Chance auf eine Wiederbelebung der Beziehung gesehen. Diese Hoffnung ist nun nicht mehr greifbar. Der Wunsch nach einem gemeinsamen Treffen, ein fiktiver Blick in die gemeinsame Zukunft kann nun nicht mehr in die Realität umgesetzt werden. Worte der Verzweiflung dominieren die Strophen. Die Erzählerin möchte dem ehemaligen Partner ihre Gefühle zum Ausdruck bringen, scheitert jedoch daran, dass sie ihn nicht erreichen kann. Auf textlicher Ebene findet kein Zusammentreffen statt.  A5 Räumliche Ebene: Schauplatz des Auftritts, die Situation in der dieser stattfindet (Live-Auftritt / Musikvideoclip) Das Musikvideo ist im Ausseerland angesiedelt, was an den Außenaufnahmen zu erkennen ist. Mehrere Sequenzen wurden innen aufgenommen, zeigen ein Zimmer in einer Wohnung. Der Plot wird mit Innen- und Außenaufnahmen erzählt, die Band ist nur in Außenaufnahmen – auf einer Alm – zu sehen.  A6 Performative Ebene: Analyse der Filmsequenz: Figuren, Bewegungsabläufe (statisch / dynamisch), Kameraeinstellungen, Beleuchtung, ästhetische Aspekte, u.a.

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Der Musikvideoclip beginnt mit einem medium shot auf eine junge, unbekannte Frau. Sie hält ein Mobiltelefon in der Hand. Es ist keine Musik zu hören. Sie betätigt das Telefon, der Schnitt leitet auf ein Festnetzgerät über. Dies läutet. Es ist zum ersten Mal Ton in dem Musikvideoclip zu hören. Eine Hand hebt den Hörer ab. Der Schnitt leitet zu Sassy Holzinger, einer der Sängerinnen der Seer, über. Sie beginnt zu singen, die Instrumentalmusik setzt gleichzeitig ein. Auch Holzinger ist in einem medium shot zu sehen. Der Schnitt wechselt zur Band und wieder zurück zu der telefonierenden Frau. Sie geht durch den Raum und holt ein Fotoalbum. Der Zeile aus dem Songtext „I ruaf nur on, denn I wollt wissen, wies dir noch oll der Zeit jetzt geht“ wird bildlich nacherzählt. Bei den Worten „Für mich woars hoart dich zu vermissen, weil mei Welt sich um dich dreht“ schlägt die Frau das Album auf. Unter dem ersten Bild steht „Frühlingserinnerungen“. Ein heterosexuelles Paar befindet sich im ruralen Raum. Ein Schnitt folgt auf das Bild in dem Fotoalbum, eine Sequenz zeigt die junge Frau und einen Mann beim Entstehen des Fotos. Der Bildabzug wird lebendig. Das Paar sitzt vor einem Zaun. Alle Kameraeinstellungen wurden als medium shot gedreht. Ein Schnitt auf das Paar zeigt dieses in einem long shot einen Steg entlanggehen. Der darauffolgende Schnitt zeigt die junge Frau wieder in einem medium shot. Sie befindet sich wieder in der diegetischen Gegenwart und telefoniert. Der Schnitt auf die Sängerin wird gefolgt von einem Schnitt auf das Paar am Steg des Sees. Die Kamera beginnt mit einer Fahrt über den See, ein weiterer Schnitt fokussiert wieder die Sängerin. Die junge Frau erfährt, dass der ehemalige Partner gerade heiratet. „Jemond is dron, der sogt wegen der Hochzeit, da wären jetzt olle ausser Haus. Es wär nicht möglich mit dir zu reden und legt auf.“ Dies wird den Zusehenden durch die Stimme der Sängerin erzählt. Der Hörer wird auf das Festnetztelefon gelegt. Die junge Frau legt mit verstörtem Blick auf. Der Refrain setzt ein. Die Band ist zum ersten Mal in kompletter Besetzung in einem medium long shot zu sehen. Beide Sängerinnen singen nun gemeinsam. Während des Refrains wechselt die Szenerie zur jungen Frau, die durch das Fotoalbum blättert. Als das Wort „vorgestellt“ im Songtext fällt, ist eine Rückblende zu sehen. Die junge Frau hebt den Kopf, blickt nachdenklich drein. Ein Foto aus dem Album, das das Paar beim Gitarrenspiel zeigt, wird lebendig. Alles wurde in der Einstellungsgröße medium shot gedreht. Der Mann sitzt auf einem Baumstumpf am See. Die Kamera umrundet das Paar. Er greift ihr an den Kopf. Der Schnitt zeigt die Band (medium long shot). Bei „für mi zerbricht a Welt“ folgt ein Schnitt, die junge Frau schlägt die Hände vor das Gesicht. Der zweite Teil des Refrains folgt visuell dem Schema des ersten Teils. Die Band ist kurz beim Musizieren und Singen zu sehen. Der darauffolgende Schnitt zeigt die jun-

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ge Frau beim Durchblättern des Fotoalbums. Sie bleibt bei einem Bild stehen, das das Paar gemeinsam zeigt. Wieder erfolgt eine Rückblende zum Entstehungszeitpunkt des Bildes. Das Paar ist beim Herumtollen am See zu sehen. Es ist Sommer. Bei „denn I liab dich immer noch“ entfernt sich das Paar von der Kamera, diese zeigt in einem extreme long shot die Landschaft. Die zweite Strophe wird mit einer kurzen Sequenz auf die beiden Sängerinnen eingeleitet. Dieser Teil des Songs wird von den Sängerinnen Sassy Holzinger und Astrid Wirtenberger gesungen. Der Schnitt zeigt die junge Frau beim Durchblättern des Fotoalbums. Die Einstellungsgröße medium shot bleibt erhalten. Der Schnitt wechselt wieder zur Band. Diesmal ist Astrid Wirtenberger im Fokus. Bei dem Wort „Blick“ macht sie eine Handbewegung von der Schläfe Richtung Kamera, um das Wort gestisch nachzuzeichnen. Die nächste Sequenz zeigt den Blick der jungen Frau auf ein Foto, das eine weitere Rückblende einleitet. Das Paar befindet sich in der Landschaft, auf einer Brücke stehend. Die Kamera entfernt sich und zoomt wieder heran, zeigt einen Bach in einem Wald. Bei dem Wort „verlieren“ wechselt die Szenerie zu der Band, Sassy Holzinger hebt die Arme in die Luft, ein Schnitt zeigt die Protagonistin in der diegetischen Gegenwart weinend. Der Refrain beginnt visuell mit Aufnahmen der Band (medium shot). Die Mitglieder sind nun länger im Fokus der Kamera, auch die Instrumentalisten singen mit. Ein Schnitt zeigt zum ersten Mal den Ex-Freund der jungen Frau in der diegetischen Gegenwart. Er war bis zu dem Zeitpunkt nur auf Bildern und in Rückblende zu sehen. Er steht wartend im Anzug vor dem Standesamt. Dies ist mit einem großen Schild beschildert. Menschen verschiedener Altersgruppen und verschiedenen Geschlechts gehen zu ihm und beglückwünschen ihn. Zwischendurch wechselt der Schnitt auf die Band und auf die junge Frau, die verzweifelt wirkt. Die Sängerinnen unterstreichen gestisch bestimmte Worte und Satzfragmente. Bei „für mi zerbricht“ ziehen beiden die Arme angespannt zum Körper. Die Bridge zeigt die junge Frau erstmals in der diegetischen Gegenwart in einer Außenaufnahme (medium shot). Die Bridge wird von Sassy Holzinger gesungen. Die Protagonistin geht eine Straße entlang, es ist die Textzeile „Mit der Erinnerung, dass es mich irgendwo gibt“ zu hören. Der Mann ist nun auch auf einer Straße zu sehen, ein Auto fährt vorbei. Holzinger befindet sich singend im Bild, die Arme dramatisiert angespannt und zum Körper gezogen. Bei den Worten „Du sollst wissen und gspiarn“ ist das Auto auch aus der Sicht der Protagonistin zu sehen. Dies verdeutlicht, dass sich die Protagonist/innen nicht weit voneinander entfernt befinden. Bei der Textzeile „dass I dich immer no liab“ findet ein Zusammentreffen des einstigen Liebespaares statt. Beim Singen der

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Worte „immer no liab“ ist nun auch Holzinger Teil der Sequenz. Sie wirft den Kopf nach hinten, sinkt zusammen und steht wieder auf. Das Paar nimmt die Sängerin nicht wahr. Der Refrain setzt mit einer kurzen Aufnahme der Band ein. Es folgt ein Schnitt auf die beiden Protagonisten, er öffnet die Autotür für sie. Diegetisch erstarrt die Story. Der Mann steht bei der offenen Autotür, schweigt, streicht sich über das Gesicht. Die Frau steht ihm bewegungslos gegenüber. Durch die Einstellung medium long shot ist die starre Mimik für die Zusehenden gut erkennbar. Einzig Sängerin Sassy Holzinger zeigt Emotion in Bewegung und Mimik. Bei den Schlussworten „Denn I liab dich immer noch“ geht die Frau langsam auf den Mann zu. Das Video endet mit einer Abblende. Immer wieder wechselt die Szenenfolge zwischen der Band und der Geschichte, die erzählt wird, die Einstellungsgröße bleibt konstant der medium shot. Die Sängerin Sassy Holzinger ist in beiden Parallelhandlungen zu sehen. Die Band befindet sich auf einer Alm, dies ist in einer Luftaufnahme erkennbar. Der Refrain wird von der Band gesungen und gespielt, alle Musiker singen diesen mit. Emotionale Gesten dominieren die Inszenierung.  A7 Narrative Ebene: Plot des Videoclips wird kurz zusammengefasst bzw. nacherzählt, Zusammenwirken von Musik, Text und Bild Eine Frau erfährt am Telefon, dass ihr ehemaliger Partner heute heiraten wird. Der gesungene Text stimmt mit den gezeigten Sequenzen aus dem Leben eines ehemaligen Paares überein. Ergänzend wird die Band bei der Performance des Refrains auf einer Alm gezeigt. Rückblenden aus dem Leben des ehemaligen Paares sind Bestandteil des Musikvideoclips.  A8 Kulturelle Ebene: Stilfelderbezug, Verhältnis von Text-, Bild- und Musikebene (Homologien), entstehen „Zwischenräume“ (Third Spaces)? Homologien Es sind deutliche semantische Bezugnahmen zwischen Text, Musik, und Bild erkennbar. Textzeilen und bildlichen Darstellungen sind unmittelbar aneinandergeknüpft, der Text wird sehr konkret visualisiert. Auch zwischen der Musik und der bildlichen Darstellung der Gesngslinie gibt es ungebrochene Übereinstimmung, unterstützt von emotionaler Gestik. Vor allem in der gestischen Interpretation sind typische Merkmale des Stilfelds „Schlager/volkstümliche Musik“ erkennbar. Die beiden Sängerinnen Sassy Holzinger und Astrid Wirtenberger verleihen den gesungenen Worten durch ihre

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Gestik dramatische Wirkung. Alle emotionalen Aussagen werden durch Gesten unterstützt. Im letzten Refrain übernimmt auch die restliche Band im Musikvideoclip diese Spielart. Die Musiker spielen ihre Instrumente und gestikulieren mit der freien Hand, sofern eine verfügbar ist. Abbildung 41: Beispiel für eine Rückblende, die das Paar während einer Außenaufnahme im Ausseerland zeigt.

Quelle: Musikvideoclip „Heut heirat die Liebe meines Lebens“ 0’36’’.

Third Spaces Im Stilfeld „Schlager/volkstümliche Musik“ ist der Begriff „Heimat“ von zentraler Bedeutung. Die Inszenierung von Heimat – im Fall der Seer das Ausseerland – steht auch im Musikvideoclip „Heut heirat die Liebe meines Lebens“ im Vordergrund. Die Rückblenden, die das besungene Paar zeigen, bestehen aus Außenaufnahmen, die Wälder und Seen des Ausseerland in Szene setzen. Die Welt des alpinen Schlagers bietet Projektionsflächen für viele Erfahrungen in Zusammenhang mit Liebessituationen. Im konkreten Beispiel wird ein erzwungener Verzicht auf einen Liebespartner poetisch-musikalisch verarbeitet. Der enorme Publikumserfolg des Genres scheint vor allem auf diesen Abbildungen von Lebensrealitäten zu beruhen. Schlager können insofern zu einem „Third Space“ werden als sie individuelle Zuflucht bei emotional aufwühlenden Beziehungssituationen bieten und dafür zusätzlich ein ungetrübtes Natur-Ambiente als Rahmen zur Verfügung stellen. Kunst dient auch in diesem Fall der Katharsis, der „Reinigung der Seele“.

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B Figurenanalyse  B1 Rolle: Welche Rolle nimmt der/die Interpret/in in der Szene ein? Wie definiert sich die Funktion / der Status des/der Künstlers/in im Rahmen des Auftritts? Einfache oder komplexe Figurenkonstruktion? Die Sängerin der Seer Sassy Holzinger erzählt die Geschichte im Musikvideoclip zu „Heut heirat die Liebe meines Lebens“. Sie ist mit der gesamten Band auf einer Alm zu sehen. Singt mit ihrer Kollegin Astrid Wirtenberger und den restlichen Musikern der Seer den Song. Zusätzlich ist sie im letzten Refrain des Songs auch Teil der Story, ist in der letzten Szene im Hintergrund zu sehen. Die Protagonist/innen nehmen sie jedoch nicht wahr. Die Frage nach dem lyrischen Ich im Musikvideoclip „Heut heirat die Liebe meines Lebens“ ist zunächst nicht eindeutig zu beantworten. Ob die Sängerin Sassy Holzinger als auktorialer Erzähler oder Ich-Erzähler im Videoclip agiert, erschließt sich aus der Inszenierung nicht. Der Song hat das Wort „meines“ im Titel, dennoch wird die Geschichte, die der Musikvideoclip erzählt, von einer Frau verkörpert. Diese Frau wurde bewusst mit einer Schauspielerin besetzt und nicht mit der Sängerin Holzinger. Diese befindet sich im letzten Refrain als außenstehende und für die Protagonist/innen unsichtbare Person in der Szene. Das lyrische Ich ist somit in diesem Clip durch zwei Personen repräsentiert: die (ältere) Sängerin singt den inneren Monolog und stellt die damit verbundenen Emotionen gestisch dar, die (jüngere) Schauspielerin verkörpert das lyrische Ich physisch.

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Abbildung 42: Sassy Holzingers diegetischer Auftritt.

Quelle: Musikvideoclip „Heut heirat die Liebe meines Lebens“ 3’17’’.

 B2 Inszenierung: optische Inszenierung der Figur: Kostüm / Make Up / Frisur / figurbezogene Requisite etc. Band: Sassy Holzingers Outfit ist eine Mischung aus Tracht und eleganter Kleidung. Über dem schwarzen Kleid trägt sie eine rote Bluse aus rotem, durchsichtigem Stoff, der Knopf ist in der Farbe Gold, eine goldene Halskette und ein goldenes Armband. Die Haare sind offen, das Make-Up erkennbar aufgetragen. Die restliche Band ist unterschiedlich gekleidet. Musiker tragen teilweise Jeans und T-Shirts. Jürgen Leitner (Steirische Harmonika) trägt eine Lederhose, dazu ein weißes Polo und Schuhe, deren Stil an Tracht erinnert. Sängerin Astrid Wirtenberger hat einen schwarzen Rock und eine weiße, anliegende Jacke an. Bandleader Freddy Jaklitsch ist wiederum in einem roten Trachtenjanker zu sehen.

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Abbildung 43: Optische Inszenierung der Seer.

Quelle: Musikvideoclip „Heut heirat die Liebe meines Lebens“ 0’50’’.

Story: Der Protagonist trägt einen Anzug, der seine bevorstehende Hochzeit symbolisiert. Auf den Fotos aus dem Fotoalbum und in den Rückblenden ist er sportlich gekleidet. Die Protagonistin ist im Video weiß gekleidet, über einem weißen T-Shirt trägt sie eine weiße lange Wollweste. In den Rückblenden entspricht ihr Kleidungsstil eher Alltagskleidung. Beide weisen in ihren Outfits keinen Bezug zum Thema Heimat (sie tragen keine Tracht) auf.  B3 Bewegung: Bewegungsrepertoire, Mimik / Gestik und wenn es sich um ein Lied handelt die Stimme / die Gesangslinie Das Bewegungsrepertoire ist stark ausgeprägt. Es existiert ein direktes Verhältnis von Text zu Mimik und Gestik. Bestimmte Aussagen und Wörter werden mimisch und gestisch unterstrichen. Dies geschieht vor allem durch die beiden Sängerinnen, im Refrain werden mimische und gestische Handlungen auch von den anderen Musikern übernommen. Demgegenüber agiert die Schauspielerin sehr zurückhaltend, statisch und stumm. Es wird keinerlei verbale Kommuikation gezeigt.  B4 Geschlecht: Genderspezifische Darstellungen sowie Verkörperungen, Grad der Bedeutung / Dekonstruktion von Geschlecht Der Song und der Musikvideoclip weisen genderspezifische Darstellungen auf. Die Aufteilung innerhalb der Band entspricht geschlechtlicher Binarität. Die Frauen singen, die Männer spielen die Instrumente. Die Inszenierung des Mu-

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sikvideoclips kann als geschlechtsstereotyp bezeichnet werden. Eine Frau telefoniert einem Mann nach, sie hat die Beziehung noch nicht verarbeitet. Sie weint, denn er ist nicht erreichbar, weil er eine andere Frau heiratet. Auf einem Foto/in einer kurzen Sequenz spielt er Gitarre, die Protagonistin weist keinen Bezug zu einem Instrument auf.  B5 Zitate: Bezüge zu anderen Videoclips, Songs, Personen, kulturellen oder kulturgeschichtlichen Entitäten Der Musikvideoclip weist starke Bezüge zum Ausseerland auf. Alle Außenaufnahmen wurden offensichtlich in der Region gedreht. Das Musikvideo wirkt wie ein Werbeclip für diese österreichische Region. Durch die alpine Naturkulisse wird ein typisches Klischee des Genres „volkstümlicher Schlager“ bedient, auch wenn die Musik eher Bezüge zum Austropop herstellt.  B6 „Die Uhr der Figur“ nach Jens Eder (Eder 2004):

o

B6a „Die Figur als Artefakt“ – Gestaltung, Inszenierung der Figur

Sassy Holzinger ist Teil des musikalischen Kollektivs Seer. Im Song „Heut heirat die Liebe meines Lebens“ darf sie eine Geschichte erzählen. Die gleichgestellte Position mit ihren Bandkolleg/innen ist in der Inszenierung erkennbar. Auch die anderen Bandmitglieder – insbesondere die Sängern Astrid Wirtenberger und Bandleader Freddy Jaklitsch – stehen in kurzen Sequenzen im Fokus. Die Band Seer vertritt das Genre des neuen Schlagers. In den Songs kommen auch Schlagzeug und E-Gitarre zum Einsatz. Das Outfit muss nicht im Stil der Tracht gehalten sein, Lederjacken und T-Shirts sind erlaubt. Die verlassene Frau trägt Alltagskleidung (weiße Bluse, weiße Strickjacke, dunkle oder weiße Hose). o

B6b „Die Figur als fiktives Wesen“ – Körper, Persönlichkeit, Sozialität der Figur

Die Sängerin Sassy Holzinger wird zu Beginn des Musikvideoclips als eine der Sängerinnen der Band Seer identifiziert. Sie steht im Vordergrund, hinter ihr befindet sich die Band und singt. Die Sängerin steht der Protagonistin gegenüber, die von einer Schauspielerin gespielt wird. Diese wird als fiktives Wesen mit Eigenschaften wie einsam, melancholisch, in der Vergangenheit schwelgend inszeniert.

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B6c „Die Figur als Symbol“ – indirekte Bedeutung, Symbolik/Metapher

Sassy Holzinger verkörpert eine Sängerin aus dem Genre Schlager. Ihre Kleidung widerspricht dem Klischee der volkstümlichen Kleidung, hat aber dennoch einige Komponenten aus diesem Bereich. Holzinger ist Teil eines modernen Band-Kollektivs. Sie verkörpert stimmlich, emotional und gestisch die Seer mit ihrer verstärkten Präsenz im Video zum Song. Die Schauspielerin symbolisiert eine schwierige Lebenssituation, bietet Indentifikationsfläche für alle Frauen, die von einem männlichen Liebesobjekt verlassen wurden. o

B6d „Die Figur als Symptom“ – kommunikative Ursache/Wirkung, soziokultureller Kontext

Die dargestellte Figurenkonstellation ist ein Symptom für die in der österreichischen gesellschaftlich weitgehend durchgesetzten Fixierung von Monogamie durch eine Eheschließung. Dies kann nicht in Frage gestellt werden und die Person, die nicht zum Zug gekommen ist muss Abschied und Trauer psychisch verarbeiten. Dies wird künstlerisch im analysierten Song seitens des lyrischen Ichs vollzogen. C Bühne und Publikum Seer „Heut heirat die Liebe meines Lebens“ – „Seer Jubiläums Open Air 2014“ https://www.youtube.com/watch?v=BAi8Bt5K49c  C1 Gesamtkonzept: Die Bühne wird als Gesamtkonzept betrachtet. Sind Musiker/innen sichtbar, gibt es Backgroundtänzer/innen, eine Choreographie, ein Bühnenbild, Requisiten? Zusätzlich zum Videoclip wurde eine Live-Performance von „Heut heirat’ die Liebe meines Lebens“ analysiert, um die Interaktion zwischen Bühne und Publikum untersuchen zu können. Der analysierte Auftritt der Seer beim „Seer Jubiläums Open Air 2014“ fand auf einer Bühne vor einem Massenpublikum statt. Die gesamte Band ist auf einer Showbühne zu sehen. Die Sängerinnen und die Musiker bewegen sich während der Performance zum Takt der Musik. Hinter der Band befindet sich eine große Leinwand, links und rechts von der Bühne befinden sich zwei zusätzliche Leinwände, auf denen die Performance in verschiedenen Kameraeinstellungen live übertragen wird.

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Abbildung 44: Konzept der Showbühne.

Quelle: Live-Auftritt „Seer Jubiläums Open Air 2014“ 3’15’’.

 C2 Technik: Die Technik – als Teil der Bühne – ist ein weiterer Aspekt: das audiovisuelle Konzept, der Ton, das Licht. Zusätzlich zu den Leinwänden kommen Scheinwerfer (blau und violett) zum Einsatz, die Lichtkegel wandern und die Musiker und Sängerinnen werden immer wieder zusätzlich beleuchtet. Abbildung 45: Showbühne mit Publikumsraum.

Quelle: Live-Auftritt „Seer Jubiläums Open Air 2014“ 2’28’’.

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 C3 Bühne / Publikum: Existiert Interaktion zwischen Bühne und Publikum? Welche Regeln und Konventionen gelten für das Publikum bezugnehmend auf das Stilfeld? Gibt es Bestuhlung, darf getanzt werden, herrscht Stille, darf gesprochen/mitgesungen werden? Es gibt keine Bestuhlung, das Publikum steht dicht gedrängt vor der Bühne. Der Publikumsraum ist nicht beleuchtet. Man sieht vereinzelt Hände in der Luft und Köpfe, die mitschunkeln. Die Menschen halten Rosen und Leuchtsterne in die Luft. Es herrscht eine Atmosphäre ähnlich wie bei einem Rockkonzert. Es darf gesprochen und mitgesungen werden. Schnitte in den Publikumsraum zeigen die Besucher/innen schunkeln und mitsingen. Abbildung 46: Zuseherin beim Mitsingen.

Quelle: Live-Auftritt „Seer Jubiläums Open Air 2014“ 3’03’’.

Die Band agiert Richtung Publikum. Die beiden Sängerinnen gestikulieren gezielt an emotionalen Stellen im Song. Im Gegensatz zum Musikvideoclip (Playback) schunkeln die Musiker zum Takt der Musik, haben aber die Hände an den Musikinstrumenten, die sie live spielen.

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Abbildung 47: Holzinger gestikuliert in Richtung Publikum.

Quelle: Live-Auftritt „Seer Jubiläums Open Air 2014“, 3’21’’.

D Zusammenfassende Interpretation  D1 Kulturen/Erfahrungswelten Das Musikvideo und der Live-Auftritt zu „Heut heirat‘ die Liebe meines Lebens“ entsprechen den Konventionen des Schlagers auf musikalischer Ebene und in der visuellen Inszenierung. Im Mittelpunkt steht eine Figur, die vom Prozess der Verarbeitung einer Liebesgeschichte erzählt. Die Inszenierung und Projektion von Heimat, im Fall von den Seern das Ausseerland, steht im Fokus der visuellen Inszenierung des Musikvideoclips. Gesungen wird in Dialektsprache.  D2 Musikstile „Heut heirat die Liebe meines Lebens“ mischt Stilmittel des Schlagers (sequenzierende Melodik, konventionelle Formgestaltung) mit Elementen des Austropop. Traditionelle Instrumente (Ziehharmonika, akustische Gitarre) werden mit Schlagzeug, Keyboard und E-Gitarre kombiniert.  D3 Performance Stil Die Sängerin Sassy Holzinger verhält sich den Konventionen des Stilfelds „Schlager/volkstümliche Musik“ entsprechend. Ihre Kleidung wirkt im Musikvideo elegant versehen mit Elementen aus traditioneller Tracht. Gestik und Mimik

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unterstützen ihre gesangliche Performance. Die Band performt im Musikvideoclip auf einer Alm. In ihrer gesamten öffentlichen Inszenierung bieten die Seer Identifikationsflächen für Tradition und Naturverbundenheit gemischt mit modernen Elementen. Abbildung 48: Die Band performt auf der Alm (Vogelperspektive).

Quelle: Musikvideoclip „Heut heirat die Liebe meines Lebens“ 2’55’’.

 D4 WAS konstituiert der Interpret / die Interpretin kulturell? Die Seer inszenieren sich als Band aus dem Stilfeld Schlager, Sängerin Sassy Holzinger fungiert im Musikvideoclip und beim Auftritt als Geschichtenerzählerin. Der Song „Heut heirat die Liebe meines Lebens“ beschäftigt sich mit einer abgebrochenen Beziehung. Ein vergangenes Liebesglück, Heimatverbundenheit (Landschaft, Sprache) und starke Gestik dominieren den Song. Musikalisch und visuell werden die Themen Liebesleben, Hochzeit, Abschied und Trost verhandelt. Die Werte und Normen der Gesellschaft hinsichtlich Mongamie werden affirmativ bekräftigt. Eine Re-Konstituierung von traditioneller Schlagerthematik findet statt. Das in der Musik noch immer vorherrschende binäre Geschlechtsverständnis trifft auch auf die Band Seer zu. Die beiden weiblichen Bandmitglieder singen, die Männer spielen Instrumente (dr, harmonika, ak-git, e-git, keys und e-bass).  D5 WIE macht sie / er das (in Bezug auf die Konventionen des Stilfeldes)?

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Die auditive und visuelle Performance wird von starker Emotionalität dominiert. Die optische Inszenierung setzt sich aus einer Mischung aus Tracht und Alltagskleidung in ländlich-alpiner Umgebung (Alm, Almsee, Wald) zusammen. „Heut heirat die Liebe meines Lebens“ enthält nicht nur volksmusikalische, sondern auch Austropop-Elemente, ist ein 4 Chord Song mit Verse-Chorus-Bridge. Das Ende der Geschichte bleibt im Videoclip offen, die Seer bieten keine Lösung des Beziehungskonflikts.  D6 Wie und in welcher Form finden Übersetzungen (Translationen) statt? Eine Alltagserfahrung (verlassen werden) wird mit Stilmitteln des modernen Schlagers in einen Song übersetzt. Durch das Musikvideo und die Art der LivePerformance (Open Air Show-Bühne) wird ein massenmediales Ereignis erzielt, das dem zahlreichen Publikum als Identifikationsfläche dient.  D7 Ergebnisse der Analyse des Aufführungsrituals Die Konventionen des Stilfelds „Schlager/volkstümliche Musik“ (Volksmusikund Popinstrumentarium, gesungen in einer Mischung aus Dialekt und Hochsprache, Verbindung von Tracht und Alltagskleidung) werden durch die ReKonstituierung traditioneller Geschlechterrollen (die Frau fügt sich in ihr Schicksal) in alpiner Kulisse erfüllt. Das im Schlager erwartete Animationsritual findet in einer Mischform (Publikum steht, singt, klatscht und schunkelt in lockerer Atmosphäre: im Rahmen eines Konzerts) statt.

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3B) ANDREAS GABALIER: „I SING A LIAD FÜR DI“ A Analyse des audiovisuellen Produkts  A1 Faktische Ebene: Titel des Musikstücks / Datum der Aufführung bzw. der Veröffentlichung des Musikvideos Der Musikvideoclip „I sing a Liad für di“ von Andreas Gabalier wurde am 22. Juli 2011 veröffentlicht. Der Song ist auf dem Album „Herzwerk“ zu finden.  A2 Personelle Ebene: Name des/r Interpret/in, oder der Gruppe der Interpret/innen sowie deren Geschlecht, Alter, Herkunft und kultureller Hintergrund; Verhältnis Autor/innen zu Interpret/innen Andreas Georg Gabalier wurde am 21. November 1984 in Graz geboren. Seine Karriere als Musiker begann 2009 mit einem Auftritt beim Musikantenstadl. Gabalier singt und spielt unter anderem Akkordeon und Gitarre. Er belegte den zweiten Platz bei der nationalen Vorentscheidung zum Grand Prix der Volksmusik. Im Frühjahr 2009 erschien sein Debütalbum „Da komm’ ich her“. Der Song „I sing a Liad für di“ wurde von Andreas Gabalier komponiert, auch die Lyrics stammen von ihm.  A3 Musikalische Ebene: Das Musikstück, seine Form und Besetzung, Noten, Umgang mit Genrekonventionen: Bestätigung / Überschreitung (Crossover) Andreas Gabalier bezeichnet sich als Volks-Rock’n’Roller in Anlehnung an das 2011 erschienene gleichnamige Album. Beim Amadeus Austrian Music Awards 2016 war Gabalier allerdings in der Kategorie „Volksmusik“ neben Die Edlseer, Die jungen Zillertaler, Hansi Hinterseer und Usprung Buam nominiert. In der zusätzlich existierenden Kategorie „Schlager“ wurden unter anderem Künstler/innen wie Seer, Oliver Haidt und Semino Rossi nominiert.18 Musikalisch ist der Song „I sing a Liad für di“ dem Crossover der Stilfelder „Schlager/volkstümliche Musik“ und „Rock/Pop Musik“ zuzuordnen. Gesungen wird der Song in österreichischer Umgangssprache/Szenesprache von Andreas Gaba-

18 Vgl. Amadeus-Verleihung 2016. https://de.wikipedia.org/wiki/Amadeus-Verleihung_2016#cite_note-1 (Zugriff: Juni 2021)

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lier, im Refrain sind Backgroundvocals zu hören. Instrumental wird der Song von Akkordeon, Trompete, Schlagzeug, Geige, Gitarre und Bass begleitet. Musikalisch kann der Song als Mischung von Polka, Latin und Funk charakterisiert werden.  A4 Literarische Ebene: Titel / Lyrics, Analyse des Songtexts / des Librettos (Bedeutungsmöglichkeiten) Lyrics „SING A LIAD FÜR DI“19 (Musik/Text: Andreas Gabalier) I sing a Liad fia die und do frogst du mi, mogst mid mia taunzn geh, i glaub i steh auf die. I sing a Liad fia die und kaun de Steandal seng, i hob mi vaknoit in die. I hob a Engal gsehn üwa die Stroßn gehn, es hod so liab glocht in ana Saumstog nocht, hod jo zu mia gsogt und i hob mi gfrogt, wos so a Engale woi mog. In de leuchtende Augn muas ma eine schaun, wei a Engal in da Nocht so fü liaba locht, bei da Haund hods mi gschnapt und i hobs ertapt, weis ka Fliagal hod des klapt I sing a Liad fia die und do frogst du mi, mogst mid mia taunzn geh, i glaub i steh auf die. I sing a Liad fia die und kaun de Steandal seng, i hob mi vaknoit in die. Noch dem 1 Hallo host mi ghopt, sowiso a Engal und a Teifal des is amol aso. Host mia a Bussal gem, hob mi nimma lenga gfrogt,

19 Gabalier, Andreas. Lyrics „SING A LIAD FÜR DI“. http://www.songtexte.-com/ songtext/andreas-gabalier/i-sing-a-liad-fur-di-be925d2.html (Zugriff: 7.2.2016).

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wos a Engal leicht wui mog. Haund in Haund zagt sie mia daun de Himmlstia, jez woa mia kloa das des ka Engal woa. Hett i gwusst wos passiert, wär i ned so verwirrt wenn a Engal ohne Fligal fliagt. I sing a Liad fia die, und do frogst du mi, mogst mid mia taunzn geh, i glaub i steh auf die. I sing a Liad fia die und kaun de Steandal seng, i hob mi vaknoit in die. Uhlalala so a schena Tog uhlalala weil i a Engal hob uhlalala so a schene Nocht der Himml hod mia a Engal brocht I sing a Liad fia die, und do frogst du mi, mogst mid mia taunzn geh, i glaub i steh auf die. I sing a Liad fia die und kaun de Steandal seng, i hob mi vaknoit in die.

Andreas Gabalier besingt in dem Song eine unbekannte Person. Er adressiert weiblich konnotierte Worte wie „Engerl“ an diese Person, daher ist anzunehmen, dass es sich um ein weibliches Liebesobjekt handelt. Der Song beginnt mit dem Refrain. In diesem wird auf das Lied, das gesungen wird, verwiesen und die Frage aufgeworfen, ob die unbekannte Frau mit dem Sänger tanzen gehen möchte, da dieser großes Interesse an ihr hat. Die erste Strophe beschreibt die erste Begegnung zwischen dem Erzähler und dem Objekt der Begierde. Diese fand in einer Samstagnacht statt, der Erzähler hat die Frau auf der Straße gesehen und sich in ihr Lachen verliebt. Die Grundaktion ist möglicherweise von der Frau ausgegangen, die seine Hand genommen hat. Gabalier ironisiert die Funktion der Frau als „Engerl“, da er am Ende der ersten Strophe darauf verweist, dass die Grundfunktion eines Engels, nämlich Flügel, fehlen. Hierbei nimmt er Bezug darauf, dass sich die besungene

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Frau den gesellschaftlichen Konventionen nicht gebeugt hat und den Mann direkt angesprochen hat. In der zweiten Strophe wird näher auf die Begegnung eingegangen. Gabalier wird zum Teufal, die besungene Frau zum Engal. Der erste Kontakt führte bereits zu einem „Zeigen der Himmelstür“, was auf eine sexuelle Begegnung verweisen könnte. Die Strophe endet mit „Hett i gwusst wos passiert, wär i ned so verwirrt wenn a Engal ohne Fligal fliagt“, was durchaus als sexuelle Metapher gemeint sein könnte. Eine Steigerung der Sexualisierung findet in der Bridge statt. Gabalier verweist auf den schönen Tag, danach auf die schöne Nacht, denn der „Himmel habe ihm einen Engel gebracht“. Mit dem Verweis auf die Nacht spricht Gabalier definitiv einen One-Night-Stand mit der unbekannten Frau an. Entschärft wird die Erzählung durch den Einsatz des Refrains, der unschuldig anmutend auf die Verliebtheit des Erzählers in die unbekannte Frau verweist.  A5 Räumliche Ebene: Schauplatz des Auftritts, die Situation in der dieser stattfindet (Live-Auftritt / Musikvideoclip) Der Musikvideoclip ist im urbanen Raum angesiedelt. Es sind – schlageruntypisch –Außenaufnahmen und Innenaufnahmen einer U-Bahn-Station zu sehen.  A6 Performative Ebene: Analyse der Filmsequenz: Figuren, Bewegungsabläufe (statisch / dynamisch), Kameraeinstellungen, Beleuchtung, ästhetische Aspekte, u.a. Der Song beginnt mit einem musikalischen Intro, gleichzeitig mit der Musik erfolgt eine visuelle Kreisblende. Die Kamera fokussiert Andreas Gabalier in einem medium long shot, zoomt heran. Gabalier sitzt auf einer Wiese vor einem Baum. Neben ihm steht das Akkordeon. Er schneidet einen Apfel auf – Schnitt in ein medium close-up. Auf seinen Beinen liegt ein kariertes Geschirrtuch ausgebreitet. Gabalier isst langsam den aufgeschnittenen Apfel und Brot. Nach 15 Sekunden setzt der Gesang ein. Während er singt, hält er in der einen Hand das Brot und in der anderen Hand das Messer. Bei den Worten „i hob mi vaknoit in di“ steht er auf, nimmt sein Akkordeon und verlässt die Wiese. Zu Beginn der zweiten Strophe geht Gabalier durch eine Großstadt. „I hob a Engal gsehn üwa die Stroßn gehen“ wird von der verschwommenen Einblendung eines weiblichen Gesichts visuell begleitet. Der Schnitt wechselt wieder zu Gabalier, der eine Straße entlanggeht und singt. Die erste Strophe ist an verschiedenen urbanen Schauplätzen angesiedelt. Gabalier ist auf einer Straße zu

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sehen, geht eine Hausfassade entlang und sitzt vor dieser (medium close-up), während er singt: „Wei a Engal in da Nocht so fü liaba locht“ wird visuell von dem verschwommen, weiblichen Gesicht unterstützt. Die Wiederholung des Refrains visualisiert Andreas Gabalier mit Akkordeon. Er steht vor dem Hochhaus, vor dessen Fassade die meisten Einstellungen der ersten Strophe gedreht wurden, und spielt das Instrument, während er singt. Das Akkordeon ist weiterhin zu hören, dennoch singt Gabalier „do frogst du mi, mogst mid mia taunzn geh“ ohne sein Instrument weiterzuspielen. Gabalier ist, während er spielt, in einem medium close-up zu sehen, wenn er singt, ohne zu spielen in einem head and shoulder close-up. Die Worte „i hob mi vaknoit in di“ werden visuell von dem weiblichen Gesicht unterstützt, das noch immer verschwommen dargestellt wird. Die zweite Strophe ist eine visuelle Weiterführung des Refrains. Gabalier steht mit geschlossenem Akkordeon vor dem Hochhaus (medium close-up). Er singt, das Akkordeon wird zum Accessoire, ist nicht mehr als Quelle der Musik ersichtlich. Die Einstellungsgröße wechselt zwischen medium close-up und head and shoulder close-up. Zwischen Text und Bild herrscht im ersten Moment kein Zusammenhang („Host mia a Bussal gem, hob mi nimma lenga gfrogt“). Eine Frau (medium shot) steht auf einer Brücke und blickt hinunter, die Worte „wos a Engal leicht wui mog“ werden gesungen. Der Schnitt wechselt zu Gabalier, der die Straße weiter entlanggeht (medium long shot). Das Akkordeon trägt er um die Schulter. Bei dem Wort „verwirrt“ sind die Beine der Frau zu sehen, die auf der Brücke steht. Die Wiederholung des Refrains wird auf der Straße vor einem Backsteinhaus gesungen. Gabalier ist für eine kurze Sequenz beim Akkordeonspielen zu sehen, trägt das Instrument hauptsächlich am Oberkörper und tanzt während er singt. Verschiedene Einstellungsgrößen (medium shot, medium close-up und head and shoulder close-up) geben Einblick in die urbane Umgebung. Die Worte „i hob mi vaknoit in di“ werden von der verschwommenen Einblendung des Frauengesichts begleitet. Die instrumentale Bridge ist lokal in der U-Bahn-Station „Landungsbrücken“ angesiedelt. Gabalier ist die einzige Person in dieser Station. Er sitzt auf einer Bank, das Akkordeon liegt neben ihm. Während der instrumentalen Bridge wechselt die Szene: Andreas Gabalier geht Treppen hinunter, an ihm geht eine unbekannte Person vorbei. Ein head and shoulder close-up auf Gabaliers Rücken wirft die Frage auf, wo sich der Sänger befindet. Dies wird durch einen Schnitt aufgelöst, der Sänger geht einen U-Bahn-Schacht entlang. Er ist frontal zu sehen, spielt Akkordeon. Ton und Bild sind im Einklang. Nach 15 Sekunden beginnt die gesangliche Bridge. Gabalier tanzt im U-Bahn-Schacht, weht mit einem ka-

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rierten Tuch, das Akkordeon ist nicht mehr zu sehen. Die Kamera umkreist ihn, die Szene wird in verschiedenen Einstellungsgrößen aufgenommen. Bei den Worten „weil i a Engal hob“ ist der Frauenkopf verschwommen in einem closeup zu sehen. Die letzte Wiederholung des Refrains fokussiert Gabalier wieder tanzend im U-Bahn-Schacht. Es folgt ein Schnitt, Gabalier bewegt sich mit umgehängtem Akkordeon weiter fort. Der zweite Teil des Refrains wird auf der Straße gesungen. Gabalier ist an einer Wand stehend in einem medium close-up zu sehen. Bei den Worten „do frogst du mi“ wird in den Bildhintergrund die unbekannte Frau zur Gänze eingeblendet. Sie steht an einer Straßenlaterne, die Kamera fokussiert sie in einem medium close-up. Die Kamera wechselt zu Gabalier, der die letzte Zeile des Refrains singt. Mit den Worten „i hob mi vaknoit“ wird die Frau aus dem Bild ausgeblendet, sie verschwindet. Gabalier blickt lächelnd zu Boden. Das Lied und das Video enden mit dem Akkordeonspiel. Die Szenerie wechselt in den U-Bahn-Schacht Gabalier spielt das Akkordeon und kniet sich gleichzeitig mit dem letzten Ton auf den Boden.  A7 Narrative Ebene: Plot des Videoclips wird kurz zusammengefasst bzw. nacherzählt, Zusammenwirken von Musik, Text und Bild Andreas Gabalier ist im urbanen Raum auf einer Grünfläche sitzend zu sehen. Er bewegt sich durch die Stadt, spielt auf seinem Akkordeon. Immer wieder ist das Seitenprofil einer jungen Frau eingeblendet. Gabalier beschäftigt sich mit einem Stadtplan, geht weiter, das Akkordeon umgehängt oder spielend. Der zweite Teil des Musikvideoclips ist in der Hamburger U-Bahn-Station „Landungsbrücken“, erkenntlich an der Einblendung der U-Bahn-Tafel, situiert. Gabalier geht tanzend durch den U-Bahn-Schacht, bewegt sich während des ganzen Videos im urbanen Raum bekleidet in einer Lederhose und ein Akkordeon tragend. Der Text des Songs erzählt die Geschichte einer Begegnung mit einem unbekannten „Engerl“. Die Außenaufnahme in der vorletzten Sequenz enthüllt, dass die Frau im Video nur eine Einbildung Gabaliers war. Gabalier verwendet Elemente des Schlagers (Akkordeon, Lederhose, Brettljause zu Beginn des Videos, Inhalt des Songs) in einer urbanen Kulisse.  A8 Kulturelle Ebene: Stilfelderbezug, Verhältnis von Text-, Bild- und Musikebene (Homologien), entstehen „Zwischenräume“ (Third Spaces)?

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Homologien Zwischen Musik und Text sind Homologien im Bereich der Bezugnahme auf alpine Volksmusiktraditionen erkennbar. Der konventionelle Gesang in Terzen wird allerdings einstimmig gebracht. Bildlich wird das im Text präsente „Engal“ schemenhaft als Traumbild dargestellt. Die Schnitt- und Szenenfolge nimmt nur lose auf die musikalische Form Bezug, das Akkordeon wird zum verbindenen Element. Der Einsatz des Akkordeons in Andreas Gabaliers Musikvideoclip funktioniert einerseits als Musikinstrument, das von Gabalier selbst gespielt wird. Andererseits ist das Akkordeon ein Accessoire, das Gabalier am Körper trägt. Während Gabalier singt, wird das Instrument nicht gespielt. In der letzten Sequenz ist Gabalier kniend sein Akkordeon spielend zu sehen. Abbildung 49: Andreas Gabalier spielt Akkordeon in einem Hamburger U-Bahnschacht.

Quelle: Musikvideoclip „I sing a Liad für di“ 2’15’’.

Third Spaces In Musikvideoclip zu „I sing a Liad für di“ existiert ein direkter Bezug zur Stadt Hamburg. Ein Teil des Videos ist in der U-Bahn-Station „Landungsbrücken“ angesiedelt. Das steht im Zusammenhang mit der Single-Veröffentlichung in Deutschland. Lieder aus dem Stilfeld „Schlager/volkstümliche Musik“ sind üblicherweise hauptsächlich im ruralen Raum angesiedelt. Propagiert werden damit oft Orte, die gerne in Verbindung mit den Interpret/innen gebracht werden. „I sing a Liad für di“ ist in einer Stadt angesiedelt. Hochhäuser, eine U-BahnStation und eine Betonlandschaft prägen das Stadtbild.

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Andreas Gabalier trägt eine Lederhose mit Hosenträgern und ein gelbes TShirt. Seine Inszenierung trägt zum Image des Volks-Rock’n’Rollers bei. Da das Musikvideo im urbanen Raum angesiedelt ist, hebt er sich in seinem Outfit von diesem ab. Zusätzlich zum Akkordeon zählt auch ein rot-weiß kariertes Tuch zu den Accessoires. Zu Beginn des Musikvideoclips wird dieses als Unterlage für die Jause verwendet. Mit dem Tuch wedelt er, während er im letzten Teil des Videos durch den U-Bahn-Schacht tanzt. Der Einsatz dieses Tuches karikiert Gabaliers Inszenierung in dem Musikvideoclip. Der Musikvideoclip wird von schnellen Schnitten und einem raschen Wechsel zwischen den Kameraeinstellungen medium close-up, head and shoulder close-up und medium close-up dominiert. Dies steht der reduzierten Schnitttechnik und der Verwendung der Kameraeinstellung medium shot, die im Stilfeld „Schlager/volkstümliche Musik“ stark vertreten ist entgegen. Schlager dienen als Projektionsfläche für Erfahrungen im Bereich des Liebeslebens bzw. herausfordernder Lebenssituationen. Das Schlagerangebot wird in diesem Fall ins urbane Milieu transferiert. Retro-Elemente der Rockkultur werden mit konservativen Wertvorstellungen verbunden. Es gibt kein „Third Space“ Angebot, sondern eine Erneuerung des Mainstreams: die herrschende Volks-Kultur erscheint in neuem Gewand? Volkskulturelemente werden unter Verdrängung der subversiven Elemente neumodern aufgemixt? Im Rahmen einer affirmativen Jugendkultur werden allerdings traditionelle Geschlechterrollen in Frage gestellt: Die Frau hat die Initiative ergriffen und der Sexualität einen Weg gebahnt. Christliche Metaphorik dient – wie auch schon in der Tradition des alpinen Volkslieds – als Tarnung der sexuellen Sphäre. B Figurenanalyse  B1 Rolle: Welche Rolle nimmt der/die Interpret/in in der Szene ein? Wie definiert sich die Funktion / der Status des/der Künstlers/in im Rahmen des Auftritts? Einfache oder komplexe Figurenkonstruktion? Die Frage nach dem lyrischen Ich wird im Musikvideoclip „I sing a Liad für di“ direkt durch die Titelzeile beantwortet. Andreas Gabalier verkörpert das lyrische Ich. Im Stilfeld „Schlager/volkstümliche Musik“ erfolgen derartige Zuordnungen meist zu Beginn des Songs. Dem/der Sänger/in wird direkt die Erzählfunktion zugeschrieben. Persönliche Erlebnisse werden als Teil der Imagekonstruktion poetisch-musikalisch verarbeitet. In Andreas Gabaliers „I sing a Liad für di“ existiert ein einprägsames Text-Bild-Verhältnis, was als typisch für Schlager gilt. Singt Gabalier von dem „Engerl“, das er gesehen hat, ist ein verschwomme-

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nes close-up auf das Gesicht der unbekannten Frau zu sehen. Die Frau wird passiv im Video eingesetzt, ihr wird kein aktives Handeln zugesprochen. Die Erwartungen eines Zusammentreffens zwischen Gabalier und der weiblichen Figur werden nicht erfüllt. Sie verschwindet am Ende des Musikvideoclips. Sie war also nur eine Einbildung des Sängers. Andreas Gabalier tritt in der Funktion des Erzählers auf. Er bewegt die Lippen synchron zum Text und spielt ab und zu Akkordeon. Das Akkordeon ist allerdings auch dann zu hören, wenn Gabalier das Instrument nicht in Verwendung hat. Es kann nur sequenzweise als Quelle der Musik eruiert werden. Der Sänger wirkt selbstbewusst und spielt ein Instrument, das im Stilfeld „Schlager/volkstümliche Musik“ stark vertreten ist.  B2 Inszenierung: optische Inszenierung der Figur: Kostüm / Make Up / Frisur / figurbezogene Requisite etc. Die Inszenierung Andreas Gabaliers entspricht keinem eindeutigen Klischee, sie wirkt individuell zusammengemixt. Das Outfit besteht aus einer knielangen Lederhose, Wollstulpen, aber auch einem gelben T-Shirt und Hosenträgern. In der Hosentasche steckt ein weiß-rot-kariertes Tuch. Die Haare sind kurz, er trägt kein besonderes Make-Up. Die im Video besungene Frau entspricht den Konventionen des Stilfelds „Schlager/volkstümliche Musik“, was sich vor allem optisch in der Kleidung verdeutlicht. Sie trägt ein grünes Dirndl mit einer blauen Schürze und einer blauen Strumpfhose. Die blonden Haare sind offen und geföhnt, das Make-Up wirkt dezent.  B3 Bewegung: Bewegungsrepertoire, Mimik / Gestik und wenn es sich um ein Lied handelt die Stimme / die Gesangslinie Andreas Gabalier bewegt sich dem Rhythmus und Tempo der Musik entsprechend. Während der Strophen des Songs sieht man ihn die Straßen Hamburgs bzw. einen U-Bahn-Schacht entlanggehen oder im urbanen Raum sitzend. Zusätzlich spielt er stellenweise Akkordeon. Beim Einsetzen des letzten Refrains beginnt er dazu zu tanzen.  B4 Geschlecht: Genderspezifische Darstellungen sowie Verkörperungen, Grad der Bedeutung / Dekonstruktion von Geschlecht

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Andreas Gabaliers Auftreten, seine Bewegungen entsprechen den Klischees des maskulinisierten Musikers. Das Spiel mit dem Akkordeon und das Essen einer Jause zu Beginn des Videos lassen sich im Stilfeld „Schlager/volkstümliche Musik“ verorten. Die unbekannte Frau, die im Musikvideo von „I sing a Liad für di“ sequenzweise vorkommt, passt sich in ihrer Erscheinung geschlechtlichen Zuschreibungen an. Die Frau wirkt zurückhaltend, schüchtern, verhält sich im Hintergrund. Sie wirkt fast überirdisch, steht auf einer Brücke, wird von Gabalier als „Engerl“ besungen. Abbildung 50: Andreas Gabalier und das besungene „Engerl“.

Quelle: Musikvideoclip „I sing a Liad für di“ 2’58’’.

Mit den Worten „i hob mi vaknoit“ wird die Frau aus dem Bild ausgeblendet. Die als „Engerl“ besungene, weibliche Figur verschwindet am Ende des Videos. Die Frau, die den Konventionen des Stilfeldes entspricht, ist nur eine Wunschvorstellung, eine Projektionsfläche für Gabaliers Begierde, eine Männerphantasie.  B5 Zitate: Bezüge zu anderen Videoclips, Songs, Personen, kulturellen oder kulturgeschichtlichen Entitäten Der Einsatz von Akkordeon, Lederhose, Dirndl und dem rot-weiß karierten Tuch im Musikvideoclip ist ein Verweis auf das alpine Stilfeld „Schlager/volkstümliche Musik“. Die urbane Szenerie, der U-Bahn-Schacht und Gabaliers gelbes bedrucktes T-Shirt verorten den Song und den Videoclip zusätzlich im Stilfeld „Rock/Pop Musik“.

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 B6 „Die Uhr der Figur“ nach Jens Eder (Eder 2004): o B6a „Die Figur als Artefakt“ – Gestaltung, Inszenierung der Figur Andreas Gabalier vermittelt den Zusehenden die Position eines Einzelgängers. Er ist ein junger Mann, der alleine durch die Straßen Hamburgs schlendert. Die Verortung wird durch das U-Bahn-Schild „Landungsbrücken“ sichtbar. Der Sänger trägt eine Lederhose, gleichzeitig Hosenträger und ein gelbes T-Shirt. Er vertritt die Generation des musikalischen Nachwuchses des Crossovers der Stilfelder „Schlager/volkstümliche Musik“ und „Rock/Pop Musik“. Seine Inszenierung unterstreicht den maskulin inszenierten Volks-Rock’n’Roller. o

B6b „Die Figur als fiktives Wesen“ – Körper, Persönlichkeit, Sozialität der Figur

Andreas Gabalier kann sofort als Sänger des Songs „I sing a Liad für di“ identifiziert werden. Der Gesang setzt ein und er bewegt den Mund im Musikvideoclip. Er ist bis auf wenige Sequenzen immer alleine im Bild zu sehen. Er vereint die Funktionen des Erzählers und des Protagonisten der Story. Das Begehren der imaginierten Frau kann eindeutig zugeordnet werden. o

B6c „Die Figur als Symbol“ – indirekte Bedeutung, Symbolik/Metapher

Die Figur Andreas Gabalier verkörpert den individuellen Volks-Rock’n’Roller der sich gerne als Sexsymbol inszeniert. Gabalier symbolisiert die Rolle des romantisierten Einzelgängers, der hauptsächlich im Genre „Rock/Pop Musik“ vertreten ist. Er erzählt als Sänger die Geschichte, kann sie nicht beeinflussen, weil er selbst Teil dieser ist. o

B6d „Die Figur als Symptom“ – kommunikative Ursache/Wirkung, soziokultureller Kontext

Der Musikvideoclip zu „I sing a Liad für di“ entfernt den Song aus dem friedlichen, ruralen Kulturraum und setzt ihn in den Kontext der urbanen Pop/Rock Musik. Lederhose, Akkordeon und ein kariertes Tuch sind Gabaliers einzige optische Bezugspunkte zum Stilfeld „Schlager/volkstümliche Musik“. Durch den Song dürfen die Klischees von „Sex, Drugs and Rock’n’Roll“ aus dem Stilfeld „Rock/Pop Musik“ aufleben. Das „Verliebtsein“, ein Grundbedürfnis der Ju-

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gend, wird zum musikalischen Allgemeininteresse. Gabliers Annäherung an das begehrte Geschlecht mit Worten wie „Engerl“ funktioniert über die Sprache des Schlagers. Die weibliche Figur im Musikvideoclip wird attraktiv inszeniert. Begriffe wie Intimität und Körperlichkeit werden indirekt verhandelt. Die weibliche Figur darf nur aus der Ferne begehrt werden. Die Figur ist ein Symptom für die Mainstream-Tauglichkeit von Elementen der Volks- und Schlagerkultur in Verbindung mit Rock- und Popmusik. Konservative und hedonistische Positionen werden neu miteinander verbunden. C Bühne und Publikum Andreas Gabalier „I sing a Liad für di“ Live Auftritt Stadthalle Wien 10. Mai 2012 https://www.youtube.com/watch?v=tfA_oq6DlwA  C1 Gesamtkonzept: Die Bühne wird als Gesamtkonzept betrachtet. Sind Musiker/innen sichtbar, gibt es Backgroundtänzer/innen, eine Choreographie, ein Bühnenbild, Requisiten? Zusätzlich zum Videoclip wurde eine Live-Performance von „I sing a Liad für di“ analysiert, um die Interaktion zwischen Bühne und Publikum untersuchen zu können Der Live-Auftritt zu Andreas Gabaliers „I sing a Liad für di“ fand bei der „Volks-Rock’n’Roller“-Tournee 2012 in der Wiener Stadthalle statt. Andreas Gabalier trat bei seiner Konzerttournee 2012 mit folgender Besetzung auf: Schlagzeug, Trompete, Keyboard, Geige, Gitarre und Bass. Es gab Backgroundsängerinnen, die stellenweise Geige spielten. Eine offensichtliche Choreografie ist nicht existent. Auf der Bühne befinden sich die Musiker/innen und ihre Instrumente. Die Band bewegt sich ausgelassen auf der Bühne, tanzt und springt mit. Die Kleidung ist keinem Genre zuzuordnen. Die Musiker tragen legere Kleidung bestehend aus T-Shirt oder Hemden, Jeans, Mützen. Die Musikerinnen tragen knielange Dirndl. Es existiert eine bewusste geschlechtsspezifische Trennung zwischen der Inszenierung der männlichen und weiblichen Musiker. Gabalier trägt eine Lederhose und ein schwarzes Unterhemd, ein Gilet und eine Sonnenbrille. Zusätzlich ist das aus dem Musikvideoclip bekannte weiß-rot-karierte Tuch um sein Handgelenk gewickelt. Das Styling (Make Up und Frisur) entspricht den Konventionen des Stilfelds „Rock/Pop Musik“. Im Laufe der Performance zieht Gabalier das Gilet aus, wird durch diese Aktion kurzzeitig zum

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Rockstar. Ein weiteres Element dieses Stilmixes ist das Geweih, das auf dem Standmikrofon fixiert ist. Abbildung 51: Andreas Gabalier auf der Verlängerung der Bühne im Publikumsraum.

Quelle: Live-Auftritt in der Wiener Stadthalle 4’52’’.

 C2 Technik: Die Technik – als Teil der Bühne – ist ein weiterer Aspekt: das audiovisuelle Konzept, der Ton, das Licht. Die Bühne ist während des Auftritts in gelbes Licht getaucht. Sie hat eine Erweiterung in den Publikumsraum. Auf dieser geht Gabalier auf und ab. Diese bauliche Maßnahme ist rot-weiß kariert, genau wie ein Teil der Bühnenwand.  C3 Bühne / Publikum: Existiert Interaktion zwischen Bühne und Publikum? Welche Regeln und Konventionen gelten für das Publikum bezugnehmend auf das Stilfeld? Gibt es Bestuhlung, darf getanzt werden, herrscht Stille, darf gesprochen/mitgesungen werden? Das Publikum befindet sich eindeutig in der Situation eines Rockkonzerts. Es steht, es darf getanzt und mitgesungen werden. Besonders ist, dass viele Besucher/innen Dirndl oder Lederhosen tragen. Bereits vor Beginn des Songs, der als Zugabe gespielt wurde, bemerkt Andreas Gabalier: „Das ist das Lied, das mir so viele Türen geöffnet hat.“ Diese Worte animieren das Publikum und es erklingen Jubelschreie. Er singt den Refrain des Songs, lässt das Publikum diesen mit nur Instrumentalbegleitung wiederholen. Das Publikum tanzt, Menschen heben die Hände. Der Sänger agiert weiter mit dem Publikum, bittet die Frauen alleine zu

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singen „So laut dürft ihr jetzt schreien, wie ihr normal nicht schreien dürft, aber daheim manchmal trotzdem tut“. Die Jubelschreie reißen nicht ab. Danach sind die Männer in ihren „speckigen und kernigen Lederhosen“ an der Reihe. Gabalier bedankt sich und beginnt den eigentlichen Song zu singen. Der Sänger tanzt zusätzlich auf der Bühne. „I hob mi vaknoit in die“ wird zu „i hob mi vaknoit in die Stadthalle Wien“. Das Publikum jubelt und applaudiert. Gabalier verbeugt sich mehrmals breitbeinig. Immer wenn er mit dem Oberkörper in die Höhe geht, macht das Publikum eine Welle. Ein Trompetensolo setzt ein. Gabalier agiert weiter mit dem Publikum und wirft sein Gilet in die Menge. Am Ende des Solos stellt Gabalier den Trompeter und Schlagzeuger vor. Das Mikrofon mit dem Hirschgeweih wird Teil der Performance. Gabalier geht mit diesem auf und ab, singt hinein. Am Ende des Liedes hebt der Sänger das Mikrofon mehrmals in die Höhe. Abbildung 52: Andreas Gabalier geht auf der Verlängerung der Bühne auf und ab, während er singt. Im Hintergrund das tobende Publikum.

