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German Pages 153 [156] Year 1986
Nationalismus in vorindustrieller Zeit
Studien zur Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts
Abhandlung der Forschungsabteilung des Historischen Seminars der Universität zu Köln Band 14 »Neunzehntes Jahrhundert« Forschungsunternehmen der Fritz-Thyssen-Stiftung
Nationalismus in vorindustrieller Zeit Herausgegeben von Otto Dann
R. OLDENBOURG VERLAG MÜNCHEN 1986
Gedruckt mit Unterstützung der Fritz-Thyssen-Stiftung.
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Nationalismus in vorindustrieller Zeit / hrsg. von Otto Dann. - München: Oldenbourg, 1986. (Studien zur Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts; Bd. 14) ISBN 3-486-52941-2 NE: Dann, Otto [Hrsg.]; GT
© 1986 R. Oldenbourg Verlag GmbH, München Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Ubersetzung, des Nachdrucks, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege sowie der Speicherung und Auswertung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben auch bei auszugsweiser Verwertung vorbehalten. Werden mit schriftlicher Einwilligung des Verlages einzelne Vervielfältigungsstücke für gewerbliche Zwecke hergestellt, ist an den Verlag die nach § 54 Abs. 2 Urh.G. zu zahlende Vergütung zu entrichten, über deren Höhe der Verlag Auskunft gibt. Gesamtherstellung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe GmbH, Kirchheim ISBN 3-486-52941-2
Inhaltsverzeichnis Einleitung des Herausgebers
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Benedykt Zientara ( f ) : Populus - Gens - Natio. Einige Probleme aus dem Bereich der ethnischen Terminologie des frühen Mittelalters
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Helmut Beumann: Zur Nationenbildung im Mittelalter
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Frantisek Graus: Nationale Deutungsmuster der Vergangenheit in spätmittelalterlichen Chroniken
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Horst Pietschmann: Zum Problem eines frühneuzeitlichen Nationalismus in Spanien. Der Widerstand Kastiliens gegen Kaiser Karl V
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G. R. Elton: English National Selfconsciousness and the Parliament in the 16th Century.
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Andreas Kappeler: Nationalismus im Vielvölkerreich Rußland?
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Eberhard Weis: Die Bedeutung von Absolutismus und Revolution für den französischen Nationalstaat und das französische Nationalbewußtsein
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Theodor Schieder ( f ) : Friedrich der Große - eine Integrationsfigur des deutschen Nationalbewußtseins im 18. Jahrhundert?
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Wolfgang Frühwald: Die Idee kultureller Nationbildung und die Entstehung der Literatursprache in Deutschland
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Bibliographie zum Proto-Nationalismus in Europa
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Nationalismus in vorindustrieller Zeit Einleitung des Herausgebers
Dieser Band enthält die um einige Studien erweiterten Beiträge eines Kolloquiums, das im Jahre 1983 anläßlich des 75. Geburtstages von Theodor Schieder in Köln stattgefunden hat. Auf einen Vorschlag von Theodor Schieder ging auch die Formulierung des Themas zurück, die wir beibehalten - trotz kritischer Rückfragen während des Kolloquiums. Zwei Erläuterungen seien deshalb vorausgeschickt: 1. Der Titel „Nationalismus in vorindustrieller Zeit" ist nicht als eine These zu verstehen. Es soll nicht behauptet, sondern eher gefragt werden: In welchem Maße hat es nationale Entwicklungen und Bewegungen in .vorindustrieller Zeit' gegeben? Von wem wurden sie getragen? In welchem argumentativen Umfeld waren sie angesiedelt? Und nicht zuletzt: Ist es berechtigt, hier bereits von .Nationalismus* zu sprechen? D i e leitende Fragestellung dieses Bandes geht aus von dem modernen Nationalismus des 19. und 20.Jahrhunderts. Sie wendet sich zurück auf dessen Wurzeln und Vorformen. Es steht außer Frage, daß nationale Entwicklungen in den europäischen Gesellschaften schon im Mittelalter anzutreffen sind, sich seitdem verstärkt und ausgeweitet haben. Eine breite Forschung, vor allem zu den Ländern Osteuropas, hat sie erschlossen, und auch für die deutsche Geschichte des Mittelalters sind diese Fragestellungen erneut aufgegriffen worden. 1 Umso mehr stellt sich die Frage: Haben wir es hier mit vormodernen Besonderheiten zu tun? Oder gibt es in Europa ein großes Kontinuum nationaler Entwicklungen, von denen dessen Geschichte seit dem 10.Jahrhundert geprägt ist? W e n n man zu einer solchen Annahme bereit ist - wofür es gute Gründe gibt - , werden zwei Fragen wichtig: Worin besteht das Gemeinsame dieser nationalen Prägung der europäischen Geschichte, das sie von anderen Epochen und Regionen unterscheidet? Und: welche Zäsuren hat es innerhalb dieser tausendjährigen Geschichte von Nationen in Europa gegeben? Wann und mit welchen Kriterien kann man den modernen von einem .vormodernen' Nationalismus unterscheiden? 2. In diesem Zusammenhang kann der Titelbegriff .vorindustriell' mißverständlich sein. Mit ihm sollte nicht behauptet werden, die neuzeitliche Industrialisierung sei die wichtigste Bedingung für die Entstehung des modernen Nationalismus. Gemeint ist vielmehr der Epocheneinschnitt der industriell-politischen .Doppelrevolution', die seit der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts alle Gesellschaften erfaßt hat. Die politische Seite dieser Doppelrevolution war für die Entwicklung des mo-
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Beispielhaft verwiesen sei auf: Frantiäek Graus, Die Nationsbildung der Westslawen im Mittelalter, Sigmaringen 1980, und: Helmut Beumann und Werner Schröder (Hrsg), Aspekte der Nationenbildung im Mittelalter, Sigmaringen 1978. Dazu auch die Beiträge von Helmut Beumann und FrantiSek Graus in diesem Bande!
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Einleitung
dernen Nationalismus sogar wesentlich bedeutsamer als die industrielle. Von daher ist es, genauer genommen, das Datum von ,1789', die moderne, bürgerlich-demokratische Revolution, die hier als die entscheidende Epochenschwelle in der Geschichte des Nationalismus betrachtet wird.2 Nun haben die Diskussionen auf dem Kölner Kolloquium sowie viele vorhergehende gezeigt, wie schwierig es beim heutigen Stande der Forschung ist, zu einer allseits befriedigenden Definition des .Nationalismus in vorindustrieller Zeit' und seiner Erscheinungsformen zu gelangen. In dieser Situation scheint es angebracht, einleitend die verschiedenen Entwicklungen und Problemstellungen zu benennen und voneinander abzugrenzen, die in dieser Diskussion eine Rolle spielen: 3 1. Grundlegend ist der Prozeß der Nationsbildung, das Auftreten von Nationen als neuer staatsbildender Kraft, das seit dem Zerfall des Karolingerreiches in der europäischen Geschichte zu beobachten ist. Bestimmte führende Bevölkerungsgruppen, die durch eine gemeinsame Sprache und andere Merkmale verbunden waren, hatten auf der Grundlage dieser Homogenitäten ihre Beziehungen intensiviert, um gemeinsame gesellschaftliche Interessen zu verfolgen. Ein neues Gemeinschaftsbewußtsein, das Nationalbewußtsein, wurde damit zur Grundlage von neuen gesellschafdichen Zielvorstellungen. Sie fanden im politischen Bereich ihren deutlichsten Ausdruck in einer gemeinsamen Staatsgründung. Träger einer solchen Nationsbildung waren zunächst nur die führenden Schichten der Bevölkerung: der Adel, der sich zur Wahl eines nationalen Königtums zusammentat, von Anfang an auch der Klerus als die Intelligenzschicht, die dem Nationalbewußtsein geistig und konzeptionell Ausdruck verlieh; seit dem Hochmittelalter kam besonders die neue Laienintelligenz hinzu und schließlich weitere nichtadlige Bevölkerungsschichten. Es bleibt festzuhalten, daß diese Nationen, auch von ihrem Anspruch her, nie ein gesamtes Volk umfaßten, sondern stets nur die Schichten der Bevölkerung, die nationales Bewußtsein entwickelt hatten und dieses in soziale Aktionen umsetzten (von daher z. B. die Begriffsprägung ,Adelsnation"). 2. In einem engen Zusammenhang mit dem Vorgang der Nationsbildung ist die Herausbildung von nationalen Ideologien zu sehen. Seit dem Spätmittelalter stößt man in den europäischen Ländern auf Dokumente, in denen einzelne Völker in ihrer Gesamtheit als Abstammungsgemeinschaften zum Subjekt gemacht werden, und als deren Bezeichnung spielt der Nationsbegriff eine ganz neue Rolle. Diese 2
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Es gibt in unserem Sprachbereich noch immer keinen befriedigenden Begriff für die Kennzeichnung dieser epochalen Abgrenzung. Das Begriffspaar modern - vormodern, das in diesem Zusammenhang oft gebraucht wird, erscheint uns noch weitaus problematischer; denn wann beginnt die Moderne? Angesichts dieses Dilemmas stellt der Terminus ,vorindustriell' eine Verlegenheitslösung dar. Es bleibt nach einer besseren Lösung zu suchen. Der Begriff Proto-Nationalismus bietet sich an. Vgl. dazu unten S. 10. Das Folgende stellt den Versuch dar, die wichtigsten realgeschichüichen Phänomene auf den Begriff zu bringen und voneinander abzugrenzen. Das konnte nur durch Abstraktion, Typisierung und eine Verkürzung der komplizierten Sachverhalte erreicht werden. Für die tatsächliche Komplexität der Vorgänge sowie die Probleme der Quellensprache und des Begriffsgebrauchs, die hier ausgeklammert werden, sei auf die differenzierten Ausführungen in den Beiträgen von Helmut Beumann, FrantiSek Graus und Benedikt Zientara in diesem Bande verwiesen.
Nationalismus in vorindustrieller
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.Nationen' wurden auch als die Träger einer eigenen nationalen Geschichte gesehen. Einzelne Personen von besonderer historischer Bedeutung wurden herausgestellt und zu nationalen Symbolfiguren stilisiert: die Anfänge einer nationalen Ideologiebildung, in der auch nationale Stereotype und Vorurteile bald eine Rolle spielten. Ein Zusammenhang mit frühnationalen Bewegungen war für diese Vorgänge häufig konstitutiv, so daß viele hier den Ursprung des europäischen Nationalismus sehen. 3. Von besonderer Bedeutung für die Nationsbildung und die Entstehung nationaler Ideologien im frühneuzeitlichen Europa wurde der Prozeß der modernen Staatsbildung. Der territoriale Verwaltungsstaat, dessen Durchsetzung seit dem Spätmittelalter das politische Geschehen in Europa beherrschte, war bemüht um eine administrative Durchdringung seines Herrschaftsgebietes, um eine Integration seiner Untertanen zu einer einheitlich verfaßten Staatsbevölkerung, und er brauchte dazu eine neue Legitimierung politischer Herrschaft. Von daher war er interessiert an der Herausbildung einer gemeinsamen politischen Identität innerhalb des Staatsvolkes, und als deren Bezugspunkt spielte neben der Person des Fürsten das Nationale eine neue, wichtige Rolle. Die gesellschaftlichen Gruppen, die die moderne Staatsbildung trugen, bedienten sich zunehmend nationaler Vorstellungen und Argumentationen zur Begründung ihres politischen Handelns. So konnte der moderne Territorial- und Verwaltungsstaat zu einem Nationalstaat werden, in dem die .Nation' als der Träger des Staates galt, politische Interessen und Aktionen national legitimiert wurden und die Förderung von Nationalbewußtsein zur staatlichen Angelegenheit wurde. Die politischen Repräsentanten dieser Nationen waren das Königtum und der Adel, institutionalisiert oft in der Form eines ständisch geprägten Parlamentes. Doch als konzeptionelle Träger des frühmodernen Nationalstaates spielten bürgerliche Gruppen, vielfach im Dienste des fürstlichen Verwaltungsstaates stehend, eine immer wichtigere Rolle. So ist es nicht verwunderlich, daß das moderne Bürgertum im Zuge seines Kampfes um politische Rechte sich auch der nationalen Legitimierung bediente. Dies geschah jedoch - seit dem Ausgang des 18.Jahrhunderts - auf eine ganz neue Art: Das gesamte Volk wurde nun zum Träger der Nation erklärt, dem die politische Souveränität zustehe, und dieses Prinzip der Volkssouveränität bekam dadurch eine revolutionierende Kraft, daß es mit der Forderung nach Menschen- und Bürgerrechten verbunden wurde. Die politische Verkörperung der Nation war nicht mehr eine Angelegenheit der privilegierten Stände, sondern aller Mitglieder des Volkes, denen das Recht auf persönliche Freiheit und rechtliche Gleichheit zustand. Damit war ein neues Modell der politischen Gesellschaft in Europa entstanden: die Nation der gleichberechtigten Staatsbürger. Sie wurde zum obersten Orientierungswert politischer Loyalität. Um dieses neue Konzept einer nationalen Gesellschaft politisch durchzusetzen, entstanden seit Ende des 18.Jahrhunderts nationale Bewegungen und Organisationen. Sie markieren den Beginn des spezifisch modernen Nationalismus. Dieser Nationalismus, der im 19. und 2O.Jahrhundert eine variantenreiche Entwicklung durchmachte, geht mit vielen Kontinuitäten auf vormoderne Traditionen zurück; doch sind seine neuen Merkmale unverkennbar. Seit dem Mittelalter bereits gab es in Europa entwickelte Nationalitäten mit eigenem Nationalbewußtsein;
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Einleitung
es gab die politische Nation als staatsbildende Kraft, die jedoch stets begrenzt blieb auf bestimmte soziale Schichten; und es gab seit dem Mittelalter eine nationale Ideologiebildung, die der modernen kaum nachstand. Obwohl es also vor ,1789' bereits Nationalbewußtsein, Nationen und nationale Ideologien gegeben hat, ist es doch unverkennbar, daß mit der bürgerlich-demokratischen Revolution sich ein qualitativ neuer Nationalismus entwickelte, der bis heute im Zeichen von Volkssouveränität und Menschenrechten steht und die Nation zum obersten Wert politischer Loyalität macht. Von daher wäre in der Tat zu fragen, ob man nicht den Terminus Nationalismus auf seine modernen Formen beschränken sollte; denn erst im 19. und 20.Jahrhundert wurde der Nationalismus zu einer spezifisch modernen Massenbewegung, einer jener Bewegungen, die wir mit einem -ismus-Begriff bezeichnen. Für die früheren nationalen Vorgänge wäre nach einer anderen terminologischen Bezeichnung zu suchen. Wir plädieren für den Begriff Proto-Nationalismus, der von dem spanischen Historiker Maraval u. a. ins Spiel gebracht wurde.4 Analog dem vieldiskutierten Begriff der Proto-Industrialisierung wäre er dazu geeignet, die verschiedenen Frühformen von Nationalismus unter einen Oberbegriff zu bringen und zugleich die Kontinuitätsbezüge zum .modernen' Nationalismus deutlich zu machen. Die in diesem Bande versammelten Beiträge, die mehr oder weniger mit den in Köln gehaltenen Vorträgen identisch sind, sprechen in ihrer Thematik für sich und bedürfen keiner gesonderten Einführung. Ebenso wird darauf verzichtet, besondere Erklärungen dafür zu geben, warum dieses oder jenes Land, dieser oder jener Proto-Nationalismus hier nicht behandelt wird. Wir sind froh, daß es nach der Kölner Tagung gelungen ist, eine solche Vielzahl kompetenter Studien einem größeren Publikum präsentieren zu können. Dafür ist ein vielfältiger Dank abzustatten: zuerst der Fritz-Thyssen-Stiftung, die nicht nur das Kolloquium, sondern auch die Drucklegung dieses Bandes unterstützt hat; sodann allen, die zum Zustandekommen des Kolloquiums und seiner fruchtbaren Diskussionen beigetragen haben; nicht zuletzt aber den Referenten der Tagung und den Beiträgern dieses Bandes. Hier stockt die Feder; denn zwei von ihnen sind nicht mehr unter uns: Benedykt Zientara, gestorben am 11. Mai 1983, der schon an dem Kolloquium nicht mehr teilnehmen konnte, und Theodor Schieder, der am 8. Oktober 1984 starb, nachdem er als Letztes seinen Beitrag für diesen Band fertiggestellt hatte. Ihrem ehrenden Angedenken sei dieses Buch gewidmet. Otto Dann
* Vgl. dazu Näheres im Beitrag von Horst Pietschmann, unten S.62 Anm. 19.
Populus - Gens - Natio. Einige Probleme aus dem Bereich der ethnischen Terminologie des frühen Mittelalters* Benedykt Zientara (j*)
1. Wenn wir in der sogenannten Bibel der Königin Sophie, einem der polnischen Literaturdenkmäler des 15.Jahrhunderts, lesen: „So wie alle Nationen (narodowie) um uns herum, setzen auch wir uns einen König an die Spitze", oder: „Er erniedrigt sämtliche Nationen (narodow), die sich jemals gegen euch erheben werden", könnte man meinen, daß unsere Vorfahren aus der Zeit des Königs Jagiello das Wort „Nation" (narod) ähnlich verstanden wie wir heute. Beim weiteren Lesen jedoch entstehen Zweifel. In dem Satz: „Der Arm Gottes selbst und der göttliche Krieg werden gegen Amalek sein von einer Nation zur anderen (od naroda do narodu)", stimmt die bis jetzt angenommene Bedeutung ganz offensichtlich nicht. Was bedeutet hier das Wort „Nation" (narod)? Viel deutlicher drücken dies weitere Texte aus. „Es sind hier die Geschlechter (narodowie) Arons und Moses' an dem Tag, an dem der Herr zu Moses auf dem Berge Sinai gesprochen hatte". In beiden Fällen ist das W o r t „Nation" eine Übertragung des lateinischen Wortes „generatio", das schon zur damaligen Zeit auch mit „Generation" übersetzt wurde. Heute würden wir es in diesem Satz eher mit dem Terminus „Geschlecht" wiedergeben. In der Feststellung: „Diese Zahl der Söhne Israels hatte ihre 6 0 0 0 0 0 Nationen (narodow) in den Häusern" steht „Nation" für „Familie". Dagegen begegnen wir in den Gerichtsbüchern aus Masowien dem Ausdruck: „habuisti progeniem vulgariter naroth", wo „Nation" (naröd) einfach „Nachkommenschaft" bedeutet. 1 W i r sind hier auf verschiedene Entwicklungsetappen der Bedeutung des Wortes „Nation" gestoßen: einige Bedeutungen verschwanden langsam im 15.Jahrhundert, andere gewannen an Gewicht und verdrängten jene älteren Bedeutungen aus dem Wortschatz der Polen. Etymologisch gesehen ist diese Entwicklung folgerichtig verlaufen: „narod" (Nation) k o m m t von dem Verb „narodzic" (gebären, zur Welt bringen), also mußte dieses Wort in erster Linie die Nachgeborenen bezeichnen, dann Menschen gemeinsamer Abstammung: Familie, Sippe/Geschlecht, Stamm. Selbst heute sind die Grenzen zwischen diesen Begriffen in der polnischen Sprache nicht sehr deuüich: in der patriotischen Lyrik oder in feierlichen Ansprachen ist anstelle von „polnischer Nation" die Rede vom „königlichen Piastengeschlecht"
* Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Populus - Gens - Natio. Z zagadnien wczesnosredniowiecznej terminologii etnicznej." zuerst erschienen in der Festschrift für Aleksander Gieysztor: „Cultus et cognitio. Studia z dziejów sredniowiecznej kultury", Warszawa 1976, S. 673-682. Er wird hier erstmals in deutscher Übersetzung vorgelegt Benedykt Zientara verstarb am 11. Mai 1983 in Warschau im Alter von 54 Jahren. 1 Beispiele zusammengestellt in: Slownik staropolski (Altpolnisches Wörterbuch), Bd.IV, Breslau 1965-1969, S.91 ff.
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Benedykt Zientara
(krolewski rod Piastowy) oder: „Der polnische Stamm hat ihn hervorgebracht" (polskie go wydalo plemif). 2 In den Sozialwissenschaften haben alle diese Begriffe die Bedeutung exakt definierter wissenschaftlicher Termini erhalten, und sie durcheinanderzubringen ist ein Verstoß gegen die Regeln des logischen Denkens. Viele Leute jedoch nehmen nach wie vor an, daß wie eine Sippe eine Summe von Familien bedeutet, die von einem gemeinsamen Vorfahren abstammen, so eine nationale Gemeinschaft Menschen gemeinsamer Abstammung verbindet Sie wollen gerne glauben, daß die heutigen Polen vorwiegend Nachkommen der Untertanen Mieszkos I. sind; nationale Bande verbinden die heutigen Polen so stark mit den früheren Bewohnern Polens, daß sie das Pronomen „wir" oft auf die vergangenen Generationen ausdehnen. „Wir empfingen die Taufe im Jahre 966", „wir siegten bei Tannenberg", „uns lohnten die Habsburger den Entsatz Wiens mit schnödem Undank" - hört man oft in historischen Diskussionen, sogar im Schulunterricht. 3 Im Mittelalter war man allgemein der Ansicht, daß Menschen, die eine Nation bilden, eine gemeinsame Herkunft haben. Die als unumstößliche Wahrheit geltende biblische Mythologie verstärkte noch diese Überzeugung. Nach der Bibel stammen alle Menschen von einem Urvater ab - Adam, und die einzelnen Nationen von den Nachkommen der drei Söhne Noahs. Aber auch unabhängig vom Christentum meinten die mythologischen Traditionen verschiedener Völker, daß bestimmte Völker durch die Person eines gemeinsamen Vorfahren miteinander verwandt seien (z. B. Mannus bei den Germanen). Diese Verwandtschaft (die ihren Ausdruck in den von Eltern auf Kinder übertragenen Blutsbanden finde) würde sich in gemeinsamen physischen und psychischen Eigenschaften der Mitglieder einer Nation äußern. Mit dem Blut würden die Eltern ihren Kindern Charaktereigenschaften und Veranlagungen weitergeben: auf dieser Basis sind Theorien über gute und schlechte Nationen entstanden; die letzteren könne man - angeblich nicht ändern, weil sie das Böse schon im Blut hätten. Solche häufig im Altertum und Mittelalter vertretenen Theorien fanden auch später viele Anhänger. Besonders im 19.Jahrhundert entstanden anthropologische Schulen, welche eine Wertskala der Nationen und Menschenrassen einführten. 4 Sogar der österreichische Soziologe Otto Bauer, ein Sozialdemokrat, der von der Rassenmythologie weit entfernt war, hat der gemeinsamen Abstammung eine sehr wichtige Rolle in der Herausbildung der Kollektivpsyche bei Stämmen und Nationen zugeschrieben. 5 Wissenschaftliche Hypothesen der Anthropologen wurden zu einer bedrohlichen 2
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„ihn" - d. h. eine von dem Redner gefeierte verdienstvolle Person. Beide Wendungen sind aus der polnischen patriotischen Dichtung des 19.Jahrhunderts übernommen worden. Der erste stammt aus dem Gedicht „Rota" von Maria Konopnicka (1842-1910), der zweite aus „Kopernik" von Jan Nepomucen Kaminski ( 1 7 7 7 - 1 8 5 5 ) - Anm. d. Ubers. Es klingt komisch, oder vielleicht rührend, wenn sich heute ein unbestreitbarer Nachkömmling der Fronbauern darum kümmert, daß „wir" den Hohenzollern Ostpreußen als Lehnfürstentum nicht hätten geben sollen. Obwohl weder er noch seine eigenen Vorfahren für die Politik der ihm klassenfremden Magnaten verantwortlich sind, lassen ihn die in die Vergangenheit projizierten nationalen Bande Probleme der Polen im 16.Jahrhundert wie seine eigenen sehen. Vgl. S. Ossowski, Wi^z spoieczna i dziedzictwo krwi (Soziale Bande und Bluterbschaft), (Dziefa-Werke, Bd. II), Warschau 1966 O. Bauer, Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, 2. Aufl. Wien 1924, S. 10 ff.
Populus - Gens - Natio
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Waffe in den Händen dilettantischer Soziologen vom Schlage J. A. Gobineaus und H. St. Chamberlains. In der Nazi-Ideologie hat die Bluterbschaftstheorie ihren Gipfel erreicht, doch Ansichten solcher Art sind als Randerscheinungen noch heute in manchen soziologischen Theorien anzutreffen. Ähnlich wie sich das polnische Wort „narod" (sowie tschechisch „närod", russisch „Narod" und andere entsprechende slawische Versionen) von dem Verb „narodzic" (gebären, zur Welt bringen) herleitet und etymologisch die gemeinsame Abstammung der die Nation bildenden Individuen voraussetzt, so kommt das gleichbedeutende lateinische Wort „natio" von dem Verb „nascor" (nasci, natus sum), das ebenfalls „geboren werden" bedeutet. 6 Diese Tatsache ist von großer Bedeutung, denn von „natio" kommen die Bezeichnungen für Nation in fast allen westeuropäischen, sowohl germanischen wie romanischen Sprachen, auch der russische Terminus „Nazia", der (im Gegensatz zu dem unklaren Begriff „Narod") die Nation im Sinne einer gesellschaftlich-politischen Gemeinschaft bedeutet. 2. Die Bedeutung des Wortes „natio" machte denselben Entwicklungsweg durch wie die von „narod" (Nation). Es bezog sich vor allem auf Menschen gemeinsamer Abstammung, ja nicht nur auf Menschen; denn im Altertum hat man z.B. eine Pferderasse „natio equorum" (Varro) genannt. Grundsätzlich jedoch bezeichnete der Terminus „Nation" eine ethnische Gemeinschaft, einen Stamm, eine Gruppe von Menschen also, bei der man eine gemeinsame Abstammung voraussetzte. Eine gleiche Bedeutung hat im alten Rom der Begriff „gens" bekommen, das von dem Verb „gigno, gignere" (genui, genitum) - gebären - stammt. 7 Dieses Wort bedeutete eine von einem gemeinsamen Vorfahren abstammende Gruppe von Menschen und entsprach in der Zeit der Republik dem Terminus „Geschlecht"; „gentes" - damit waren vor allem Roms Patrizier- und später auch die plebeischen Geschlechter gemeint, die den Senatorenstand bildeten. Doch schon bei den Schriftstellern im 1.Jahrhundert v.Chr. wird „gens" häufiger als „natio" gebraucht, um die Stammesgemeinschaften zu bezeichnen, die sich gewöhnlich ebenfalls von einem gemeinsamen mythischen Vorfahren herleiteten. Caesar gebrauchte den Terminus „gens" für den Stamm. 8 Für Cicero bedeutete der Terminus „gens" etwa das gleiche wie „natio", aber mit der stärkeren Betonung der Bande gemeinsamer Abstammung. 9 Bei beiden übrigens hat sich „gens" noch kaum von seiner ursprünglichen Bedeutung entfernt, entspricht also dem Geschlecht. Eineinhalb Jahrhunderte später wird hingegen bei Tacitus der Sinn des Wortes „gens" breiter: es bezeichnet eine größere gesellschaftliche Einheit als den Stamm. Bei der Be6 7 8
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Vgl. Ae. Forcellini, Totius Latinitatis Lexicon, 5. Aufl., Bd. IV, Prato 1868, S.229 Ibid., Bd. III, Prato 1865, S. 199 ff. De bello Gallico, II, 28. In der interessanten Zusammenstellung verschiedener Typen gesellschaftlicher Bande (ibid., VI, 31) ist jedoch der Terminus „gens" ganz deutlich im Sinne von „Geschlecht" verwendet worden: Nam coniugium in familiam dilatum est, familia in gentem, gens in civitatem, civitas in provinciam, provincia in regionem. Wenn wir lesen: „natio omnis Gallorum" (ibid., VI, 16), haben wir den Eindruck, dal! „natio" eine breitere Gruppe bezeichnen soll, die viele „gentes" umfaßt, aber etwas weiter (VI, 32) begegnen wir dem Wort „gentes" in der analogen Bedeutung (ex gente Germanorum). Beide Termini wurden also austauschbar gebraucht. Vgl. z.B. De officiis I, 17: „Gradus autem plures sunt societatis hominum. Ut enim ab illa infinita discedatur, propior est eiusdem gentis, nationis, linguae, qua maxime homines coniunguntur: interius etiam est eiusdem esse civitatis."