Quelle: Live-Auftritt in der Wiener Stadthalle 6’03’’.

Die Band tanzt ausgelassen auf der Bühne mit. Während der gesamten Performance springt das Publikum im Takt mit. Einige Zuseher/innen klatschen mit erhobenen Händen zum Takt des Songs. Gabalier gelingt es bei diesem LiveAuftritt ständig in Kontakt mit dem Publikum zu stehen. Man sieht immer wieder Menschen, die mit ihren Smartphones mitfilmen. Eine Frau telefoniert und hält dann das Mobiltelefon in die Menge Richtung Bühne. Der Song ist zu Ende und das Publikum bedankt sich mit tosendem Applaus und Pfeifen. Die Konzertsituation entspricht einem Rockkonzert, die optische Inszenierung Gabaliers und seiner Fans erinnert jedoch an eine Schlagershow.

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D Zusammenfassende Interpretation  D1 Kulturen/Erfahrungswelten Gabalier schafft im Musikvideoclip und in der Live-Performance ein musikalisches und visuelles Crossover. Er bewegt sich in Lederhose und mit Akkordeon im urbanen Raum. Der Live-Auftritt in der Wiener Stadthalle wird von einer Vielzahl von Menschen in Tracht besucht. Ein Künstler, der optisch und musikalisch Rock und Schlager vereint ermutigt sein Publikum sich dieser Inszenierung anzupassen.  D2 Musikstile „I sing a Liad für di“ kann als Mischung von Polka, Latin und Funk charakterisiert werden. Gesungen wird der Song in österreichischer Umgangssprache/Szenesprache, instrumental von Akkordeon, Trompete, Schlagzeug, Geige, Gitarre und Bass begleitet. Das Lied ist ein Crossover der Stilfelder „Schlager/volkstümliche Musik“ und „Rock/Pop Musik“.  D3 Performance Stil Gabalier führt in seiner Live-Performance fast durchgehend Publikumsanimation in verschiedenen Varianten durch. Er bewegt sich auf der weitläufigen Bühne, interagiert immer wieder direkt mit dem Publikum, das mittanzt und mitsingt. Die Grenzen zwischen Schlager-Event und Rockkonzert verschwimmen bei Gabaliers Live-Auftritt.  D4 WAS konstituiert der Interpret/ die Interpretin in seiner/ ihrer Performance kulturell? Andreas Gabalier ist im Musikvideoclip beinahe omnipräsent. Die verschwommenen close-ups auf das Gesicht der gesungenen Frau im Musikvideoclip deuten auf die Präsenz einer zweiten Figur im Video hin, deren Anwesenheit aber nicht von Bedeutung ist. Es erfolgt eine Re-Installierung traditioneller Geschlechterverhältnisse. Es werden traditionelle Elemente alpiner Volkskultur aktualisiert. Konservativismus und Hedonismus gehen eine neue Verbindung ein.  D5 WIE macht sie/er das (in Bezug auf die Konventionen des Stilfeldes)?

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Die Konventionen des Schlagers finden stimmlich, in der musikalischen Besetzung und der öffentlichen Inszenierung ihren Platz. Bei der Analyse weisen Elemente, wie das gelbe T-Shirt oder eine Sonnenbrille, auf eine „Aktualisierung“ der traditionellen Inszenierung hin. Gabalier setzt bewusst Elemente der Popkultur in seinem Auftreten ein. Abbildung 53: Einsatz von traditionellen und modernen Elementen.

Quelle: Musikvideoclip „I sing a Liad für di“ 0’04’’.

Das Musikvideo erzählt die Geschichte eines Mannes, der in Lederhosen und mit Akkordeon, durch eine Stadt marschiert und ein „Engerl“ besingt. Dieses Begehren existiert nur in seiner Vorstellung, wie das Musikvideo gegen Ende enthüllt. Der Song zeichnet sich durch die Verwendung christlicher Bilder und Metaphern (Engerl, Teuferl, Himmel, Sternderl) aus.  D6 Wie und in welcher Form finden Übersetzungen (Translationen) statt? Der Traum von einer intimen Begegnung wird in einen Song übersetzt. Der Song des „Volks-Rock’n’Rollers“ bietet Projektionsflächen für ein Massenpublikum und animiert die Fans, Teil einer konservativ-hedonistischen Kultur zu werden.  D7 Ergebnisse der Analyse des Aufführungsrituals Als Vertreter des Nachwuchses dieses Stilfelds „Schlager/volkstümliche Musik“ schuf Gabalier als Volks-Rock’n’Roller eine kommerziell erfolgreiche Figur, die

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Schlager mit Rock vereint. Das Publikum wird in die Situation eines ruralen Rockkonzerts versetzt. Es steht größtenteils in Tracht bekleidet in einer Konzerthalle und darf tanzen und mitsingen. Die Konzertsituation kann eindeutig als Animationsritual beschrieben werden.

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4A) CHRISTIAN MUTHSPIEL 4 FEATURING STEVE SWALLOW: „TEARS OF LAUGHTER“ A Analyse des audiovisuellen Produkts  A1 Faktische Ebene: Titel des Musikstücks / Datum der Aufführung bzw. der Veröffentlichung des Musikvideos Der Auftritt von Christian Muthspiel 4 featuring Steve Swallow, bei dem das Stück „TEARS OF LAUGHTER“ aus dem Album „Seaven Teares – a tribute to John Dowland“ performt wurde, fand im Rahmen des Jazzfest Saalfelden 2012 am 23. August 2012 um 21:3020 statt. Der Clip dauert 4’22’’.  A2 Personelle Ebene: Name des/r Interpret/in, oder der Gruppe der Interpret/innen sowie deren Geschlecht, Alter, Herkunft und kultureller Hintergrund; Verhältnis Autor/innen zu Interpret/innen Die Formation Christian Muthspiel 4 featuring Steve Swallow setzt sich aus männlichen Musikern aus Österreich, der Schweiz, Frankreich und der USA zusammen. Die Musiker sind um die 50 Jahre alt, Steve Swallow ist bereits 75. Das Quartett beschäftigt sich mit der Musik von John Dowland (1563-1626), einem Komponisten des elisabethanischen Zeitalters, und übersetzt diese in die Sprache des Jazz. Alle Kompositionen dieses Programms sind von dem Instrumentalzyklus „Lachrimae, or Seaven Teares“ inspiriert. Das Stück ist folgendermaßen besetzt: Christian Muthspiel (Posaune/Komposition), Matthieu Michel (Trompete), Franck Tortiller (Vibraphon) und Steve Swallow (E-Bass).  A3 Musikalische Ebene: Das Musikstück, seine Form und Besetzung, Noten, Umgang mit Genrekonventionen: Bestätigung / Überschreitung (Crossover) Das Musikstück entspricht in seiner Form und Besetzung den Kriterien des Stilfelds „Jazz/improvisierte Musik“. Außergewöhnlich ist, dass ein Stück des elisabethanischen Komponisten John Dowland von Christian Muthspiel in die musikalische Sprache des Jazz übersetzt wird. Das Stück ist mit Posaune, Trompete, Vibraphon und E-Bass besetzt.

20 Website des Künstlers Christian Muthspiel. Schedule 2012.

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 A4 Literarische Ebene: Titel / Lyrics, Analyse des Songtexts / des Librettos (Bedeutungsmöglichkeiten) „Lachrimae, or Seaven Teares“ für 5 Instrumentalstimmen und Laute von John Dowland (1563-1626) wurde 1604 publiziert und enthält neben den sieben „Tränen“ auch noch 14 andere Kompositionen. Die Titel der sieben Aspekte von Tränen („Lachrimae antiquae“, Lachrimae antiquae novae“, „Lachrimae gementes“, „Lachrimae tristes“, „Lachrimae coactae“, „Lachrimae amantis“ und „Lachrimae verae“) werden von Christian Muthspiel in neue Titel transformiert: „Tears of Love“, „Happy Tears“, „Tears of Joy“, „Bitter Tears“, „Dancing Tears“, „Crocodile Tears“, „Tears of a Clown“, „Frozen Tears“, „Tears of Laughter“ und „Endless Tears“. Es konnten keine Hinweise auf literarische Vorlagen gefunden werden.  A5 Räumliche Ebene: Schauplatz des Auftritts, die Situation in der dieser stattfindet (Live-Auftritt / Musikvideoclip) Der Auftritt findet im Rahmen des Jazzfests Saalfelden statt. Die vier Musiker stehen auf der Bühne, der Bühnenraum ist schwarz gehalten. Posaune und Trompete befinden sich im Vordergrund, der E-Bass in der zweiten Reihe, neben dem E-Bass befindet sich das Vibraphon.  A6 Performative Ebene: Analyse der Filmsequenz: Figuren, Bewegungsabläufe (statisch / dynamisch), Kameraeinstellungen, Beleuchtung, ästhetische Aspekte, u.a. Die Aufnahme beginnt mit einem long shot, der das Quartett zeigt. Die Musiker auf der Bühne sind beleuchtet, der bestuhlte Publikumsraum ist dunkel. Die Musik beginnt direkt mit dem Beginn des Videos. Bei 0’07’ erfolgt eine Einblendung, die Band und Namen des Musikstücks beschreibt: „‘Tears of Laughter. Christian Muthspiel 4. Seaven Teares – a tribute to John Dowland‘ live at Jazzfestival Saalfelden. Christian Muthspiel (Posaune/Komposition), Matthieu Michel (Trompete), Franck Tortiller (Vibraphone) und Steve Swallow (E-Bass). www.christianmuthspiel.com„. E-Bass und Vibraphon beginnen zu spielen. Christian Muthspiel bewegt sich stehend im Takt zur Musik. Alle Musiker spielen mit Notenbehelf. Bei 0’10’’ setzen auch Trompete und Posaune ein. Das Quartett spielt 18 Sekunden gemeinsam, bei 0’28’’ erfolgt eine kurze Pause. Swallow dreht den Kopf zu Tortiller, er wartet auf dessen Einsatz. Das Tempo wird schneller. Bei 0’41’’

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setzt die Posaune kurz aus. Muthspiel dreht diese zur linken Seite des Kopfes, wippt mit dem Takt mit, spielt dann wieder weiter. Dies wiederholt sich bei 0’45’’. Dann erfolgen ein paar improvisierte Töne. Die Kamera zoomt auf die Trompete von Matthieu Michel. Das Instrument ist in einem head and shoulder close-up zu sehen. Die Kamera zoomt nach sieben Sekunden zurück, bewegt sich in einem medium close-up an Matthieu Michel vorbei, hin zu Christian Muthspiel. Dieser bleibt für weitere sieben Sekunden im Fokus der Kamera. Durch die Einstellungsgröße medium close-up werden seine Hände und sein Gesicht beim Spielen der Posaune fokussiert. Die Kamera zoomt weiter aus. Das Quartett ist in seiner Gesamtheit in einem long shot zu sehen. Ab Minute 1’12’’ pausiert die Trompete. Matthieu Michel sitzt ruhig am Stuhl, reinigt das Ventil der Trompete. Die Kamera zoomt bei 1’26’’ auf Franck Tortiller und Steve Swallow (medium long shot). Beide Musiker bewegen die Oberkörper zum Takt der Musik. Trotz der Größe des Kontrabasses führt Swallow rhythmische Körperbewegungen aus. Bei 1’25’’ geht jemand vom Publikum auf seinen Platz zu, auf Grund der Kameraeinstellung ist nur ein kleiner Teil des Kopfes zu sehen, der durch das Bild geht. Minute 1’36’’ wechselt die Einstellungsgröße wieder in den long shot. Nach fünf Sekunden erfolgt ein Zoom in (head and shoulder close-up) auf Swallow. Diese Einstellung demonstriert, dass der Musiker mit geschlossenen Augen spielt. Der Mund ist leicht geöffnet, der Oberkörper wippt zum Takt. Die Kamera beginnt mit dem Zoom-out. Gleichzeitig fängt der Trompeter Matthieu Michel an zu spielen. Swallow öffnet die Augen, schaut auf das Notenpult, dann auf den Hals des E-Bass. Die Kamera fokussiert nun Swallow und Michel (medium long shot). Diese Einstellungsgröße zeigt, dass Swallow immer wieder auf das Notenblatt schaut, während Michel frei spielt. Bei Minute 2’00’’ zoomt die Kamera zurück in die ursprüngliche Einstellungsgröße (long shot). Die Trompete wird nicht gespielt. Michel wippt ruhig mit dem Kopf. Ein Schnitt erfolgt bei Minute 2’08’’ auf Christian Muthspiel. Im head and shoulder close-up ist der Posaunist beim Spielen zu beobachten. Zusätzlich zu den drei spielenden Instrumenten (Posaune, Vibraphon und E-Bass) ist auch leise improvisierter Gesang zu hören. Bei Minute 2’15 erfolgt der Schnitt zurück in einen long shot. Das schneller werdende Tempo ist vor allen an der Spieltechnik und den schneller werdenden Bewegungen des VibraphonSpielers Franck Tortiller zu erkennen. Er spielt ekstatisch sein Instrument. Christian Muthspiels Bewegungen werden nun zunehmend schneller. Bei Minute 2’32’’ wechselt der Schnitt zu Tortiller (head and shoulder close-up). Diese Einstellungsgröße zeigt die Quelle des improvisierten Gesangs. Dieser geht von Tortiller aus. Die Kamera zoomt aus in einen medium long shot und bewegt sich

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über Swallow und Michel zu Muthspiel. Die Trompete setzt genau während der Kamerafahrt ein. Die Kamera verharrt ungefähr zehn Sekunden in dieser Position. Hierdurch wird das Publikum sichtbar. Einige Köpfe bewegen sich zum Takt der Musik. Das Tempo wird in der letzten Minute der Komposition wieder langsamer. Auch die Bewegungen von Muthspiel und Tortiller verlangsamen sich. Bei Minute 3’26’’ erfolgt ein Schnitt auf Muthspiel (head and shoulder close-up). Er bewegt sich mit dem ganzen Körper im Takt der Musik. Die Kamera schwenkt von Muthspiel weg über Michel zu Swallow zu Tortiller. Das Stück endet. Im Publikum ist nach dem Schlussakkord Applaus und Jubel zu hören. Muthspiel springt in die Luft und streckt die Hand zu seinen Kollegen aus. Swallow stellt den Bass ab und nickt lächelnd in Richtung Muthspiel. Michel steht auf und dreht sich lächelnd zu Muthspiel. Tortiller dreht sich zu Swallow und flüstert ihm etwas zu. Der Schnitt fokussiert Muthspiel (medium close-up), der etwas ruft. Die Kamera schwenkt zu Swallow und Tortiller, die sich umarmen. Der Applaus und Jubelrufe tönen weiter. Swallow nimmt die Brille ab und legt sie auf das Pult. Er verbeugt sich hinter dem Vibraphone und deutet Richtung Muthspiel. Tortiller geht währenddessen nach vor, um auf einer Ebene mit Michel und Muthspiel zu stehen. Michel applaudiert als einziger der Musiker. Die Kamera schwenkt zurück zu Muthspiel, der die Hand hebt. Die Aufnahme endet mit einer Abblende. Abbildung 54: Muthspiels Reaktion auf den Schlussapplaus: Präsentation der Mitmusiker.

Quelle: Live-Auftritt beim Jazzfest Saalfelden 3’52’’.

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 A7 Narrative Ebene: Plot des Videoclips wird kurz zusammengefasst bzw. nacherzählt, Zusammenwirken von Musik, Text und Bild Die Live-Performance beim Jazz-Festival Saalfelden 2012 zeigt die vier Musiker auf der Bühne. Sie performen ein Stück von John Dowland, das von Christian Muthspiel in eine Jazz-Komposition transformiert wurde. Die Musiker spielen hauptsächlich gleichzeitig, in diesem Stück sind nur kurze Soloperformances vorgesehen. Die Kamera setzt den Fokus auf einzelne Musiker während des Auftritts. Der Publikumsraum ist abgedunkelt. Das Publikum sitzt, es sind keine Geräusche zu hören. Als das Stück endet, sind Applaus und Jubelrufe aus dem Zuschauerraum zu hören, das Quartett steht auf und verbeugt sich.  A8 Kulturelle Ebene: Stilfelderbezug, Verhältnis von Text-, Bild- und Musikebene (Homologien), entstehen „Zwischenräume“ (Third Spaces)? Homologien Die Kamera ist ausschließlich auf das Geschehen auf der Bühne fokussiert, die Aktionen und Intraktionen der Musiker werden gezeigt. Daher kann von einer Homologie zwischen Musik und Bild gesprochen werden. Eine verbale Ebene ist nicht vorhanden. Third Spaces Widerstand gegen gesellschaftliche Verhältnisse ist zunächst, nicht zu beobachten, die Kunst selbst dient als Spiegel menschlicher Gefühle (Arten von Tränen). Der Jazz wird zur Spielwiese der Aneignung von unterschiedlichem Material für die Entfaltung von Improvisationsvermögen. Die Verwendung von polyphonen Strukturen der Zeit um 1600 und die Art der Kameraführung und Bühnenbeleuchtung bieten der Jazzperformance einen kunstmusikgemäßen Rahmen. Insofern dienen Anleihen aus dem Stilfeld „Klassik/zeitgenössische Musik“ dazu den Kunststatus des Stilfeldes „Jazz/improvisierte Musik“ weiter zu etablieren und gegen eine mindere Wertschätzung, die in der Herkunft des Jazz ihre Wurzel hat, Stellung zu beziehen.

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B Figurenanalyse  B1 Rolle: Welche Rolle nimmt der/die Interpret/in in der Szene ein? Wie definiert sich die Funktion / der Status des/der Künstlers/in im Rahmen des Auftritts? Einfache oder komplexe Figurenkonstruktion? Christian Muthspiel (Posaune) ist Bandleader und Komponist des performten Stückes. Er steht in der Aufstellung vom Publikum aus gesehen links vorne auf der Bühne. Der Trompeter Matthieu Michel sitzt vorne mittig auf der Bühne. Steve Swallow (E-Bass) und Franck Tortiller (Vibraphone) stehen versetzt hinten rechts auf der Bühne.  B2 Inszenierung: optische Inszenierung der Figur: Kostüm / Make Up / Frisur / figurbezogene Requisite etc. Das Bühnenoutfit des Quartetts ist bewusst schlicht gehalten. Christian Muthspiel trägt ein graues, langärmliges Hemd und eine schwarze Hose. Steve Swallow hat ein schwarzes Kurzarmhemd und eine schwarze Hose an. Franck Tortiller und Matthieu Michel tragen beide auberginefarbene Hemden und Hosen. Die Musiker tragen kein Make Up, die Frisuren weisen keine Besonderheiten auf. Abbildung 55: Optische Inszenierung der Musiker.

Quelle: Live-Auftritt beim Jazzfest Saalfelden 0’44’’.

 B3 Bewegung: Bewegungsrepertoire, Mimik / Gestik und wenn es sich um ein Lied handelt die Stimme / die Gesangslinie

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Das Bewegungsrepertoire der vier Musiker ist vielfältig. Muthspiel und Tortiller bieten der Musik viel Platz in ihren Bewegungen. Matthieu Michel performt das Stück sitzend, er wippt nur mit dem Kopf. Steve Swallow wiederum steht bei der Performance, er bewegt den Oberkörper zum Takt der Musik. Wird das Tempo des Stücks schneller, passen sich die Bewegungen der Musiker an. Mimik und Gestik werden während des Musizierens nicht als Stilmittel eingesetzt, erst beim Applaus.  B4 Geschlecht: Genderspezifische Darstellungen sowie Verkörperungen, Grad der Bedeutung / Dekonstruktion von Geschlecht Das Quartett besteht aus vier Männern, der dunkle Publikumsraum wird von hinten gefilmt, die Personen und ihre geschlechtliche Zuordnung sind nicht erkennbar. Frauen existieren in diesem Quartett nicht, was auf die allgemeine Unterrepräsentanz von Frauen im Jazz verweist. Die Farben der Kleidung (schwarz, grau, aubergine) entsprechen männlichen Klischeevorstellungen.  B5 Zitate: Bezüge zu anderen Videoclips, Songs, Personen, kulturellen oder kulturgeschichtlichen Entitäten Der Clip entspricht den Konventionen der Dokumentation von Jazzkonzerten: der Fokus liegt aussschließlich auf den Musikern und ihren Instrumenten. Das Repertoire von John Dowland erfreut sich neuerdings als beliebte Quelle für Neuinterpretationen (z.B. Sting „Songs from the Labyrinth“ 2006).  B6 „Die Uhr der Figur“ nach Jens Eder (Eder 2004): o B6a „Die Figur als Artefakt“ – Gestaltung, Inszenierung der Figur Der Name des Quartetts Christian Muthspiel 4 featuring Steve Swallow verdeutlich bereits Muthspiels Position im Quartett. Er ist der Bandleader, die Formation trägt seinen Namen. Dennoch wird die Figur Christian Muthspiel unscheinbar inszeniert. o

B6b „Die Figur als fiktives Wesen“ – Körper, Persönlichkeit, Sozialität der Figur

Christian Muthspiel ist während der Performance nicht als Bandleader und Komponist erkennbar. Er ist am Rand der Bühne – nicht mittig, wie man es er-

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warten würde – positioniert. Seine Kleidung ist zwar unauffällig, Muthspiel trägt allerdings als einziger ein helles Oberhemd und unterscheidet sich somit optisch von seinen Mitmusikern. Erst beim Applaus ist er anhand seiner Reaktion als Bandleader erkennbar. Er springt in die Luft, deutet auf seine Kollegen. o

B6c „Die Figur als Symbol“ – indirekte Bedeutung, Symbolik/Metapher

Das Quartett ist als Quelle der Musik optisch wahrnehmbar. Christian Muthspiel steht als erfolgreicher Vertreter für den Bereich „Jazz/improvisierte Musik“ auf der Bühne, genau wie seine Bandkollegen, insbesondere Steve Swallow. Swallow wechselte als einer der ersten Bassisten nach Monk Montgomery Ende der 1960er Jahre vom Kontrabass zur Bassgitarre. Er setzte mit seiner Technik entscheidende Maßstäbe für den Einfluss der Bassgitarre und des E-Basses in der improvisierten Musik. Erfolgreiche Jazzmusiker stehen für Improvisationsvermögen, Kreativität und Flexibilität. o

B6d „Die Figur als Symptom“ – kommunikative Ursache/Wirkung, soziokultureller Kontext

Die Wertschätzung von Personen mit den genannten Eigenschaften korrespondiert mit Persönlichkeitsmerkmalen, die heute im Wirtschaftsleben nachgefragt werden. Trotzdem hat dies bislang noch nicht zur Beseitigung prekärer Einkommensverhältnisse von Jazzmusiker/innen geführt. C Bühne und Publikum  C1 Gesamtkonzept: Die Bühne wird als Gesamtkonzept betrachtet. Sind Musiker/innen sichtbar, gibt es Backgroundtänzer/innen, eine Choreographie, ein Bühnenbild, Requisiten? Auf der Bühne befinden sich nur die vier Musiker und ihre Instrumente. Zusätzlich stehen noch Notenständer, Mikrofonständer auf dieser, weiters ein Klavier und ein Keyboard, die für die Performance dieses Stücks nicht verwendet werden. Der Bühnenraum ist in schwarz gehalten, die Musiker werden beleuchtet. Es gibt keine Choreographie. Die Musiker bewegen Kopf und Körper zum Takt der Musik. Dies wirkt improvisiert und nicht einstudiert.

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Abbildung 56: Das Bühnenkonzept (Ausschnitt).

Quelle: Live-Auftritt beim Jazzfest Saalfelden 2’55’’.

 C2 Technik: Die Technik – als Teil der Bühne – ist ein weiterer Aspekt: das audiovisuelle Konzept, der Ton, das Licht. Der Auftritt findet im Rahmen des Jazzfest Saalfelden 2012 in einem Saal statt. Die Bühne ist beleuchtet, der Publikumsraum dunkel.  C3 Bühne / Publikum: Existiert Interaktion zwischen Bühne und Publikum? Welche Regeln und Konventionen gelten für das Publikum bezugnehmend auf das Stilfeld? Gibt es Bestuhlung, darf getanzt werden, herrscht Stille, darf gesprochen/mitgesungen werden? Interaktion zwischen Bühne und Publikum existiert erst während des Schlussapplauses. Während der Performance verhält sich das Publikum ruhig, der Publikumsraum wird nicht beleuchtet, die Menschen sitzen auf Stühlen. Das Publikum zeigt erst nach Ende der Performance Reaktion, verhält sich während dem Stück still, vergleichbar mit den Konventionen, die während eines klassischen Konzerts gelten. Als das Stück endet, setzt tosender Applaus ein. Muthspiels Reaktion auf diesen ist ein Luftsprung. Er deutet zusätzlich auf seine Bandkollegen. Der tosende Applaus reißt nicht ab. Am Ende der Aufnahme hebt Muthspiel die Hand dankend in Richtung Konzertbesucher/innen. Es gibt keinen Applaus zwischendurch für besonders gelungene Solis wie es im Stilfeld „Jazz/improvisierte Musik“ durchaus möglich wäre. Allerdings folgen Ensemblepassagen und eher kurze Solis dicht aufeinander.

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D Zusammenfassende Interpretation  D1 Kulturen/Erfahrungswelten Christian Muthspiel übersetzt die Kompositionen John Dowland (1563-1626) in die Sprache des Jazz. Der Auftritt ist eine Hommage an den elisabethanischen Komponisten.  D2 Musikstile Das Musikstück entspricht zwar in seiner Form und Besetzung (Posaune, Trompete, Vibraphon und E-Bass) den Kriterien des Stilfelds „Jazz/improvisierte Musik“, als Vorlage dient allerdings ein Stück des elisabethanischen Komponisten John Dowland. Christian Muthspiel führt eine Transformation von musikalischen Strukturen (Harmonie, Polyphonie) in Konventionen des Jazz (Thema – Solis – Thema) durch.  D3 Performance Stil Alle Musiker des Quartetts musizieren mit Notenbehelf vor schwarzem Hintergrund. Hierbei ist zwischen starrer und dynamischer Performance zu unterscheiden. Besonders Christian Muthspiel und Franck Tortiller geben der Musik mehr Raum in ihrem Bewegungsrepertoire als die anderen beiden Musiker (E-Bass, stehend und Trompete, sitzend gespielt).

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Abbildung 57: Beispiel für den statischen und den dynamischen Performance-Stil der verschiedenen Musiker.

Quelle: Live-Auftritt beim Jazzfest Saalfelden 0’44’’.

 D4 WAS konstituiert der Interpret/ die Interpretin in seiner/ ihrer Performance kulturell? Christian Muthspiel 4 featuring Steve Swallow ist ein internationales Quartett bestehend aus erfolgreichen Musikern. Diese Annahme bestätigt Publikumsreaktion beim Jazzfest Saalfelden. Die Auseinandersetzung mit einem elisabethanischen Komponisten im Rahmen des Programmzyklus verweist auf den Stellenwert historisch-höfischer Renaissancemusik im musikalischen Werk von Christian Muthspiel. Mit der Bearbeitung von Dowlands Kompositionen stellt Muthspiel den Anspruch an die Wahrnehmung seiner Musik als „Kunstform“.  D5 WIE macht sie/er das (in Bezug auf die Konventionen des Stilfeldes)? Das Quartett passt sich an die Konventionen des klassischen Stilfeldes an. Die Kleidung ist dezent, elegant, die visuelle Inszenierung minimalisiert. Das Publikum sitzt im abgedunkelten Raum, es muss Stille herrschen. Das Quartett befindet sich auf einer Bühne. Die Annäherung das elitäre Kulturmustert wird durch das Sujet John Dowland getätigt. Christian Muthspiels übersetzt dessen Komposition in die Sprache des Jazz mit Quartettbesetzung: tb, tp, vib, e-b. Die Inszenierung ist an eine Kunstmusik-Performance angelehnt. Der Fokus liegt auf dem musikalischen Geschehen.

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 D6 Wie und in welcher Form finden Übersetzungen (Translationen) statt? Bei der Performance von „Christian Muthspiel 4 featuring Steve Swallow“ finden Übersetzungen statt. Ein elisabethanisches Musikstück wird in die Stilmittel des Jazz transformiert. Muthspiel schreibt im Pressetext zu dem Programmzyklus, dass er sich schon seit seiner Kindheit mit der Musik Dowlands beschäftigt hat. Er zeigt Parallelen zwischen dessen Musik und dem Jazz auf. „Knapp vierhundert Jahre liegen zwischen John Dowlands Geburt und der Mitte des 20. Jahrhunderts, in welcher der Jazz seine wohl vitalste und revolutionärste Ära erlebte. Beschreibt man einige der wichtigsten Merkmale der Musik der Renaissance und des Jazz, tritt eine Reihe von Parallelen zutage: Die oftmals freie Wahl der Instrumente; die Skizzierung eines harmonischen Verlaufes, dessen Ausformung durch Improvisation mit musikalischem Sinn erfüllt werden muss; der daraus resultierende Freiraum für den Interpreten, welcher dem Werk die entscheidenden Impulse erst im Moment der Aufführung verleiht; die Möglichkeit, Stimmen hinzuzufügen oder wegzulassen usw..“

21

Die Musik Dowlands dürfte zu dessen Lebzeiten von Musikern so verschiedenartig gespielt worden sein, wie Jazzstandards seit dem 20. Jahrhundert individuell interpretiert werden. „Meine Metamorphosen bleiben dabei sehr nahe am thematischen Material des Originals, um die sehr spezifische Linienführung und daraus resultierende Harmonik als grundlegende gestalterische Elemente weiter zu verwenden, umzudeuten, in andere Kontexte zu stellen.“22 Muthspiel betont die Bedeutung des individuellen Stils seiner Mitmusiker für dieses Projekt. Dadurch konnte Muthspiels Deutung von Dowlands Werk erst in die Form des Jazz übersetzt werden.  D7 Ergebnisse der Analyse des Aufführungsrituals Der Auftritt von Christian Muthspiel 4 featuring Steve Swallow im Rahmen des Jazzfest Saalfelden 2012 entspricht einer Performance des Stilfelds „Jazz/improvisierte Musik“, angelehnt an Konventionen der Klassik (schwarzer, beleuchteter Bühnenraum mit Musikern, Notenbehelf und Instrumente, bestuhlter nicht beleuchteter Publikumsraum). Am Ende des Stücks setzt tosender Applaus ein.

21 Website des Künstlers Christian Muthspiel. Pressetext lang. 22 Ebenda.

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4B) FATIMA SPAR & THE FREEDOM FRIES: „TRUST“ A Analyse des audiovisuellen Produkts  A1 Faktische Ebene: Titel des Musikstücks / Datum der Aufführung bzw. der Veröffentlichung des Musikvideos Das Video „Trust“ von Fatima Spar and the Freedom Fries wurde im Rahmen des Videoprojekts „,Long Way From Home‘ Istanbul Acoustic Sessions“ am 15. April 2011 veröffentlicht. Das Projekt „,Long Way From Home‘ Istanbul Acoustic Sessions“ dokumentiert Performances ausgewählter, ausländischer Musiker/innen, die Konzerte in Istanbul spielen. Der Song „Trust“ ist auf dem gleichnamigen Album zu finden, das am 3. Oktober 2008 erschienen ist.  A2 Personelle Ebene: Name des/r Interpret/in, oder der Gruppe der Interpret/innen sowie deren Geschlecht, Alter, Herkunft und kultureller Hintergrund; Verhältnis Autor/innen zu Interpret/innen Fatima Spar ist der Künstlername der 1977 in Hohenems geborenen, türkischstämmigen Vorarlbergerin Nihal Sentürkal. Die Jazzmusikerin lebt in Wien. Sie war „Botschafterin des ‚Europäischen Jahres des Interkulturellen Dialogs 2008‘“23. Der Künstlername verbindet religiöse Konnotationen (Fatima, Tochter des Propheten Mohammed) mit alltäglichen Lebensrealitäten (Spar, Name einer in Österreich weitverbreiteten Supermarkt-Kette). Die Band „Fatima Spar and The Freedom Fries“ besteht aus wechselnden Musiker/innen verschiedener Herkunft. Aktuelle und ehemalige Mitglieder der Band sind Fatima Spar (Gesang), Alexander Wladigeroff (Trompete/Flügelhorn), Andrej Prozorov (Saxophon), Miloš Todorovski (Akkordeon), Philipp Moosbrugger (Bass), Erwin Schober (Schlagzeug), Phil Yaeger (Posaune), Barry O’ Mahony (Gitarre), Saša Nikolić (Schlagzeug), Florian Wagner (Gitarre), Christian Grobauer (Schlagzeug) und Florian Fennes (Saxophone). Die Musiker/innen sind zwischen 30 und 45 Jahre alt. Der Song „Trust“ wurde von Philipp Moosbrugger, Fatima Spar und Miloš Todorovski komponiert, der Text stammt von Fatima Spar. Autor/innen und Interpret/innen stimmen überein.

23 o.A. Porträt: Fatima Spar and The Freedom Fries, o.S..

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 A3 Musikalische Ebene: Das Musikstück, seine Form und Besetzung, Noten, Umgang mit Genrekonventionen: Bestätigung / Überschreitung (Crossover) Der Stil von „Fatima Spar and the Freedom Fries“ vereint die musikalische und kulturelle Herkunft der Musikerin und ihrer Bandkollegen. „Ohne Scheuklappen zeigt sich dieser überaus offen gegenüber unterschiedlichsten Genres. Mit einer unvergleichbaren Selbstverständlichkeit vereint die Musik Jazz, orientalisch angehauchten Pop, Elemente des Rock, Folklore, Swing und Balkan-Brass zu einem unwiderstehlichen Ganzen.“24 Diese Definition trifft auch auf den Song „Trust“ zu. Der Song ist folgendermaßen besetzt: Trompete, Akkordeon, Kontrabass, Posaune, Saxophon, Gitarre und Gesang. Er kann als Mischung von Jazz, Tango und Popsong beschrieben werden und zeigt ein Crossover zum Genre „World Music“. Nach einer kurzen Intro des Kontrabasses und einem Einzähler („un, dos, tres, cuatro“) beginnt das Akkordeon mit einem harmonischen Modell, das dem A-Teil dieses Tangos zu Grunde liegt: Fm Db Bbm C. Rasch steigen der Bass und zwei Gitarren, umfunktioniert als Rhythmusinstrumente, sowie die Bläser mit einem charakeristischen, rhythmisch-straffen Motiv ein. Es folgen erste und zweite Strophe (jeweils acht Takte), ergänzt durch ein viertaktiges Zwischenspiel des Basismodells. Daran schließt sich entsprechend der Tangoform ein lyrisch-expressiver B-Teil. In weiterer Folge werden A-Teil (dritte Strophe), B-Teil, Soli über den ATeil und die vierte Strophe (A-Teil) gebracht. Das Lied mündet in die zwölfmalige Wiederholung der Zeile „trust in me“ und endet nach Auflösung des Rhythmus in einer von der Sängerin per Luftsprung ausgelösten Schlussfermate.  A4 Literarische Ebene: Titel / Lyrics, Analyse des Songtexts / des Librettos (Bedeutungsmöglichkeiten) Lyrics „Trust“25 (Musik: Philipp Moosbrugger, Fatima Spar, Miloš Todorovski /Text: Fatima Spar) i would not like to be jesus nor the other great prophet himself

24 o.A. Poträt: Fatima Spar & Freedom Fries, o.S. 25 Spar, Fatima. Lyrics „Trust". http://www.freedomfries.at/lyrics/trust.pdf (Zugriff: Juni 2021).

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i do not trust in jesus nor the man whose name i do not dare to pronounce you preach life and immortality stay here with wide open doors the bright side of life you’ll always see but i do not believe in mankind i woo you come trust in me rely on me in your depths of despair i’ll be there you are gracious to the highest degree this goodness doesn’t cover me if my birth causes people’s agony that means their aggression does upset me i woo you come trust in me rely on me in your depths of despair i’ll be there some wish to see us beheaded for the faith we were born into’ condemned your lord has mercy upon us all but you hangmen face my scorn trust in me do you believe trust in me do you believe trust in me do you believe...

Die Erzählerin möchte weder Jesus noch der andere Prophet sein, dessen Namen sie nicht nennen darf. Denn sie glaubt an keinen der beiden Propheten. Hier wird indirekt auf die Religionen Christentum (Jesus) und Islam und den Propheten Mohammed verwiesen (erste Strophe). Die angesprochenen Propheten predigen vom Leben und der Unsterblichkeit, die Gotteshäuser stehen den Gläubigen of-

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fen. In Kirchen und Moscheen wird nur die Sonnenseite26 des Lebens gepredigt. Die Erzählerin hat den Glauben an die Menschheit verloren. Kritik an den Religionen Islam und Christentum wird verdeutlicht (zweite Strophe). Der Refrain (B-Teil) vermittelt den Versuch der Umwerbung. Die Erzählerin bietet sich den Religionen selbst als eine Art Über-Prophetin an. In sie kann vertraut werden, auf sie ist Verlass. In Momenten der Verzweiflung wird sie da sein. Die Kritik an den Religionen wird in der dritten Strophe fortgesetzt. Die angesprochenen Propheten sind im höchsten Maße gnädig, diese Güte kann die Erzählerin nicht vorweisen. Würde ihre Geburt den Menschen Qualen bereiten, würde die Aggression dieser Menschen sie bestürzen. Die Zeile „Some wish to see us beheaded“ (vierte Strophe) verweist möglicherweise auf Religionskonflikte, die Kriege auslösen können. Die Geburt eines Menschen und die daraus restultierende Religionszugehörigkeit machen diesen zu einem Verurteilten. Obwohl Gott sich gnädig gibt, werden seine irdischen Vertreter als zu verachtende Henker beschrieben. Dies ist Kritik am Märtyrertum und der Vielzahl von Toten durch brutalen Umgang mit Andersdenkenden und Glaubenskriege. Das Ende des Songs verstärkt durch Wiederholung der Worte „glaube“ und „vertraue“ die Aussage des Refrains: Der Glaube an die Prophetin wird den angesprochenen Religionen als heilbringend versprochen. Die Erzählerin des Songs stellt sich offen gegen die Weltreligionen Islam und Christentum. Sie kritisiert die zahlreichen Glaubenskriege und Todesopfer, die die Weltreligionen bereits einforderten. Gleichzeitig positioniert sie sich selbst polemisch als heilbringende Über-Prophetin.  A5 Räumliche Ebene: Schauplatz des Auftritts, die Situation in der dieser stattfindet (Live-Auftritt / Musikvideoclip) Der Musikvideoclip des Songs „Trust“ von Fatima Spar and the Freedom Fries wurde im Rahmen einer Accoustic Session in Istanbul aufgenommen. Das filmische Intro der Aufnahme wurde auf den Straßen Istanbuls gedreht, der Song im Hinterzimmer eines Theaters aufgezeichnet.  A6 Performative Ebene: Analyse der Filmsequenz: Figuren, Bewegungsabläufe (statisch / dynamisch), Kameraeinstellungen, Beleuchtung, ästhetische Aspekte, u.a.

26 Die Worte „the bright side of life“ könnten eine Anspielung auf Monty Pythons Song „Always Look on the Bright Side of Life“ der Monty Python Satire „Life of Brian“, die die Geschichte Jesus Christus parodiert, sein.

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Das Video beginnt mit einem Prolog: einer urbanen Geräuschkulisse. Schatten von Menschen, die durch eine Straße gehen, werden von der Kamera begleitet. Nach fünf Sekunden erfolgt die Einblendung „Long Way From Home. Istanbul Acoustic Sessesion“. Menschen bewegen sich fort und singen vor sich hin. Der Geräuschpegel hält an. Ein Kontrabass wird durch die Stadt getragen. Die Wege sind eng, auf den Straßen befinden sich viele Menschen. Eine definierte Gruppe von Menschen befindet sich im Fokus der Kamera. Bei 0’18’’ wird verdeutlicht, dass es sich um die Band Fatima Spar and the Freedom Fries handelt. Dies wird mit der Einblendung des Bandnamens bestätigt. Im Bildhintergrund ist ein Mann zu sehen, der den Kontrabass auf den Schultern trägt. Die Menschengruppe bewegt sich auf den Straßen weiter. Das Stadtbild erinnert an Istanbul, was der Name der Aufnahmessession bestätigt. Die Protagonist/innen gehen an Geschäften in einer Fußgängerzone vorbei. Dies wird in der Einstellungsgröße medium close-up dokumentiert. Es werden unverständliche Worte in die Kamera gesprochen. Die Gruppe verlässt die Straße und betritt einen Bazar. Links und recht sind Geschäftslokale, Kleidungsstücke, wie Schals und Hüte, werden präsentiert. Die Szene wechselt in einen Fahrstuhl. Der Bassist improvisiert am Kontrabass. In einer Spiegelung ist ein Mann mit Kamera zu sehen, der den Musiker dazu ermuntert, das Instrument zu spielen. Bei Minuten 1’28’’ erfolgt die Einblendung des Songtitels „TRUST“. Aus dem Off sind die Worte „un, dos, tres, cuatro“ zu hören, worauf der Song mit dem Akkordeon beginnt. Ein Schnittwechsel führt in einen kleinen Raum. In diesem befinden sich Sessel, auf denen die Musiker/innen sitzen. Die Bläser und das Akkordeon sind nebeneinander angeordnet. Hinter einem Beistelltisch befindet sich ein hohes Fenster. Dies lässt den Blick auf die Straße zu. Der Raum befindet sich vermutlich im 1. oder 2. Stock des Theaters. Auf der gegenüberliegenden Hausfassade ist eine türkische Flagge befestigt. Zusätzlich zum Akkordeon ist ein Bass zu hören. Die Quelle ist allerdings nicht zu sehen. Nach wenigen Sekunden setzen auch die Bläser und die Gitarre ein. Die Kamera schwenkt zur anderen Seite des Raumes. Die Sängerin Fatima Spar sitzt mit einem Megafon auf einem Stuhl. Sie kickt mit ihrem Fuß zum Takt der Musik. Ihre Haltung wirkt lässig und entspannt. Neben ihr sind die restlichen Musiker angeordnet. Es sind keine Notenständer, Notenblätter oder Textblätter zu sehen. Die Musiker und die Sängerin sind unterschiedlich gekleidet, alle tragen Alltagskleidung. Der Bassist trägt zusätzlich eine Sonnenbrille, obwohl die Aufnahme innen stattfindet. Fatima Spar beginnt in das Megafon zu singen. Während des Gesangsteils steht sie im Fokus der Kamera. Durch das Fenster sind immer wieder vorbeigehende Menschen zu sehen. Auf dem Beistelltisch vor dem Fenster steht ein Kerzenhalter bestückt mit Teelichtern. Bis zum Ende des Songs bei Minute 6:38

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sind keine weiteren Schauplätze zu sehen. Die Performance verweilt in der Szenerie einer Hinterzimmersituation, dokumentiert von der Kamera. Fatima Spar sieht während der ersten Strophe in die Kamera oder nach oben auf die Decke. „I would not like to be Jesus nor the other great prophet himself“. Während der Pausen des Megafon-Gesangs, schwenkt die Kamera immer wieder zu den Instrumentalisten. Die Kameraeinstellung variiert zwischen medium shot und medium close-up. Der Einsatz von medium close-ups fokussiert die Hände der Musiker, dokumentiert deren Spieltechnik. Durch das Megafon wird die Stimme der Sängerin so verfremdet, dass der Text weitgehend unverständlich bleibt. Zwischen Strophen und Refrain ist keine emotionale Steigerung zu hören oder zu sehen. Ab der vierten Strophe zeigt die Sängerin mehr Emotion in Mimik und Körperbewegung. Fatima Spar singt mit gebeugtem Oberkörper: „For the faith we were born into’ condemned“. Der inhaltliche Verweis auf die Figur des patriachalen Gottes und den barbarischen Vollzug seiner Vertreter auf Erden („you hangmen face my scorn“) wird emotional unterstrichen. Die Sängerin wirft die Haare mit einer Kopfbewegung nach vorne, korrigiert diese Bewegung rasch und streicht die Haare zurück. Die Bewegungen der Musiker verlassen den lässig-entspannten Gestus und nehmen mehr Raum ein. Die emotionale Steigerung ist in Musik, Gesang und Bewegung deutlich zu sehen, obwohl die Band weiterhin sitzend performt. Die Kamera bewegt sich halbkreisförmig zwischen den Musiker/innen. Die Worte „trust in me“ werden von der gesamten Band mitgesungen, es wird im Takt geklatscht, sofern das die Beschaffenheit der Instrumente zulässt. Dieser Teil des Songs erhält durch das Zusammenspiel der gesamten Band einen eigenständigen Charakter. Fatima Spar lehnt sich bei der letzten Wiederholung der Worte zurück, steht dann jedoch auf, und gibt den Einsatz für den Schlussakkord, der dann langsam verklingt. Der Abspann verweist darauf, dass der Auftritt für die „,Long Way From Home‘ Istanbul Acoustic Sessions“ produziert wurde. Es wird auf die filmtechnisch Beteiligten verwiesen: „Filmed by Levent Sevi, Edited by Gün Erdoğdu, Sound by Yiğit Yemez“. Die letzte Einblendung wiederholt den Titel der Sendung „Long Way From Home“.  A7 Narrative Ebene: Plot des Videoclips wird kurz zusammengefasst bzw. nacherzählt, Zusammenwirken von Musik, Text und Bild Der Videoclip beginnt mit der Band Fatima Spar and the Freedom Fries, die durch die Straßen einer Stadt geht. Eine Einblendung verweist darauf, dass sich die Band in der Stadt Istanbul befindet. Der Kontrabassist improvisiert in einem

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Fahrstuhl, erst nach 1’30’’ Minuten fängt die Acoustic Session an. Diese findet in einem Hinterzimmer eines Theaters statt, das mit Sofas bestückt ist. Man hört einen locker gespielten tangoartigen Popsong, der Raum für Improvisationen bietet. Fatima Spar positioniert sich als Prophetin, die eine Alternative zu den Weltreligionen Islam und Christentum bietet. Die Sängerin ist in der Mitte des Raums platziert, um sie herum die restlichen Musiker. Die Kamera fokussiert Spar während der Gesangsteile, die Band wird nur während der instrumentalen Teile gefilmt. Die Sängerin singt in ein Megafon und verzerrt somit die eigene Stimme. Der bewusste Einsatz dieses Gegenstandes verfremdet Fatima Spars Stimme, der Text wird dadurch unverständlich. Gleichzeitig steht das Megafon als Metapher für die Verbreitung einer Gegenposition, wie man es von Demonstrationzügen kennt. Kritik an Religionen wird tunlichst in einem Hinterzimmer geäußert.  A8 Kulturelle Ebene: Stilfelderbezug, Verhältnis von Text-, Bild- und Musikebene (Homologien), entstehen „Zwischenräume“ (Third Spaces)? Homologien In der Refrainzeile „trust in me“ fokussiert sich die Aussage des Songs und somit auch das lyrische Ich, das mit der Komponistin und Sängerin Fatima Spar identisch ist. Sie agiert als Ich-Erzählerin im Videoclip, sie befindet sich im Fokus der Kamera und ist mittig im Raum positioniert. Die Verwendung des Tangos bringt dessen fatalistische und expressiv-sehnsuchtsvolle Charakteristiken damit in Zusammenhang. Verstärkt wird die Aussage „trust in me“ am Ende des Songs durch ihre mantra-artige zwölfmalige Wiederholung. Das könnte eine Anspielung auf für Religionen typische Vermittlungsformen sein. Unterstützt wird diese musikalisch-textliche Schleife durch den Körpereinsatz der Band, der sich von lässig-entspannter Haltung zu stärkerer emotionaler Beteiligung intensiviert. Die Kameraperspektive bildet nach einer Präsentation des Schauplatzes Istanbul im Vorspann ausschließlich die Musiker/innen, ihre Instrumente und Spiel- bzw. Singweisen ab.

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Third Spaces Der Bandname „Fatima Spar and the Freedom Fries“ verweist vermutlich auf ein Phänomen zur Zeit der Bandgründung: „Der Bandname ‚Freedom Fries‘ stammt vom Euphemismus der French Fries, welche in den Vereinigten Staaten kurzfristig umbenannt wurden, nachdem sich Frankreich nicht an dem Irak-Feldzug beteiligen wollte.“ 27 Fatima Spar and the Freedom Fries nimmt diesen Begriff auf und setzt ihn polemisch ein. Die Band steht nicht nur mit dem Bandnamen, sondern auch mit der unterschiedlichen Herkunft der Musiker/innen für Freiheit und ein friedvolles Zusammenleben verschiedener Kulturen. Mit dem Song „Trust“ positioniert sich Fatima Spar als Skeptikerin gegenüber der Weltreligionen Christentum und Islam. Der Bandname verweist aber auch auf eine USAkritische Position. Dieses ‚sich zwischen alle Stühle setzen‘ findet sich in diesem Song in vielfacher Weise: Die Spielfreude des Jazz wird in Richtung World Music erweitert und in den Dienst eines politisch brisanten Songs gestellt. In einem transkulturellen Raum werden Weltreligionen, Megafon, Hinterzimmer, Tango und kaberettistischer Witz im Sinne einer Positionierung der Protagonistin als autonomes Individuum neu gemixt. B Figurenanalyse  B1 Rolle: Welche Rolle nimmt der/die Interpret/in in der Szene ein? Wie definiert sich die Funktion / der Status des/der Künstlers/in im Rahmen des Auftritts? Einfache oder komplexe Figurenkonstruktion? Die Sängerin Fatima Spar ist Bandleaderin und Komponistin des performten Stückes „Trust“. Die Band ist in Form eines Halbkreises angeordnet. Fatima Spar sitzt auf einem Fauteuil in der Mitte des Halbkreises. Blasinstrumente und Akkordeon sind rechts angeordnet, die Saiteninstrumente (Bass und zwei Gitarren) links von der Sängerin. Lyrisches Ich und Interpretin sind ident.

27 o.A. „Fatima Spar & The Freedom Fries. Trust". https://web.archive-org/web/20120 905104956/http://www.musikboxaustria.at/kuenstler/fatima-spar-the-freedom-fries (Zugriff: Juni 2021).

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Abbildung 58: Räumliche Inszenierung.

Quelle: Musikvideoclip „Trust“ 1’41’’.

 B2 Inszenierung: optische Inszenierung der Figur: Kostüm / Make Up / Frisur / figurbezogene Requisite etc. Fatima Spar trägt eine beige Hose, ein graues Shirt, einen schwarzen Mantel und schwarze Stiefletten. Die Haare sind offen, es ist kein spezielles Make-Up erkennbar. Als figurbezogene Requiste kann das Megaphon, in das Fatima Spar singt, angesehen werden. Die Mitglieder der Band sind unterschiedlich gekleidet. Die Männer, die Saiteninstrumente spielen, tragen Jacken, Pullover, Mützen, die langen Haare offen. Der Akkordeonist trägt ein rotes T-Shirt. Die Bläser sind eleganter gekleidet, tragen Hemden und Pullover, die Haare sind kurz, ein Musiker trägt eine Kappe.  B3 Bewegung: Bewegungsrepertoire, Mimik / Gestik und wenn es sich um ein Lied handelt die Stimme / die Gesangslinie Das Bewegungsrepertoire der Musiker und der Sängerin ist durch die sitzende Position eingeschränkt. Fatima Spar kickt mit dem Fuß zum Takt der Musik, ihr Bewegungsrepertoire wird nur durch das Megaphon, das die Stimme verfremdet, beeinflusst. Sie bewegt den Oberkörper, wippt mit den Beinen. Die Musiker bewegen bedingt durch das Instrumentarium höchstens den Oberkörper. Eine Gitarre wird als Percussion-Ersatz verwendet. Am Ende des Stückes steht die Sängerin auf und springt in die Luft. Sie gibt damit das Zeichen für den Schlussakkord.

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 B4 Geschlecht: Genderspezifische Darstellungen sowie Verkörperungen, Grad der Bedeutung / Dekonstruktion von Geschlecht Die Band „Fatima Spar and the Freedom Fries“ besteht aus der Sängerin Fatima Spar und männlichen Instrumentalisten. Somit entspricht die Aufteilung der Band einer im Stilfeld „Jazz/improvisierte Musik“ häufig anzutreffenden Konstellation. Die optische Inszenierung der Formation weist keine genderspezifischen Besonderheiten auf, sehr wohl aber die Botschaft des Songs. Sich als „Über-Prophetin“ patriachaler Weltreligionen zu inszenieren, stellt eindeutig einen Tabubruch dar, der auch geschlechtliche Konnotationen aufweist.  B5 Zitate: Bezüge zu anderen Videoclips, Songs, Personen, kulturellen oder kulturgeschichtlichen Entitäten Es sind stilistischen Bezüge zu den Genres Tango und Pop/Rock erkennbar. Die türkische Flagge ist in einer kurzen Sequenz zu sehen.  B6 „Die Uhr der Figur“ nach Jens Eder (Eder 2004): o B6a „Die Figur als Artefakt“ – Gestaltung, Inszenierung der Figur Der bürgerliche Name der Sängerin Fatima Spar lautet Nihal Sentürk. Der Name der Band „Fatima Spar and The Freedom Fries“ verdeutlich bereits Position der Sängerin in der Musikgruppe. Sie ist Bandleaderin, die Band trägt ihren Namen. Im Gegensatz zur starken religionskritischen Positionierung wird die Figur eher unscheinbar inszeniert. o

B6b „Die Figur als fiktives Wesen“ – Körper, Persönlichkeit, Sozialität der Figur

Die Sängerin ist die einzige Frau in der Band. Fatima Spar trägt eine beige Hose, ein graues Shirt, einen schwarzen Mantel und schwarze Stiefletten, aber ein Megafon in der Hand, das zur Verbreitung von Fatima Spars Botschaft dient. Schon der Künstlername bezieht sich einerseits auf die Tochter des Propheten Mohammed und andererseits auf die Supermarktkette Spar. Im Song „Trust“ überhöht sich diese Kunstfigur zur „Über-Prophetin“. o

B6c „Die Figur als Symbol“ – indirekte Bedeutung, Symbolik/Metapher

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Fatima Spar inszeniert sich als Kritikerin der Weltreligionen Islam und Christentum und positioniert sich dagegen als autonomes Individuum. Insofern symbolisiert diese Figur eine religionskritische Öffentlichkeit und wird zur Metapher für eine kritische Bezugnahme auf die derzeitigen Religionskonflikte. Die Sängerin wird zur „Über-Prophetin“ mit einem polemischen Heilsangebot an diese Religionen. Zwei Welten prallen auch in Fatima Spars Biografie aufeinander. Die Positionierung in kulturellen Zwischenräumen wird in Form einer Auseinandersetzung mit Themen der Kultur- und Geistesgeschichte geleistet. o

B6d „Die Figur als Symptom“ – kommunikative Ursache/Wirkung, soziokultureller Kontext

Die Figur ist ein Symptom für das Wiederaufflammen religiös motivierter Konflikte am Beginn des 21. Jahrhunderts. Die Verfolgung und Vernichtung Andersgläubiger seitens der Religionen Christentum und Islam hat eine lange Geschichte. Betitelt als Kreuzzüge des „christlichen Abendlandes“ fanden religiöse und wirtschaftlich motivierte Kriege bereits im Mittelalter statt. Fatima Spars „Trust“ spannt einen historischen Bogen bis hin zu gegenwätigen Konfliktlinien. C Bühne und Publikum Fatima Spar & The Freedom Fries „Trust“ – Live Auftritt in Ankara IF PERFORMANCE HALL am 28 Nov. 2013, https://www.youtube.com/watch?v=XCrVtZT0mEY  C1 Gesamtkonzept: Die Bühne wird als Gesamtkonzept betrachtet. Sind Musiker/innen sichtbar, gibt es Backgroundtänzer/innen, eine Choreographie, ein Bühnenbild, Requisiten? Zusätzlich zum Videoclip wurde eine Live-Performance von „Trust“ analysiert, um die Interaktion zwischen Bühne und Publikum untersuchen zu können. Beim gewählten Live-Autritt in Anakara befinden sich neben Fatima Spar die Musiker, ihre Instrumente und Mikrofonständer auf der Bühne. Notenständer sind nicht vorhanden. Der Bühnenraum ist beleuchtet, hinter der Bühne steht eine unbearbeitete Ziegelwand. Die gesamte Band wird beleuchtet. Es ist ein Schlagzeug im Einsatz, statt der akustischen Gitarre im Musikvideoclip wird eine E-Gitarre gespielt. Der Austausch des Instruments verleiht dem Song mehr Intensität in Richtung Rock. Es gibt keine Choreographie. Die Musiker bewegen Kopf und Körper zum Takt der Musik, die Sängerin Fatima Spar bewegt sich auf der Büh-

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ne, der Körper wippt zur Musik. Bei den Instrumentalsoli tanzt Fatima Spar, die Bewegungen der Musiker werden intensiver. Fatima Spar trägt ein weißes Kleid, die Haare offen. Sie hat kein Megafon in der Hand, singt in ein Mikrofon. Der Text des Songs wird bei diesem Konzert verständlich performt. Die Musiker tragen Hemden und/oder Sakkos. Die Konzertsituation und Inszenierung der Band entspricht einem Jazz-Konzert. Abbildung 59: Die Band auf der Bühne eines Jazzclubs. Im Bildvordergrund ist das stehende Publikum zu sehen.

Quelle: Live-Auftritt in Ankara 3’36’’.

 C2 Technik: Die Technik – als Teil der Bühne – ist ein weiterer Aspekt: das audiovisuelle Konzept, der Ton, das Licht. Der Auftritt findet im Rahmen eines Konzerts in einer mittelgroßen Halle statt. Es gibt keine gesonderte Beleuchtung, keine zusätzlich erstellten Visuals. Der Ton wird durch Lautsprecher verstärkt. Der Publikumsraum wird nicht beleuchtet.

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 C3 Bühne / Publikum: Existiert Interaktion zwischen Bühne und Publikum? Welche Regeln und Konventionen gelten für das Publikum bezugnehmend auf das Stilfeld? Gibt es Bestuhlung, darf getanzt werden, herrscht Stille, darf gesprochen/mitgesungen werden? Das Publikum steht bei der Performance, es sind Jubelrufe der Zuseher/innen zu hören. Es darf getanzt und mitgesungen werden. Ein Zuseher trinkt aus einer Flasche. Die lockere Konzertsituation erinnert an das Stilfeld „Rock/Pop Musik“. Fatima Spar tanzt auf der Bühne während der Soli. Gegen Ende der Performance wird die Band vorgestellt. „Let me proudly present you ‚The Freedom Fries’“. Das Publikum spendet jedem Instrumentalisten Applaus. Währenddessen singen die anderen Bandmitglieder die Textzeile „Trust in me“. Jeder Musiker verbeugt sich einzeln vor dem Publikum, lacht in die Kamera, wenn sein Name fällt. Nur Philipp Moosbruger (Kontrabass) zeigt belustigt den Daumen nach unten. Abbildung 60: Fatima Spar stellt die Band vor.

Quelle: Live-Auftritt in Ankara 4’45’’.

Während der Vorstellung ist ein Mann mit Kamera vor der Bühne stehend zu sehen. Die Frage, wie die Nahaufnahmen der Band entstehen, ist nun auch geklärt. Fatima Spar wiederholt die Worte „trust in me“. Der Song endet. Der Posaunist Phil Jäger stellt am Ende des Songs die Sängerin Fatima Spar vor. Die Performance wird mit Applaus vom Publikum gewürdigt. Fatima Spar verbeugt sich ein Mal vor dem Publikum und wirft diesem Luftküsse zu. Sie deutet links und rechts hinter sich, um die Band zu honorieren. Damit endet die Aufnahme. Diese Live-Dokumentation zeigt, dass die Bedeutungsebenen des Songs durch seine

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Einbeziehung in das Repertoireprogramm an Intensität verlieren. Der Showcharakter tritt in den Vordergrund, die Gegen-Prophetin wird zur Entertainerin. D Zusammenfassende Interpretation  D1 Kulturen/Erfahrungswelten Fatima Spar ist eine in Hohenems geborene, türkischstämmige Vorarlbergerin. Die Sängerin verbindet in ihrer künstlerischen Tätigkeit die türkische und die österreichische Kultur und positioniert sich in kulturellen Zwischenräumen. Die christliche und die islamische Religion sind in Spars Lebenswelt präsent. Der Song „Trust“ verhandelt die Erfahrungswelt Religion und ihre Widersprüche.  D2 Musikstile Das Stück „Trust“ bezieht die Stilistik des Jazz und dessen improvisatorische Spielfreude auf eine Hybridform aus Popsong und Tango. Die Besetzung der Band entspricht einer Jazz-Formation (Sängerin, Akkordeon, Rhythmusgruppe, Bläser).  D3 Performance Stil Fatima Spars Performance kann im Videoclip als typisch für eine Jazz-Jam Session beschrieben werden. In lässig-entspannter Atmosphäre sitzen die Sängerin und die Musiker auf Sofas, in ihnen ist Spiellust und Spielfreude erkennbar.

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Abbildung 61: Entspannte Atmosphäre einer Jazz-Jam Session.

Quelle: Musikvideoclip „Trust“ 1’55’’.

Zusätzlich zum kulturellen (Fatima Spar wird zur Gegenprophetin) und musikalischen Crossover verschwimmen bei der Live-Performance die Grenzen zwischen Jazz- und Rockkonzert.  D4 WAS konstituiert der Interpret / die Interpretin kulturell? Fatima Spar kritisiert im Song „Trust“ die beiden Weltreligionen Christentum und Islam. Beide Religionen üben durch ihr vermitteltes Seelenheil Anziehungskraft für ihre Anhänger/innen aus. Gleichzeitig erfolgt ein brutaler Umgang mit Andersgläubigen. Die Sängerin positioniert sich als Skeptikerin, als autonomes Individuum, angesichts der Widersprüche zwischen religiösen Heilsangeboten und der Verfolgung und Vernichtung Andersgläubiger.  D5 WIE macht sie / er das (in Bezug auf die Konventionen des Stilfeldes)? Die Inszenierung des Songs zeigt eine Reihe interessanter Widersprüche. Einerseits wird die Künstlerin verbal zur „Über-Prophetin“ mit einem Heilsangebot an die Religionen Christentum und Islam. Andererseits wird diese blasphemische Aussage durch Unverständlichkeit (Megaphon), anonyme Örtlichkeit (Hinterzimmer) und frisch-animierende Tangoklänge versteckt.  D6 Wie und in welcher Form finden Übersetzungen (Translationen) statt?

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Fatima Spars Religionskritik, die ihre doppelte kulturelle Identität als Vorarlbergerin mit türkischem Migrationshintergrund reflektiert, wird als „Feel Good“Song inszeniert und somit in den musikalischen Kontext von Jazz, Rock und World Music übersetzt.  D7 Ergebnisse der Analyse des Aufführungsrituals Einerseits finden Grenzüberschreitungen in Richtung „Rock und Pop Musik“ (Videoclip, stehendes Publikum bei Live-Auftritt) statt, andererseits werden durch den Fokus auf die Musiker/innen und ihre Performance, Konventionen des Jazz (Inhalt des Videoclips, Vorstellung der Musiker/innen am Schluss der LivePerformance) erfüllt. Die Anteile des Animationsrituals gegenüber dem Andachtsritual überwiegen.

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5A) ALMA: „ADMONTER ECHOJODLER“ A Analyse des audiovisuellen Produkts  A1 Faktische Ebene: Titel des Musikstücks / Datum der Aufführung bzw. der Veröffentlichung des Musikvideos Das Ensemble Alma ist im Rahmen des „Schrammel Klang Festival Litschau“ 2013 am 6. und 7. Juli 2013 beim „Schrammelpfad“ auf einer Waldbühne aufgetreten. Der analysierte Ausschnitt des „Admonter Echojodler“ fand am 7. Juli 2013 statt. Der Ausschnitt ist 1 Minute 31 Sekunden lang.  A2 Personelle Ebene: Name des/r Interpret/in, oder der Gruppe der Interpret/innen sowie deren Geschlecht, Alter, Herkunft und kultureller Hintergrund; Verhältnis Autor/innen zu Interpret/innen Alma besteht aus Julia Lacherstorfer (Geige, Gesang, Komposition), Evelyn Mair (Geige, Gesang), Matteo Haitzmann (Geige, Gesang, Komposition), MarieTheres Stickler (Diat. Harmonika, Shruti Box, Gesang) und Marlene Lacherstorfer (Kontrabass, Harmonium Gesang). Die Mitglieder kommen aus Oberösterreich, Salzburg, Niederösterreich und Südtirol und leben alle in Wien. Die Musiker/innen sind zwischen 25-35 Jahre alt. Gegründet wurde das Ensemble 2011.28 Eigene Kompositionen, teilweise beeinflusst von Musik aus vergangenen Jahrhunderten und fernen Regionen, Jodler, „Schleuniger“ und andere traditionelle Stücke zählen zum Repertoire der Band. Der „Admonter Echojodler“ stammt aus dem traditionellen, österreichischen Volksliedrepertoire. Der Bandname Alma hat keine eindeutige Definition. Auf der Homepage der Band wird auf drei Assoziation verwiesen. 29 Einerseits die spanische Bedeutung des Wortes „Alma“, das für Seele steht. Auf die Künstlerin Alma SchindlerMahler-Werfel wird besonderes Augenmerk gelegt. Die Komponistin komponierte in ihrem frühen künstlerischen Schaffen über 100 Musikstücke, von denen nur siebzehn Stück für die Nachwelt erhalten wurden. Hauptsächlich bekannt durch ihre Tätigkeit als Gastgeberin künstlerischer Salons versammelte sie Kunstschaffende in Wien und New York. In der Rezeption wird SchindlerMahler-Werfels eigene künstlerische Tätigkeit oft marginalisiert. Die dritte Assoziation wird mit „der Alm“ in Zusammenhang gebracht.

28 Vgl. Alma Website. 29 Vgl. Website. Band.

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 A3 Musikalische Ebene: Das Musikstück, seine Form und Besetzung, Noten, Umgang mit Genrekonventionen: Bestätigung / Überschreitung (Crossover) Das Musikstück heißt „Admonter Echojodler“. Der Jodler zählt zum Genre des Volkslieds. Eine 8-taktige Form gestaltet die Akkordfolge C G7 G7 C C G7 G7 C. Die Besetzung besteht aus Geige, Harmonika, Kontrabass und Gesang.  A4 Literarische Ebene: Titel / Lyrics, Analyse des Songtexts / des Librettos (Bedeutungsmöglichkeiten) Viktor Zack zeichnete den aus Admont (Steiermark) stammenden Jodler (ohne Mittelstimme) bei Mirzl Heißl zweistimmig auf und veröffentlichte diesen in dem Gesangsbuch „Alte liebe Lieder und auch Schöne Jodler“ im Jahr 1924. 30

30 Vgl. Volksliedwerk. Admonter Echojodler, o.S..

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Abbildung 62: Volksliedwerk.

Quelle: Admonter Echojodler, o.S.

 A5 Räumliche Ebene: Schauplatz des Auftritts, die Situation in der dieser stattfindet (Live-Auftritt / Musikvideoclip) Das Schrammel Klang Festival Litschau wird auch als das „Woodstock des Wienerlieds“ bezeichnet. Die Organisator/innen betonen die Naturverbundenheit und die Idylle rund um den Herrensee in Litschau. Der Auftritt fand beim „Schrammelpfad“ auf einer Waldbühne statt. Der Schrammelpfad war folgen-

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dermaßen aufgeteilt: sechs Naturbühnen rund um einen See mit diversen Konzerten, Theater, Lesungen, Picknick, Weinpavillon, Schrammelheuriger.  A6 Performative Ebene: Analyse der Filmsequenz: Figuren, Bewegungsabläufe (statisch / dynamisch), Kameraeinstellungen, Beleuchtung, ästhetische Aspekte, u.a. Die Naturbühne befindet sich auf einer Waldlichtung. Umgeben von Bäumen steht Alma auf Reisig. Hinter der Band stehen Sesseln, doch die Musiker und Musikerinnen stehen. Alle Bandmitglieder sind leger gekleidet, tragen keine Tracht, wie es in diesem Stilfeld erwartet werden würde. Die Aufzeichnung des Auftritts besteht aus einem Zusammenschnitt mehrerer Lieder, diese Analyse beschränkt sich auf den „Admonter Echojodler“. Die gesamte Aufnahme wurde in einem long shot (Totale) gefilmt. Das Publikum sitzt frontal vor der „Waldbühne“. Einige Zuseher/innen stehen hinter Alma. Das Publikum ist ruhig, es ist nur die Band zu hören. Diese musiziert und jodelt. Evelyn Mair beginnt als erste mit dem Jodler. Sie stimmt mit dem Auftakt „Hollada“ ein, ab „ittiho“ kommt Julia Lacherstorfer dazu, gleichzeitig beginnen Kontrabass, Harmonika und Geige zu spielen. Der Kontrabass und die nachschlagende Geige werden gezupft. Julia Lacherstorfer und Evelyn Mair spielen ihre Instrumente nicht, sie beschränken sich auf das Jodeln. Die Bewegungen sind ruhig, zum Takt der Musik werden die Beine gewippt. Julia Lachertorfer bewegt die Beine intensiver, sie macht am Boden kleine Schritte nach links und rechts. Evelyn Mair hat einen Arm an der Hüfte, wechselt jedoch bei 0’06’’ die Geige in die andere Hand, und steckt die freigewordene Hand in die Hosentasche. Beim zweiten „Holloda ittijo“ (Minute 0’11’’) beginnt Marlene Lacherstorfer am Kontrabass mit dem Oberkörper intensiver im Takt mitzuwippen. Fast gleichzeitig (Minute 0’12’’) geht Julia Lacherstorfer in die Knie. Bei den Worten „auf da Alm“ wird das Tempo noch vor der Wiederholung des Jodlers schneller. Die Geige wird zu diesen Worten nicht mehr gezupft, sondern geschlagen, ist lauter zu hören. Julia Lacherstorfer bleibt in der Position der gebeugten Knie. Evelyn Maier und Marie-Theres Stickler (Harmonika) bewegen sich nun auch schneller, der Oberkörper ist auch in Bewegung. Sticklers, J. Lacherstorfers und Maiers Bewegungen sind synchron. Haitzmann und M. Lacherstorfer können sich der Synchronität nicht anpassen, auf Grund der Beschaffenheit ihrer Instrumente. Dennoch ist bei beiden bei der Wiederholung von „wohl auf der Alm“ eine Ausprägung des Bewegungsrepertoires angepasst an die Mitmusikerinnen zu erkennen.

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Das Musikstück endet abrupt, der letzte Ton wird gejodelt und gleichzeitig gespielt. Es herrscht kurze Pause. Die Musiker/innen lächeln. Es folgt kurzer, jubelnder Zwischenbeifall. Das Ende des gesamten Auftritts wird mit tosendem Applaus honoriert.  A7 Narrative Ebene: Plot des Videoclips wird kurz zusammengefasst bzw. nacherzählt, Zusammenwirken von Musik, Text und Bild Almas Auftritt beim des Schrammel Klang Festival Litschau 2013 wurde in einem long shot (Totale) gefilmt. Dieser zeigt die Band komplett auf der Waldbühne stehend. Das Publikum sitzt frontal dem Ensemble zugewandt, hinter der Band stehen einige wenige Zuseher/innen.  A8 Kulturelle Ebene: Stilfelderbezug, Verhältnis von Text-, Bild- und Musikebene (Homologien), entstehen „Zwischenräume“ (Third Spaces)? Homologien Text (Silben des Jodlers), Musik und Bild stimmen vollständig überein. Third Spaces Eine junge Generation fühlt sich zwar nicht den Kleidungskonventionen der alpinen Volkskultur verpflichtet, wohl aber ihrem Repertoire. Dadurch wird ökologisches Bewusstsein zum Ausdruck gebracht. Die Volkstradition wird selbst zu einem Third Space, der als Refugium für eine gesellschaftskritische Haltung dient.

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Abbildung 63: Optische Inszenierung ALMAs auf der Waldbühne.

Quelle: Live-Auftritt beim Schrammel Klang Festival Litschau 2013 0’03’’.

B Figurenanalyse  B1 Rolle: Welche Rolle nimmt der/die Interpret/in in der Szene ein? Wie definiert sich die Funktion / der Status des/der Künstlers/in im Rahmen des Auftritts? Einfache oder komplexe Figurenkonstruktion? Als „lyrisches Ich“ können in diesem Fall die Personen einer Almwirtschaft angenommen werden, deren Jodler durch eine Volksliedersammlung des Jahres 1924 überliefert wurde. Dieser wird nun von einem jungen Musikkollektiv repräsentiert, zur Aufführung gebracht, in die Gegenwart geholt.  B2 Inszenierung: optische Inszenierung der Figur: Kostüm / Make Up / Frisur / figurbezogene Requisite etc. Die Mitglieder von Alma sind leger gekleidet. Julia Lacherstorfer trägt eine schwarze Hose, schwarze Schnürstiefel, ein weißes loses T-Shirt, ein schwarzes Tuch in den Haaren und darüber eine Sonnenbrille. Evelyn Mair ist mit einer hochgekrempelten Jeans, Sandalen, einem olivgrünen Trägertop und auch einem Tuch in den Haaren gekleidet. Das Tragen eines Kopftuchs wird mit traditionellen Bäuerinnen in Österreich verbunden und verweist auf den Bezug zur öster-

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reichischen Tradition31, die ALMA in ihre Inszenierung einbaut. Marie-Theres Stickler trägt eine weiße Hose, darüber ein blaues langes Shirt, braune, elegante Halbschuhe, am Kopf eine Sonnenbrille. Matteo Haitzmanns Outfit besteht aus schwarzen Doc Martens, einer abgeschnittenen schwarzen Hose und einem weißen lockeren Hemd. Marlene Lacherstorfer trägt einen schwarz-weißen Rock, darunter eine ¾-Leggins, ein schwarzes langärmliches lockeres Shirt und schwarze Ballerinas. Das Outfit steht also quer zu alpinen volkskulturellen Traditionen.  B3 Bewegung: Bewegungsrepertoire, Mimik / Gestik und wenn es sich um ein Lied handelt die Stimme / die Gesangslinie Das Bewegungsrepertoire der Band ist ausgeprägt. Zu Beginn sind die Bewegungen dem Tempo entsprechend angepasst, werden im Laufe des Jodlers schneller. Der Oberkörper wippt im Takt mit, die Füße sind in Bewegung. Dies trifft auch auf Marlene Lacherstorfer zu, deren Bewegungsrepertoire auf Grund des Kontrabasses eingeschränkter ist als ihre Bandkolleg/innen.  B4 Geschlecht: Genderspezifische Darstellungen sowie Verkörperungen, Grad der Bedeutung / Dekonstruktion von Geschlecht Alma besteht aus vier Frauen und einem Mann. In der optischen Inszenierung des Auftritts beim Schrammel Klang Festival Litschau 2013 sind kaum genderspezifischen Elemente erkennbar. Die Band ist leger gekleidet, entspricht in dieser Inszenierung jedoch keinerlei Klischees, die aus dem Stilfeld zu erwarten sind (Dirndl, Lodenjanker, etc..). Einzig die Kopftücher von Julia Lacherstorfer und Evelyn Mair können als genderspezifische Accessoires beschrieben werden.  B5 Zitate: Bezüge zu anderen Videoclips, Songs, Personen, kulturellen oder kulturgeschichtlichen Entitäten

31 Vgl. „ALMAs Musik findet ihre Wurzeln nicht nur in der österreichischen Volksmusik, sondern lässt sich vielmehr als eine augenzwinkernde Verbeugung vor selbiger betrachten. Allesamt in musizierenden Familien aufgewachsen, spielte die Auseinandersetzung mit traditioneller Musik für die fünf jungen Musiker/innen von Kindesbeinen an eine ebenso große Rolle wie zur Schule gehen oder Radfahren.“ ALMA Website. Band.

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Filmische Dokumentationen von Volksmusik liefern immer auch Eindrücke der jeweiligen Umwelt mit: das Gasthaus, der Dorfplatz, die Waldlichtung etc. In diesem Fall wurde eine Waldbühne speziell inszeniert. Alma dockt außerdem an der Überlieferungs- und Forschungstätigkeit der österreichischen Volksmusikvereine an („Österreichisches Volksliedwerk“).  B6 „Die Uhr der Figur“ nach Jens Eder (Eder 2004):

o

B6a „Die Figur als Artefakt“ – Gestaltung, Inszenierung der Figur

Alma vermittelt den Zusehenden den Zusammenhalt eines musikalischen Kollektivs. Junge Menschen zwischen Mitte zwanzig und Mitte dreißig widmen sich der traditionellen Volksmusik verbunden mit modernen Elementen. „Bei Alma verwirklichen fünf junge Musiker_innen ihre Vorstellungen, wie die österreichische Volksmusik-Tradition an die Jetztzeit und die Menschen, die in ihr leben, angepasst werden kann. Mit Violinen, Bass, Akkordeon und Gesang sowie mit großer Leichtigkeit, Leidenschaft und Fantasie lassen sie aus den Wurzeln vielfältige musikalische Triebe und Blüten wachsen. Ihre Musik hat keine geografische Zugehörigkeit, lässt sich nicht an einem bestimmten musikalischen Stil festmachen und bleibt offen für Einflüsse, wie zum Beispiel die von den jüngst getätigten Reisen.“

32

Alma vertritt die Generation des musikalischen Nachwuchses in der Volksmusikszene. Die Geschichte, die im Jodler erzählt wird, wird musikalisch nicht an die Gegenwart angepasst. Es ist Almas optische Inszenierung, die das Stück in die Gegenwart transportiert. Im Stilfeld würde die Tracht der Vorstellung eines passenden Outfits entsprechen. Alle Mitglieder von Alma sind leger gekleidet, es wirkt als würden sie bewusst in ihrer Freizeitkleidung auftreten. o

B6b „Die Figur als fiktives Wesen“ – Körper, Persönlichkeit, Sozialität der Figur

Es gibt keine protagonistische Mitte. Die Unterscheidung von Instrumentalist/in und Sänger/in definiert keine Bandleaderfunktion. Bei der Performance des „Admonter Echojodler“ spielen J. Lacherstorfer und E. Mair nicht ihre Instrumente, sondern übernehmen den Part des Jodelns. Andere Performances von

32 ALMA Website. Band.

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ALMA weisen andere Einteilungen des musikalischen und gesanglichen Repertoires auf. Es werden keine „fiktiven Wesen“ inszeniert. o

B6c „Die Figur als Symbol“ – indirekte Bedeutung, Symbolik/Metapher

Mit der Inszenierung von Almas Auftritten, wird dem Genre Volksmusik eine moderne Note verliehen. Dies spiegelt sich in Almas Musik wider. „Das fünfköpfige Ensemble haucht alten Traditionen neues Leben ein und lässt sich selbst genug Raum, um eigene musikalische Wurzeln zu erkunden.“33 Hier wird der Fokus auf den Erhalt des Traditionellen gelegt, dem Individuellen Raum gegeben. Almas Geschichte wird durch die Musik erzählt. Die Musiker und Musikerinnen verkörpern mit Alma eine junge Generation der Volksmusik, die sich ihrer globalen Funktion bewusst ist. Alma symbolisiert Naturverbundenheit und Traditionsbewusstsein. Dies entspricht auch der Inszenierung von Almas Auftritt auf einer Waldbühne. o

B6d „Die Figur als Symptom“ – kommunikative Ursache/Wirkung, soziokultureller Kontext

Die Gruppe „Alma“ repräsentiert eine ökologische Bewegung, die sich längst vom ländlichen Ambiente zu einer gesamtgesellschaftlichen Strömung entwickelt hat. Der bewahrende Kern der Bewegung kommt unter anderem in der gegenwärtigen Diskussion rund um den Klimawandel zum Ausdruck. C Bühne und Publikum  C1 Gesamtkonzept: Die Bühne wird als Gesamtkonzept betrachtet. Sind Musiker/innen sichtbar, gibt es Backgroundtänzer/innen, eine Choreographie, ein Bühnenbild, Requisiten? Auf einer der Waldbühnen des Schrammel Klang Festivals in Litschau 2013 treten die fünf Musikerinnen und Musiker von Alma auf. Es gibt keinen musikalischen Background, es ist keine Choreographie erkennbar. Die Band bewegt sich zum Tempo des Jodlers. Als Bühnenbild fungieren die Bäume der Waldbühne, die die Lichtung umrahmen. Außer den Musikinstrumenten sind sonst keine technischen Mittel oder Requisiten vorhanden.

33 ALMA Website. Band.

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Alma wird während eines Auftritts auf einer „Waldbühne“ beim Schrammelklang Festival Litschau 2013 gefilmt. Die Besetzung der Band besteht aus drei Geigen, Kontrabass und Harmonika. Alle Bandmitglieder singen auch. Der Bezug zur Natur unterscheidet die Situation von einer Aufführungssituation in einem Konzertsaal.  C2 Technik: Die Technik – als Teil der Bühne – ist ein weiterer Aspekt: das audiovisuelle Konzept, der Ton, das Licht. Der Wald als Resonanzkörper ist das audiovisuelle Konzept des Auftritts. Die Instrumente werden nicht verstärkt gespielt, es gibt keine Ton- und Lichttechnik.  C3 Bühne / Publikum: Existiert Interaktion zwischen Bühne und Publikum? Welche Regeln und Konventionen gelten für das Publikum bezugnehmend auf das Stilfeld? Gibt es Bestuhlung, darf getanzt werden, herrscht Stille, darf gesprochen/mitgesungen werden? Das Publikum verhält sich still und sitzt auf Liegestühlen frontal ausgerichtet zur Band. Hinter Alma befinden sich einige Menschen sitzen bzw. stehend (hinter der Bühne gibt es keine Bestuhlung). Das Programm besteht aus populären Stücken, dem Stilfeld „Volksmusik/Folk & World“ entsprechend ausgewählt. Erst am Ende des Auftritts erfolgt tosender Applaus und Jubel. Das Publikum ist im Wald auf Strandstühlen platziert. Die Stühle bilden somit eine Abgrenzung zur Natur. Der Publikumsraum ist zur Bühne frontal ausgerichtet. Die Zuseher/innen können die Performance gemütlich in den Sessel gelehnt verfolgen oder können entspannt am Boden sitzen. Die Gesamtsituation kann als Andachtsritual in einem naturnahen Ambiente interpretiert werden.

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Abbildung 64: Publikumsraum und Publikumsreaktion.

Quelle: Live-Auftritt beim Schrammel Klang Festival Litschau 9’56’’.

D Zusammenfassende Interpretation  D1 Kulturen/Erfahrungswelten Der Auftritt von Alma beim Schrammel Klang Festival Litschau 2013 ist auf einer Bühne im Wald angesiedelt. Das Ambiente ist ruhig, der Publikumsraum mit Strandsesseln bestuhlt und es herrscht Tageslicht. Hierbei werden die Konventionen des Stilfeldes aufgebrochen. Das Publikum darf in entspannter Position fernab von einem Konzertsaal dem Auftritt lauschen.  D2 Musikstile In Almas Interpretation des „Admonter Echojodler“ ist musikalisch kein Crossover zu erkennen, der Jodler entspricht der Aufführungspraxis der Volksmusik. Alle Musikerinnen und Musiker von Alma musizieren ohne Notenbehelf.  D3 Performance Stil Die Performance enthält allerdings einige Crossover-Momente. Die Band ist leger gekleidet, ist bemüht, rhythmischen „drive“ zu erzeugen und bewegt sich intensiv zum Rhythmus der Musik.

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Abbildung 65: Performance-Stil von ALMA.

Quelle: Live-Auftritt beim Schrammel Klang Festival Litschau 0’26’’.

 D4 WAS konstituiert der Interpret/ die Interpretin in seiner/ ihrer Performance kulturell? Alma ist ein musikalisches Quintett, das aus Österreich und Südtirol stammt. Alma besteht aus jungen Musikerinnen und Musikerin im Alter um die dreißig Jahre. Die Verbindung von traditioneller Musik und modernen Elementen aus aller Welt steht im Vordergrund. Almas Repertoire beinhaltet die Fortführung und Weiterentwicklung von alpiner Volkskultur.  D5 WIE macht sie/er das (in Bezug auf die Konventionen des Stilfeldes)? Das Repertoire von Alma besteht unter anderem aus Stücken aus Volksliedsammlungen. Es erfolgt eine Bearbeitung für die Quintett-Besetzung (3 Geigen, Harmonika, Kontrabass und mehrstimmiger Gesang). Das Quintett widerspricht in seiner optischen Inszenierung den Konventionen des Stilfeldes. Die Kleidung wirkt bewusst an Alltagskleidung angelehnt, ausgeschmückt mit traditionellen und modernen Elementen. J. Lacherstorfer und E. Mair tragen Kopftücher, aber auch Sonnenbrillen. Die dynamische Performance erfolgt im Stehen. Ursprünglich funktionelle Musik kommt in Form eines Andachtsrituals auf eine Waldbühne.  D6 Wie und in welcher Form finden Übersetzungen (Translationen) statt?

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Ein Jodler wird von einem Quintett interpretiert, das seine Musik als Versuch beschreibt „wie die österreichische Volksmusik-Tradition an die Jetztzeit und die Menschen, die in ihr leben, angepasst werden kann“34. Der „Admonter Echojodler“ wird seiner Notation entsprechend interpretiert, aber auch rhythmisch intensiviert.  D7 Ergebnisse der Analyse des Aufführungsrituals Almas Performance findet auf einer künstlich angelegten Waldbühne, nicht in einer Konzerthalle statt und entspricht eher einem Andachtsritual (bestuhlter, ruhiger Publikumsraum) als einer Publikumsanimation. Das Publikum wurde auf Strandstühlen platziert.

34 ALMA Website. Band.

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5B) 5/8ERL IN EHR‘N: „ALABA, HOW DO YOU DO?“ A Analyse des audiovisuellen Produkts  A1 Faktische Ebene: Titel des Musikstücks / Datum der Aufführung bzw. der Veröffentlichung des Musikvideos Der Musikvideoclip „Alaba, How do you do?“ von 5/8erl in Ehr’n wurde am 8. Oktober 2014 veröffentlicht. Der Song ist auf dem am 10. Oktober 2014 erschienen Album „Yes We Does“ zu finden.  A2 Personelle Ebene: Name des/r Interpret/in, oder der Gruppe der Interpret/innen sowie deren Geschlecht, Alter, Herkunft und kultureller Hintergrund; Verhältnis Autor/innen zu Interpret/innen Die Band 5/8erl in Ehr’n wurde 2012 in Wien gegründet. Die Band beschreibt ihren musikalischen Stil als „Wiener Soul“. In den Kompositionen sind Einflüsse aus dem Wienerlied, Jazz, Grooves aus Soul und Blues (Slide Guitar) und HipHop (Sprechgesang) zu erkennen. 5/8erl in Ehr’n besteht aus Max Gaier (Gesang), Bobby Slivovsky (Gesang), Miki Liebermann (Gitarre), Clemens Wenger (Akkordeon, Wurlitzer Electric Piano) und Hanibal Scheutz (Kontrabass, Gesang). Alle Bandmitglieder haben ein (Jazz-)Studium ansolviert. Das Debütalbum „Es muss was wunderbares sein“ ist im Jahr 2008 erschienen. Der Song „Alaba, How do you do?“ wurde von der Band gemeinsam komponiert und getextet.  A3 Musikalische Ebene: Das Musikstück, seine Form und Besetzung, Noten, Umgang mit Genrekonventionen: Bestätigung / Überschreitung (Crossover) Der Song Song „Alaba, How do you do?“ weist einen Bezug zur österreichischen Zeitgeschichte auf. Auf jedem Album der Band 5/8erl in Ehr’n befindet sich ein Song zum Thema Fußball. Der erfolgreiche Fußballer David Alaba war Titelgeber für den Track. Der Text wird musikalisch unterstützt von Kontrabass, Gitarre und Electric Piano, was den Stil der Band definiert. Der Refrain ist im 7/8 Takt, die Strophen in einem schnellen 2/4 Takt mit Polka bzw. Ska bzw. Flamenco Elementen. Dadurch ergibt sich ein Balkan-Bezug. Ein Crossover findet vor allem zwischen den Stilfeldern „Volksmusik/World Music“, „Jazz/ improvisierte Musik“ und „Rock- und Popmusik“ statt.

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 A4 Literarische Ebene: Titel / Lyrics, Analyse des Songtexts / des Librettos (Bedeutungsmöglichkeiten) Lyrics Alaba – ,How do you do?‘35 (Musik & Text: Max Gaier, Bobby Slivovsky, Miki Liebermann, Clemens Wenger, Hanibal Scheutz) Alaba – ,How do you do‘ Yes he do, Yes we does! I komm aus am Land... ...wo ma stolz is, dass Hermann Maier ned homophob is ...des si verändert, weil Richard Lugner morgen gendert ...wo Polizisten, mit vü Make-Up und Faschisten ...wo ma froh is, dass Niki Lauda nu ned tot is ...wo ma stolz is, auf an Handshake mit am Goldfish ...das recht reich is, wo da Hickersberger glaubt, dass er a Scheich is ...wo Nihilisten, sogar auf Facebook sans jetzt schon die Christen Alaba – ,How do you do?‘ Yes he do, yes we does! I kumm aus am Land... ...wo ma stolz is, dass Hermann Maier ned homophob is ...des recht leidet, mit Christoph Schönborn sich entkleidet ...wo Uwe Kröger fescher is ois Peter Stöger ...wo Asylanten an Wechselkurs ham, ned da Schweizer Franken ...wo Lipizzaner mehr Strahlung ham als vü Japaner ...Leut glaubn, dass Tschuschn mehr Dreck mochn ois tote Taubn ...wo Nihilisten, sogar auf Facebook sans jetzt schon die Christen Alaba – ,How do you do?‘ Yes he do, yes we does!

Der Song beginnt mit dem Wort „Alaba“. In der österreichischen Gesellschaft wird dieser Begriff sofort mit dem Fußballspieler David Alaba assoziiert. Es folgen drei englische Sätze. Auf die Frage nach dem Wohlbefinden folgt die gram-

35 5/8erl in Ehr’n. Lyrics Alaba – ,How do you do?‘. https://www.lyricsmania-.com/ alaba_-_how_do_you_do_lyrics_5_8erl_in_ehrn.html (Zugriff: Juni 2021)

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matikalisch falsche Antwort „Yes he do, yes we does!“. Hier wird mit dem Klischee der schlechten Englischkenntnisse der österreichischen Bevölkerung gespielt. Der weitere Textverlauf erfolgt umgangssprachlich mit Verweisen auf diverse österreichische Prominente. Hier wird immer wieder polemisch auf unwichtig erscheinende Gegebenheiten verwiesen, die im Laufe der 2010er Jahre medial aufgegriffen wurden. In Österreich sei man froh, dass die Rennfahr-Legende Niki Lauda trotz Unfällen und Krankheiten noch immer lebt. Es wird darauf verwiesen, dass der ehemalige Trainer der österreichischen Nationalmannschaft Josef Hickersberger nun eine Mannschaft in den Arabischen Emiraten trainiert. Auch Homophobie und Sexismus werden der österreichischen Bevölkerung zugeschrieben, doch Akteure wie der ehemalige Schirenläufer Hermann Maier oder Baumeister Richard Lugner treten diesen Vorurteilen in der Zuschreibung des Songs entgegen. Nach der Wiederholung der Worte Alaba – ,How do you do?‘ „Yes he do, yes we does“ widmet sich die zweite Strophe hauptsächlich dem dichtomen Verhältnis zwischen Xenophobie und Österreich als Tourismusland. Der populistische Umgang mit Asylwerbenden wird kritisch beleuchtet: „wo Asylanten an Wechselkurs ham, ned da Schweizer Franken“. Gleichzeitig findet Österreichs Hochkultur als Tourismusmagnet ihre Kritik: „wo Lipizzaner mehr Strahlung ham als vü Japaner“. Beide Strophen karikiieren die Position des Christentums in Österreich mit den Worten „...wo Nihilisten, sogar auf Facebook sans jetzt schon die Christen“, was auf die jährliche steigende Rate der Kirchenaustritte in Österreich verweisen könnte. Der Song übt gleichzeitig Gesellschaft- und Medienkritik, kritisiert den Umgang der Regenbogenpresse mit B- und C-Prominenz. „Der Tiroler Landeshauptmann Günther Platter hatte den Fußball-Star bei einem PresseEmpfang auf Englisch angeredet. Dieser Vorfall diente als Inspiration sich über die Popularität von David Alaba seine Gedanken zu machen und eine Art Nachdenk-Hymne über das Land „aus dem man kommt“ zu verfassen. Mit all den Namedroppings, die die Titelblätter des Boulevards hergeben: Hermann Maier, Richard Lugner, Christoph Schönborn u.a. Ein Song, in dem die Zeile vorkommt: „Ich komm ausm Land, wo Leute glauben, dass Tschuschen mehr Dreck machen als tote Tauben.“36

 A5 Räumliche Ebene: Schauplatz des Auftritts, die Situation in der dieser stattfindet (Live-Auftritt / Musikvideoclip)

36 Ondrušová 2015, o.S.

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Im Musikvideoclip werden verschiedene Schauplätze in Wien gezeigt, einige Aufnahmen fanden offensichtlich in einem Studio statt. Das Musikvideo zu „Alaba, How do you do?“ ist im urbanen Raum angesiedelt. Es setzt sich aus Außenaufnahmen auf verschiedenen Straßen und Plätzen in Wien, in einem Park und Studio-Innenaufnahmen zusammen.  A6 Performative Ebene: Analyse der Filmsequenz: Figuren, Bewegungsabläufe (statisch / dynamisch), Kameraeinstellungen, Beleuchtung, ästhetische Aspekte, u.a. Der Musikvideoclip zu „Alaba, How do you do?“ beginnt mit einem medium shot auf eine Kirchenfassade. Die Kamera bewegt sich die Fassade hinunter und fokussiert einen Priester, der begleitet von zwei Priesteranwärtern die Treppen von dem Kirchentor hinuntergeht. Die beiden Begleiter senken den Blick, der Priester geht mit geöffneten Armen und aktivem Blick in die Kamera die Treppe hinunter. Ein Schnitt wechselt auf die Band 5/8erl in Ehr’n (medium long shot), sie steht in einem Studio, die Instrumente werden gespielt, die beiden Sänger singen. Alle Musiker/innen sind einheitlich mit schwarzer Hose und weißem Hemd gekleidet. Die beiden Sänger Max Gaier und Bobby Slivovsky sind in einem close-up zu sehen. Im Hintergrund ist der Bassist Hanibal Scheutz erkennbar, der den Priester verkörpert. Der Schnitt wechselt zurück zu der ersten Sequenz. Der Priester leckt seinen goldenen Ring ab. Nach zwei Sekunden erfolgt ein Szenenwechsel zur Band im Studio. Bereits in den ersten 10 Sekunden setzt sich die Montage aus vier Schnitten zusammen. Bei 0’12’’ findet eine neue Sequenz Einzug. Ein Polizist, gespielt vom Sänger Bobby Slivovsky, und eine Polizistin (besetzt mit einer Schauspielerin) gehen in einem Park entlang. Ihnen kommen zwei Schwarze Männer entgegen. Schnittwechsel zur Band, es wird „I komm aus am Land, ma stolz is“ gesungen. Schnitt auf den Priester, der die beiden Priesteranwärter segnet. Während der Textzeile „dass Hermann Maier ned homophob is“ verweilt die Kameraeinstellung auf dem Priester, der langsam die Augen schließt. Schnittwechsel zur Band, dann zu den Polizisten. Bei den Worten „des si verändert“ ist der Polizist (close-up) zu sehen, er schreit, Spucke tritt aus seinem Mund. Der Schnitt wechselt im Gegenschuss zu den zwei Schwarzen Männern. Bei „weil Richard Lugner morgen gendert“ ist der Sänger Max Geier zu sehen, im Hintergrund befindet sich die Band. Es erfolgt eine Montage mit starkem Text-Bildbezug, die Sequenzen sind teilweise nur eine Sekunde lang zu sehen. Bei „Polizisten“ ist die Polizistin schreiend im Bild (close-up), bei „Make-Up und Faschisten“ der Priester mit den knienden Priesterantwärtern zu sehen, die seinen Ring küssen (medium close-

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up). Die Textzeile „wo ma froh is, dass Niki Lauda nu ned tot is“ wird visuell von Schnitten zwischen der Band und der Polizisten-Szene untermalt. Die Polizisten bedrohen die beiden Männer scheinbar grundlos. Bei der Textzeile „das recht reich is“ wechselt der Schnitt zurück zu dem Priester, der ein liturgisches, vergoldetes Utensil aus seiner Tasche halt. Bei „wo da Hickersberger glaubt, dass er a Scheich is“ ist die Band zu sehen. Die Textzeile „wo Nihilisten“ visualisiert den Priester. Mit „sogar auf Facebook sans jetzt schon die Christen“ endet die Strophe. Der Refrain fokussiert den Pianisten Clemens Wenger, der Schnitt wechselt in ein Cabrio. Der Pianist steuert dieses Fahrzeug. Er schaut in den Rückspiegel und leckt sich über die Lippen. Die Szenerie ändert sich wieder zur spielenden Band, es erfolgen einige medium close-ups, die die spielenden Händen am Kontrabass und auf der Gitarre fokussieren. Für den Refrain wird eine neue Sequenz eingeführt. Ein Mann (gespielt vom Sänger Max Beier) in rotem Rüschenhemd liegt mit geschlossenen Augen auf einem Sofa. Eine nicht erkennbare Person versucht ihn wachzurütteln. Auf die Einblendung der Band wird ein weiteres Mal die Sequenz mit den Polizisten eingeblendet. Die Polizistin bemalt die Wangen des Polizisten mit einem Rotstift. Mit einem dicken grünen Stift wird eine weitere Linie hinzugefügt. Der Refrain endet mit „Yes we does“, visuell ist der schlafende Mann im roten Rüschenhemd (ein Schlagerstar) beim Aufwachen zu beobachten. Ihm wird eine selbstgedrehte Zigarette angeboten, er schiebt diese weg. Die zweite Strophe beginnt mit „I kumm aus am Land ...“. Bei „wo ma stolz is, dass Hermann Maier ned homophob is“ ist der Mann im roten Rüschenhemd zu sehen, der seinen Kopf ins Bild hebt (head and shoulder close-up). Auf seiner Nase-, Mund- und Kinnpartie befindet sich weißes Pulver. Die Textzeile „des recht leidet, mit Christoph Schönborn sich entkleidet“ wird visuell von der Priester-Sequenz begleitet. Schnitt auf die Band zeigt Clemens Wenger, der in eine Luftrüsseltröte bläst. Ein Accessoire, das in Österreich mit der Faschingszeit konnotiert wird. Die parodistische Intention des Liedes ist u.a. durch dieses wiederkehrende Element erkennbar. Clemens Wenger ist in der darauffolgenden Sequenz als Protagonist zu sehen. Zur Textzeile „wo Uwe Kröger fescher is ois Peter Stöger“ geht er im Anzug und mit Sonnenbrille eine Straße entlang und schlägt einer jungen Frau, die gerade telefoniert, mit einer Zeitung auf den Hintern (medium long shot). Diese sieht ihm entsetzt nach. Er dreht sich um und grinst (close-up). Bei den Worten „wo Asylanten an Wechselkurs ham, ned da Schweizer Franken“ ist die Sänger Bobby Slivovsky im Bild. Die Textzeile „wo Lipizzaner mehr Strahlung ham als vü Japaner“ zeigt die beiden Polizisten beim Tanzen um die Schwarzen Männer, die sie an einen Baum gebunden haben. Die

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Sequenz erinnert an die klischeehafte Darstellung von Native Americans im Filmgenre Western. Während der Textstelle „Leut glaubn, dass Tschuschn mehr Dreck mochn ois tote Taubn“ wird ein beinahe geschehender Autounfall angedeutet. Ein junger Mann – ohne offensichtlichen Migrationshintergrund – wird fast von einem Cabrio angefahren. Dies wird durch eine Vollbremsung des Autos vermieden. Gelenkt wird das Auto vom Pianisten Clemens Wenger. Der Mann im Auto öffnet abschätzig den Mund, der beinahe angefahrene junge Mann gestikuliert. Schnitt zur Band, die Szenerie wechselt beim Wort „Nihilisten“ wieder zum Priester, der mit einem liturgischen Gegenstand vermutlich Weihrauch auf die beiden Priesteranwärter spritzt. Die zweite Strophe endete mit der Textzeile „sogar auf Facebook sans jetzt schon die Christen“, die der Sänger Bobby Slivovsky in die Kamera singt. Der Refrain wird optisch durch eine schwarze, spärlich beleuchtete Bühne eröffnet. Sobald der Gesang einsetzt, betritt der Mann im roten Rüschenhemd diese. Er trägt einen weißen Anzug, das rote Hemd darunter und hält ein rotes Akkordeon (medium long shot). Während er das Instrument bedient, das akustisch jedoch nicht zu hören ist, wird von beiden Bühnenrändern Konfetti geworfen. Der Konfetti-Regen findet nicht nur auf der Bühne des Akkordeonisten, sondern auch in einer Szene mit der gesamten Band Einzug. Der Schnitt auf den Priester zeigt, dass dieser mit dem Spritzen von Weihwasser regenähnliche Zustände auslöst. Die instrumentale Bridge wird von einem Gitarrensolo dominiert. Die Gitarristin Miki Liebermann, die in keiner Szene schauspielerisch tätig ist, ist in einem medium close-up zu sehen. Sie lächelt in die Kamera, diese fokussiert ihre Hand am Gitarrenbund. Sie trägt ein Bottleneck am kleinen Finger (Slide Guitar). Der Schnitt wechselt auf eine Gruppe von Menschen verschiedener ethnischer Zugehörigkeit. Alle stehen mit Hosen und weißen ärmellosen Shirts bekleidet in drei Reihen aufgestellt (medium long shot). Die Musiker/innen nähern sich seitlich und werfen buntes Farbpulver auf sie. Dies erinnert an Holi, das indische Frühlingsfest. Dieses Fest der Farben ist auch unter der Namen Simga, Oriya Dol Yatra oder Kamadahana geläufig. Das Fest erlaubt eine kurzzeitige Aufhebung von Kaste, Geschlecht, Alter und gesellschaftlichem Status. Im Zuge der Feier bewerfen sich Menschen gegenseitig mit gefärbtem Wasser und gefärbtem Puder, dem Gulal. Während die Musiker/innen Farbpulver werfen, lässt die Menschengruppe dies unkommentiert, reaktionslos über sich ergehen. Ein Schnitt auf die Gitarristin Miki Liebermann dokumentiert deren SlideTechnik beim Spielen der Gitarre. Die gesamte Band trägt nun Sonnenbrillen und klatscht im Takt des Songs. Die Textzeile „I kumm aus am Land“ wird mehrfach wiederholt. Die Montage zeigt den Akkordeonisten auf der Bühne mit-

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singend, die Polizisten bei einem ritualisierten Tanz um die beiden an einen Baum gebundenen Schwarzen Männer. Die Männer verziehen verwundert das Gesicht. Auf den beinahe angefahrenen jungen Mann regnet es Konfetti. Der Autofahrer grinst in die Kamera. Sänger Bobby Slivovsky bemalt einen Statisten mit rosa Farbe im Gesicht. Die Sequenzen geraten inhaltlich immer mehr außer Kontrolle. Die beiden Polizisten imitierten die berühmte Pose John Travoltas aus dem Film „Saturday Night Fever“. Clemens Wenger wirft sich vor der Gruppe der mit Farbe beworfenen Menschen auf den Boden. Die Polizisten machen ein Selfie mit den gefesselten Männern. Die Band klatscht in dieser Sequenz mit ihren Instrumenten seriös wirkend zum Takt der Musik, der Hintergrund wechselt zwischen gelber und türkiser Wand. Die Band trägt abwechselnd Sonnenbrillen oder keine. Die Kamera nähert sich den Instrumentalist/inne immer wieder mit close-ups auf die spielenden Hände. Das Ende des Videos bildet ein Schnitt auf den im Auto sitzenden Fußballer David Alaba, der ein VictoryZeichen in die Kamera hält und „Yes, we does“ sagt.  A7 Narrative Ebene: Plot des Videoclips wird kurz zusammengefasst bzw. nacherzählt, Zusammenwirken von Musik, Text und Bild Der Musikvideoclip zu „Alaba, How do you do?“ ist eine Montage, die sich einer Vielzahl von österreichischen Klischees und Stereotypen bedient. Themen wie Rassismus, die katholische Kirche und Nationalstolz werden auf parodistische Art im Videoclip verarbeitet. Fast alle Bandmitglieder sind als Musiker/innen, aber auch als Schauspieler/innen im Musikvideoclip zu sehen. Textzeilen werden mit Hilfe der filmischen Montage visuell parodiert. Im letzten Drittel des Videos kippen alle gezeigten Situationen in ein absurdes buntes Faschingstreiben, inspiriert u.a. auch vom indischen Frühlingsfest Holi.  A8 Kulturelle Ebene: Stilfelderbezug, Verhältnis von Text-, Bild- und Musikebene (Homologien), entstehen „Zwischenräume“ (Third Spaces)? Homologien Zwischen Text und Musik kann die Titelzeile als Homologie gesehen werden, da sich der 7/8-Takt unmittelbar aus dem Sprechrhythmus ableitet. Zwischen Text und Bild existieren zahlreiche Bezugnahmen, die aber nicht synchron, sondern im Sinne einer Collage stattfinden. Die Klischees, die sich im Song und im Musikvideoclip zu „Alaba, How do you do?“ wiederfinden, widersetzen sich einem eindeutigen Zusammenhang zwischen Bild und Ton. Dies erzeugt einen Querstand. So ist beim Wort „Nihilisten“ der Priester zu sehen. Die Textstelle „Leut

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glaubn, dass Tschuschn mehr Dreck mochn ois tote Taubn“ deutet einen beinahe geschehenden Autounfall an. Ein junger Mann – ohne offensichtlichen Migrationshintergrund – wird fast von einem Cabrio angefahren. Das Wort „Tschusch“ und der angefahrene Mann, der keinen offensichtlichen Migrationshintergrund aufweist, erzeugen einen weiteren Querstand. Eine konkrete Homologie zeigt allerdings die letzte Szene: Der Fußballer David Alaba ist höchstpersönlich in einem Auto sitzend zu sehen wie er ein Victory-Zeichen in die Kamera hält und „Yes, we does“ sagt. Third Spaces Der Musikvideoclip „Alaba, How do you do?“ verhandelt nicht eine Story. Es existieren mehrere Handlungsstränge, die montageartig zu einem Musikvideoclip zusammengeschnitten werden. Diese Parallelhandlung thematisieren diverse österreichische Klischees wie Reichtum und Einfluss der katholischen Kirche, Rassismus und Polizeigewalt, Drogenmissbrauch im Schlagerbereich und Alltagssexismus. Die Montage als Stilmittel des Avantgardefilms und seine formale Experimentierfreudigkeit ergänzen die Kreativität des Songs. Das Lied und seine filmische Umsetzung setzen die Tradition des Spottliedes fort. Figuren der Obrigkeit und alltägliche gesellschaftliche Handlungen werden komödiantisch dargestellt und der Lächerlichkeit preisgegeben. Durch das Kippen der gezeigten Szenen in eine karnevaleske Party kommen darüber hinaus noch Elemente von Spaßkultur und typisch österreichischem kabarettistischabsurdem Theater vor. Ein Third Space – ein Widerstandsraum gegen Herrschaftsverhältnisse – entsteht hier durch die Parodie, durch ein komödiantisches Narrentheater als Ort der Wahrheit und des Lachens. B Figurenanalyse  B1 Rolle: Welche Rolle nimmt der/die Interpret/in in der Szene ein? Wie definiert sich die Funktion / der Status des/der Künstlers/in im Rahmen des Auftritts? Einfache oder komplexe Figurenkonstruktion? Die Musiker Max Gaier, Bobby Slivovsky, Clemens Wenger und Hanibal Scheutz sind in ihrer Funktion als Musiker, aber auch als Schauspieler im Musikvideoclip zu „Alaba, How do you do?“ zu sehen. Sie nehmen verschiedene Position in dem Musikvideoclip ein, verkörpern unterschiedliche österreichische Stereotypen. Die Gitarristin Miki Liebermann ist nur in ihrer Funktion als Musikerin im Musikvideoclip präsent. Beim Gitarrensolo ist sie als einzige Musikschaffende im Bild, die Kamera dokumentiert mit Nahaufnahmen ihre Spiel-

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technik. Erzählt wird der Song „Alaba, How do you do?“ von den Sängern Max Gaier und Bobby Slivovsky auf auditiver Ebene. Auf visueller Ebene bilden alle Musiker/innen einen Teil des diegetischen Geschehens.  B2 Inszenierung: optische Inszenierung der Figur: Kostüm / Make Up / Frisur / figurbezogene Requisite etc. Alle Musiker/innen sind einheitlich mit schwarzer Hose und weißem Hemd gekleidet. Diese Outfits erinnern an die typische Berufskleidung der Kellner der Wiener Kaffeehauskultur. Alle tragen verschiedenfarbige Sportschuhe der Firma Asics. Die Männer haben zusätzlich schwarze Hosenträger, Gitarristin Miki Liebermann trägt statt der Hosenträger ein schwarzes Gilet. Sequenzweise tragen die Musiker/innen dunkle Sonnenbrillen. Die Haare sind nicht außergewöhnlich gestylt, es ist kein besonderes Make-Up ersichtlich. In der Aufführungssituation zählen die Instrumente der Musiker/innen, genau wie das Konfetti und die Luftrüsseltröten, die geblasen werden, zu den figurbezogenen Requisiten. Abbildung 66: Optische Inszenierung der Band.

Quelle: Musikvideoclip „Alaba, How do you do?“ 3’09’’.

Die männlichen Musiker sind als Schauspieler in ihren Rollen den Stereotypen, die sie verkörpern, entsprechend inszeniert. Hier kommen die Kostümierung des Priesters, eines Polizisten, eines Schlagermusikers zum Einsatz. Als figurbezogene Requisiten können weiters das Cabrio, das Akkordeon des Schlagermusikers, der Weihwassersprenger und der Ring des Priesters gelten.

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 B3 Bewegung: Bewegungsrepertoire, Mimik / Gestik und wenn es sich um ein Lied handelt die Stimme / die Gesangslinie Die Musiker/innen bewegen sich dem Rhythmus und Tempo der Musik entsprechend, sofern das die Instrumente zulassen. Die Figuren, die die männlichen Musiker verkörpern, entsprechen den Anforderungen an den jeweiligen Stereotypen. Aus dem Rahmen fallen die beiden Polizist/innen, die die berühmte Pose John Travoltas aus dem Film „Saturday Night Fever“ imitieren und einen ritualisierten Tanz um die beiden gefesselten Männer durchführen. Abbildung 67: Tanzende Polizist/innen.

Quelle: Musikvideoclip „Alaba, How do you do?“ 2’55’’.

Einen Querstand erzeugt zusätzlich das Bewerfen von Menschen verschiedener ethnischer Zugehörigkeit mit Farbpulver. Dies geschieht in chaotischer, beinahe anarchischer Form und widersetzt sich jeglicher Taktvorgabe.  B4 Geschlecht: Genderspezifische Darstellungen sowie Verkörperungen, Grad der Bedeutung / Dekonstruktion von Geschlecht Während die männlichen Musiker stereotype Figuren im Musikvideoclip verkörpern, ist eine Person nur in ihrer Funktion als Musikschaffende zu sehen. Die Gitarristin Miki Liebermann ist in keiner Szene schauspielerisch tätig. Die Inszenierung der Figuren im Musikvideoclip zu „Alaba, How do you do?“ entspricht den binären Geschlechterverhältnissen. Einer Frau wird mit einer Zeitung auf den Hintern geschlagen.

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Abbildung 68: Beispiel für geschlechtliche Stereotypen (sexuelle Belästigung).

Quelle: Musikvideoclip „Alaba, How do you do?“ 1’35’’.

Ein Mann lenkt ein Cabrio. Die Polizistin schminkt den männlichen Polizisten, damit dieser optisch dem Stereotyp des Native American ähnelt. In der Parodie auf das Genre „Schlager/volkstümliche Musik“ ist keine Frau zu sehen. Einzig mit der Anspielung auf Holi, das indisches Frühlingsfest, ist Diversität vorhanden. Menschen verschiedener Geschlechter, verschiedener Herkunft werden mit bunten Farbbeuteln beworfen. Der „bunte Mensch“ findet Einzug in den Musikvideoclip.  B5 Zitate: Bezüge zu anderen Videoclips, Songs, Personen, kulturellen oder kulturgeschichtlichen Entitäten Im Musikvideoclip „Alaba, How do you do?“ existiert eine Vielzahl von Zitaten auf verschiedene kulturhistorische Gegebenheiten, aber auch auf österreichische Klischees. Die offensichtlichste optische Referenz ist die Symbolik des indischen Frühlingsfests Holi, das am ersten Vollmondtag des Monats Phalgun (Februar/März) gefeiert wird. Das Fest erlaubt eine kurzzeitige Aufhebung der Kaste, Geschlecht, Alter und gesellschaftlichen Status. Im Zuge der Feier besprengt und bestreut sich Menschen gegenseitig mit gefärbtem Wasser und gefärbtem Puder, dem Gulal. Im Musikvideoclip werden die Farben von der Band 5/8erl in Ehr’n geworfen.

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Abbildung 69: Imitation des indischen Frühlingsfests Holi.

Quelle: Musikvideoclip „Alaba, How do you do?“ 2’33’’.

Ein weiteres Zitat findet sich beim Einsatz eines Priesters gleich zu Beginn des Videos wieder. Dieser verkörpert den Reichtum und das umstrittene Bild der katholischen Kirche in Österreich. Direkte Textbezüge sind unter anderem während der Textzeile „dass Hermann Maier ned homophob is“ zu sehen und hören. Hierbei verweilt die Kameraeinstellung auf dem Priester, der langsam die Augen schließt. Clemens Wenger erläuterte während seines Vortrags beim Songwriting Workshop 2016 am 11. Juli 2016 an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien den Satz: „I komm aus am Land, wo ma stolz is, dass Hermann Maier ned homophob is“: Während der Olympischen Spiele in Sotschi wurde das russische Gesetz, das die Propaganda von nicht heterosexueller Orientierung in der Öffentlichkeit verbietet, nicht aufgehoben.37 Hermann Maiers positive Äußerung zur LGBTIQ-Community zu dem Zeitpunkt beruhigte die medialen Gemüter.

37 o.A. Gesetz gegen Homosexuelle gilt auch bei Olympia. In: Die Zeit: http://www.zeit. de/politik/ausland/2013-08/russland-sotschi-homosexualitaet-olympia (Zugriff: Juni 2021).

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Abbildung 70: Der Priester als österreichischer Stereotyp.

Quelle: Musikvideoclip „Alaba, How do you do?“ 0’27’’.