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Benedykt Zientara
Schreibung der „origo gentis", der Anfänge der Germanen (von ihrem Urvater Mannus an) wird bei ihm das Wort „gens" auf die ganze Gruppe germanischer Stämme ausgedehnt. Den Terminus „natio" hingegen gebraucht er zur Bezeichnung der einzelnen Stämme. Er zeigt, wie der Name „Germanen", der anfangs nur einen der Stämme bezeichnete, sich auf die ganze große Sprachgemeinschaft ausweitete und fügt hinzu: „Ita, nationis nomen, non gentis, evoluisse paulatim" (auf diese Weise ist der Name des Stammes und nicht der des Volkes langsam erweitert worden). 10 An einer anderen Stelle gebraucht Tacitus den Begriff „gens" für den Stammesverband der Sueven, der wiederum in zahlreiche „nationes" (Stämme) zerfällt." Von den meisten Schriftstellern jedoch werden beide Termini austauschbar benutzt, und dies hielt sich noch durch das Mittelalter und die Renaissance hindurch. Aber es gibt hier eine Regel: Beide Termini bezeichnen im Altertum meistens Völker in ihrer vor- oder frühstaatlichen Phase. J e später sie auftauchen, desto ausschließlicher beziehen sie sich auf die Barbaren. Schon Horaz hat in seiner „Ode an Augustus", wo er die von Jupiter herabgeschickten Naturkatastrophen beschreibt, die Stadt Rom den barbarischen Völkern gegenübergestellt: „Terruit Urbem, terruit gentes." 12 Cicero nannte in dem Brief an seinen Bruder Afrer, Spanier und Gallier „immanes et barbarae nationes". 13 Er setzt ihnen „populus" entgegen, als das Volk, das sich zu einer „civitas" zusammengeschlossen hat, eben das römische Volk - „populus Romanus". Diese Komponente wird in der Definition von Cicero hervorgehoben: „...ein Volk /ist/ aber nicht jede irgendwie zusammengescharte Ansammlung einer Menge, die in der Anerkennung des Rechtes und der Gemeinsamkeit des Nutzens vereinigt ist". 14 Im späten Altertum wurde diese Terminologie komplizierter. Der Terminus „populus" hat nämlich seine Bedeutung in beide Richtungen erweitert. Bereits im 1.Jahrhundert v.Chr. wurde er auch im eingeschränkten Sinn verwendet, in bezug auf die untere Gesellschaftsschicht. Daher nannte man die politische Gruppierung, die die Interessen dieser Schichten vertrat, „populäres". Im Kaiserreich (sporadisch auch schon früher) hat man jedoch damit angefangen, freie Völker außerhalb der Grenzen Roms („gentes-nationes") ebenfalls als „populi" zu bezeichnen. Dieser Begriff, hier in seiner ursprünglichen Bedeutung angewandt (politische Gemeinschaft), hat mit der Zeit eine ethnische Bedeutung angenommen. Für die weitere Entwicklung der Bedeutungen von „populus", „gens" und „natio" spielte die Übersetzung der Bibel ins Lateinische durch Hieronymus von Stri10 11 12 13 14
Germania, c. 2 Ibid., c . 3 8 Odae 1,2, V . 4 - 5 Epistolae ad Quintum fratrem, 1,1,9 De re publica, 1,39: „Populus autem non omnis hominum coetus quoquo modo congregatus, sed coetus multitudinis iuris consensu et utilitatis commune sociatus." Benutzte Übersetzung: Marcus Tullius Cicero, Vom Gemeinwesen, übertragen von Carl Büchner, Zürich 1952. Anders als Cicero haben jedoch antike Schriftsteller das Substantiv „populus" allgemein als Bezeichnung für eine zufällige Menschenansammlung angewendet, vgl. Beispiele bei Forcellini, Bd. IV, S.737. Es fehlt auch nicht an Wendungen wie „populus apium, formicarum" usw.; schließlich bedeutete der Terminus „populus" jede beliebige Menge, Vielzahl, wie „populus imaginum" bei Plinius oder „populus scelerum" bei Sidonius Apollinaris.
Populus - Gens - Natio
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don (gest. 420), die sog. Vulgata, eine sehr große Rolle. Diese Übersetzung hat die Stilistik und Terminologie des mittelalterlichen Lateins entscheidend beeinflußt. 15 Hieronymus hat nämlich mit dem Terminus „populus" das auserwählte Volk bezeichnet - die Juden. Diese Wortwahl war tief durchdacht. So wie die Römer das zivilisierte „populus Romanus" (zu dem sie seit dem 3.Jahrhundert n.Chr. alle freien Bewohner des Imperiums zählten) höher stellten und es den in „gentes" und „nationes" unterteilten Barbaren gegenüberstellten, so hat auch dieser hervorragende Übersetzer der Heiligen Schrift das von Gott auserwählte „populus Israel" den heidnischen ,.gentes" und „nationes" gegenübergestellt. Insbesondere „gentes" hat in der Kirchenliteratur eine Karriere gemacht als die Bezeichnung für Götzenanbeter, eine Entsprechung der späteren „Heiden". Erwähnenswert ist, daß Hieronymus, um die Stämme zu bezeichnen, die ein größeres Volk bildeten, das Wort „tribus" benutzt hat, das sich aus der schon vergessenen sozialen Gliederung der römischen Republik herleitete. 16 In der literarischen Praxis des späten Kaiserreichs haben sich die klassische und die biblische Terminologie miteinander vermischt. Weil die christlichen Römer Zivilisationsträger und auserwähltes Volk zugleich waren, stand ihnen die Bezeichnung „populus" anstandslos zu, wogegen „gentes" barbarische und heidnische Völker waren. Es gibt jedoch Abweichungen von dieser Terminologie. Als Arnobius d.Ä. (ca. 300n.Chr.) seinem Werk den Titel „Libri adversus gentes" 17 gegeben hat, meinte er damit nicht mehr die barbarischen, sondern die römischen Götzenverehrer, die seit dem 4./5.Jahrhundert den vertraut klingenden Namen „pagani" trugen. Ähnlich schreibt Tertullian über heidnische Götter: „dei nationum" 18 , und Commodianus (2. Hälfte des 3.Jahrhunderts) schreibt über sich, indem er die eigenüiche Bedeutung des Wortes „gens" ganz außer acht läßt: „gens et ego fui, perversa mente moratus", wobei „gens" ganz eindeutig den Götzenverehrer und Heiden meint. 19 Venantius Fortunatus scheut wiederum nicht davor zurück, den Terminus „gentes" als Bezeichnung für die nun schon christlichen Franken zu gebrauchen, wenn er den dux Chrodin lobt: „Gentibus adstrictus, Romanis carus eris."20 Hier muß man hinzufügen, daß sowohl in der Vulgata als auch in den Schriften des späten Kaiserreichs das Wort „populus" überwiegend in der Bedeutung „das Volk" (im Sinne von Volksmassen) gebraucht wird; in der Zeit des Zerfalls des Kaiserreichs kam der politische Sinn des Terminus „populus" immer stärker außer Gebrauch. Er wurde noch einmal an der Schwelle des Mittelalters in Erinnerung gebracht, mit schwerwiegenden Folgen. 15
K. Heissenbüttel, Die Bedeutung der Bezeichnungen für Volk und Nation bei den Geschichtsschreibern des 10. bis B.Jahrhunderts, Diss. Göttingen 1920, S. 14ff., 20ff. 16 So werden in der Regel die zwölf israelischen Stämme bezeichnet. 17 So wird sein Werk vom Hl. Hieronymus genannt, das einzige übriggebliebene Exemplar trägt aber den Titel „Adversus nationes", was ebenfalls ein Beweis für die fast identischen Bedeutungswandlungen beider Begriffe ist. Vgl. Jülicher, in: Pauly-Wissowa, Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, Bd. II, Stuttgart 1896, Spalte 1206. 18 De idolotaria, c.22, in: Q. Septimii Florentis Tertulliani Opera omnia, Hrsg. A. Reifferscheidt und G. Wissowa, Bd.I, Prag-Wien-Leipzig 1890 (CSEL, Bd.XX), S. 55. 19 Instructions 1,26, V,24, in: Commodiani Carmina, Hrsg. J. Martin, Turnholti 1960 (Corpus Christianorum, Series Latina, B.CXXVIII), S.22. 20 Carminum Hb., IX, 16, in: MG AA IX, S.220.
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Benedykt Zietttara
Ein christlicher Gelehrter des frühen Mittelalters, Isidor von Sevilla, der in seiner Enzyklopädie unter dem Titel „Etymologie" das ganze Wissen über die Welt sammelte, das die späte Antike hinterlassen hatte, beschäftigte sich auch mit dem Ursprung der ethnischen Unterschiede zwischen den Menschen. Bei dieser Gelegenheit stieß er auf terminologische Probleme. Bei Cicero schrieb er die Definition des Wortes „populus" ab.21 Ebenfalls übernahm er aus der römischen Tradition die Gleichsetzung der Begriffe „gens" und „natio" und betrachtete sie als Synonyme. Bei der Erklärung deren gemeinsamen Ursprungs (gens - a gignendo, sicut natio a nascendo) versuchte Isidor diese gesellschaftliche Gruppe zu definieren und lieferte damit ein Beispiel dafür, wie er aus der Beobachtung der Wirklichkeit des 6. und 7.Jahrhunderts selbständige Schlußfolgerungen zu ziehen vermochte. „Gens est multitudo ab uno principio orta, sive ab alia natione secundum propriam collectionem distincta."22 „Die Nation (der Stamm?) ist ein Kollektiv, das entweder einen gemeinsamen Ursprung hat oder sich von einer anderen Nation durch seinen eigenen Entschluß, sich zu unterscheiden, abgrenzt" - so kann man am exaktesten diesen kompakten und ziemlich schweren Satz übersetzen, in dem Isidors Zweifel über das Prinzip, nach dem „gentes" unterschieden werden, zum Ausdruck kommen. Selbstverständlich sind „gentes-nationes" bei Isidor vor allem ethnische Gruppen, in der Wissenschaft gewöhnlich als „Stämme" bezeichnet (in der Regel gebraucht er diesen Ausdruck nicht für Römer); es fehlt hier jedoch die Abgrenzung von den ethnischen Gruppen höheren Ranges, die seinerzeit Tacitus einzuführen versuchte. Dies ist eine wichtige Feststellung, denn im ganzen späteren Mittelalter diente das Werk Isidors als wichtigste Informationsquelle über die verschiedenen Wissensbereiche 23 ; demzufolge wurde auch die Definition von „gensnatio" auf die neu entstehenden Nationen übertragen. 3. Im Altertum war man der Ansicht, daß der wesentliche Faktor, der „nationes" und „gentes" auseinanderhält, die Sprache sei. Darum konnte Aurelius Victor über Mithridates sagen, daß dieser die Sprache von fünfzig Stämmen (Nationen?) sprach - „quinquaginta gentium ore loquatur"24 - , wobei es klar war, daß jede Sprache einem „gens" entspricht. Auch Tacitus hat beim Erforschen der Zusammengehörigkeit verschiedener Stämme die Peukiner, d. h. die Bastarner, aufgrund ihrer Sprache den Germanen zugerechnet, obwohl ihre Kleidung und ihr Aussehen denen der Sarmaten ähnelten. Bei den Venedern sind ihm jedoch Zweifel gekommen, und so hat er diese - trotz ihrer eigenständigen Sprache - den Germanen zugerechnet, mit Rücksicht auf verwandte Bräuche, Lebensführung und Waffenrüstung.25 Die Sprache war also für die antiken Schriftsteller nicht das einzige Kriterium zur Unterscheidung und Charakterisierung der Stämme, obwohl sie immer an erster Stelle behandelt wurde. Auch die christlichen Schriftsteller waren der Meinung, daß das wichtigste Unterscheidungsmerkmal der „gentes" oder „nationes" - d.h. der Völker außerhalb der Grenzen des Imperiums - die Sprache sei. „Propria cuique genti loquela" - je21
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Hispalensis episcopi Etymologiarum sive Originum libri XX, Hrsg. W. M. Lindsay, Oxonii 1957, IX, 4.5. Ibid., IX, 2.1. Vgl. E. Zöllner, Die politische Stellung der Völker in Frankreich, Wien 1950, S. 42 f. De viris illustribus, c. 76. Germania, c. 46.
Populus - Gens - Natio
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des Volk hat seine eigene Sprache - schrieb Tertullian. 26 Vor ihm hat schon der Hl. Irenaus, Bischof von Lyon ("f ca. 202), als er Ende des 2.Jahrhunderts zum erstenmal in die christliche Literatur die Legende von den 72 Sprachen der Welt einführte, die infolge „der Sprachverwirrung" beim Turmbau von Babel entstanden seien, diese 72 Sprachen 72 Völkern zugeordnet. Also hielt auch er eine eigene Sprache für das charakteristische Merkmal von „gens" oder „natio". 27 Noch zur Zeit der Völkerwanderung erklärte der Rhetor aus Marseille, Claudius Marius Victor (1. Hälfte des 5 Jahrhunderts): „gentem lingua facit" - die Sprache bildet die Nation (den Stamm?). 28 Jedoch beobachten die Römer zur selben Zeit die ins Imperium einfallenden barbarischen Völker und können so feststellen, daß die Sache viel komplizierter ist. Bereits der Hl. Augustinus sagte, daß die Zahl der Völker viel größer ist als die der Sprachen: er meinte, daß Sprachen länger leben als ethnische Gemeinschaften. Im Gegensatz zu anderen christlichen Theoretikern betrachtete er sie als eine historische Kategorie: während sich andere bemühten, die in der Bibel genannten Völker mit den gegenwärtigen zu identifizieren, verkündete Augustinus, daß dies eine vergebliche Mühe sei, denn viele von den alten Völkern seien schon längst verschwunden. 29 Ähnlich wie Augustinus hat ein anderer Schriftsteller aus Nordafrika, Arnobius der Jüngere ("f nach 451), die Zahl der Völker für größer gehalten hat als die Zahl der Sprachen: 72 Sprachen wurden seiner Meinung nach von 1000 Völkern gesprochen. 30 Die ständig neu auftauchenden Gruppen von Germanen, die immer neuen Stammesnamen zwangen die Römer dazu, nach Zahlen in der Heiligen Schrift zu suchen, die die traditionelle Zahl 72 überschreiten würden. Die Diskussion wurde gewissermaßen durch Isidor abgeschlossen, der zwar sagte, daß die Sprache als Grundlage zur Herausbildung der ethnischen Unterschiede diene: „Aus den Sprachen sind die Völker entstanden, und nicht aus den Völkern die Sprachen" 31 aber woanders erklärte: „Am Anfang gab es zwar so viele Sprachen wie Völker, später jedoch sind mehr Völker entstanden als Sprachen, denn aus einer einzelnen Sprache sind viele Völker hervorgegangen". 32 In diesem Stadium meinte man also schon, daß eine Nation mehr ist als eine Sprachgemeinschaft. Wie schon erwähnt, hat sich Isidor für die ciceronische, politische Definition des Terminus „populus" ausgesprochen; darüber hinaus hat er mit den Schriftstellern polemisiert, die die Termini „populus" und „plebs" durcheinanderbrachten: Nur dieser letztere könne - seiner Meinung nach - zur Bezeichnung der unteren Ge26
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D e testimonio animae V, 1; VI, 3. Ich zitiere nach A. Borst (wie Annj.26), Bd.II, T. 1, S. 366 f. Contrahaereses, III, 3, in: PG, B. VII, Spalte 958. Die Legende stammt aus Genesis, K a p . X I ; über ihre Entwicklung vgl. A. Borst, Der Turmbau von Babel, B. I, Stuttgart 1957, S. 114 ff. Claudi Marii Victoris Alethia, III, V. 274, Hrsg. P. F. Hovingh, Turnholti 1960 (Corpus Christianorum, Series Latina, B.CXXVIII), S. 176. D e civitate Dei, X V I , Hrsg. E. Hoffmann, Prag-Wien-Leipzig 1900 (CSEL, Bd. II, S. 137). Commentarii in psalmos, Ps.XIV, PL Bd. Llll, Spalte 4 8 1 : „Fiunt ergo omnes simul linguae septuaginta duae, patiae autem generationum mille." Etymologiae IX, 1.14: „quia ex Unguis gentes, non ex gentibus linguae exortae sunt." Ibid., IX, 1.1: „initio autem quot gentes, tot linguae fuerunt, deinde plures gentes quam linguae, quia ex una lingua multae gentes sunt exortae".
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sellschaftsschichten benutzt werden.33 Während sich der spätere Gebrauch der Wörter „natio" und „gens" in der lateinischen Literatur des Mittelalters, und zum Teil auch in den romanischen Literaturen, mit der Terminologie von Isidor deckt, bekommt „populus" offensichtlich beide Bedeutungen, mit der stärkeren Betonung auf der sozialen (Volksmassen) gegenüber der ethnisch-politischen. In die deutsche Sprache ist es (vermutlich über das Provenjalische) als „Pöbel" eingegangen. Das Wort „tribus" verschwand jedoch inzwischen, mit Ausnahme der Vulgata, aus der ethnischen Terminologie. Isidor hat ihm den klassischen römischen Sinn wiedergegeben, seine Nachfolger aber haben ihn nicht sehr genau gelesen. Wir lesen daher in zahlreichen hochmittelalterlichen Kommentaren zur Apokalypse erstaunliche Dinge: Sowohl bei Anselm von Laon wie auch bei Haimo von Auxerre bedeutet tribus „Stand", „Klasse", und diese Benennung wurde von den seit den Zeiten Bedas verbreiteten Ansichten über die Gliederung der christlichen Gesellschaft in drei Stände hergeleitet (dicitur tribus a tribus ordinibus): „oratores" (Geistliche), „bellatores" (Rittertum) und „laboratores" (Bauern). 34 4. Während sich die Bedeutungen der im ganzen Mittelalter aktuellen lateinischen Termini, die sich auf ethnische Gruppen bezogen, festigten, entwickelte sich gleichzeitig unter deren Einfluß die Terminologie der germanischen Sprachen. Auch dort finden wir drei Bezeichnungen, deren Bedeutungsentwicklung es sich lohnt zu verfolgen. 35 In der gotischen Sprache gab es folgende Wörter: „thiuda", „Hut" und „folk"; Ulfila, der Bibelübersetzer, betrachtete „thiuda" als Entsprechung des lateinischen „gens-natio", mit Betonung auf dem ethnischen Inhalt des Wortes (aber auch in der Bedeutung: „gentes" - Heiden). „Liut" (vgl. slawisch „lud, lid") heißen bei ihm „Untertanen", im Gegensatz zu der herrschenden Gruppe, und das aus dem militärischen Bereich stammende „folk" diente Ulfila zur Bezeichnung des ciceronischen „populus", aber auch in dem Sinne, wie ihn der Hl. Hieronymus eingeführt hatte (das jüdische Volk). Diese Terminologie ist auch in andere germanische Sprachen eingegangen, aber die Bedeutungen der einzelnen Wörter haben sich verändert. Das Wort „liut" hat in seiner weiteren Entwicklung jegliche ethnische Färbung verloren: in der fränkischen Sprache bedeutete „leudes" Mitglieder des Königsgefolges; in der deutschen Sprache ist daraus (nur in der Mehrzahl) die umgangssprachliche Bezeichnung für Menschen (Leute) entstanden. „Thiot" (fränkisch „theot") ist in dem Augenblick aus dem Blickfeld verschwunden, als das von ihm abgeleitete Wort „Thiutisc" (national, es bezeichnete die germanische Sprache als Gegensatz zum Lateinischen) langsam anfing, eine konkrete Sprache und eine konkrete Nation zu bezeichnen, die deutsche. 36
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Ibid., IX, 4.5: „Populus autem se distat a plebibus, quod populus universi cives sunt, sonnumeratis senioribus civitatis, plebs autem reliquum vulgus sine senioribus civitatis." Anseimus: Enarrationes Apocalypsin, c.5, PL CLXII, Spalte 1521; Haymo: Expositio in Apocalypsin, PL CXVII, Sp. 120. E. Zöllner, op. cit., S. 4 3 ff. Vgl. eine Artikelsammlung: „Der Volksname Deutsch, Hrsg. H. Eggers, Darmstadt 1970 (Wege der Forschung Bd.CLVI), bes. die Artikel von W. Braun und L. Weisgerber. Aus der deutschen Sprache ist „thiot" (diot) als selbständiges Substantiv im 15.Jahrhundert verschwunden.
Populus — Gens - Natio
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Das übriggebliebene Wort „folk" (Volk) hatte eine sehr bewegte Geschichte. 37 Im Hildebrandslied (8.Jahrhundert) bedeutet es noch eine militärische Einheit: „Her was eo folches at ente" - (er stand an der Spitze der Abteilung); „in folk sceotantero" - (in die Kriegerabteilung). 38 Diese Bedeutung tritt im sächsischen und angelsächsischen Terminus „folctoga" - der Führer - auf und ist besonders in der altnordischen Dichtung verbreitet. Mit dieser Bedeutung hängt auch eine weitere zusammen: Menschen, die einer Macht unterstehen. Auf diese Weise konnte „Volk" auch das Hausgesinde oder die Schiffsbesatzung (Schiffsvolk) bezeichnen, und von hier aus war der Weg nicht mehr weit, um alle untergeordneten Menschen, Untertanen, Menschen des niedrigen Standes so zu nennen, bis zu den Begriffen „das einfältige Volk", „das unverständige Volk", „das gemeine Volk". Im späten Mittelalter war diese Bedeutung weit verbreitet. Gleichzeitig entwickelte sich das Wort „folk" (Volk) von der Bezeichnung einer militärischen Einheit bis zu der von größeren organisierten Gemeinschaften mit einem politischen oder ethnischen Charakter. Schon im angelsächsischen Poem „Beowulf" aus dem 7.Jahrhundert lesen wir von „folce Deninga" - dem Stamm der Dänen - und von Edmund, der „cyning cyth eallum folce" - König ihres Stammes (ihrer Nation?).39 Aber im Deutschland des späten Mittelalters scheute man sich, diese Benennung für die ganze Nation, also für die alle Stände umfassende Gemeinschaft zu verwenden: deswegen hat Martin Luther dafür den lateinischen Begriff „Nation" übernommen. In der Zeit der Herausbildung der nationalethnischen Bande im Rahmen der europäischen Staaten des hohen Mittelalters hatten die germanischen Schriftsteller nur eine wirre Terminologie zur Verfügung, die ungeeignet war, die neuen Begriffe auszudrücken. Die Termini „gens" und „natio" wurden im Westen und im Osten des lateinischen Europa verwendet und bezeichneten sowohl Stammes- als auch lokale und nationale Gemeinschaften; nicht viel besser war die Situation in den sich herausbildenden literarischen Nationalsprachen. Am Ende des 12.Jahrhunderts hat man infolgedessen einen neuen Terminus aufgegriffen, der in den Randgebieten der sich neu formierenden Gemeinschaften entstanden war, wo hauptsächlich die Sprache es war, die Menschen mit ähnlichen Lebensbedingungen und Bräuchen trennte. Auf diese Weise ist eine neue ethnische Bezeichnung entstanden: „jfzyk", „jazyk", „langue", „Zunge", „linguagium". Bereits am Ausgang des 12.Jahrhunderts rief Walther von der Vogelweide dramatisch aus: „We dir, tiuschiu zunge!" und meinte damit die ganze deutsche Nation. 41 Uber ein halbes Jahrhundert später hat Roger Bacon in seinem „opus maior" diese Terminologie noch vertieft, indem er „lingua", die Nationalsprache, von den Idio-
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J. und W. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Hrsg. R. Heißner, Bd.XII, T.2. Leipzig 1951, S. 453 ff. Hildebrandslied, V.26 und 50 (zit. nach: Deutsche Dichtung des Mittelalters, Hrsg. F. v.d. Leyen, Frankfurt a.Main 1962, S. 14-16). 39 Beowulf, V.465 (zit. nach der Ausgabe von M. Heyne, Paderborn 1929). 40 Aber auch als Bezeichnungen für lose Menschenansammlungen, vgl. Du Cange, Glossarium mediae et infomae Latinitatis, Graz 1954, Bd. IV, S. 56 (gens), 573 (natio). Philipps Kaiserwahl, V. 42 (vgl. Deutsche Dichtung, wie Anm. 37, S. 274). 38
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mata, den Stammesdialekten, unterschied. 42 Zu derselben Zeit wurde die Sprache schon zum Symbol der nationalen Konflikte auf Sizilien, in Polen, Böhmen und in Flandern, und im 14. und 15.Jahrhundert dringt der Begriff „lingua" oder „linguagium" und seine nationalgeschichtliche Äquivalente in das Schrifttum ein, vermischt sich mit der bisherigen Terminologie und stellt diese oft in Frage. (Ubersetzung: Waleria Radziejowska-Hahn)
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MG SS, Bd. XXVII, S.571.
Zur Nationenbildung im Mittelalter Helmut Beumann
In einem Kreis von Historikern vornehmlich der neueren Geschichte von Nationenbildung im Mittelalter zu sprechen, ist ein kühnes Unterfangen und bedarf jedenfalls der Rechtfertigung. Das Wort natio ist zwar im Mittelalter allzeit gebräuchlich gewesen und in reichem Maße belegt 1 , bezeichnet jedoch eine politische Gemeinschaft, die mit der modernen Nation verglichen werden könnte, gerade nicht. Dies gilt nicht nur dann, wenn das Wort lediglich die lokale Abstammung von Menschen bezeichnet, sondern auch bei seinem häufigen Gebrauch als Synonym zu gens im Sinne von „Stamm" oder „Volk" als einer Abstammungsgemeinschaft. Auf die gentes wird zurückzukommen sein. Selbst die spätmittelalterlichen Konzils- und Universitätsnationen umfassen Personen gleicher lokaler Herkunft, ohne daß die territoriale Definition in jedem Fall Gebilde erkennen ließe, die sinnvoll mit modernen Nationen verglichen oder in unmittelbaren Zusammenhang gebracht werden können. 2 Immerhin tauchen hier „nationale" Namen auf, so daß die Erscheinung in unserem Zusammenhang Berücksichtigung verdient, sofern man die Übertragung des Nationsbegriffes auf das Mittelalter überhaupt akzeptieren will. Eher ist jedenfalls die ,Adelsnation" zu vergleichen, wie sie in Polen und Ungarn begegnet.3 In der methodologischen Diskussion über die Zulässigkeit des Nationsbegriffes für das Mittelalter bildet sie sogar ein Paradebeispiel.4 Das Phänomen tritt jedoch nur an der Peripherie Europas und in später Zeitstellung auf, so daß es zur Generalisierung wenig zu taugen scheint. Geht man vom Wort-
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H.-D. Kahl, Einige Beobachtungen zum Sprachgebrauch von natio im mittelalterlichen Latein mit Ausblicken auf das neuhochdeutsche Fremdwort „Nation", in: Aspekte der Nationenbildung im Mittelalter, hg. von H. Beumann und W. Schröder (NATIONES, Historische und philologische Untersuchungen zur Entstehung der europäischen Nationen im Mittelalter, hg. von H. Beumann und W. Schröder, 1), 1978, S. 63 ff.; vgl. auch den Beitrag von B. Zientara in diesem Bande. Kahl S. 87 ff. Der Begriff ist allerdings erst in der Literatur des 16. und 17.Jahrhunderts belegt. Vgl. B. Zientara, Nationale Strukturen des Mittelalters, in: Saeculum 32, 1981, S.309; zu Ungarn: H. Göckenjan, Art. „Adel", in: Lexikon des Mittelalters 1, 1977, Sp. 141; der Adel als wichtigster Träger der Bewußtseinsbildung neben dem Klerus im spätmittelalterlichen Polen: F. Graus, Die Nationenbildung der Westslawen im Mittelalter (NATIONES 3), 1980, S. 123 f. Zu ständestaatlichen societas fidelium des Spätmittelalters in diesem Zusammenhang J. Szücs, „Nationalität" und „Nationalbewußtsein" im Mittelalter. Versuch einer einheidichen Begriffssprache, in: Acta Histórica Academiae Scientiarum Hungaricae 18, 1972, S.24ff. (auch in: Ders., Nation und Geschichte, 1981); Zientara (wie Anm.3) S.307ff.; R. Ch. Schwinges, „Primäre" und „sekundäre" Nation, in: Europa slavica - Europa orientalis. Festschr. H. Ludat, 1980, S. 505.