 B6 „Die Uhr der Figur“ nach Jens Eder (Eder 2004): o B6a „Die Figur als Artefakt“ – Gestaltung, Inszenierung der Figur 5/8erl in Ehr’n vermittelt den Zusehenden den Zusammenhalt eines musikalischen Kollektivs. Vier Männer und eine Frau zwischen Mitte dreißig und Mitte Fünfzig widmen sich der Folk & World Musik verbunden mit modernen Elementen. Gitarristin Miki Liebermann unterscheidet sich auf Grund ihres Geschlechts und Alters von den restlichen Bandmitgliedern. Die Band 5/8erl in Ehr’n vertritt den selbstbezeichneten „Wiener Soul“. o

B6b „Die Figur als fiktives Wesen“ – Körper, Persönlichkeit, Sozialität der Figur

Die Musikgruppe inszeniert sich im Musikvideoclip zu „Alaba, How do you do?“ als sozialkritische Band, die keinem Genre zuzuordnen ist. In ihrer Funktion als Musiker/innen sind die Mitglieder in schwarzen Hosen und weißen Oberteilen zu sehen. In ihrer Funktion als Schauspieler im Musikvideoclip sind die Musiker den Rollen, die sie verkörpern, entsprechend gekleidet. Die Band befindet sich als Kollektiv im Bild. Es gibt keine protagonistische Mitte. Die Unterscheidung von Instrumentalisierung und Gesang definiert keine/n Bandleader. Die Kamera fokussiert Musiker/innen, wenn sie Soli spielen oder um die Spieltechnik der einzelnen Musiker/innen hervorzuheben. Der Einsatz der Musiker als Schauspieler in den verschiedenen Handlungssträngen irritiert auf Grund

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des Wiedererkennungsfaktors. Ein bewusstes Verkleiden der einzelnen Musiker dient nicht der Unkenntlichmachung und garantiert somit das Wiedererkennen der fiktiven Figuren des Musikvideoclips. o

B6c „Die Figur als Symbol“ – indirekte Bedeutung, Symbolik/Metapher

„Die fünf Achterln mixen wunderbar Wiener Soul, Rock, Walzer und Groove.“38 5/8erl in Ehr’n versuchen nicht eine bestimmte musikalische Tradition zu bedienen, sondern mit ihrem Stil Neues zu schaffen. „Immer kunstvoll zwischen den verschiedenen stilistischen Stühlen agierend, stand die Musik der fünfköpfigen Truppe stets für eine nicht wirklich in eine einzelne Kategorie zuordenbar.“39 Dies manifestiert sich in der Kreation eines eigenen Genres, dem „Wiener Soul“. Dieser urbane Musikmix erlaubt der Band sozial- und gesellschaftskritisch zu agieren und als Symbol für hedonistisches Komödiantentum, als Wiener, die sich über alles lustig machen, aufzutreten. o

B6d „Die Figur als Symptom“ – kommunikative Ursache/Wirkung, soziokultureller Kontext

Der Bandname 5/8erl in Ehr’n stammt von einem Wiener Heurigenspruch: „Ein Achterl in Ehren, kann niemand verwehren.“40 Die Band macht keinen Mythos aus dem Namen, sondern verweist mit der Anekdote auf die tiefe Verbundenheit mit Wien. Dieses Bild setzt sich im Musikprogramm von 5/8erl in Ehr’n fort. Eigene Kompositionen weisen zeitgeschichtliche Bezüge auf, wie zum Beispiel der Song zum Akademikerball mit dem gleichnamigen Titel auf dem Album „Yes We Does“ oder der analysierte Song „Alaba, How do you do?“. Der Faux Pas des Tiroler Landeshauptmanns Günther Platter löst die Idee zu einem Song aus. „Dieser Vorfall bildet den textlichen Mittelpunkt des Songs, in dem kein gutes Haar an der österreichischen Gesellschaft gelassen wird. Oberflächlich geht es dabei aber nicht um Otto-Normalverbraucher, sondern um die Außendarstellung Österreichs, die wie ein löchriger Käse ist.“41 Die Kritik der Band führt von Vertretern der Medienprominenz über rassistische Polizeigewalt bis hin zur Macht der Kirche in Österreich.

38 Mendel 2015, o.S.. 39 o.A. mica-Portrait: 5/8erl in Ehr’n, o.S.. 40 Mendel 2015, o.S.. 41 Darok 2015, o.S..

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Der Grammatikfehler im Albumtitel ist bewusst eingesetzt. Die Gitarristin Miki Liebermann beschreibt die Entstehung des Titels: „Der Satz entspricht unserem Englischniveau ziemlich gut. Unsere englische Grammatik ist ungefähr so gut wie die vom Herrn Platter. Er hätte sich allerdings vorher erkundigen können, wo Alaba herkommt. Man könnte sich auch daran gewöhnen, dass es dunkelhäutige Österreicher gibt.“42 Die Band bedient sich biografischer Elemente, verweist auf ihre schlechten Englischkenntnisse und übt gleichzeitig Kritik an der österreichischen Gesellschaft in der Erklärung ihres Albumtitels. Mit dem Verweis auf das Nichtkönnen einer Sprache wird polemisch als Kritik an der Einstellung einzelner Österreicher/innen gegenüber Mitbürger/innen anderer ethnischer Hintergründe geübt. Zusammenfassend kann die kollektive Figur der Band als Symptom für die ungebrochene Kraft des parodistischen gesellschaftskritischen Kabaretts in Österreich gedeutet werden. C Bühne und Publikum 5/8erl in Ehr’n „Heit hea i dem Regn zua“ – Live Auftritt in Linz Posthof Oktober 2014 https://www.youtube.com/watch?v=6rToWwSnqiw&list=PLnMntmQo0_Pb_hp 0Md8PdCCWpkdu5O4YB&index=41  C1 Gesamtkonzept: Die Bühne wird als Gesamtkonzept betrachtet. Sind Musiker/innen sichtbar, gibt es Backgroundtänzer/innen, eine Choreographie, ein Bühnenbild, Requisiten? Die Band 5/8erl in Ehr’n trat live (Linz Posthof 2014) in folgender Besetzung auf: Max Gaier (Gesang), Bobby Slivovsky (Gesang), Miki Liebermann (Gitarre), Clemens Wenger (Akkordeon, Wurlitzer Electric Piano) und Hanibal Scheutz (Kontrabass, Gesang). Auf der Bühne befinden sich die Musiker/innen, ihre Instrumente, Stühle und Mikrofone. Die Bandmitglieder sitzen auf der Bühne, nur der Kontrabassist Hanibal Scheutz spielt stehend, was die Beschaffenheit seines Instruments voraussetzt. Die männlichen Musiker tragen schwarze Hosen, weiße Oberbekleidung (Hemden oder T-Shirts), die beiden Sänger tragen zusätzlich schwarze Hosenträger. Gitarristin Miki Liebermann ist schwarz gekleidet. Die Kleidung entspricht weitgehend der Inszenierung im Musikvideo.

42 Miki Liebermann zitiert nach Mendel, 2015, o.S..

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 C2 Technik: Die Technik – als Teil der Bühne – ist ein weiterer Aspekt: das audiovisuelle Konzept, der Ton, das Licht. Die Bühne ist zu Beginn des Auftritts dunkel, nur die Musiker/innen werden beleuchtet. Mit Beginn des Gesangs wird die Beleuchtung intensiviert. Dunkelblaue Lichtkegel beleuchten auch den Bühnenhintergrund. Während des gesamten Songs ist die Bühne in den Farben Dunkelblau wechselnd in einen violetten Farbton beleuchtet. Die Lichtkegel variieren in ihrer Ausrichtung und Intensität. Die letzten 40 Sekunden des Songs werden von intensiver Bühnenbeleuchtung untermalt.  C3 Bühne / Publikum: Existiert Interaktion zwischen Bühne und Publikum? Welche Regeln und Konventionen gelten für das Publikum bezugnehmend auf das Stilfeld? Gibt es Bestuhlung, darf getanzt werden, herrscht Stille, darf gesprochen/mitgesungen werden? Das Publikum sitzt während des Konzerts. Interaktion zwischen Bühne und Publikum existiert erst während des Schlussapplauses. Während der Performance verhält sich das Publikum ruhig, der Publikumsraum wird nicht beleuchtet, die Menschen sitzen. Dies entspricht den Kriterien einer Performance im Sinne eines Andachtsrituals. Das Publikum darf erst nach Ende der Performance Reaktion zeigen, muss sich währenddessen still verhalten, vergleichbar mit den Kriterien, die während eines klassischen Konzerts gelten. Einige Köpfe bewegen sich sanft zum Takt der Musik. Gegen Ende des Stückes verlassen zwei Personen in gebückter Haltung den Konzertraum. Sie versuchen bewusst den Ablauf des Konzerts nicht zu stören. Während des Spielens der letzten Töne (Kontrabass und Piano) setzen bereits Applaus und „Bravo“-Rufe ein.

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Abbildung 71: Inszenierung von Bühnenraum und Publikum.

Quelle: Live-Performance im Posthof Linz 2’33’’.

D Zusammenfassende Interpretation  D1 Kulturen/Erfahrungswelten Der Musikvideoclip ist eine Montage bestehend aus verschiedenen Handlungssträngen. Es wird auf Aspekte gegenwärtiger österreichischer Alltags- und Medienkultur Bezug genommen.  D2 Musikstile Die Band 5/8erl in Ehr’n bezeichnet den eigenen Musikstil als „Wiener Soul“. In den Kompositionen sind Einflüsse aus dem Wienerlied, dem Jazz, der World Music (Balkan, Polka, Flamenco) und Grooves aus Soul und Blues zu erkennen.  D3 Performance Stil Im Auftreten der Musiker/innen, der Kleidung und dem Verhalten beim Auftritt sind vielfältige Einflüsse verschiedener Genres erkennbar. Im Musikvideoclip verkörpern die männlichen Bandmitglieder neben ihrer Funktion als Musiker zusätzlich verschieden Figuren. Diese sind an negativ besetzte österreichische Stereotypen angelehnt. Beim Auftritt im Linzer Posthof tragen die männlichen Bandmitglieder schwarze Hosen und weiße Oberbekleidung. Die Funktion von Max Gaier und Bobby Slivovsky als Sänger und der Einsatz von Miki Lieber-

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mann als Gitarristin widersprechen den binären Geschlechtsverhältnissen: Eine weibliche Instrumentalistin und zwei männliche Instrumentalisten stehen zwei männlichen Sängern gegenüber.  D4 WAS konstituiert der Interpret/ die Interpretin in seiner/ ihrer Performance kulturell? Die Auseinandersetzung mit dem österreichischen Zeitgeschehen im Rahmen Albums „Yes we does“ verweist auf ein politisches Engagement der Band. Im Rahmen des Videos werden österreichische Alltagsthemen parodiert. Es ist eine Persiflage kurioser Aspekte der aktuellen österreichischen Gesellschaft: die Figuren werden karnevalesk inszeniert bzw. ins Lächerliche gezogen. Dies erinnert an die Tradition des anarchischen Wiener Volkstheaters bzw. des österreichischkabarettistischen Spottlieds. Die Interpreten konstituieren einen sowohl gesellschaftskritischen als auch parodistisch-hedonistischen Standpunkt. Abbildung 72: Parodie „Der koksende Musiker“.

Quelle: Musikvideoclip „Alaba, How do you do?“ 1’25’’.

 D5 WIE macht sie/er das (in Bezug auf die Konventionen des Stilfeldes)? Der Song besteht aus gereimten Gstanzln. Der Refrain ist im 7/8 Takt, die Strophen geben Antworten auf die immer wiederkehrende Zeile „i kumm aus an Land ...“ Im Videoclip erfolgt eine sketchartige Darstellung der persiflierten Typen durch Musiker und Schauspieler/innen.

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 D6 Wie und in welcher Form finden Übersetzungen (Translationen) statt? Der Song und das Musikvideo „Alaba, How do you do?“ erlaubt es 5/8erl in Ehr’n als Gesellschaftskritiker/innen zu agieren. Mit dem Song wird der Gesellschaft ein Spiegel vorgehalten. Erfahrungen als Mitglieder der österreichischen Gesellschaft werden künstlerisch transformiert, dabei spielt auch ,schlechtes Englisch‘ eine wesentliche Rolle.  D7 Ergebnisse der Analyse des Aufführungsrituals Trotz des kreativ-kritischen musikalischen und textlichen Positionierung entspricht die Inszenierung der 5/erl in Ehr’n einer Jazz- bzw. World MusicFormation: das Ensemble spielt in schwarzer Hose, mit Hosenträgern und Hemd auf auf einer Bühne, die Zuhörer/innen im bestuhlten, verdunkelten Publikumsraum lauschen andächtig, Applaus erfolgt am Ende des Stückes.

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6A) BERNHARD GANDER: „WEGDA!“ A Analyse des audiovisuellen Produkts  A1 Faktische Ebene: Titel des Musikstücks / Datum der Aufführung bzw. der Veröffentlichung des Musikvideos Bernhard Ganders „wegda! für sopran und ensemble (ein stück zum thema asyl)“ wurde unter der Leitung des Dirigenten Titus Engel vom „oenm. österreichisches ensemble für neue musik“ am 18. August 2011 um 19:30 im Rahmen der Schiene „KAZ – KUNST AUS DER ZEIT“ der Bregenzer Festspiele aufgeführt. Die Aufzeichnung der Aufführung dauert 9’58’’.  A2 Personelle Ebene: Name des/r Interpret/in, oder der Gruppe der Interpret/innen sowie deren Geschlecht, Alter, Herkunft und kultureller Hintergrund; Verhältnis Autor/innen zu Interpret/innen Das Stück wurde vom Ernst Krenek-Preisträger Bernhard Gander (Österreich) komponiert. Aufgeführt wurde die Komposition bei „KAZ – KUNST AUS DER ZEIT“ unter der Leitung des Dirigenten Titus Engel (Schweiz). Als Sopranistin ist Ruth Rosenfeld (USA) zu hören. Aufgeführt wurde das Stück vom oenm. österreichisches ensemble für neue musik in folgender Besetzung: Andreas Schablas (Klarinette/Österreich), Zoltan Macsai (Horn/Ungarn), Dusan Krajnc (Posaune/Slowenien), Arabella Hirner (Percussion/Deutschland), Ivana Pristasova (Violine/Slowakei), Bénédicte Royer (Viola/Frankreich), Peter Sigl (Violoncello/Deutschland) und Martin Bürgschwendtner (Kontrabass/Österreich/ 2014 verstorben). Das international besetzte Ensemble ist in Österreich ansässig. Die Musiker/innen waren zum Zeitpunkt der Aufführung zwischen 20 und 50 Jahre alt.  A3 Musikalische Ebene: Das Musikstück, seine Form und Besetzung, Noten, Umgang mit Genrekonventionen: Bestätigung / Überschreitung (Crossover) Die Besetzung des Stücks besteht aus Gesang, Klarinette, Horn, Posaune, Schlagwerk, Violine, Viola, Violoncello und Kontrabass. Die Textvorlage zu dem Musikstück ist unter anderem aus dem Interview „Zwei Asylwerberzentren

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sollen nun doch reichen“ (Der Standard /17.03.2010) mit Maria Fekter (2008 bis 2011 österreichische Innenministerin) zum Thema Asylpolitik entnommen. 43  A4 Literarische Ebene: Titel / Lyrics, Analyse des Songtexts / des Librettos (Bedeutungsmöglichkeiten) Lyrics: „wegda!“44 (Musik & Textauswahl: Bernhard Gander) 1 Gong gesprochen: Die Suche nach einem dritten Erstaufnahmezentrum für Asylwerber führte Maria Wegda ins Burgenland und ließ sie in Eberau fündig werden. Der Plan, dort ein Asylzentrum zu errichten, scheiterte am Widerstand der burgenländischen Politik und an der Bevölkerung. In der Tat war es Wegda selbst, die darauf verwiesen hatte, dass die Asylzahlen in den ersten beiden Monaten im Vergleich zum Vorjahr um rund ein Drittel gesunken seien. Zur Gänze ausschließen will sie ein derartiges Flüchtlingslager nicht. Man müsse mindestens noch bis zum Sommer warten, ob der rückläufige Trend bei den Asylzahlen anhalte. gesungen (Tonumfang: e’ – h – h’ chromatisch): In den ersten beiden Monaten des heurigen Jahres wurden 1328 tatverdächtige Asylwerber ermittelt. Im gleichen Zeitraum des Vorjahres waren es 1636 Asylwerber, die wegen einer Straftat angezeigt wurden. Wir haben einen Rückgang, die Zahlen sind rückläufig. Wir haben einen Rückgang, die Zahlen sind rückläufig. Wir haben einen Rückgang, die Zahlen sind rückläufig. Wir haben einen Rückgang, die Zahlen sind rückläufig. 28 Prozent aller ermittelten Strafverdächtigen sind Ausländer. Jeder zweite Tatverdächtige kommt aus dem Ausland. Touristen sind auch fremd, sind Touristen auch fremd? Asylwerber sind nur ein kleiner Teil.

43 Vgl. Edition Peters Group. News. 44 Die Transkription erfolgte durch den Autor.

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Touristen sind auch fremd, sind Touristen auch fremd? Mit einem Zentrum für Asylwerber kann man doch keine Lorbeeren verdienen. Ich will Lorbeeren, ich will Lorbeeren, ich will Lorbeeren, ich will Lorbeeren, ich will Lorbeeren! 2 gesprochen: Das EU-Parlament hatte verlangt, dass Asylwerber nach sechs Monaten Wartefrist eine Arbeitsgenehmigung erhalten sollen. Zugleich würde laut dem EU-Plan der Familiennachzug erleichtert. Flüchtlinge sollen eine Grundversorgung in Höhe der nationalen Sozialhilfe erhalten. Arbeitsmarkt und Sozialsysteme würden durch diese Pläne „überfordert“, glaubt Wegda. Solange es keine einheitlichen Sozialstandards gibt, könne man im Asylbereich nicht harmonisieren. Weil wir das höchste Sozialniveau haben, wären wir schlagartig das attraktivste Land für Schlepper in Europa. Wie ein Staubsauger würden wir künftig alle Asylwerber anziehen. gesungen (Tonumfang: f’ – g’ – b chromatisch): Der Asylmissbrauch muss eingedämmt werden. Wenn die Zahl der Asylwerber niedrig bleibt, reicht die bestehende Infrastruktur. Flüchtlingswelle, Drittstaaten, Hauptherkunftsländer, Asylmissbrauch ... das lehn ich ab, lehn ich das ab! das Recht auf Asyl ist, das Recht auf Asyl unantastbar ... das sehe ich, seh ich skeptisch! Grundversorgung, Selbsterhaltungspflicht, Verfahrensbeschleunigung, Familiennachzug, Familienzusammenführung ... ich bin, ich bin, ich dagegen! ich bin, ich bin, ich dagegen! Amnestie, Verträglichkeit für die Aufnahmefähigkeit, Regelung, Harmonisierung für Sozialsysteme ... Ich bin überfordert, bin ich, ich bin überfordert, bin ich, ich will Lorbeeren, ich will Lorbeeren, ich will Lorbeeren! 3 gesprochen: Immer wieder neue Gruselbestimmungen aus dem Gruselkabinett der Innenministerin. (Allesamt darauf ausgerichtet, Immigranten das Leben schwerzumachen.)

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Die neueste: Sprachprüfungen, die Zuwanderer (für die Integrationsvereinbarung) abgelegt haben, können von der Behörde für ungültig erklärt werden, wenn diese die Kenntnisse des Betreffenden für nicht ausreichend befindet. Ein offizielles Zeugnis ist mit einem Mal nichts wert, wenn ein lokaler Beamter das so will. Dann drohen Sanktionen, bis hin zur Abschiebung. Und auch die Prüfungshürden werden immer höher geschraubt. Noch gilt, dass, wer in Österreich leben möchte, Deutschkenntnisse auf dem Niveaus A2 nachweisen muss, der zweiten Stufe auf dem sechsstufigen sogenannten europäischen Referenzrahmen. Aber bald schon soll B1 als Mindesterfordernis eingeführt werden. Das ist ein Kenntnisgrad, den manche Österreicher nach jahrelangem Unterricht in einer Fremdsprache nicht erreichen. gesungen (rhythmisch deklamiert auf g’ und a’, dann bis zum g’’): Ich spre-che ei-ne Spra-che, die man-che schroff emp-fin-den. Ich ha-be mich ge-traut die Din-ge beim Na-men zu nen-nen. Man muss uns-re Spra-che ler-nen und un-se-re Wer-te, wer es schafft zu uns zu kommen, dem ist das auch zu-mut-bar. Die, die wir ha-ben wol-len, sol-len es leich-ter ha-ben. Die wir nicht ha-ben wol-len, sol-len ihr Wis-sen auf-rüs-ten. Man muss uns-re Spra-che ler-nen und un-se-re Wer-te, wer es schafft zu uns zu kommen, dem ist das auch zu-mut-bar. gesungen (langsam): Ich brauch eine klare Sprache. deklamiert: Ich bin für den so-zia-len Frie-den im Land zu-stän-dig. gesungen (langsam): Ich bin für den Frieden zuständig. deklamiert: Ich füh-le mich in mein-ner Ar-beit be-stä-tigt. gesungen (langsam): Ich bewege mich auf einer klaren Linie. Recht muss Recht bleiben, Recht muss Recht bleiben. Recht muss Recht bleiben, Recht muss Recht bleiben. Ich bewege mich auf einer klaren Linie. Man muss uns-re Spra-che ler-nen und un-se-re Wer-te, wer es schafft zu uns zu kom-men der spürt meine Härte. Ich will Lorbeeren, ich will Lorbeeren, ich will Lorbeeren, ich will Lorbeeren, ich will Lorbeeren! 4 Ich (m) – (a) – (m) – ich bin (e) – (a) – (i) – ich bin doch (a) – (m) – (e) – (a) – (i) –

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ich bin doch kein (i) – (a) – (e) – ich bin doch kein Mons- (i) – (a) – (i) – ich bin doch kein Monster! Wegda muss wegda, muss wegda, muss wegda, muss wegda, muss wegda, muss wegda, muss wegda, muss wegda, muss wegda, muss wegda! gesprochen: Wann haben Sie zuletzt das Wort „Asyl“ gehört ohne die Begleitwörter „Missbrauch“ oder „kriminell“? Das ist das Hauptproblem beim Thema: Die, die Schutz brauchen kommen in den politischen Debatten kaum mehr vor. Ständig geht es nur noch um die, die Asyl „missbrauchen wollen“, die „die kriminell werden“. Für Letztere gibt es das Strafgesetz und für Erstere gilt: Wer keine Asylgründe hat, bekommt kein Asyl. gesungen: Anstieg an Asylanträgen, das muss unterbunden werden. Es darf keine Willkür geben, die Familie soll ausreisen. Ich will eine Aufenthaltspflicht, niemand unterstützt mich. Das gehört mir weggenommen, weil ich falschen Zugang habe. Das will ich verhindern. Bin ich (m) – (a) – (m) – bin ich doch (e) – (a) – (i-a) – (e) – bin ich doch ein (e) – (a) – (i) – bin ich doch ein Mons- (a) – (i) – bin ich doch ein Monster? Wegda muss wegda, muss wegda, muss wegda, muss wegda, muss wegda, muss weg!

Bernhard Ganer macht Textzitate des Interviews „Zwei Asylwerberzentren sollen nun doch reichen“ (Der Standard /17.03.2010) mit Maria Fekter und Textzitate aus Online-Foren und Interviews mit Politiker/innen zur Grundlage für seine Komposition. „[...] verwendet Bernhard Gander Textzitate, in diesem Fall aus Onlineforen und Interviews mit PolitikerInnen. Hier allerdings zielt er mittels sprachlicher Eingriffe und musikalischer Kommentare auf eine Demaskierung der Sprache. Der Titel des Stückes enthüllt

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in der sängerischen Diktion, in der das Phonem [v] sehr nah am [f] ist, bereits die Politikerin, deren Aussagen zur Asylpolitik Bernhard Gander auf die Idee zu diesem Stück brachten.“45

Der erste Teil beschreibt die Suche nach einem dritten Erstaufnahmezentrum für Asylwerber im Jahr 2010, das in Eberau im Burgenland gebaut werden sollte. Der Plan, dort ein Asylzentrum zu errichten, scheiterte am Widerstand der burgenländischen Politik und an der Bevölkerung. Zu diesem Zeitpunkt waren die Asylanträge rückläufig. Die damalige Innenministerin Maria Fekter, die im Libretto als „wegda“ bezeichnet wird, wollte jedoch noch ein paar Monate abwarten, ob der rückläufige Trend bei den Asylzahlen anhalte. Gleichzeitig wird darauf hingewiesen, wie viele Asylwerber/innen wegen einer Straftat angezeigt wurden und, dass jede/r zweite Tatverdächtige aus dem Ausland komme. Hier könnten auch Tourist/innen gemeint sein. Der Teil endet mit „Mit einem Zentrum für Asylwerber kann man doch keine Lorbeeren verdienen“ und der Wiederholung des Nachsatzes „Ich will Lorbeeren“. Der zweite Teil thematisiert die Arbeit des EU-Parlaments im Jahr 2010. Asylwerber/innen sollen nach sechs Monaten Wartefrist eine Arbeitsgenehmigung erhalten und der Familiennachzug soll erleichtert werden. Fekter steht dem kritisch gegenüber, fordert einheitlichen Sozialstandards für die EU. „Weil wir das höchste Sozialniveau haben, wären wir schlagartig das attraktivste Land für Schlepper in Europa. Wie ein Staubsauger würden wir künftig alle Asylwerber anziehen.“ Fekter fürchtet Asylmissbrauch. Der Teil endet mit dem Eingeständnis der Überforderung und dem gleichzeitigen Wunsch nach Anerkennung der Arbeit „Ich will Lorbeeren.“ Der dritte Teil lässt Fekter nicht selbst zu Wort kommen, sondern kritisiert die Arbeit des Innenministeriums, das als Gruselkabinett der Innenministerin beschrieben wird. Den Asylwerber/innen werden immer mehr Hürden in den Weg gelegt. Fekter kommt singend zu Wort: „Man muss uns-re Spra-che ler-nen und un-se-re Wer-te, wer es schafft zu uns zu kom-men, dem ist das auch zu-mutbar“. Der Teil endet wieder der Wiederholung des Nachsatzes „Ich will Lorbeeren“. Im vierten Teil wird Maria Fekter, deren Arbeit als Innenministerin bereits in den drei Teilen zuvor als menschenunwürdig beschrieben wird, zum besungenen Monster. Durch Steigerung der Silben in mehrmaliger Wiederholung wird diese Transformation angedeutet: „ich bin doch kein Monster!“. Darauf folgt die Wiederholung von „Wegda muss wegda“. Hier wird einerseits auf Fekters Bezeich-

45 Petri-Preis, 2011, o.S..

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nung im Libretto verwiesen („wegda“), als auch auf die Aufforderung „weg da“. Der Figur der Innenministerin wird nun eine Art Selbstzweifel an der Forderung nach weiteren Aufnahmezentren zur Durchsetzung einer lückenlosen Kontrolle von Asylwerbern in den Mund gelegt. Fekters Transformation zum Monster („bin ich doch ein Monster?“) mündet in ein fünfmaliges Wiederholen von „wegda muss wegda“, das mit „muss weg!“ endet.  A5 Räumliche Ebene: Schauplatz des Auftritts, die Situation in der dieser stattfindet (Live-Auftritt / Musikvideoclip) „wegda! für sopran und ensemble (ein stück zum thema asyl)“ von Bernhard Gander wurde 18. August 2011 um 19.30 Uhr im Bregenzer Festspielhaus uraufgeführt. Acht Musiker/innen, der Dirigent und die Sopranistin befinden sich auf der Bühne. Der Hintergrund des Bühnenraums ist schwarz gestaltet. Vom Publikum aus gesehen links sitzend sind angeordnet: Bassklarinette, Horn, Posaune, Violine und Viola. Vor diesem Block steht die Sopranistin. Mittig gegenüber dem Dirigenten ist das Violoncello positioniert. Rechts davon befinden sich der Kontrabass und das Vibraphon, beide Instrumente werden stehend gespielt.  A6 Performative Ebene: Analyse der Filmsequenz: Figuren, Bewegungsabläufe (statisch / dynamisch), Kameraeinstellungen, Beleuchtung, ästhetische Aspekte, u.a. Das Musikstück „wegda! für sopran und ensemble (ein stück zum thema asyl)“ ist in in vier Abschnitte gegliedert. Jeder Teil wird mit einem Gong eingeleitet. Zu Beginn der Aufnahme herrscht 3 Sekunden Stille, Dirigent Titus Engel gibt der Percussionstin Arabella Hirner ein Zeichen, die daraufhin den Gong schlägt. Nach Verhallen des Tons beginnt die Sopranistin Ruth Rosenfeld den Text zu lesen. Gleichzeitig fangen die Streichinstrumente und die Percussion zu spielen an. Rosenfeld liest den Beginn des Artikels „Zwei Asylwerberzentren sollen nun doch reichen“ vor, sie steht vor dem Notenpult, auf dem der Text liegt, bewegt sich kaum. Einmal wird die Hand angehoben, um eine Textstelle zu unterstreichen. Dirigent Engel, mit dem Rücken zum Publikum gewandt, bewegt Beine und Oberkörper leicht, während er das Musikstück dirigiert. Er macht auch zwischendurch kleine Schritte dem Tempo des Stückes entsprechend. Bei 0’45’’ blättert Rosenfeld eine Seite ihres Librettos um, der Gesangsteil beginnt. Dieser besteht hauptsächlich aus Zitaten der ehemaligen österreichischen Innenministerin Maria Fekter. Der Gesangsteil erweitert Rosenfelds Be-

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wegungsrepertoire, auch der Dirigent bewegt sich ausgeprägter während dieses Teils. Mit Einsetzen des Gesangs setzen auch die Blasinstrumente ein. „Wir haben einen Rückgang, die Zahlen sind rückläufig“ wird mehrfach wiederholt und gestisch von der Sopranistin untermalt. Sie bewegt ihren Arm entlang der Gesangslinie nach unten. Beim Wort „Ausländer“ wirft sie den Kopf leicht nach hinten. Ab Minute 1’34’’ wird wieder gesprochen. Beim Wort „Touristen“ wird die Tonlage der Sopranistin höher, das Tempo des Orchesters schneller. Sie gestikuliert mit dem Kopf. Bestimmten Aussagen werden durch pointierten Einsatz der Instrumente bewusst verfremdet. Bei 2’05’’ in den Worten „Ich will Lorbeeren“ setzt auch der Kontrabass ein. Immer wieder wiederholt Rosenfeld die Worte „Ich will Lorbeeren“ und bewegt die Arme dazu. Das Tempo wird schneller, genau wie die Bewegungen des Dirigenten. Bei Minuten 2’20’’ beginnt der zweite Teil des Stückes, der wieder mit einem Gong eingeleitet wird. Das Lesetempo Rosenfelds wird schneller. Sie hebt den Zeigefinger deutend um die Worte „sechs Monate Wartefrist“ zu unterstreichen. Es sind nur Klarinette und Viola zu hören, die anderen Instrumente werden nicht gespielt. Bei den Worten „überfordert“ und „Sozialstandards“ gestikuliert die Sopranistin Gänsefüßchen mit ihren Fingern. Rosenfeld hat während der Passage ihre Hände in der Luft und setzt pointiert Gesten ein, um Aussagen zu untermalen. Beim Wort „Staubsauger“ imitiert sie in der Luft die Tätigkeit des Staubsaugens, bei „eingedämmt werden“ (Minute 3’03’’) beginnt die Geige zu spielen. Das Notenblatt wird umgedreht und Rosenfeld singt „ich bin strikt gegen die volle Öffnung“, die anderen Instrumente setzen nun wieder ein. Die Worte „wir brauchen Ausländer“ werden mehrfach wiederholt, der Dirigent dreht sich Richtung Sängerin, eine laute, schlechtverstehbare Passage folgt. Immer wieder wiederholt die Sängerin das Wort „Familiennachzug“ und wird hierbei vom Violoncello begleitet. Auch in diesem Teil kommt es zu einem manipulierenden Einsatz von Gesang und Tönen. Alle anderen Instrumente setzen gemeinsam ein und erzeugen einen Klangteppich. Bei „für das System“ hebt die Solistin die linke Hand und ballt die Faust. Die Worte „Ich bin überfordert“ (4’20’’) werden von der Sängerin solistisch wiederholt. Auch der dritte Abschnitt (4’36’’) wird von einem Gong eingeleitet. Die Streichinstrumente – bis auf den Kontrabass – setzen aus. Bei den Worten „A2“ deutet die Sängerin mit ihren Fingern die Zahl 2, bei „B1“ deutet sie die Zahl eins mit dem Zeigefinger. Die folgende Passage wird von den Streichinstrumenten unterstützt, das Tempo wird schneller. Der Erzählrhythmus und die musikalische Untermalung ändern sich von Satz zu Satz. Besonders in den hohen Tönen sind Rosenfelds Bewegungen auf den Oberkörper beschränkt. Die Hände werden in diesem Abschnitt nur reduziert eingesetzt. Bei der scharfen Betonung des

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Wortes „Härte“ kommt das gesamte Ensemble zum Einsatz, der Gesang setzt aus. Bei Minute 7’27’’ setzt der Gesang wieder ein. Wie die beiden vorhergehenden Teile, endet auch der letzte Abschnitt in einem mehrfach in hoher Lage und im fortissimo wiederholten „Ich will Lorbeeren“. Die Rhythmisierung erfolgt in einem 2/4-Takt. Die Instrumente unterstützen diese Wiederholung nicht, es ist nur die Sopranistin zu hören, deren Ruf nach Lorbeeren verzweifelt inszeniert wird. Der vierte Teil (ab 7’40’’) intendiert eine Demaskierung der zitierten Politikerin. Der Satz „Ich bin doch kein Monster!“ wird langsam mit der Wiederholung des ersten Wortes und Ergänzung des folgenden aufgebaut. Immer wieder ergänzt sie den Satz durch verfremdende Töne. Das Wort „Monster“ wird langzogen intoniert. „Gander verdeutlicht dies kompositorisch mit jener musikalischen Struktur, die er verwendet, wenn in einem Helden oder Monster eine Mutation ausbricht, eine musikalische Struktur, die mit ihren entgegengesetzten Glissandi und ihrer Polyrhythmik regelrecht zu explodieren scheint.“46 Das Musikstück setzt fort mit der Wiederholung „muss weg da“, begleitet von der Percussion. Rosenfeld liest weiter, das Violoncello begleitet sie. Worte wie „Asylmissbrauch“ werden durch Handbewegungen untermalt. Bei „wer keine Asylgründe hat, bekommt kein Asyl“ entsteht eine musikalische Pause. Der Gesang setzt – begleitet von Streichinstrumenten – bei 8’54’’ wieder ein. Der Einsatz der Musik unterstreicht Aussagen, das Auslassen von Instrumenten erhält selbige Funktion. So wird z.B. „niemand unterstützt mich“ ohne musikalische Begleitung gesprochen. Von Musik begleitete Zitate münden in „Bin ich doch ein Monster?“ verfremdet mit gesungenen Tönen, untermalt mit einem Klangteppich. Ein abschließender Höhepunkt erfolgt performativ in einer Ausweitung des Bewegungsrepertoires der Sängerin und des Dirigenten. Das Ensemble spielt für 20 Sekunden ohne Gesang ekstatische Töne. Die letzte Passage der Sängerin besteht aus der Wiederholung der Worte „muss weg da“. Das Musikstück endet mit dem Wort „weg“.  A7 Narrative Ebene: Plot des Videoclips wird kurz zusammengefasst bzw. nacherzählt, Zusammenwirken von Musik, Text und Bild Die Inszenierung von Bernhard Ganders „wegda! für sopran und ensemble (ein stück zum thema asyl)“ entspricht einer Konzertsituation aus dem Bereich Klassik. Die Aufnahme wurde in der Einstellungsgröße long shot (Totale) angefertigt. Die Aufzeichnung dauert 9’58’’. Die Musiker performen stehend bzw. im

46 Petri-Preis 2010, o.S..

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Sitzen. Der Dirigent und die Sopranistin stehen. Der Publikumsraum ist verdunkelt und bestuhlt. Mit Mitteln des Sprechens, des experimentellen Gesangs und eines kleinen kammermusikalischen Instrumentalensembles werden Aspekte des österreichischen Asylwesens thematisiert und die 2010 dafür zuständige Innenministerin scharf kritisiert.  A8 Kulturelle Ebene: Stilfelderbezug, Verhältnis von Text-, Bild- und Musikebene (Homologien), entstehen „Zwischenräume“ (Third Spaces)? Homologien Die Inhalte des Textes werden von der Sopranistin Ruth Rosenfeld gestisch unterstrichen, Dirigent und Musiker/innen sind in ihrer instrumentalen Aktion sichtbar. Die Zusehenden lassen sich von den Emotionen der Solistin nicht in ihrer starren Sitzhaltung beeinflussen. Die postserielle Stilistik des Stückes unterstützt die gesellschaftskritischen Aussagen, verlangt aber auch ein Publikum, das mit dieser Ausdrucksform vertraut ist. Third Spaces Eine gesellschaftlich akademisch legitimierte künstlerische Ausdruckform wird hier zu einem Freiraum, der eine scharfe Kritik eines einzelnen Regierungsmitglieds möglich macht. Die Freiheit der Kunst wird im Rahmen der Bregenzer Festspiele als einem hochsubventionierten offiziellen Ereignis nicht in Frage gestellt. Kunst wird zu einem legitimen Third Space. B Figurenanalyse  B1 Rolle: Welche Rolle nimmt der/die Interpret/in in der Szene ein? Wie definiert sich die Funktion / der Status des/der Künstlers/in im Rahmen des Auftritts? Einfache oder komplexe Figurenkonstruktion? Das Musikstück „wegda!“ wird von der Präsenz und dem Gesang der Sopranistin Ruth Rosenfeld dominiert. Neben ihr erhält der Dirigent Titus Engel eine leitende Funktion, er dirigiert die musikalische Begleitung. Die Funktion der beiden ist auf den ersten Blick ersichtlich anhand ihrer Position auf der Bühne. Rosenfeld steht im Vordergrund – vor ihr das Notenpult -, Engel steht neben ihr mit dem Rücken zum Publikum gewandt. Die Figurenkonstuktion ist komplex: Ein Komponist bringt seine Ansichten bezüglich wesentlicher Aspekte der österreichischen Politik anhand des Exempels der Innenministerin künstlerisch zum Ausdruck. Alle Interpret/innen haben diesbezüglich eine dienende Rolle.

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 B2 Inszenierung: optische Inszenierung der Figur: Kostüm / Make Up / Frisur / figurbezogene Requisite etc. Ruth Rosenfeld ist schwarz in Hose und Shirt gekleidet. Sie trägt rote Schuhe, die Haare nach hinten gebunden. Titus Engel trägt ein blaues Langarmhemd und eine schwarze Hose, dazu schwarze Schuhe. Die Musiker/innen tragen schwarze Oberteile (die Herren Hemden, die Damen T-Shirts), schwarze Hosen und schwarze Schuhe. Make-Up und Frisuren sind nicht auffällig inszeniert.  B3 Bewegung: Bewegungsrepertoire, Mimik / Gestik und wenn es sich um ein Lied handelt die Stimme / die Gesangslinie Das Bewegungsrepertoire unterscheidet zwischen Sopranistin und Dirigenten und dem restlichen Orchester. Während die Solistin und der Dirigenten der Musik viel Platz in ihrem Bewegungsrepertoire einräumen, performen die Musiker/innen sitzen und stehend in sehr ruhiger Körperhaltung, sie lassen der Musik keinen Raum im eigenen Bewegungsrepertoire. Die Gesangslinie in dem Musikstück „wegda!“ ist nicht stringent. Immer wieder werden hohe Töne eingesetzt, um den Effekt der Verfremdung zu erzeugen und somit bestimmte Worte zu unterstreichen.  B4 Geschlecht: Genderspezifische Darstellungen sowie Verkörperungen, Grad der Bedeutung / Dekonstruktion von Geschlecht Das Stück „wegda!“ wird von einer Sopranistin gesungen. Das restliche Ensemble besteht aus dem Dirigenten, drei weiblichen und fünf männlichen Instrumentalist/innen. Das Libretto thematisiert das politische Handeln einer Ministerin, ist aber in männlicher Form geschrieben. Es wird von „Asylwerbern“, „Ausländern“ und „Touristen“ erzählt.  B5 Zitate: Bezüge zu anderen Videoclips, Songs, Personen, kulturellen oder kulturgeschichtlichen Entitäten Als Vorlage für dieses Musikstück gilt unter anderem der Artikel „Zwei Asylwerberzentren sollen nun doch reichen“, erschienen in Der Standard am 17.03.2010, sowie Textzitate von österreichischen Politiker/innen zum Thema Asyl. Der Themenkomplex Einheimische / Fremde bzw. Schutz von Verfolgten wurde bereits in der Antike künstlerisch bearbeitet. Nach ersten Ansätzen im 19.

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Jahrhundert wurde das Asylrecht im 20. Jahrhundert zu einer völkerrechtlich anerkannten Materie.  B6 „Die Uhr der Figur“ nach Jens Eder (Eder 2004): o B6a „Die Figur als Artefakt“ – Gestaltung, Inszenierung der Figur Der Komponist als Schöpfer des Werkes bleibt unsichtbar. Die zentrale Figur des Stückes – die Innenministerin – wird durch eine Collage aus Originalzitaten und sonstigen Textelementen charakterisiert und kritisch beleuchtet. Die Sprecherin bzw. Sängerin verkörpert den Text und seine musikalische Gestaltung. Das Ensemble unterstützt instrumental. o

B6b „Die Figur als fiktives Wesen“ – Körper, Persönlichkeit, Sozialität der Figur

Ruth Rosenfeld hat die Funktion der Erzählerin im Musikstück „wegda!“. Der Komponist ist nicht auf der Bühne anwesend. Die Innenministerin als zentrale Figur der Komposition wird als unempathisch, inhuman, süchtig nach Anerkennung, vorurteilsbehaftet, überfordert und monströs gezeichnet. Der nicht sichtbare Komponist zeigt dies um seine Gegenposition dazu zu manifestieren. o

B6c „Die Figur als Symbol“ – indirekte Bedeutung, Symbolik/Metapher

Die Haltung des Komponisten kann als charakteristisch für eine „Willkommenskultur“, die die Rechte von Asylwerbenden anerkennen und unterstützen will, angesehen werden. o

B6d „Die Figur als Symptom“ – kommunikative Ursache/Wirkung, soziokultureller Kontext

Österreich ist seit 1945 mehrfach zu einem Zufluchtsland für Fluchtbewegungen geworden. In den 1990er Jahren waren es vor allem Personen aus dem ehemaligen Jugoslawien, die Aufgrund der Kriegsereignisse in Österreich Asyl beantragt haben. Ab dem Jahr 2000 verlagerte sich die Herkunft von Schutzsuchenden auf Länder wie Afghanistan, Tschetschenien oder Irak. Der zunehmende Zuzug von Personen aus islamisch geprägten Staaten führte zu innenpolitischen Auseinandersetzungen in Österreich. Das Werk von Bernhard Gander ist ein Symptom für

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die in diesem Zusammenhang entstandenen Polarisierungen in der österreichischen Gesellschaft. „Denn der Werktitel erinnerte an eine ehemalige Innenministerin, die vor allem durch ihre unmenschliche Art Zuwanderern gegenüber aufgefallen ist. Nicht nur diese Komposition, sondern viele von Ganders Werken zeichnen sich durch ein humorvolles, aber nicht unkritisches musikalisches Spiel aus.“47 Im Album Booklet wird die Komposition als „dedicated to Maria Fekter“ bezeichnet. C Bühne und Publikum  C1 Gesamtkonzept: Die Bühne wird als Gesamtkonzept betrachtet. Sind Musiker/innen sichtbar, gibt es Backgroundtänzer/innen, eine Choreographie, ein Bühnenbild, Requisiten? Auf der Bühne befinden sich die Musiker und Musikerinnen des Ensembles mit ihren Instrumenten, der Dirigent und die Sopranistin. Zusätzlich stehen noch Notenständer, Mikrofonständer und ein Klavier, ein Keyboard und ein Vibraphon auf dieser, die für die Performance nicht verwendet werden. Die Musiker/innen werden beleuchtet. Es gibt keine Choreographie. Der Dirigent und die Sopranistin bewegen Kopf und Körper zum Takt der Musik. Dies wirkt mehr improvisiert als einstudiert.  C2 Technik: Die Technik – als Teil der Bühne – ist ein weiterer Aspekt: das audiovisuelle Konzept, der Ton, das Licht. Der Auftritt findet im Rahmen von „KAZ – KUNST AUS DER ZEIT“ bei den Bregenzer Festspielen in einem Konzertsaal statt. Der Publikumsraum wird nicht beleuchtet.  C3 Bühne / Publikum: Existiert Interaktion zwischen Bühne und Publikum? Welche Regeln und Konventionen gelten für das Publikum bezugnehmend auf das Stilfeld? Gibt es Bestuhlung, darf getanzt werden, herrscht Stille, darf gesprochen/mitgesungen werden? Interaktion zwischen Bühne und Publikum existiert während der Aufführung nicht. Während der Performance verhält sich das Publikum ruhig, der Publi-

47 Thurner 2014, o.S..

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kumsraum wird nicht beleuchtet, die Menschen sitzen. Dies entspricht den Konventionen des Stilfelds „Klassik/zeitgenössische Musik“. Das Publikum darf erst nach Ende der Performance Reaktion zeigen, muss sich währenddessen still verhalten. Abbildung 73: Inszenierung von Bühnenraum und Publikum (im Bildvordergrund).

Quelle: Live-Auftritt bei den Bregenzer Festspielen 3’17’’.

D Zusammenfassende Interpretation  D1 Kulturen/Erfahrungswelten Komponist Bernhard Gander setzt sich mit der österreichischen Zeitgeschichte auseinander. Der Komponist kritisiert den Umgang der österreichischen Innenpolitik mit Asylwerber/innen im Jahr 2010.  D2 Musikstile Das Stück „wegda!“ entspricht den Konventionen der „Neuen Musik“: Eine komplexe Partitur, die tonale Zentren und motorische Rhythmen vermeidet, wird professionell interpretiert.  D3 Performance Stil

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Die Musiker/innen des Ensembles musizieren mit Notenbehelf. Auch die Sopranistin und der Dirigent haben einen Notenständer vor sich stehen. Im Stilfeld „Klassik/zeitgenössische Musik“ ist die Präsenz des Notenbehelfs obligatorisch. Besonders der Dirigent und die Sopranistin geben der Musik Raum in ihrem Bewegungsrepertoire. Abbildung 74: Der Fokus der Performance liegt auf der Sopranistin und dem Dirigenten.

Quelle: Live-Auftritt bei den Bregenzer Festspielen 4’34’’.

 D4 WAS konstituiert der Interpret/ die Interpretin in seiner/ ihrer Performance kulturell? Ganders Komposition positioniert sich im Sinne eines humanen Umgangs mit Asylwerber/innen.  D5 WIE macht sie/er das (in Bezug auf die Konventionen des Stilfeldes)? Die Performance geschieht unter Einhaltung aller Konventionen des klassischen Aufführungsrituals. Ein Dirigent arbeitet mit einer exakt notierten postseriellen Partitur. Auf der Bühne befinden sich zusätzlich eine Sopranistin und Ensemble: Bassklarinette, Horn, Posaune, Schlagwerk, Violine, Viola, Violoncello, Kontrabass. Das Ensemble passt sich an die Konventionen des Stilfeldes an. Die Kleidung ist dezent, elegant, in der Farbe Schwarz gehalten, die visuelle Inszenierung minimalisiert. Das Publikum sitzt im abgedunkelten Raum. Die Konventio-

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nen des Stilfelds erwarten Stille. Es wird in deutscher Sprache rezitiert und gesungen, das Publikum versteht also die Aussage des Komponisten.  D6 Wie und in welcher Form finden Übersetzungen (Translationen) statt? Eine mediale Berichterstattung wird in die Stilmittel des Genres Neue Musik übersetzt. Zeitungsartikel, Interviews und Aussagen aus Onlineforen zum Thema Recht auf Asyl liefern Textfragmente für eine Komposition im Kontext der zeitgenössischen Musik. Die Verarbeitung dieser Erfahrung erfolgt pointiert mit verfremdenden Tönen. Durch den Titel „wegda!“ wird eine bewusste Assoziation zur ehemaligen österreichischen Innen- und Finanzministerin Maria Fekter erzeugt.  D7 Ergebnisse der Analyse des Aufführungsrituals Die Aufführungssituation des Stückes entspricht den Konventionen des Stilfelds „Klassik/zeitgenössische Musik“: Andachtsritual; bestuhlter, abgedunkelter Publikumsraum, Applaus erst am Ende des Stückes.

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6B) BARTOLOMEYBITTMANN: „CENTIPEDE“ A Analyse des audiovisuellen Produkts  A1 Faktische Ebene: Titel des Musikstücks / Datum der Aufführung bzw. der Veröffentlichung des Musikvideos Der Musikvideoclip „Centipede“ von BartolomeyBittmann entstand im Oktober 2014 und wurde am 23. November 2014 veröffentlicht. Die Komposition befindet sich auf dem Album „Meridian“.  A2 Personelle Ebene: Name des/r Interpret/in, oder der Gruppe der Interpret/innen sowie deren Geschlecht, Alter, Herkunft und kultureller Hintergrund; Verhältnis Autor/innen zu Interpret/innen Matthias Bartolomey und Klemens Bittmann sind österreichische Musiker, die ihre Formation als „Crossover Band“ bezeichnen. Beide Musiker sind um die 30 Jahre alt und haben eine klassische Ausbildung genossen. Für den Zeitraum 2015-2016 sind sie Teilnehmer des Förderprogramms „New Austrian Sound of Music“, das ihnen Auftritte im Ausland ermöglicht. Ihr Instrumentarium besteht aus Cello, Violine, Viola und Mandola, ist also in der klassischen Musiktradition verankert. Matthias Bartolomey und Klemens Bittmann bilden das Duo BartolomeyBittmann. Die beiden Musiker bezeichnen die Formation als „Crossover Band mit Schwerpunkt auf Groove, Rock und poppigen Jazzelementen“48. Der gebürtige Grazer Klemens Bittmann absolvierte neben dem klassischen Geigenfach ein Jazzgeigenstudium. Der Wiener Matthias Bartolomey hat eine klassische Ausbildung im Fach Cello genossen.  A3 Musikalische Ebene: Das Musikstück, seine Form und Besetzung, Noten, Umgang mit Genrekonventionen: Bestätigung / Überschreitung (Crossover) Das Musikstück „Centipede“ entspricht in seiner Besetzung (Cello und Geige) den Konventionen des Stilfelds „Klassik/zeitgenössische Musik“. Die Form des Stückes ist jedoch stilfeldübergreifend. Rasche Tempo- und Taktwechsel, wiederkehrende Unisono-Passagen, eine Anlehnung an Sounds und Spieltechnik der Gitarre gehören zu den Stilmitteln des Stücks. Das Augenmerk des Duos liegt

48 Weitlaner, 2014, o.S..

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auf der rhythmischen Komponente der Musik. Der Groove, der dem Stilfeld „Jazz/improvisierte Musik“ zugeschrieben wird, steht im Mittelpunkt der Komposition. Das Stück ist ein Mix aus experimentellen Spieltechniken, starken dynamischen Gegensätzen, Improvisation und Ostinato. Die Komposition weist eine stellenweise Annäherung an Heavy Metal auf, kann vor allem im Mittelteil mit einer progressiven Rocknummer verglichen werden. Die letzte Passage besteht aus einem zweitaktigen Muster.  A4 Literarische Ebene: Titel / Lyrics, Analyse des Songtexts / des Librettos (Bedeutungsmöglichkeiten) Das Stück ist eine Eigenkomposition von BartolomeyBittmann in der – außer dem Titel – keine Textpassagen vorkommen. Der Titel der Komposition lautet „Centipede“. Dies ist der englische Ausdruck für „Hundertfüßer“. Auch ein im Jahr 1980 erschienenes Spielhallen-Spiel trägt den Namen „Centipede“. Dieses sogenannte Arcade-Spiel wurde von Dona Bailey kreiiert und vom Videospielhersteller Atari herausgegeben. Es war somit das erste von einer Frau entworfene Arcade-Spiel. „Centipede“ war eine Progressive Rock Bigband, die im Jahr 1970 vom britischen Komponisten und Pianisten Keith Tippett gegründet wurde. Das Ensemble bestand aus mehr als 50 Mitgliedern und vereinte junge britische Jazzund Rock-Musiker/innen. BartolomeyBittmanns Komposition weist Einflüsse aus dem Progressive Rock, Jazz und Heavy Metal auf. Der Titel kann also als Hommage an Keith Tippetts Band gesehen werden.  A5 Räumliche Ebene: Schauplatz des Auftritts, die Situation in der dieser stattfindet (Live-Auftritt / Musikvideoclip) Der Musikvideoclip wurde in einer ehemaligen Fabrikhalle aufgezeichnet. Wände und Boden wirken abgenutzt, im Hintergrund ist ein rostiges Gerüst zu sehen und ein Fenster, das mit Efeu verwachsen ist.  A6 Performative Ebene: Analyse der Filmsequenz: Figuren, Bewegungsabläufe (statisch / dynamisch), Kameraeinstellungen, Beleuchtung, ästhetische Aspekte, u.a. Der Musikvideoclip beginnt mit einer Aufblende. Direkt mit Beginn des Videoclips ist Musik zu hören. Das Cello beginnt zu spielen, gleich darauf setzt die Geige ein. Die Kamera schwenkt vom Boden der Fabrikhalle die Beine der beiden Musiker entlang hinauf. Beide Männer tragen schwarze Hosen, dazu Turn-

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schuhe. Matthias Bartolomey sitzt auf einem Stuhl, Klemens Bittmann spielt stehend. Es sind keine Notenständer vorhanden, beide Musiker performen ohne Notenbehelf. Bittmann befindet sich von Beginn des Stückes an in Bewegung. Die Kamera fokussiert beide Musiker in einem long shot. Die Umgebung ist deutlich erkennbar. Im Hintergrund befindet sich das rostende Gerüst. Mehrere Fenster sind von Blättern bewachsen. Der Raum wirkt abgenutzt, die Wände sind nicht verputzt. An der Rückwand ist eine Leiter erkennbar. Nach sieben Sekunden wagt die Kamera die erste Annäherung an die Künstler. Ein close-up auf Bittmanns Schulter dokumentiert dessen Geigenhaltung. Die Kamera zoomt an beide Musiker heran (medium long shot). Die Kamera bewegt sich in einer Kamerafahrt auf die Musiker zu. Ein Taktwechsel ist anhand von Bittmanns Bewegungsrepertoire zu sehen. Er bewegt den ganzen Körper. Die Kamera nähert sich den beiden von verschiedenen Winkeln. Sie bleibt im medium long shot und bewegt sich fließend auf die beiden Musiker zu. Ein Schnitt fokussiert Bittmann bei einem kurzen Solo, wechselt dann auf Bartolomey (0’29’’) in ein close-up. Der Cellist, der gerade nicht sein Instrument spielt, bewegt die Finger am Cellohals im Takt, setzt dann an und sein Spiel fort. Während dieses Teils (0’30’’-0’42’’) wechseln schnelle Schnitte zwischen den Einstellungsgrößen head and shoulder close-up und medium long shot. Bei Minute 0’44’’ erfolgt ein Bruch. Bittmann streicht einen Ton und hebt den Geigenbogen vom Instrument ab. Ein kratzender Ton entsteht, darauf folgt eine kurze Pause. Der nächste Teil unterscheidet sich vom vorhergehenden durch schnelleres Tempo. Das Cello passt sich diesem an. Die Kamera legt den Fokus nun auf close-up/head and shoulder close-up-Aufnahmen, die Einstellungsgrößen dokumentieren die Spieltechnik der beiden Musiker. Der Cellohals und der Geigenhals stehen im Mittelpunkt dieses Teils. Die Performance der beiden Musiker grenzt sich vom Stilfeld „Klassik/zeitgenössische Musik“ ab, könnte im Stilfeld „Rock/Pop Musik“ angesiedelt sein. Einige Einstellungen dokumentieren das Zusammenspiel beider Musiker, wobei einer der beiden jeweils leicht verschwommen in den Hintergrund gerückt wird. Bittmanns Bewegungsrepertoire ist sehr frei, er bewegt sich immer wieder in Richtung seines Kollegen. Sein Oberkörper wandert mit der Geige auf Kopfhöhe des sitzenden Bartolomey. Geht wieder zurück in die aufrechte Position, der Mund ist leicht geöffnet. Das Gewicht der Geige schränkt den Musiker nicht ein. Bartolomey, der auf Grund der Beschaffenheit seines Instruments eingeschränkt ist, stampft mit dem Bein zum Takt der Musik. In seiner Sitzhaltung ist Bartolomey gerade, der Kopf ist in Richtung Cellohals gebeugt. Eine rasche unisono-Passage wird in einem medium long shot dokumentiert. Ein head and shoulder close-up bei Minute 2’11’’ zeigt Bartolomeys Spieltechnik, gleichzeitig rückt Bittmanns Geige ins Bild. Der

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Bildvordergrund ist verschwommen. In dieser Einstellung verweilt die Kamera zehn Sekunden, wechselt dann in schräger Aufsicht auf Bittmann (medium closeup). Diese Einstellung ermöglicht eine neue Perspektive auf den Raum, die Decke des Raums, in der sich Fenster befinden, wird gezeigt. Die Kamera entfernt sich in einer schnellen Fahrt und fokussiert wieder beide Musiker (medium long shot). Im dritten Teil des Stückes, der einen musikalischen Bruch bildet (2’29’’), bestimmt Bittmann das Tempo und bewegt sich in langsamen Schritten und gebückter Haltung um Bartolomey. Das Cello kommt sehr reduziert zum Einsatz. Die Kamera fokussiert in einem close-up den Cellobogen für vier Sekunden. Die Einstellung wechselt zu Bittmann. Im Gegenlicht ist sein Schatten (head and shoulder close-up) beim Spielen zu sehen. In Schuss-Gegenschuss (ShotReverse-Shot) wird das Zusammenspiel beider Instrumente dokumentiert. Bittmann bewegt sich langsam weiter um Bartolomey, bis er ihn komplett umkreist hat. Durch die Dokumentation des Zusammenspiels wird sichtbar, dass Bartolomey immer dann, wenn er den Cellobogen ansetzt, den Kopf bewusst in Richtung Bogen bewegt. Die folgenden Einstellungen legen den Fokus in Form eines close-ups auf die Spieltechnik der beiden Musiker. Die letzte Einstellung dokumentiert gleichzeitig das Spielen der letzten Töne in einem medium long shot. Cello- und Geigenbogen verweilen am jeweiligen Instrument. Beide Musiker stehen bzw. sitzen in gebeugter Haltung. Die Kamera nähert sich langsam an beide an, eine Abblende beendet den Musikvideoclip.  A7 Narrative Ebene: Plot des Videoclips wird kurz zusammengefasst bzw. nacherzählt, Zusammenwirken von Musik, Text und Bild Der Musikvideoclip „Centipede“ dokumentiert die Performance der gleichnamigen Komposition des Duos BartolomeyBittmann. Die Kamera nähert sich mit verschiedenen Einstellungsgrößen dem Spiel der beiden Musiker. So werden Technik und Spielart der Streicher dokumentiert. Die Aufführungssituation ist ungewöhnlich. Es ist kein Publikum vorhanden, die Aufnahme findet in einer verlassenen Fabrikhalle statt.  A8 Kulturelle Ebene: Stilfelderbezug, Verhältnis von Text-, Bild- und Musikebene (Homologien), entstehen „Zwischenräume“ (Third Spaces)?

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Homologien BartolomeyBittmann präsentieren in einer verlassenen Fabrikhalle die Eigenkomposition „Centipede“. Der Einsatz der Kamera zur Dokumentation der Spieltechnik rückt das Individuum in den Hintergrund und lässt das Handwerk in den Vordergrund treten. Eine Vielzahl von head and shoulder close-ups und closeups werden zu Dokumentationszwecken eingesetzt. Zusätzlich kommt die Schnitttechnik Schuss-Gegenschuss (Shot-Reverse-Shot) zum Einsatz. Dieses dramaturgische Element verdeutlicht das Zusammenspiel beider Instrumente. Hierbei stehen nicht Matthias Bartolomey und Klemens Bittmann im Vordergrund, sondern ihre Virtuosität. Abbildung 75: Die Kamera dokumentiert die Spieltechnik der Musiker.

Quelle: Musikvideoclip 0’50’’.