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gebrauch aus, so fehlt offenbar für Nationen des Mittelalters weitgehend die Quellengrundlage. Nationale Deutungsmuster der Vergangenheit in spätmittelalterlichen Chroniken, über die Herr Graus sprechen wird, bilden ein Thema, das die skeptische Frage provozieren könnte, ob nicht am Ende der Mediävist selbst nationale Deutungsmuster der Gegenwart an das Mittelalter herantrage, wenn er in ihm Nationen, deren Bildung oder wenigstens deren Wurzeln zu suchen unternimmt. Mit Sicherheit scheint dies zu gelten, wenn, wie jüngst im Anschluß an H. Kohn formuliert wurde, erst ein solches Volk zur Nation wird, das sich durch aktive Mitarbeit mit seinem Staat identifizieren kann. 5 Dies setzt die moderne Nation seit der französischen Revolution voraus und schränkt den Begriff auf die Demokratie ein. Hier gelangen Staat und Nation zu Deckung. Den Nationalstaat in das Mittelalter zurückzudatieren kann niemand erwägen. Doch spätestens seit dem Humanismus gibt es allzu deutliche Manifestationen der nationalen Idee, als daß die demokratische Definition aufrechterhalten werden könnte. Rainer Christoph Schwinges hat 1980 6 „politische Nation" als Oberbegriff für die osteuropäische Adelsnation und die moderne vorgeschlagen, weil ein Teil der Bevölkerung stets an nationalen Fragen uninteressiert sei. Dabei bleibt freilich unberücksichtigt, daß die Adelsnation, die man als „politsiche Nation" von Konzils- und Universitätsnationen unterschieden hat, wie schon der Name besagt, die übrigen Stände ausschloß, während der moderne Staatsbürger seiner Nation angehört, auch wenn er sich in seinem politischen Verhalten davon nicht bestimmen läßt. Um in die Glut der Skepsis Öl zu gießen, kann zu dem terminologischen Problem, vor dem wir stehen, Otto Brunner zitiert werden. In „Land und Herrschaft" 7 heißt es: „Es ist nicht möglich, die mittelalterlichen Ordnungen mit den Kategorien der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte und der Soziologie der „Gesellschaft" des 19. Jahrhunderts einerseits und eines dieser Gesellschaftslehre korrespondierenden positivrechtlichen Staatsrechts andererseits zu beschreiben." Sein Buch habe die ihm gestellte Aufgabe, „die widerspruchsvolle und ungeschichtliche Terminologie des 19- Jahrhunderts zu zerstören und die Grundlage einer sach- und, soweit dies möglich ist, quellengemäßen Begriffssprache zu entwerfen", in der Hauptsache gelöst. Brunner ist allerdings bei dieser rigorosen Position selbst nicht stehen geblieben. In seiner Schrift „Adeliges Landleben und europäischer Geist" hat er das ursprüngliche Postulat folgendermaßen modifiziert: „Die historische Forderung nach einer quellenmäßigen Begriffssprache stößt auf die Tatsache, daß die Kategorien, unter denen die Zeiten sich selbst verstanden haben, unseren wissenschaftlichen Forderungen nicht genügen, daß aber auch die Begriffe der modernen Wissenschaften an einer Wirklichkeit entwickelt wurden, die erst seit dem 18. Jahrhundert entstanden ist". 8 Einwände gegen Brunners ursprüngliche Forderung hatte bereits Walter Schlesinger 1941 9 erhoben. Der von Brunner indizierte Begriff „Staat" sei auch heute ein Abstraktum. „Es ist sehr wohl möglich, mit Wörtern un5
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H. Utz, Erste Spuren von Nationalismus im spätmittelalterlichen Schottland: Forduns „Chronicagentis Scotorum", in: Schweizerische Zeitschr. f. Geschichte 29, 1979, S.323. Schwinges S. 505. 3 1943, S.503. O. Brunner, Adeliges Landleben und europäischer Geist, 1949, S.62. W. Schlesinger, Die Entstehung der Landesherrschaft, 1941 (ND 1964), S. 12.
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serer modernen Sprache Erscheinungen oder Gruppen von Erscheinungen der Vergangenheit zu bezeichnen, die zwar wirklich vorhanden waren, für die aber quellenmäßige Ausdrücke fehlen, weil sie nicht in das Selbstbewußtsein ihrer Zeit eingegangen sind." Eine ausschließlich quellengemäße Terminologie sei auch nicht praktikabel, weil die Bedeutung der mittelalterlichen Ausdrücke ihrerseits häufig erklärungsbedürftig sei und umständlicher Beschreibung bedürfe, wie die reiche Literatur allein über den Begriff „Gewere" erkennen lasse. Es käme weniger auf quellengemäße als auf sachgemäße Ausdrücke an, „die nicht in ganz bestimmter Richtung belastet sind, so daß sie spezifisch neuzeitlichen Erscheinungen vorbehalten bleiben müssen". Dies trifft etwa für den Begriff „Grundherrschaft" zu, der in den Quellen nicht vorkommt, die gemeinte Sache aber treffend kennzeichnet. Ist „Nation", auf das Mittelalter bezogen, wenn schon nicht quellengemäß, dann wenigstens sachgemäß und nicht einer spezifisch neuzeitlichen Erscheinung vorzubehalten? Ich will es mir nicht zu leicht machen mit dem Hinweis auf Schlesingers intensives Engagement bei dem Schwerpunkt „Die Entstehung der europäischen Nationen im Mittelalter" der Deutschen Forschungsgemeinschaft. 10 Im persönlichen Gespräch hat er selbst Bedenken gegen den Gebrauch von „Nation" geäußert und nachträglich bedauert, nicht auf „europäsiche Großvölker" ausgewichen zu sein. Eine terminologische Alternative zum Nationenbegriff wäre dies nicht gewesen, da die vergleichsweise kleineren Völker hätten ausgeschlossen bleiben müssen. Man braucht nur auf Böhmen hinzuweisen, um zu zeigen, daß es sich um ein ganz anderes Thema gehandelt hätte. Aber darf die Nation zu den Erscheinungen der Vergangenheit gerechnet werden, „die wirklich vorhanden waren, für die aber quellenmäßige Ausdrücke fehlen, weil sie nicht in das Selbstbewußtsein ihrer Zeit eingegangen sind", wenn sie, wie erst kürzlich wieder betont worden ist, nur dadurch existiert, daß man sich ihrer bewußt wird oder ist? 11 Zu den intentionalen Daten, die den Quellen zum Nachweis eines mittelalterlichen Nationalismus entnommen werden, gehören zwar Wertungen und normative Aussagen, nicht aber Ausdrücke, die das Phänomen als solches auf den Begriff brächten. Hier geht die Analogie zu Begriffen wie „Grundherrschaft", „Stadt" und „Staat" deshalb nicht auf, weil es sich nicht nur um die Terminologie handelt, sondern und vor allem um die reale Existenz der Sache selbst, die bei den Vergleichsbeispielen nicht bezweifelt wird. Angesichts des massenhaften Einbruchs moderner soziologischer und systemtheoretischer Termini in die heutige Geschichtswissenschaft, gerade auch beim Thema des Nationalismus, stünde der Verfechter einer quellengemäßen Terminologie ohnehin eher auf verlorenem Posten. Anders die Lage, wenn das Fehlen eines zeitgenössischen Begriffes mit dem Fehlen der Sache erklärt werden müßte. Titel und Programm unseres Kolloquiums stellen diese Sache für die Zeit vor der französischen Revolution offenbar nicht von vornherein in Frage. Das Thema nimmt die Antwort freilich nicht vorweg, erscheint jedoch legitim. Der Mediävist gerät aber auch gegenüber denen unter Rechtfertigungsdruck, die von Nationen bestenfalls seit dem Spätmittelalter, besser seit Humanismus und Reformation sprechen wollen. Selbst wenn in diesem Kreise ein Konsens sogar über die tiefer in 10
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W. Schlesinger, Die Entstehung der Nationen. Gedanken zu einem Forschungsprogramm, in: NATIONES 1 (wie Anm. 1), S. 11-62. Schwinges (wie Anm.4) S.496 Anm. 12.
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das Mittelalter hineinreichenden Wurzeln der europäischen Nationenbildung herrschen sollte, vermöchte er eine Erörterung des methodischen Problems nicht überflüssig zu machen. Denn dieses Problem ist, wie gezeigt werden soll, nicht mit einer Handbewegung zu erledigen. Als Zeugnisse für die Existenz der Nation oder für ein werdendes Nationalbewußtsein im Mittelalter spielen in der Forschung Auto- und Heterostereotype eine herausragende Rolle. 'Sie werden als Äußerungen von „Nationalismus" in Anspruch genommen, der nach einer Formulierung Eugen Lembergs als „Bindekraft" gelten darf, „die nationale oder quasinationale Großgruppen integriert". 12 Das auf eine Die-Gruppe zielende Heterostereotyp führt zur Konsolidierung der WirGruppe, deren Autostereotyp das Korrelat bildet. 13 Auf diesem Wege hat Paul Kirn 1943 1 4 einen Zugang zum mittelalterlichen Nationalismus gesucht. In einem soeben erschienenen Beitrag „über .nationale' Vorurteile im Mittelalter" behandelt Ludwig Schmugge 15 diesen Quellenhorizont unter dem Gesichtspunkt der horizontalen, räumlichen Mobilität. Er fordert im Anschluß an R. Jaworski eine „Archäologie nationaler Vorurteile" 16 , womit, genauer gesagt, eine Stratigraphie gemeint ist. Denn eine solche wird von Schmugge entworfen. Eine ältere, bis um das Jahr 1000 reichende Schicht zeige weitgehend bloße Reproduktionen antiker und patristischer Topoi der Völkercharakteristik. Im 11. und 12. Jahrhundert erreichen die Fremdstereotype eine neue Qualität dank der lebendigen Erfahrung auf Grund zunehmender Mobilität. Als Beispiele dienen die bei den Kreuzzügen, den Pilgerfahrten und auf den hohen Schulen gewonnenen Fremderfahrungen. Die so erzeugten stereotypen Verhaltensweisen gegenüber Fremden seien „wesentliche Voraussetzungen eines .praenationalen' kollektiven Bewußtseins". 17 Eine Horizonterweiterung seit der Jahrtausendwende hatte kurz zuvor, 1981, Heinrich Fichtenau bei einer Zusammenstellung mannigfaltiger, interessanter Belege für Mobilität und Fremdstereotype dargetan 18 , eine Studie, auf die sich Schmugge auch ausdrücklich beruft. 19 Fichtenau versäumt jedoch nicht darauf hinzuweisen, daß es an weitreichenden Fremdkontakten auch schon in fränkischer Zeit nicht gefehlt hat und die Möglichkeit der Fremderfahrung in der geistlichen und weltlichen Führungsschicht auch lange vor der Schwelle des ersten Jahrtausends bestanden hat. Zwar erlebte die Iro-schottische Peregrinatio in der Ottonenzeit eine Wiederbelebung, doch war ihr eine nicht minder bedeutende erste Welle am Anfang des 7.Jahrhunderts mit Kolumban und seinen Gefährten vorausgegangen. Im 8.Jahrhundert folgten bekanntlich die Angelsachsen. Zwar erreichten Gruppenwallfahrten im 11.Jahrhundert einen Höhepunkt, doch ist nicht einsichtig, inwiefern dieses quantitative Moment die Qualität der Fremdstereotype verän12 13
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E. Lemberg, Nationalismus, 1964, S.20. P. R. Hofstätter, Gruppendynamik - Kritik der Massenpsychologie, 1957, Neuaufl. 1971, S. 115. P. Kirn, Aus der Frühzeit des Nationalgefühls, 1943. in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 38, 1982, S . 4 3 9 - 4 5 9 . Schmugge S.443 unter Hinweis auf R. Jaworski, Zur Frage vormoderner Nationalismen in Ostmitteleuropa, in: Geschichte und Gesellschaft 5 , 1 9 7 9 . Schmugge S. 444. H. Fichtenau, Gentiler und europäischer Horizont an der Schwelle des ersten Jahrtausends, in: Römische Historische Mitteilungen 2 3 , 1 9 8 1 , S . 2 2 7 - 2 4 3 . Schmugge S.443 Anm. 18.
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dert haben sollte, wenn individuelle Wallfahrten längst, auch nach der Bußpraxis, an der Tagesordnung waren. Denn bei unseren Texten handelt es sich auch im Hochmittelalter um individuelle, nicht um kollektive Äußerungen. Einhard, der wahrlich in der literarischen Tradition der Antike steht, urteilt über die heidnischen Sachsen durchaus situationsbezogen, reflektiert und nach gewonnenen Erfahrungen, wenn er die lange Dauer des fränkischen Sachsenkrieges mit einer fundamentalen Differenz der Verhaltensnormen in Verbindung bringt, ja mit diesen kausal zu erklären sucht.20 Es soll hier nicht in Frage gestellt werden, daß wachsende Mobilität über eine Horizonterweiterung bei Vielen zur Veränderung von Einstellungen gegenüber Fremden und von eigenen Verhaltenweisen geführt hat. Die Frage ist jedoch, in welche Richtung solche Veränderungen gegangen sind, ob dadurch in besonderer Weise die Nationenbildung gefördert wurde und ob ein qualitativer Wandel der Fremdstereotype gerade dies erkennen läßt. Tritt nun wirklich an die Stelle des Topos die Empirie, falls diese einander überhaupt ausschließen? Man kann im Topos auch eine Erfahrung bestätigt finden. Bischof Gunter von Bamberg, Teilnehmer einer Gruppenwallfahrt nach Jerusalem im Jahre 1065, hat über seine Reiseerfahrungen berichtet: Constantinopolitanos vidimus graece et imperialter arrogantes.21 Gewiß, die eigene Erfahrung - vidimus - wird betont. Doch die griechische Arroganz hatte schon am Ende des 9.Jahrhunderts Notker von St. Gallen in einer amüsanten Anekdote, auf Grund persönlicher Erfahrungen bei seiner Legation von 968 Liudprand von Cremona mit bissiger Ironie angeprangert.22 Dolus Graecorum, seit dem 1. Kreuzzug gewiß als Stereotyp verbreiteter als zuvor23, hat als solches ebenfalls ein höheres Alter. Dolose Kriegführung war den Griechen schon früher angekreidet worden: Quos virtute nequibant, artibus superabant, schrieb ohne Byzanzerfahrung Widukind von Corvey24 wohl bald nach 973. Um die Mitte des 12.Jahrhunderts schilderte ein Kleriker aus Poitiers in einem Reiseführer für die Pilgerfahrt nach Santiago die Eigenarten und Sitten der nationes, durch deren Gebiet der Weg führte25: Die Pictavi, seine eigenen Landsleute im Poitou, sind die besten Vertreter der Franci, also der Franzosen. In der Gegend um Saintonges ist die lingua rustica der Bewohner zu beanstanden, im Raum von Bordeaux haperte es mit der Verpflegung. Nicht so in der Gascogne, wo hingegen die 20
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H. Beumann, Die Hagiographie „bewältigt" Unterwerfung und Christianisierung der Sachsen durch Karl den Großen, in: Settimane di studio del Centro italiano di studi sull'alto medioevo 28, Spoleto 1982, S. 137 f. Annales Altahenses maiores, hg. von W. Giesebrecht und E. von Oefele (MGH SS rer. Germ.), 1891, ad a. 1065, S.66 f.; Schmugge S.445. Notker der Stammler, Taten Karls des Großen, hg. von H. F. Haefele (MGH SS rer. Germ., Nova series 12), 1959, verb. Nachdr. 1980, c. 6, S. 53 i.; Liudprandi relatio de legatione Constantinopolitana, in: Die Werke Liudprands von Cremona, 3. Aufl., hg. von J. Becker (MGH SS rer. Germ.) 1915, S. 175 ff.; dazu M. Rentschier, Liudprand von Cremona. Eine Studie zum ost-westlichen Kulturgefälle im Mittelalter (Frankfurter wissenschaftliche Beiträge, kulturwiss. Reihe 14), 1981. Schmugge S.445 f. Die Sachsengeschichte des Widukind von Korvei, 5. Aufl., in Verb, mit H.-E. Lohmann neu bearb. von P. Hirsch (MGH SS rer. Germ.), 1935, III 71, S. 148. J. Vielliard, Le Guide du Pèlerin de Saint-Jacques de Compostelle, Texte latin du XII e siècle, édité et traduit en français d'après les manuscrits de Compostelle et de Ripoli, 3 1963, C. VII, S. 16ff.; Schmugge S.449f. K. Herbers, DerJakobsweg, 1986.
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Sitten zu wünschen übrig lassen. Im Baskenland gar muß die Reise zu einem wahren Horrortrip ausgeartet sein. Das Urteil über die Navarresen und die Eindrücke in Kastilien fällt kaum milder aus. Daß hier subjektive Erfahrungen zum Ausdruck kommen, lehrt allein schon die bis ins Deaail differenzierende Beschreibung. Die Abneigung scheint mit der Entfernung von der Heimat zu wachsen. Doch was ergibt sich für die Frage nach der Nation? Gewiß, der Autor zählt sich und die Bewohner des Poitou zu den Franzosen, nicht aber die südlichen Nachbarn auf dem Boden der Gallia. Mit Recht weist Schmugge an dieser Stelle darauf hin, „daß die Pilgerfahrten ähnlich wie die Kreuzzüge offenbar auch eine Wiege von Vorurteilen und Ressentiments unter den europäischen Völkern gewesen sind".26 Dies sei der Auffassung entgegenzuhalten, gerade die Pilgerfahrten zum hl.Jacobus hätten wegen ihres internationalen Charakters das Bewußtsein einer europäischen Kulturgemeinschaft gefördert. Dem ist gewiß zuzustimmen. Doch gilt das gleiche auch für die Integration der Nationen. Denn um solche handelt es sich bei den charakterisierten Bevölkerungsgruppen durchaus nicht in allen Fällen. Die Unterscheidung konnte mittelalterlichen Berichterstattern sehr wohl noch fernliegen. Auch heute fehlt es im nationalen Rahmen nicht an internen Heterostereotypen, so in Bayern gegenüber den „Preußen" oder unter den Kantonen der Schweiz. Aufhorchen läßt allerdings das überraschend positive Urteil des Poitevinischen Reiseführers über die Galizier: sie kämen genti nostre gallice magis, pre ceteris gentibus yspanicis incultis, nahe. Die Einheit der Gallia erscheint schon bei Richer von Reims um die Jahrtausendwende als Zielvorstellung.27 Im Guide du Pèlerin aus Poitiers ist bereits von einer gens Gallica und von einer Vielfalt spanischer gentes die Rede. Als gens nostra Gallica ist diese sogar mit einem Wir-Gefühl besetzt. Ob die südlichen Nachbarn des Poitou ihr zuzurechnen sind, bleibt offen. Deutlich wird die terminologische Kalamität: Unterschiedslos bezeichnen gens und natio ethnische oder regionale Gruppen ebensowohl wie, im Falle der gens Gallica, den supragentilen Verband. Kaum sehr viel später, um 1165, verfaßte Johannes von Würzburg seinen Pilgerführer für das Heilige Land, die Descriptio terrae sanctae:28 Entschieden deutlicher als im Guide des pèlerins treten hier, bei einem Rückblick auf den ersten Kreuzzug, die Nationen hervor. Nicht die Franci, sondern die schwertgewaltigeren Francones haben das heilige Jerusalem vom Joch der Heiden befreit. Obwohl Herzog Gottfried und sein Bruder Balduin, der nach dem Verzicht jenes zum König von Jerusalem gekrönt wurde, aus Deutschland stammten (nostris... Germaniae partibus), sei gleichwohl, weil nur wenige von den unsrigen mit ihnen zurückblieben, während die meisten ihrem Heimweh nachgaben, die ganze Stadt von anderen nationes eingenommen worden, a Francis, Lotharingis, Northmannis, Provincialibus, Alvernis, Italis, et Hispanis, Burgundionibusque, die zugleich mit den Deutschen (cum Germanis) am Kreuzzug teilgenommen hatten. Diese hätten sich in der Heili26 27
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Schmugge S. 450. B. Schneidmüller, Französisches Sonderbewußtsein in der politisch-geographischen Terminologie des 1 O.Jahrhunderts, in: Beiträge zur Bildung der französischen Nation im Früh- und Hochmittelalter, hg. von H. Beumann (NATIONES 4), 1983, S. 73 ff. Descriptiones Terrae Sanctae, hg. von T. Tobler, 1874, S. 108 ff.; P. Knoch, Studien zu Albert von Aachen. Der erste Kreuzzug in der deutschen Chronistik (Stuttgarter Beiträge zur Geschichte und Politik 1), 1966, S. 123 f.; Schmugge S.451 f.
Zur Nationenbildung im Mittelalter 27 gen Stadt so ausgebreitet, daß den Deutschen (Alemannis) nicht der kleinste Platz verblieben sei. So werde von den Geschichtsschreibern die Befreiung Jerusalems unter Verschweigung des Namens der Deutschen (tacito Germanorum nomine) allein den Franzosen zugeschrieben, die bis zur Gegenwart mit den anderen genannten gentes die an die Stadt grenzende Provinz beherrschen. Diese christliche Provinz hätte längst ihre Grenzen über den Nil und über Damaskus hinaus ausgedehnt, wenn eine entsprechende Menge Deutscher (tanta copia Alemannorum) zugegen wäre: Doch nach dem Abzug des deutschen Heeres hätten die übrigen nationes so gut wie nichts mehr ausgerichtet. Von den Bezeichnungen der Deutschen ist Germani seit dem 9.Jahrhundert in dieser ethnischen Bedeutung belegt29, Alemanni vom 11.Jahrhundert an, besonders seit dem Anschluß des burgundischen Regnum an das Reich der Salier unter Heinrich III. 30 Wie im literarischen Gegenstück aus Poitiers werden zunächst die Landsleute des Autors, die Mainfranken (Francones), gelobt, hier als die wahren Eroberer Jerusalems. Eine besondere Pointe liegt darin, daß Gottfried von Bouillon zum Führer eines ausschlaggebenden Kreuzheeres der Deutschen hochstilisiert und selbst zum Deutschen gemacht wird (ex Alemannorum Stirpe oriundus), während die Lothringer, deren großes Kontingent er in Wahrheit als deren Herzog geführt hatte, im Katalog der Völker erscheinen, denen die Befreiung der Heiligen Stadt fälschlich zugeschrieben werde.31 Was bei dem längst üblichen Namen der Teutonia nicht möglich gewesen wäre - ein guter Grund, ihn hier zu vermeiden - , erlaubte Germani: Die Beschränkung auf das rechtsrheinische Gebiet.32 Entgegen den Tatsachen hatte schon bald nach dem Ereignis Sigebert von Gembloux, selbst ein Lothringer, den Germani, auch hier also den rechtsrheinischen Deutschen, einen bedeutenden Anteil am ersten Kreuzzug zugeschrieben.33 Entgegen seiner Quelle läßt um 1150 der Annalista Saxo Herzog Gottfried cum gente sua et Alemannis et Saxonibus et Suevis am Kreuzzug teilnehmen.34 Ebenfalls über seine Vorlagen hinausgehend nennt Gerhoh von Reichsberg im Psalmenkommentar35 Teutonia cum Francigenis. Unter den Teutonici habe Herzog Gottfried hervorgeragt, zu dessen Heer die Lothringer, Bayern, Sachsen und die übrigen deutschen Stämme (reliquae Teutonicae nationes) gehört hätten. Zur supragentilen Gemeinschaft der Deutschen zählen also die Lothringer ebenfalls. An der Spitze der Fran29
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W . Eggert, Das ostfränkisch-deutsche Reich in der Auffassung seiner Zeitgenossen, 1973, S.70 u. 169. F. Vigener, Bezeichnungen für Volk und Land der Deutschen vom 10. bis zum 13.Jahrhundert, 1901 (Nachdr. 1976), S. 102 ff.; H. Beumann, Der deutsche König als „Romanorum rex" (SB d. Wiss. Ges. an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M. 18 Nr. 2), 1981, S. 48 (16). Knoch S. 123 f. M. Lugge, „Gallia" und „Francia" im Mittelalter (Bonner Historische Forschungen 15), i960, S.37 ff.; H. Beumann, Die Bedeutung des Kaisertums für die Entstehung der deutschen Nation im Spiegel der Bezeichnungen von Reich und Herrscher, in: Aspekte der Nationenbildung im Mittelalter (NATIONES 1), 1978, S. 335 ff. Chron. ad a. 1096, MGH SS 6, S. 367; Knoch S. 116. MGH SS 6, S. 730; Knoch S. 116. Gerhohi praepositi Reichersbergensis Opera inedita, ed. D. ac O. van den Eynde et P. Rijmersdael, vol. 2: Expositionis psalmorum pars III et pars IX (Spicilegium Pontificii Athenaei Antoniani 9), Rom 1956, zu Ps. 33, S.260, 2 5 - 2 1 6 , 9; MGH Libelli de Lite 3, S. 430; Knoch S. 116 m. Anm. 45.
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zosen habe der Bruder ihres Königs, Hugo Magnus, gestanden. Die Franzosen heißen Francigenae, ihr König rex Franciae. Als Teilnehmer des französischen Heeres werden principes illius nationis erwähnt: Natio bezeichnet also hier bei den Deutschen die Stämme, bei den Franzosen das, was wir Nation nennen würden. Schon vor allen genannten Autoren, 1100-1102, hatte bereits ein anderer Lothringer, Albert von Aachen in seiner Historia Hierosolymitana, einen namhaften Anteil der Deutschen am ersten Kreuzzug unter Führung Gottfrieds behauptet.36 Deutsche Stämme unter Einschluß der Lothringer erscheinen bei ihm als universum genus Theutonicorum, er spricht von den viri de gente Theutonicorum, den universi Theutonici. Gottfrieds Heer heißt Theutonicorum comitatus oder einfach Theutonici, auch peregrini Theutonici. Die Theutonici werden den Francigenae und den Romani gegenübergestellt.37 In der Tat erweist sich der Kreuzzug für nationales Ressentiment produktiv. Dafür spricht die ungewöhnliche Dichte der Zeugnisse und ihre argumentative Funktion. Statt durch einen Begriff wird die Sache durch den Namen vertreten, durch Teutonicus eindeutiger als durch Francas oder Francigena. Nicht minder beachtlich ist die häufige Verbindung des nationalen Namens mit einem Katalog zugehöriger gentes oder nationes, also von Stämmen, die Darstellung der Nation als supragentiler Gemeinschaft. Kaum belegt wird allerdings für die Deutschen die Förderung ihrer nationalen Vorurteile gegenüber den Franzosen durch die lebendigen Erfahrungen des Kreuzzuges selbst, da Deutsche an ihm nur in geringem Maße beteiligt waren. Auch setzt der Streit über die nationalen Anteile an der Befreiung Jerusalems den Erfolg voraus, kann also erst nachträglich aufgekommen sein. Und schließlich hätte schwerlich jemand darauf verfallen können, den Franzosen den Sieg abzusprechen und den Deutschen zuzuschreiben, ohne bereits von den beiden Nationen eine Vorstellung zu haben, sie für existent zu halten. Schon vor dem Kreuzzug bezeugt die Existenz einer deutschen Nation kein geringerer als Papst Gregor VII. Gegen die Regeln der Reichskanzlei, aber auch entgegen dem kurialen Formular begann er 1074, Heinrich IV. als rex Teutonicorum zu titulieren und, häufiger noch, die deutsche Reichsbezeichnung (regnum Teutonicum/Teutonicorum) zu verwenden.38 Diese gelangte schließlich sogar in das Wormser Konkordat und erleichterte dort die räumliche Definition der Geltungsbereiche abweichender Regelungen der Investiturfrage. Es liegt auf der Hand, daß die protokollarische Einstufung des salischen Königtums als eines bloß nationalen in Analogie zum rex Francorum oder rex Ungarorum der Anwartschaft auf die Kaiserwürde als einem Gewohnheitsrecht die Grundlage entziehen sollte. Die Einbürgerung des Römischen Königstitels unter Heinrich V. darf als Antwort der Reichsregierung aufgefaßt werden.39 Hier interessiert die Voraussetzung, unter der allein Gre36
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Knoch S. 116 ff.; zur Entstehungszeit ebd. S.82f. Zustimmung dazu bei WattenbachHoltzmann, Geschichtsquellen, 3. Teil, hg. von F.-J. Schmale, 1971, S. 172 * f. und R. Ch. Schwinges, Kreuzzugsideologie und Toleranz. Studien zu Wilhelm von Tyrus (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 15), 1977, S. 39 f. Die Belege bei Knoch, S. 117 Anm. 46 ff. E. Müller-Mertens, Regnum Teutonicum. Aufkommen und Verbreitung der deutschen Reichs- und Königsauffassung im früheren Mittelalter, 1970, S. 145 ff. Dazu H. Beumann, Regnum Teutonicum und rex Teutonicorum in ottonischer und salischer Zeit, in: Archiv für Kulturgeschichte 55, 1973, S. 215-223. Beumann, Der deutsche König als „Romanorum rex" (wie Anm. 30), S. 79 (47).