Third Spaces Das Promoten von Alben im Stilfeld Musikvideoclip im Stilfeld „Klassik/zeitgenössische Musik“ durch Musikvideoclips ist ungewöhnlich. Der Clip zu „Centipede“ erzählt keine Geschichte, sondern dokumentiert das Handwerk zweier Instrumentalisten. Dies findet in einer außergewöhnlichen Location (Fabrikhalle) statt. Die Aufführungssituation von „Centipede“ in einer Fabrikhalle und ohne Publikumsanwesenheit ist ungewöhnlich für das Stilfeld „Klassik/zeitgenössische Musik“. Die Wahl des Ortes und die Absenz des Publikums verweisen auf das Experimentelle, das auch die Musik von BartolomeyBittmann auszeichnet. In der Situation des Auftritts wäre eher eine Indie-Rock-Band zu vermuten. Trotz dieser stilfelderübergreifenden Elemente wird die Kunst als

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selbstreferenzielles System (L’art pour l’art) nicht verlassen. Widerständige Aspekte gehen über kunstimmanente Referenzen nicht hinaus. B Figurenanalyse  B1 Rolle: Welche Rolle nimmt der/die Interpret/in in der Szene ein? Wie definiert sich die Funktion / der Status des/der Künstlers/in im Rahmen des Auftritts? Einfache oder komplexe Figurenkonstruktion? Matthias Bartolomey (Cello) und Klemens Bittmann (Geige) bilden das Duo BartolomeyBittmann. Beide sind Komponisten des Stücks „Centipede“ und performen dieses. Beide Musiker stehen gleichwertig im Fokus der Kamera.  B2 Inszenierung: optische Inszenierung der Figur: Kostüm / Make Up / Frisur / figurbezogene Requisite etc. Im Stilfeld „Klassik/zeitgenössische Musik“ würde elegante Kleidung und elegante Schuhe den Konventionen entsprechen. Matthias Bartolomey und Klemens Bittmann widersetzen sich den Erwartungen. Bereits die erste Einstellung im Musikvideoclip dokumentiert die Outfits der beiden Musiker. Beide tragen Turnschuhe und dunkle Hosen (Jeans). Bittmann hat ein schwarzes T-Shirt an, Bartolomey ein helles Hemd.  B3 Bewegung: Bewegungsrepertoire, Mimik / Gestik und wenn es sich um ein Lied handelt die Stimme / die Gesangslinie Das Bewegungsrepertoire der Musiker ist auf Grund der Beschaffenheit der Instrumente teilweise eingeschränkt. Bittmann spielt die Geige stehend, bewegt die Beine und den Oberkörper zum Takt der Musik. Zusätzlich kann er sich um den Cellisten Bartolomey bewegen. Der Cellist sitzt auf einem Stuhl, bewegt seinen Oberkörper und die Beine leicht zur Musik. Der Kopf beugt sich immer wieder in Richtung Cellobogen. Wird das Tempo des Stücks schneller, passen sich die Bewegungen der Musiker an. Mimik und Gestik werden während des Musizierens nicht als Stilmittel eingesetzt. Die letzte Einstellung dokumentiert gleichzeitig das Spielen der letzten Töne. Cello- und Geigenbogen verweilen am jeweiligen Instrument. Beide Musiker stehen bzw. sitzen in gebeugter Haltung.  B4 Geschlecht: Genderspezifische Darstellungen sowie Verkörperungen, Grad der Bedeutung / Dekonstruktion von Geschlecht

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Das Duo besteht aus zwei Männern, die Performance des Stückes „Centipede“ findet ohne Publikum statt. Frauen existieren in diesem Videoclip nicht.  B5 Zitate: Bezüge zu anderen Videoclips, Songs, Personen, kulturellen oder kulturgeschichtlichen Entitäten Fabrikhallen sind im Genre Indie-Rock beliebte Locations für Musikvideoclips und Auftritte. Auch im Bereich der Neuen Musik werden seit den 1960er Jahren ungewöhnliche Aufführungsorte abseits der Konzertsäle aufgesucht. Der Stil von BartolomeyBittmann erinnert stellenweise an das Stilfeld „Jazz /improvisierte Musik“, was auch die Absenz von Notenständern untermalt. Auch die Kleidung, die einen Querstand zur Erwartungshaltung bildet, und das Tragen von Sportschuhen ist eher anderen Stilfeldern zuzuordnen. Abbildung 76: Die Fabrikhalle als Location, die Musiker agieren ohne Notenbehelf, sind legere gekleidet.

Quelle: Musikvideoclip 2’03’’.

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 B6 „Die Uhr der Figur“ nach Jens Eder (Eder 2004): o B6a „Die Figur als Artefakt“ – Gestaltung, Inszenierung der Figur Der Name des Duos BartolomeyBittmann verdeutlicht die gleichwertige Position beider Musiker in der Formation. Beide Musiker sind namensgebend. Es gibt keinen Bandleader, Matthias Bartolomey und Klemens Bittmann komponieren gemeinsam. o

B6b „Die Figur als fiktives Wesen“ – Körper, Persönlichkeit, Sozialität der Figur

Beide Musiker befinden sich während der Performance gleichwertig im Fokus der Kamera. Einziger Unterschied ist die Ausprägung des Bewegungsrepertoires, beide versuchen sich an das Tempo der Musik anzupassen. Bittmann gelingt dies ausgeprägter, da ihm das Spielen der Geige mehr Bewegungsraum ermöglicht. Der Einsatz von Sportschuhen, in der Kombination von dunklen Jeans und schwarzem T-Shirt, verdeutlicht die Coolness des Duos, die dem experimentellen an den Jazz angelehnten Stil entspricht. o

B6c „Die Figur als Symbol“ – indirekte Bedeutung, Symbolik/Metapher

Matthias Bartolomey und Klemens Bittmann inszenieren sich als erfolgreiche, aufgeschlossene Vertreter der jungen Generation des Stilfelds „Klassik /zeitgenössische Musik“. Das Duo beherrscht virtuose Technik und Improvisationsvermögen in vielen Ausprägungen. Die Kamera dokumentiert diese bewusst. o

B6d „Die Figur als Symptom“ – kommunikative Ursache/Wirkung, soziokultureller Kontext

Das Duo performt ein selbst komponiertes Stück mit dem Titel „Centipede“. In diesem Stück sind immer wieder kurze Soloperformances vorgesehen, auf die der jeweils andere Musiker des Duos eingeht. „Matthias Bartolomey und Klemens Bittmann legen viel Augenmerk auf die rhythmische Komponente ihrer Musik, auf den Groove, der in dieser von ihnen verwirklichten Form in der Klas-

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sik eigentlich nicht stattfindet.“49 Die beiden Musiker, die jeweils ein klassisches Studium absolviert haben, betonen in Interviews immer wieder die Bedeutung der Rhythmik und des Groove in ihrer Musik. Es findet ein bewusstes Unterscheiden zwischen klassischer Musik und der Kompositionen von BartolomeyBittmann statt. Insofern können sie als Symptom für eine Öffnung der zeitgenössischen E-Musik in Richtung Jazz und Rock gesehen werden. C Bühne und Publikum BartolomeyBittmann „Parovskapproved“ – Live-Auftritt in Traismauer FineArt Galerie Dezember 2015 https://www.youtube.com/watch?v=Av8p946yQwo  C1 Gesamtkonzept: Die Bühne wird als Gesamtkonzept betrachtet. Sind Musiker/innen sichtbar, gibt es Backgroundtänzer/innen, eine Choreographie, ein Bühnenbild, Requisiten? Der gewählte Live-Auftritt, der ein anderes Stück des Duos („Parovskapproved”) zeigt, fand in der FineArt Galerie in Traismauer (Niederöstereich) statt. Als Bühne fungiert ein Teil der Galerie, der nicht bestuhlt ist. Auf dieser befinden sich die beiden Musiker und ihre Instrumente. Bartolomey sitzt auf einem Stuhl, neben ihm steht eine Stehlampe, die leuchtet. Links von Bittmann ist ein Mischpult auf einem Holzsessel platziert. An den Wänden zwischen den Fenstern hängen Bilder. Es sind weder Notenständer noch Mikrofonständer vorhanden. Der Bühnenraum ist beleuchtet, an der Decke sind zwei Scheinwerfer erkennbar. Der Lichtkegel fokussiert die beiden Musiker. Die Musiker bewegen Kopf und Körper zum Takt der Musik. Dies wirkt mehr improvisiert als einstudiert.  C2 Technik: Die Technik – als Teil der Bühne – ist ein weiterer Aspekt: das audiovisuelle Konzept, der Ton, das Licht. Der Auftritt findet im Rahmen der Musikschiene der FineArt Galerie im „10er Haus“ in Traismauer statt. Der Ton der Instrumente wird durch Lautsprecher verstärkt. Der Publikumsraum wird nicht beleuchtet.

49 Ternai 2015, o.S..

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 C3 Bühne / Publikum: Existiert Interaktion zwischen Bühne und Publikum? Welche Regeln und Konventionen gelten für das Publikum bezugnehmend auf das Stilfeld? Gibt es Bestuhlung, darf getanzt werden, herrscht Stille, darf gesprochen/mitgesungen werden? Interaktion zwischen Bühne und Publikum existiert erst während des Schlussapplauses. Während der Performance verhält sich das Publikum ruhig, der Publikumsraum wird nicht beleuchtet, die Menschen sitzen. Dies entspricht den Konventionen einer Performance im Stilfeld „Klassik/zeitgenössische Musik“. Das Publikum darf erst nach Ende der Performance Reaktion zeigen, muss sich währenddessen still verhalten. Es sind keine Nebengeräusche, wie z.B. Husten oder Räuspern, zu hören. Am Ende des Stücks setzt Applaus ein. Beide Musiker lächeln als Reaktion auf den Applaus und nicken dem Publikum zu. Abbildung 77: Inszenierung von „Bühne“ und Publikumsraum.

Quelle: Live-Auftritt in Traismauer 4’07’’.

D Zusammenfassende Interpretation  D1 Kulturen/Erfahrungswelten Das Musikstück „Centipede“ entspricht in seiner Besetzung den Kriterien des Stilfelds „Klassik/zeitgenössische Musik“. Die Besetzung des Stückes besteht aus Cello und Geige. Die Form des Stückes ist jedoch stilfeldübergreifend. Viele Elemente, die dem Stilfeld „Jazz/improvisierte Musik“ zugeschrieben werden, sind Bestandteil der Performance. Der Musikvideoclip zu „Centipede“ wurde in einer leerstehenden Fabrikhalle gedreht.

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 D2 Musikstile Die Komposition „Centipede“ ist ein Crossover der Stilfelder „Jazz/ improvisierte Musik“ und „Klassik/zeitgenössische Musik“ mit Elementen des Stilfelds „Rock/Pop Musik“. Die Besetzung der Formation entspricht einem klassischen Streicherduo, die optische Inszenierung ähnelt einer Jazz-Formation.  D3 Performance Stil Bartolomey und Bittmann musizieren im Musikvideoclip und in der LivePerformance ohne Notenbehelf. Klemens Bittmann gibt der Musik Raum in seinem Bewegungsrepertoire. Der Bewegungsradius, den er im Musikvideoclip ausführt, ist in der Live-Performance weniger ausgeprägt. Dennoch bewegt sich der Geiger auch während der Performance in der Galerie in Traismauer zur Musik.  D4 WAS konstituiert der Interpret/ die Interpretin in seiner/ ihrer Performance kulturell? Die beiden Musiker bewegen sich in ihren Kompositionen weg vom Mainstream der Klassik. Den Einsatz von schnellen Tempi und virtuosen Unisono-Passagen beschreibt Bartolomey mit den Worten: „Die Suche nach interessanten Klangfarben im Unisonospiel zweier Melodieinstrumente ist etwas, das mich immer schon fasziniert hat“.50 Das Duo re-konstituiert eine Fokussierung auf virtuose Instrumentalmusik in der Tradition sogenannter „ernster“ Kunstmusik. Die Konventionen der Neuen Musik werden durch exzessive motorische Rhythmik gebrochen.  D5 WIE macht sie/er das (in Bezug auf die Konventionen des Stilfeldes)? Das Duo widersetzt sich an die Konventionen des Stilfeldes „Klassik/zeitgenössischer Musik“. Die Kleidung ist dezent, es wird auf den Anzug verzichtet. Die beiden Musiker tragen zusätzlich Sportschuhe. Die Besetzung des Stückes besteht aus Cello und Geige Die Komposition ist stilfeldübergreifend. Der Fokus des Duos liegt auf der rhythmischen Komponente der Musik. Der Groove, der im Stilfeld „Jazz/improvisierte Musik“ von besonderer Bedeutung ist, steht im Mittelpunkt der Performance. Die Komposition ist ein Mix aus ex-

50 Matthias Bartolomey zitiert nach Weitlaner 2014, o.S..

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perimentellen Spieltechniken, starken dynamischen Gegensätzen, Improvisation und Ostinato (afroamerikanische Rhythmik). Die Performance weist starke Körperlichkeit (Rock Attitüde) auf.  D6 Wie und in welcher Form finden Übersetzungen (Translationen) statt? Ein Streicher-Duo komponiert ein Stück, das Stilmittel aus dem Jazz aufweist. Eine Komposition mit klassischer Besetzung wird teilweise in die Stilmittel des „Jazz/improvisierte Musik“ übersetzt. Die Kompositionen entstehen hauptsächlich mit gleichwertiger Beteiligung beider Musiker. „Am Anfang steht eine musikalische Idee. Aus dieser ‚Zelle‘ basteln wir Schritt für Schritt etwas Größeres, bis es zu einer eigenständigen Komposition wird.“51 Die Übersetzung in ein Live-Ritual erfolgt in ungewöhnlichen Locations, z.B. in einer Fabrikhalle und einer Kunstgalerie.  D7 Ergebnisse der Analyse des Aufführungsrituals Die Komposition „Centipede“ wird mit einem Musikvideoclip, der die Dokumentation der Spieltechnik der beiden Instrumentalisten des Duos BartolomeyBittmann zum Inhalt hat, promotet. Die Aufführungssituation von „Centipede“ in einer Fabrikhalle ohne Publikumspräsenz ist ungewöhnlich für das Stilfeld. Die Wahl des Orts und die Absenz des Publikums verweisen auf das Experimentelle in der Musik des Duos. Eine andere Sichtweise eröffnet der Live-Auftritt von BartolomeyBittmann. Das Duo befindet sich auf einer Ebene mit dem Publikum in den Räumlichkeiten einer Kunstgalerie. Das Publikum verhält sich den Konventionen des Stilfelds „Klassik/zeitgenössische Musik“ entsprechend: still sitzen im bestuhlten, abgedunkelten Raum; verhaltener Applaus am Ende der Performance.

51 Matthias Bartolomey zitiert nach Weitlaner 2014, o.S.

5

Ergebnisse der vergleichenden Stilfelder-Analyse

Am Beispiel typischer Merkmale der Verteilung der Eigenschaften von Figuren in musikalischen Stilfeldern der österreichischen Musik in den Jahren 2010-2015 können Erkenntnisse bezüglich der Vielfalt von Kulturmustern gewonnen werden. Gerade jene Eigenschaften von Figuren, die typische Ausdrucksformen für kulturelle Erfahrungen repräsentieren, eignen sich für die Darstellung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen im österreichischen Musikleben. Im Kapitel 6.1 sollen als Zwischenschritt zunächst die sechs Stilfelder der Musik anhand ihrer zwei Beispiele kurz zusammenfassend vorgestellt werden. Wir bringen jeweils zunächst das „konventionelle“ und dann das Beispiel, das grenzüberschreitende Tendenzen des Stilfeldes zeigt. Dabei werden die Vergleichs-Parameter „Figur“ (wer wird gezeigt?), „Was“ (wird kulturell konstituiert?), „Wie“ (wird dies performativ dargestellt?) und „Live“ (Aufführungsritual inklusive Publikum) für alle Beispiele durchgehalten und beim jeweils zweiten Beispiel durch die Kategorie „Crossover“ ergänzt. Eine abschließende Zusammenfassung pro Stilfeld soll die kulturtheoretischen Gemeinsamkeiten beider Beispiele resümieren. FIGUR: Nennung und Beschreibung der zentralen Figur des Musikvideoclips. WAS konstituiert die Figur kulturell? WIE macht sie das? LIVE: Schauplatz des Live-Auftritts, Bühne/Publikums, Aufführungsritual CROSSOVER: musikalische und visuelle Crossover-Elemente Zusammenfassung der beiden für das Stilfeld stehenden Beispiele

276 | Aufführungsrituale der Musik

Anschließend wird dann die „Vergleichende Stilfelder-Analyse“ anhand der drei Dimensionen durchgeführt:  performanceanalytische Aspekte,  genderspezifische Aspekte und  kulturtheoretische Aspekte

5.1 SECHS STILFELDER DER MUSIK: FIGURENANALYSE DER STICHPROBE 5.1.1 Stilfeld: „Rock&Pop Musik“ Wanda: „BOLOGNA“: FIGUR: Künstlername „Marco Wanda“ + Schauspieler/innen im Video WAS: Re-Konstituierung von Rockkultur („Sex & Drugs & Rock’n’Roll“), Spiel mit Tabubruch (Inzest) WIE: Lyrics (deutsch), Inszenierung als hedonistischer Rockstar (offenes Hemd, Weinflasche, Zigarette, zerrissene Hose, sich verausgabende – heisere – Stimme, kommunikativer Umgang mit dem Publikum), klassische Rockband-Besetzung (voc, e-git, b, keys, dr) LIVE: Halle ohne Bestuhlung, Animationsritual (Mitsingen, Mitklatschen, auf den Schultern sitzen) Fijuka: „CA CA CARAVAN“: FIGUR: Katharina Winkelbauer alias „Ankathie Koi“ und Judith Walzer alias „Judith Filimónova“ verkörpern die Weltraum-Agentinnen „Caty Cosmos“ und „Judy Jupiter“ WAS: Dekonstruktion von Machart und Inhalt des Science-Fiction Genres der 1960er Jahre, Projektion von irdischen Konflikten, Kämpfen, Kriegen, Eroberungen etc. ins Weltall; der Chorus des Songs hat die Relativität von Zeit zum Thema (Relativitätstheorie als Weltbild) WIE: Parodie in Form eines Kurzfilms mit Prolog, Song und Abspann, die Protagonistinnen sind Teil einer Raumschiff-Besatzung, die dilettantische Inszenierung aller Kulissen und „special effects“ wird ungeschminkt kenntlich gemacht, viele visuelle und musikalische Zitate („Raumschiff Enterprise“, „James Bond“, „Star Wars“, „Barbarella“, Glam Rock, ...)

276 | Aufführungsrituale der Musik

Anschließend wird dann die „Vergleichende Stilfelder-Analyse“ anhand der drei Dimensionen durchgeführt:  performanceanalytische Aspekte,  genderspezifische Aspekte und  kulturtheoretische Aspekte

5.1 SECHS STILFELDER DER MUSIK: FIGURENANALYSE DER STICHPROBE 5.1.1 Stilfeld: „Rock&Pop Musik“ Wanda: „BOLOGNA“: FIGUR: Künstlername „Marco Wanda“ + Schauspieler/innen im Video WAS: Re-Konstituierung von Rockkultur („Sex & Drugs & Rock’n’Roll“), Spiel mit Tabubruch (Inzest) WIE: Lyrics (deutsch), Inszenierung als hedonistischer Rockstar (offenes Hemd, Weinflasche, Zigarette, zerrissene Hose, sich verausgabende – heisere – Stimme, kommunikativer Umgang mit dem Publikum), klassische Rockband-Besetzung (voc, e-git, b, keys, dr) LIVE: Halle ohne Bestuhlung, Animationsritual (Mitsingen, Mitklatschen, auf den Schultern sitzen) Fijuka: „CA CA CARAVAN“: FIGUR: Katharina Winkelbauer alias „Ankathie Koi“ und Judith Walzer alias „Judith Filimónova“ verkörpern die Weltraum-Agentinnen „Caty Cosmos“ und „Judy Jupiter“ WAS: Dekonstruktion von Machart und Inhalt des Science-Fiction Genres der 1960er Jahre, Projektion von irdischen Konflikten, Kämpfen, Kriegen, Eroberungen etc. ins Weltall; der Chorus des Songs hat die Relativität von Zeit zum Thema (Relativitätstheorie als Weltbild) WIE: Parodie in Form eines Kurzfilms mit Prolog, Song und Abspann, die Protagonistinnen sind Teil einer Raumschiff-Besatzung, die dilettantische Inszenierung aller Kulissen und „special effects“ wird ungeschminkt kenntlich gemacht, viele visuelle und musikalische Zitate („Raumschiff Enterprise“, „James Bond“, „Star Wars“, „Barbarella“, Glam Rock, ...)

5 Ergebnisse der vergleichenden Stilfelder-Analyse | 277

LIVE: Die beiden Musikerinnen (voc/synth, e-bass) werden durch einen Drummer ergänzt; Outfits mit Glitzerelementen, toupierten Haaren; keine Bestuhlung, Publikum bewegt sich CROSSOVER: Gestaltung des Musikvideoclips als Kurzfilm (Crossover von Kunstsparten) Zusammenfassung: Erneuerung der konstitutiven Elemente der Pop/Rock-Kultur durch Rückgriffe auf die jüngere Vergangenheit („Retro“ = retrospektiv), Reflexion aktueller Lebenswelten, Relativität von Werthaltungen und von Raum & Zeit, hedonistische Positionen, Teil der Medienwelt der globalen „Entertainment“-Wirtschaft, Konzerte ohne Bestuhlung. 5.1.2 Stilfeld „Dance/HipHop/Elektronik“ Electric Indigo: „DJ @ TAICO ‘15“: FIGUR: Künstlername „Electric Indigo“ WAS: feministische Positionierung im Rahmen der DJ Culture WIE: als DJ Vermeidung von Personenkult, schwarze Hose/schwarze Jacke, wenig Gestik, leichtes Mitschwingen des Oberkörpers, Musik minimalistischleicht-angenehm, konstanter Beat, vermeidet (im analysierten Ausschnitt) brachiale Sounds und Lautstärken LIVE: Open-Air-Festival ohne Bestuhlung, Animationsritual (Tanzen, Seifenblasen, Filmen, Fotografieren) Nazar: „ZWISCHEN ZEIT UND RAUM“: FIGUR: Nazar als Rapper mit Migrationshintergrund (türkische Minderheit im Iran) gibt gemeinsam mit Falco (posthum) den „Prinz der Goodlife Crew“ WAS: männliche Identität: Macho („vorwiegend hatten wir das Spiel, die Weiber und den Gin“), weibliche Egalität wird unterstellt WIE: künstliches Duett mit Falco (der stimmlich und optisch mit seinem Song „Die Königin von Eschnapur“ präsent ist), leicht bekleidete BackgroundTänzerinnen als Projektionsfläche des Männertraums entsprechend vieler Vorbilder des HipHop Genres, „Auferstehung“ eines Künstlers mit technischen Hilfsmitteln (daher „zwischen Zeit und Raum“)

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LIVE: Duett mit Yasmo & S.K.Invitational („An manchen Tagen“): Open Air ohne Bestuhlung, Publikumsanimation (direkte Ansprache und Applaus während der Musik) CROSSOVER: HipHop/Pop, HipHop/Jazz Zusammenfassung: Dance und HipHop als Ort der Verhandlung geschlechtlicher Identitäten (binär bis queer), Nutzung aktueller technologischer Möglichkeiten (spielerischer Umgang mit Sounds und Samples inklusive Recycling von Archivmaterial), Interaktion mit dem Publikum: Stehen, Sprechen, Tanzen etc. während der Musik (Animationsritual). 5.1.3 Stilfeld „Schlager/volkstümliche Musik“ Die Seer: „HEUT HEIRAT’ DIE LIEBE MEINES LEBENS“: FIGUR: Sabine „Sassy“ Holzinger als verschmähte Liebende + Schauspielerin + Band WAS: Re-Konstituierung von Schlagerthematik/Monogamie (Liebesleben, Hochzeit, Abschied, Trost) WIE: Starke Emotionalität durch deutliche Gestik und Mimik der Protagonistin und der anderen Bandmitglieder, Mischung aus Tracht und Alltagskleidung in ländlich-alpiner Umgebung (Almsee), die beiden Frauen singen, die Männer spielen (dr, harmonika, ak-git, e-git, keys und e-bass), die Musik enthält auch Austropop-Elemente (4 Chord Song mit Verse-Chorus-Bridge, der Beziehungskonflikt wird nicht aufgelöst) LIVE: Open Air ohne Bestuhlung, Animationsritual (Rosen und Leuchtsterne halten, Sprechen und Mitsingen, Mitschunkeln) Andreas Gabalier: „I SING A LIAD FÜR DI“: FIGUR: Andreas Gabalier besingt als „VolksRock’n’Roller“ eine Liebespartnerin, die durchgehend als „Engerl“ bezeichnet wird WAS: Re-Installierung traditioneller Geschlechterverhältnisse, Elemente traditioneller alpiner Volkskultur werden aktualisiert WIE: Verwendung christlicher Bilder und Metaphern (Engerl, Teuferl, Himmel, Sternderl), der Protagonist tritt in Lederhosen mit T-Shirt, Sonnenbrille und umgehängtem Akkordeon auf, ab und zu wird eine blonde Frau im Dirndl verschwommen eingeblendet

5 Ergebnisse der vergleichenden Stilfelder-Analyse | 279

LIVE: vorwiegend junges Publikum in großer Halle – größtenteils in Tracht – steht, bewegt sich und singt mit wie bei einem Rockkonzert (Inszenierungselement: Geweih am Mikrofonständer) CROSSOVER: Vermischung von Schlager- und Popelementen: ein rurales Musikgenre wird in einen urbanen Raum gesetzt (Hamburg als Schauplatz des Videoclips); musikalisch kann der Song als Mischung von Polka, Latin und Funk charakterisiert werden Zusammenfassung: Re-Konstituierung traditioneller Geschlechterrollen, Liebe (Sehnsucht/Glück/ Leid) als Hauptthematik, Mischung von Tracht und Alltagskleidung, Volksmusikund Popinstrumentarium (Akkordeon), alpine und urbane Kulisse, Schlager-, Latin- und Rock/Pop-Elemente; Animationsritual: Interaktion, Mitsingen, Schunkeln in Tracht, ... 5.1.4 Stilfeld „Jazz/improvisierte Musik“ Christian Muthspiel 4 featuring Steve Swallow: „TEARS OF LAUGHTER“: FIGUR: Christian Muthspiel nimmt als Jazzkomponist Bezug auf „Lachrimae, or Seaven Teares“ von John Dowland (1563-1626) WAS: Konstituierung einer Beziehung zwischen Jazz und höfischer Renaissancemusik WIE: Transformation von musikalischen Strukturen (Harmonie, Polyphonie) in Konventionen des Jazz (Thema – Soli – Thema), Inszenierung als KunstmusikPerformance (dunkler Bühnenraum, elegante Kleidung, Fokus auf dem musikalischen Geschehen, Quartettbesetzung: tb, tp, vib, e-b) LIVE: Saal mit Bestuhlung, Andachtsritual (konzentrierte Stille, am Ende Applaus) Fatima Spar & The Freedom Fries: „TRUST“: FIGUR: „Fatima Spar“ als satirische Kritikerin von Religionen (Christentum, Islam) WAS: Positionierung als Skeptikerin angesichts der Widersprüche zwischen religiösen Heilangeboten und der Verfolgung und Vernichtung Andersgläubiger WIE: kabarettistische Rollenumkehr: die Künstlerin als Prophetin mit einem Heilsangebot an diese Religionen – gesungen durch ein Megaphon – in Form

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eines Tangos, begleitet von einem Jazz-Septett entspannt sitzend in einem Hinterzimmer in Istanbul LIVE: Club-Atmosphäre: Publikum steht, trinkt, tanzt; Musiker spielen ohne Noten, emotionell-gestische Gesangsperformance, Musiker werden vorgestellt CROSSOVER: „World Music“ Mischung von Jazz, Tango, Balkan Brass und Popsong; Positionierung in kulturellen Zwischenräumen Zusammenfassung: Jazz bzw. Improvisation als anschlussfähig in Hinblick auf die Auseinandersetzung mit anderen Musikkulturen: Positionierung in kulturellen Zwischenräumen; Auseinandersetzung mit Themen der Kultur- und Geistesgeschichte; coolentspannte Präsentationsweise (‚Understatement‘); Andachtsritual im Saal (sitzend) oder Jazzclub (stehend). 5.1.5 Stilfeld „Volksmusik/Folk&World“ Alma: „ADMONTER ECHOJODLER“: FIGUR: Das Quintett „Alma“ (4 junge Frauen, 1 junger Mann) verkörpern traditionelle österreichische Volksmusik WAS: Fortführung und Weiterentwicklung von alpiner Volkskultur WIE: Repertoire u.a. aus Volksliedsammlungen, Bearbeitung für die Quintettbesetzung (3 Geigen, Harmonika, Kontrabass + mehrstimmiger Gesang), Alltagskleidung mit traditionellen und modernen Elementen (Kopftücher, Sonnenbrillen), dynamische Performance im Stehen, ursprünglich funktionelle Musik kommt auf die Konzertbühne LIVE: Waldbühne mit Bestuhlung (Liegestühle), Open-Air-Konzert (Publikum lauscht und spendet am Ende Beifall 5/8erl in Ehr‘n: „ALABA, HOW DO YOU DO?“: FIGUR: Beobachtung, Aufzählung und Verkörperung verschiedener österreichischer Identitäten (Pfarrer, Polizist/in, Asylant, Musicalstar, Macho) WAS: Persiflage kurioser Aspekte der aktuellen österreichischen Gesellschaft: die Figuren werden karnevalesk inszeniert bzw. ins Lächerliche gezogen (Tradition des anarchischen Wiener Volkstheaters) WIE: gereimte Gstanzln, Refrain im 7/8 Takt, Groove aus „call & response“ Elementen, sketchartige Darstellung durch Musiker und Schauspieler/innen,

5 Ergebnisse der vergleichenden Stilfelder-Analyse | 281

kellnerartige Auftrittskleidung (schwarze Hose, weißes Hemd, Hosenträger, Gilet) LIVE: Bestuhlung, Konzert, Applaus am Ende CROSSOVER: „Wiener Soul“: Mischung aus Wienerlied, Jazz, Blues/Slide Guitar, Ska, Swing, HipHop, ... Zusammenfassung: Aktualisierung von Traditionen österreichischer Volkkultur (Tänze, poetische Formen, populäres Theater), Archivrecherche/Neukompositionen, Verbindung mit modernen Elementen (Pop, Jazz, HipHop; Videoclip), komödiantischkritischer Blick auf die Gesellschaft, lockeres Andachtsritual (Wald- oder Clubbühne, Bestuhlung, Getränke, ...). 5.1.6 Stilfeld „Klassik/zeitgenössische Musik“ Bernhard Gander: „WEGDA!“: FIGUR: Bernhard Gander, der als Komponist ausgewählte Zeitungsausschnitte zur österreichischen Asylpolitik um 2010 vertont und damit die damalige Innenministerin Maria Fekter karikiert WAS: Positionierung im Sinne eines humanen Umgangs mit Asylwerber/innen WIE: Einhaltung aller Konventionen des klassischen Aufführungsrituals (Dirigent dirigiert auf der Basis einer exakt notierten postseriellen Partitur eine Sopranistin und ein Ensemble: Bassklarinette, Horn, Posaune, Schlagwerk, Violine, Viola, Violoncello, Kontrabass), vorwiegend schwarze elegante Kleidung (Hemd oder T-Shirt und Hose) LIVE: Saal mit Bestuhlung, Andachtsritual (Publikum unbeleuchtet, konzentrierte Stille, am Ende Applaus) BartolomeyBittmann: „CENTIPEDE“: FIGUR: Das Duo „BartolomeyBittmann“ mit ihren Instrumenten Violine und Violoncello WAS: Fokussierung von virtuoser Instrumentalmusik (in der Tradition sogenannter „ernster“ Kunstmusik), Konventionen der Neuen Musik werden gebrochen durch exzessive motorische Rhythmik WIE: Ein Videoclip dokumentiert durch die Kameraführung die handwerklichen Fähigkeiten der Musiker im Ambiente einer Fabrikhalle. Kleidung: schwarze Hose, schwarzes T-Shirt bzw. helles Hemd und dazu Turnschuhe, keine Noten-

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ständer; Mix aus experimentellen Spieltechniken, starken dynamischen Gegensätzen, Improvisation und Ostinatofiguren (afroamerikanische Rhythmik). Performance: heftig und körperlich (Rock Attitüde) LIVE: Galerie, Musiker auf einer Ebene mit dem sitzenden Publikum, Applaus nach dem Ende des Stücks („Parovskapproved“) CROSSOVER: Titel: Anspielung auf das ‚Progressive Rock‘ Orchester „Centipede“ (1970/71), Pop/Rock Ästhetik: Videoclip in einer Fabrikhalle zwecks Promotion eines Albums Zusammenfassung: Akademisch geschulter und virtuoser Umgang mit musikalischem Material, experimentelle Spiel- und Gesangstechniken; deutliche Gesellschaftskritik durch Verwendung öffentlicher Texte; vorwiegend schwarze leger-elegante Kleidung; Andachtsritual: ausschließlicher Fokus auf die Bühne (Konzertsaal, alternative Räume: Fabrikhalle, Galerie, ...).

5.2 ZUSAMMENFASSENDE INTERPRETATIONEN In weiterer Folge sollen nun ausgewählte Ergebnisse der vergleichenden Stilfelder-Analyse anhand von drei Dimensionen präsentiert und diskutiert werden. Wir beginnen mit performanceanalytischen Aspekten (filmische Erzählweisen und Aufführungsrituale), setzten fort mit genderspezifischen Aspekten (Figuren und Geschlechtskonstruktionen) und kommen schließlich zu kulturtheoretischen Aspekten (soziale Ungleichheit und Formen der Hybridität). 5.2.1 Performanceanalytische Aspekte: Erzählweisen und Aufführungsrituale Alle zwölf Musikstücke der Stichprobe liegen in Form von Filmdokumenten vor. In vier Fällen zeigt der Film eine mehr oder weniger nachbearbeitete LiveAufführung des Stückes („Live Auftritt“), zwei weitere Fälle zeigen das Musizieren der Künstler/innen an einem Schauplatz ohne Konzertbühne und Publikum („dokumentarischer Clip“). Für die restlichen sechs Stücke wurde ein Musikvideo gedreht, das zusätzlich zum Gesang und / oder Spiel der Musiker/innen auch noch andere bedeutende narrative Elemente enthält („linearer Clip“, „Montage“). Die dabei zu beobachtenden „filmischen Erzählweisen“ sollen nun im Sinne einer vergleichenden Stilfelder-Analyse genauer unter die Lupe genommen werden.

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ständer; Mix aus experimentellen Spieltechniken, starken dynamischen Gegensätzen, Improvisation und Ostinatofiguren (afroamerikanische Rhythmik). Performance: heftig und körperlich (Rock Attitüde) LIVE: Galerie, Musiker auf einer Ebene mit dem sitzenden Publikum, Applaus nach dem Ende des Stücks („Parovskapproved“) CROSSOVER: Titel: Anspielung auf das ‚Progressive Rock‘ Orchester „Centipede“ (1970/71), Pop/Rock Ästhetik: Videoclip in einer Fabrikhalle zwecks Promotion eines Albums Zusammenfassung: Akademisch geschulter und virtuoser Umgang mit musikalischem Material, experimentelle Spiel- und Gesangstechniken; deutliche Gesellschaftskritik durch Verwendung öffentlicher Texte; vorwiegend schwarze leger-elegante Kleidung; Andachtsritual: ausschließlicher Fokus auf die Bühne (Konzertsaal, alternative Räume: Fabrikhalle, Galerie, ...).

5.2 ZUSAMMENFASSENDE INTERPRETATIONEN In weiterer Folge sollen nun ausgewählte Ergebnisse der vergleichenden Stilfelder-Analyse anhand von drei Dimensionen präsentiert und diskutiert werden. Wir beginnen mit performanceanalytischen Aspekten (filmische Erzählweisen und Aufführungsrituale), setzten fort mit genderspezifischen Aspekten (Figuren und Geschlechtskonstruktionen) und kommen schließlich zu kulturtheoretischen Aspekten (soziale Ungleichheit und Formen der Hybridität). 5.2.1 Performanceanalytische Aspekte: Erzählweisen und Aufführungsrituale Alle zwölf Musikstücke der Stichprobe liegen in Form von Filmdokumenten vor. In vier Fällen zeigt der Film eine mehr oder weniger nachbearbeitete LiveAufführung des Stückes („Live Auftritt“), zwei weitere Fälle zeigen das Musizieren der Künstler/innen an einem Schauplatz ohne Konzertbühne und Publikum („dokumentarischer Clip“). Für die restlichen sechs Stücke wurde ein Musikvideo gedreht, das zusätzlich zum Gesang und / oder Spiel der Musiker/innen auch noch andere bedeutende narrative Elemente enthält („linearer Clip“, „Montage“). Die dabei zu beobachtenden „filmischen Erzählweisen“ sollen nun im Sinne einer vergleichenden Stilfelder-Analyse genauer unter die Lupe genommen werden.

5 Ergebnisse der vergleichenden Stilfelder-Analyse | 283

Die Stilfelder „Klassik/zeitgenössische Musik“ (KZM) und „Jazz/improvisierte Musik“ (JIM) sind durch Live-Mitschnitte und dokumentarische Clips charakterisiert. Die beiden Live Auftritte (Gander, Muthspiel) zeigen das Bühnengeschehen eines Konzertsaals aus der Perspektive einer einzelnen Kamera (bei Gander starr positioniert, bei Muthspiel manchmal auch langsam zoomend bzw. schwenkend). Dem anwesenden Publikum kommt keine filmische Aufmerksamkeit zu. Die beleuchteten Musiker/innen heben sich mit ihren Instrumenten vom dunklen bis schwarzen Hintergrund ab. Der erste dokumentarische Clip zeigt die Performance eines Stücks „Neuer Musik“ mit Improvisationsanteilen in einer leeren alten Fabrikhalle (KZM: BartolomeyBittmann). Die Absenz des Publikums erlaubt es den beteiligten Kameras, den Fokus ausschließlich auf die beiden Musiker und ihre Spielweise zu legen. Der Plot dieses Clips besteht demnach aus der Dokumentation des rasanten Stückes „Centipede“ und der Präsentation des Musizierens durch verschiedene Kameraeinstellungen und musikbezogene Schnitte. Der zweite dokumentarische Clip (JIM: Fatima Spar) fängt die Atmosphäre einer Hinterzimmersession in einem Istanbuler Theater ein. Die Musiker und die Sängerin musizieren in sitzend-entspannter Weise miteinander, die Handkamera dokumentiert dieses Geschehen in einem kleinen Raum ohne Publikum durch ein beständiges langsames Hin- und Her-Schwenken. Dieser ungeschnittenen Aufnahme geht ein 1:30 minütiger Vorspann mit nah und unscharf aufgenommenen Impressionen aus Istanbul voran.

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Grafik 4: Vergleichende Stilfelder-Analyse: filmische Erzählweise

Die beiden Live Auftritte der Stilfelder Volksmusik/World Music (VWM: Alma) und Dance/HipHop/Elektronik (DHE: Electric Indigo) weisen Aspekte von Grenzüberschreitung und Durchlässigkeit auf. In beiden Fällen agieren die Künstler/innen auf einer Bühne im Freien. Der Fokus liegt zwar auf dem Bühnengeschehen, aber auch die Umgebung und das Publikum werden von der Kameraperspektive mehr oder weniger eingefangen. Die Aufführungssituation ist in beiden Fällen locker-entspannt (Waldbühne mit Strandsesseln bzw. TechnoFestival ohne Bestuhlung). Während aber die Kamera das Konzert von Alma im Sinne eines klassischen Konzerts erzählt und – mit Ausnahme eines Schwenks ins Publikum am Konzertende – die Musiker/innen im Fokus behält, wird bei Electric Indigo durch verschiedene Einstellungen das Gesamt-Event zum Thema gemacht. Man sieht abwechselnd eine Totale des Open-Air-Festivals, die Künstlerin bei der Arbeit am DJ Pult und das tanzende Publikum (u. a. auch in Nahaufnahmen). Bei Alma warten – trotz rustikaler Waldlichtung mit Naturbühne – die auf dem Boden oder auf Campingliegen sitzenden Zuhörer/innen artig das Ende des Stückes ab, bevor sie heftigen Beifall spenden (Volksmusik als Konzertmusik ohne Tanz!). Bei den übrigen sechs Videoclips kann man eine konkrete/lineare von einer eher abstrakten/experimentellen Erzählweise unterscheiden:  Konkrete/Lineare Erzählweise (SVM: Seer, Gabalier, RPM: Wanda)

5 Ergebnisse der vergleichenden Stilfelder-Analyse | 285

Musikvideoclips sind kurze Filme, die der bildlichen Untermalung eines Musiktitels dienen. Sie enthalten in der Regel keinen Vor- oder Abspann. „Man spricht von einer linearen Erzählweise, wenn die Ereignisse der Geschichte in einer zeitlichen Richtung aufeinander folgend dargestellt werden, es also keine zeitlichen Rück- und Vorausgriffe gibt und zudem nur eine Handlungslinie verfolgt wird“1. Der/Die Sänger/in agiert als Erzähler/in, begleitend wird die erzählte Geschichte durch den Einsatz von Schauspieler/innen visualisiert. Im Stilfeld „Schlager/volkstümliche Musik“ zeigen beide Lieder eine solche konkrete/lineare Erzählweise: Die Sängerin der Band Seer, Sassy Holzinger, ist nicht Teil der Story, sondern erzählt diese mit großen emotionalen Gesten gemeinsam mit der gesamten Band vor der Kulisse eines Alpensees. Abwechselnd zu dieser Inszenierung werden einzelne Szenen der Geschichte „Heut heirat’ die Liebe meines Lebens“ synchron zu ihrer Erwähnung im Liedtext gezeigt. Andreas Gabalier agiert gleichzeitig als Erzähler und Protagonist seiner Story. Der Fokus liegt auf dem Interpreten in einer für das Genre ungewöhnlichen urbanen Umgebung. Das angebetete „Engerl“ erscheint ab und zu in einer Art Traumsequenz als konkrete Visualisierung des Textes. Auch die Band Wanda zeigt in „Bologna“ ganz klar eine konkrete Erzählweise. Marco Wanda erzählt die Story, ist aber nicht Teil dieser. Zur Verdeutlichung des Textes spielen die eingeblendeten Szenen tatsächlich in der Stadt Bologna und zeigen, dargestellt durch Schauspieler/innen, das lyrische „Ich“ und die erwähnte Cousine in verschiedenen Situationen.  Abstrakte/Experimentelle Erzählweise (RPM: Fijuka: DHE: Nazar/Falco und VWM 5/8erl in Ehr’n) Diese Gattung bewegt sich in Richtung der Definition des Art-Clips von Holger Springsklee als Kategorie der Typisierung von Musikvideoclips: „Clips, in denen die Darstellung des Musikers (sic!) gegenüber der bildnerischkünstlerischen Gesamtgestaltung zurücktritt. Das Medium „Musikvideo“ illustriert nun keine Handlung mehr, sondern wird als Objekt des Videokünstlers (sic!) verstanden, der mit Hilfe von gestalterischen Elementen wie Zeichentrick, Computergrafik und ähnlichem ein Gesamtkunstwerk schafft.“2 Die abstrakte Erzählweise lässt sich im Material der Stichprobe wie folgt beobachten: als Montage verschiedener Sequenzen, die nicht nur den Songtext visualisieren sondern weitere Dimensionen eröffnen (Nazar/Falco, 5/8erl in Ehr’n) und darüber

1

o.A.Definition „lineare Erzählweise“ (Online-Lexikon der Filmbegriffe).

2

Springsklee in Behne 1987, S. 127.

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hinaus als Kurzfilm mit Vor- und Abspann, der die Machart und Inhalt des Science Fiction Genres der 1960er Jahre dekonstruiert (Fijuka). Die Montage beschreibt im Sinne eines kreativen Akts „die Leistungen, die das Aneinanderfügen von Bildern und Tönen im Aufbau des Films als Werk, als Kommunikationsmittel, in der Rezeption etc. hat. Durch Fragmentation (découpage) der profilmischen Realität in einzelne Aufnahmen erhält man das Ausgangsmaterial, das bei der Montage im engeren Sinne, also beim Zusammenfügen von Aufnahmen, zu Ganzheiten der Aussage kombiniert werden“3. In beiden untersuchten Beispielen werden verschiedene Sequenzen aneinandergefügt, die den Songtext visuell unterstreichen, ohne dass eine stringente Geschichte erzählt wird. Das künstliche Duett des Rappers Nazar mit Falco in Form einer Auferstehung des verstorbenen Künstlers mit technischen Hilfsmitteln (Projektion eines Auftritts im Bildhintergrund, leicht bekleidete Background-Tänzerinnen in Falco-Kostümen) kann nur durch diese Filmtechnik gewährleistet werden. Auch die Persiflage kurioser Aspekte der aktuellen österreichischen Gesellschaft durch Aufzählung und Verkörperung verschiedener österreichischer Identitäten bei 5/8erl in Ehr’n entfaltet erst durch die sequenzielle Aneinanderreihung der sketchartigen Fragmente ihre gesellschaftskritische Wirkung. Das Duo Fijuka setzt einen Kurzfilm (Dauer: 5min 32 sek) zur Promotion des Songs „Ca Ca Caravan“ ein. Die Academy of Motion Picture Arts and Sciences definiert diese Filmkategorie als: „... a short film is defined as an original motion picture that has a running time of 40 minutes or less, including all credits“ 4. In dem Musikvideoclip von „Ca Ca Caravan“ existiert ein Prolog, in dem eine dramatische Sprechszene auf einem fiktiven fernen Planeten gezeigt wird. Die Musik setzt erst danach ein. Ein Abspann ist außergewöhnlich für einen Musikvideoclip. Bei „Ca Ca Caravan“ dauert dieser 40 Sekunden und zählt alle am Videodreh beteiligten Personen und Institutionen auf. Der Clip hat das Sujet Weltraum zum Thema, unterscheidet sich daher inhaltlich vom Text des Songs, eröffnet weitere Dimensionen. Wenn die Akteurinnen den Mund während des Songs bewegen, dann geschieht dies im Rahmen von diegetischen Dialogen, die für die Zusehenden als Untertitel zu lesen sind. Der Musikvideoclip zu „Ca Ca Caravan“ wird als eine Episode von „Fijuka Space Patrol“ bezeichnet. Zusammenfassend scheint in den Videoclips der Stilfelder Schlager (SVM) und Rock/Pop (RPM) eher ein konkretes Erzählen von Geschichten, in den Stilfeldern Klassik (KZM) und Jazz (JIM) eine abstrakte Dokumentation von Live Ereignissen vorzuherrschen. Die Stilfelder Dance (DHE) und World (VWM)

3

o.A.Definition „Montage“ (Online-Lexikon der Filmbegriffe).

4

o.A.Definition „Kurzfilm“ (AMPAS).

5 Ergebnisse der vergleichenden Stilfelder-Analyse | 287

zeigen sowohl Live-Dokumentationen als auch experimentelle Montagetechniken mit einem Naheverhältnis zu den jeweiligen Lyrics. Performances in Form von filmischen Darstellungen von Musikstücken oszillieren demnach zwischen dem Fokus auf der Visualisierung einer Story (Schlager) und dem Fokus auf der Präsentation von Künstlerinnen und ihrer Leistung (Klassik). Zwischen den Stilfeldern sind kontinuierliche Übergänge zu beobachten. Aufführungsrituale Als „Aufführung“ soll in diesem Kontext das Erklingen eines Musikstücks bei gleichzeitiger physischer Anwesenheit eines Publikums verstanden werden. Diesbezüglich ist weiters zu unterscheiden, ob es sich um einen „Live Auftritt“ handelt, bei dem das Publikum unmittelbarer Zeuge des Musizierens ist, oder ob es sich um eine medial vermittelte Performance handelt. Insofern ist auch die Wahrnehmung eines Videoclips eine Aufführung. Bezüglich des Begriffs „Ritual“ wird hier eine allgemeine Definition verwendet, die über die transformierende Funktion (Initiation, Eheschließung, Verleihung eines akademischen Grades, ...) hinausgeht: „Ein Ritual [...] ist eine nach vorgegebenen Regeln ablaufende, meist formelle und oft feierlich-festliche Handlung mit hohem Symbolgehalt.“ 5 Als Aufführungsrituale sollen hier stilfeldspezifische Konventionen, Patterns und wiederkehrende Verhaltensmuster im Zusammenhang mit Aufführungen von Musik verstanden werden. Ihre Analyse bezieht sich auf die „Rahmenanalyse“ nach Erving Goffman: Welche Konventionen bestimmen in den einzelnen Stilfeldern die Interaktionen zwischen Bühne bzw. Medium6 und Publikum und bilden damit einen „Rahmen“, der bestimmte Verhaltensweisen ermöglicht und andere ausschließt bzw. sanktioniert? Aufführungsrituale von Musik sind verwandt mit Medienritualen und können wie diese als „Orte kollektiver und kultureller Selbstvergewisserung“7 charakterisiert werden. Die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte betont den Beitrag des Publikums zur Gesamtperformance: „Performativität führt zu Aufführungen bzw. manifestiert und realisiert sich im Aufführungscharakter performativer Handlungen“8. Der Auftritt wird zum gesellschaftlichen Phänomen, das alle Beteiligten zu Akteur/innen macht.

5 6

o.A. Definition „Ritual“ (Wikipedia). Auch kollektives Tanzen zum „Donauwalzer“ aus Rundfunkgeräten beim Jahreswechsel trägt rituelle Züge.

7

Goffman zit. nach Nick Couldry, 2003 in Fahlenbrach,Brück,Bartsch 2008, S. 15.

8

Fischer-Lichte 2004, S. 41.

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In weiterer Folge soll die Diversität von Aufführungsritualen anhand von „Live Auftritten“ untersucht werden. Von den 12 Musikvideoclips der Stichprobe enthalten nur vier eine filmische Dokumentation eines Live Auftritts. Es war daher notwendig, auch Live Events der übrigen acht Musikstücke ausfindig zu machen. Alle gefundenen Filmdokumente, die die Anwesenheit eines Publikums zeigen – oder auf eine solche schließen lassen – entsprechen dem Aufführungstyp „Konzert“. Dieser hat sich offenbar mittlerweile in allen Stilfeldern durchgesetzt. 9 Um die Variationsbreite der Aufführungsrituale bei Konzerten fassen zu können wurden zwei Idealtypen vorweg konstruiert: Andachtsritual: Ruhigstellung des Körpers: Publikum sitzt still in einem bestuhlten Konzertsaal, Applaus bei Betreten der Bühne und nach Ende eines Werks möglich, Informationen durch ein gedrucktes Programm. Animationsritual: Aktivierung des Körpers: Publikum wird in lockerer Atmosphäre zum körperlichen Mitvollzug animiert: zum Tanzen, Klatschen, Singen, Essen, Trinken etc., Wortbeiträge durch Live-Moderation. Die vergleichende Stilfelder-Analyse zeigt diesbezüglich folgende Verteilung:

9

Andere Aufführungstypen wären etwa Tanzveranstaltungen wie z.B. Bälle oder religiöse Rituale wie etwa Messfeiern oder Begräbnisse.

5 Ergebnisse der vergleichenden Stilfelder-Analyse | 289

Grafik 5: Vergleichende Stilfelder-Analyse: Aufführungsritual

Die beiden Aufführungsrituale sind sehr klar nach dem Status der Stilfelder verteilt. Für „Klassik“, „Jazz“ und „World“ scheint das Andachtsritual, für „Dance“, „Pop/Rock“ und „Schlager“ das Animationsritual typisch für Konzerte zu sein. Das Andachtsritual wird im Stilfeld „Jazz“ von Fatima Spar gebrochen, die ihren Song „Trust“ live in einem Rockclub zum Besten gibt. Im Stilfeld „Volksmusik/World Music“ wird das klassische stille Andachtsritual durch Ansagen und eine insgesamt lockerere Atmosphäre modifiziert. Das Animationsritual verlangt nach einer freien, nicht bestuhlten Fläche, auf der sich das Publikum körperlich ausagieren kann. Bei Schlager- oder Pop/Rock-Konzerten in großen Hallen werden häufig sowohl Sitzplätze als auch freie Flächen angeboten. Über diese grundsätzlichen Zuordnungen hinaus sind im Sinne der Veränderbarkeit von Ritualen10 einige feine Unterschiede und Mixturen erkennbar: Im Stilfeld „Klassik/ zeitgenössische Musik“ werden etwa neue Räume für Auftritte erkundet. Eine Galerie wird zu einer Aufführungsstätte, das Publikum sitzt auf einer Ebene mit den Musikern (BartolomeyBittmann). Das Stilfeld „Jazz/

10 Rituale befinden sich in einem stetigen Zustand der Transformierung. „Rituale sind Inszenierungsmedien symbolischen Handelns, in denen Symbole ausgebildet und verändert werden“ (Bachmann-Medick 2009, S. 112).

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improvisierte Musik“ weist u.a. auch Veranstaltungen auf, die exakt dem Andachtsritual entsprechen (Muthspiel). Die Performance findet in einem Konzertsaal statt. Der Publikumsraum ist bestuhlt und abgedunkelt. Die Musiker/innen verwenden Notenmaterial und erwarten strikt die ungeteilte Aufmerksamkeit der Zuhörer. Die Performance der Jazzsängerin Fatima Spar im Rockclub verläuft jedoch z.B. nach anderen Konventionen. Eine Formation, die alpine Volksmusiktraditionen aufrechterhält und weiterentwickelt (Alma), spielt auf einer Lichtung im Wald, das Publikum sitzt am Boden oder auf Strandstühlen. Trotz der Absenz einer künstlich erhobenen Bühne hört das Publikum andächtig zu. Es herrscht Stille, Applaus folgt erst am Ende eines Stückes. Für das Stilfeld „Dance/HipHop/Elektronik“ ist die Interaktion zwischen DJ und tanzendem Publikum eine Selbstverständlichkeit. Auch Rapper/innen halten beständig Kontakt mit dem Publikum, DJs filmen oft selbst die tanzende Menge mit dem Smartphone und erhalten dafür Jubelrufe als Response. Die Besucher/innen stehen, sprechen, tanzen und konsumieren Getränke während der Performance. Auch im Stilfeld „Rock&Pop Musik“ wird das Publikum zum Mitsingen und Tanzen animiert. Der/die Sänger/in oder andere Musiker/innen können auch während des Konzerts ins Publikum springen und sich von der Menge tragen lassen („Stagediving“). So kann der Kontakt zu den Zuseher/innen intensiviert werden, der/die Künstler/in wird zum Teil der Menge, das Publikum wird zum Teil der Performance. Das Publikum applaudiert und jubelt nicht nur am Ende des Auftritts, sondern tut dies bei Ankündigungen von und während des Songs oder bei Soli von Instrumentalist/innen. Manchmal werden auch Gegenstände auf die Bühne geworfen, um Euphorie oder Missfallen auszudrücken. Bestuhlung ist beim Animationsritual jedenfalls verpönt und daher nicht vorhanden. Dies gilt auch für das Stilfeld „Schlager/volkstümliche Musik“, das auch noch andere Kleidungs- und Verhaltenscodes (z.B. Tracht, Schunkeln, Gruppentänze und –schlangen etc.) zelebriert. Häufig aber entstehen auch in Pop- oder Schlager-Konzerten Momente und Sequenzen, in denen das Publikum eine Haltung andächtiger Stille und Anteilnahme einnimmt.11

11 „Es sind die ‚rührenden’, die ‚berührenden‘ Stellen, die Emotionen auslösen [...]“ (Fischer-Lichte, 2004, S.103). Diese Momente, die Fischer-Lichte als „rührende Stellen“ beschreibt, können sowohl eine innerlich gefühlte als auch eine äußerlich wahrnehmbare Bewegtheit sein.