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gor VII. sich von einem solchen Schachzug Erfolg versprechen konnte. Nur wenn es sich bei den Deutschen um eine politische Realität von einigem Gewicht handelte, wenn also die nationale Bezeichnung von Reich und Herrscher auch in weiteren Kreisen von der Sache her kaum zurückgewiesen werden konnte, durfte der Papst hoffen, den König auf solche Weise bedrängen zu können. 40 Die politische Nutzung des nationalen Königstitels beobachten wir bei Heinrichs IV. Absolution zu Canossa und bei der Anerkennung des Gegenkönigs Rudolf von Schwaben. In beiden Fällen ist in den päpstlichen Dokumenten allein vom rex Teutonicorum die Rede, die Frage Reichsitaliens sollte unberührt bleiben. Erneut erhebt sich allerdings die Frage, ob das hier erscheinende supragentile Gebilde als Nation bezeichnet werden sollte. Man hat nach sowjetischem Vorbild den Terminus „Nationalität" für die mittelalterliche Erscheinungsform der Nation vorgeschlagen.41 Gewicht hat diese Unterscheidung allenfalls bei der Auseinandersetzung unserer Tage über die deutsche Frage, für die Theorie zweier aus einer „Nationalität" hervorgegangenen deutschen Nationen, einer „sozialistischen" und einer „kapitalistischen".42 Ungeeignet erscheint mir die Kennzeichnung als „praenational", sofern damit nicht auf einen vor der Nationenbildung liegenden Zustand verwiesen wird. Wenn man davon ausgeht, daß es sich bei der Entstehung der Nationen um historische Prozesse von langer Dauer handelt, steht man vor keinen größeren Schwierigkeiten als beim Gebrauch von Begriffen wie „Stadt" und „Staat". Im Grunde kommt es auf eine terminologische Ubereinkunft der Historiker an, auf die Verständigung über einen Idealtyp im Sinne Max Webers. Bei allen Divergenzen innerhalb der modernen Nationalismus-Forschung herrscht darin Übereinstimmung, daß es sich bei den Nationen um historische, nicht etwa um naturwüchsige Phänomene handelt, um Ergebnisse der Geschichte, nicht um ein dieser vorgegebenes Material. In einer Blütezeit der Nationalgeschichtsschreibung, im 19.Jahrhundert, war dies nicht das Thema. Freiherr vom Stein, der Gründer der Monumenta Germaniae Historica, hat seine „Deutsche Geschichte" mit den Cimbern und Teutonen beginnen lassen. Georg Waitz gab dem ersten Band seiner „Deutschen Verfassungsgeschichte" den Titel: „Die Verfassung des deutschen Volkes in ältester Zeit". Zu den Quellen gehört die Germania des Tacitus. Erst am Ende des Jahrhunderts hat Alfred Dove eine Wende eingeleitet. Doch bei seinen Forschungen über die Geschichte des deutschen Volksnamens stieß er auf die völkerwanderungszeitlichen gentes, deren Wesen er in kontrastierender Gegenüberstellung zur spätantiken Staatlichkeit analysiert und beschrieben hat. Eine Wirkung blieb seinen Arbeiten, deren wichtigste erst posthum im Jahre 1916 durch Friedrich Meinecke veröffentlicht worden ist 43 , nahezu ein halbes Jahrhundert lang versagt, und als sie, bald nach dem zweiten Weltkrieg, entdeckt wurden, war in der Mediävistik die Diskussion über die Anfänge des deutschen Volkes
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Müller-Mertens S. 327. Szücs (wie Anm.4). Vgl. dazu Zientara (wie Anm.3) S. 307 ff. Grundlegende Auseinandersetzung mit Szücs:J. Ehlers, Nation und Geschichte, in: Zs. f. Histor. Forschung 11,1984, S. 2 0 5 - 2 1 8 . A. Kosing, Nation in Geschichte und Gegenwart, Berlin 1976, S. 179. A. Dove, Studien zur Vorgeschichte des deutschen Volksnamens (SB Heidelberg, phil.hist. Kl. Jahrg. 1 9 1 6 , 8 . Abh.), 1916.
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und Reiches seit rund einem Jahrzehnt im Gange. 44 A m nachhaltigsten hat Reinhard Wenskus in seinem 1961 erschienenen Buch über „Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes" an Dove angeknüpft. Das auch unter Heranziehung ethnosoziologischer Modelle gewonnene Ergebnis lief auf den radikalen Bruch mit romantischen Vorstellungen von Stämmen als vermeintlich naturwüchsigen Bausteinen der Geschichte hinaus. Ihre Ethnogenese wird als historischer Prozeß erklärt, die gentile Abstammungsgemeinschaft als Fiktion entlarvt und als intentionales Datum von erheblicher Bedeutung für die gentile Integration neben Stammeskult und -Sitten in Anspruch genommen. Schon Dove hatte gesehen, daß von diesen gentes kein gerader W e g zu den europäischen Nationen führt. Dazwischen schob sich das fränkische Großreich, das sich eine Vielzahl von gentes einverleibt und sozusagen als Transformator gewirkt hat. Bei seiner Auflösung in der zweiten Hälfte des 9.Jahrhunderts kam es nicht zur Restaurierung der gentilen Welt, sondern zur Entstehung neuartiger Gebilde, in denen Dove die europäischen Nationen aufsteigen sah. Die Frage nach deren Ethnogenese war vollends nach dem Buch von Wenskus analog zu der der gentes gestellt. Im Schwerpunktprogramm der Deutschen Forschungsgemeinschaft über „Die Entstehung der europäischen Nationen im Mittelalter" ist sie thematisiert worden. 45 Diese hier notwendigerweiser äußerst knappe Skizze eines Forschungsweges soll vor allem im Vergleich zu Nationalismus-Forschung einen entgegengesetzten Zugang zur Nationenbildung verständlich machen. Das Problem wird sozusagen vom Kopf auf die Füße gestellt. Um eine Stratigraphie, wie sie für die Erforschung der nationalen Vorurteile postuliert worden ist, handelt es sich hier ebenfalls. U m beim Bilde der Archäologie zu bleiben: Man kann auch, anstatt von der obersten Schicht nach unten zu graben, ein bereits bis in die Tiefe freigelegtes Profil studieren und von der zeitlichen Abfolge der Schichten ausgehen. Vergleichsgröße ist nicht die jüngste Schicht, die der Archäologe mit der Planierraupe abzuräumen pflegt. Der Historiker, der nicht wie der Archäologe seine Quellen zerstört, ist nicht wie dieser darauf angewiesen, chronologisch rückwärtsschreitend einzudringen. Er kann die Horizonte in ihrer historischen Abfolge und in ihrem Wirkungszusammenhang analysieren, vom antiken über den gentilen und den fränkisch-karolingischen zum postkarolingischen. Was an diesem neu ist, wird im Vergleich zu den darunterliegenden Schichten untersucht. 44
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G. Teilenbach, Königtum und Stämme in der Werdezeit des deutschen Reiches, 1939; ders., Die Entstehung des deutschen Reiches, 1940; H. Zatschek, Wie das erste Reich der Deutschen entstand, 1940; H. Eichler, Die Gründung des ersten Reiches. Ein Beitrag zur Verfassungsgeschichte des 9. und 1 O.Jahrhunderts, 1942; M. Lintzel, Die Anfänge des deutschen Reiches, 1942; Die Entstehung des deutschen Reiches (Deutschland um 900). Ausgewählte Aufsätze aus den Jahren 1928 bis 1954 mit einem Vorwort von H. Kämpf (Wege der Forschung 1), 1956; W. Schlesinger, Die Grundlegung der deutschen Einheit im frühen Mittelalter, in: Die deutsche Einheit als Problem der europäischen Geschichte, hg. von C. Hinrichs und W. Berges, i960, S.5-45 (Nachdr. in: Ders., Beiträge zur deutschen Verfassungsgeschichte des Mittelalters 1, 1963); W. Schlesinger, Die Königwahl Heinrichs I, der Beginn der deutschen Geschichte und die deutsche Geschichtswissenschaft, in: HZ 221, 1975, S. 529-552. Vgl. den Forschungsbericht in: Jahrbuch der historischen Forschung 1979, S.39-41, nachgedr. in: Mittellateinisches Jahrbuch 15, 1980, S. 2 56 ff.
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Die auf dem Boden des Karolingerreichs bei dessen Auflösung entstandenen Gebilde können vorerst, neutral gegenüber unserer Fragestellung, als nachkarolingische Regna bezeichnet werden. In einem langgestreckten Prozeß waren aus Reichsteilen Teilreiche und schließlich politisch selbständige Größen erwachsen. Neu an ihnen ist zunächst, paradox formuliert, eine eigentümliche Mischung von Altem: Karolingische Traditionen erscheinen mit mächtigen Residuen des gentilen Substrates vermischt. Das Regnum Teutonicorum, wie es in der ersten Hälfte des 1 O.Jahrhunderts in einem zunächst singulären Zeugnis genannt wird46; ist ein Konglomerat von Stämmen, gegen deren divergierende Interessen sich das Königtum mühsam durchsetzen mußte. Da sich der deutsche Name als einziger von einem Appellativum und nicht von einem gentilen Völkernamen oder einem antiken Toponym herleitet, läßt sich hier die fortbestehende gentile von der neuen nationalen Ebene gut unterscheiden, während der Frankenname fast unmerklich in seine nationale Bedeutung hinübergleitet. Die Teutonicus-Variante zum ursprünglichen *peodisk, die sich in den lateinischen Texten früh durchgesetzt hat, enthält die Fiktion der Teutonen als der gens eponyma und kennzeichnet die fortdauernde Wirkung des gentilen Denkschemas der Abstammungsgemeinschaft. Bei den Franzosen weisen das Fortleben der merowingerzeitlichen, pseudogentilen Sage von der trojanischen Abstammung der Franken und die Bezeichnung Francigena, soweit sie auf die nationale Identität zielt, in die gleiche Richtung. Im Supragentilen Verband hat der einzelne eine doppelte Identität: die gewiß noch lange dominierende als Angehöriger seines Stammes und als Deutscher. Unter den Elementen fränkisch-karolingischer Herkunft sind vor allem diejenigen hervorzuheben, die gegenüber der gentilen Vielfalt das Prinzip der regnalen Einheit vertraten: Das christlich legitimierte Weihekönigtum karolingischer Prägung und die mit diesem kooperierende Kirche. Prägnante Quellenzeugnisse belegen, daß die von der Kirche unter Ludwig dem Frommen entwickelte antigentile Ideologie einer imperialen Reichseinheit an der Wende vom 9. zum lO.Jahrhundert, in einer besonders kritischen Phase des weit fortgeschrittenen Auflösungsprozesses, von führenden Männern der Kirche auf den engeren Rahmen des ostfränkischen Regnum übertragen worden ist.47 Im Westfrankenreich war Erzbischof Hinkmar von Reims auf seine Weise hierin vorangegangen. In dem von Widukind von Corvey geprägten Begriff des populus Francorum atque Saxonum erscheint, wie der Singular erkennen läßt, eine inter- oder supragentile Einheit, wobei die legitimierende Funktion des Frankennamens ausgenutzt wird.48 Die Kirche hat manchen gentilen Traditionen, insbesondere den paganen, die Grundlage entzogen. Die Götter als Spitzenahnen der Königsgenealogien verlieren ihre Funktion, die bis zu einem gewissen Grade von heiligen Königen übernommen wird. Nationalpatrone treten als Integrationssymbole daneben. Beide Rollen
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Zum Zeugnis der Annales Iuvavenses maximi vgl. Beumann, Die Bedeutung des Kaisertums (wie Anm. 32) S. 345 ff. H. Beumann, Unitas ecclesiae - unitas imperii - unitas regni. Von der imperialen Reichseinheitsidee zur Einheit der regna, in: Settimane di studio 27, Spoleto 1981, S. 5 3 1 - 5 7 1 . Beumann, Die Bedeutung des Kaisertums (wie Anm.32) S. 332 f.; B. Pätzold, „Francia et Saxonia" - Vorstufe einer sächsischen Reichsauffassung, in: Jahrb. f. d. Gesch. des Feudalismus 3 , 1 9 7 9 , S. 19-49.
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vereinigt der Heilige Wenzel als ein besonders ausgeprägtes Beispiel.49 Heilige Lanze, Reichskrone und Aachener Reichsthron gewinnen im 1 O.Jahrhundert den Charakter permanenter Symbole für Königtum und Reich. Durch sie und die Königsweihe mit liturgischer Salbung und Krönung ist der König nicht mehr primus inter pares der principes und fideles. In Frankreich verstärkt die Reimser Salbung mit dem „Himmelsöl", sehr wahrscheinlich an Hugo Capet 987 zum ersten Mal vollzogen, die sakrale Sonderstellung des Monarchen.50 Die Legende hatte bereits Hinkmar von Reims erzählt, der Zeitgenosse Karls des Kahlen. Dieser erste westfränkische König war 843 von Adel und Geistlichkeit zu einem förmlichen Herrschaftsvertrag genötigt worden.51 Länger als in Frankreich konkurriert in Deutschland mit der dynastischen Erbfolge die Königswahl, die im 11.Jahrhundert zu Kur unter Beteiligung der Geistlichkeit fortgebildet wird.52 Nahezu synchron mit dem Vordringen der deutschen Reichsbezeichnung bildet sich die Vorstellung vom Regnum als einer transpersonalen Größe aus, die durch die Fürsten dargestellt wird.53 In ersten Umrissen zeichnet sich hier eine verfassungsgeschichtliche Figur ab, als deren spätere, ständestaatliche Ausprägung uns die „Adelsnation" bereits begegnet ist. In einem noch nicht völlig aufgeklärten Bedingungsverhältnis zu der auf die Regna projizierten, ursprünglich imperialen Reichseinheitsidee einerseits und zur Königswahl andererseits steht der Ubergang vom dynastischen Erbteilungsrecht zur Individualsukzession, vom Prinzip der Reichsteilung zur Unteilbarkeit des Regnum während des 1 O.Jahrhunderts in Deutschland wie in Frankreich.54 Ein Bündel intentionaler und funktionaler Faktoren hat aber offenbar den beiden großen nachkarolingischen Regna eine bemerkenswerte Stabilisierung verliehen. Ihre geschichtliche Konsistenz übertrifft die des Frankenreichs bei weitem, erst recht 49
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F. Graus, Lebendige Vergangenheit. Überlieferung im Mittelalter und in den Vorstellungen vom Mittelalter, 1975, S. 159 ff.; ders., Die Nationenbildung der Westslawen (wie Anm.3), S.58. Den Erstgebrauch 987 begründet A. Poensgen, Geschichtskonstruktionen des früheren Mittelalters zur Legitimierung kirchlicher Ansprüche in Metz, Reims und Trier, Phil.Diss. Marburg/Lahn 1971, S. 77 ff. P. Classen, Die Verträge von Verdun und von Coulaines 843 als politische Grundlagen des westfränkischen Reiches, in: H Z 196, 1963, S . 7 - 3 5 . Nachdr. in: Ausgewählte Aufsätze von Peter Classen, unter Mitwirkung von C. J. Classen und J. Fried hg. von J. Fleckenstein (Vorträge und Forschungen 28), 1983; J. Ehlers, Die Anfänge der französischen Geschichte, in: H Z 240, 1985, S. 13 ff. U. Reuling, Die Kur in Deutschland und Frankreich. Untersuchungen zur Entwicklung des rechtsförmlichen Wahlaktes bei der Königserhebung im 11. und 12.Jahrhundert (Veröff. d. Max-Planck-Instituts für Geschichte 64), 1979. H. Beumann, Zur Entwicklung transpersonaler Staatsvorstellungen, in: Das Königtum (Vorträge und Forschungen 3), 1956, S. 185-224. Nachgedr. in: ders., Wissenschaft vom Mittelalter, 1972; Müller-Mertens, Regnum Teutonicum (wie Anm.38) S. 182ff., bes. S. 231 ff. (zu Lampert von Hersfeld) und 324ff. (Zusammenfassung). G. Teilenbach, Die Unteilbarkeit des Reiches. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte Deutschlands und Frankreichs, in: HZ 163, 1941, S . 2 0 - 4 0 , leicht überarb. Fassung in: Wege der Forschung 1 (wie Anm.44); K. Schmid, Die Thronfolge Ottos des Großen, in: ZRG GA 81, 1964, S . 8 0 - 1 6 3 , Nachdr. in: Königswahl und Thronfolge in ottonisch-frühdeutscher Zeit, hg. von E. Hlawitschka (Wege der Forschung 178), 1971; E. Hlawitschka, Zum Werden der Unteilbarkeit des mittelalterlichen deutschen Reiches, in : Jahrb. d. Univers. Düsseldorf 1969/70, S . 4 3 - 5 5 .
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aber die der nachantiken gentilen Reichsbildungen. Wir fassen hier die Merkmale eines dritten nachantiken historischen Horizontes, der für die Gestaltung Europas als einer Gesellschaft von Nationen bestimmend geworden ist. 55 Ihn haben neben neuen Elementen die tradierten in neuem Mischungsverhältnis geprägt. Der Wandel hat sich weitgehend unterschwellig, von den Zeitgenossen unbemerkt vollzogen, er erschließt sich erst der historischen Analyse. In unseren Quellen leben die alten Beschreibungsmuster, auch und gerade die gentilen, fort. Das erschwert jenseits der einstigen karolingischen Reichsgrenzen die Scheidung des nationalen vom gentilen Horizont. Zurückzuweisen ist schließlich der jüngst geäußerte Verdacht, „Die Entstehung der europäischen Nationen im Mittelalter" werde in dieser Formulierung des entsprechenden Forschungsprogramms als zielgerichteter Prozeß aufgefaßt, die modernen Nationen als durch ihre mittelalterlichen Anfänge determiniert. 5 6 Die Frage nach der Entstehung, den Anfängen eines Klosters, einer Stadt, eines Reiches, einer Nation enthält nicht schon als solche eine teleologische Prämisse. Wie stets ist auch bei der Erforschung der Nationenbildung das Vergebliche zu beachten, in unserem Falle also gescheiterte Ansätze zur Nationsbildung. Schwerlich führt ferner von den nachkarolingischen Regna zu den Nationen der Neuzeit ein gerader Weg. Mit Rückschlägen, ja Sackgassen ist ebenso zu rechnen wie mit der Teilhabe am geschichtlichen Wandel als solchem, dem alle historischen Erscheinungen unterliegen, die wir idealtypisch auf den Begriff zu bringen pflegen.
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W. Schlesinger, Die Auflösung des Karlsreiches, in: Karl der Große, Lebenswerk und Nachleben 1: Persönlichkeit und Geschichte, 1965, S.792 f. Schwinges, „Primäre" und „sekundäre" Nation (wie Anm. 4) S. 495 Anm. 10.
Nationale Deutungsmuster der Vergangenheit in spätmittelalterlichen Chroniken Frantisek Graus
Es kann nicht die Aufgabe dieses Beitrages sein, die Entwicklung des Nationalbewußtseins1 im Spätmittelalter in seiner Breite zu untersuchen. Diese Problematik ist außerordentlich vielschichtig, und ein national gefärbtes Eigenbewußtsein gab es nicht erst im Spätmittelalter. Doch unbestreitbar entsteht gerade in dieser Zeit ein neuartiges Bewußtsein - es scheint sogar, daß das Spätmittelalter eine der „Schlüsselzeiten" für die Entwicklung mancher europäischer Nationen war.2 Wie die Entwicklung der Nationen nicht geradlinig, kontinuierlich-aufsteigend verlief, so kristallisierte sich ein Eigenbewußtsein, das sich zu einem Nationalbewußtsein wandeln konnte, oft gebrochen und in Etappen - selbst im Spätmittelalter wird man nur in einigen Fällen und bei bestimmten Gruppen von einem eigentlichen Nationalbewußtsein sprechen können; die meisten Quellen repräsentieren eher Vorstufen. Die Bewußtseinsbildung verlief in „Schüben", und für ihre Entfaltung hatten im Mittelalter manche Ereignisse eine Schlüsselstellung - vor allem Schlachtentraditionen wurden wiederholt zu Kristallisationspunkten, an denen sich die Bewußtseinsbildung zentrieren konnte. 3 Auch dabei scheinen sich „Schlüsselzeiten" in den einzelnen Ländern abzuzeichnen, wie dies die Ereignisse in Böhmen nach dem Jahre 1278, der sogenannte Hundertjährige Krieg in Frankreich und in England, die Kämpfe mit Karl dem Kühnen im Reich, der sogenannte Schwabenkrieg in der Schweiz jeweils mit ihrem Widerhall und ihren Traditionen bezeugen - um nur einige Beispiele zu nennen. Wie dies bei Phänomenen aus dem Bereich der Empfindungen und der Gefühle üblicherweise der Fall ist, sind wir bei ihrer historischen Analyse noch mehr als dies sonst in der Historie der Fall ist, auf indirekte Angaben, oft auf bloße Indizien angewiesen. Die naheliegende Vermutung, man könne durch eine Analyse der 1
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Zu der angewandten Nomenklatur F. Graus. Die Nationenbildung der Westslawen im Mittelalter ( = Nationes 3, Sigmaringen 1980), S. 11 ff. Dazu ebd. S. 138 ff. Nun noch Ludwig Schmugge, Über „nationale" Vorurteile im Mittelalter (DA 3 8 , 1 9 8 2 , S. 439-459). Es genügt beispielsweise an Schlachten wie Bouvines (1214), die Schlacht auf dem Marchfelde (1278), Bannockburn (1314), Morgarten (1315), Sempach (1386), Kosovo Pole (1389), Grunwald-Tannenberg (1410) mit ihrem Nachleben in der Geschichtstradition der einzelnen Völker zu erinnern, um die Bedeutung dieser Ereignisse für die historische Bewußtseinsbildung zu würdigen. Beachtenswert ist andererseits wie einige Schlachten, denen der Historiker entscheidende Bedeutung zumißt, ohne jeden Widerhall geblieben sind. Zur „Nationalisierung" einer Schlachtenüberlieferung am Beispiel der Schlacht auf dem Marchfelde (1278) F. Graus, Premysl Otakar II. - sein Ruhm und sein Nachleben. Ein Beitrag zur Geschichte politischer Propaganda und Chronistik (in: MIÖG 79, 1971, S. 57-110).
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Terminologie zur Bezeichnung der spätmittelalterlichen Nationen weiter kommen, ein Vorgehen, das sich in der Verfassungsgeschichte zuweilen bewährt, scheint für diesen Zeitabschnitt kaum Erfolg versprechend: Untersuchungen über den Begriff der „natio" 4 zeigen klar die Grenzen dieses Vorgehens auf.5 Transpersonale Begriffe, die zur Symbolisierung von Gebieten oder von Herrschaftsbereichen verwendet wurden, sind in der Regel bereits älteren Ursprungs - es genügt beispielsweise auf Begriffe, die in ihren Bereichen eine Zentralstellung erlangt haben, hinzuweisen, wie etwa auf die Polonia, die Francia, den Reichsbegriff oder die in verschiedensten Gegenden vorkommenden „Staatsbegriffe" Corona, regnum. 6 Personifizierungen von Nationalbegriffen, d. h. der Aufstieg von wirklichen oder sagenhaften Personen zu Repräsentanten von Völkern (wie etwa Jeanne d'Arc, Wilhelm Teil) oder die Entstehung reiner Abstrakta (deutscher Michel, böhmischer Wenzel) gehören dagegen erst späteren Zeiten an. Die Untersuchung von Änderungen, wenn sie sich nicht Allgemeinheiten verlieren soll, muß ihr Arbeitsfeld eineingen. Die Ansicht, daß die eigenen Bräuche und Sitten die besten, die jeweilige Wir-Gruppe besonders ausgezeichnet sei, ist wohl allgemein verbreitet und sie hat seit altersher ihren Niederschlag in literarischen Zeugnissen gefunden. Ein Stolz auf die eigene „Nation" läßt sich auch im Spätmittelalter in den unterschiedlichsten literarischen Gattungen feststellen, sogar in Schöpfungen, denen sie von Haus aus fremd waren - als Beispiel seien etwa die Ritterdichtungen 7 oder die Prophezeiungen 8 angeführt. Wenn ich meine Aufmerksamkeit auf einige Erscheinungsformen und Phänomene der mittelalterlichen Geschichtsschreibung konzentriere - auch hier kann es sich bei dem Umfang der spätmittelalterlichen Chronistik bloß um Einzelbeispiele handeln - so führt mich zu dieser Eingrenzung nicht nur eine deformation professionelle, sondern auch der Umstand, daß der Geschichtsschreibung bei der Herausbildung und besonders bei 4
Z u m Begriff der Natio vgl. die bei F. Graus, Die Nationenbildung S. 1 5 0 angeführten Untersuchungen. Hinzu k o m m e n noch Jadwiga Krzyzaniakowa, Pojfcie narodu w „rocznikach" Jana Dfugosza. Z Problemow swiadomosci narodowej w Polsce X V w. (in: Sztuka i ideologia X V wieku, Warszawa 1978, S. 1 3 5 - 1 5 3 ) ; Götz Landwehr, „Nation" und „Deutsche Nation". Entstehung und Inhaltswandel zweier Rechtsbegriffe unter bes. Berücksichtigung norddeutscher und hansischer Quellen vornehmlich des Mittelalters (in: Aus dem Hamburger Rechtsleben = FS W . Reimers, Berlin 1979, S. 1 - 3 5 ) : J.-J. Becker in H R G III (1981), Sp. 8 6 2 - 8 6 6 ; Ulrich Nonn, Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation. Z u m Nationen-Begriff im 15.Jahrhundert ( Z H F 9, 1982, S. 1 2 9 - 1 4 2 ) .
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Aussichtsreicher erscheint möglicherweise die Analyse der eigenen und fremden Bezeichnungen von Völkern - aber die hat das Spätmittelalter meist aus vorangehenden Zeiten übernommen.
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Der Wandel der Symbolik ist etwa am Beispiel der Oriflamme ablesbar - dazu F. Graus, Lebendige Vergangenheit. Uberlieferung im Mittelalter und in den Vorstellungen vom Mittelalter (Köln-Wien 1975), S. 151 ff. mit weiterführenden Literaturangaben. Anklingende Parallelfälle wären etwa das schottische Löwenbanner, die Fahnen der Schweizer Orte und im gewissen Sinn auch das Reichsbanner. Ebenso etwa aus der Entwicklung des Reichsbegriffes - dazu nun bes. Ernst Schubert, König und Reich. Studien zur spätmittelalterlichen deutschen Verfassungsgeschichte (Veröff. MPIG 63, Göttingen 1979). Diese Wandlungen müßten eigenständig untersucht werden.
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Als besonders illustratives Beispiel sei etwa auf das alttschechische Gedicht Stilfrid hingewiesen - dazu F. Graus, Die Nationenbildung (wie A n m . 1), S . 9 4 f .
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Dietrich Kurze, Nationale Regungen in der spätmittelalterlichen Prophetie ( H Z 2 0 2 , 1966, S. 1 - 2 3 ) .