5 Ergebnisse der vergleichenden Stilfelder-Analyse | 291

5.2.2 Genderspezifische Aspekte: Figuren und Geschlechtskonstruktionen Eine zentrale Fragestellung dieser Studie bezieht sich auf die in den Musikfilmen der Stichprobe gezeigten Figuren, deren Merkmale und deren kulturschöpferischen Aspekte. Welche kulturellen Muster werden durch diese Figur(en) konstituiert und welchen Stellenwert nimmt dabei die Kategorie „Geschlecht“ ein? Figuren in Musikclips – so die Annahme – sind wie im Theater oder Film nicht identisch mit der Privatperson der Musiker/innen. Erst durch ihre kulturschöpferische Kraft kommen Identifikationsprozesse eines überregionalen Publikums zustande. Daher wurde mit der Methode der Figurenanalyse des Filmwissenschaftlers Jens Eder gearbeitet, der – wie bereits erwähnt – vier Aspekte unterscheidet: die Figur als Artefakt, als fiktives Wesen, als Symbol und als Symptom. Welche Hauptfiguren zeigen die Musikstücke der Stichprobe und wie sind sie verteilt? Grafik 6: Vergleichende Stilfelder-Analyse: Figuren (Gender)

Ein erster Blick auf die 6-Felder Matrix zeigt 4-mal die Figur Künstler/in, 2-mal die Kategorie Karikatur, 3-mal die Figur Männlicher „Lover“ und 3-mal weibliche Figuren uneinheitlicher Ausrichtung: Anti-Prophetin, Agentinnen und Ver-

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schmähte Liebende. In weiterer Folge sollen nun diese Kategorien von Figuren diskutiert werden. Der Künstler/die Künstlerin als Figur: In den Stilfeldern „Klassik“ (Bartolomey/Bittmann), „Jazz“ (Christian Muthspiel 4 feat. Steve Swallow), „World“ (Alma) und „Dance“ (DJ Electric Indio) stehen die Künstler/innen selbst als Figur im Mittelpunkt. In diesen Fällen handelt es sich durchwegs um Instrumentalstücke. Es gibt keine Lyrics und keine Story über die Form der Musik und ihrer Darbietung hinaus. Lediglich die Titel der Stücke verweisen auf implizite Kontexte, die jeweils einen künstlerischen Referenzrahmen benennen: Progressive Rock als Bezugspunkt von Neuer Musik, Musik des elisabethanischen Zeitalters als Bezugspunkt von Jazz, World Music als Bezugspunkt von Volksmusik, Internationalität als Bezugspunkt von Dance (Festival in Japan). Diese Kontexte scheinen sowohl den Kleidungs- als auch den Performancestil der Künstler/innen zu beeinflussen: Bartolomey/Bittmann agieren heftig mit eleganter Alltagskleidung (Turnschuhe), die Jazzmusiker geben sich speziell seriös, Alma paraphrasiert Volksmusikelemente und demonstriert „Modernität“, DJ Electric Indigo agiert in schwarz-eleganter Alltagskleidung gleichzeitig konzentriert und entspannt. Die Inszenierung von fiktiven Figuren: Die Figurenanalyse im Forschungsprojekt Performing Diversity untersucht diese Figuren gemäß Jans Eder als „fiktive Wesen“ und fragt nach ihren Eigenschaften als „Symbol“ und „Symptom“. Hierbei werden die beobachteten Figureninszenierungen in die drei Kategorien „Karikatur als gesellschaftskritische Positionierung“, „Figureninszenierung als maskuline Typisierung“ und „Figureninszenierung als feminine Typisierung“ geteilt.  Karikatur als gesellschaftskritische Positionierung Die Karikatur gilt seit dem 19. Jahrhundert als bedeutsames politisches Medium und ist als solches Träger gesellschaftlicher und politischer Kritik. Seit ihrer Entstehung gilt die historische Karikatur als Agitationsmittel. Karikaturen verkörpern eine Fülle an relevanten Informationen ihrer Zeit und versuchen gleichzeitig einen gesellschaftlichen Wandel zu bewirken. „Aktuell und situationsbezogen, vielseitig in ihren Ausdrucksmöglichkeiten, reagieren Karikaturen auf politische und gesellschaftliche Zustände, charakterisieren Persönlichkeiten und

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werden als Kampfmittel eingesetzt.“12 Gesellschaftskritische Positionierung kann im Sample von Performing Diversity in drei Beispielen beobachtet werden. Bernhard Ganders „wegda!“ (KZM) übt offensichtlich Kritik an der politischen Situation in Österreich im Jahr 2010. Zeitungsartikel, Interviews und Aussagen aus Onlineforen zum Thema Recht auf Asyl liefern Textfragmente für eine Komposition im Kontext der zeitgenössischen Musik. Die Karikatur bezieht sich auf die damalige österreichische Innenministerin. Die Texte werden einer Sopranistin in den Mund gelegt, die als Interpretin die Haltung des Komponisten verkörpert. Zusätzlich sorgt ein Dirigent nicht nur für die Exaktheit der Realisierung der Partitur, sondern auch für eine abstrakte Künstlichkeit der gesamten Bühnenperformance. Die Aussagen des Textes müssen dem Programmheft entnommen werden. Die Band 5/8erl in Ehr’n (VWM), die ihre eigene Musik als „Wiener Soul“ bezeichnet, karikiert gemeinsam mit Schauspieler/innen Typen der österreichischen Gesellschaft. Figuren wie Pfarrer – Ministranten, Polizist/Polizistin – dunkelhäutige Staatsbürger (David Alaba u.a.), koksender Künstler im Backstagebereich – Star auf der Bühne, Grapscher – weibliches Opfer unterstützten den gesellschaftskritischen Songtext. Damit wird von den Künstler/innen ein ambivalentes Verhältnis zu Österreich zum Ausdruck gebracht. Die immer wieder eingeblendete Band zeigt ein eher volkstümliches Outfit (weiße Hemden, Hosenträger, Turnschuhe, ...). Der Clip mündet mehr und mehr in eine aktionistische Szene bei der alle Bandmitglieder und sonstige Anwesende mit Farbe beschüttet werden. Diese Haltung erinnert an anarchische Züge der Tradition des Wiener Volkstheaters. Auch Fatima Spar (JIM) zeigt eine gesellschaftskritische Position mit ironisch-sarkastischen Elementen, die aber keine Karikatur der Religionen Christentum und Islam darstellt (siehe unter 6.2.3 Kulturtheoretische Aspekte). Bei Fijuka bezieht sich die Persiflage auf ein Filmgenre, die Figurenkonstruktion wird unter feminine Typisierung (s.u.) diskutiert.  Figureninszenierung als maskuline Typisierung – Der männliche „Lover“ Ein Musikvideoclip überschreitet selten eine Filmlänge von drei bis vier Minuten. In Beispielen aus dem populären Kulturmuster und dem gemischten Muster kann tendenziell von einer Modellbildung der Figur zu Beginn des Musikvideoclips gesprochen werden.

12 Langemeyer 1985, S.7f.

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„Bei den meisten Figuren geschieht ein wesentlicher Teil der Modellbildung bereits in den ersten Sekunden oder Minuten ihrer Darstellung; welche Dinge über sie man zuerst erfährt, prägt die spätere Weiterentwicklung des Modells, die Erwartungen der Zuschauer und ihr Verhältnis zur Figur.“13 Im untersuchten Beispiel des Stilfelds „Dance/HipHop/Elektronik“ tritt Nazar als Rapper mit Migrationshintergrund (türkische Minderheit im Iran) auf und gibt gemeinsam mit Falco (posthum) den „Prinz der Goodlife Crew“. Beide werden als hedonistische Machos inszeniert („vorwiegend hatten wir das Spiel, die Weiber und den Gin“), weibliche Egalität wird unterstellt („Denn wir Männer sind dieselben wie ihr Frauen“). Frauen sind in der Visualisierung des Genres HipHop häufig passiv vertreten. Sie sind Backgroundtänzerinnen, nehmen keinen aktiven Part ein. Im Musikvideoclip zu „Zwischen Zeit und Raum“ tanzen sie während des Rap-Teils von Nazar, haben die Funktion von gutaussehenden und leicht bekleideten Accessoires. Anders funktioniert dies während des Gesangteils von Falco. Hierbei werden sie durch Kostüme und Mundbewegungen zu den Texten zur Projektionsfläche für den Mythos „Falco“. Der HipHop Track demonstriert männlichen Hedonismus in einer internationalen Partykultur, attraktive Frauen unterschiedlicher ethnischer Zugehörigkeit werden explizit körperlich angesprochen und als Objekt verehrt.

13 Eder 2008, S. 366.

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Abbildung 78: Beispiel für die Exotisierung einer weiblichen Figur bei Nazar.

Quelle: Musikvideoclip „Zwischen Zeit & Raum“ 0’38’’.

Der „VolksRock’n’Roller“ Andreas Gabalier („Schlager/volkstümliche Musik) besingt ein „Engerl“, das er in einer kurzen Begegnung kennengelernt hat. Gabalier inszeniert sich dem Stilfeld entsprechend (Lederhose, Stutzen und Akkordeon), trägt jedoch auch Elemente der Popkultur (buntes T-Shirt, Sonnenbrille). Der Musikvideoclip ist im urbanen Raum (Außenaufnahmen von Hamburg, Innenaufnahme des Elbtunnels) angesiedelt. Die Verwendung von christlichen Bildern und verniedlichenden Metaphern (Engerl, Teuferl, Himmel, Sternderl) im Songtext und die Inszenierung der Frauenfigur durch verschwommene Silhouetten (erkennbar ist ihr blondes Haar und das Dirndl) im Musikvideoclip verweisen auch hier auf eine Haltung, die das weibliche Liebesobjekt nicht als konkrete Person wahrnimmt, sondern ihr von vornherein die eigenen sexuellen Interessen unterstellt. Die Performance des Sängers der Band Wanda („Rock/Pop Musik“), der an die Wiederauferstehung eines Jim Morrisons erinnert, stilisiert den Künstler in Zusammenspiel mit dem Text (Inzest als Textsujet, Anspielung auf die Thematik „Sex, Drugs and Rock’n’Roll) zu einem Prototyp des männlichen IndieRockstars. Die Inszenierung erfolgt als schwarz gekleideter Rockmusiker (offenes Hemd, Weinflasche, Zigarette, zerrissene Hose, sich verausgabende / heisere Stimme), die Darstellung des inzestuösen Liebespaars im Musikvideoclip wird von einem Schauspieler und einer Schauspielerin übernommen. Mit der Verkörperung der Cousine durch eine Schauspielerin wird die Figur vom Objekt der Begierde zum Subjekt, das im Musikvideoclip handeln darf. Im Vergleich zu den

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beiden vorherigen Clips besteht zwischen der männlichen und der weiblichen Figur kein Machtgefälle, sie werden egalitär dargestellt. In allen anderen Clips kommen Männer als Teil von Musik-Kollektiven vor, ohne dass das soziale Geschlecht von Bedeutung wäre. Bei „Alaba, how do you do?“ sind sie Hauptgegenstand persiflierender Comedy, bei „Ca Ca Caravan“ unbedeutende Statisten.  Figureninszenierung als feminine Typisierung – Uneinheitliche weibliche Typen In den ausgewählten Beispielen trägt das biologische Geschlecht der analysierten Figur zu ihrer Inszenierung bei. Heteronormative Geschlechtskonstruktionen bestimmen den mehrheitlichen Teil der österreichischen Musiklandschaft. In bestimmten Stilfeldern existiert keine Unterscheidung zwischen biologischem Geschlecht und sozial konstruiertem Geschlecht (z.B. traditionelle Weiblichkeitsbilder im Schlager). „In diesem Sinne fungiert das biologische Geschlecht demnach nicht nur als eine Norm, sondern ist Teil einer regulierenden Praxis, die die Körper herstellt, die sie beherrscht, das heißt, deren regulierende Kraft sich als eine Art produktive Macht erweist, als Macht, die von ihr kontrollierten Körper zu produzieren [...] Anders gesagt, das biologische Ge14

schlecht ist ein ideales Konstrukt“.

Die Auswertung verortet im Stilfeld „Schlager/volkstümliche Musik“ eine ausschließliche Thematisierung von Geschlechterrollen und Sexualität. Die Sprache vermittelt geschlechtliche Binarität. Im Beispiel der Band Seer (SVM) trauert die Protagonistin dem ehemaligen Partner nach, der am Tag ihres Anrufs eine andere Frau heiratet. Die Erzählerin der Geschichte wird durch eine junge, attraktiv inszenierte Frau ergänzt, die als Protagonistin in der Diegese agiert. Die weibliche Trauer wird in doppelter Darstellung inszeniert. Der gesungene Sprechakt, der durch die lebenserfahrene Erzählerin erfolgt, verklärt das Leid des verlassenen weiblichen Körpers, das durch die junge Schauspielerin verbildlicht wird. Der junge Schürzenjäger Andreas Gabalier besingt ein „Engerl“, das er in einer kurzen Begegnung kennengelernt hat. Hierbei ist die sprachliche Konstruktion von Geschlecht besonders zu beachten, da sie zur Machtkonstruktion beiträgt. Diskursive sprachliche Macht gilt nach Butler als das ‘fundamentale Konstruk-

14 Butler 1997, S.21.

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tionsprinzip von Wirklichkeit“15. Dieses Stilfeld vermittelt durch Wiederholungen von Sprechakten, also Zitaten, die Handlungsspielräumen schaffen, eine Widerspiegelung von kritisch nutzbarem Potential. Sprachliche Performativität wird eine sich „ständig wiederholende und zitierende Praxis“16. Sprache erschafft also eine soziale Wirklichkeit. Das Stilfeld „Rock/Pop Musik“ ist hingegen ein Beispiel für geschlechtliche Identitäten, die die binäre Norm überschreiten. Die Kulturwissenschaftlerin Doris Bachmann-Medick spricht den performativen Leitbegriff im Zwischenraum zwischen Literatur- und Theaterwissenschaft an, die Transgression. „Mit ihr wird die Praxis der Überschreitung, der Entgrenzung, Karnevalisierung und Durchbrechung von Codes bezeichnet.“17 Das Geschlecht als biologische Kategorie wird in Frage gestellt, der Körper rückt ins Zentrum des Forschungsinteresses. Der Begriff Transgression, der das bewusste Überschreiten von Geschlechterrollen aus dem traditionellen Kontext beschreibt, lässt sich auf Teile der aktuellen österreichischen Musikszene anwenden. Geschlechtliche Binarität ist zwar in aktuellen Werken ein gängiges Sujet, wird jedoch mit nicht normativen Themen gemischt, was wiederum Tabubrüche erzeugt. „Rock/Pop Musik“ spielt mit Kontinuitäten aber auch Brüchen, und setzt Thematiken in neue Kontexte. Dies geschieht durch den Einsatz von Sprache. „Das Sprechen wird [...] durch den gesellschaftlichen Kontext nicht nur definiert, sondern zeichnet sich auch durch die Fähigkeit aus, mit diesem Kontext zu brechen.“18 Der Akt der Performativität kommt zum Einsatz. „Die Performativität besitzt eine eigene gesellschaftliche Zeitlichkeit, indem sie gerade durch jene Kontexte weiter ermöglicht wird, mit denen sie bricht“.19 Das Duo Fijuka (RPM) agiert im Musikvideoclip zu „Ca Ca Caravan“ als Weltraumagentinnen. Die Sängerinnen arbeiten mit Künstlernamen, schaffen jedoch im Musikvideoclip zwei Filmfiguren. Caty Cosmos und Judy Jupiter können nicht als Sängerinnen des Duos Fijuka identifiziert werden, einzig der Name „Fijuka Space Patrol“ lässt einen diegetischen Bezug zur Band zu. Fijuka arbeitet mit Elementen, die geschlechtliche Zuordnungen überschreiten oder verstören sollen (überzeichnetes Make-up, pompöse Perücken, Kostüme, die an die Weltraumnostalgie erinnern, kämpferisch-aktive weibliche Rollen) und einen spielerisch-experimentellen Umgang mit Identität zeigen.

15 Bublitz 2010, S.8. 16 Butler 1997, S.22. 17 Bachmann-Medick 2009, S. 126. 18 Butler 2006, S.69. 19 Ebenda.

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Judith Butler spricht nicht nur von einer Form der Selbst-Stilisierung, vielmehr schließt dies einen performativen, einen inszenierten Akt ein. „[…] einen Akt, der sowohl intentional als auch performativ ist, wobei der Begriff performativ auf eine inszenierte, kontingente Konstruktion der Bedeutung verweist“.20 Die Macht der Sprache darf nicht nur in ihrer deskriptiven Funktion gesehen werden, sie findet ihren Ansatz in der Wirkungsweise, die ihr situationsbezogen zuteil wird. „Während theatralische oder phänomenologische Modelle das geschlechtlich bestimmte Selbst als seinen Akten vorhergehend betrachten, werde ich Konstitutionsakte nicht nur so verstehen, dass sie die Identität des Akteurs konstituieren, sondern so, dass sie diese Identität als zwingende Illusion konstituieren, als einen Gegenstand des Glaubens“.21

Die Sprachphilosophin Judith Butler argumentiert auf der Ebene der Phänomenologie und demonstriert, dass Geschlechteridentität als performative Leistung, erzwungen durch gesellschaftliche Interventionen und Tabus, gedacht werden muss. Fatima Spar (JIM) wird in der Performance von „Trust“ verbal zur „ÜberProphetin“ mit einem Heilsangebot an die patriarchalen Religionen Christentum und Islam. Die blasphemische Aussage findet nicht im öffentlichen Raum statt. Sie wird durch Unverständlichkeit (Fatima Spar singt in ein Megaphon), anonyme Örtlichkeit (die Session findet in einem Hinterzimmer statt) und groovige Tangoklänge gleichsam versteckt. In den anderen untersuchten Clips kommen Frauen als Teil von MusikKollektiven vor, ohne dass ihre Geschlechtlichkeit in der individuellen Inszenierung von Bedeutung wäre. Bei „wegda!“ ist eine Politikerin Hauptgegenstand von Gesellschaftskritik. In den drei „Lover“-Songs fungieren sie als Liebesobjekte bzw. bei Nazar/Falco zusätzlich als Tänzerinnen und gleichermaßen als Projektionsflächen für männliches Begehren. Electric Indigo stellt die geschlechtliche Inszenierung bei ihren DJ Auftritten bewusst in den Hintergrund und stattdessen die von ihr erzeugte Musik in den Vordergrund. In den untersuchten Beispielen der Stilfelder „Klassik/zeitgenössische Musik“, „Jazz/improvisierte Musik“ und „Volksmusik/Folk & World“ und ist geschlechtliche Inszenierung kein relevanter Bestandteil der Figuren-Konstitution. Die sexuelle Identität verliert gegenüber dem Auftreten im Kollektiv an Bedeutung. Sofern vorhanden dominieren männliche oder weibliche Bandleader oder Dirigent/innen die Performance. Charakteristika der geschlechtlichen Inszenie-

20 Butler 1991, S. 200. 21 Butler in Wirth 2002, S. 302.

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rungen treten in den untersuchen Beispielen zu Gunsten der kollektiven Performance in den Hintergrund. Frauen und Männer treten darüber hinaus auch als Träger (Gander, Fatima Spar, 5/8erl in Ehr’n) oder Zielscheibe von Gesellschaftskritik und Karikatur in Erscheinung. In den Musikstücken der Stilfelder „Dance/HipHop/Elektronik“, „Rock/Pop Musik“ und „Schlager/volkstümliche Musik“ werden die Figuren deutlich mit geschlechtlichen Attributen ausgestattet. Diese bewegen sich im Falle der Männer zwischen der Imagination des erfolgreichen hedonistischen „Lovers“, der den Frauen die gleichen Interessen unterstellt (Nazar, Gabalier), und einem vorsichtig spielerischen Umgang mit Tabus im Zusammenhang mit der Auslotung gesellschaftlicher Grenzen (Wanda). Im Falle der Frauen bewegt sich die Spannbreite zwischen starker emotionaler Abhängigkeit von einem männlichen Liebesobjekt (Seer) und experimentierfreudiger Selbstinszenierung jenseits von derartigen Abhängigkeiten (Fijuka, Electric Indigo). Binäre Geschlechterverhältnisse werden demnach in den Musikstücken der Stichprobe nicht nur bestätigt, sondern teilweise aufgebrochen. 5.2.3 Kulturtheoretische Aspekte: Soziale Ungleichheit und Formen der Hybridität Um zu einer kulturtheoretisch ausgerichteten Interpretation der qualitativ gewonnenen Analyseergebnisse zu gelangen ist es notwendig, sich die grundlegenden Merkmale des „Raumes der Kulturmuster“, basierend auf der Theorie sozialer Ungleichheit des Pierre Bourdieu, nochmals zu veranschaulichen:

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Grafik 7: Kulturmuster (basierend auf Bourdieu 1994)

Elitäres Kulturmuster

Mittleres Kulturmuster

Populäres Kulturmuster

Abstraktion vom Leben: Stilisierung

Stilisierung & Vollzug

Darstellung des Lebens: Vollzug

Primat der Form

Form & Funktion

Primat der Funktion

Neuheit der Regeln

Neuheit & Vertrautheit

Vertrautheit der Regeln

„über sein Schicksal verfügen“

„sich nicht in sein Schicksal fügen“

„sich in sein Schicksal fügen“

Andachtsritual

Andacht & Animation

Animationsritual

Bourdieu unterscheidet zwischen legitimem, mittlerem und populärem Geschmack und kommt – auf der Basis von umfangreichem empirischen Material, bezogen auf die französische Gesellschaft der 1960er und 1970er Jahre – zu einer berühmt gewordenen Grafik der Zuordnung des „Raums der sozialen Positionen“ zu einem „Raum der Lebensstile“22. Urteile über Elemente von Lebensstilen – also auch über künstlerische Ausdrucksformen 23 – seien von der gesellschaftlichen Position der urteilenden Person abhängig, spiegeln demnach letztlich die gesellschaftliche Verteilung von Lebensbedingungen wider. Die beiden weit auseinanderliegenden Pole, das „Oben“ und „Unten“ seines sozialen Raumes, sieht Bourdieu idealtypisch durch folgende Merkmale charakterisiert: Der legitime Geschmack (das „elitäre Kulturmuster“) erfreut sich durch Abstraktionen vom Leben, durch Stilisierung: die Art der Darstellung ist wichtiger als das Dargestellte, die Form wichtiger als die Funktion. Neuheit bzw. Kühnheit

22 Bourdieu 1994, 212f. 23 Jedes Mitglied der Gesellschaft weiß „praktisch Bescheid“ über das „System“ der Automarken, Kleidungs- und Tischsitten, Wohnungen, Bilder und Musikstile etc.

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im Umgang mit Gestaltungsregeln gelten als Qualitätsmerkmal und reflektieren eine Grundhaltung, einen Habitus, der im Bewusstsein „über sein Schicksal verfügen zu können“ zum Ausdruck kommt. Der populäre Geschmack (das „populäre Kulturmuster“) beurteilt demgegenüber nach gegenteiligen Gesichtspunkten. Wichtig ist die Darstellung des konkreten Lebens, die Möglichkeit des Mitvollzugs: das Dargestellte ist wichtiger als die Art der Darstellung, die Funktion wichtiger als die Form. Vertrautheit mit den Gestaltungsregeln, unmittelbare Verständlichkeit, Erfüllung von Erwartungen gelten als Qualitätsmerkmale und reflektieren eine Grundhaltung, einen Habitus, der im Bewusstsein „sich in sein Schicksal fügen zu müssen“ zum Ausdruck kommt. Der mittlere Geschmack (das „mittlere Kulturmuster“) fügt in seinen Beurteilungskriterien beide genannte Qualitätsmaßstäbe zusammen und achtet auf eine entsprechende Mischung beider Prinzipien. Dies reflektiert eine Grundhaltung, einen Habitus, der dem Projekt des sozialen Aufstiegs verpflichtet ist und im Bewusstsein „sich nicht in sein Schicksal fügen zu wollen“ zum Ausdruck kommt.24 Die seither vorgetragene Kritik am Bourdieu’schen kultursoziologischen Ansatz richtete sich vor allem auf den Aspekt des Determinismus. Das Individuum und sein Habitus würden durch die jeweiligen Lebensbedingungen vorfixiert erscheinen, dem Moment der gesellschaftlichen Durchlässigkeit werde zu wenig Aufmerksamkeit zuteil. Aus diesem Grund verzichtet das Stilfeldermodell des ‚Systems der Musik‘ auf eine Zuordnung zu einem „Raum der sozialen Positionen“ und beschränkt sich auf gesellschaftlich existente Urteile bezüglich des Status von Stilfeldern. Darüber hinaus finden sich bei Bourdieu keinerlei Anhaltspunkte für die Verteilung von Aufführungsritualen von Musik. Daher wurde das Andachtsritual, die Bereitschaft zur Stille und ungeteilten Aufmerksamkeit einem Kunstwerk gegenüber dem „elitären Kulturmuster“ und das Animationsritual, die Bereitschaft zum kollektiven körperlichen Mitvollzug eines Musikprogramms, dem „populären Kulturmuster“ ergänzend zugeordnet. Wie nehmen sich nun die Ergebnisse der Performance-Analyse unserer Stichprobe im Lichte dieser kultursoziologischen Theorie aus? Das Schema der Figurenanalyse nach Jens Eder (die „Uhr der Figur“) verweist jedenfalls auf gesellschaftliche Verhältnisse, die von der Filmkunst bzw. hier von Musikfilmsequenzen reflektiert werden:

24 Bourdieu 1994, 36ff.

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Die FIGUR als SYMBOL und SYMPTOM  Der Erfolg des Schlager/Pop Crossovers (im Material repräsentiert durch Gabalier und Seer) verweist auf weit verbreitete populärkonservative Identifikationsmuster (Aspekte der Liebe, konkrete Darstellungen des Lebens, Abwesenheit von Gesellschaftskritik).  Die „mittleren“ Genres (Rock/Pop, Dance/HipHop, Volksmusik/World Music) zeigen eine Vielzahl von unterschiedlichen Positionierungen sowohl hinsichtlich Gender als auch Gesellschaftswahrnehmung (Lover, Inzest, Agentin, feminist DJ; Aktualisierung von Volkstraditionen, komödiantische Dekonstruktion) und verweisen auf pluralistische Identifikationsmuster.  Die zeitgenössische Klassik und auch der Jazz (im Material repräsentiert durch Gander, BaltolomeyBittmannn, Muthspiel, Spar) zeigen sowohl elitäre Muster als auch Durchlässigkeit (Kunstanspruch, Offenheit, Ausdruck von Gesellschaftskritik) und verweisen auf ein Festhalten am Ideal der autonomen Kunst in höheren Bildungsschichten. Daran anknüpfend lassen sich folgende Thesen formulieren: 1. Das Modell „elitäres – gemischtes – populäres Kulturmuster“ bildet sich auch im Material von 2010-2015 ab. 2. Es gibt viele Anzeichen für retrospektive Tendenzen. 3. Es gibt viele Anzeichen von höherer Durchlässigkeit. 4. Das ‚System der Musik‘ zeigt insgesamt eine verstärkte ‚Tendenz zur Mitte‘. Der Raum der Kulturmuster ist demnach nicht länger als Gegensatzpaar – im Sinne eines entweder elitär oder populär – zu denken, sondern als KONTINUUM, in dem sich Künstler/innen und deren Werke bzw. deren öffentliche Performances temporär – d.h. im Einzelfall auch durchaus unterschiedlich – positionieren und verorten. Die beiden Schlager-Beispiele etwa zeigen Darstellungen des konkreten (Liebes-)Lebens: eine Trennungs- und eine Anbahnungssituation. Sowohl die musikalische Gestaltung als auch die filmische Erzählweise bedienen sich konventioneller Schemata. Live-Konzertmitschnitte zeigen große Publikumsmassen in intensivem körperlichen Mitvollzug (stehen, mitsingen, -klatschen, ...), vorzugsweise in alpinem Outfit (Dirndl, Lederhose als retrospektives jugendkulturelles Element). Inwiefern wird hier das „populäre Kulturmuster“ zu 100% er-

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füllt bzw. gibt es auch Elemente in Richtung Durchlässigkeit oder ‚Tendenz zur Mitte‘? Für das andere Ende des Globus der Musik stehen die beiden Beispiele der zeitgenössischen Klassik. Beide stellen die Interpretation eines Werkes in den Mittelpunkt. Das Vokalwerk stilisiert Aussagen einer österreichischen Politikerin zur Asylpolitik in kritischer Absicht, das Instrumentalduo zeigt seine virtuose Beherrschung der Musikinstrumente. Die Stilistik ist in beiden Fällen darauf angelegt, im Rahmen postserieller Gestaltungsmittel Neues einzubringen. Das stillsitzend zuhörende Publikum ist auf die Form der Darstellung, die Qualität der Interpretation konzentriert und wird im Film nicht gezeigt. Gibt es auch hier im Rahmen des „elitären Kulturmusters“ Anzeichen für Durchlässigkeit und ‚Tendenz zur Mitte‘? Um das „Kontinuum“ noch deutlicher beobachten zu können soll abschließend hier nochmals auf die eingangs angekündigte Fragestellung „Zeigen sich im Material, in der Performance der beobachteten Figuren, eventuell auch neue Formen von Hybridität und kultureller Gestaltung?“ eingegangen werden. Bringt man die sechs „Crossover“-Beispiele der Stichprobe in eine vergleichende Matrix, erhält man folgende Ergebnisse:

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Grafik 8: Vergleichende Stilfelder-Analyse: Hybridität

Die hier abgebildeten Crossover-Tendenzen wirken insgesamt sehr uneinheitlich und verlangen nach einem detaillierten Kommentar. Auffällig ist, dass es in allen Stilfeldern Bezugnahmen auf Elemente der Rock- und Popmusik zu geben scheint. Betrachten wir zunächst wieder die Extrempositionen „Schlager“ und „Klassik“ und dann die mittleren Stilfelder „Rock/Pop“, „Dance“, „World“ und „Jazz“. Schlager (SVM): Der Hit „I sing a Liad für di“ von und mit Andreas Gabalier zeigt sowohl musikalisch als auch bezüglich der Schauplätze des Videoclips hybride Tendenzen des Stilfeldes. Traditionelle volksmusikalische Formen (Polka, Gstanzl) werden über die im Schlager üblichen Latin-Elemente hinaus mit Rock-, Pop- und Funkmustern „modernisiert“. Der Clip spielt in einem städtischen Ambiente (mit Akkordeon und Lederhose in der U-Bahn), die Lyrics enthalten neben christlich-traditionellen Bildern („Engerl“, „Teuferl“, „Himmelstür“) auch szenesprachliche Ausdrucksweisen („I steh auf di“). Damit wird einmal mehr ein kommerziell erfolgreiches Schlager/Pop Crossover konstituiert. Auch „Heut heirat die Liebe meines Lebens“ von der Gruppe Seer zeigt musikalisch eine Schlager/Pop-Mischung, der Clip bleibt aber dem alpinen Landschafts-Ambiente treu. In beiden Liedern werden traditionelle Geschlechtskonstruktionen erneut etabliert: der Mann als Eroberer niedlicher weiblicher Fabelwesen (Potenzfähigkeit) und die Frau, deren emotionale Bindung an einen Mann

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selbst dann nicht endet, wenn er sich offiziell an eine andere Partnerin bindet (Leidensfähigkeit). Klassik (KZM): Der Musikclip „Centipede“ von BartolomeyBittmann, einem String-Duo mit Violoncello und Violine/Mandola, verbindet filmästhetisch und musikalisch Elemente von Neuer Musik, Jazz und Rock. Gedreht wurde in einer leeren Fabrikhalle ohne Publikum, die Kamera legt ihre Aufmerksamkeit auf die Virtuosität der beiden Musiker. Diese entfachen ein musikalisches Feuerwerk aus repetitiven, motorischen und linearen Strukturen, in denen komponierte und improvisierte Passagen miteinander verschmelzen. Der Rock-ähnliche körperliche Gestus der Performance soll offenbar bewusst Assoziationen an den „progressive rock“ der 1970er Jahre hervorrufen: „Centipede“ („Hundertfüßer“) war ein Mammutprojekt des britischen Fusion Musikers Keith Tippett in den frühen 1970er Jahren mit Musiker/innen u.a. von King Crimson und Soft Machine. Demgegenüber wird die Komposition von Bernhard Gander („wegda!“), die auf einer 40 Seiten umfassenden Partitur minutiös fixiert ist, den Konventionen der Neuen Musik entsprechend mit Dirigent und deklamierender oder experimentell singender Sopranistin präsentiert. Die bissige Gesellschaftskritik des vertonten Textes erhält durch den Uraufführungsrahmen „Bregenzer Festspiele“ gesellschaftlich anerkannte Legitimität („Freiheit der Kunst“). Nach diesen beiden antagonistischen Stilfeldern, an denen sich sowohl bewahrende, retrospektive Positionen als auch Crossover-Tendenzen in Richtung „Mitte“ beobachten lassen, soll nun diese „Mitte“ selbst in entsprechender Differenziertheit betrachtet werden: Rock/Pop (RPM): Der Clip von Fijuka, der als Kurzfilm mit Vor- und Nachspann gestaltet ist, dokumentiert ein Interesse des Stilfeldes an der Medienwelt als solcher. Nicht nur werden Gestaltungselemente der Filmkunst angewandt, sondern auch ein Genre der Filmindustrie – die Welt der Science-Fiction Serien der 1960er und 1970er Jahre und deren intergalaktische Inszenierungen (Raumschiffe und deren Besatzung, Fabelwesen auf fremden Planeten, kriegerische Auseinandersetzungen etc.) – zitiert und persifliert. Sowohl die Szene des Vorspanns (Kampf mit einer fremden Kreatur) als auch die Kommandozentrale des Raumschiffs werden von den beiden Heldinnen dominiert. Dabei werden die Figuren durch den Einsatz von queeren Elementen (verstörendes Make-up, pompöse Perücken, Spielzeugpistolen, parodistische Kleidungs- und Verhaltenselemente) überzeichnet. Auch die Band Wanda konstituiert in ihrem Clip eine Haltung der spielerischen Reflexion von gesellschaftlicher Umgebung, des stets neu zu hinterfragenden Umgangs mit geschlechtlicher Normalität.

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Dance (DHE): HipHop – hier repräsentiert durch den österreichischen Rapper mit Migrationshintergrund Nazar – hat sich längst international in der Sphäre des Pop etabliert. Die Grenzüberschreitung erfolgt hier durch eine spezielle, auch visuelle Elemente umfassende Remix-Technik. Popstar Falco, der als Schöpfer einer dezidiert österreichischen Variante des Sprechgesangs in den Tagen der „Old School“ Anfang der 1980er Jahre gilt, wird durch einen seiner Songs, durch Einblendungen von alten Filmen und durch Outfits von Frauengestalten zum künstlichen Duett wiederbelebt. HipHop = Pop wird dadurch erneut zu einem wesentlichen Referenzrahmen erklärt. Der Neukonstituierung der damit verbundenen patriarchalen Geschlechterkonstruktion (auf der Basis eines egalitär angenommenen Hedonismus) steht das zweite Beispiel (DJ Electric Indigo) entgegen, das die Positionierung einer Künstlerin in einer internationalen Elektronik-Festival-Szene zeigt und eine feministisch-aufstiegsorientierte Haltung repräsentiert: Kunst und Tanz schließen sich nicht aus, sondern können seriös miteinander verbunden werden. World (VWM): Auch in diesem Stilfeld ist eine Distanzierung und Neubewertung gesellschaftlicher Muster und Realitäten im Sinne einer Aufstiegsstrategie zu erkennen. 5/8er in Ehr’n zeigen Beobachtungen der österreichischen Gesellschaft anhand von Typen und persiflieren damit deren Einstellungen: Alltagsrassismus und –sexismus, Scheinkatholizismus, Größenwahn, etc. Ihr Musikmix verbindet Wienerlied, Jazz, Ska, HipHop und Pop. Ebenfalls über die Grenzen einer traditionellen Volksmusikformation hinausgehend beanspruchen Alma für ihre Bearbeitungen und Kompositionen künstlerische Relevanz. Jazz (JIM): Während „Tears of Laughter“ des Christian Muthspiel 4 feat. Steve Swallow die Liebe des Jazz zur Klassik, zur improvisatorischen Be- und Verarbeitung klassischer Kompositionen – im vorliegenden Fall von John Dowland (1563-1626) – veranschaulicht und auf diese Weise das nach wie vor existente Aufwärtsstreben des Genres dokumentiert, zeigt „Trust“ von Fatima Spar & The Freedom Fries eine Fülle von Crossover-Aspekten in völlig andere Richtungen: Der Clip wurde in einem Hinterzimmer eines Theaters in Istanbul gedreht. Man sieht die Sängerin, wie sie, begleitet von 7 Musikern (3 Bläser, Akkordeon, Kontrabass und 2 Gitarren als Percussion) in ein Megaphon singt, sodass der Text weitgehend unverständlich bleibt. Der Song handelt von den Religionen Christentum und Islam und deren Widersprüchlichkeiten und wird musikalisch als munterer Tango inszeniert. Die türkischstämmige Künstlerin aus Vorarlberg bietet sich den hilfesuchenden patriarchalen Weltreligionen selbst als Lösung an:

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I would not like to be jesus nor the other great prophet himself I do not trust in jesus nor the man whose name i do not dare to pronounce … I woo you come trust in me rely on me in your depths of despair i’ll be there …

Hier wird nicht nur Rollenumkehr inszeniert, sondern gleichzeitig die aufmüpfige Botschaft im Hinterzimmer versteckt. Das Megaphon vergrößert einerseits die Aussage, trägt aber gleichzeitig – durch die Textunverständlichkeit – auch zum Versteckspiel bei. Bezüglich „Trust“ scheint es angebracht, den Begriff „Hybridität“ nicht nur im Sinne eines Crossover von Jazz, Popsong und World Music zu verwenden, sondern im Sinne der postkolonialen Theorie von Homi K. Bhabha. Fatima Spar eröffnet in diesem Song insofern einen „third space“ als es um das Verhandeln von Positionen in der Auseinandersetzung mit Machtstrukturen geht. Geschützt durch die Maxime der „Freiheit der Kunst“ und die Trennung von Staat und Religion in Österreich darf auch radikale Religionskritik ungestraft geäußert werden. Der „Prophet“ aber wird vorsichtshalber namentlich nicht genannt. Third Space Als „Third Space“ soll hier im Sinne von Homi K. Bhabha die Eröffnung einer widerständigen Zwischenposition im Umgang mit hierarchischen Machtverhältnissen verstanden werden. Im von Bhabha dargelegten Referenzbeispiel aus dem 19. Jahrhundert25 verweisen Vertreter der indischen Bevölkerung gegenüber Vertretern der britischen Kolonialmacht darauf, dass sie keine Lehren von Menschen annehmen können, die (heilige) Kühe verzehren. Insofern bringen sie ihre eigenen Werte und Normen ins Spiel und schaffen dadurch einen Diskursraum, der die rigide Durchsetzung von Herrschaftsinteressen in Frage stellt und eine eigene Position ins Spiel bringt.

25 Bhabha 2011, 151ff.

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Die von uns analysierten Musikbeispiele zeigen alle in spezifischer Art und Weise, dass künstlerische Ausdrucksformen generell Funktionen eines solchen „Third Space“ annehmen können. Auch in Musikfilmen werden auf einer symbolischen Ebene etablierte Werte und Normen der Gesellschaft in Frage gestellt und Gegenkonzepte präsentiert. Die zwölf Beispiele der Stichprobe zeigen folgende Ausprägungen: Grafik 9: Vergleichende Stilfelder-Analyse: Musik als „Third Space“

Die oberen drei Felder zeigen Funktionen künstlerischer Ausdruckformen wie „legitime“ oder „autonome“ oder auch „parodistische“ Gesellschaftskritik, die Bezugnahme auf Kunst als „sich wandelndes selbstreferenzielles System“ und eine „ökologische Haltung“. Die unteren drei Felder zeigen Funktionen künstlerischer Ausdruckformen wie „machistischer“ oder „konservativer“ Hedonismus bzw. die Funktion ein Raum zu sein, der als „autonom-egalitäre Gegenkultur“, als „Ausdruck kultureller Tabuzonen“, als „De-Konstruktion massenmedialer Narrative“ oder als „Projektionsfläche des Liebeslebens“ dienen kann. Auch hier kann – bei aller Vorsicht – ein Kontinuum zwischen einer Polarität von eher „kopforientierten“ und eher „bauchorientierten“ Funktionen erkannt werden. Im ersten Fall werden eher intellektuelle, geistige Räume eröffnet, Musik dient als Feld von Gesellschaftskritik; im zweiten Fall werden eher emotionelle, körperliche Räume eröffnet, Musik dient als Vollzug hedonistischer Gegenwelten. Zwischen diesen beiden Polen ordnen sich die einzelnen Beispiele

5 Ergebnisse der vergleichenden Stilfelder-Analyse | 309

an. Gesellschaftskritische Positionen finden sich auch in den Stilfeldern „Dance, HipHop & Elektronik“ und „Rock- und Popmusik“, hedonistische Konzepte auch im „Jazz“ und in „Volks- & Weltmusik“. Auch im „Schlager“ ist als „Third Space“ eine klare gesellschaftliche Positionierung im Sinne des Rechts auf körperliche Bedürfnisse (emotionaler Ausdruck, sexuelles Begehren, ...) auszumachen, auch in der „zeitgenössischen Musik“ eine körperliche Komponente der artifiziell-virtuosen Bühnenperformance. Daher ist nach allen unseren Analysen auch hier das „Kontinuum zwischen zwei Polen“ das deutlich adäquatere Modell als die Konstruktion eines neuerlichen Zwei-Klassen-Systems der Musik. Diese Beobachtungen korrespondieren auch mit der These vom Kontinuum, das bezüglich der Aufführungsrituale festgestellt wurde: zwischen den Polen „Andachtsritual“ und „Animationsritual“ gibt es viele Übergänge im Sinne von Mischformen: im Jazzclub ist das Essen und Trinken gestattet, die Clubkultur versteht sich auch als Präsentation der Leistung bestimmter DJs, Tanzmusik wird im World Music Konzert einem andächtig lauschenden Publikum präsentiert, im Schlager Open-Air gibt es nicht nur animative sondern auch still-ergreifende Momente etc. Interessant ist, dass offenbar das Feld der Rock- und Popmusik in besonderer Weise in andere Stilfelder streut. Das Crossover-Beispiel jedes Stilfelds enthält Elemente von Rockmusik (BartolomeyBitmann, Fatima Spar, 5 Achterl in Ehr’n, Nazar und Andreas Gabalier). Da sich kulturelle Diversität in „feinen Unterschieden“ manifestiert, sollen auch noch andere Verwandtschaften zwischen einzelnen Stücken der Stichprobe genannt werden:  KZM / JIM (Kunst als selbstreferenzielles System): Die Strategie der Etablierung des Jazz als Kunstform verläuft u. a. auch über eine Neuinterpretation anerkannter Werke der „abendländischen Musikgeschichte“ (John Dowland), die Strategie der Popularisierung zeitgenössischer Neuer Musik über ein Anknüpfen an Ereignissen der Jazzgeschichte (Centipede).  VWM / RPM (kabarettistische Dekonstruktion): Der „Hofnarr“, der Wahrheiten ansprechen darf, die den Herrschenden einen Spiegel vorhalten, findet seine Fortsetzung im komödiantischen Kabarett, das sich in Österreich über große Beliebtheit erfreut. In Stücken beider Stilfelder (5 Achterl in Ehr’n, Fijuka) finden sich humoristische Dekonstruktionen sozialer Verhältnisse und Medienwelten.  DHM / SVM (hegemoniale Männlichkeit): Sowohl im HipHop (Nazar) als auch im „Volks-Rock’n’Roll“ (Gabalier) wird eine androzentrische

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Sichtweise inszeniert. Frauen treten als entpersonalisierte (Lust-)Objekte auf.  JIM / SVM (Darstellung von Emotionen): In der barocken Vorlage der Jazzimprovisation (Muthspiel) geht es um Typen von Emotionen („Seven Tears“), im Schlager werden unterschiedliche emotionale Situationen konkret dargestellt. Wir sind uns bewusst, dass eventuell weitere Verwandtschaften in unserem Material identifiziert werden können und regen an, eigene Ergänzungen vorzunehmen. Bevor im Schlusskapitel („Conclusio“) die theoretischen Schlüsse aus den Untersuchungsergebnissen zusammengefasst und diskutiert werden, wollen wir nun noch ein Experiment im Sinne eines spielerischen Umgangs mit Aufführungsritualen vorstellen.

6

Das Konzertexperiment „Clash Concerty“

Im Rahmen der Präsentation der ersten Ergebnisse der Studie (2016) fand eine spielerische Form des Umgangs mit Aufführungsritualen („Live-Mix-Event“) statt: Clash Concerty. Musikgenres verkehrt herum gebürstet: E-Schlager, UKlassik, Impro-Pop. ANKÜNDIGUNG Am Freitag, den 29. April, findet um 18 Uhr die Präsentation des Forschungsprojekts „Performing Diversity“ mit Beispielen aktueller Musik aus Österreich (Wanda, Fijuka, DJ Electric Indigo, Nazar, Andreas Gabalier, Die Seer, Christian Muthspiel, Fatima Spar, Alma, 5/8erl in Ehr’n, Bernhard Gander, BartolomeyBittmann) im Fanny Hensel Saal statt. Anschließend Live: „Clash Concerty“ mit vertauschten Aufführungsritualen:  Liederzyklus „Aspekte der Liebe“ mit Schlagern von Nockalm Quintett, A. Gabalier und Seer im klassischen Aufführungsritual (für SängerInnen und Klaviertrio)  Zeitgenössisches Werk „wegda!“ für Sopran und Ensemble von Bernhard Gander (UA: Bregenzer Festspiele 2011) im Impro-Showformat (Electric Rockjazz)  Kammeroper „Windmills“ von Maria Gstättner (Voraufführung für die Premiere beim Festival „Styriarte“): Neue Musik/Jazz/Pop Mitwirkende: Elisabeth Jahrmann, Alice Waginger, Michael Weiland, Sebastian Riedl, Angelika Moskal, Patricia Simpson, Harald Huber, Burkhard Stangl, Gre-

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gor Aufmesser, Michael Blassnik, Maria Gstättner, Pepe Auer, Margit Schoberleitner, Teresa Rotschopf, Willi Landl, Martina Engel und Peter Herbert Konzept und Gesamtleitung: Magdalena Fürnkranz und Harald Huber (Institut für Popularmusik) PROGRAMM 17:30 Einlass 18:00 Magdalena Fürnkranz & Harald Huber: Präsentation des Forschungsprojekts Performing Diversity. Stilfeldervergleich von Aufführungsritualen und aktuelle Crossover-Tendenzen (mit Bild- und Filmbeispielen) 19:30 Pause 20:00 Clash Concerty. Musikgenres verkehrt herum gebürstet: E-Schlager, UKlassik, Impro-Pop:  Ensemble FAKTOR X: Liederzyklus Werke von Jean Frankfurter/Irma Holder, Andreas Gabalier, Alfred Jaklitsch. Elisabeth Jahrmann (Sopran), Alice Waginger (Sopran), Michael Weiland (Bariton), Harald Huber (Klavier), Sebastian Riedl (Violoncello) und Angelika Moskal (Violine)  Buttersaitn Electric Band Spaß & Party mit „wegda!“ (Bernhard Gander 2011). Patricia Simpson (Gesang), Harald Huber (E-Piano), Burkhard Stangl (E-Gitarre), Gregor Aufmesser (E-Bass) und Michael Blassnik (Drums)  Maria Gstättner: Kammeroper „WINDMILLS“ Pepe Auer (Bassklarinette), Maria Gstättner (Fagott), Margit Schoberleitner (Percussion), Willi Landl (Popsänger), Teresa Rotschopf (Popsängerin), Martina Engel (Viola) und Peter Herbert (Kontrabass) Das Verhalten des Publikums gegenüber diesem Experiment stand im Fokus des „Live-Mix-Event“. Wie wird sich das Publikum auf das Experiment einlassen? Für die Analyse und Auswertung der Performances und des Publikumsverhaltens wurde die Veranstaltung filmisch von Studierenden der Filmakademie dokumentiert.

6 Das Konzertexperiment „Clash Concerty“ | 313

6.1 ENSEMBLE FAKTOR X: LIEDERZYKLUS „ASPEKTE DER LIEBE“ Die Veranstaltung beginnt mit dem Auftritt des Ensemble FAKTOR X, das den Liederzyklus „Aspekte der Liebe“ performt. Dieser Zyklus besteht aus einem von Harald Huber getätigtem Arrangement der Songs „Sternenhimmelgefühl“ (Musik: Jean Frankfurter/Text: Irma Holder), „Heut heirat die Liebe meines Lebens“ (Musik/Text: Alfred Jaklitsch) und „I sing a Liad für di“ (Musik/Text: Andreas Gabalier) für eine klassische Kammermusik-Besetzung. Das Ensemble FAKTOR X besteht aus Elisabeth Jahrmann (Sopran), Alice Waginger (Sopran), Michael Weiland (Bariton), Harald Huber (Klavier), Sebastian Riedl (Violoncello) und Angelika Moskal (Violine). Songs aus dem Stilfeld „Schlager/volkstümliche Musik“ der Jahre 1995, 2010 und 2014 werden in das Stilfeld „Klassik/zeitgenössische Musik“ transponiert. Die Inszenierung der Musiker/innen und der Sängerinnen und Sänger entspricht den Konventionen der klassischen Musik. Die männlichen Akteure tragen schwarze Fracks, die weiblichen Akteure lange Abendkleider und auffälligen Schmuck. Die Frauen sind geschminkt, die Haare in Locken gedreht bzw. hochgesteckt. Der Publikumsraum ist bestuhlt und nicht beleuchtet. Das Publikum verhält sich still, das Ensemble betritt den Raum. Beim Auftritt klatschen die Zuschauer/innen. Die Sänger/innen halten Notenmappen in den Händen, die Musiker/innen spielen ebenfalls mit Notenbehelf. Die Zuseher/innen sitzen um runde Tische verteilt, die Sessel sind in Richtung Bühne ausgerichtet.

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Abbildung 79: Bühne und Publikumsraum beim Schlagerzyklus

Quelle: DWP

Das Klavier ist vom Publikum aus gesehen links am Bühnenrad aufgestellt. Die Geigerin Angelika Moskal sitzt rechts neben dem Klavier. Schräg hinter ihr ist das Violoncello (Sebastian Riedl) platziert. Die Sänger/innen stehen in der Mitte der Bühne. Bariton Michael Weiland steht links, Sopranistin Elisabeth Jahrmann in der Mitte, rechts von ihr Alice Waginger. Das erste Stück heißt „Sternenhimmelgefühl“ (Musik: Jean Frankfurter/Text: Irma Holder). Der Tenor Michael Weiland singt die erste Strophe begleitet von Klavier (Harald Huber), Violoncello (Sebastian Riedl) und Violine (Angelika Moskal). Gesungen wird in österreichischer Hochsprache. Du warst ein Mädchen zum Träumen, Sterne auf deinem Gesicht. Rot hing der Mond in den Bäumen ich denk’ sehr oft noch an dich. Zärtliche Schwüre von Treue. Ich war verrückt nach dir. Auf meiner Haut ein Feuer, das ich heut’ noch spür.

Der Refrain wird von Weiland gemeinsam mit den Sopranistinnen Elisabeth Jahrmann und Alice Waginger gesungen.

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Ja dieses Sternenhimmelgefühl, dass du mich willst, dass ich dich will. Eine Nacht die es nie mehr gibt, weil man so nur einmal liebt. Und unsre Herzen waren bereit, für die kleine Ewigkeit. Es war mehr als nur ein Spiel, dieses Sternenhimmelgefühl.

Abbildung 80: Die Sänger/innen auf der Bühne beim Schlagerzyklus

Quelle: DWP

Die zweite Strophe wird abwechselnd von den drei Sänger/innen gesungen. (Weiland) Wo ist das Mädchen zum Träumen und warum ließ ich dich geh’n? (Jahrmann) Wo ist der Mond in den Bäumen? Ich hab ihn nie mehr geseh’n.

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(Waginger) Irgendwann möcht ich dir sagen, so wird es nie mehr sein. (Weiland/Jahrmann/Waginger) Denn jede neue Liebe holt die Sehnsucht ein. Ja dieses Sternenhimmelgefühl, dass du mich willst, dass ich dich will. Eine Nacht die es nie mehr gibt, weil man so nur einmal liebt. Und unsre Herzen waren bereit, für die kleine Ewigkeit. Es war mehr als nur ein Spiel, dieses Sternenhimmelgefühl.

Das Stück endet mit einer instrumentalen Coda. Das Publikum applaudiert. Abbildung 81: Der Publikumsraum beim Schlagerzyklus

Quelle: DWP

Sopranistin Jahrmann lächelt, die Musiker/innen und die anderen beiden Sänger/innen blättern konzentriert in der Partitur zum nächsten Stück. „I sing a Liad

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für di“ (Musik/Text: Andreas Gabalier) beginnt mit einem musikalischen Intro. Die Sänger/innen singen den Refrain, mit dem das Stück beginnt, gemeinsam. Gesungen wird in österreichischer Dialektsprache. I sing a Liad fia di und do frogst du mi, mogst mid mia taunzn geh, i glaub i steh auf die. I sing a Liad fia die und kaun de Steandal seng, i hob mi vaknoit in die.

Die erste Strophe wird von Bariton Weiland gesungen. Akustisch wird er vom Klavier und vom gezupften Violoncello begleitet. I hob a Engal gsehn üwa die Stroßn gehn, es hod so liab glocht in ana Saumstog nocht, hod jo zu mia gsogt und i hob mi gfrogt, wos so a Engale woi mog.

Der nächste Teil der Strophe wird zusätzliche von der Violine begleitet. In de leuchtende Augn muas ma eine schaun, wei a Engal in da Nocht so fü liaba locht, bei da Haund hods mi gschnapt und i hobs ertapt, weis ka Fliagal hod des klapt

Im Refrain singen die beiden Sopranistinnen gemeinsam mit Weiland. I sing a Liad fia die und do frogst du mi, mogst mid mia taunzn geh, i glaub i steh auf die. I sing a Liad fia die und kaun de Steandal seng, i hob mi vaknoit in die.

Nach dem Refrain singt Weiland: „Das Lied geht so:“. Die beiden Sopranistinnen rezitieren zwei Textzeilen der österreichischen Bundeshymne „Heimat großer Töchter und Söhne,Volk, begnadet für das Schöne“. Das Publikum reagiert mit Raunen und leisem Lachen. Die Anspielung auf Andreas Gabaliers Auftritt beim Grand Prix von Österreich in Spielberg im Jahr 2014 wurde verstanden. Der Sänger sang statt dem neuen Text der österreichischen Bundeshymne, in

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dem „große Töchter und Söhne“ besungen werden, die ursprüngliche Variante (nur „Söhne“). Dies hatte heftige mediale Kritik an Gabalier zur Folge. Der Sänger zeigte sich nicht einsichtig, denn er habe die Bundeshymne so wiedergegeben, wie er sie zu Schulzeiten gelernt hatte.1 Auf den Refrain folgt die nächste Strophe. Sopranistin Waginger himmelt mit Blicken Weiland an. Jahrmann, die mittig steht, lächelt ins Publikum. Der Bariton reagiert nicht auf den provokanten Einschub und das daraus resultierende Lachen im Publikum. Begleitet wird Weiland vom Klavier. Noch dem 1 Hallo host mi ghopt, sowiso a Engal und a Teifal des is amol aso. Host mia a Bussal gem, hob mi nimma lenga gfrogt, wos a Engal leicht wui mog.

Die Violinistin beginnt zu spielen. Abbildung 82: Sänger/innen und Streichertrio

Quelle: DWP

1

Vgl. o.A., Die Presse. „‘Ignoranz der Bundeshymne’: Grüne Frauen rügen Gabalier.“ http://diepresse.com/home/politik/innenpolitik/3826287/Ignoranz-der-Bundeshymne_Grune-Frauen-rugen-Gabalier (Zugriff: Juni 2021)

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Haund in Haund zagt sie mia daun de Himmlstia, jez woa mia kloa das des ka Engal woa. Hett i gwusst wos passiert, wär i ned so verwirrt wenn a Engal ohne Fligal fliagt.

Der Refrain wird von allen drei Sänger/innen gemeinsam gesungen. Zusätzlich wird das Violoncello gespielt. Die Sänger/innen untermalen mimisch die gesungenen Worte. Sie bewegen den Oberkörper, verweilen jedoch stehend auf ihren Plätzen. I sing a Liad fia die, und do frogst du mi, mogst mid mia taunzn geh, i glaub i steh auf die. I sing a Liad fia die und kaun de Steandal seng, i hob mi vaknoit in die. Uhlalala so a schena Tog uhlalala weil i a Engal hob uhlalala so a schene Nocht der Himml hod mia a Engal brocht I sing a Liad fia die, und do frogst du mi, mogst mid mia taunzn geh, i glaub i steh auf die. I sing a Liad fia die und kaun de Steandal seng, i hob mi vaknoit in die

Der Refrain endet wie der vorhergehende. Weiland singt:“Das Lied geht so:“. Die beiden Sopranistinnen und der Bariton rezitieren wieder gemeinsam die zwei Textzeilen der österreichischen Bundeshymne „Heimat großer Töchter und Söhne, Volk, begnadet für das Schöne, vielgerühmtes Österreich. Vielgerühmtes Österreich.“ Die Performance wird mit tosendem Applaus und Jubel vom Publikum honoriert. Die Sänger/innen reagieren zurückhaltend. Jahrmann lächelt ins Publikum, Weiland und Waginger blättern in ihrer Notenmappe. Der dritte Teil des Zyklus wird instrumental (Klavier, Violine, Violoncello) mit dem Hochzeitsmarsch von Felix Mendelssohn Bartholdy aus der Bühnenmusik zu Ein Sommernachtstraum (op. 61) eingeleitet. Sopranistin Jahrmann formt

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die linke Hand zu einem Telefonhörer und beginnt in österreichischer Dialektsprache zu singen. I ruaf nur on, denn I wollt wissen,

Jahrmannn senkt die Hand und hält das Textbuch mit beiden Händen. wies dir noch oll der Zeit jetzt geht. Für mich woars hoart dich zu vermissen, weil mei Welt sich um dich dreht.

Während Jahrmanns Solo unterstreicht Sopranistin Waginger den gesungenen Text mit Gesten. Sie dreht den Kopf zu Weiland, geht einen Schritt zurück und sieht den Bariton bewusst an. Jemond is dron, der sogt wegen der Hochzeit, da wären jetzt olle außer Haus.

Waginger dreht den Kopf zurück zum Publikum, schließt die Augen, öffnet diese wieder und blickt in die Noten. Es wär nicht möglich mit dir zu reden und legt auf.

Der Refrain wird von Jahrmann gesungen. Waginger singt die zweite Stimme. Heut heirat die Liebe meines Lebens, in meine Tram hob I mirs oft vorgstellt. I bin noch nicht bereit dich aufzugeben, heut heiratst und für mi zerbricht a Welt. Heut heirat die Liebe meines Lebens, die letzte Hoffnung geht runter den Boch. Heut heiratst und olles woar vergebens, denn I liab dich immer noch.

Jahrmann singt die zweite Strophe. A letztes Mol würd I dich so gern sehn, an letzten Blick würd I gern riskiern.

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Waginger dreht den Kopf zu Weiland, sieht diesen während Jahrmanns Solo an. Danach schließt sie die Augen und dreht den Kopf wieder zum Publikum. Wie würds uns 2 in dem Moment gehen, dabei dich für immer zu verliern.

Der Refrain wird von Jahrmann gesungen. Waginger singt die zweite Stimme. Heut heirat die Liebe meines Lebens, in meine Tram hob I mirs oft vorgstellt. I bin noch nicht bereit dich aufzugeben, heut heiratst und für mich zerbricht a Welt. Heut heirat die Liebe meines Lebens, die letzte Hoffnung geht runter den Boch. Heut heiratst und olles woar vergebens, denn I liab dich immer noch.

Der folgende Teil wird von Jahrmann gesungen. Weiland steht starr neben den Sopranistinnen. Waginger dreht erneut den Kopf zu Weiland und streckt zusätzlich den Arm aus. Mit der Erinnerung, dass es mich irgendwo gibt. Du sollst wissen und gspiarn dass I dich immer no liab

Waginger senkt den Arm und richtet den Blick zum Publikum. Der Refrain wird erneut von Jahrmann gesungen. Waginger singt die zweite Stimme. Heut heirat die Liebe meines Lebens, in meine Tram hob I mirs oft vorgstellt. I bin noch nicht bereit dich aufzugeben, heut heiratst und für mich zerbricht a Welt. Heut heirat die Liebe meines Lebens, die letzte Hoffnung geht runter den Boch. Heut heiratst und olles woar vergebens, denn I liab dich immer noch

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Jahrmann wiederholt „immer noch“ und singt eine Koloratur. Aus dem Publikum ist Gemurmel zu hören. Jahrmann wiederholt „immer noch“. Waginger dreht erneut den Kopf Richtung Weiland und streckt zusätzlich den Arm aus. Die Interpretation endet mit dem Intro des Hochzeitsmarsch Felix Mendelssohn Bartholdy. Waginger formt die rechte Hand zu einem Telefonhörer und hält diese auf der Höhe des Ohrs. Sie senkt diese langsam. Der Blick ist zum Publikum gerichtet. Der letzte Ton klingt aus, das Publikum beginnt laut zu applaudieren. Abbildung 83: Publikum beim Schlussapplaus

Quelle: DWP

Es ist Jubel zu hören. Die Akteur/innen treten gemeinsam nach vor und verbeugen sich. Der Applaus reißt nicht ab, bei der Verbeugung wird nochmals aus dem Publikum gejubelt. Es erfolgt der Abgang. Fazit: Das Ensemble FAKTOR X entspricht in seiner optischen Inszenierung und Besetzung dem Stilfeld „Klassik/zeitgenössische Musik“ (Klaviertrio mit Tenor und Sopranistinnen). Die Menschen im verdunkelten, bestuhlten Zuschauerraum verhalten sich während der Performance generell ruhig, zeigen erst am Ende des jeweiligen Stückes Reaktionen. Dem Publikum sind zwei der drei gesungenen Texte aus der vorhergehenden Präsentation bekannt. Das erste Stück „Sternenhimmelgefühl“ ist den Zuseher/innen unbekannt. Es reagiert den Konventionen eines Konzerts des Stilfelds „Klassik/zeitgenössische Musik“ entsprechend, lauscht der Interpretation still. Der Applaus ist eher verhalten, es ist kein Jubel zu hören. Die restlichen beiden Stücke sind dem Publikum bekannt, es

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zeigt bereits während der Interpretationen Reaktion (z.B. Lachen bei der aktualisierten Version der österreichischen Bundeshymne), der jeweils darauffolgende Schlussapplaus und Jubel ist fulminant. Insgesamt adelt die Performance den Inhalt.