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der Begründung von nationalen Vorstellungen und Vorurteilen eine überaus große Bedeutung zukommt - eine Tatsache, die bereits dem Mittelalter nicht ganz unbekannt war.9 Einzelne Typen dieser Vorstellungen (und auch dabei ist absolut keine Vollständigkeit angestrebt) können als Indikatoren für die Stärke eines national verfärbten Eigenbewußtseins dienen - und sie waren zugleich mächtige Katalysatoren der Bewußtseinsbildung. J e d e Vorstellung von einer Nation sieht sich vor die Aufgabe gestellt, die vorhandenen Unterschiede zwischen lokalen und sozialen Schichten 1 0 zu überwinden und dialektologische Gruppen, die einander oft gar nicht verstehen, zu einer übergeordneten Gemeinschaft zusammenzufassen. Auch die Sprecher eines mittelalterlichen Nationalbewußtseins traten demgemäß nicht als Vertreter einzelner Gruppen auf, sondern erhoben den Anspruch, für eine Gesamtheit zu sprechen 1 1 , zwangsläufig mußte dabei (wegen der verschiedenen vorhandenen „Schranken" und Unterschiede in der Gesellschaft und Sprache) meist auf eine gemeinsame Vergangenheit rekurriert werden. Die postulierte übergeordnete Einheit konnte im Mittelalter durch den Herrscher symbolisiert werden, war aber in diesem Fall wegen der aufkommenden sogenannten Standesopposition meist von nur begrenzter Wirkung. (Auch war kein einziger der spätmittelalterlichen Staaten „national einheitlich" - eine Tatsache, die meist übersehen wird.) Eine „Staatsgeschichtsschreibung" 1 2 konnte daher bestenfalls dynastisch verankert werden, nicht „national" und Frankreich hatte gerade darin eine Sonderstellung, daß man hier (historisch zwar nicht richtig aber propagandistisch äußerst effektvoll) die Entwicklung des royaume de France mit der Ursprungssage der Franken = Franzosen und der Dynastie parallelisierte. 13 Eine Sonderstellung hat ferner Polen, wo der abstrakte Begriff der Polonia 1 4 , früh historiographisch fixiert, das Zeitalter der „staatlichen Zer-
Vgl. die Einleitung zum Chronicon Polonicum (MGH SS 19, S.555; als Chronica Polonorum in MonPolHist.HI, S.604). 10 Dagegen verbinden einige ältere Versionen (so etwa die sächsische Sage) die Herkunftssage mit der Entstehung von Standesunterschieden - im 13.Jh. etwa Simon Keza dazu Jenö Szücs, Theoretische Elemente in Meister Simon von Kézas „Gesta Hungarorum" (1282-1285) (urspr. englisch 1975, dann in J. Szücs, Nation und Geschichte, Köln-Wien 1981, S. 263-328) mit Überschätzung der „Modernität" Kézas. Eine gewisse „moderne" Fortsetzung fand die Herleitung von Standesunterschieden aus der Zeit der Landnahme bekanntlich im Streit über die zwei „Rassen" der französischen Geschichtsschreibung des 18./19.Jh. 11 Diese Tendenz wird etwa klar 1409 artikuliert von Hieronymus von Prag in seiner Recomendatio arcium liberalium (vgl. F. Graus, Die Nationenbildung, wie Anm. 1, S. 107 Anm. 151). 12 In der modernen Literatur ist oft auf die Bedeutung der mittelalterlichen Staaten für die Nationenbildung hingewiesen worden. Wenn dieser Faktor auch zweifellos eine Rolle gespielt hat, sollte doch nicht vergessen werden, daß die spätmittelalterlichen Staatengebilde beinahe ausnahmslos „Vielvölkerstaaten" waren. 13 Das betonte nachhaltig etwa Bernard Guenée, État et nation en France au Moyen âge (urspr. 1967; dann B. Guenée, Politique et histoire au moyen âge, Paris 1981, S. 160f.). Zur Entwicklung gesamthaft aus Ders., L'Occident aux XIV e et XV e siècles. Les Etats ( = Nouvelle Clio 22, Paris 1971). 14 Zu der polnischen Bewußtseinsbildung - mit weiterführenden Literaturangaben - F. Graus, Die Nationenbildung (wie Anm. 1); zur „Polonia" bes. S. 182 ff. 9
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splitterung" überdauerte und zur Grundlage eines ausgeprägten Eigenbewußtseins im Mittelalter und in der Neuzeit wurde.15 Jede Gemeinschaft, die sozial und dialektologisch verschiedene Gruppen umschließt und dennoch eine Einheit als für die Mitglieder verbindlich postuliert, muß sich als historisch gewordenes Gebilde verstehen und so ihre Ansprüche legitimieren. Analog gehört zu jedem Nationalbewußtsein zwangsläufig die Vorstellung, daß eine gemeinsame Vergangenheit (ev. Sprache16, die ja gleichfalls „ererbt" ist) ihre Mitglieder „zusammenschmiede" - sie unterscheidet sich dadurch charakteristisch von bloßen ad hoc Interessengemeinschaften. Aus diesem Grund kommt, wie bereits bemerkt, jedem Geschichtsbewußtsein und der Geschichtsschreibung eine zentrale Position zu - etwas zugespitzt konnte sogar formuliert werden, die Historiker hätten die Nationen geradezu geschaffen.17 Schon im Früh- und Hochmittelalter war historischen Traditionen18 eine gewichtige Rolle zugefallen: das konstituierende Wir-Gefühl zu stabilisieren vor allem durch die Tradierung bzw. durch die Postulierung einer gemeinsamen Herkunft ihrer Mitglieder; weiter die Landnahme zu rechtfertigen, was meist dadurch geschah, daß man sie als eine rechtmäßige Eroberung darstellte oder aber, daß man das neuerworbene Land bei der Ankunft der Neusiedler als „menschenleer" schilderte. Oft kamen Erzählungen über die besondere Herkunft oder die Verdienste der herrschenden Dynastien hinzu, später die Bekehrungsgeschichte, und nicht wenige europäische Völker haben sich im Hochmittelalter mit einem Heiligen gerühmt, ihn geradezu zu ihrem himmlischen Patron erkoren. Schon bei diesen älteren Schilderungen der gemeinsamen Vergangenheit waren Aspekte der Legitimierung deutlich, die Begründung gewisser Vorstellungen und insbesondere von Ansprüchen unverkennbar, die über einzelne Schichten und Gruppen hinausreichten. Das Spätmittelalter hat in unterschiedlichem Ausmaß alle diese Erzählungen und Begründungen übernommen und weitertradiert - die Geschichtsschreibung ist zu allen Zeiten durch ihre Ausrichtung auf Quellen und Vorlagen ein recht konservatives Unterfangen und liefert stabilisierende Gedankenmuster durch ihre Verankerung in der Vergangenheit. Die spätmittelalterliche Geschichtstradition, wie sie sich auch im Einzelnen artikuliert haben mag, hat dabei neue Funktionen übernommen und auf ihre Art und Weise gemeistert. Dies sei an einigen Beispielen illustriert - bei dem Umfang und der Vielfalt der spätmittelalterlichen Chronistik kann es sich, begreiflicherweise, nur um recht willkürlich gewählte Beispiele handeln. 13
Hier hat dann Jan Dlugosz im 15.Jh. den Versuch unternommen, für das polnisch-litauische Reich eine einheitliche „Vergangenheit" zu erstellen - dazu die Ûbersichtén bei Heinrich Zeissberg, Die polnische Geschichtsschreibung des Mittelalters (Leipzig 1873), S. 1 9 7 - 3 4 3 ; Stanislaw Kot, Swiadomosc narodowa w Polsce w.XV-XVII (Kwartalnik Historyczny 52, 1938, S. 18 ff.); Jan Dabrowski, Dawne dziejopisarstvo polskie do r. 1480 (Wrociaw-Warszawa-Kraköw 1964), S. 1 8 5 - 2 4 0 ; J. Krzyzaniakowa, Pojçcie narodu (wie Anm.4); Urszula Borkowska, Regnum i sacerdotium w pismach Jana Dlugosza (in: Studia zrodloznawcze 26, 1981, S. 3-21); Stawomir Gawlas, Swiadomosc narodowa Jana Dtugosza (ebd. 27, 1983, S.3-66).
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Die Vorstellung von einer „gemeinsamen Sprache" ist immer - bis zur Entstehung einer Schrift - bzw. Hochsprache - ein bloßes Postulat. B. Guenée, L'Occident (wie Anm. 13), S. 123: „En un sens, ce sont les historiens qui créent les nations". Dazu vgl. auch die Rolle der Geschichte in der sog. Dritten Welt im 20.Jh. F. Graus, Lebendige Vergangenheit (wie Anm. 6).
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Aus der Antike war der Topos vom Kampf um die Freiheit als dem höchsten Gut den mittelalterlichen Gelehrten aus ihrer „Schullektüre" wohl vertraut, und bereits die hochmittelalterliche Chronistik hat ihn, etwa zur Erklärung des Widerstandes der Slawen zwischen Elbe und Oder, wiederholt benutzt. 19 Im H.Jahrhundert wurde dieser Topos zuweilen historisiert, der Freiheitskampf historisch begründet und „national" ausgeführt - so etwa in dem Schreiben der irischen Könige an Papst Johannes XXII. aus dem Jahre 1317, in dem sich die Iren bitter über die Untaten und Grausamkeiten der Engländer beschwerten.20 Als Vorspann der Klagen diente eine historische Begründung der irischen Eigenständigkeit: Seit der Zeit als die drei Söhne des Milesius/Mecelius aus Spanien mit 30 Schiffen in das menschenleere Irland21 kamen seien 3500 Jahre vergangen, in denen 136 „reinrassige" Könige (sine admixtione sanguinis alieni) im Land regierten bis zu König Legarius, der zur Zeit St.Patriks lebte; von Legarius stammte der regierende Oberkönig in direkter Linie ab. Auch nach Patriks Zeiten hätten immer irische-„reinrassige" Könige geherrscht, die gegen alle Feinde ihr Erbe, das ihnen Gott verliehen hatte, tapfer verteidigten und die angeborene Freiheit immer unversehrt bewahrt hätten 22 - bis zu jenem schicksalhaften Jahr der Eroberung Irlands durch die Engländer (1170). Soweit das Schreiben an den Papst. Zur Begründung des Freiheitskampfes der Iren wird neben dem Alter ihres Christentums und ihrer Bekehrung durch St.Patrik noch die Eigenständigkeit die „Reinrassigkeit" ihrer Könige betont 23 , die Rechtsmäßigkeit der Erwerbung des Landes erwähnt und der allgemeine Anspruch auf Freiheit. Zur Begründung des Widerstandes gegen die englischen Eroberer und der Klagen gegen sie, wird hier neben dem naturrechtlich verankerten Anspruch auf die „angeborene Freiheit", auf die Geschichte verwiesen. Ein ähnliches Bild weist auch Schottland auf, wo allerdings die Initiative zur Historisierung der Auseinandersetzung anscheinend von den Engländern ausgegangen ist. Eduard I. hatte bereits 1291 den Auftrag gegeben, „historisches Material" für die englischen Ansprüche auf eine Oberhoheit über Schottland zu sammeln 24 und historische Argumente in seinem Schreiben an Bonifaz VIII. 1301 verwendet, in dem die Vorgeschichte nach Geoffrey von Monmouth geschildert und damit die
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Vgl. Herbert Grundmann, Freiheit als religiöses, politisches und persönliches Postulat im Mittelalter (HZ 183,1957, S. 23-53). Der Text ist erhalten in Joannis de Fodrun Scotichronicon - in der Ausgabe von Walterus Goodall II,(Edinburgii 1759), S. 259-267. Dazu bes. J. A. Watt, The Church and The Two Nations in Medieval Ireland (Cambridge 1970), S. 184 ff.; G.J. Hand, English Law in Ireland, 1290-1324 (Cambridge 1967), S.201 ff. Der Name Hibemia wird vom Fluß Hiberus (Ebro) abgeleitet. Et cum tanto tempore dicti reges, contra diversarum regionum tyrannos et reges, concessam a Deo sibi hereditatem propris viribus strenue défendissent, innatam libertatem semper tenentes illaesam (ed. cit. S. 260). Vgl. oben Text und ed. cit. S. 263 ff. Der Text verwendet dann den Begriff „nationes" für Engländer und Iren, betont die Unterschiede in der Sprache, Sitten und im Verhalten. Übrigens ist vorangehend auch von englischer Seite ein scharfer Trennungsstrich gezogen worden - vgl. Michael Richter, Giraldiana (Irish Historical Studies 21, 1981, S. 422-437). M. Richter bin ich für Hinweise zu diesem Problemkreis zu Dank verpflichtet. Bernard Guenée. L'enquête historique ordonnée par Edouard I er , roi d'Angleterre, en 1291 (urspr. 1975; dann B. Guenée, Politique, wie Anm. 13, S.239-251).
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rechtmäßige Eroberung Schottlands auf König Artus zurückgeführt wurde. 25 Die eigentliche Wende im Kampf zwischen Engländern und Schotten brachte in dieser Zeit die vernichtende Niederlage der Engländer 1314 bei Bannockburn, die zu einem „Schlüsselerlebnis" für die Schotten geworden ist. 26 Als dann Papst Johannes X X I I . zu Gunsten der Engländer Partei ergriff, wehrten sich die Schotten 1320 in einer feierlichen Erklärung der Barone, Adeligen und der „tota Communitas Regni Scocie" in einem Schreiben, das in die Geschichtswissenschaft als Declaration of Arbroath eingegangen ist. 27 Auch dieses Schreiben argumentiert historisch, verweist ausdrücklich auf „Quellen" (ex antiquorum gestis et libris colligimus), erwähnt die Herkunft der Schotten, die Eroberung Schottlands, betont die alte Freiheit und die Selbständigkeit ihrer Könige (nullo alietiigena interveniente); von ihrem Adel und Verdiensten zeuge ihre Bekehrung durch Andreas, den erstberufenen Apostel. Erst der unverschuldete Angriff Eduards I. habe die schottische Freiheit bedroht, ein Angriff der jedoch mit Hilfe Gottes siegreich abgewehrt wurde die Schotten wollten auch weiterhin bis zum völligen Untergang für ihre Freiheit kämpfen. 2 8 Die Schotten, sprachlich am Anfang des 14.Jahrhunderts bereits gespalten, beriefen sich in der Deklaration, in der der Adel als der Sprecher der gesamten „Gemeinde" zur Verteidigung gegen Ansprüche König Eduards auftrat, auf das Alter ihres Christentums, auf den Kampf um die Freiheit - und auf ihre Geschichte. Die Motive, die in Arbroath programmatisch anklangen, hat in den Sechzigerjahren des 14.Jahrhunderts in seiner Chronik Johannes von Fordun 2 9 breit ausgeführt. Die Auseinandersetzung mit England dominiert in seiner Darstellung; die Vorgeschichte, die Wanderung und die Eroberung Schottlands (die als Rückkehr ins alte Heimatland geschildert wird), die göttliche Hilfe und vor allem der ständige und unermüdliche Kampf der Schotten um ihre Freiheit durchziehen die Chronik wie ein roter Faden. Alle Schotten wurden zu einer Gemeinschaft stilisiert, deren oberstes Gesetz die Wahrung ihrer alten Freiheiten war und ist. Der Kampf um die Freiheit ist zum zentralen, alle Schichten gegen den Feind einigenden Motiv stilisiert; er wird zur Konstante der Geschichte, der alle folgen25
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Das Schreiben bei E. L. G. Stones, Anglo-Scottish Relations 1174-1328. Some Selected Documents (2Oxford 1970), Nr. 30 S. 192-219 - die Berufung auf König Artus auf S. 196. Zur Art der Begründung vgl. auch B. Guenee, wie vorangehende Anm. Ronald Nicholson, Scotland. The Later Middle Ages ( = The Edinburgh History of Scottland II, Edinburgh 1974), S.87ff. Im Fußball-Länderspiel England: Schottland erscholl auch 1981 der Ruf „Remember Bannockburn 1314" (Der Spiegel vom l.Juni 1981, S. 166). Ich verwende den rekonstruierten Text von Sir James Fergusson, The Declaration of Arbroath (Edinburgh s.d.), S.49-54; dazu allerdings Grant G. Simpson, The Declaration of Arbroath revitalised (The Scotish Historical Review 56, 1977, S. 11-33) mit einer Übersicht der Forschung und der offenen Fragen. Zur politischen Lage bes. G. W. S. Barow, Robert Bruce and the Community of the Realm of Scotland (London 1965), S. 424 ff. und R. Nicholson, Scotland S. 100 ff. Ed. cit. S. 52 Quia quamdiu Centum ex nobis vi'vi remanserint, nuncquam Anglorum dominio aliquatentis volumus subiugari. Non enim propter gloriam, divicias aut honores pugnamus set propter libertatem solummodo quam Nemo bonus nisi simul cum vita amittit. Die Abhängigkeit von antiken Topoi bei der Formulierung ist unverkennbar. Ed. W. F. Skene, Johannis de Fordun Chronica Gentis Scotorum (Edinburgh 1871/72). Vgl. dazu Hans Utz, Erste Spuren von Nationalismus im spätmittelalterlichen Schottland: Forduns „Chronica Gentis Scotorum" (Schweizerische Zs für Geschichte 29, 1979, S. 305329).
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den Generationen verpflichtet und dieses Motiv findet sich klar bei Iren und Schotten ausgeführt, die man im 14.Jahrhundert schwerlich als ausgebildete mittelalterliche Nationen bezeichnen kann. 3 0 Varianten dieses Motivs finden sich immer wieder bei kleinen Gemeinschaften, die von übermächtigen Gegnern bedroht werden 3 1 , anklingend etwa auch bei dem Kampf der flandrischen Städte gegen Philippe le Bei, gleichfalls am Anfang des 14.Jahrhunderts. 3 2 Grenzen sind dieser Argumentationsweise allerdings durch die Ansicht von der Berechtigung der Standesschranken gesetzt, die im Mittelalter auch von den meisten Verfechtern dieser „alten Freiheiten" nicht in Frage gestellt wurden 3 3 , wogegen die Ansicht von der Freiheit aller Christenmenschen gelegentlich von sogenannten Sozialrebellen aufgegriffen wurde. 34 Wenn in der irischen und schottischen Geschichtskonzeption der Kampf um die Freiheit, die immer wieder von den Engländern, den „Erbfeinden", bedroht wurde, den Leitfaden der historischen Argumentation bildet, der Schwerpunkt der Argumentation in die Vorgeschichte verlegt wird, die unmittelbar mit den Kämpfen der Gegenwart verbunden wird, so war die Situation im spätmittelalterlichen Böhmen, das sich bereits zu einer ausgeprägten spätmittelalterlichen Nation entwickelt hatte, unterschiedlich. Zwar gab es auch hier für die „nationalen" Schriftsteller einen „Erbfeind" - die Deutschen; aber die Verteidigung der eigenen Ansprüche geschah nicht mit der Berufung auf ein allgemeines Freiheitsprinzip oder mit dem Rückgriff auf die Herkunfts- und Landnahmesage, sie war hier im vollen Sinne historisiert, sogar nationalisiert. Es gab zwar in Böhmen einen Ansatz zur Herkunfts- und Landnahmesage bereits am Anfang des 12.Jahrhunderts - aber diese Sagen spielten im Spätmittelalter eine bloß untergeordnete Rolle. 3 6 Zu den Stützpfeilern der alten „patriotischen" Geschichtskonzeption gehörte die Fundierung der Geschicke des Landes auf der Dynastie der Premysliden, auf dem „Land" Böhmen und dem heiligen Patron des Landes, dem Herzog Wenzel (Vaclav). 37 Diese Argumentationslinie fand im Spätmittelalter eine gewisse Fortsetzung, beherrschte aber bald nicht mehr das Feld. Durch die deutsche Ostkolonisation wurde das bisher sprachlich einheitliche Land gespalten; in Böhmen und Mähren gab es seither zwei, wenn auch ungleich große Sprachgruppen. Der alte, vor allem sprachlich bedingte Antagonismus zwi30
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Dazu neuestens Andreas Kalckhoff, Nacio Scottorum. Schottischer Regionalismus im Spätmittelalter (Europäische Hochschulschriften III—142, Frankfurt a.M. - Bern 1983), stellenweise allerdings von eigenartigen modernistischen Fragestellungen ausgehend. Besonders charakteristisch etwa in der schweizerischen Geschichtstradition. Eine gewisse Berühmtheit hat die Brügger Mordnacht (18. Mai 1302) erlangt. Vgl. dazu die Abhandlungen bei Johan Huizinga, Im Bann der Geschichte. Betrachtungen und Gestaltungen (Orig. 1942. Dtsche Ubersetzung Basel 1943). Die Problematik berührt eng die seit dem 14.Jh. verfochtenen verschiedenen Ansichten über die Volkssouveränität. So etwa 1381 im englischen Bauernaufstand, von den radikalen Gruppen hussitischer Chiliasten und Denker (Petr Chelcicky) und von Teilen der Bauern 1525. Mit der Entwicklung des Eigenbewußtseins in Böhmen habe ich mich ausführlich in meinem Buch Die Nationenbildung (wie Anm. 1.) befaßt, wo weiterführende Hinweise zu finden sind. Zu der Entwicklung dieser Sagen F. Graus, Lebendige Vergangenheit (wie Anm. 6), S.89ff. Dazu ausführlich F. Graus, Die Nationenbildung (wie Anm. 1), S. 57 ff. mit weiterführenden Literaturangaben.
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sehen Böhmen und Deutschen 38 , verschärfte sich mancherorts und er wurde nun vor allem neuartig formuliert und begründet. Der Kronzeuge für die Änderung ist die anonyme tschechische Reimchronik aus dem ersten Viertel des 14.Jahrhunderts, die unter dem Namen des sogenannten Dalimil 39 bekannt ist, und der in der Geschichte des spätmittelalterlichen Nationalbewußtseins wohl eine Sonderstellung zukommt. Die Deutschen werden vom Dichter als Erbfeinde der Tschechen dargestellt, das Unterscheidungsmerkmal ist für ihn die Sprache (jazyk, czung), die so dominant ist, daß sie sogar Standesschranken in Frage stellt: Dem Herzog Oldrich (Ulrich) wird der Ausspruch in den Mund gelegt, er wolle lieber eine böhmische Bäuerin heiraten als eine deutsche Kaiserstochter - und dieser Entschluß wird von dem Verfasser der Reimchronik voll gebilligt. 40 Die „Träger" des tschechischen Volkes sind allerdings auch für den sogenannten Dalimil die „unverdorbenen" tschechischen Adeligen - von altem Schrot und Korn, bzw. ihre Gemeinschaft. Die historische Wertung der Böhmenherrscher ist in der Reimchronik auf eine einfache und einprägsame Formel gebracht: Wer ein Freund der Deutschen war, war ein schlechter Herrscher - wer ihr Feind war ein guter. Nicht mehr eine weit entfernte Vorgeschichte wurde zur Begründung dieser Ansicht herangezogen, sondern die „eigentliche" Geschichte, inklusive der unmittelbaren Vergangenheit. Der Reimchronist stilisierte die Böhmen zu einer historischen Schicksalgemeinschaft, bei der die Sprache und die Geschichte eine so entscheidende Rolle spielen, daß sie alle Böhmen zu einer Gemeinschaft formen. Die Geschichte ist in dieser Fiktion zur Lehrmeisterin für das ganze Volk geworden, sie lehrt es, wer seine wahren Feinde sind - obzwar diese „Lehre" den Tatsachen meist nicht entsprach. Der sogenannte Dalimil hat seine Fortsetzung gefunden, er ist in den Jahren 1380-1393 in einer „bürgerlichen" Form in dem Pamphlet „De Theutunicis bonum die tarnen"41 adaptiert und im 15. Jahrhundert mit sogenannten gemeinslawischen Argumenten 42 angereichert worden, die dem sogenannten Dalimil noch völlig fremd gewesen sind. Die Deutschen wurden dabei nicht nur als Feinde der Tschechen, sondern der Slawen schlechthin geschildert.43 Im 15.Jahrhundert überwog infolge der Auseinandersetzung um das Hussitentum, das Motiv der religiösen
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Diese Argumentation ist bereits ausgeprägt bei dem Chronisten Kosmas von Prag ("t"1125) vertreten; dazu wie vorangehende Anm. Die bequemste zugängliche Ausgabe von J. Jirecek in Fontes rerum Bohemicarum 3 (Praha 1878) druckt die alte deutsche Versübersetzung parallel zum Text ab, die Prosaübersetzung im Anhang. Zur Chronik vgl. F. Graus, Die Nationenbildung S. 92 ff., 219 f. Dazu ausführlich F. Graus, Lebendige Vergangenheit, S.229ff. Das Pamphlet ist herausgegeben von Wilhelm Wostry, Ein deutschenfeindliches Pamphlet aus Böhmen aus dem 14.Jh. (Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Deutschen in Böhmen 53, 1915, S. 193-238). Während der sog. Dalimil noch ausgesprochen städtefeindlich eingestellt ist, werden hier die Gegensätze in das bürgerliche Milieu transponiert und mit einer satirischen Version der deutschen Ursprungssage verbunden. Zu dem Text F. Graus, Die Nationenbildung S. 103 ff., 211 ff. und Rainer Christoph Schwinges, „Primäre" und „sekundäre" Nation- Nationalbewußtsein und sozialer Wandel im mittelalterlichen Böhmen (Europa Slavica-Europa Orientalis. FS Herbert Ludat, Berlin 1980, S. 490-532). Ein erster Ansatz zu diesem Gedanken taucht 1278 in dem sog. Manifest Premysl Otakars an die polnischen Fürsten auf, wo das Motiv der gemeinsamen Herkunft mit dem des gemeinsamen Feindes kombiniert wird. Zum „Manifest" F. Graus, Die Nationenbildung S. 130 ff.
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Auserwähltheit, das die Böhmen für sich, als Streiter für den wahren Gottesglauben in Anspruch nahmen, und das sogar - zum Entsetzen der Theologen - dazu führte, daß man gemeinhin von einem „deutschen" und einem „tschechischen" Glauben sprach. 44 Historiographisch war jedoch diese Argumentationsweise wenig ausbaufähig; auf diesem Gebiet verblieb man bei dem Muster des sogenannten Dalimil, stützte es wohl noch durch Fälschungen 45 ab. Der „Höhepunkt" der mittelalterlichen nationalen Argumentation war mit der Mitte des 15.Jahrhunderts bereits überschritten - erst das 19.Jahrhundert hat voll und bewußt an die Tradition des sogenannten Dalimil und seiner Fortsetzer neu angeknüpft. Die Geschichte ist durch diese Interpretation zum Lehrmeister der ganzen Nation geworden. Ein anderer Trend ist für die „Nationalisierung" der spätmittelalterlichen Historiographie in Frankreich bezeichnend. Hier hat die „nationale Einstellung" der Chronisten eine lange Vorgeschichte 46 und die Historiographie späterer Zeit hat kontinuierlich an fränkische Traditionen angeknüpft: an die trojanische Herkunftssage der Franken 47 (die für die weitere Überlieferung zu Franzosen wurden) und an Charlemagne, den das ganze französische Mittelalter als vorbildlichen französischen Kaiser ansah. 48 Hinzu kam bald die Fiktion 4 9 eines einheitlichen Frankreich, das als bestes Land der Erde angesehen wurde 5 0 , und seit der zweiten Hälfte des 12.Jahrhunderts wurde allmählich Francia zur Bezeichnung des ganzen Landes 51 (als royaume de France). Insbesondere aber wurde dem König eine Sonderstellung
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Frantisek Smahel, The Idea of the „Nation" in Hussite Bohemia. An Analytical Study of Ideological and Political Aspects in the National Questions in Hussite Bohemia from the End of the 14 ,h to the Eighties of the 15th Cent. (Histórica 16, 1969, S. 143-247 und 17, 1969, S. 93-117). Etwa die sog. Sobëslavschen Rechte oder das „Privilegium" Alexanders d.Gr. für die Slawen - dazu F. Graus, Die Nationenbildung (wie Anm. 1), S. 108 f., 135 f. Aus der umfangreichen Literatur seien nur die neuen grundlegenden Untersuchungen genannt zur Geschichtsschreibung von Bernard Guenée, Histoire et Culture historique dans l'Occident médiéval (Paris 1980); zur älteren Entwicklung Joachim Ehlers, Elemente mittelalterlicher Nationsbildung in Frankreich (HZ 231, 1980, S. 565-587) und Helmut Beumann Hg., Beiträge zur Bildung der französischen Nation im Früh- und Hochmittelalter ( = Nationes 4, Sigmaringen 1982). Die sog. trojanische Herkunftssage, seit dem 7.Jh. bezeugt, hat die franz. Geschichtsschreibung während des ganzen Mittelalters beherrscht - vgl. F. Graus, Lebendige Vergangenheit (wie Anm. 6), S. 81 ff. Ebd. S. 182 ff. Nachdem seinerzeit der Standpunkt von Jacques Flach, Les origines de l'ancienne France X e et XI e siècles. IV. Les nationalités régionales. Leurs rapports avec la Couronne de France (Paris 1917) strikt abgelehnt worden ist, findet seine Grundthese nun mehr Anerkennung und die sprachlichen Unterschiede (nicht nur zwischen Norden und Süden) finden zunehmend Beachtung. Markant z.B. Le Couronnement Louis (ed. Ernest Langlois, Paris 1925), V. 12f.: Quant Deus eslut nonante nuefreiames, Tot le meillor torna en dolce France- Charlemagne war dabei der beste König. Zum Begriff France/Franceis im Chanson de Roland und im Couronnement Walther Kienast, Deutschland und Frankreich in der Kaiserzeit ( = Monographien zur Geschichte des Mittelalters 9, III Stuttgart 1975), S. 723 ff. Zur Entwicklung der Begriffe Joseph R. Strayer, France: The Holy Land, The Chosen People, and the Most Christian King (Action and Conviction in Early Modern Europe. Essays in Memory of E. H. Harbison, Princeton N.J. 1969, S. 3-16); Charles T. Wood, Regnum Francie: A Problem in Capetian Administrative Usage (Traditio 23, 1967, S. 117-147).
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innerhalb der Christenheit zugesprochen 52 , die bald auf die gesamte Dynastie erweitert wurde. Die Könige von Frankreich haben nie eine Oberhoheit des Kaisertums 5 3 anerkannt und im Spätmittelalter hatte die ganze Dynastie eine Sonderstellung 5 4 ; alle Franzosen waren zur Treue ihr gegenüber verpflichtet. Bei einem ausgeprägten Eigenbewußtsein 55 der Franzosen, das von ihren Nachbarn zuweilen als Hochmut gegeißelt wurde, war es die Vorstellung der gemeinsamen Herkunft, eine abstrakte Landesvorstellung und vor allem die Überzeugung von der Sonderstellung der Könige von Frankreich, die das historische Selbstbewußtsein formten und bereits im 12.Jahrhundert ihren spektakulären Ausdruck in Symbolen wie der Verehrung des St. Denis und der Oriflamme fanden, Paris zum Mittelpunkt der gesamten Francia machten. 56 Die (nichtexistierende) sprachliche Einheit spielte keine Rolle und die politische Einheit Frankreichs war eine noch nicht realisierte Idealvorstellung, die jedoch prägend wirkte; die Territorialisierung des Selbstbewußtseins hatte sich zunächst auf die Ile-de-France konzentriert und strahlte gewissermaßen von hier in die Randgebiete aus. Diese Grundzüge der älteren Chronistik und Literatur haben auch die spätmittelalterliche Historiographie geprägt. Trotz der mächtigen Impulse, die die nationale Bewußtseinsbildung durch die Auseinandersetzung Filipps IV. mit dem Papst und dann insbesondere durch den sogenannten Hundertjährigen Krieg erhielt - die Historiographie blieb primär auf den König und auf die Dynastie ausgerichtet; diese Grundhaltung mußte sich noch durch das Aufkommen der Ansicht, alle Franzosen - ohne Unterschied des Standes - seien „sujets du roi" und des Leitsatzes des König von Frankreich (als Institution) sei gewissermaßen unsterblich, verstärken. Die offiziöse Geschichtsdarstellung hatte seit dem 13.Jahrhundert in den Grandes Chroniques de France 57 ihren Niederschlag gefunden und zu Recht hat B. Guenée 5 8 die Bedeutung des Vinzenz von Beauvais und der Grandes Chroniques für die Entwicklung der spätmittelalterlichen französischen Bewußtseinsbildung hervorgehoben. Die politische Bedeutung der offiziellen Historiographie und des „nationalen" Geschichtsbildes kam etwa bei dem „Staatsempfang" Karls V. für Kaiser Karl IV. im Jahre 1378 drastisch zur Geltung, wo der König von Frankreich ein langes historisches Exposé zur Be-
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Marc Bloch, Les rois thaumaturges. Etude sur le caractère surnaturel attribué à la puissance royale particulièrement en France et en Angleterre (urspr. 1 9 2 4 ; Ndr. Paris 1961) und Ernst H. Kantorowicz, The Kings Two Bodies. A Study in Médiéval Political Theology (Princeton N.J. 1957). Jacques Krynen, Idéal du prince et pouvoir royal en France à la fin du moyen âge (Paris 1981). Als bezeichnendes Beispiel bis zu welchen E x t r e m e n dieser Standpunkt gesteigert werden konnte die Ansicht von Robert Gaguin aus dem J . 1 4 9 5 (vgl. J.-P. Bodmer, wie A n m . 6 2 , S. 114).
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Dazu v.a. W . Kienast, Deutschland und Frankreich. Bes. E. H. Kantorowicz op. cit. Z u einem Sonderfall Josette A . Wisman, L'éveil du sentim e n t national au Moyen Age: la pensée politique de Christine de Pisan ( R H Nr. 522, 1977, S. 2 8 9 - 2 9 7 ) : Dominante war die Loyalität der Dynastie gegenüber.
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Dazu z. B. Henry Cochin, Ce que disaient d'eux-mêmes les Français du Quatorzième siècle (in: E n Souvenir de Henry Cochin, Paris 1 9 2 8 , S . 2 0 3 - 2 1 3 ) . Leonardo Olschki, Der ideale Mittelpunkt Frankreichs im Mittelalter in Wirklichkeit und Dichtung (Heidelberg 1913).
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Z u der Funktion überaus bezeichnend gleich der Prolog des Werkes - ed. Jules Viard I (Paris 1920), S. 1 ff. Z u dem Werk bes. Gabrielle M. Spiegel, The Chronicle Tradition of Saint-Denis: A Survey (Brookline, Mass.-Leyden 1978).
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B. Guenée, Etat (wie A n m . 13), S. 160 f.
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gründung der Kämpfe mit den Engländern vorbrachte 59 , eine Einstellung, die in breiten Schichten Anklang fand. 60 Die spätmittelalterliche Historiographie folgte weiterhin den traditionellen Grundlinien etwa in den Fortsetzungen der Grandes Chroniques, in dem Werke eines Jean de Montreuil 61 oder eines Robert Gaguin 62 um bloß einige wenige Beispiele zu nennen. Auch das 16.Jahrhundert hat in dieser Hinsicht kaum andere Akzente gesetzt 63 - die Kontinuität der „nationalen" Beweisführung in Frankreich ist erstaunlich und immer neue Einzelheiten haben das traditionelle Bild ausgebaut und bereichert - wie dies etwa augenscheinlich an der Glorifizierung Clovis (Chlodowechs), der als erster Herrscher der Franken = Franzosen nun ganz besonders verherrlicht wurde 64 , abzulesen ist. Dazu kam seit der zweiten Hälfte des H.Jahrhunderts das bewußte Wetteifern mit den Italienern um die „kulturelle Blüte" Frankreichs, ein Wetteifern, das bald sowohl auf italienischer als auch auf französischer Seite zu etwas wie zu einem Kulturchauvinismus 65 führte. Durch die konsequente Ausrichtung der französischen Chronistik auf das Königtum, das im Spätmittelalter mit einem abstrakten Staatsbegriff identifiziert wurde, hat diese Gleichsetzung grundlegende Bedeutung für die Bewußtseinsbildung erlangt - es konnte sogar behauptet werden, in Frankreich habe der Staat die Nation geschaffen. 66 Für die historiographischen Begründungsmuster der Argumentation bedeutete diese Beweisführung das Beibehalten traditioneller Betrachtungsweisen, ein bewußtes Anknüpfen an Traditionen, die weiter ausgebaut und ausgeschmückt, in ihren Grundmustern kaum verändert wurden. Die außerordentliche Kontinuität der Konzeption ist, gerade im Vergleich, einer der auffallendsten Züge der „nationalen Begründungen" in der spätmittelalterlichen französischen Geschichtsschreibung. Ein weiteres Charakteristikum ist das völlige Zurücktreten
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Les Grandes Chroniques de France - Chronique des règnes de Jean II et de Charles V ed. R. Delachenal II (Paris 1916), S. 251 ff. Roger Jouet, La résitance à l'occupation anglaise en Basse-Normandie 1 4 1 8 - 1 4 5 0 (Cahier des Annales de Normandie 5, 1969). Vgl. auch beispielsweise den - Gerson zu Unrecht zugeschriebenen - Dialogus duorum militum, Franci et Angli (Gerson, Opera ed. Du Pin IV, 1706, Sp. 844-859). Nicole Grévy-Pons, Propagande et sentiment national pendant le régne de Charles VI: l'exemple de Jean de Montreuil (Francia 8 , 1 9 8 0 , S. 127-145). Jean-Pierre Bodmer, Die französische Historiographie des Spätmittelalters und die Franken (ArchKulturg 45, 1963, S. 91—118); Mireille Schmidt-Chazan, Histoire et sentiment national chez Robert Gaguin (in : B. Guenée Hgb., Le métier d'historien au moyen âge = Publications de la Sorbonne, Etudes 13, Paris 1977, S. 233-300). Myriam Yardeni, La conscience nationale en France pendant les Guerres de religion 1 5 5 9 1598 (Publications de la.. Sorbonne, Recherches 59, Louvain-Paris 1971); Jürgen Voss, Das Mittelalter im historischen Denken Frankreichs (Veröff. des Histor. Instituts der Univ. Mannheim 3, München 1972, S. 105 ff.). Colette Beaune, Saint Clovis: Histoire, religion royale et sentiment national en France à la fin du moyen âge (in: B. Guenée Hgb., Le métier, wie Anm.62, S. 139-156). Dazu etwa die zitierten Arbeiten von H. Cochin (Anm.49), N. Crévy-Pons (Anm.61), M. Schmidt-Chazan (wie Anm.62) und Nicholas Mann, Humanisme et Patriotisme en France au X V e s. (Cahiers de l'Association Internationale des études françaises 23, mai 1971, S. 5 1 -
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Bernard Guenée, L'histoire de l'Etat en France à la fin du Moyen Age vue par les historiens français depuis cent ans (urspr. 1964, dann in dessen Politique et histoire, wie Anm. 13, S. 19 ff.; J. R. Strayer, France (wie Anm. 51).
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der Sprache; in einem sprachlich nicht homogenen Land begreiflich, aber besonders auffallend, wenn wir nun das Reich zum Vergleich heranziehen, das bekanntlich im Mittelalter gleichfalls sprachlich uneinheitlich war, wo jedoch gerade das Sprachargument bei den „nationalen" Interpretationen der Vergangenheit eine völlig andere Rolle als in Frankreich spielte. Es kann natürlich nicht versucht werden, hier einen Abriß der deutschen mittelalterlichen „Nationenentwicklung" zu bieten, umso mehr als z. Z. eine diskussionsfähige Gesamtkonzeption der Entwicklung des deutschen Nationalbewußtseins gar nicht vorliegt 67 ; nur die Aspekte seien stichwortartig in Erinnerung gerufen, die für die spätmittelalterlichen „Begründungen" eines deutschen Selbstbewußtseins von Bedeutung waren: Die Reichsvorstellung war ihrer Grundlage nach universalistisch und sie blieb es auch im Spätmittelalter 68 ; dadurch wurde die hochmittelalterliche Entwicklung zu einer Eigenstilisierung des Regnum Theutonicum gehemmt, der Begriff selbst 69 blieb territorial vage. Bei jeder historischen Reminiszenz mußte zwangsläufig, neben dem politisch bedingten Verhältnis zur römischen Kurie in Vergangenheit und Gegenwart, gleichfalls zur weltlichen „römischen Vergangenheit" Stellung genommen werden - denn es war ja ein „römisches Reich", auf dem man theoretisch basierte. Die Reichsgeschichte mußte als Teil der Weltgeschichte und als legitimer Nachfolger des alten Römerreiches aufgefaßt werden 70 - die Territorialisierung der historischen Vorstellungen spielte sich nicht im Rahmen des Reiches, sondern der einzelnen deutschen Länder ab, und Herkunftsagen kannten die längste Zeit bloß einzelne Stämme - für die Deutschen insgesamt kamen bloß gelehrt-etymologisierende Herkunfsspekulationen in Betracht. 71 Es gab auch keinen Reichsheiligen - die Versuche Mauritius, später Karl d. Gr., als solche aufzubauen, waren nicht eben erfolgreich. Auch die Herrscher konnten keine zentrale Rolle wie in Frankreich spielen, da sich das Wahlkönigtum durchsetzte, das jede Zentrierung auf eine Dynastie verunmöglichte. Die Symbole wie Reichsadler und die Insignien blieben mit dem universalen Reich verbunden und konnten sich nur in sehr bescheidenem Ausmaß „nationalisieren".
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Zum Unterschied von dem recht regen Interesse in den Jahren 1 8 7 0 - 1 9 4 5 ist später kaum der Versuch unternommen worden, eine neue Gesamt-Hypothese zu formulieren; die Forschung hat sich nur mit zeitlich begrenzten Aspekten befaßt. Der einzige Versuch, in neuester Zeit skizzenartig eine Gesamtentwicklung der deutschen „Nation" zu bieten, stammt von Werner Conze, Einheit und Vielfalt in der deutschen Geschichte (in: Ploetz Deutsche Geschichte. Freiburg-Würzburg 1979, S.9-25), der jedoch keine neue Arbeitshypothese formuliert. Größere Aufmerksamkeit fand die Frage nach den Anfängen eines „deutschen Selbstbewußtseins" im Frühmittelalter, auf die hier jedoch nicht eingegangen werden kann.
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E. Schubert, König und Reich (wie Anm. 6), bes. S. 207 ff. Ebd. S. 226 ff., 318 f.; dazu noch U. Nonn, Heiliges Römisches Reich (wie Anm. 4). Dies ist bekanntlich schon im Annolied (nach 1080) und in der Kaiserchronik (Mitte des 12.Jh.) der Fall gewesen und die Verbindung mit der römischen Geschichte hat die gesamte deutsche mittelalterliche Chronistik beherrscht. Spekulationen gingen von den Sprachtheorien bzw. von heidnischen Götzenbildern (Chronicon imperatorum et pontificum Bavaricum - MGH SS XXIV, S. 221 ff.) aus; erst relativ spät taucht ein Heros eponymos Tuisto (mit Var.) auf - zu diesen Spekulationen mit überreichen Belegen Arno Borst, Der Turmbau von Babel. Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker (Stuttgart 1957-1963).
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Dennoch hat sich auch im Reich, schon relativ früh, ein deutsches Eigenbewußtsein herausgebildet, das - wie in den anderen Ländern - vor der Aufgabe stand, lokale Antagonismen zu überwinden und einen gemeinsamen Nenner für das „Deutschsein" zu finden. Dies geschah in Deutschland einerseits durch den Rückgriff auf die Vergangenheit - die aber mit dem Imperium und der Kirchenvogtei verbunden, nur schwer national deutbar war - andererseits durch den Rückgriff auf eine postulierte Einheit der Sprache, die allerdings in Wirklichkeit gar nicht existierte: Die einzelnen Stämme verstanden einander oft gar nicht 7 2 - dennoch ist die Bezeichnung der Sprache, nicht die eines Stammes oder eines Heros Eponymos für die Deutschen und Deutschland letztendlich bestimmend geworden. Die Hochstilisierung der Sprache als des einigenden Bandes 7 3 ist jedoch nur schwer historisierbar. Die Folge dieser Sachlage war, daß deutsch-selbstbewußte Stimmen zunächst etwa in der Dichtung 7 4 klarer zu fassen sind als in der Chronistik. Eine deutsche Geschichtskonzeption wird traditionalistisch in Stellungnahmen der hervorragenden Verteidiger des imperialen Standpunktes vertreten, die im Spätmittelalter bereits nachhaltig den deutschen Chrarakter des Imperiums betonten - so etwa ein Alexander von Roes 7 5 , ein Konrad von Megenberg 7 6 , ein Dietrich von Niem 7 7 - mit besonderer Betonung der historischen Beweisführung Lupoid von Bebenburg, dessen Tractatus de iuribus regni et imperii Romanorum 7 8 an der Grenze zwischen politischer Streitschrift und historischer Darstellung steht. Durch Verherrlichung der Frömmigkeit und der Tugenden der alten deutschen Herrscher (veterum principum Germanorum) wird die Reichskonzeption - so weit
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Als ein - überaus bezeichnendes - Beispiel sei der (deutschsprachige) Peter von Zittau in der ersten Hälfte des 14.Jh. mit seiner Königssaaler Chronik (I, 9 ed. Fontes rerum Bohemicarum IV, 1884, S. 16) angeführt, der schreibt: Saxo recolligit os, Bavarus loquens boat ut bos. Exaltans vocem grossam nimis atque ferocem. Hinc tua vox Saxo redolet Bavaro, quasi saxo Undarum stille, quia non intelligit ille Linguam Saxonicam, sicut nec noctua picam, Et velut in sompnis agnoscit Bavarus omnis Saxonie verba, si dulcia vel acerba, Quamvis Theutunicipossunt ambo benedici. So bereits im 12.Jh. Hildegard von Bingen: Adam et Eva Teutonica lingua loquebantur, dazu A. Borst, op.cit.II-2, S.659. So etwa Walther von der Vogelweide bes. in seinem Gedicht Ir sult sprechen willekomen (ed. Joerg Schaefer, Darmstadt 1972, Nr. 23 S.58f. vgl. auch Nr. 134, 190 S.302, 364). Das Gedicht wird unterschiedlich gedeutet. Die Schriften herausgegeben von Herbert Grundmann - Heinrich Heimpel in MGH Staatsschriften des späteren Mittelalters 1-1 (Stuttgart 1958). Zu seinem „Patriotismus" Heinrich Heimpel, Alexander von Roes und das deutsche Selbstbewußtsein des 13.Jh. (ArchKulturg 26,1936, S. 19-60). Bes. sein Planctus ecclesiae in Germaniam aus dem J. 1337/38 (ed. Horst Kusch = Leipziger Übersetzungen und Abhandlungen zum Mittelalter A-l, Berlin 1956). Zu Megenberg die Zusammenfassung von Sabine Krüger, Konrad von Megenberg (Fränkische Lebensbilder 2,1968, S. 83-103). Dazu immer noch grundlegend Heinrich Heimpel, Dietrich von Niem c. 1340-1418 ( = Westfälische Biographien 2, Münster/W. 1932); zu seinem Reichspatriotismus bes. S.219ff. Der Traktat aus dem J. 1340 liegt nur in alten Drucken vor, am bequemsten in Maxima Bibliotheca Veterum Patrum 26 (Lyon 1677), S. 88-108. Zum Autor Sabine Krüger, Lupoid von Bebenburg (in: Fränkische Lebensbilder IV, 1971, S.49-86) - dort auch zu dem konkreten Anlaß der Abfassung des Traktats und weiterführende Literaturangaben.
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dies eben möglich ist - zu einer deutschen Konzeption umgedeutet, der alte Führungsanspruch der Deutschen im Imperium Romanum untermauert. Die Reichskonzeption mit der Kirchenvogtei wird überall beibehalten und setzt jeder wirklichen „Nationalisierung" des Geschichtsbildes Schranken. Dieselbe Grundlinie wie die Apologeten befolgten auch Chronisten im 14.Jahrhundert wie etwa Otacher ouz der Geul 7 9 in seiner Steirischen Reimchronik, der es verstand, Landes- und Reichsbewußtsein miteinander zu verbinden und dabei schon recht betonte „nationale" Werturteile vorbrachte. Oder Jakob Twinger von Königshofen 8 0 , der ein ausgeprägtes Reichsbewußtsein mit dem Stolz auf Straßburg kombinierte 81 und mit seiner Chronik eine neuartige und überaus erfolgreiche Variante der Städtechronik schuf. Auch hier beruhte jedoch ein deutsches Selbstbewußtsein auf der Sprache und die Frage, ob Karl d. Gr. Deutscher oder Franzose war, ist für den Elsässer bereits im 14.Jahrhundert ein Sprachproblem. 82 Breit ausgeführt ist die Herkunftssage - auch sie bezeichnenderweise mit starker Betonung der Bedeutung der Sprache - und mehr als einhundert Jahre später beherrschten dieselben Grundmuster, in vergröberter und überspitzter Form, noch die „nationalen" Vorstellungen des sogenannten Oberrheinischen Revolutionärs. 83 Für die überregionale Geschichtsschreibung des 15.Jahrhunderts ist jedoch eine andere Strömung maßgebend geworden. Gestützt durch die Vertretung der „deutschen Nation" auf Konzilen (die allerdings noch längst nicht mit der „Sprachnation" identisch war84), durch kirchenpolitische Bestrebungen 85 und durch prägende politische Ereignisse (v.a. den Kämpfen Karl d. Kühnen kommt wohl eine Schlüsselposition zu) begannen nationale Wertungen in der Historiographie zuzunehmen und konkrete Formen anzunehmen. Die alte Zentrierung auf die Sprache,
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Ed. J. Seemüller in MGH Dte Chr. V (1890/93). Die neueste Zusammenstellung der Literatur-Angaben zur Reimchronik Andreas Kusternig, Erzählende Quellen des Mittelalters (Wien-Köln 1982), S. 138ff. Ed. StChr. 8 - 9 . Zur Chronik bes. Franz Hofinger, Studien zu den deutschen Chroniken des Fritsche Closener und des Jakob Twinger von Königshofen (Diss. München 1974). Zu dem Reichsbewußtsein der städtischen Chronisten gesamthaft Heinrich Schmidt, Die deutschen Städtechroniken als Spiegel des bürgerlichen Selbstverständnisses im Spätmittelalter (Schriftenreihe der Hist.-Kommission bei der Bayer. Akademie der Wiss. 3, Göttingen 1958), S. 6 4 - 8 2 . Dazu F. Hofinger, op.cit, S. 96 ff. Die Behauptung Trebeta, Sohn der Semiramis habe als erster Deutsch zur einzigen offiziellen Sprache in seinem Herrschaftsgebiet erhoben (StChr. 9, S.624 und 700) erwähnte auch (allerdings erst in einer Hs. aus dem 17.Jh.) das Chronicon Ebersheimense (vgl. Harry Bresslau, Die Pariser Handschrift des Chronicon Ebersheimense in: NA 18, 1893, S.314). Edd. Annelore Franke - Gerhard Zschäbitz (Leipziger Übersetzungen und Abhandlungen zum Mittelalter A-4, Berlin 1967); zu dem „Nationalismus" des anonymen Verfassers die Einleitung S. 103-112. Von einer Stellungnahme zur recht kontroversen neueren Literatur über die Person des Verfassers und seine politischen Ziele sehe ich hier ab. Odilo Engels, Der Reichsgedanke auf dem Konstanzer Konzil (HistJb 86, 1966, S.80-106). Für die Folgezeit Alfred Schröcker, Die Deutsche Nation. Beobachtungen zur politischen Propaganda des ausgehenden 15.Jh. ( = Historische Studien 426, Lübeck 1974) und U. Nonn, Heiliges Römisches Reich (wie Anm. 4). Vgl. Albert Werminghoff, Nationalkirchliche Bestrebungen im deutschen Mittelalter (Kirchenrechtliche Abhandlungen 61, Stuttgart 1910).
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die nun oft mit der „Natio" gleichgesetzt wurde 8 6 , blieb beibehalten - erfuhr aber gerade im 15.Jahrhundert eine Änderung, die für die Geschichtsschreibung der Folgezeit ausschlaggebend war: Die Entdeckung einer neuen, einer anderen „römischen Vergangenheit" als man sie bisher kannte. Der unmittelbare Anstoß dazu kam aus Italien, vermittelt durch die Tätigkeit eines Aeneas Silvio Picolmini 8 7 (seine Germania erschien 1458) und insbesondere durch die Neuentdeckung des Tacitus 8 8 - der von deutschen Gelehrten zunehmend mit Begeisterung rezipiert wurde. Nicht mehr die Translatio Imperii durch den Papst war nun der Eckpfeiler der deutschen Geschichte, sondern die weit ältere germanische Vergangenheit, wie sie aus Caesar und Tacitus herausgelesen wurde. Noch in bescheidenen Ansätzen taucht diese Konzeption etwa bei Sigismund Meisterlin auf, um dann im Siegeszug bei den deutschen Humanisten 8 9 durchzudringen. Die Gleichsetzung der Deutschen mit den Germanen des Altertums wurde recht allgemein verkündet. Die Deutschen waren nach dieser Neuentdeckung nicht mehr wie bisher etwas wie die politischen Erben des Imperiums: Sie waren gleichwertige Partner der R ö m e r - auch ein bewußter deutscher Bildungsstolz 9 0 ist zu verzeichnen, ein „Gleichziehen" mit den Italienern auch auf diesem Gebiet (als deutsche Parallele zu dem Kulturchauvinismus der Italiener und Franzosen). Die alte Zentrierung auf die Sprache als dem eigentlichen einigenden Band blieb bestehen, eine wirkliche Territorialisierung der Bewußtseinsbildung macht sich auch im 15.Jahrhundert nicht bemerkbar - wohl aber bereits historiographische Streitigkeiten über die „nationale" Zugehörigkeit von Grenzgebieten (etwa des Elsaß). Für die neue Historisierung des Eigenbewußtseins war durch die Gleichsetzung der Germanen mit den Deutschen ein entscheidender Schritt getan. Diese Gleichung beherrschte in entscheidender Form die historischen Vorstellungen folgender Jahrhunderte. 9 1 In der deutschen Geschichtsschreibung ist, ähnlich wie in Böhmen, eine auf gemeinsamer Herkunft beruhende Sprachgemeinschaft 86
I m m e r noch nützlich Walther Müller, Deutsches Volk und deutsches Land im späteren Mittelalter (urspr. 1 9 2 5 dann im Neudruck von Fritz Vigener, Bezeichnungen für Volk und Land der Deutschen vom 10. bis zum 13.Jh. Darmstadt 1976, S. 2 7 5 - 2 9 0 ) . Neuer bes. G. Landwehr, „Nation" (wie Anm. 4).
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Zusammenfassend bes. Ulrich Paul, Studien zur Geschichte des deutschen Nationalbewußtseins im Zeitalter des Humanismus und der Reformation (Historische Studien 2 9 8 , Berlin 1936), S. 2 5 - 5 8 .
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Für die Rezeption im 15.Jh. immer noch Paul Joachimsen, Tacitus im deutschen H u m a nismus ( N e u J b b für das Klassische Altertum 27, 1911, S. 6 9 7 - 7 1 7 ) .
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Grundlegend noch Paul Joachimsohn, Die humanistische Geschichtsschreibung in Deutschland (Bonn 1895) und Ders. Geschichtsauffassung und Geschichtsschreibung in Deutschland unter dem Einfluß des Humanismus (Leipzig-Berlin 1910). Neuer Frank L. Borchardt, German antiquity in renaissance myth (Baltimore-London 1971) mit guter Analyse der verschiedenen Darstellungen der Sagengeschichte.
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Hedwig Riess, Motive des patriotischen Stolzes bei den deutschen Humanisten (Diss. Freiburg i. Br. 1934). Z u der historischen Ausgestaltung P. Joachimsohn, Die humanistische Geschichtsschreibung S. 2 2 7 ff.
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Als bezeichnendes Beispiel sei etwa noch auf die „Geschichte des deutschen Nationalbewußtseins" verwiesen, die Karl Lamprecht an die Spitze seiner Deutschen Geschichte, Bd. I (2.Aufl., Berlin 1894), S . 3 - 2 6 stellte. Typisch etwa S . 1 0 : „In der hohen Zeit des Stammesbewußtseins hat nur Ein Deutscher den Traum eines deutsch charakterisierten Universalreiches geträumt: der Ostgote Theodrich".