6.2 BUTTERSAITN ELECTRIC BAND: SPASS UND PARTY MIT „WEGDA!“ Der zweite Auftritt erfolgt mit der Buttersaitn Electric Band, deren Repertoire als Spaß & Party mit „wegda!“ (Bernhard Gander 2011) angekündigt wird. Der Publikumsraum ist auch bei dieser Performance bestuhlt. Die Zuseher/innen sitzen um runde Tische verteilt, die Sessel sind in Richtung Bühne ausgerichtet. Die Besetzung der Band ergibt sich folgendermaßen Gesang (Patricia Simpson), E-Piano (Harald Huber), E-Gitarre (Burkhard Stangl), E-Bass (Gregor Aufmesser) und Drums (Michael Blassnik). Patricia Simpsons trägt ein Kleid aus goldenen Pailetten, darunter ein schwarzes Langarmshirt, eine Kette aus bunten Perlen und goldene Schuhe mit Absätzen. Der Auftritt der Band wird mit Applaus und Jubel seitens des Publikums honoriert. Harald Huber ist mit einer schwarzen Hose, rotem T-Shirt und kariertem Kurzarmhemd bekleidet. Burkhard Stangl trägt einen schwarzen Anzug mit einem weißen gepunkteten Hemd darunter, Gregor Aufmesser Jeans mit hellem Hemd und Michael Blassnik hat einen bunten Pullover und eine dunkle Hose an. Im Publikumsraum werden Getränke und Snacks auf den Tischen verteilt. Die Zuseher/innen reagieren überrascht auf das Angebot. Während der 21minütigen Performance bedienen sich nur wenige Zuschauer/innen an den Chips, die auf jedem Tisch stehen.

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zeigt bereits während der Interpretationen Reaktion (z.B. Lachen bei der aktualisierten Version der österreichischen Bundeshymne), der jeweils darauffolgende Schlussapplaus und Jubel ist fulminant. Insgesamt adelt die Performance den Inhalt.

6.2 BUTTERSAITN ELECTRIC BAND: SPASS UND PARTY MIT „WEGDA!“ Der zweite Auftritt erfolgt mit der Buttersaitn Electric Band, deren Repertoire als Spaß & Party mit „wegda!“ (Bernhard Gander 2011) angekündigt wird. Der Publikumsraum ist auch bei dieser Performance bestuhlt. Die Zuseher/innen sitzen um runde Tische verteilt, die Sessel sind in Richtung Bühne ausgerichtet. Die Besetzung der Band ergibt sich folgendermaßen Gesang (Patricia Simpson), E-Piano (Harald Huber), E-Gitarre (Burkhard Stangl), E-Bass (Gregor Aufmesser) und Drums (Michael Blassnik). Patricia Simpsons trägt ein Kleid aus goldenen Pailetten, darunter ein schwarzes Langarmshirt, eine Kette aus bunten Perlen und goldene Schuhe mit Absätzen. Der Auftritt der Band wird mit Applaus und Jubel seitens des Publikums honoriert. Harald Huber ist mit einer schwarzen Hose, rotem T-Shirt und kariertem Kurzarmhemd bekleidet. Burkhard Stangl trägt einen schwarzen Anzug mit einem weißen gepunkteten Hemd darunter, Gregor Aufmesser Jeans mit hellem Hemd und Michael Blassnik hat einen bunten Pullover und eine dunkle Hose an. Im Publikumsraum werden Getränke und Snacks auf den Tischen verteilt. Die Zuseher/innen reagieren überrascht auf das Angebot. Während der 21minütigen Performance bedienen sich nur wenige Zuschauer/innen an den Chips, die auf jedem Tisch stehen.

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Abbildung 84: Patricia Simpson stellt sich vor

Quelle: DWP

Patricia Simpsons nimmt das Mikrofon vom Mikrofonständer und begrüßt das Publikum mit: „Einen ganz wunderschönen Guten Abend, meine Damen und Herren. Ich freue mich wahnsinnig, dass sie alle da sind und dass ich da bin. Und während ich da jetzt meine Partitur ordne, hab ich ma dacht, ich möchte mich da vielleicht a bisserl kurz vorstellen. Sie kennen mich nicht alle. Mein Name ist Sen.Lec. Patricia Simpson. Ich bin erfolgsverwöhnt eigentlich und vor allem Inhaberin sehr vieler Titel. Und das hat bei mir wirklich schon sehr früh angefangen. Und zwar eigentlich schon, wenn man es genau nimmt, war ich als Kind im Kindergarten der Star auf jeder Party. Des woar wirklich super. Und der Grund war, weshalb ich überall eingeladen war: Ich habe in einer Minute 28 Luftballons aufblasen können. Is eh kloar. I moan, es blieb nicht lange aus, war ich Miss Lungen. Das war quasi der erste Titel, den hat mir die Kindergartentante [...] die Schärpe umgehängt. Miss Lungen 1968.“ Im Publikum ist Lachen zu hören. Harald Huber (E-Piano) stellt die Sängerin vor „Unsere reizende Patricia heute in einem Kleid von Armani.“ Das Lachen hält an. Simpson: „Na, des stimmt net. Des is von Farucci.“ Das Lachen wird lauter. Simpson: „Gleich haben wird es. Gleich können wir musizieren. Ähm. Jo, und des mit die Titel is daon a scho so weidergangen. Muss i dann dazusoagn. Aba ich war dann auch in der Schule, also da bekam ich die Miss Bildung. Und zur Matura, is ma sehr wichtig, Miss Erfolg.“ Die Instrumente werden gestimmt. Die Nummer beginnt mit einem Beckenschlag des Drummers. Dies ersetzt den Gong in Ganders Komposition.

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Simpson rezitiert die ersten Zeilen der Komposition, dies entspricht den Vorgaben der Partitur. Sie wird von E-Piano, E-Gitarre, E-Bass und Drums, in reduzierter Form, begleitet. Die Suche nach einem dritten Erstaufnahmezentrum für Asylwerber führte Maria Wegda ins Burgenland und ließ sie in Eberau fündig werden.

Abbildung 85: Die Electric Band ohne Harald Huber (p)

Quelle: DWP

Simpson blickt nach hinten zum Drummer, wartet einen Schlag ab, dreht sich wieder zum Publikum und spricht weiter. Der Plan, dort ein Asylzenrum zu errichten, scheiterte am Widerstand der burgenländischen Politik und an seiner Bevölkerung.

Die Instrumente passen sich dem Tempo und der Lautstärke Simpsons an. Simpson hat das Mikrofonkabel um die Hand gewickelt. Sie hebt die Hand immer wieder während ihrer Rezitation, um das Gesagte stellenweise zu unterstreichen. In der Tat war es Wegda selbst, die darauf verwiesen hatte, dass die Asylzahlen in den ersten beiden Monaten im Vergleich zum Vorjahr um rund ein Drittel gesunken seien.

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Zur Gänze ausschließen will sie ein derartiges Flüchtlingslager nicht. Man müsse mindestens noch bis zum Sommer warten, ob der rückläufige Trend bei den Asylzahlen anhalte.

Simpsons dreht sich erneut in Richtung Drummer. Dreht sich aber wieder zum Publikum und beginnt zu singen. Der Rhythmus der Begleitmusik wird – entsprechend der gesanglichen Vorlage – schneller. In den ersten beiden Monaten des heurigen Jahres wurden 1328 tatverdächtige Asylwerber ermittelt. Im gleichen Zeitraum des Vorjahres waren es 1636 Asylwerber, die wegen einer Straftat angezeigt wurden. Wir haben einen Rückgang, die Zahlen sind rückläufig. Wir haben einen Rückgang, die Zahlen sind rückläufig. Wir haben einen Rückgang, die Zahlen sind rückläufig. Wir haben einen Rückgang, die Zahlen sind rückläufig. 28 Prozent aller ermittelten Strafverdächtigen sind Ausländer (Betonung). Jeder zweite Tatverdächtige kommt aus dem Ausland (Betonung). Touristen sind auch fremd, sind Touristen auch fremd? (hysterische Stimmlage) Asylwerber sind nur ein kleiner Teil. Touristen sind auch fremd, sind Touristen auch fremd? (gesungen mit verfremdetere Stimme) (Geh bitte) Mit einem Zentrum für Asylwerber kann man doch keine Lorbeern verdienen. Ich will Lorbeeren, ich will Lorbeeren, ich will Lorbeeren, ich will Lorbeeren, ich will Lorbeeren! (hysterische Stimmlage)

Simpson bewegt den Oberkörper rhythmisch und springt während der Wiederholung von „ich will Lorbeeren“ hysterisch auf und ab. Als dieser Textteil zu Ende ist, erfolgen „Yeah“-Rufe aus dem Publikum. Es wird kurz gejubelt und applaudiert.

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Abbildung 86: Publikumsraum mit Bierflaschen und Chips auf den Tischen

Quelle: DWP

Simpson wirft Notenblätter der Partitur hinter sich. Simpson: „Ja, vielleicht Zeit amal die Band vorzustellen. Hab ma dacht [...] Ich mach das [...] Ich hab ja ein irrsinniges Glück [...] Ich hab ein irrsinniges Fremdsprachentalent und ich brauch a Sprache nur einmal hören und dann kann ichs a schon. Und i hoab a Glück, I woa a zeitlang mit jemanden von den Philippienien liiert a bissl und da hab i des sofort gelernt. Und da hab i ma dacht, zur Überraschung stell ich die Band jetzt auf Philippinisch vor und sie werden sehen, a wenn sies net verstehen, des mocht nix. Des versteht ma trotzdem, was gemeint ist.“ Es erfolgt Simpsons Vorstellung der Band mit asiatisch klingendem Akzent und nasal erhobener Stimme: „Also meine liebe Dame und Herren, möchte herzlich meine Band vorstellen. Das sind super Bursche und ich bin wahnsinnig froh, dass ich heute mit der Band hier auf die große Tournee bin. Und ich möchte zuerst einmal vorstellen: Burkhard. Der Burkhard Stangl von die Gitarre.“ Es erfolgt Applaus und Jubel für den Gitarristen. Stangl steht auf. Simpson: „Und dann hab ich noch einen bei einer Tournee kennengelernt. Das ist ein ganz junge Musiker. Er ist noch ein bissi älter, als was er ausschaut. Und des ist der Michi Blassnik a von die Schlagzeug.“ Applaus und Jubel für den Schlagzeuger, der aufsteht. Der Applaus verhalt, Simpson spricht weiter: „Und da ham wir eine junge Mann von die Bass. Bei dem Bass sagt man ja immer, is ja wurscht, wie er spielt, hauptsache er ist

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ein fescher Bursche. Und den haben wir deshalb ausgesucht.“ Gelächter ist im Publikum zu hören. Simpson: „Und es ist mir ei große Freude, das ist der Gregor Aufmesser.“ Applaus und kurzer Jubel für den Bassisten, der aufsteht. Simpson: „Und ich freue mich so besonders mit die große Mann, der was heute alles inszeniert hat. Die große Person, ich zusammen mit der spiele, und das ist der Professor Harald Huber.“ Huber wirft einen Kussmund ins Publikum, wird bejubelt und die Zuseher/innen applaudieren. Simpson bedankt sich beim Publikum. Sie dreht sich zum Schlagzeuger, der die Drum schlägt. Der nächste Teil wird gesprochen. Die instrumentale Begleitung (E-Bass, E-Gitarre, Schlagzeug) ist reduziert und leise, Simpsons Stimme dominiert. Das EU-Parlament hatte verlangt, dass Asylwerber nach sechs Monaten Wartefrist eine Arbeitsgenehmigung erhalten sollen. Zugleich würde laut dem EU-Plan der Familiennachzug erleichtert. Flüchtlinge sollen eine Grundversorgung in Höhe der nationalen Sozialhilfe erhalten. Arbeitsmarkt und Sozialsysteme würden durch diese Pläne „überfordert“ (betont), glaubt Wegda.

Die Hand unterstreicht immer wieder betonte Wörter. Im folgenden Teil intensiviert Simpsons die Handbewegungen. Solange es keine einheitlichen Sozialstandards gibt, könne man im Asylbereich nicht harmonisieren.

Während der Rezitation des folgenden Satzes deutet Simpson mit erhobenem Zeigefinger ins Publikum. Weil wir das höchste Sozialniveau haben, wären wir schlagartig (kurzes Solo des Schlagzeugs) das attraktivste Land für Schlepper in Europa. Wie ein Staubsauger (Simpsons schwingt die Hand vor den Körper) würden wir künftig alle Asylwerber anziehen (Simpson imitiert eine Ziehbewegung).

Simpson nimmt das Notenblatt und zerknüllt es. Der folgende Teil, wird der Vorlage Ganders entsprechend, gesungen. Der Asylmissbrauch muss eingedämmt werden. Wenn die Zahl der Asylwerber niedrig bleibt, reicht die bestehende Infrastruktur. Ich bin strikt gegen die volle Eröffnung, gegen die, gegen die volle Öffnung des Arbeitsmarktes für Asylwerber.

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Es wäre unfair, wenn Asylwerber arbeiten (unterstreicht das Wort gestisch). Ich lehne es ab, dass Asylwerber volle Sozialleistung bekommen. Das wirkt wie ein Staubsauger (kurzes Bass-Solo) Wir brauchen Ausländer Wir brauchen Ausländer Ausländer, wir brauchen Ausländer, damit unser Land stabil bleibt (Simpsons Gesangstempo wird schneller, mündet in eine hysterische Tonlage)

Es folgt improvisierter Scat-Gesang, gleichzeitig instrumentale Improvisation. Simpson tanzt und springt ausgelassen. Abbildung 87: Teile der Band und Patricia Simpson bei der Performance

Quelle: DWP

330 | Aufführungsrituale der Musik

Der Asylmissbrauch muss eingedämmt werden. Wenn die Zahl der Asylwerber niedrig bleibt, reicht die bestehende Infrastruktur. Ich bin strikt gegen die volle Eröffnung, gegen die, gegen die volle Öffnung des Arbeitsmarktes für Asylwerber. Es wäre unfair, wenn Asylwerber arbeiten. Ich lehne es ab, dass Asylwerber volle Sozialleistung (hebt die Hand) bekommen. Das wirkt wie ein Staubsauger (Worte werden geschrien, Simpson bewegt den Oberkörper heftigt) Wir brauchen Ausländer Wir brauchen Ausländer Wir brauchen Ausländer, damit unser Land stabil bleibt (schreit den Satz)

Die Nummer endet und wird mit Applaus und Jubel honoriert. Simpson richtet sich Haare und Kleid. Huber fragt „Geht’s euch gut?“ Lachen und Jubel sind die Antworten aus dem Publikum. Simpson „Wir wollten euch noch ein paar Witze erzählen, aber ich freu mich schon so aufs nächste Stück“. Nach einer ca. 20sekündiger Konzentrationspause beginnen Schlagzeug und Bass das Intro des nächsten Stücks zu spielen. Simpson schwingt die Hüften zum Takt, ordnet ihre Notenblätter. Die Gitarre setzt ein. Simpson beginnt zu tanzen. Huber improvisiert am Klavier. Er stellt Augenkontakt zu Simpson her und respondiert mit den Händen auf ihre Tanzbewegung. Huber: „Derweil die Patricia ihre Noten sucht, können wir vielleicht ein bissi mitklatschen.“ Klatschen aus dem Publikum ist zu hören. Simpson tanzt weiter und klatscht mit. Huber steht auf, die Sängerin und der Pianist sprechen miteinander. Der Rest der Band improvisiert weiter. Simpson geht wieder zu ihrem Notenpult, klatscht die Hände mehrmals über dem Kopf zusammen. Das Klavier setzt ein. Der Text wird in Form von Sprechgesang rhythmisch wiedergegeben. Die Sängerin deutet zu Beginn mit der Hand ins Publikum. Ich spre-che ei-ne Spra-che, die man-che schroff emp-fin-den. Ich ha-be mich ge-traut die Din-ge beim Na-men zu nen-nen. Man muss uns-re Spra-che ler-nen und un-se-re Wer-te, wer es schafft zu uns zu kommen, dem ist das auch zu-mut-bar. Die, die wir ha-ben wol-len, sol-len es leich-ter ha-ben. Die wir nicht (Betonung) ha-ben wol-len, sol-len ihr Wis-sen auf-rüs-ten. Man muss uns-re Spra-che ler-nen und un-se-re Wer-te, wer es schafft zu uns zu kommen, dem ist das auch zu-mut-bar.

6 Das Konzertexperiment „Clash Concerty“ | 331

Ich brauch eine klare Sprache. (gesungen – langsam) Ich bin für den so-zia-len Frie-den im Land zu-stän-dig. (deklamiert) Ich bin für den Frieden zuständig. (gesungen – langsam) Ich füh-le mich in mein-ner Ar-beit be-stä-tigt. (deklamiert) Ich bewege mich auf einer klaren Linie. (pointiert gesungen) Recht muss Recht bleiben, Recht muss Recht bleiben. Recht muss Recht bleiben, Recht muss Recht bleiben. (geschrien, Simpsons hebt die Hand) Ich bewege mich auf einer klaren Linie. (hysterisch gesungen) Man muss uns-re Spra-che ler-nen und un-se-re Wer-te, wer es schafft zu uns zu kom-men der spürt meine Härte. (flüsternd gesprochen) (Instrumentale Improvisation. Simpsons tanzt. Improvisation endet.) Ich will Lorbeeren, ich will Lorbeeren, ich will Lorbeeren, ich will Lorbeeren, ich will Lorbeern! (Simpson schreit hyserisch, springt auf und ab)

Das Publikum sitzt während der Performance ruhig. Einige Besucher/innen haben an ihren Getränken genippt, es wurde nicht gesprochen. Es waren auch keine Mobiltelefone zu sehen, die den Auftritt mitgefilmt, oder zur Ablenkung gedient hätten. Nach Ende des Songs applaudiert und jubelt das Publikum. Simpson geht auf der Bühne einen Halbkreis, sieht ihre Mitmusiker an. Dreht sich wieder in Richtung Publikum. Huber: „Das sind ja vier Nummern vom Bernhard Gander. Und jetzt die vierte Nummer.“ Gelächter ist im Publikum zu hören. Simpson wirft „Cooler Set“ ein, das Lachen im Publikum verklingt. Simpon wirft die Harre nach hinten, springt in die Höhe. Auf den ersten Ton Simpsons respondieren die Instrumente. Ich (m) – (a) – (m) – (gesprochen. Simpson deutet mit der Hand. Es entsteht eine Pause) ich bin (gesprochen. Simpson springt) (e) – (a) – (i) – (gekreischt. Simpson deutet mit der Hand. Es entsteht eine Pause) ich bin doch (gesprochen. Simpson springt) (a) – (m) – (e) – (a) – (i) – (gekreischt. Simpson deutet mit der Hand. Es entsteht eine Pause) ich bin doch kein (geschrien. Simpson springt) (i) – (a) – (e) – (gekreischt. Simpson deutet mit der Hand. Es entsteht eine Pause) ich bin doch kein Mons (geschrien. Simpson springt) – (i) – (a) – (i) – (gekreischt. Simpson deutet mit der Hand. Es entsteht eine Pause) ich bin doch kein Monster! (springt weiter und kreischt)

332 | Aufführungsrituale der Musik

(Instrumentale Improvisation) Wegda muss wegda, muss wegda, muss wegda, muss wegda, muss wegda, muss wegda, muss wegda, muss wegda, muss wegda, muss wegda! (gesprochen in verschiedenen Tonlagen) Wann haben Sie zuletzt das Wort „Asyl“ gehört ohne die Begleitwörter „Missbrauch“ oder „kriminell“? Das ist das Hauptproblem beim Thema: Die, die Schutz brauchen kommen in den politischen Debatten kaum mehr vor. Ständig geht es nur noch um die, die Asyl „missbrauchen wollen“, die „die kriminell werden“. (gesprochen, instrumentale reduzierte rhythmische Begleitung) Für Letztere gibt es das Strafgesetz und für Erstere gilt: Wer keine Asylgründe hat, bekommt kein Asyl. (gesprochen, ohne Begleitung)

Anstieg an Asylanträgen, das muss unterbunden werden. Es darf keine Willkür geben, die Familie soll ausreisen. (gesungen, reduzierte tonale Begleitung) Ich will eine Aufenthaltspflicht, niemand unterstützt mich. (gesungen, ohne Begleitung) Das gehört mir weggenommen, weil ich falschen Zugang habe. (gesungen, leicht hysterisch, reduzierte tonale Begleitung) Das will ich verhindern. (gesungen, ohne Begleitung) Bin ich (m) – (a) – (m) – (gekreischt. Simpson deutet mit der Hand. Es entsteht eine Pause) bin ich doch (gesprochen. Simpson springt) (e) – (a) – (i-a) – (e) – (gekreischt. Simpson deutet mit der Hand. Es entsteht eine Pause) bin ich doch ein (gesprochen. Simpson springt) (e) – (a) – (i) – (gekreischt. Simpson deutet mit der Hand. Es entsteht eine Pause) bin ich doch ein Mons (gesprochen. Simpson springt) – (a) – (i) –(Hysterisches Lachen. Simpson deutet mit der Hand. Es entsteht eine Pause) bin ich doch ein Monster? (gesprochen. Die letzte Silbe des Wortes Monster wird in die Länge gezogen. Der Mund ist weit offen. Simpson fasst sich durch die Haare) (Instrumentales Solo. Simpson tanzt, die Musiker bewegen die Oberkörper zum Takt der Musik) Wegda muss wegda, muss wegda, muss wegda, muss wegda, muss wegda, muss weg! (gesprochen mit Klavierbegleitung)

6 Das Konzertexperiment „Clash Concerty“ | 333

Die Performance endet mit dem Wort „weg!“. Das Publikum ist still und schaut konzentriert auf Simpson, die schweigend in der Pose verweilt. Sie lacht, hebt die Hände. Es erfolgt Applaus und Jubel aus dem Publikum. Harald Huber steht auf und stellt die Bandmitglieder vor. Huber und Simpson deuten auf die Musiker, die aufstehen, als ihre Namen genannt werden. Der Applaus hält an. Die Musiker und die Sängerin treten nach vor und verbeugen sich gemeinsam vor dem Publikum. Die Band geht ab. Der Applaus hält weiterhin an. Harald Huber betritt als erster den Raum, gefolgt von der Band. Der Applaus wird deutlich lauter. Simpson sagt „Ma, danke. Cool.“ Im Publikumsraum wird das Wort „Zugabe“ gerufen. Simpson deutet den Daumen nach oben. Die Musiker gehen zu ihren Instrumenten. Huber:“An Kurzen hätt ma no“. Simpsons: „Super, danke. Echt. Cool. (lacht). Heute ist so eine Stimmung. Das ist so Klasse. Taugt ma total. Danke.“ Das Klavier beginnt zu spielen. (gesprochen) Flüchtlingswelle, Drittstaaten, Hauptherkunftsländer, Asylmissbrauch. (ohne Begleitung) Das lehn ich ab. lehn ich das ab? (auf „ab“ Schlag auf die Drum) (Rhythmische Begleitung durch alle Instrumente) Das Recht auf Asyl ist, das Recht (mehrmals wiederholtes Lautspiel) auf Asyl unantastbar (ohne Begleitung) das sehe ich, seh ich das sehr skeptisch! (Lachen aus dem Publikum) (Rhythmische Begleitung durch alle Instrumente) Grundversorgung, Selbsterhaltungspflicht, Verfahrensbeschleunigung, Familiennachzug, Familienzusammenführung (in die Länge gezogene Laute) (ohne Begleitung) ich bin, ich bin, ich dagegen! ich bin, ich bin, ich dagegen (geschrien)! (Rhythmische Begleitung durch alle Instrumente) Amnestie, Verträglichkeit für die Aufnahmefähigkeit, Regelung, Harmonisierung für Sozialsysteme (ohne Begleitung) Ich bin überfordert, bin ich, ich bin überfordert, bin ich (geschrien) (gesungen) (Rhythmische Begleitung durch alle Instrumente) Ich will Lorbeeren, ich will Lorbeeren, ich will Lorbeeren (betont in die Länge gezogen)!

334 | Aufführungsrituale der Musik

Applaus und Jubel aus dem Publikum. Der anwesende Komponist des Stückes Bernhard Gander stürmt auf die Bühne und umarmt Simpson. Der Applaus und der Jubel werden lauter. Die Band geht unter Applaus von der Bühne. Die Performance ist zu Ende. Abbildung 88: Verbeugung beim Schlussapplaus

Quelle: DWP

Fazit: Das Publikum hat im Rahmen der vorhergehenden Projektpräsentation bereits einen kurzen Ausschnitt (50 Sekunden) aus der ursprünglichen Aufführungssituation von Bernhard Ganders „wegda! für sopran und ensemble (ein stück zum thema asyl)“ gesehen. Die gezeigte Fassung wurde unter der Leitung des Dirigenten Titus Engel vom oenm. österreichisches ensemble für neue musik am bei den Bregenzer Festspiele aufgeführt. Die Aufzeichnung dauert 9’58’’. Das Arrangement, das Harald Huber für die Veranstaltung „Clash Concerty“ tätigte, ist inklusive Moderation doppelt so lang. Die Moderation nimmt niemals Bezug auf das Stück und seinen gesellschaftskritischen Text, sondern bedient ausschließlich die Konventionen eines Showprogramms. Die Reihenfolge der Stücke entspricht nicht gänzlich Ganders Komposition, das Arrangerment für Jazz-Fusion Showband (E-Piano, E-Gitarre, E-Bass Drums) verfremdet die ursprüngliche Komposition und setzen sie in einen neuen musikalischen Kontext. Die optische Inszenierung der Instrumentalisten – in legerer Alltagskleidung einer Rockband entsprechend – und der Sängerin Patricia Simpson – im glamourösen Outfit mit Pailletten – unterstützt diese Neukontextualisierung. Das Publikum lässt sich dennoch nur bedingt auf das Experiment ein. Angebotene Geträn-

6 Das Konzertexperiment „Clash Concerty“ | 335

ke und Chips werden tendenziell eher ignoriert, man konzentriert sich (an einer Musikuniversität) immer bewusst auf die Performance. Bereits das kurze Ansprechen der beiden Catering-Mitarbeiter/innen wirkt für manche Gäste irritierend. Die Menschen weisen die beiden eher ab und richten die Konzentration auf die Bühne. Das Publikum bleibt während der 21minütigen Darbietung sitzen, im Publikumsraum wird nicht gesprochen. Ein anderes Verhalten ist bei der Moderation zwischen den Stücken zu bemerken. Die Menschen lachen, klatschen und jubeln. Die Frage nach dem Bandlead wird nicht geklärt. Simpson und Huber wechseln sich mit ihren Ansagen ab. Das Publikum akzeptiert diese Situation und honoriert das experimentelles Animationsritual mit Applaus. Hubers Arrangement von Berhand Ganders „wegda!“ entspricht im Gesangspart der gesprochenen und gesungenen Passagen exakt der Vorlage des Komponisten. Auch die instrumentalen Stimmen wurden – mit Einwilligung des Komponisten – von der Originalpartitur ausgehend in das Jazzrock Genre transformiert. Dem Publikum ist der Inhalt des Stücks durch die vorangegangene Präsentation bekannt: Bernhard Gander vertonte als Komponist ausgewählte Zeitungsausschnitte zur österreichischen Asylpolitik um 2010 und karikierte damit die damalige Innenministerin Maria Fekter. Durch die Brechung der Konventionen des klassischen Aufführungsrituals erfolgt eine doppelte Irritation: Die hochkulturelle Positionierung des zeitgenössischen Werks im Sinne eines humanen Umgangs mit Asylwerber/innen wird nun in ein Showprogramm mit Publikumsanimation transformiert, das die Aufmerksamkeit des Publikums ausschließlich die bühnenwirksamen Qualitäten der Sängerin und ihrer Mitmusiker lenkt. Insofern erschlägt die Performance den Inhalt.

6.3 KAMMEROPER: „WINDMILLS“ Die dritte Performance ist die Kammeroper „WINDMILLS“ der Komponistin Maria Gstättner. Dies ist eine konzertante Vor-Aufführung (Auftragswerk der styriarte 2016) der Kammeroper für Popsängerin (Teresa Rotschopf) und Popsänger (Willi Landl) mit der weiteren Besetzung Bassklarinette (Pepe Auer), Fagott (Maria Gstättner), Viola (Martina Engel), Kontrabass (Peter Herbert) und Percussion (Margit Schoberleitner). Alle Musiker/innen sind in einer eigenen Farbe gekleidet. Die Kleidung besteht jeweils aus verschiedenen Farbtönen, die Intention ist erkennbar.

6 Das Konzertexperiment „Clash Concerty“ | 335

ke und Chips werden tendenziell eher ignoriert, man konzentriert sich (an einer Musikuniversität) immer bewusst auf die Performance. Bereits das kurze Ansprechen der beiden Catering-Mitarbeiter/innen wirkt für manche Gäste irritierend. Die Menschen weisen die beiden eher ab und richten die Konzentration auf die Bühne. Das Publikum bleibt während der 21minütigen Darbietung sitzen, im Publikumsraum wird nicht gesprochen. Ein anderes Verhalten ist bei der Moderation zwischen den Stücken zu bemerken. Die Menschen lachen, klatschen und jubeln. Die Frage nach dem Bandlead wird nicht geklärt. Simpson und Huber wechseln sich mit ihren Ansagen ab. Das Publikum akzeptiert diese Situation und honoriert das experimentelles Animationsritual mit Applaus. Hubers Arrangement von Berhand Ganders „wegda!“ entspricht im Gesangspart der gesprochenen und gesungenen Passagen exakt der Vorlage des Komponisten. Auch die instrumentalen Stimmen wurden – mit Einwilligung des Komponisten – von der Originalpartitur ausgehend in das Jazzrock Genre transformiert. Dem Publikum ist der Inhalt des Stücks durch die vorangegangene Präsentation bekannt: Bernhard Gander vertonte als Komponist ausgewählte Zeitungsausschnitte zur österreichischen Asylpolitik um 2010 und karikierte damit die damalige Innenministerin Maria Fekter. Durch die Brechung der Konventionen des klassischen Aufführungsrituals erfolgt eine doppelte Irritation: Die hochkulturelle Positionierung des zeitgenössischen Werks im Sinne eines humanen Umgangs mit Asylwerber/innen wird nun in ein Showprogramm mit Publikumsanimation transformiert, das die Aufmerksamkeit des Publikums ausschließlich die bühnenwirksamen Qualitäten der Sängerin und ihrer Mitmusiker lenkt. Insofern erschlägt die Performance den Inhalt.

6.3 KAMMEROPER: „WINDMILLS“ Die dritte Performance ist die Kammeroper „WINDMILLS“ der Komponistin Maria Gstättner. Dies ist eine konzertante Vor-Aufführung (Auftragswerk der styriarte 2016) der Kammeroper für Popsängerin (Teresa Rotschopf) und Popsänger (Willi Landl) mit der weiteren Besetzung Bassklarinette (Pepe Auer), Fagott (Maria Gstättner), Viola (Martina Engel), Kontrabass (Peter Herbert) und Percussion (Margit Schoberleitner). Alle Musiker/innen sind in einer eigenen Farbe gekleidet. Die Kleidung besteht jeweils aus verschiedenen Farbtönen, die Intention ist erkennbar.

336 | Aufführungsrituale der Musik

Abbildung 89: Positionierung auf der Bühne bei der Kammeroper „Windmills“

Quelle: DWP

Martina Engel trägt eine grüne Bluse und einen grünblauen Rock. Peter Herbert hat eine rote Hose und ein rotes Oberteil an. Pepe Auer trägt eine dunkle Jeans und ein Sakko. Maria Gstättner mit rosa Hose und ein rosa Oberteil gekleidet. Teresa Rotschopf hat ein sandgelbes T-Shirt und eine ockerfarbene Hose an. Willi Landl trägt ein blaues Polo und eine dunkelblaue Hose. Der Publikumsraum ist auch bei dieser Performance bestuhlt. Die Zuseher/innen sitzen um runde Tische verteilt, die Sessel sind in Richtung Bühne ausgerichtet. Das Ensemble tritt auf, es folgt Applaus. Die Instrumente werden nachgestimmt. Die beiden Sänger/innen stehen in der Mitte der Bühne. Die Instrumentalist/innen sind im Halbkreis dahinter angeordnet. Links außen ist die Viola positioniert, daneben steht der Kontrabass, in der hinteren Mitte die Percussion, rechts davon das Fagott und rechts außen die Bassklarinette. Die Stille wird durch das Erzeugen von Windgeräuschen durch verschiedene Instrumente durchbrochen. Bassklarinette und Fagott beginnen zu spielen. Nach ein paar Takten setzen Percussion, Kontrabass und Viola, danach der Gesang ein. Alle Akteur/innen haben Notenständer vor sich.

6 Das Konzertexperiment „Clash Concerty“ | 337

(Willi Landl) Sieben Krähen fraßen meine Stimmbänder kahl. (Teresa Rotschopf) Ich lag daneben, verschwand in meinen Genitalien (beide) weinte, weinte weinte Reisnägel (Teresa Rotschopf) Geschmeidig wehte das Haar um meine Brüste und die Lippen glänzten lüsterne (mit Landl) Lieder. Schuldig nehme ich meine Strafe entgegen.

Alle Instrumente werden reduziert eingesetzt, pausieren, spielen nicht gleichzeitig, es gibt keine Soli. Es erfolgt ein Zwischenspiel auf einer Cuica (brasilianische Reibetrommel). Der Klarinettist beginnt Seifenblasen zu blasen. (Rotschopf) Warten auf Nichts, (Landl) Nichts ist die Freundin der Zeit.

Die Seifenblasen schweben durch den Bühnenraum. Die Streichinstrumente werden gezupft. Abbildung 90: Seifenblasen im Bühnenraum (Copyright: DWP)

Quelle: DWP

338 | Aufführungsrituale der Musik

(Rotschopf) Nichts beschützt vor Lügen (alle) und schwierigen Griffkombinationen (Landl) Warten löst mich in (mit Rotschopf) stilles Nichts auf (Mit einem Schlauch werden Windgeräusche erzeugt) (Rotschopf) und wirft mich in die Abhängigkeit. (Landl/Rotschopf) In der lässt es sich besonders gut warten. (Landl) Alle Menschen warten immer auf Nichts, (Rotschopf) und reden von (mit Landl) Nichts,

Es werden erneut Seifenblasen geblasen. (Landl) denken an (mit Rotschopf) Nichts und tun Nichts, (Rotschopf) weil sie ja (gemeinsam mit Landl) warten, warten, warten.

Alle Instrumente erzeugen gemeinsam Windgeräusche. (beide sprechend) Ich bin auch alle Menschen. Nichts und Warten wurden in der Flucht geboren. Das ist der Ort, an dem die Zeit nach Hinten rinnt und es mit der Lüge treibt. Oft steht die Resignation zur Seite und onaniert leise mit.

Das instrumentale Tempo wird schneller. Zusätzlich ist eine Trillerpfeife zu hören. (beide gesungen) Weil der Schleim das Innere meiner Gesäßwand erreicht hat, alle Poren meines Körpers verklebt sind mit stinkenden Substanzen:

Der Kontrabass gibt das Tempo vor. Fagottistin Maria Gstättner dirigiert diese Passage an ihrem Platz im Ensemble sitzend. Die Geige beginnt nach ein paar Takten zu spielen, anschließend respondieren auch die anderen Instrumente. Landl beginnt zu singen, Rotschopf singt nach einigen Wiederholungen von „mir“ auch mit.

6 Das Konzertexperiment „Clash Concerty“ | 339

Abbildung 91: Martina Engel (Viola) und Peter Herbert (Kontrabass)

Quelle: DWP mir mir mir mir mir mir mir mir mirmirmirmirmirmirmirmirmirmir wir wir wir

Eine Windmaschine und die Instrumente erzeugen einen Klangteppich. Es kommt ein neuartiges Instrument zum Einsatz. Maria Gestättner spielt ein Concerteridoo (Digeridoo in Muschelform). Nach einer 45sekündigen Improvisation beginnen Bassklarinette und Geige der Partitur entsprechend zu spielen. Der Kontrabassist Herbert Peter dirgiert diese Passage für sich an seinem Platz im Ensemble stehend. Percussion und Kontrabass setzen ein. Ein Stilwechsel in das Genre Jazz findet statt. Die Sänger/innen improvisieren stimmlich. Der Gesang klingt aus, die instrumentale Begleitung wird reduziert. Der Bassklarinettist erzeugt Windgeräusche. Der folgende Teil wird gesprochen. (Rotschopf) Gestern trank mich mein Verstand aus, implantierte mir Sesamkörner in die Augen und zerbrach meinen Mut (Rotschopf lächelt) (Landl) In der Marionettenschule lernen wir Erbrochenes zu pürieren. Gegessen wird’s in Gesellschaft mit Sekt serviert. (Rotschopf) Bin ich froh,

340 | Aufführungsrituale der Musik

in lärmender Umgebung keinen Hunger zu verspüren (Landl) und mich stattdessen in der Badewanne des Vertrauens (mit Rotschopf) zu suhlen und zu fließen.

Abbildung 92: Maria Gstättner (Fagott) und Pepe Auer (Bassklarinette), auf dem Stuhl liegt das Concerteridoo

Quelle: DWP

Instrumentale Begleitung setzt ein. Die Melodie erinnert an einen Popsong. Die Sänger/innen singen den Text in englischer Sprache (Übersetzung: Phil Yaeger). Die Komposition mündet in einem Popstück. I write clear water from Windmills that I may grow that I may drink from my own eyes. I conjure golden flowers out of my ears Bind myself to four-poster beds Change time to messages in bottles.

6 Das Konzertexperiment „Clash Concerty“ | 341

I use up moments with the self-assuredness of little children’s eyes. An aim has taken me in its arms.

Das Musikstück endet, die Musiker/innen setzten ihre Instrumente ab. Teresa Rotschopf retourniert das Mikrofon in den Mikrofonständer. Sie lächelt und tritt einen Schritt zur Seite. Das Publikum applaudiert. Der Applaus ist zuerst ruhig, es ist kein Jubel zu hören. Als die Musiker/innen aufstehen und sich verbeugen, pfeift und jubelt das Publikum. „Bravo!“-Rufe ertönen aus dem Zuschauerraum. Die Musiker/innen deuten auf die Komponistin des Stückes. Teresa Rotschopf wirft Maria Gstättner einen Handkuss zu. Ein letztes Mal ist Jubel im Publikum zu hören. Die Kammeroper „Windmills“ von Maria Gstättner ist eine zeitgenössische Komposition, die über eine Improvisation mit Windmaschinen in ein Jazz-Stück mündet und mit einem Popsong endet. Dem Publikum des Clash Concerty wurde das Stück als „Kammeroper[...], die einen Bogen von Neuer Musik über Improvisation zum Pop spannt“2 angekündigt. Zusätzlich befand sich das Libretto im Programmheft. Die Konzertbesucher/innen haben sich den Konventionen eines Andachtsrituals entsprechend verhalten. Im bestuhlten Zuschauerraum herrscht Stille. Genrewechsel, der Einsatz von Windmaschinen und Improvisationen werden vom Publikum wahrgenommen, dennoch sind keine Reaktionen ersichtlich. Die Zuschauer/innen applaudieren nicht nach Verklingen der letzten Töne, sondern warten einige Sekunden. Der Applaus ist zuerst verhalten, Jubelrufe und Pfeifen sind erst zu hören als die Musiker/innen sich verbeugen. Das Publikum lässt sich von der Werksbezeichnung „Kammeroper“ (konzertante Aufführung) lenken und verhält sich den Konventionen des Stilfelds entsprechend. Bereits die Ankündigung des Konzerts als Clash Concerty. Musikgenres verkehrt herum gebürstet: E-Schlager, U-Klassik, Impro-Pop enthielt den Verweis auf ein Konzertexperiment. Dieses Bewusstsein der Besucher/innen kann als Voraussetzung für deren Umgang mit den drei gezeigten Performances gelten. Alle Songtexte befanden sich im Programmheft. Zwei der drei interpretierten Schlagernummern und Bernhard Ganders Komposition wurden im Rahmen der Pro-

2

Vgl. Programmheft „Performing Diversity & Clash Concerty“ 2016.

342 | Aufführungsrituale der Musik

jektpräsentation „Performing Diversity“ im Vorfeld vorgestellt und analysiert. Zusätzlich wurden Ausschnitte der Originalversionen gezeigt. Die Kenntnis der Musikstücke steigerte die Publikumserwartung und die daraus resultierende Reaktion der Zuschauer/innen. Bei den Auftritten des Ensemble FAKTOR X und der Buttersaitn Electric Band war bereits eine besondere Erwartungshaltung im Publikumsraum bemerkbar. Die Zuseher/innen kannten die Originalversion und erwarteten eine genre-untypische Interpretation. Maria Gstättners Kammeroper „Windmills“ ist als konzertante Voraufführung dem Publikum unbekannt. Während des Auftritts herrscht Konzentration im Publikum, Reaktion auf das Gezeigte erfolgt erst am Ende der Performance durch zuerst verhaltenen Applaus, der sich mit dem Verbeugen der Akteur/innen auf der Bühne steigert. Unkonventionelle Erweiterungen der Bühnenperformance durch bunte Kleidung, Seifenblasen oder der Einsatz einer Windmaschine werden als Teil der Inszenierung akzeptiert. Insgesamt hatte natürlich der Rahmen einer Musikuniversität einen wesentlichen Einfluss auf das Publikumsverhalten. Mit klassischen und experimentellen Aufführungen ist das akademische Publikum vertraut. Interessant wäre, ein „Clash Concerty“ etwa in einem für das Animationsritual typischen Rahmen (Diskothek, Bierzelt, Rockhalle, ...) zu veranstalten.

7

Conclusio

Das Forschungsprojekt „Performing Diversity“ ist ein weiterer Schritt zur Erkundung des ‚Systems der Musik‘ am Beispiel von Musikstücken aus Österreich, die in den Jahren 2010 – 2015 veröffentlicht wurden. Aufbauend auf einer grundlegenden Studie (Huber, Harald: „Der Song und die Stilfelder der Musik“, Habilitationsschrift, Wien 2004), in der eine Stilfeldertheorie entworfen und die Methode der ‚Vergleichenden Stilfelder-Analyse‘ anhand von Liedern (Songs) der 1990er Jahre entwickelt wurde, sowie dem vor allem quantitativ orientierten „Austrian Report on Musical Diversity“1, der die Größenverhältnisse der postulierten sechs Stilfelder in neun Dimensionen des österreichischen Musiklebens der Jahre 2000 – 2010 erforschte, wurde nun beim Projekt „Performing Diversity“ der Aspekt der Performativität in den Mittelpunkt einer qualitativen Untersuchung gestellt (Fotos, Videoclips, audiovisuelle Konzertdokumentationen). Die Konstruktion eines Kugelmodells von ‚Stilfeldern‘ in „Der Song und die Stilfelder der Musik“ basiert auf den in „Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft“ von Pierre Bourdieu (Paris 1979) entwickelten Kategorien des Geschmacks (elitärer / mittlerer / populärer Geschmack). Bourdieu fragte u.a. nach der Ausbildung individueller Geschmacks-Identitäten in Abhängigkeit von soziokulturellen Determinanten (Elternhaus, soziale Auf- oder Abstiegsprozesse). Die Stilfeldertheorie lässt jedoch die Zuordnungen von Geschmackskategorien zu gesellschaftlichen Positionen, die sich bei Bourdieu auf die französische Gesellschaft der 1960er/70er Jahre beziehen, zum Zweck globaler Transponierbarkeit offen bzw. wandelt diese zu einer weiterführenden zentralen Fragestellung um: Wie bildet sich kulturelle Diversität in musikalischem Material ab und welche Rückschlüsse auf die (Re-)Konstitution von „feinen Unterschieden“ lassen sich daraus ziehen?

1

Huber, Harald, Lisa Leitich und Magdalena Fürnkranz: Austrian Report on Musica Diversity, Wien 2012

344 | Aufführungsrituale der Musik

Das Forschungsprojekt „Performing Diversity“ untersucht diese Frage nicht anhand einer Rezeptionsanalyse (vgl. dazu Huber, Michael: „Musikhören im Zeitalter Web 2.0“, Wien 2018), sondern durch eine vergleichende StilfelderAnalyse ausgewählter Musik-Performances. Die gesellschaftliche Verteilung kultureller Muster zeigt sich – so die Annahme – in qualitativ differenzierter Form im musikalischen Material selbst, findet seinen Niederschlag in audiovisuellen Dokumenten von Musikstücken, die in ihrem jeweiligen Stilfeld vom Publikum entsprechend beachtet wurden, und ermöglicht auf diese Weise eine detaillierte, semantisch hoch aufgeladene Beobachtung von „feinen Unterschieden“. Die Annahme von sechs Stilfeldern der Musik in der österreichischen Gesellschaft, die durch die Vorgängerstudien gestützt wird und als solche auch immer wieder neu zur Debatte steht (die Studie geht von den Stilfeldern „Klassik/zeitgenössische Musik“, „Jazz/improvisierte Musik“, „Volksmusik & World Music“, „Dance/HipHop/Elektronik“, „Rock- und Popmusik“, „Schlager/volkstümliche Musik“ aus) versteht sich auch als Anbindung an den internationalen Diskurs rund um den Begriff der ‚Cultural Diversity‘, der in der „UNESCO Konvention zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt der kulturellen Ausdrucksformen“ (2005) seine Ausformung auf politischer Ebene gefunden hat. In diesen Diskurs sind auch Ergebnisse der Postcolonial Studies eingeflossen, die den Begriff der ‚Hybridität‘ kultureller Ausdrucksformen ins Zentrum der Aufmerksamkeit gestellt haben. Dementsprechend versucht auch die Studie „Performing Diversity“, anhand der Analyse von in den Performances gezeigten Figuren nicht nur stilfeldtypische kulturelle Muster herauszuarbeiten, sondern auch den ‚Crossover-Phänomenen‘, den Prozessen der Hybridisierung entsprechende Beachtung zu schenken. Wie wird kulturelle Identität in den Performances von Musikstücken immer wieder neu konstituiert? Die Ergebnisse der Studie lassen sich anhand von drei Bereichen der Performance-Analyse zusammenfassend darstellen. Im Gegensatz zum Kapitel 6 („Ergebnisse der Vergleichenden Stilfelderanalyse“) wollen wir nun – dem Titel des Buches gemäß – die Erkenntnisse zum Thema „Aufführungsrituale der Musik“ an die dritte Position stellen. 1. Konstitution von Geschlechtsidentitäten (Gender) 2. Konstitution von Statusidentitäten (soziale Ungleichheit) 3. Konstitution von Ritualen (Dramaturgie) Die Bereiche 1) und 2) beziehen sich auf die auf Bühnen oder in Musikfilmen auftretenden Figuren, der dritte Bereich auf die Art und Weise der Inszenierung

7 Conclusio | 345

der ausgewählten Sequenzen (Dramaturgien von Live-Auftritten, filmische Erzählweisen). Bei der Analyse erwies sich die filmtheoretische ‚Figurenanalyse‘ nach Jens Eder (2008) in vieler Hinsicht als außerordentlich nützlich. Für die Stichprobe wurden 12 Musikstücke – zwei pro Stilfeld – ausgewählt:

7.1 GENDER: KONSTITUTION VON GESCHLECHTSIDENTITÄTEN Die vergleichende Stilfelder-Analyse zeigt im Bereich der Konstituierung von Geschlechtsidentitäten einerseits ein Aufbrechen traditioneller Zuschreibungen hin zu einer Vielfalt egalitärer Möglichkeiten, andererseits aber auch die ungebrochene Existenz von Stereotypen der Männlichkeit und Weiblichkeit. In 4 der 12 Performances werden die Musiker/innen in ihrer Rolle als künstlerisch Ausführende gezeigt, das Geschlecht spielt dabei keine wesentliche Rolle, in 2 der 12 Performances werden gesellschaftliche Figuren karikiert (Politikerin bzw. Geistliche, Polizisten etc.), wobei das Geschlecht nur implizit von Bedeutung ist. Die Hälfte der Stichprobe (6 von 12) zeigt Figuren, in denen Männlichkeit und Weiblichkeit explizit zum Thema werden. Dabei konstituieren alle 3 männlichen Figuren den Typ des aktiv interessierten „Lovers“, wenn auch in unterschiedlicher Weise (Andreas Gabalier, Wanda, Nazar/Falco). In ihrer Repräsentation verkörpern sie soziale Dominanz gegenüber anderen Geschlechtsidentitäten, diese reduzieren sie in ihrem künstlerischen Wirken auf das weibliche Pendant. „Denn wir Männer sind dieselben wie ihr Frauen“ rappt Nazar in dem posthumen Duett mit Falco „Zwischen Zeit & Raum“ und versucht textliche Egalität zu konstruieren. Frauen sind in der Visualisierung von Nazars Text nahezu passiv vertreten und austauschbar, der Rapper verweist auf einen polygamen Lebensstil. Der „VolksRock’n’Roller“ Andreas Gabalier besingt in „I sing a Liad für di“ ein „Engerl“, dessen Präsenz verschwommen visualisiert wird. Die Performance des Sängers der gleichnamigen Band Wanda im Musikvideoclip „Bologna“ erinnert an die Wiederauferstehung eines Jim Morrison. Marco Wanda inszeniert sich in Zusammenspiel mit dem Inzest als Textsujet und der Anspielung auf die Thematik „Sex, Drugs and Rock’n’Roll“ als Prototyp des männlichen Rockstars. Die 3 weiblichen Figuren treten uneinheitlich in verschiedener Form in Erscheinung: als „verschmähte Liebende“ (Seer), als „Raumschiff Pilotinnen“ (Fijuka) und als „Gegenprophetin“ (Fatima Spar). Im Stilfeld „Schlager/volkstümliche Musik“ ist im ausgewählten Beispiel (Seer) eine ausschließliche Thematisierung von Geschlechterrollen und Sexualität zu beobachten. Das Stilfeld

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der ausgewählten Sequenzen (Dramaturgien von Live-Auftritten, filmische Erzählweisen). Bei der Analyse erwies sich die filmtheoretische ‚Figurenanalyse‘ nach Jens Eder (2008) in vieler Hinsicht als außerordentlich nützlich. Für die Stichprobe wurden 12 Musikstücke – zwei pro Stilfeld – ausgewählt:

7.1 GENDER: KONSTITUTION VON GESCHLECHTSIDENTITÄTEN Die vergleichende Stilfelder-Analyse zeigt im Bereich der Konstituierung von Geschlechtsidentitäten einerseits ein Aufbrechen traditioneller Zuschreibungen hin zu einer Vielfalt egalitärer Möglichkeiten, andererseits aber auch die ungebrochene Existenz von Stereotypen der Männlichkeit und Weiblichkeit. In 4 der 12 Performances werden die Musiker/innen in ihrer Rolle als künstlerisch Ausführende gezeigt, das Geschlecht spielt dabei keine wesentliche Rolle, in 2 der 12 Performances werden gesellschaftliche Figuren karikiert (Politikerin bzw. Geistliche, Polizisten etc.), wobei das Geschlecht nur implizit von Bedeutung ist. Die Hälfte der Stichprobe (6 von 12) zeigt Figuren, in denen Männlichkeit und Weiblichkeit explizit zum Thema werden. Dabei konstituieren alle 3 männlichen Figuren den Typ des aktiv interessierten „Lovers“, wenn auch in unterschiedlicher Weise (Andreas Gabalier, Wanda, Nazar/Falco). In ihrer Repräsentation verkörpern sie soziale Dominanz gegenüber anderen Geschlechtsidentitäten, diese reduzieren sie in ihrem künstlerischen Wirken auf das weibliche Pendant. „Denn wir Männer sind dieselben wie ihr Frauen“ rappt Nazar in dem posthumen Duett mit Falco „Zwischen Zeit & Raum“ und versucht textliche Egalität zu konstruieren. Frauen sind in der Visualisierung von Nazars Text nahezu passiv vertreten und austauschbar, der Rapper verweist auf einen polygamen Lebensstil. Der „VolksRock’n’Roller“ Andreas Gabalier besingt in „I sing a Liad für di“ ein „Engerl“, dessen Präsenz verschwommen visualisiert wird. Die Performance des Sängers der gleichnamigen Band Wanda im Musikvideoclip „Bologna“ erinnert an die Wiederauferstehung eines Jim Morrison. Marco Wanda inszeniert sich in Zusammenspiel mit dem Inzest als Textsujet und der Anspielung auf die Thematik „Sex, Drugs and Rock’n’Roll“ als Prototyp des männlichen Rockstars. Die 3 weiblichen Figuren treten uneinheitlich in verschiedener Form in Erscheinung: als „verschmähte Liebende“ (Seer), als „Raumschiff Pilotinnen“ (Fijuka) und als „Gegenprophetin“ (Fatima Spar). Im Stilfeld „Schlager/volkstümliche Musik“ ist im ausgewählten Beispiel (Seer) eine ausschließliche Thematisierung von Geschlechterrollen und Sexualität zu beobachten. Das Stilfeld

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„Rock/Pop Musik“ (Fijuka) ist hingegen ein Beispiel für geschlechtliche Identitäten, die die binäre Norm überschreiten. Charakteristika der geschlechtlichen Inszenierungen treten bei Fatima Spar zu Gunsten der kollektiven Performance in den Hintergrund, die Sängerin agiert als Trägerin von Gesellschaftskritik, die Band unterstützt sie klanglich. Die Stilfelder-Verteilung zeigt traditionelle Geschlechter-Stereotypen im Feld „Schlager/volkstümliche Musik“, Ansätze zu egalitärem Umgang in den männlichen Love Songs der Felder „Rock/Pop“ und „Dance/HipHop/Elektronik“ bzw. Neukonstituierungen der weiblichen Rollen jenseits der Liebesthematik (Fijuka, DJ Electric Indigo) ebenda. In den drei weiteren Stilfeldern „Volksmusik/World Music“, „Jazz/improvisierte Musik“ und „Klassik/zeitgenössische Musik“ überwiegt die egalitäre Darstellung der Geschlechter deutlich (die Musikerin/der Musiker als Figur von Instrumentalmusik oder als Interpret/in gesellschaftskritischer Statements).

7.2 UNGLEICHHEIT: KONSTITUTION VON STATUSIDENTITÄTEN „Hybridität“ wird im Rahmen des Projekts „Performing Diversity“ sowohl in einem weit gefassten Sinn – als „Mix“ oder „Crossover“ von Stilfeldern, als auch im Sinne der „postcolonial studies“ – als Eröffnung eines „third space“, einer widerständigen Zwischenposition im Umgang mit hierarchischen Machtverhältnissen, verstanden. Die kritischen bzw. affirmativen Positionierungen der Figuren der beobachteten Musiksequenzen sind zunächst abhängig vom gesellschaftlichen Status des Stilfeldes: In den ‚oberen‘ Stilfeldern „Klassik/zeitgenössische Musik“, „Jazz/improvisierte Musik“ und „Volksmusik/World Music“ nimmt jeweils eine der beiden ausgewählten Performances eine deutlich gesellschaftskritische Haltung ein (Gander: Kritik der restriktiven Asylpolitik einer Politikerin, Fatima Spar: Kritik der Heilsversprechen von Christentum und Islam, 5/8erl in Ehr‘n: Karikatur von Typen der österreichischen Gesellschaft), die anderen drei Beispiele sind Instrumentalstücke mit musikimmanenten Bezügen (BartolomeyBittmann, Christian Muthspiel, Alma). In den ‚unteren‘ Stilfeldern „Dance/HipHop/Elektronik“, „Rock/Pop“ und „Schlager/volkstümliche Musik“ werden die Möglichkeiten, mittels künstlerischer Ausdrucksformen „third spaces“ (widerständige Zwischenpositionen) zu inszenieren, in unterschiedlicher Weise und deutlich weniger explizit wahrgenommen (Electric Indigo und Fijuka zeigen Frauen in gehobenen Statuspositio-

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„Rock/Pop Musik“ (Fijuka) ist hingegen ein Beispiel für geschlechtliche Identitäten, die die binäre Norm überschreiten. Charakteristika der geschlechtlichen Inszenierungen treten bei Fatima Spar zu Gunsten der kollektiven Performance in den Hintergrund, die Sängerin agiert als Trägerin von Gesellschaftskritik, die Band unterstützt sie klanglich. Die Stilfelder-Verteilung zeigt traditionelle Geschlechter-Stereotypen im Feld „Schlager/volkstümliche Musik“, Ansätze zu egalitärem Umgang in den männlichen Love Songs der Felder „Rock/Pop“ und „Dance/HipHop/Elektronik“ bzw. Neukonstituierungen der weiblichen Rollen jenseits der Liebesthematik (Fijuka, DJ Electric Indigo) ebenda. In den drei weiteren Stilfeldern „Volksmusik/World Music“, „Jazz/improvisierte Musik“ und „Klassik/zeitgenössische Musik“ überwiegt die egalitäre Darstellung der Geschlechter deutlich (die Musikerin/der Musiker als Figur von Instrumentalmusik oder als Interpret/in gesellschaftskritischer Statements).