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zur historischen Schicksalsgemeinschaft stilisiert worden; nur blieb diese sprachliche Einheit in Deutschland im Spätmittelalter weitgehend ein bloßes Postulat, sie war territorial nicht genau umgrenzt. Durch die Gleichsetzung mit den Germanen wurde eine breite historische Verankerung des Selbstbewußtseins möglich, das ältere Zeiten nicht gekannt haben. Nicht überall im deutschsprachigen Reichsgebiet ist jedoch die Neubegründung einer eigenständigen Bewußtseinsbildung im Spätmittelalter auf die beschriebene Art und Weise erfolgt. Andersartig gestaltete sie sich etwa in Österreich 92 und insbesondere in der Eidgenossenschaft, die sich bereits seit dem 15.Jahrhundert als eine selbständige, historisch gewordene Gemeinschaft verstand. 93 Die Auseinandersetzung mit den Habsburgern, den wichtigsten Gegnern, war auf theoretischer Ebene die längste Zeit in der Form eines Rechtsstreites geführt worden, wobei man von Seiten der Eidgenossen mit der „alten Reichsfreiheit" argumentierte und konsequenterweise die Zugehörigkeit zum Reich betonte. 94 Man verwies ferner auf den göttlichen Beistand im Kampf (eine Variante der Vorstellung vom auserwählten Volk), der den zahlenmäßig unterlegenen Eidgenossen den Sieg über die mächtigen Feinde verlieh 95 ; allmählich kam dann in der Chronistik das Motiv des Kampfes gegen die Tyrannen mit ins Spiel, historisch zuerst um 1420 in der Chronik von Konrad Justinger faßbar 96 , und noch in demselben Jahrhundert finden wir im sogenannten Weissen Buch von Samen 9 7 die Personifizierung dieses Kampfes in der Person vollendet, die für die Folgezeit zur Symbolfigur des ganzen Widerstandes werden sollte: in Wilhelm Teil. Die Eidgenossen, Nichtadelige, von den Feinden als Bauern verspottet (eine Charakteristik, die sie selbst zeitweilig stolztrotzig akzeptierten) nahmen für sich ein Widerstandsrecht in Anspruch, das ihnen nach Ansicht der Gegner nicht zukam. Die Begründung des Eigenbewußtseins mußte in der Eigenossenschaft zwangsläufig religiös und vor allem historisch formuliert werden; im Zentrum stand der Kampf gegen Habsburg, der als Freiheitskampf gegen eine zügellose Tyrannei stilisiert wurde. Der alte Streit der Rechtsar-
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Die grundlegende Darstellung stammt von Alphons Lhotsky, Quellenkunde zur mittelalterlichen Geschichte Österreichs ( = MIÖG Ergbd. 19, Graz-Köln 1963), der auf diesen Aspekt jedoch nur beiläufig eingeht. Z u dem entstehenden Selbstbewußtsein bes. Hans von Greyerz, Nation und Geschichte im bernischen Denken. Vom Beitrag Berns zum schweizerischen Geschichts- und Nationalbewußtsein (Bern 1953); Guy P. Marchai, Die frommen Schweden in Schwyz. Das „Herkommen der Schwyzer und Oberhasler" als Quelle zum schwyzerischen Selbstverständnis im 15. und 16.Jh. ( = Basler Beiträge zur Geschichtswiss. 138, 1976); G. P. Marchai und Nicolas Morard in: Geschichte der Schweiz und der Schweizer I (Basel—Frankfurt a.M. 1982).
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Karl Mommsen, Eidgenossen, Kaiser und Reich. Studien zur Stellung der Eidgenossenschaft innerhalb des hl. römischen Reiches ( = Basler Beiträge zur Geschichtswiss. 72, 1958).
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Dazu bes. G. P. Marchai, Die frommen Schweden. Ed. Gottlieb Studer (Bern 1871). Z u r Chronik Hans Strahm, Der Chronist Conrad Justinger und seine Berner Chronik von 1420 (Bern 1978). Der auffallende zeitliche Zusammenhang mit der zeitgenössischen Diskussion über den Tyrannenmord (u. a. auf dem Konstanzer Konzil) ist bisher nicht beachtet worden.
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Ed. H. G. Wirz in: Quellenwerk zur Entstehung der Schweiz. Eidgenossenschaft III-l (1947). Neueste Zusammenfassung der Literatur Guy P. Marchai in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon I (1978), Sp. 1 2 6 2 - 6 7 .
Nationale Deutungsmuster der Vergangenheit 51 gumente wurde immer mehr von einem Streit um die Geschichtsauffassung verdrängt. In diesem Rahmen geschah dann auch die Erstellung einer eigenständigen, protonationalen eidgenössischen Chronistik 98 - im ersten noch bescheidenem Ansatz bei Hans Fründ ("f 1469), über Albert von Bonstetten, Nikiaus von Schradin und Petermann Etterlin hin bis zu Heinrich Brennwald" (1478-1551), der in seiner „Schweizerchronik" das erste gesamtschweizerische Geschichtsbild geschaffen hat und es nun - der Zeitmode entsprechend - auch auf das Altertum ausdehnte. Damit war die Geschichtskonzeption voll und abgerundet - in den Schwabenkriegen (Schweizerkriegen) hatte sich die politische Verselbständigung der Eidgenossenschaft, ihre Abgrenzung dem Reich gegenüber vollzogen; die Chronistik erarbeitete parallel zu diesem Vorgang eine eigenständige Schweizer Konzeption der Geschichte, die bereits im Alterum einsetzte und die Berechtigung des Kampfes der Schweizer um ihre alte Freiheit beweisen sollte. Symbolisiert wurde dieser Kampf in der Gestalt volkstümlicher Heroen - in Wilhelm Teil und zusätzlich dann in Arnold Winkelried. 100 Durch die konsequente Historisierung wurde der soziale Aspekt der sogenannten Befreiungssage verdrängt; nur zeitweilig tauchten „Teile" bei Bauernunruhen in der Alten Eidgenossenschaft als Symbolfiguren auf - Wilhelm Teil wurde immer mehr zum verbindenden „Nationalsymbol" einer Gemeinschaft, bei der - aus begreiflichen Gründen - das Sprachargument gar keine Rolle spielen konnte und wo die Herkunftssagen 101 den eigenen Kampf höchstens entfernt stützen konnten. Die Eidgenossenschaft hat sich als eigenständige Gemeinschaft immer als eine erst in voller historischer Zeit gewordene Gemeinschaft verstanden und sich dadurch in der Bewußtseinsbildung charakteristisch von ihren Nachbarn unterschieden. In verschiedenen Gebieten Europas ist im Spätmittelalter eine Intensivierung des Eigenbewußtseins festzustellen, das sich bereits gelegentlich als nationales, die Standesgrenzen überschreitendes Bewußtsein artikulierte und dabei historisch argumentierte. Die Argumentationsmuster sind uneinheitlich, und die historischen Begründungen der Eigenart blieben ein Motiv unter anderen angeführten Gründen (besonders die Sprache und die eigenen Sitten wurden oft ins Feld geführt) - aber gerade die geschichtliche Verankerung des Eigenbewußtseins hat im Spätmittelalter einen entscheidenden Schritt getan: Für einige Völker ist bereits die gesamte Geschichte, mit Einschluß der fernen und der nahen Vergangenheit, als Begründung für eine historisch gewordene „nationale" Einheit in Anspruch genommen 98
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Grundlegend für die spätmittelalterliche Historiographie Jean-Pierre Bodmer, Chroniken und Chronisten im Spätmittelalter ( = Monographien zu Schweizer Geschichte 10, Bern 1976) mit weiterführenden Angaben. Der neueste allgemeine Abriss stammt von Ulrich Im Hof in: Geschichte der Schweiz- und der Schweizer I (Basel-Frankfurt a.M. 1982), S.9-18. Ed. Rudolf Luginbühl (Quellen zur Schweizer Geschichte NF I, 1-2 Basel 1908-1910). Zur Chronik J.-P. Bodmer, Chroniken S.61 ff. Zu der in Einzelheiten kontroversen Winkelried-Forschung nun Beat Suter, Arnold Winkelried der Heros von Sempach. Die Ruhmesgeschichte eines Nationalhelden (Diss. Zürich 1977). Vgl. bes. Das Herkommen der Schwyzer und Oberhasler ed. Albert Bruckner, in: Quellenwerk zur Entstehung der Schweiz. Eidgenossenschaft III-2, 2 (1961). Dazu G. P. Marchai (wie Anm.93).
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worden. Jeder Versuch einer nationalen Sinngebung ist auf Idealvorstellungen Leitbilder sogar auf bloße Fiktionen 102 - angewiesen, um die vielfältigen Widersprüche der Realität zu überwinden (wie soziale Schichtung und dialektologische Unterschiede, die öfter eine Verständigung vor der Entwicklung einer Schriftsprache geradezu unmöglich machen). Aber diese Idealvorstellungen müssen breite Schichten „ansprechen", ihre Angehörigen müssen imstande sein, sich mit den Leitbildern wenigstens passiv zu identifizieren. Die naheliegendste Lösung ist, auf eine idealisierte gemeinsame Vergangenheit zu verweisen, die „Lehren der Geschichte" heraufbeschwören. 103 Die ganze Vergangenheit wurde zum Garanten der nationalen Eigenart und der Selbständigkeit, die auf den noch lebendigen Traditionen und auf Grund gelehrter Forschung rekonstruiert wurde; öfter verfertigte man, bei dem Mangel an geeigneten Quellen, zu diesem Zweck auch Fälschungen 104 , die nicht mehr materiellen Zwecken dienten, sondern das Eigenbewußtsein, den Stolz von „nationalen" Gruppen fördern sollten. Ob das Schwergewicht der historischen Eigenstilisierung im Kampf um Freiheit gesucht wurde, in der Vorstellung von einer Auserwähltheit gipfelte, auf der Dynastie, auf der kulturellen Hochblüte, auf der Bedrohung durch sogenannte Erbfeinde beruhte - die spätmittelalterlichen Nationen verstanden sich immer mehr als historisch gewordene Schicksalgemeinschaften, für die die eigene Vergangenheit eine Verpflichtung war. Dieses Bewußtsein hat das Spätmittelalter späteren Jahrhunderten vererbt. Seit längerer Zeit ist die Frage, ob (bzw. inwieweit) es im Mittelalter bereits Nationen und ein entsprechendes Bewußtsein gab, umstritten; viele Mediävisten haben sie bejaht, Forscher, die sich mit dem 19. und 20.Jahrhundert befaßten, meist verneint. Ich kann natürlich nicht versuchen, das Problem ausführlich zu erörtern, die Unterschiede und die Zusammenhänge der spätmittelalterlichen Nationalisierung und der Nationalbewegungen des 19.Jahrhunderts zu charakterisieren.105 Nur so viel sei abschließend festgehalten: Die Beantwortung der damit zusammenhängenden Teilfragen wird stark mit der Ausrichtung und dem Blickwinkel zusammenhängen, mit denen der Historiker an den Gesamtkomplex herantritt; denn einerseits erscheint es unbestreitbar, daß sich die Quantität und auch die Qualität der „nationalen" Stimmen im 19-Jahrhundert von ihren Vorläufern unterscheiden, andererseits, daß sie auf vielfältige Art eben auf „Vorläufer" zurückgreifen - bewußt
102
103
Als bezeichnende Fiktionen seien etwa genannt: Einheit des Landes (Frankreich), Einheit der Sprache (Reich), Einheit des Schicksals - „Erbfeindes" (Böhmen). Nur selten sind Abweichungen von dieser Grundlinie festzustellen, wie etwa bei den italienischen Humanisten, die - spätestens seit Lionradi Bruni - säuberlich zwischen mittelalterlichen und antikrömischen Kaisertum unterschieden und für Italien (nicht für die einzelnen Städte!) das sogenannte Mittelalter aus dem Geschichtsbild auszuklammern begannen, um an das „echte" römische Erbe anzuknüpfen.
10,i
An bekannten historischen Fälschungen des Spätmittelalters seien erwähnt das sogenannte Privilegium Maius für Osterreich, das „Privilegium" Alexanders d. Gr. für die Slawen und besonders die Chronik des Berossus.
105
Die Frage nach Parallelen bzw. Unterschieden zwischen mittelalterlichen und neuzeitlichen „Nationalismus" wird bekanntlich in der Literatur unterschiedlich beantwortet. Meinen Standpunkt habe ich in dem Buch Die Nationenbildung (wie A n m . 1) dargelegt. Vgl. auch Rudolf Jaworski, Z u r Frage der vormodernen Nationalismen in Ostmitteleuropa (Geschichte und Gesellschaft 5, 1979, S . 3 9 8 - 4 1 7 ) .
Nationale Deutungsmuster der Vergangenheit
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und unbewußt. Wenn man neuerdings sogar mit beachtlichen Gründen dafür plädiert, die Französische Revolution als einen zeitlichen Prozeß zu sehen, so sollte man nicht versuchen, die Entstehung des modernen Nationalismus allzu genau zeitlich zu fixieren - um so mehr, als gerade diese Bewegungen auf einer säkularen Entwicklung aufbauen; das Gros der europäischen Nationen ist bekanntlich nicht erst im 18. und 19-Jahrhundert entstanden. Fast ausnahmslos haben Nationalbewegungen des 19.Jahrhunderts modifizierend auf historische Begründungsmuster des Spätmittelalters zurückgegriffen - manchmal stark ändernd, wie etwa in Frankreich, wo nach 1789 die Berufung auf die Dynastie wegfiel, Frankreich den Titel „Royaume" einbüßte, aber seine Funktion als zentrales Leitbild sogar noch ausbaute. In Deutschland hat der Germanenrummel das 19.Jahrhundert beherrscht, und er hat tiefe Spuren noch im 20.Jahrhundert hinterlassen. Am stärksten und ungebrochen hat sich die spätmittelalterliche historische Fundierung in Kleinstaaten und bei unterdrückten Völkern erhalten bzw. wurde bewußt an sie von neuem angeknüpft: So etwa in der Schweiz, wo die sogenannte Befreiungstradition weiterhin den Kern des Selbstverständnisses darstellte, so etwa in Schottland und besonders charakteristisch in Böhmen, wo geradezu symbolisch die Reimchronik des sogenannten Dalimil im Jahre 1848 neu ediert wurde. Voll historisch ausgerichtet war das nationale Selbstverständnis in Polen, wo allerdings im 19-Jahrhundert die Bedeutung des Mittelalters für das Geschichtsbild zurücktrat und die ,rzeczpospolita' eine Zentralstelle einnahm. Auch im 19.Jahrhundert kam, ähnlich wie im Spätmittelalter, historischen Begründungen eine bedeutende Rolle zu - sie wurden teilweise neu formuliert und hatten gewiß auch einen anderen Stellenwert. Der Rekurs auf eine „national interpretierte" Vergangenheit aber war derselbe. Nirgends gab es jedoch bei der Nationenbildung eine kontinuierlich-ungebrochene Entwicklung, und nirgendwo gleicht das spätmittelalterliche nationale Eigenbewußtsein dem modernen Nationalbewußtsein - selbst in Frankreich nicht, das wohl insgesamt die größte Kontinuität aufweist. Kontinuität und Diskontinuität prägen die Herausbildung von Nationalstereotypen und Eigenbewußtsein ganz außerordentlich und verbieten es, sowohl von einem „organischen Anwachsen" zu sprechen, als auch genaue „Geburtsdaten" des modernen Nationalismus zu suchen.
Zum Problem eines frühneuzeitlichen Nationalismus in Spanien. Der Widerstand Kastiliens gegen Kaiser Karl V. Horst Pietschmann
Das Spannungsfeld von Einheitsgedanke und iberischer Identität einerseits, kulturellen und politischen Regionalismen andererseits stellt seit der Spätantike ein zentrales Thema des Geisteslebens auf der Iberischen Halbinsel dar. Spätestens seit den „Historiarum adversus paganos libri Septem" des Paulus Orosius sei ein hispanisches Identitätsbewußtsein „mit einem sehr deutlich ausgeprägten Nationalgehalt" faßbar, schreibt Ramón Menéndez Pidal.1 Isidor von Sevilla schließlich verknüpft die Vorstellung von der eigenen Identität der römischen Hispania mit der gotischen Tradition, die, ansatzweise schon bei Orosius faßbar, beredt gefeiert wird. Die Idee vom römisch-gotisch-christlichen Spanien begegnet nach der maurischen Invasion im Umkreis chronistischer Uberlieferungen aus der Zeit Alfons III. in dem kleinen asturischen Königreich im ausgehenden 9. und beginnenden lO.Jahrhundert wieder und entwickelt sich in den folgenden Jahrhunderten zur treibenden, Legitimierung vermittelnden Kraft der Reconquista, der Rückeroberung der Iberischen Halbinsel von den Mauren durch die christlichen, spanischen Reiche des Hoch- und Spätmittelalters. Die Vorstellung von der kulturellen Identität der Hispania - auch der moderne Begriff „España" begegnet bereits - zieht sich wie ein roter Faden durch einen großen Teil der mittelalterlichen Chronistik und Literatur der Iberischen Halbinsel und läßt einen weit verbreiteten Wunsch nach politischer Einheit des infolge der Reconquista zersplitterten Spanien erkennen; ein Wunsch, der zunächst seinen Ausdruck in dem ephemeren Kaisertum mit dem Titel „Imperator totius Hispaniae" der leonesischen Könige im 12.Jahrhundert findet. Freilich lassen sich in jener Epoche auch schon literarische Zeugnisse für ein regionales Eigenbewußtsein, etwa in den Reichen der Krone Aragóns und in Portugal, nachweisen. Jedenfalls reißt das Thema der kulturellen und politischen Einheit Spaniens bzw. der Iberischen Halbinsel bis in die neueste Zeit nicht mehr ab, auch wenn es den Anschein hat, daß dieser Einheitsgedanke seit dem 15.Jahrhundert vor allem in Kastilien in breiteren Kreisen der Bevölkerung am tiefsten verwurzelt ist.2 1 2
Vgl. Ramón Menéndez Pidal, Die Spanier in der Geschichte. München o.J., S.92 f. Kastiliens Könige hatten nicht nur die Einheitsidee, begründet im Mythos des Gotenreiches, propagiert bzw. verbreiten lassen, sondern Kastilien auch zur iberischen Vormacht geführt. Wenn auch der Einheitsgedanke sicherlich nicht auf Kastilien beschränkt war, so fühlte sich ihm dieses Reich besonders verpflichtet. Die Chronistik berichtet denn auch, daß die Heirat Ferdinands und Isabellas aufgrund ihrer politischen Perspektiven selbst von den Kindern freudig aufgenommen worden sei. Sieht man sich die allenthalben zitierten Belege für ein spanisches Einheitsbewußtsein näher an, so stammen sie überwiegend von Kastiliern oder aus Kastilien. In der spanischen Historiographie ist es freilich zur Glaubensfrage zwischen Kastiliern und Nichtkastiliern geworden, die Rolle dieses Teilreiches
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Horst Seit d e m
Pietschmann 19.Jahrhundert
s c h l i e ß l i c h w u r d e die F r a g e n a c h d e m W e s e n ,
der
Identität und der historischen Bedingtheit Spaniens und nach seiner geschichtlic h e n S o n d e r r o l l e i m K o n t e x t d e r e u r o p ä i s c h - a b e n d l ä n d i s c h e n , ja, d e r U n i v e r s a l g e schichte, zu e i n e m heftig u m s t r i t t e n e n G e g e n s t a n d des politischen und des geistigen L e b e n s des Landes. Herausragende V e r t r e t e r der spanischen Intelligenz, wie F r a n c i s c o Pi y Margall, M a r c e l i n o M e n é n d e z y P e l a y o , A z o r í n , A n t o n i o
Machado,
U n a m u n o , R a m ó n y Cajal, Z u b i r i u . a . b e z o g e n d e z i d i e r t S t e l l u n g in d i e s e r
De-
b a t t e 3 , die d a n n i m 2 0 . J a h r h u n d e r t u . a . v o n O r t e g a y G a s s e t u n d u n t e r h i s t o r i s c h e r P e r s p e k t i v e v o n R a m ó n M e n é n d e z Pidal, A m é r i c o C a s t r o , C l a u d i o S á n c h e z A l b o r noz und - zurückhaltender u n d strenger wissenschaftlich - von J o s é A n t o n i o Maravall 4 i m Z e i t a l t e r d e s F r a n c o - R e g i m e s z u e i n e m g e w i s s e n H ö h e p u n k t
geführt
wurde. Gegen Ende der Franco-Zeit und nach Wiederherstellung der Demokratie trat a u c h in d e r H i s t o r i o g r a p h i e w i e d e r e i n e H i n w e n d u n g z u r B e t o n u n g d e r k u l t u r e l l e n E i g e n s t ä n d i g k e i t d e r R e g i o n e n ein. M a n b e t o n t s e i t h e r w i e d e r d a s K o n z e p t d e r v e r s c h i e d e n e n N a t i o n a l i t ä t e n u n d b e t r a c h t e t die h i s t o r i s c h e E n t w i c k l u n g des G e s a m t s t a a t e s v e r s t ä r k t a u s d e r P e r s p e k t i v e d e r e i n z e l n e n T e i l g e b i e t e .
Nun-
m e h r w i r d S p a n i e n w i e d e r n u r als die S u m m e v e r s c h i e d e n e r N a t i o n a l i t ä t e n g e s e h e n u n d e i n e auf d e n G e s a m t s t a a t b e z o g e n e N a t i o n s i d e e n e g i e r t o d e r z u m i n d e s t nicht diskutiert.5 bei der Einigung Spaniens entweder als hegemoniale Prädominanz oder gar als O p f e r dieser Einigung zu betonen. Der berühmte liberale kastilisch-spanische Historiker Claudio Sánchez Albornoz hat sich bis in sein polemisches Spätwerk hinein i m m e r wieder b e m ü ßigt gefühlt, die T h e s e zurückzuweisen, daß im G r u n d e Kastilien allein Spanien geprägt habe; vgl. Cl. Sánchez Albornoz, El drama de la formación de España y los españoles. Otra nueva aventura polémica. Barcelona 1973, S. 121 ff. W e n i g e r „vorbelastete" Historiker bezeichnen dagegen die Rolle Kastiliens auf der Iberischen Halbinsel im 15.Jahrhundert ganz eindeutig als Hegemonie, vgl. z . B . J . N. Hillgarth, T h e Spanish K i n g d o m s 1 2 5 0 - 1 5 1 6 . 2 vols. Oxford 1978, der seinen Bd. 2 folgendermaßen überschreibt: „ 1 4 1 0 - 1 5 1 6 Castilian Hegemony". Z u r mittelalterlichen Verwendung des Begriffs „Spanien" sei es in lateinischer oder regionalsprachlicher F o r m vgl. J o s é A n t o n i o Maravall, El concepto de España en la Edad Media. Madrid 1 9 5 4 ; zu dem spanischen Kaisertum vgl. auch R. Menéndez Pidal, op. cit. S. 100, und Dr. Hermann J . Hüffer, La idea imperial española. Madrid 1933. 3
Pedro Laín Entralgo, España c o m o problema. 2 Bde. Madrid 1956, zeichnet die Haltung der bedeutendsten Vertreter des spanischen Geisteslebens zur europäischen Rolle Spaniens und seiner Geschichte nach, wobei er sich auf Intellektuelle des 19. und beginnenden 20.Jahrhunderts konzentriert.
4
Z u R. Menéndez Pidal vgl. das in Anm. 1 zitierte W e r k und eine Vielzahl von seinen Schriften; zu Maravall vor allem das in A n m . 2 zitierte Buch und sein großes W e r k : Estado moderno y mentalidad social. Siglos X V - X V I I . 2 Bde. Madrid 1 9 7 2 ; ferner A m é r i c o Castro, La realidad histórica de España. México 1 9 5 4 (dt. Ausgabe: Spanien Vision und Wirklichkeit. Köln-Berlin 1957); ders., Origen, ser y existir de los españoles. Madrid 1 9 5 9 ; Claudio Sánchez Albornoz, España. Un enigma histórico. 2 Bde. Buenos Aires 1 9 5 6 ; ferner den in A n m . 2 genannten Titel und zahlreiche andere Arbeiten zu dieser P o l e m i k ; zur Haltung Ortega y Gassets zu dieser T h e m a t i k vgl. das in A n m . 3 zitierte W e r k von P. Laín Entralgo, Bd. 2, passim. 5
S c h o n die Verfassung von 1 9 7 8 bietet in bezug auf das Nationsproblem eine recht ambivalente Lösung. In Artikel 2 heißt es: „Die Verfassung gründet sich auf die unauflösliche Einheit der spanischen Nation (nación española), gemeinsames und unteilbares Vaterland aller Spanier und sie anerkennt und garantiert das R e c h t auf A u t o n o m i e der Nationalitäten und Regionen (nacionalidades y regiones), die sie ( A n m . : die spanische Nation) bilden, und die Solidarität zwischen allen", Constitución Española 1 9 7 8 . Madrid 1 9 7 8 , S . 7 f . D e n
Frühneuzeitlicher
Nationalismus
in Spanien
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Es ist in d e m vorliegenden Rahmen unmöglich, die Diskussion u m das W e s e n und die historische Bedingtheit des spanischen Einheitsstaates zu resümieren, ein Versuch, der m . W . bislang überhaupt noch nicht oder allenfalls in Teilaspekten unternomen wurde. Immerhin erscheint es wichtig, einige charakteristische Merkmale dieser Debatte zu betonen. So ist zunächst darauf hinzuweisen, daß diese Kontroverse nicht unter der an sich naheliegenden Begrifflichkeit „Nation", „Nationalität" oder gar „Nationalismus" geführt wurde, ja, daß diese Begriffe in der einschlägigen Literatur eher selten und beiläufig und ohne das Bestreben nach definitorischer Klarheit benutzt werden. Stattdessen dreht sich die Debatte um eine vage Hispanitätsidee, ihre historische Entstehung und u m die die Identität und Besonderheit Spaniens und „des Spaniers" prägenden historischen Prozesse von der A n tike bis in die Neuzeit. Diese Hispanitätsidee erscheint zudem unter variierendem territorialen Bezug, d.h. bald auf Spanien, bald auf die gesamte Iberische Halbinsel und schließlich auch auf die Iberische Halbinsel und Iberoamerika bezogen. 6 Die mit „Nation" zusammenhängenden Begriffe halten interessanterweise die Verfechter des Regionalismus besetzt, also etwa „nación", „nacionalidad" und selbst „nacionalismo". So gibt es eine Vielzahl von Studien über die baskische, die katalanische, die galicische etc. Nation oder deren partikularen Nationalismus, dagegen finden sich unerklärlicherweise keine Untersuchungen über „den spanischen Nationalismus", gleichsam als gäbe es dieses Phänomen nicht. 7 Mehr oder weniger implizit wird jedoch verschiedentlich betont, daß die Hispanitätsidee
-
bzw. der gesamtspanische Nationalismus - nichts anderes als der Ausdruck des kastilischen Hegemonialstrebens auf der Iberischen Halbinsel, Hispanitätsidee oder Regionen wird also der Status von „Nationalitäten" („nacionalidades") zuerkannt, die zusammen die eine unteilbare „Nation" bilden. — In der neueren spanischen Historiographie wird dagegen kaum auf die „spanische Nation", dagegen sehr viel auf die „Nationalitäten" Bezug genommen und von deren „Nationalismus" gesprochen, vgl. z. B. die, zugegebenermaßen marxistisch inspirierte Einleitung von Manuel Tuñón de Lara in Bd. 1. der neuesten Gesamtdarstellung der spanischen Geschichte: M. Tuñón de Lara, director, Historia de España. 10 vols. Barcelona 1980-82, vol. 1, S.32, der offen ausspricht, daß der spanische Staat immer mehrere „Nationen" umfaßte, also nicht „Nationalitäten". - Diese Betonung der Regionalismen setzte bereits ein in den 60er Jahren unter nichtmarxistischen Historikern im Gefolge der Rezeption des methodischen Ansatzes der ,Annales", als man die geographischen Regionen Spaniens sozusagen als Auslöser unterschiedlicher regionaler Strukturen herausarbeitete und die Geschichte Spaniens sehr viel stärker aus der Perspektive der Regionen zu schreiben begann; vgl. z.B. Miguel Artola, director, Historia de España Alfaguara. 7 Bde. Madrid 1973, insbesondere Bd. 1, S. Iff. und S. 3 ff. - Es verwundert daher nicht, daß heute ganz unbedenklich von „baskischem Nationalismus", „katalanischem Nationalismus" etc. gesprochen wird und auch wissenschaftliche Veröffentlichungen teilweise ganz unreflektiert diese Terminologie übernehmen. Begonnen hat mit dieser terminologischen Praxis bereits Menéndez Pidal, op. cit., passim. 6
7
Vgl. dazu etwa Frederick B. Pike, Hispanismo, 1898-1936. Spanish Conservatives and Liberais and their Relations with Spanish America. Notre Dame-London 1971, mit ausführlichen bibliographischen Angaben zu den einschlägigen Schriften spanischer Autoren. Der Begriff „spanischer Nationalismus" wird, wenn überhaupt, auf die Franco-Zeit, insbesondere auf die Frühphase des Regimes, angewandt, für andere Epochen begegnet der Begriff in der Historiographie nur ganz vereinzelt. Für Raymond Carr, Spain 1808-1939. Oxford 1966, immer noch einer der besten Kenner der spanischen Geschichte des 19. und 20.Jahrhunderts, gibt es den Begriff nur im Zusammenhang mit dem Frankismus. Maria Paz Battaner Arias, Vocabulario político-social en España (1868-1873). - Anejos del Boletín de la Real Academia Española. Madrid 1977, S.63 ff. weist zwar darauf hin, daß für die
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Horst Pietschmann
spanischer Nationalismus also lediglich Ausdrucksform eines im strengen Sinne kastilischen Nationalismus seien, eine Auffassung, die sich naturgemäß vor allem bei den Verfechtern des Regionalismus findet und von den Protagonisten der Hispanitätsidee zumindest implizit zurückgewiesen wird. Diese knappe Problemskizze läßt deutlich werden, daß in bezug auf Spanien die Nationalismus-Problematik und die Teilaspekte „Staatsnation", „Kulturnation", „Nationalstaat" zumindest insoweit sie sich auf den modernen spanischen Zentralstaat des 19. und 20.Jahrhunderts beziehen, äußerst komplex und bislang nahezu unerforscht sind, da auch die diesbezüglich vorliegende neuere Literatur eher Quellencharakter hat und nur sehr bedingt die Anforderungen erfüllt, die an eine wissenschaftliche Analyse mit klarem Kategoriensystem zu stellen sind.