7.2 UNGLEICHHEIT: KONSTITUTION VON STATUSIDENTITÄTEN „Hybridität“ wird im Rahmen des Projekts „Performing Diversity“ sowohl in einem weit gefassten Sinn – als „Mix“ oder „Crossover“ von Stilfeldern, als auch im Sinne der „postcolonial studies“ – als Eröffnung eines „third space“, einer widerständigen Zwischenposition im Umgang mit hierarchischen Machtverhältnissen, verstanden. Die kritischen bzw. affirmativen Positionierungen der Figuren der beobachteten Musiksequenzen sind zunächst abhängig vom gesellschaftlichen Status des Stilfeldes: In den ‚oberen‘ Stilfeldern „Klassik/zeitgenössische Musik“, „Jazz/improvisierte Musik“ und „Volksmusik/World Music“ nimmt jeweils eine der beiden ausgewählten Performances eine deutlich gesellschaftskritische Haltung ein (Gander: Kritik der restriktiven Asylpolitik einer Politikerin, Fatima Spar: Kritik der Heilsversprechen von Christentum und Islam, 5/8erl in Ehr‘n: Karikatur von Typen der österreichischen Gesellschaft), die anderen drei Beispiele sind Instrumentalstücke mit musikimmanenten Bezügen (BartolomeyBittmann, Christian Muthspiel, Alma). In den ‚unteren‘ Stilfeldern „Dance/HipHop/Elektronik“, „Rock/Pop“ und „Schlager/volkstümliche Musik“ werden die Möglichkeiten, mittels künstlerischer Ausdrucksformen „third spaces“ (widerständige Zwischenpositionen) zu inszenieren, in unterschiedlicher Weise und deutlich weniger explizit wahrgenommen (Electric Indigo und Fijuka zeigen Frauen in gehobenen Statuspositio-

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nen: Künstlerinnen bzw. Pilotinnen, Wanda spielt mit dem Inzest Tabu, Nazar/Falco mit der Polygamie). Im Schlager (Gabalier, Seer) wird das Bedürfnis nach Darstellung konkreter körperlich-emotionaler Liebessituationen mit der Rekonstruktion traditioneller Geschlechterrollen verknüpft. Die beiden Pole lassen sich wie folgt charakterisieren: Im ersten Fall werden eher intellektuelle, geistige Räume eröffnet, Musik dient als Feld autonomer Kunst und Gesellschaftskritik; im zweiten Fall werden eher emotionelle, körperliche Räume eröffnet, Musik dient als Vollzug hedonistischer Gegenwelten. Zwischen diesen beiden Polen ordnen sich die einzelnen Beispiele in jeweils differenzierter Weise an. Daher ist als Ergebnis des Forschungsprojekts auch hier ein „Kontinuum zwischen zwei Polen“ das deutlich adäquatere Modell als eine neuerliche Konstruktion eines Zwei-Klassen-Systems der Musik. Die Betrachtung eines weit gefassten Begriffs von „Hybridität“ – im Sinne eines „Mix“ oder „Crossover“ von Stilfeldern – soll nun im Kontext der Frage nach der Art und Weise der Darstellung der analysierten Musikperformances erfolgen. Bourdieu hat in seiner Kulturtheorie den Unterschied von elitärem und populärem Geschmack stark an den Formeln „Primat der Form: die Art der Darstellung ist wichtiger als das Dargestellte“ (elitärer Geschmack) versus „Primat der Funktion: das Dargestellte ist wichtiger als die Art seiner Darstellung“ (populärer Geschmack) festgemacht. Dazwischen sieht er als dritte Kategorie den „mittleren Geschmack“, der als Distinktionsstrategie Form und Funktion miteinander verbindet.

7.3 DRAMATURGIE: KONSTITUTION VON RITUALEN Alle untersuchten Beispiele entsprechen entweder dem Aufführungs-Typ „Live Konzert“ (filmische Dokumentation) oder „Musikvideo“ (Clip). Bei Konzerten konnte ein Kontinuum zwischen einem „Andachtsritual“ und einem „Animationsritual“ festgestellt werden, bei Musikclips ein Kontinuum zwischen der „Abstraktheit“ bzw. „Konkretheit“ der Darstellung. Bei allen 12 Musikstücken des Samples wurden sowohl eine filmische Dokumentation eines Live-Auftritts als auch ein Musikclip herangezogen. Bei 4 Beispielen ist der Clip die Dokumentation eines Live-Events (Gander, Muthspiel, Alma, Electric Indigo), in 2 weiteren Beispielen zeigt der Clip ausschließlich die Musiker/innen bei der Arbeit – in einem speziell gewählten Raum ohne Publikum (BartolomeyBittmann, Fatima Spar). In 5 der verbleibenden Musikvideos wird zwischen einer Story und den musizierenden Künstler/innen hin- und

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nen: Künstlerinnen bzw. Pilotinnen, Wanda spielt mit dem Inzest Tabu, Nazar/Falco mit der Polygamie). Im Schlager (Gabalier, Seer) wird das Bedürfnis nach Darstellung konkreter körperlich-emotionaler Liebessituationen mit der Rekonstruktion traditioneller Geschlechterrollen verknüpft. Die beiden Pole lassen sich wie folgt charakterisieren: Im ersten Fall werden eher intellektuelle, geistige Räume eröffnet, Musik dient als Feld autonomer Kunst und Gesellschaftskritik; im zweiten Fall werden eher emotionelle, körperliche Räume eröffnet, Musik dient als Vollzug hedonistischer Gegenwelten. Zwischen diesen beiden Polen ordnen sich die einzelnen Beispiele in jeweils differenzierter Weise an. Daher ist als Ergebnis des Forschungsprojekts auch hier ein „Kontinuum zwischen zwei Polen“ das deutlich adäquatere Modell als eine neuerliche Konstruktion eines Zwei-Klassen-Systems der Musik. Die Betrachtung eines weit gefassten Begriffs von „Hybridität“ – im Sinne eines „Mix“ oder „Crossover“ von Stilfeldern – soll nun im Kontext der Frage nach der Art und Weise der Darstellung der analysierten Musikperformances erfolgen. Bourdieu hat in seiner Kulturtheorie den Unterschied von elitärem und populärem Geschmack stark an den Formeln „Primat der Form: die Art der Darstellung ist wichtiger als das Dargestellte“ (elitärer Geschmack) versus „Primat der Funktion: das Dargestellte ist wichtiger als die Art seiner Darstellung“ (populärer Geschmack) festgemacht. Dazwischen sieht er als dritte Kategorie den „mittleren Geschmack“, der als Distinktionsstrategie Form und Funktion miteinander verbindet.

7.3 DRAMATURGIE: KONSTITUTION VON RITUALEN Alle untersuchten Beispiele entsprechen entweder dem Aufführungs-Typ „Live Konzert“ (filmische Dokumentation) oder „Musikvideo“ (Clip). Bei Konzerten konnte ein Kontinuum zwischen einem „Andachtsritual“ und einem „Animationsritual“ festgestellt werden, bei Musikclips ein Kontinuum zwischen der „Abstraktheit“ bzw. „Konkretheit“ der Darstellung. Bei allen 12 Musikstücken des Samples wurden sowohl eine filmische Dokumentation eines Live-Auftritts als auch ein Musikclip herangezogen. Bei 4 Beispielen ist der Clip die Dokumentation eines Live-Events (Gander, Muthspiel, Alma, Electric Indigo), in 2 weiteren Beispielen zeigt der Clip ausschließlich die Musiker/innen bei der Arbeit – in einem speziell gewählten Raum ohne Publikum (BartolomeyBittmann, Fatima Spar). In 5 der verbleibenden Musikvideos wird zwischen einer Story und den musizierenden Künstler/innen hin- und

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her geschnitten (5/8er in Ehr’n, Nazar/Falco, Wanda, Gabalier, Seer), lediglich Fijuka bleiben im Sinne einer Parodie eines Filmgenres (Science-Fiction) während des gesamten Musikvideos in einer Rolle. Die 12 Live-Performances, die alle eine Variante der Konzertform darstellen, wurden nach der Dimension „Aufführungsritual“ klassifiziert. Typisch für das „Andachtsritual“ ist die Ruhigstellung des Körpers (Das Publikum sitzt still in einem bestuhlten Konzertsaal, Applaus ist bei Betreten der Bühne und nach Ende eines Werks möglich, Informationen erfolgen durch ein gedrucktes Programm, etc.). Das „Animationsritual“ ist demgegenüber durch die Aktivierung des Körpers gekennzeichnet (Das Publikum wird in lockerer Atmosphäre zum körperlichen Mitvollzug animiert: zum Tanzen, Klatschen, Singen, Reden, Trinken, ..., Wortbeiträge erfolgen durch Live-Moderation etc.). Die Stichprobe zeigt folgende Verteilung der beiden Aufführungsrituale und ihrer Mischformen: Mit Ausnahme von Fatima Spars Live Auftritt, der ohne Bestuhlung in einem Club stattfand, zeigen alle Performances der Stilfelder „Klassik/zeitgenössische Musik“, „Jazz/improvisierte Musik“ und „Volksmusik/ World Music“ ein Andachtsritual und alle Beispiele der Stilfelder „Schlager/volkstümliche Musik“, „Rock/Pop“ und „Dance/HipHop/Elektronik“ ein Animationsritual. Dabei sind neben der klassischen Konzertbühne mit Bestuhlung und andächtigem Publikum bzw. der Club-, Hallen- oder Open-Air Bühne mit freier Fläche und animiertem Publikum auch Übergänge bzw. Mischformen zu beobachten: Alma (Volksmusik/World Music) beispielsweise treten auf einer Waldbühne auf, bei lockerer Kleidung und Atmosphäre werden aber doch die Regeln des Andachtsrituals eingehalten. Electric Indigo (Dance/HipHop/Electronic) gestaltet ihre DJ Performance vor tanzendem Publikum bei einem Open-Air-Festival – und doch konzentriert sich die Aufmerksamkeit des Publikums auf die künstlerische Darbietung. In den 8 Videoclips, die keine Live-Situation mit Publikum darstellen, lässt sich eine Verteilung der filmischen Erzählweise hinsichtlich der Dimension „konkret/abstrakt“ beobachten, die sich auch in den 4 Live-Clips fortsetzt: 3 Musikvideos der Stilfelder „Schlager/volkstümliche Musik“ und „Rock/Pop“ zeigen eine „lineare Erzählweise“, d.h. die Story des Liedtextes wird durch filmische Sequenzen konkret veranschaulicht (Seer, Gabalier, Wanda), weitere 3 Musikvideos der Stilfelder „Rock/Pop“, „Dance/HipHop-/Elektronik“ und „Volksmusik/World Music“ zeigen eine „experimentelle Erzählweise“, d.h. das Thema des Songs wird entweder durch unterschiedliche nicht-narrative Sequenzen „umkreist“ (Montage: Nazar/Falco, 5/8erl in Ehr’n) oder durch einen Kurzfilm ergänzt, der eine neue, im Song so nicht enthaltene Ebene eröffnet (Fijuka).

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Dabei halten sich konkretisierende und abstrahierende Elemente in etwa die Waage. Die verbleibenden 2 Clips der Stilfelder „Jazz/improvisierte Musik“ und „Klassik/zeitgenössische Musik“ verzichten auf jegliche konkrete Darstellung und präsentieren eine „dokumentarische Erzählweise“, die sich ausschließlich auf die musikalische Performance bezieht (Fatima Spar, BartolomeyBittmann). Die Tendenz zur Abstraktion in diesen Stilfeldern zeigt sich auch in den 2 Konzertmitschnitten: das Auge der Kamera ist ausschließlich auf das Bühnengeschehen gerichtet, das Publikum kommt nicht ins Bild (Muthspiel, Gander), Informationen zur semantischen Ebene der Musikstücke können allenfalls einem Konzertprogramm entnommen werden. Demgegenüber zeigen die beiden Live-Clips der mittleren Stilfelder („Volksmusik/World Music“ und „Dance HipHop/ Elektronik“) auch das Publikum bzw. die Gesamtsituation des Aufführungsorts (Alma, Electric Indigo). Im Bereich von „Rock-/Pop“ und „Schlager/volkstümliche Musik“ ist dies bei Live-Videos ohnehin selbstverständlich. In einem experimentellen „Clash Concerty“ wurden Aufführungskonventionen spielerisch gemixt: Schlager wurden im klassischen Andachtsritual vorgetragen, ein Stück zeitgenössischer E-Musik als Showprogramm inszeniert und dem Publikum Gelegenheit geboten, sich in Richtung Animationsritual zu bewegen. Dies wurde aufgrund des Gesamtrahmens der Veranstaltung (Saal einer Musikuniversität) jedoch nur zögerlich wahrgenommen.

7.4 INTERPRETATION: THESEN Wie sind nun diese Ergebnisse zu interpretieren? Welche Interpretationsmöglichkeiten tun sich auf? These 1: Der Raum der Kulturmuster ist nicht als Gegensatzpaar – im Sinne eines entweder elitär oder populär – zu denken, sondern als KONTINUUM, in dem sich Künstler/innen und deren Werke bzw. deren öffentliche Performances temporär – d.h. im Einzelfall auch durchaus unterschiedlich – positionieren und verorten. Das dichotome Modell „E-Musik versus U-Musik“ hat im 21. Jahrhundert seine Gültigkeit verloren. Es macht nur noch Sinn als Hinweis auf eine nach wie vor existierende Polarität des Musiklebens, steht aber gleichzeitig der Wahrnehmung der bunten Vielfalt, die sich real zwischen diesen beiden Polen ereignet, entgegen.

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Dabei halten sich konkretisierende und abstrahierende Elemente in etwa die Waage. Die verbleibenden 2 Clips der Stilfelder „Jazz/improvisierte Musik“ und „Klassik/zeitgenössische Musik“ verzichten auf jegliche konkrete Darstellung und präsentieren eine „dokumentarische Erzählweise“, die sich ausschließlich auf die musikalische Performance bezieht (Fatima Spar, BartolomeyBittmann). Die Tendenz zur Abstraktion in diesen Stilfeldern zeigt sich auch in den 2 Konzertmitschnitten: das Auge der Kamera ist ausschließlich auf das Bühnengeschehen gerichtet, das Publikum kommt nicht ins Bild (Muthspiel, Gander), Informationen zur semantischen Ebene der Musikstücke können allenfalls einem Konzertprogramm entnommen werden. Demgegenüber zeigen die beiden Live-Clips der mittleren Stilfelder („Volksmusik/World Music“ und „Dance HipHop/ Elektronik“) auch das Publikum bzw. die Gesamtsituation des Aufführungsorts (Alma, Electric Indigo). Im Bereich von „Rock-/Pop“ und „Schlager/volkstümliche Musik“ ist dies bei Live-Videos ohnehin selbstverständlich. In einem experimentellen „Clash Concerty“ wurden Aufführungskonventionen spielerisch gemixt: Schlager wurden im klassischen Andachtsritual vorgetragen, ein Stück zeitgenössischer E-Musik als Showprogramm inszeniert und dem Publikum Gelegenheit geboten, sich in Richtung Animationsritual zu bewegen. Dies wurde aufgrund des Gesamtrahmens der Veranstaltung (Saal einer Musikuniversität) jedoch nur zögerlich wahrgenommen.

7.4 INTERPRETATION: THESEN Wie sind nun diese Ergebnisse zu interpretieren? Welche Interpretationsmöglichkeiten tun sich auf? These 1: Der Raum der Kulturmuster ist nicht als Gegensatzpaar – im Sinne eines entweder elitär oder populär – zu denken, sondern als KONTINUUM, in dem sich Künstler/innen und deren Werke bzw. deren öffentliche Performances temporär – d.h. im Einzelfall auch durchaus unterschiedlich – positionieren und verorten. Das dichotome Modell „E-Musik versus U-Musik“ hat im 21. Jahrhundert seine Gültigkeit verloren. Es macht nur noch Sinn als Hinweis auf eine nach wie vor existierende Polarität des Musiklebens, steht aber gleichzeitig der Wahrnehmung der bunten Vielfalt, die sich real zwischen diesen beiden Polen ereignet, entgegen.

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Die Existenz dieser bunten Vielfalt wird durch die Ergebnisse der Studie in der Dimension „Crossover“ deutlich untermauert. Dabei kommt nun doch auch noch die Hybridität der Musik selbst als grundlegender Bestandteil der untersuchten Performances ins Spiel: Das Stilfeld „Schlager/volkstümliche Musik“ zeigt starke Crossover-Tendenzen in Richtung „Rock/Pop“. Dies kommt auch in Bezeichnungen wie „Schlager Pop“ oder „Volks-Rock’n’Roll“ zum Ausdruck und weist vermutlich auf einen gesellschaftlichen Wandel im Bereich des populären Kulturmusters hin (Gabalier: ein rurales Genre im urbanen Raum, ein Mix aus Polka, Latin und Funk). Das Stilfeld „Klassik/zeitgenössische Musik“ am anderen Ende des kulturellen Spektrums zeigt Crossover-Tendenzen in Richtung Improvisation und rockiger Körperlichkeit (BartolomeyBittmann: Clip in einer leeren Fabrikhalle, Mix aus Neuer Musik, Jazz und Rock). Bei den mittleren Stilfeldern kann die bereits für die Jahre 2000 – 2010 festgestellte Crossover-Tendenz zwischen „Jazz/improvisierter Musik“ und „Volksmusik/World Music“ erneut bestätigt werden (Fatima Spar: Mix aus Jazz, World, Tango und Pop; 5/8erl in Ehr’n: Mix aus Wienerlied, Jazz, Ska und HipHop). Das Stilfeld „Dance/HipHop/Elektronik“ strebt in verschiedene Richtungen, zeigt Hybridisierungen im Bereich der Elektronik-Künste und wird andererseits immer mehr zu Popmusik (Nazar/Falco: Rap als Pop), die sich ihrerseits retrospektiv mit ihrer Geschichte auseinandersetzt (Fijuka: Glam Rock). These 2: Zwar gibt es in jedem Stilfeld auch die Tendenz, den typischen internen Konventionen und Qualitätskriterien treu zu bleiben, insgesamt aber ergibt sich ein Bild erhöhter Durchlässigkeit und eine ‚Tendenz zur Mitte‘. Das mittlere Kulturmuster, das von Bourdieu bereits konstatiert wurde, aber von der überkommenen E-Musik/U-Musik-Klassifizierung beharrlich ignoriert wird, verbindet Form und Funktion, Abstraktheit und Konkretheit, Andacht und Animation und will weder das eine noch das andere missen. Ein wesentliches Ergebnis des Forschungsprojekts ist demnach, den Positionierungen einzelner Genres, Stile, Labels, KünstlerInnen und Projekte im Gesamtspektrum der Musik mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Der weitgehende Hybridcharakter der gegenwärtigen Musikproduktion, die Durchlässigkeit der Stilfelder und die Tendenz, sich im mittleren, gemischen Kulturmuster aufzuhalten legen einen grund-

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legenden Paradigmenwechsel nahe. Das überkommene E-/U-Musik Modell verhindert genau diese Sichtweise und wäre daher rasch zugunsten eines „Kontinuum-Modells“ zu entsorgen: Die Freiheit der musikalischen Ausdrucksformen oszilliert zwischen einem „Kunst-Pol“ (elitäres Kulturmuster) und einem „Pop-Pol“ (populäres Kulturmuster). Alle Akteure jederlei Geschlechts bewegen sich in diesem Kontinuum, Positionierungen können eindeutig oder aber auch uneindeutig und wandelbar vollzogen werden.

7.5 SKIZZE EINER THEORIE DER MUSIKPERFORMANCE Da im Forschungsprojekt „Performing Diversity“ nur filmische Sequenzen der Aufführungstypen „Konzert“ und „Musikclip“ herangezogen wurden, ergibt sich die Frage nach einer umfassenden Theorie der Musikperformance, die auch andere Rituale bzw. Musikerlebnisse berücksichtigt. Die dazu entworfene Skizze benennt 5 Typen von Musikperformances und diskutiert diese nach dem Publikumsverhalten und dem Anteil von Kommunikationsmedien. Typen: 1. Konzert (concert) 2. Tanz (dance): Veranstaltung mit Gesellschaftstanz 3. Theater&Film (theatre&film): Musik und Theater, Bühnentanz, Film, ... 4. Ritus (rite): Musik im Kontext religiöser bzw. sozialer Rituale 5. Hintergrund (background) Pole:  „Andachtsritual“ (reverent ritual): Ruhigstellung des Publikums versus „Animationsritual“ (animative ritual): Aktivierung des Publikums  „Live-Erlebnis“ (live experience): Publikum anwesend versus

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legenden Paradigmenwechsel nahe. Das überkommene E-/U-Musik Modell verhindert genau diese Sichtweise und wäre daher rasch zugunsten eines „Kontinuum-Modells“ zu entsorgen: Die Freiheit der musikalischen Ausdrucksformen oszilliert zwischen einem „Kunst-Pol“ (elitäres Kulturmuster) und einem „Pop-Pol“ (populäres Kulturmuster). Alle Akteure jederlei Geschlechts bewegen sich in diesem Kontinuum, Positionierungen können eindeutig oder aber auch uneindeutig und wandelbar vollzogen werden.

7.5 SKIZZE EINER THEORIE DER MUSIKPERFORMANCE Da im Forschungsprojekt „Performing Diversity“ nur filmische Sequenzen der Aufführungstypen „Konzert“ und „Musikclip“ herangezogen wurden, ergibt sich die Frage nach einer umfassenden Theorie der Musikperformance, die auch andere Rituale bzw. Musikerlebnisse berücksichtigt. Die dazu entworfene Skizze benennt 5 Typen von Musikperformances und diskutiert diese nach dem Publikumsverhalten und dem Anteil von Kommunikationsmedien. Typen: 1. Konzert (concert) 2. Tanz (dance): Veranstaltung mit Gesellschaftstanz 3. Theater&Film (theatre&film): Musik und Theater, Bühnentanz, Film, ... 4. Ritus (rite): Musik im Kontext religiöser bzw. sozialer Rituale 5. Hintergrund (background) Pole:  „Andachtsritual“ (reverent ritual): Ruhigstellung des Publikums versus „Animationsritual“ (animative ritual): Aktivierung des Publikums  „Live-Erlebnis“ (live experience): Publikum anwesend versus

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 „Mediales Erlebnis“ (medial experience): Publikum nimmt Aufzeichnungen oder Übertragungen audiovisuell wahr

ad1) Konzerte werden in und zwischen allen Polen realisiert: als andachtsvolle Veranstaltung, die den musikalischen Darbietungen durch das Gebot der Stille aufmerksame Referenz erweist oder als animative Veranstaltung, die das Publikum zum Mitmachen (Mitsingen, -tanzen, -klatschen, etc.) bringt und physische Aktivitäten erlaubt (auch sprechen, essen, trinken, ...). Diese beiden Formen, die rein oder gemischt auftreten, werden entweder „live“ miterlebt oder „medial“ übertragen – wobei der Grad der geistigen oder körperlichen Aufmerksamkeit bei letzterer Vermittlungsform vom Publikum je nach Situation individuell gestaltet werden kann (von vollkommener Hingabe bis zur Verwendung als Hintergrund-Beschallung). ad2) Bei Tanzveranstaltungen spielt zwar die Musik eine essenzielle und zentrale Rolle, dient aber letztlich dem Publikumstanz und der geselligen Unterhaltung. Die animative Funktion der Musik kann auch durch Speichermedien wahrgenommen werden, wobei die Bandbreite vom Tanz zu einem Laufbandprogramm über die Set-Gestaltung durch eine/n männlichen oder weiblichen DJ reichen kann. Bei prominenten Bands oder DJs kann sich ein Dance Event an ein Konzertritual annähern. ad3) Musik im Rahmen von Theater-, Tanz- oder Filmperformances ordnet sich zumeist den Anforderungen der jeweils führenden Kunstsparte unter, erfüllt eine „dienende“ Funktion und unterstützt die jeweilige Handlung des Geschehens auf der Bühne oder Leinwand. Bei Videoclips bzw. Choreographien nimmt die Musik eine führende Rolle ein, bezieht sich die andere Kunstgattung auf das musi-

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kalische Geschehen. „Live“-Events und mediale Elemente treten dabei in den unterschiedlichsten Mischformen auf (öffentliche Filmvorführung, Tanzperformance zu Musik vom Band, Videokanal im Internet, Werbespot, Computerspiel, ...). ad4) Musik im Bereich religiöser Rituale dient sowohl der andachtsvollen Kontemplation als auch der Animation der Glaubensgemeinschaft zum Mitvollzug. Dabei spielt häufig der Wechselgesang zwischen Priesterschaft und Gemeinde eine wesentliche Rolle. Soziale Situationen wie Initiation, Hochzeit oder Totenbestattung enthalten, sowohl in der religiös gestalteten Form als auch in säkularisierten Ritualen, sowohl andachtsvolle als auch animative musikalische Sequenzen. Auch sportliche und politische Rituale enthalten häufig eine musikalische Komponente (Hymnen, Parolen, Sprechchöre etc.). ad5) Zusätzlich zur allgegenwärtigen Möglichkeit, Musik „im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit“ als akustischen Hintergrund zu gebrauchen, gab und gibt es zu allen Zeiten auch absichtsvoll gestaltete Background-Musik (Tafelmusik, Ambient Music, Klanginstallation, ...). Musik in dieser Funktion hat – ähnlich einer Tapete – für eine bestimmte Raum-Atmosphäre, eine akustische Grundstimmung zu sorgen.

7.6 METHODISCHE BEMERKUNG Eine Kritik der weitreichenden Schlüsse, die hier auf der Basis einer Analyse von zwölf Musikstücken gezogen werden, könnte sich an der gewählten methodischen Herangehensweise entzünden: Inhaltsanalytische Kategorienschemata sind weitgehend textfixiert, beleuchten die Produktionsseite bzw. das Produkt und nehmen Meinungen des Publikums in der Analyse nicht ausreichend mit. Dazu ist festzuhalten, dass hier der Ansatz einer „Vergleichenden StilfelderAnalyse“ anhand von Filmdokumenten und unter Fokussierung von performanceanalytischen Aspekten realisiert wurde. In den beobachtungsleitenden Kategorien wurde auch dem Verhalten des Publikums entsprechende Aufmerksamkeit geschenkt. Erweiterungen des Materialcorpus z.B. in Richtung einer Dokumentation von Gruppendiskussionen über die gewählten Musikstücke wären interessante und nützliche Methoden für eine Weiterführung des Forschungsprojekts. In diesem Sinne könnten auch Diskursanalysen von Internetforen wertvolle Ergebnisse liefern.

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kalische Geschehen. „Live“-Events und mediale Elemente treten dabei in den unterschiedlichsten Mischformen auf (öffentliche Filmvorführung, Tanzperformance zu Musik vom Band, Videokanal im Internet, Werbespot, Computerspiel, ...). ad4) Musik im Bereich religiöser Rituale dient sowohl der andachtsvollen Kontemplation als auch der Animation der Glaubensgemeinschaft zum Mitvollzug. Dabei spielt häufig der Wechselgesang zwischen Priesterschaft und Gemeinde eine wesentliche Rolle. Soziale Situationen wie Initiation, Hochzeit oder Totenbestattung enthalten, sowohl in der religiös gestalteten Form als auch in säkularisierten Ritualen, sowohl andachtsvolle als auch animative musikalische Sequenzen. Auch sportliche und politische Rituale enthalten häufig eine musikalische Komponente (Hymnen, Parolen, Sprechchöre etc.). ad5) Zusätzlich zur allgegenwärtigen Möglichkeit, Musik „im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit“ als akustischen Hintergrund zu gebrauchen, gab und gibt es zu allen Zeiten auch absichtsvoll gestaltete Background-Musik (Tafelmusik, Ambient Music, Klanginstallation, ...). Musik in dieser Funktion hat – ähnlich einer Tapete – für eine bestimmte Raum-Atmosphäre, eine akustische Grundstimmung zu sorgen.

7.6 METHODISCHE BEMERKUNG Eine Kritik der weitreichenden Schlüsse, die hier auf der Basis einer Analyse von zwölf Musikstücken gezogen werden, könnte sich an der gewählten methodischen Herangehensweise entzünden: Inhaltsanalytische Kategorienschemata sind weitgehend textfixiert, beleuchten die Produktionsseite bzw. das Produkt und nehmen Meinungen des Publikums in der Analyse nicht ausreichend mit. Dazu ist festzuhalten, dass hier der Ansatz einer „Vergleichenden StilfelderAnalyse“ anhand von Filmdokumenten und unter Fokussierung von performanceanalytischen Aspekten realisiert wurde. In den beobachtungsleitenden Kategorien wurde auch dem Verhalten des Publikums entsprechende Aufmerksamkeit geschenkt. Erweiterungen des Materialcorpus z.B. in Richtung einer Dokumentation von Gruppendiskussionen über die gewählten Musikstücke wären interessante und nützliche Methoden für eine Weiterführung des Forschungsprojekts. In diesem Sinne könnten auch Diskursanalysen von Internetforen wertvolle Ergebnisse liefern.

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7.7 AUSBLICK Als Forderung kann formuliert werden: Die in Einstufungskommissionen von Verwertungsgesellschaften noch immer praktizierte Einteilung der Musik in eine „ernste“ und eine „unterhaltende“ sollte durch ein neutrales Modell ersetzt werden, z.B. durch eine mehrstufige Skala, deren Einstufungskriterien nicht a priori durch stilistische Zuordnungen definiert sind. Durchlässigkeit zeigt sich u.a. darin, dass auch andere Stilfelder als die abendländische Kunstmusiktradition und ihre zeitgenössischen Ausprägungen mittlerweile im Bereich akademischer Ausbildungen angekommen sind. Die in der Theorie des Theaters immer wieder angesprochene „Wiederverzauberung der Welt“ (Fischer-Lichte) findet in allen Formen von Musikveranstaltungen statt. Sowohl ein andächtiges Zuhören als auch ein animierter Vollzug körperlicher Reaktionen setzt den Zauber in Gang, der allen musikbezogenen Aufführungsritualen innewohnt. Die zum Zeitpunkt der Fertigstellung des Forschungsberichts grassierende Covid19 Pandemie hatte tiefgreifende Auswirkungen auf die Möglichkeiten, unterschiedliche Aufführungsrituale von Musik zu realisieren. Durch die gesundheitspolitische Pflicht, Abstand zu anderen Personen einzuhalten, wurde ein Rückzug auf das Andachtsritual und eine Einschränkung körperlicher Freiheiten vollzogen. Konzerte mit zugewiesenen Sitzplätzen können stattfinden, Veranstaltungen mit Animationsritual (Stehplätze, Tanz, Menschenansammlungen ohne Mindestabstand etc.) werden weitgehend unterbunden. Die Pandemie führte demnach im Bereich der Musik zu einer umfangreichen Diskriminierung und sogar Kriminalisierung populärer Kulturmuster. Wir hoffen, dass diese Einschränkungen bald der Vergangenheit angehören werden.

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Quellenverzeichnis

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356 | Aufführungsrituale der Musik

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364 | Aufführungsrituale der Musik

ABBILDUNGSVERZEICHNIS Bildergalerie Abbildung 1: Klassik (Copyright: Kim Matthäi Leland) Abbildung 2: Neue Musik (Copyright: Kate Nutt/ Topology) Abbildung 3: Der Dirigierstab (Copyright: Rita Mayers) Abbildung 4: Jazz (Copyright: mic.bruns) Abbildung 5: Traditional Jazz (Copyright: Duncan P. Schiedt) Abbildung 6: World Music (Copyright: http://www.hubertvongoisern.com) Abbildung 7: Volksmusik (Copyright: Ausser Bradlmusi) Abbildung 8: Volksmusik (Copyright: dieseer.at) Abbildung 9: Volksmusik (Copyright: Marliese Mendel) Abbildung 10: Dance / Rave (Copyright: www.essentialibiza.com) Abbildung 11: Dance / Rave (Copyright: ProtoplasmaKid) Abbildung 12: Dance / Rave (Copyright: Hannah Davies) Abbildung 13: HipHop (Copyright: Chris Willis) Abbildung 14: HipHop (Copyright: Eesy Eric Sell) Abbildung 15: Soul (Copyright: Andre Soulies) Abbildung 16: Rock (Copyright: Frédéric Loridant) Abbildung 17: Heavy Metal (Copyright: Hülya Karatay) Abbildung 18: Schlager (Copyright: Smalltown Boy) Abbildung 19: Schlager (Copyrigh: Jan-Peter Kasper) Clips Alle Screenshots (Musikvideoclips und Live-Auftritte) wurden von den Autor/innen angefertigt. Abbildung 20: Manuel Poppes Gitarrensolo über den Dächern der Stadt Bologna. Musikvideoclip „Bologna“ 1’54’’. Abbildung 21: Der Geschichtenerzähler Marco Wanda im Hintergrund Bologna. Musikvideoclip „Bologna“ 2’48’’. Abbildung 22: Marco Wandas Inszenierung als Indie-Rocker. Musikvideoclip „Bologna“ 0’47’’. Abbildung 23: Das unbekannte Liebespaar. Musikvideoclip „Bologna“ 0’14’’. Abbildung 24: Schlussapplaus und Verbeugung. Live-Auftritt 4’35’’. Abbildung 25: Marco Wandas körperlicher Einsatz dominiert die Performance. Live-Auftritt 2’35’’.

8 Quellenverzeichnis | 365

Abbildung 26: Die Erben der Tante Ceccarelli. Musikvideoclip „Bologna“ 1’47’’. Abbildung 27: Bildausschnitt aus dem Prolog. Musikvideoclip „Ca Ca Caravan“ 0’31’’. Abbildung 28: Untertitel dokumentieren die diegetischen Dialoge. Musikvideoclip „Ca Ca Caravan“ 2’56’’. Abbildung 29: Fijukas Inszenierung als Weltraumheldinnen mit optischen Rückgriffen auf die Populärkultur der 1960er Jahre. Musikvideoclip „Ca Ca Caravan“ 4’35’’. Abbildung 30: Filmisches Zitat aus „James Bond“ im Abspann. Musikvideoclip „Ca Ca Caravan“ 3’46’’. Abbildung 31: Inszenierung des Bühnenraums. Live-Auftritt „Ca Ca Caravan“ 3’19’’. Abbildung 32: Die Musikerinnen agieren als Instrumentalistinnen und Sängerinnen auf der Bühne. Live-Auftritt „Ca Ca Caravan“ 1’04’’. Abbildung 33: Electric Indigo bei ihrer Performance. Live-Auftritt Taico Club 2015 3’41’’. Abbildung 34: Optische Inszenierung auf der Bühne. Live-Auftritt Taico Club 2015 1’06’’. Abbildung 35: Mit filmtechnischen Hilfsmitteln wird ein künstliches Duett zwischen Falco und Nazar realisiert. Musikvideoclip „Zwischen Zeit & Raum“ 2’23’’. Abbildung 36: Weibliche Figur in einem Kostüm, das an Falcos Bühnenoutfit angelehnt ist. Musikvideoclip „Zwischen Zeit & Raum“ 0’48’’. Abbildung 37: Beispiel für die Sexualisierung weiblicher, namenloser Figuren. Musikvideoclip „Zwischen Zeit & Raum“ 2’24’’. Abbildung 38: Weibliche Figur in einer Zwangsjacke, die an den Musikvideoclip „Jeanny“ erinnert. Musikvideoclip „Zwischen Zeit & Raum“ 2’43’’. Abbildung 39: Optische Inszenierung der Künstler/innen beim Auftritt Nazars mit Yasmo und der Band SK Invitational am Wiener Karsplatz. Live-Auftritt am Popfest Wien 2’35’’. Abbildung 40: Beispiel für den Einsatz weiblicher, namenloser Figuren als Ausstattungselement neben dem maskulinen Rapper. Musikvideoclip „Zwischen Zeit & Raum“ 2’03’’. Abbildung 41: Beispiel für eine Rückblende, die das Paar während einer Außenaufnahme im Ausseerland zeigt. Musikvideoclip „Heut heirat die Liebe meines Lebens“ 0’36’’.

366 | Aufführungsrituale der Musik

Abbildung 42: Sassy Holzingers diegetischer Auftritt. Musikvideoclip „Heut heirat die Liebe meines Lebens“ 3’17’’. Abbildung 43: Optische Inszenierung der Seer. Musikvideoclip „Heut heirat die Liebe meines Lebens“ 0’50’’. Abbildung 44: Konzept der Showbühne. Live-Auftritt „Seer Jubiläums Open Air 2014“ 3’15’’. Abbildung 45: Showbühne mit Publikumsraum. Live-Auftritt „Seer Jubiläums Open Air 2014“ 2’28’’. Abbildung 46: Zuseherin beim Mitsingen. Live-Auftritt „Seer Jubiläums Open Air 2014“ 3’03’’. Abbildung 47: Holzinger gestikuliert in Richtung Publikum. Live-Auftritt „Seer Jubiläums Open Air 2014“, 3’21’’. Abbildung 48: Die Band performt auf der Alm (Vogelperspektive). Musikvideoclip „Heut heirat die Liebe meines Lebens“ 2’55’’. Abbildung 49: Andreas Gabalier spielt Akkordeon in einem Hamburger UBahnschacht. Musikvideoclip „I sing a Liad für di“ 2’15’’. Abbildung 50: Andreas Gabalier und das besungene „Engerl“. Musikvideoclip „I sing a Liad für di“ 2’58’’. Abbildung 51: Andreas Gabalier auf der Verlängerung der Bühne im Publikumsraum. Live-Auftritt in der Wiener Stadthalle 4’52’’. Abbildung 52: Andreas Gabalier geht auf der Verlängerung der Bühne auf und ab, während er singt. Im Hintergrund das tobende Publikum. Live-Auftritt in der Wiener Stadthalle 6’03’’. Abbildung 53: Einsatz von traditionellen und modernen Elementen. Musikvideoclip „I sing a Liad für di“ 0’04’’. Abbildung 54: Muthspiels Reaktion auf den Schlussapplaus: Präsentation der Mitmusiker. Live-Auftritt beim Jazzfest Saalfelden 3’52’’. Abbildung 55: Optische Inszenierung der Musiker. Live-Auftritt beim Jazzfest Saalfelden 0’44’’. Abbildung 56: Das Bühnenkonzept (Ausschnitt). Live-Auftritt beim Jazzfest Saalfelden 2’55’’. Abbildung 57: Beispiel für den statischen und den dynamischen PerformanceStil der verschiedenen Musiker. Live-Auftritt beim Jazzfest Saalfelden 0’44’’. Abbildung 58: Räumliche Inszenierung. Musikvideoclip „Trust“ 1’41’’. Abbildung 59: Die Band auf der Bühne eines Jazzclubs. Im Bildvordergrund ist das stehende Publikum zu sehen. Live-Auftritt in Ankara 3’36’’. Abbildung 60: Fatima Spar stellt die Band vor. Live-Auftritt in Ankara 4’45’’.

8 Quellenverzeichnis | 367

Abbildung 61: Entspannte Atmosphäre einer Jazz-Jam Session. Musikvideoclip „Trust“ 1’55’’. Abbildung 62: Volksliedwerk. Admonter Echojodler, o.S. Abbildung 63: Optische Inszenierung ALMAs auf der Waldbühne. Live-Auftritt beim Schrammel Klang Festival Litschau 2013 0’03’’. Abbildung 64: Publikumsraum und Publikumsreaktion. Live-Auftritt beim Schrammel Klang Festival Litschau 9’56’’. Abbildung 65: Performance-Stil von ALMA. Live-Auftritt beim Schrammel Klang Festival Litschau 0’26’’. Abbildung 66: Optische Inszenierung der Band. Musikvideoclip „Alaba, How do you do?“ 3’09’’. Abbildung 67: Tanzende Polizist/innen. Musikvideoclip „Alaba, How do you do?“ 2’55’’. Abbildung 68: Beispiel für geschlechtliche Stereotypen (sexuelle Belästigung). Musikvideoclip „Alaba, How do you do?“ 1’35’’. Abbildung 69: Imitation des indischen Frühlingsfests Holi. Musikvideoclip „Alaba, How do you do?“ 2’33’’. Abbildung 70: Der Priester als österreichischer Stereotyp. Musikvideoclip „Alaba, How do you do?“ 0’27’’. Abbildung 71: Inszenierung von Bühnenraum und Publikum. Live-Performance im Posthof Linz 2’33’’. Abbildung 72: Parodie „Der koksende Musiker“. Musikvideoclip „Alaba, How do you do?“ 1’25’’. Abbildung 73: Inszenierung von Bühnenraum und Publikum (im Bildvordergrund). Live-Auftritt bei den Bregenzer Festspielen 3’17’’. Abbildung 74: Der Fokus der Performance liegt auf der Sopranistin und dem Dirigenten. Live-Auftritt bei den Bregenzer Festspielen 4’34’’. Abbildung 75: Die Kamera dokumentiert die Spieltechnik der Musiker. Musikvideoclip 0’50’’. Abbildung 76: Die Fabrikshalle als Location, die Musiker agieren ohne Notenbehelf, sind legere gekleidet. Musikvideoclip 2’03’’. Abbildung 77: Inszenierung von „Bühne“ und Publikumsraum. Live-Auftritt in Traismauer 4’07’’. Abbildung 78: Beispiel für die Exotisierung einer weiblichen Figur bei Nazar. Musikvideoclip „Zwischen Zeit & Raum“ 0’38’’.

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Clash Concerty Die Fotos vom Clash Concerty stammen von DWP – Daniel Willinger Photographie. Abbildung 79: Bühne und Publikumsraum beim Schlagerzyklus (Copyright: DWP) Abbildung 80: Die Sänger/innen auf der Bühne beim Schlagerzyklus (Copyright: DWP) Abbildung 81: Der Publikumsraum beim Schlagerzyklus (Copyright: DWP) Abbildung 82: Sänger/innen und Streichertrio (Copyright: DWP) Abbildung 83: Publikum beim Schlussapplaus (Copyright: DWP) Abbildung 84: Patricia Simpson stellt sich vor (Copyright: DWP) Abbildung 85: Die Electric Band ohne Harald Huber (p) (Copyright: DWP) Abbildung 86: Publikumsraum mit Bierflaschen und Chips auf den Tischen (Copyright: DWP) Abbildung 87: Teile der Band und Patricia Simpson bei der Performance (Copyright: DWP) Abbildung 88: Verbeugung beim Schlussapplaus (Copyright: DWP) Abbildung 90: Seifenblasen im Bühnenraum (Copyright: DWP) Abbildung 91: Martina Engel (Viola) und Peter Herbert (Kontrabass) (Copyright: DWP) Abbildung 92: Maria Gstättner (Fagott) und Pepe Auer (Bassklarinette), auf dem Stuhl liegt das Concerteridoo (Copyright: DWP) Grafiken Alle Grafiken – mit Ausnahme der „Uhr der Figur“ (Eder 2008, S.141) – stammen von den Autor/innen. Grafik 1: Die Uhr der Figur, Copyright: Eder, 2008, S.141. Grafik 2: Stilfelder der Musik: Kugelmodell Harald Huber, Grafische Ausführung: Angelika Kratzig. Grafik 3: Vergleichende Stilfelder-Analyse: Stichprobe Grafik 4: Vergleichende Stilfelder-Analyse: filmische Erzählweise Grafik 5: Vergleichende Stilfelder-Analyse: Aufführungsritual Grafik 6: Vergleichende Stilfelder-Analyse: Figuren (Gender) Grafik 7: Kulturmuster (basierend auf Bourdieu 1994) Grafik 8: Vergleichende Stilfelder-Analyse: Hybridität Grafik 9: Vergleichende Stilfelder-Analyse: Musik als „Third Space“

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Anhang

9.1 LEITFADEN DER PERFORMANCE ANALYSE A Analyse des audiovisuellen Produkts  A1 Faktische Ebene: Titel des Musikstücks / Datum der Aufführung bzw. der Veröffentlichung des Musikvideos  A2 Personelle Ebene: Name des/r Interpret/in, oder der Gruppe der Interpret/innen sowie deren Geschlecht, Alter, Herkunft und kultureller Hintergrund; Verhältnis Autor/innen zu Interpret/innen  A3 Musikalische Ebene: Das Musikstück, seine Form und Besetzung, Noten, Umgang mit Genrekonventionen: Bestätigung / Überschreitung (Crossover)  A4 Literarische Ebene: Titel / Lyrics, Analyse des Songtexts / des Librettos (Bedeutungsmöglichkeiten)  A5 Räumliche Ebene: Schauplatz des Auftritts, die Situation in der dieser stattfindet (Live-Auftritt / Musikvideoclip)  A6 Performative Ebene: Analyse der Filmsequenz: Figuren, Bewegungsabläufe (statisch / dynamisch), Kameraeinstellungen, Beleuchtung, ästhetische Aspekte, u.a.  A7 Narrative Ebene: Plot des Videoclips wird kurz zusammengefasst bzw. nacherzählt, Zusammenwirken von Musik, Text und Bild  A8 Kulturelle Ebene: Stilfelderbezug, Verhältnis von Text-, Bildund Musikebene (Homologien), entstehen „Zwischenräume“ (Third Spaces)?

370 | Aufführungsrituale der Musik

B Figurenanalyse  B1 Rolle: Welche Rolle nimmt der/die Interpret/in in der Szene ein? Wie definiert sich die Funktion / der Status des/der Künstlers/in im Rahmen des Auftritts? Einfache oder komplexe Figurenkonstruktion?  B2 Inszenierung: optische Inszenierung der Figur: Kostüm / Make Up / Frisur / figurbezogene Requisite etc.  B3 Bewegung: Bewegungsrepertoire, Mimik / Gestik und wenn es sich um ein Lied handelt die Stimme / die Gesangslinie  B4 Geschlecht: Genderspezifische Darstellungen sowie Verkörperungen, Grad der Bedeutung / Dekonstruktion von Geschlecht  B5 Zitate: Bezüge zu anderen Videoclips, Songs, Personen, kulturellen oder kulturgeschichtlichen Entitäten  B6 „Die Uhr der Figur“ nach Jens Eder (Eder 2004):

o o o o

B6a „Die Figur als Artefakt“ – Gestaltung, Inszenierung des Figur B6b „Die Figur als fiktives Wesen“ – Körper, Persönlichkeit, Sozialität der Figur B6c „Die Figur als Symbol“ – indirekte Bedeutung, Symbolik/Metapher B6d „Die Figur als Symptom“ – kommunikative Ursache/Wirkung, soziokultureller Kontext

C Bühne und Publikum  C1 Gesamtkonzept: Die Bühne wird als Gesamtkonzept betrachtet. Sind Musiker/innen sichtbar, gibt es Backgroundtänzer/innen, eine Choreographie, ein Bühnenbild, Requisiten?  C2 Technik: Die Technik – als Teil der Bühne – ist ein weiterer Aspekt: das audiovisuelle Konzept, der Ton, das Licht.  C3 Bühne / Publikum: Existiert Interaktion zwischen Bühne und Publikum? Welche Regeln und Konventionen gelten für das Publikum bezugnehmend auf das Stilfeld? Gibt es Bestuhlung, darf getanzt werden, herrscht Stille, darf gesprochen/mitgesungen werden? D Zusammenfassende Interpretation  D1 Kulturen/Erfahrungswelten  D2 Musikstile  D3 Performance Stil  D4 WAS konstituiert der Interpret / die Interpretin kulturell?

9 Anhang | 371

  

D5 WIE macht sie / er das (in Bezug auf die Konventionen des Stilfeldes)? D6 Wie und in welcher Form finden Übersetzungen (Translationen) statt? D7 Ergebnisse der Analyse des Aufführungsrituals

9.2 FRAGEBOGEN: CUBE: »A JOURNEY INTO JAZZ« Liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Projekt „Crossover Orchester der mdw“! Im Projektantrag heißt es u.a.: „Die verschiedenen Translationsprozesse zwischen der sogenannten „Klassik“ und der sogenannten „Popularmusik“, die eine lange Geschichte haben und beständig neue Aktualität gewinnen, sollen bei CUBE: „A Journey Into Jazz“ dokumentiert werden. Die Mitwirkenden der beteiligten Institute (Musikleitung/Pro Arte Orchester, Jazz/Popularmusik, Schauspiel & Schauspielregie,...) sollen die bei der Probenarbeit und den Aufführungen vor sich gehenden Übersetzungsprozesse beobachten.“ Dieses Projekt ist Teil des Gesamtprojekts „Performing Translation“ der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Dabei geht es institutsübergreifend um die Untersuchung von Übersetzungsprozessen und deren künstlerische, wissenschaftliche und pädagogische Darstellung. Die Kooperation von Musikerinnen und Musikern aus Klassik und Popularmusik ist ein Feld, in dem eine Vielzahl von Translationen (Übersetzungen) stattfindet. Im Sinne der Erfassung dieser Erfahrungen ersuchen wir um die Beantwortung der nachstehenden Fragen. Der Fragebogen kann einzeln oder besser noch zu zweit ausgefüllt werden: als gegenseitig protokolliertes, kurzes Interview. Abgabetermin: Freitag, 8. Mai 2015, 19 Uhr Vielen Dank, Horst Michael Schaffer, Harald Huber & Lena Fürnkranz  Welche Rolle (Instrument, Dirigent/in,...) spielen Sie/spielst du im Projekt „A Journey Into Jazz“?  Welchen Bereich würden Sie/würdest du als deine musikalische Herkunft (Klassik, Jazz/Pop, ...) bezeichnen?  Wie erleben Sie/erlebst du die Begegnung von Klassik und Jazz/Pop?

372 | Aufführungsrituale der Musik

 Welche Herausforderungen stellen sich und wie werden sie bewältigt?  An welchen Stellen bzw. in welchen Situationen muss Neues gelernt werden (bitte um ein konkretes Beispiel)?  Welche Unterschiede gibt es zwischen den Aufführungsritualen in Klassik und Jazz/Pop?  Was nehmen Sie / nimmst du aus dem Projekt für dich mit? Vielen herzlichen Dank!

9.3 GLOSSAR: FILMTECHNISCHE BEGRIFFE Panorama(-Einstellung) bzw. Extreme Long Shot (ELS, XLS) „Panorama (z.B. eine Landschaft, in der Figuren nur klein erscheinen)“ (Rother (Hg.), Sachlexikon Film, S.73) Totale bzw. Long Shot (LS) „Totale (eine Gruppe von Personen, die jeweils zur Gänze im Bild zu sehen sind, sowie ein Großteil ihrer Umgebung)“ (Rother (Hg.), Sachlexikon Film, S.73) Halbtotale bzw. Full Shot (FS)/Full Figure Shot „Halbtotale (eine Person, mit ihrer unmittelbaren Umgebung vollständig erfasst)“ (Rother (Hg.), Sachlexikon Film, S.73) Amerikanische Einstellung/Halbnah(-Einstellung) bzw. Medium Long Shot (MLS)/Three-Quarters Shot/American Shot „Halbnah (Personen oder Gruppen, die nicht mehr von Kopf bis Fuß, jedoch etwa mit zwei Drittel ihrer Größe im Bild erscheinen)“ (Rother (Hg.), Sachlexikon Film, S.73) Nah(aufnahme) bzw. Medium Shot (MS)/Midshot/Mid-Shot „Nahaufnahme. Eine Einstellung, bei der z.B. Personen mit einem Teil ihres Körpers (etwa bis zur Hüfte) sichtbar sind.“ (Monaco, Film und neue Medien, S.114) Medium Close-Up (MCU)/Loose Close-Up/Close Shot (CS)/Head and Shoulders Close-up „close shot (CS) (1) A shot somewhere between a medium shot and close-up; generally one that shows a character's head and shoulders with some back-

9 Anhang | 373

ground. (2) Sometimes used synonymously for close-up.“ (Konigsberg, The Complete Film Dictionary, S.62) Groß(aufnahme) bzw. Close-Up (CU) „Großaufnahme (Close-up). Sehr nahe Einstellung, die z.B. nur den Kopf eines Schauspielers zeigt.“ (Monaco, Film und neue Medien, S.76) Detail(aufnahme) bzw. Extreme Close-Up (ECU oder XCU)/Big Close-Up (BCU)/Detail Shot „Detail-Aufnahme. Einstellung, die nur einzelne Gegenstände, z.B. eine Hand, ein Auge, eine Tasse, wiedergibt.“ (Monaco, Film und neue Medien, S.43)

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Abstract des Forschungsprojekts „Performing Diversity“ mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien Harald Huber und Magdalena Fürnkranz (Institut für Popularmusik) Wien 2017 Das Projekt Performing Diversity setzte sich mit Aufführungsritualen der Musik auseinander. In Form von qualitativen Fallstudien wurden Differenzen und Diffusionen zwischen den Stilfeldern „Klassik/zeitgenössische Musik“, „Jazz/ improvisierte Musik“, „Volksmusik/World Music“, „Dance/HipHop/Elektronik“, „Rock- & Popmusik“ sowie „Schlager/volkstümliche Musik“ erkundet. Der Fokus lag auf Crossover-Phänomenen der gegenwärtigen Musiklandschaft. Analysiert wurden musikalische und kulturelle Zwischenräume, in denen Neues entsteht. Die Dokumentation und Analyse von Aufführungsritualen wurde anhand von Bild- und Sequenzanalysen (Musikvideos und Live-Dokumentationen) geleistet. Die Stichprobe setzte sich aus österreichischen Musik-, Bild- und Filmbeispielen der Jahre 2010 bis 2015 zusammen. Musikstücke von österreichischen KünstlerInnen wie Wanda, Fijuka, Electric Indigo, Nazar, Andreas Gabalier, Die Seer, Christian Muthspiel, Fatima Spar, ALMA, 5/8erl in Ehr’n, Bernhard Gander und BartolomeyBittmann waren Bestandteil des Samples. Gefragt wurde nach der Art und Weise der „Konstitution von Kultur“ auf Basis der Analyse der Figuren, die im theatralen Rahmen einer Musikperformance auftreten. Die vergleichende Stilfelder-Analyse erfolgte anhand folgender drei Dimensionen: performanceanalytische Aspekte (filmische Erzählweisen und Aufführungsrituale), genderspezifische Aspekte (Figuren und Geschlechtskonstruktionen) und kulturtheoretische Aspekte (soziale Ungleichheit und Formen der Hybridität). Neben zahlreichen retrospektiven Tendenzen konnte auch eine hohe Durchlässigkeit zwischen den Stilfeldern festgestellt werden. Das starre binäre E-Musik-/U-Musik-Modell ist in der Realität längst durch ein Kontinuum zwischen einem „elitären“ und einem „populären“ Pol ersetzt worden. Auch das andächtige Konzertritual und das physisch aktive Animationsritual existieren nicht nur in reiner Form, sondern auch in mannigfachen Mischungen.

9 Anhang | 375

9.4 ABSTRACT OF THE RESEARCH PROJECT „PERFORMING DIVERSITY“ mdw – University of Music and Performing Arts Vienna Harald Huber and Magdalena Fürnkranz (Institute for Popular Music) Vienna 2017 The interdisciplinary research project Performing Diversity dealt with rituals of music performance. To this end, qualitative case studies were used to explore distinctions and diffusions between the musical style fields of „Classical / Contemporary music”, „Jazz / Improvised music”, „Folk music / World music”, „Dance / HipHop / Electronic music”, „Rock & Pop“ and „Schlager / Folkloristic music”. The focus was on crossover phenomena in today’s musical landscape, with analysis being devoted to musical and cultural spaces-in-between where new things can come about. The documentation and analysis of performance rituals was done with reference to images and sequences (music videos and live documentations). The sample was comprised of Austrian musical, pictorial, and filmic creations from between 2010 and 2015. These included musical works by Austrian artists and bands such as Wanda, Fijuka, Electric Indigo, Nazar, Andreas Gabalier, Die Seer, Christian Muthspiel, Fatima Spar, ALMA, 5/8erl in Ehr’n, Bernhard Gander, and BartolomeyBittmann. The main objective was to discern – based on analysis of the figures that appear in the theatrical setting of a musical performance – how the „constitution of culture“ takes place. Alongside numerous retrospective tendencies, the researchers also ascertained a high degree of permeability between the musical style fields. In fact, the traditional and decidedly binary „serious/entertainment“ music model has long since been replaced by a continuum between „elitist“ and „popular“ poles. And the reverent ritual of the concert, as well as the physically active animation ritual, no longer exist solely in their pure forms, but in a multitude of different mixtures.

376 | Aufführungsrituale der Musik

9.5 ÜBER DEN AUTOR/DIE AUTORIN Univ. Prof. Mag. Dr. Harald Huber Geb. 1954 in Lilienfeld/NÖ, Studium von Musikpädagogik und Philosophie/Psychologie (Lehramt) sowie Komposition/Elektroakustik und Soziologie (Universität und IHS Wien). Seit 1981 Lehrtätigkeit an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, Aufbau des Instituts für Popularmusik (ipop), Leitung des wissenschaftlichen Bereichs des ipop, habilitiert seit 2004 für das Fach „Theorie und Geschichte der Popularmusik“ (Habilitationsschrift „Der Song und die Stilfelder der Musik“). Seit 2006 Präsident des Österreichischen Musikrats (ÖMR), 2005-2010 Vorstandsmitglied des European Music Council, seit 2007 Delegierter beim „World Forum on Music". Mitglied der ARGE „Kulturelle Vielfalt“ der Österreichischen UNESCO Kommission. Bis 2019 Mitglied der Arbeitsgruppen „Performing Translation“ und „Transkulturalität“ der mdw, Mitherausgeber von West Meets East. Musik im interkulturellen Dialog und Transkulturelle Erkundungen. Wissenschaftlich-künstlerische Perspektiven. Künstlerische Tätigkeit als Komponist und Pianist. Univ.-Ass.in Mag.a Dr. in Magdalena Fürnkranz Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft mit Schwerpunkt Gender Studies in Wien (2004-2008). Doktoratsstudium der Philosophie (2008-2015). Dissertation über die De/Konstruktion weiblicher Herrschaft im Film anhand der Figur Elizabeth I. von England. Von 2013-2019 Universitätsassistentin (prae doc / post doc) am Institut für Popularmusik der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, sowie Projektmitarbeiterin beim Forschungsprojekt „Performing Diversity“. Seit 1. Mai 2019 Senior Scientist ebenda. Mitinitiatorin des „PopNet Austria“ und Organisatorin des seit 2014 stattfindenden interdisziplinären Symposions zur Popularmusikforschung in Österreich an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (gemeinsam mit Dr. Harald Huber). Sie ist Mitherausgeberin von Performing Sexual Identities. Nationalities on the Eurovision Stage (2017) und Autorin von Elizabeth I in Film und Fernsehen. De/Konstruktion von weiblicher Herrschaft (2019).

Musikwissenschaft Dagobert Höllein, Nils Lehnert, Felix Woitkowski (Hg.)

Rap – Text – Analyse Deutschsprachiger Rap seit 2000. 20 Einzeltextanalysen Februar 2020, 282 S., kart., 24 SW-Abbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4628-3 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4628-7

Helen Geyer, Kiril Georgiev, Stefan Alschner (Hg.)

Wagner – Weimar – Eisenach Richard Wagner im Spannungsfeld von Kultur und Politik Januar 2020, 220 S., kart., 6 SW-Abbildungen, 5 Farbabbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4865-2 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation, ISBN 978-3-8394-4865-6

Rainer Bayreuther

Was sind Sounds? Eine Ontologie des Klangs 2019, 250 S., kart., 5 SW-Abbildungen 27,99 € (DE), 978-3-8376-4707-5 E-Book: 24,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4707-9

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Musikwissenschaft Eva-Maria Houben

Musical Practice as a Form of Life How Making Music Can be Meaningful and Real 2019, 240 p., pb., ill. 44,99 € (DE), 978-3-8376-4573-6 E-Book: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4573-0

Marianne Steffen-Wittek, Dorothea Weise, Dierk Zaiser (Hg.)

Rhythmik – Musik und Bewegung Transdisziplinäre Perspektiven 2019, 446 S., kart., 13 Farbabbildungen, 37 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4371-8 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4371-2

Johannes Müske, Golo Föllmer, Thomas Hengartner (verst.), Walter Leimgruber (Hg.)

Radio und Identitätspolitiken Kulturwissenschaftliche Perspektiven

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de