I. Wenn nun für den Fall Spanien das Nationalismus-Problem des 19. und 20.Jahrhunderts derart viele, von der neueren Forschung bislang nicht aufgegriffene Fragen aufwirft, so ist es sicherlich gerechtfertigt, auf Schwierigkeiten bei der Frage nach der Existenz eines mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Nationalismus in Spanien zu schließen, sieht man sich dabei doch nicht nur mit allgemeinen definitorischen Problemen, sondern auch mit extrem unterschiedlichen Bewertungen der den modernen spanischen Staat bedingenden historischen Prozesse konfrontiert. Immerhin bietet die historische Literatur einen Anhaltspunkt für ein solches Unterfangen, indem sie weitgehend übereinstimmend das Zeitalter der Katholischen Könige und Karls V. als eine Zeit des Umbruchs ansieht. Die Vereinigung Aragóns und Kastiliens in Matrimonialunion durch Ferdinand und Isabella, das Jahr 1492 mit seinen drei großen Ereignissen, nämlich der Beendigung der Reconquista durch die Eroberung Granadas, der Zwangsbekehrung bzw. Vertreibung der Juden (und später auch der Mauren) und der Entdeckung Amerikas, schließlich das Ausgreifen nach Italien und Nordafrika und die Heiratspolitik der Katholischen Könige, die habsburgische Thronfolge mit der Einbeziehung Spaniens in die universale Politik des römisch-deutschen Kaisertums bis hin zum Aufstieg Spaniens zur europäischen Hegemonialmacht und zur politisch-militärischen und geistigen Vormacht der Gegenreformation, alle diese Vorgänge haben nach übereinstimmender Auffassung der Historiographie nicht nur die europäische Geschichte, sondern auch die innere Entwicklung Spaniens maßgeblich beeinflußt. Die Konsequenzen für Spanien selbst werden freilich, je nach Standort der einzelnen Historiker, höchst gegensätzlich beurteilt. Die eine Richtung sieht in diesen Vorgängen den Beweis für die Existenz eines modernen, die wichtigsten Phänomene der frühneuzeitlichen Geschichte teilweise antizipierenden Spanien, während die Gegenmodernistischen Tendenzen im Spanien der Mitte des 19.Jh.s die Begriffe „Nation", „Nationalität", „national" eine wichtige Rolle spielten, trotz allem scheint es aber auch im 19.Jahrhundert, folgt man der Literatur, keinen spanischen Nationalismus gegeben zu haben, obwohl die von der Vf. in zur o. a. Begrifflichkeit gemachten Hinweise sich ganz eindeutig auf die „spanische Nation" beziehen. Selbst der große spanische Liberale und Föderalist Francisco Pi y Margall, Las Nacionalidades. 2 vols. Neuauflage Madrid 1967, ging noch vom Konzept einer einheitlichen spanischen Nation aus.
Frühneuzeitlicher Nationalismus in Spanien
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seite darin eine Verlängerung der Reconquista unter Beibehaltung mittelalterlicher Strukturen, ja geradezu den „Kurzschluß der spanischen Modernität", erblickt.8 Ohne diese Problematik hier weiter verfolgen zu wollen, kann doch hervorgehoben werden, daß sich in einer Epoche so einschneidender Veränderungen in Spanien selbst ein lebhaftes Echo auf die angesprochenen Vorgänge beobachten läßt, das in den verschiedenartigsten Quellen faßbar wird und in ganz unterschiedlicher Form Zeugnis von einem stark ausgeprägten Eigen- oder Selbstbewußtsein der Spanier jener Epoche ablegt. Interessant ist vor allem festzustellen, daß in dieser Zeit sehr häufig „Spanien" beschworen wird, obwohl Spanien als Einheitsstaat weder de iure noch realiter existierte.9 So nannte bereits Kolumbus das heutige Haiti „Española" oder „Hispaniola", „Klein-Spanien" also, und knapp drei Jahrzehnte später gab Hernán Cortés dem eroberten Aztekenreich den Namen „Nueva España", und schlug Karl V. die Errichtung eines spanisch-amerikanischen Kaisertums anstelle des geringer eingeschätzten römisch-deutschen Kaisertums vor. 10 Schon im Jahre 1479, als Ferdinand der Katholische die Thronfolge in Aragón antrat, hatten einige Mitglieder des Kronrates den Königen Ferdinand und Isabella vorgeschlagen, sich künftig „Könige von Spanien" zu nennen, was beide Herrscher ablehnten." KarlV. jedoch ließ sich ein Siegel anfertigen, das ihn und seine Mutter als „Könige von Spanien" auswies 12 ; er bediente sich vor dem Papst in Rom des Spanischen und erklärte, als der französische Botschafter beim Vatikan sich darüber beschwerte, „daß meine spanische Sprache so edel ist, daß sie es verdient, von allen Christen gekonnt und verstanden zu werden". 123 Man wird daher dem spanischen Historiker Ramón Carande zustimmen können, wenn er sagt, daß „dynasti8
Einen Überblick über die neuere Historiographie zu diesen Problemen in: Horst Pietschmann, Staat und staatliche Entwicklung am Beginn der spanischen Kolonisation Amerikas. - Spanische Forschungen der Görresgesellschaft, 2. Reihe, 19. Bd. Münster 1980, S. 7 ff.: ausführlicher demnächst in ders., El problema del estado moderno en la España de los Reyes Católicos, in: Forum Ibero-Americanum, 1. (Köln-Wien), im Druck. - Den „Kurzschluß der spanischen Modernität" postuliert Claudio Sánchez Albornoz, vgl. sein in Anm. 4 zit. Werk.
Beispiele für das Eigenbewußtsein bringt J . A. Maravall, op. cit. Anm. 4, S. 457 ff. - Ein Einheitsstaat war das Spanien der Katholischen Könige und auch der Habsburger deshalb nicht, da die Monarchen de jure die Vorstellung von der Pluralität von Monarchien und Herrschaften schon in ihrer Herrschertitulatur zum Ausdruck brachten und für die einzelnen Reiche nahezu keine übergreifende Institutionen bestanden. 1 0 Vgl. Viktor Frankl, Die Begriffe des mexikanischen Kaisertums und der Weltmonarchie in den „Cartas de Relación" des Hernán Cortés, in: Saeculum, Bd.XIII, Heft 1 (1962), Sonderdruck 34 S. 11 Luis Diez del Corral, La Monarquía hispánica en el pensamiento politico europeo. D e Maquiavelo a Humboldt. Madrid 1976, S.82. 12 Vgl. Filemón Arribas Arranz, Sellos de placa de las cancillerías regias castellanas. Valladolid 1941, S. 229 ff. 1 2 a Amado Alonso, Castellano, español, idioma nacional. Historia espiritual de tres nombres. 2 Buenos Aires 1949, S. 21. Die Authentizität des zitierten Ausspruchs von Karl V. ist umstritten, vgl. Peter Rassow, Die Kaiser-Idee Karls V. dargestellt an der Politik der Jahre 1 5 2 8 - 1 5 4 0 . Berlin 1932, S . 2 5 5 f., Anm. 156. Freilich bezieht sich Rassow dabei auf eine ältere französische Kritik an der spanischen Überlieferung des Zitats, die heute nicht unbedingt als unvoreingenommen angesehen werden kann. Rassow selbst hat Mühe zu erklären, weshalb der Kaiser sich bei dieser Gelegenheit ausgerechnet der spanischen Sprache bediente. Die angeführten Gründe entstammen jedenfalls dem Bereich der Spekulation und entbehren jeder Quellengrundlage. 9
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Horst Pietschmann
sehe Verbindungen, Eroberungen, Annexionen und Entdeckungen über die alte und die neue W e l t das integrale Bild von Spanien projizieren, und aus dem Ausland gelangt zu den Spaniern das Echo ihrer Größe". 1 3 D i e Beispiele für ein spanisches Einheits- und Selbstbewußtsein in der fraglichen Zeit ließen sich problemlos vermehren, ohne daß damit das Problem „frühneuzeitlicher Nationalismus in Spanien" klarer faßbar würde, schließlich lassen sich Beispiele für die Existenz eines den lokalen oder regionalen individuellen Bezugsrahmen übersteigenden Identitätsbewußtseins in jener Epoche allenthalben nachweisen. Es stellt sich hier mit aller Deutlichkeit die Frage nach den möglichen W e sensmerkmalen eines frühneuzeitlichen Nationalismus und - daran anknüpfend die Frage nach seiner spezifischen Ausprägung in Spanien. O h n e in die definitorische Problematik von „Nationalismus" einsteigen zu wollen, soll nachfolgend der Versuch unternommen werden, zumindest Ansätze für solche Entwicklungen im Spanien des Zeitalters der Epochenwende aufzufinden.
II. W e n d e n wir uns zunächst dem Nationsbegriff zu, so muß die betrübliche Feststellung getroffen werden, daß eine systematische Untersuchung der semantischen Entwicklung des lateinischen „natio" bzw. seiner nationalsprachlichen Äquivalente für die Zeit vom ausgehenden 15.Jahrhundert bis ins 18.Jahrhundert offenbar nicht vorliegt. Für den Bereich des Kastilischen und Katalanischen hat ansatzweise José Antonio Maravall dazu wichtige Beobachtungen gemacht und betont, daß sich bereits im späten 15. und in der ersten Hälfte des lé.Jahrhunderts das katalanische „nació" und das kastilische „nación" in Richtung auf den modernen Nationsbegriff weiterbilden. 1 4 Während „natio" im Spätmittelalter die gemeinsame
Herkunft
durch Geburt in lokaler oder sozialer Hinsicht meint, läßt sich schon im späteren 15. und im frühen 16.Jahrhundert eine Ausweitung auf Großgruppen beobachten, wie etwa im konziliaren Nationsbegriff, der freilich noch etwas vage und unbestimmt erscheint. Aber bereits zu Beginn des 16.Jahrhunderts wird - zumindest auf der Iberischen Halbinsel - die Bezeichnung „Nation" auf eine Großgruppe mit gleicher Sprache und - so wird man weiter folgern dürfen - mit gleicher Kultur, Sitte, Recht etc. angewandt. So gesehen wird etwa Kastilien oder Katalonien als „Nation" angesehen, nicht aber „Spanien", es sei denn von Iberern im A u s l a n d " , bzw. - wie noch näher auszuführen sein wird - offenbar von Kastiliern, die ihr Reich auf die Gesamtmonarchie projizieren. Abgesehen von der Ambivalenz der Bezeichnung „spanische Nation", wie sie auch die Kurie in R o m verwandte, nähert sich der Gebrauch der W o r t e „nació" oder „nación" bereits sehr stark dem modernen Nationsbegriff, etwa im Sinne von Staatsnation, an, wie noch in anderem Z u sammenhang deutlich werden soll. Unterstrichen wird dies auch durch die Verbreitung des Begriffs „patria" im Sinne von Vaterland, durch die Existenz einer Art 13
14 15
Ramón Carande, La economía y la expansión ultramarina bajo el gobierno de los Reyes Católicos, in: ders., Siete Estudios de Historia de España. Barcelona 1969, S.23. Vgl J o s é Antonio Maravall, Estado moderno..., vol. 1, S. 467 ff. Vgl. Amado Alonso, op. cit. Anm.l2a, S.21 ff.; desgleichen Maravall, Estado moderno..., Bd. 1, 2.Teil, Kapitel IV, S.457ff.
Frühneuzeitlicher
Nationalismus
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„Bürgerrecht" im K ö n i g r e i c h (faßbar z. B. in der verbreiteten B e z e i c h n u n g „ser natural del reino", etwa: „Gebürtiger des Königreichs") o d e r auch im Vorhandensein eines Ausländerstatus, bzw. der Institution der „Naturalisierung" von Ausländern (span.: Konzession der „naturaleza" durch die K r o n e ) . 1 6 D i e zuletzt g e n a n n t e n I n dizien lassen zudem erkennen, daß der Nationsbegriff n i c h t nur sprachlich-kulturelle Inhalte a n z u n e h m e n begann, sondern sich offenbar auch gewisse territoriale Vorstellungen damit zu verbinden s c h e i n e n , die signalisieren, wie weit der Prozeß des Übergangs vom mittelalterlichen Personenverbandsstaat zum m o d e r n e n Territorialstaat bereits fortgeschritten war. Freilich m u ß zugestanden werden, daß wir es hier m i t e i n e m den engeren Nationsbegriff überschreitenden W o r t f e l d zu tun haben, das in seiner Bedeutungsentwicklung und seiner Sinnverknüpfung n o c h unzulänglich erforscht ist, j e d o c h e r k e n n e n läßt, daß schon i m 16 J a h r h u n d e r t ein gutes S t ü c k W e g e s in R i c h t u n g auf den m o d e r n e n Nationsbegriff zurückgelegt war. Deutlich wird dies auch im Hinblick auf die Entwicklung des souveränen Nationalstaats. W e n n wir die Entwicklung des Souveränitätsbegriffs in den R e i c h e n der Iberischen Halbinsel verfolgen, so m u ß m a n sowohl hinsichtlich der Ursprünge des T e r m i n u s „Souveränität" als auch bezüglich des Begriffsgehaltes weit ins Mittelalter, nämlich ins 13.Jahrhundert, zurückgreifen. I m 16.Jahrhundert sind B e grifflichkeit und Inhalt voll entwickelt, wie der bereits mehrfach zitierte spanische Historiker Maravall zeigte. 1 7 Freilich unterschieden sich diesbezüglich die beiden spanischen Teilkönigreiche in ihrer historischen Entwicklung radikal. W ä h r e n d in Kastilien die Ausübung der Souveränität zumindest de facto ganz in den H ä n d e n des K ö n i g t u m s liegt, das seinen absoluten Machtanspruch spätestens während der Regierungszeit Karls V. durchgesetzt hat, ist in Aragon die Souveränitätsausübung durch „leges fundamentales" geteilt zwischen d e m K ö n i g und den Ständen jedes der drei Teilreiche. Aufgrund dieser U m s t ä n d e k o n n t e aus der Vereinigung der K r o n e n von Aragon und Kastilien kein einigermaßen h o m o g e n e r souveräner Nationalstaat entstehen, da beide Teilreiche aufgrund ihrer R e c h t s o r d n u n g und natürlich auch ihrer sprachlichen, kulturellen und geschichtlichen Entwicklung v o n e i n ander verschieden waren und d e m e n t s t e h e n d e n Nationsbegriff zufolge zwei voneinander getrennte Nationen bildeten - will m a n nicht sogar Aragon als drei T e i l nationen ansehen. In dieser Situation gab es nur einen Ausweg, wollte m a n das T r e n n e n d e zwischen beiden T e i l r e i c h e n auslöschen, nämlich den Appell an eine h ö h e r e , übergeordnete Einheit, der sich beide „Teilnationen" verpflichtet fühlen k o n n t e n , und das war: „Spanien". Vieles deutet darauf hin, daß die V e r w e n d u n g der B e z e i c h n u n g „ S p a n i e n " seit d e m ausgehenden 1 5 . J a h r h u n d e r t i m m e r m e h r z u n i m m t , auch wenn dies systematisch nicht untersucht ist und vor allem unklar bleibt, wer bzw. welche G r u p p e n hinter der Propagierung der Idee von dieser übergeordneten Einheit „ S p a n i e n " steh e n . W e n n wir uns nun wieder d e m P r o b l e m eines souveränen Nationalstaats zuwenden, so bieten sich verschiedene Alternativen an. D i e neue E i n h e i t „ S p a n i e n " >6
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Maravall, Estado moderno... Bd. 1, 2.Teil, Kap. IV, passim; auch die Cortes protestieren im ausgehenden 15. und beginnenden 16.Jahrhundert gegen die Naturalisierung von Ausländern und fordern von den Königen, keine „cartas de naturaleza" zu vergeben. Die Begrifflichkeit begegnet übrigens schon in den Siete Partidas Alfons X. des Weisen im 1 S.Jahrhundert. Vgl. Maravall, Estado moderno, Bd. 1, S. 467 ff.
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existierte mehr als Idee, etwa im Sinne des modernen Begriffs „Kulturnation", nicht jedoch in der politischen Realität, da allein die verfassungsmäßige Verschiedenheit der Teilreiche in Verbindung mit den sprachlichen und kulturellen Unterschieden eine Entwicklung in Richtung auf einen souveränen Nationalstaat noch bis ins 18.Jahrhundert verhinderte. Bleiben die beiden Teilreiche für sich genommen. Diesbezüglich wird man feststellen müssen, daß Aragon aufgrund seiner Verfassungsordnung und der politischen und kulturellen Betonung der Eigenständigkeit der einzelnen Teilreiche von einer Entwicklung in Richtung auf einen souveränen Nationalstaat ziemlich weit entfernt war. Nicht so jedoch die iberische Vormacht Kastilien, die neben Frankreich wohl am weitesten in die genannte Richtung vorangeschritten war: eine sprachlich, kulturell und religiös homogene Bevölkerung, die einen massiven Akkulturationsdruck auf jüdische und maurische Minderheiten ausgeübt hatte und über die Statuten der Blutsreinheit („estatutos de limpieza de sangre") weiter ausübte und ein starkes, religiös überhöhtes Selbstbewußtsein entwickelt hatte, darüber hinaus einem bürokratisch-modern regierenden Herrscherhaus bereitwillig - von einer noch zu behandelnden Ausnahme abgesehen - folgte und einen, durch die Reconquista bedingten, relativ hohen Grad der Militarisierung erreicht hatte. 18 Die, in bezug auf die frühneuzeitlichen Entwicklungen, gemeinhin Spanien attestierte Modernität, bezieht sich jedenfalls nur auf Kastilien, die in vielerlei Hinsicht im 16. Jahrhundert prosperierende iberische Vormacht. Die bisher untersuchten Beurteilungskriterien lassen sich daher nicht für Aragon und nicht für Spanien insgesamt, sondern nur für Kastilien als mehr oder weniger gegeben annehmen. Starke Vorbehalte in bezug auf diese Modernität sind freilich hinsichtlich der wirtschafdichen und sozialen Strukturen anzumelden.
III. W e n n sich auch in der Zeit des ausgehenden 15. und des 16.Jahrhunderts eine steigende Anzahl von literarischen und anderen Quellenbelegen für die Existenz eines aragonesisch-katalanisch-valencianischen, eines gesamtspanischen, eines kastilischen und wahrscheinlich sogar eines baskischen und galicischen Eigenbewußtseins oder gar Protonationalbewußtseins - ein von Maravall häufig benutzter, im vorliegenden Zusammenhang sehr sinnvoll erscheinender Begriff - nachweisen läßt, so ließe sich dagegen immer noch einwenden, daß sich dies auf eine kleine, literarisch gebildete und schriftkundige Schicht beschränkt. 19 Wie stand es also mit 18
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Vgl. die Ubersicht von Joseph Pérez, España moderna (1474-1700). Aspectos políticos y sociales, in: Jean-Paul Le Flem, Joseph Pérez, Jean-Marc Pelorson, José Maria López Pifiero, Janine Fayard, La frustración de un imperio, Bd.V der Historia de España, dirigida por Manuel Tuñón de Lara. Barcelona 1982, S. 137 ff. - Vgl. neuerdings auch die knappe, jedoch sorgfältig die neuere Literatur auswertende Ubersicht von Henry Kamen, Spain 1469-1714. A society of conflict. London-New York 1983, passim. Begriffsbildungen wie „protonational" oder „Protonationalismus" sind offenbar im Deutschen noch kaum üblich, im Englischen und auch im Spanischen findet man sie jedoch schon häufiger, vgl. z. B. J. A. Maravall, Estado moderno, Bd. 1, 2.Teil, Kap.IV, S.457 u. passim. Es wäre zu prüfen, ob derartige Begriffe nicht geeignet wären, zwischen „Nationalismen" früherer Epochen und denen seit dem 19.Jahrhundert zu unterscheiden. Freilich wäre diesbezüglich erst einmal zu klären, worin denn eigentlich der Unterschied liegt.
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der Verbreitung dieses Bewußtseins in der Bevölkerung? Normalerweise ist dergleichen für frühere Epochen quellenmäßig nur sehr schwer nachzuweisen. Im Falle Kastiliens jedoch bietet sich der Rekurs auf den Aufstand der Comunidades für den Nachweis an, daß die beschriebenen protonationalen Entwicklungen geeignet waren, zum Ausbruch einer Volkserhebung wesentlich beizutragen. Vorweg sei vermerkt, daß nicht beabsichtigt ist, nachfolgend eine Gesamtinterpretation dieses Aufstandes vorzunehmen oder vorbehaltlos die Interpretation des Aufstandes durch J. A. Maravall zu übernehmen. 20 Die Erhebung der Comunidades von Kastilien ist sicherlich ein komplexes politisch-soziales und auch kulturelles Phänomen, dessen Deutung gerade in jüngster Zeit neue Impulse empfangen hat durch eine Reihe neuer Publikationen, über das die Meinungen gleichwohl noch sehr kontrovers sind. 21 Die Probleme um die habsburgische Thronfolge auf der Iberischen Halbinsel sind hinreichend bekannt. Der Gegensatz zwischen dem Katholischen Königspaar und Kaiser Maximilian und dem Brüsseler Hof trug erheblich dazu bei, daß Karls Herrschaftsantritt vor allem in Kastilien unter keinem guten Stern stand. Der junge König stieß bei seiner Ankunft in Kastilien im November 1517 auf Mißtrauen und Vorbehalte, sprach er doch nicht die Landessprache, war von einer Vielzahl von niederländischen Beratern und Günsdingen umgeben, an die der junge Herrscher freigebig Ämter, Renten und Pfründen in seinem neuen Königreich vergab; ja, er benannte sogar einen Niederländer als Nachfolger des kurz zuvor verstorbenen Kardinals Jiménez de Cisneros für das nunmehr vakante Erzbistum Toledo, für das bedeutendste Bistum der Iberischen Halbinsel mit seiner sorgsam gehüteten spätantiken-westgotischen Tradition. Der aufgestaute Mißmut entlud sich bereits anläßlich der ersten Zusammenkunft der kastilischen Stände, der Cortes, während Karls Regierungszeit im Jahre 1518 in Valladolid, als der neue König mit seinem Großkanzler Jean le Sauvage einen Ausländer zum Präsidenten der Ständeversammlung ernannte. Der Vertreter der Stadt Burgos, der Stadt also, die als erste für den Stand des gemeinen Mannes Sitz und Stimme beanspruchte, protestierte im Namen des Königreiches gegen die Ernennung und verband mit ihrer Ablehnung der Person Sauvages die Forderung, der König möge doch zunächst die Einhaltung der Rechte, Gesetze und Gewohnheiten Kastiliens beschwören, bevor die Vertreter des Reiches ihm huldigten. Diese Forderung entsprang offenbar nicht so sehr ständischem Selbstbewußtsein 20
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José Antonio Maravall, Las Comunidades de Castilla. Una primera revolución moderna. Madrid 1963 u. spätere Neudrucke. - Unter den verschiedenen Interpretationen der Comunidades ist die von Maravall diejenige, welche am prägnantesten die „nationalen" Züge dieser Bewegung herausarbeitet. Vgl. auch die folgenden neueren Darstellungen, die bei der Interpretation der Comunidades-Problematik teilweise ganz andere Akzente setzen, ohne jedoch die erwähnten „protonationalen" Züge zu leugnen, Joseph Pérez, La Revolution des „Comunidades" de Castille (1520-1521). Bordeaux 1970; Juan Ignacio Gutiérrez Nieto, Las Comunidades como movimiento antiseñorial: La formación del bando realista en la guerra civil castellana de 1520-1521. Barcelona 1973; Benjamín González Alonso, Las Comunidades de Castilla y la formacion del estado absoluto, in: ders., Sobre el estado y la administración de la Corona de Castilla en el Antiguo Régimen. Las Comunidades de Castilla y otros estudios. Madrid 1981, S.7fí.; Stephen Haliczer, The Comuneros of Castile. The Forging of a Revolution, 1475-1521. Madison-London 1981.
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als vielmehr d e m Mißtrauen gegen den Ausländer; denn diese Veränderung der zeremoniellen Abfolge wäre für Kastilien ein N o v u m gewesen 2 2 und war auch bei vorangehenden T h r o n w e c h s e l n nicht gefordert worden. Karl m u ß t e sich der F o r derung beugen und vor E n t g e g e n n a h m e der Huldigung schwören, die R e c h t e K a stiliens zu wahren. A b e r der Sprecher der Städte begnügte sich damit n o c h nicht, er forderte zusätzlich, daß Karl nach s e i n e m Eid schwören solle, keine Ä m t e r an Ausländer zu vergeben. W i e d e r u m beugte sich K a r l d e m Verlangen. Ermutigt durch diese Erfolge, präsentierten die Vertreter der Städte d e m K ö n i g dann, der Tradition folgend, ihre Petitionen, die n u n m e h r - nach einer U n t e r b r e c h u n g von e i n e m J a h r h u n d e r t - erstmals wieder einen ausgeprägt ständestaatlic h e n A k z e n t trugen, n a c h d e m frühere Cortesversammlungen bereits ausdrücklich V o r f o r m e n des m o n a r c h i s c h e n Absolutismus anerkannt hatten. 2 3 Die einzelnen Petitionen der Städte an Karl enthalten zugleich auch zahlreiche Punkte, die letztlich auf eine „Nationalisierung" der neuen Dynastie hinauslaufen sollten. So wurde Karl aufgefordert, möglichst schnell Kastilisch zu lernen, damit er mit seinen U n tertanen in deren Muttersprache verkehren, R e c h t sprechen und die Regierung des Landes führen k ö n n e ; weiterhin solle er zusichern, keinerlei K r o n g u t zu veräußern, abermals, keine Ausländer für Ä m t e r und Pfründen Kastiliens zu e r n e n n e n und keine A u s l ä n d e r zu naturalisieren; alle v o m K ö n i g ausgesandten Botschafter, die kastilische Belange zu vertreten hätten, sollten Kastilier sein, der K ö n i g solle sich entsprechend den politischen Bedürfnissen Kastiliens verheiraten; der Bruder des K ö n i g s , Prinz Ferdinand, solle solange in Kastilien bleiben, bis Karl eigene N a c h k o m m e n h a b e ; weiterhin solle Karl „Kastilier und Spanier" in seinen Haushalt und sein Gefolge a u f n e h m e n und sich mit ihnen beraten; auch solle er dafür Sorge tragen, daß weder G o l d noch Silber noch ausgemünztes G e l d aus Kastilien ausgeführt werde und daß es in Kastilien Rechtsprechung n u r nach kastilischem R e c h t g e b e , da es n i c h t angehe, daß angesichts der Vielfalt der V a s a l l e n 2 3 2 am H o f e des K ö n i g s unterschiedliche R e c h t s n o r m e n gelten. A u ß e r d e m solle der K ö n i g beim Papst veranlassen, daß die i m Ausland residierenden kirchlichen Würdenträger ihre S p r e n gel besuchen und daß der Papst die Praxis aufgebe, wenig ertragreichen Bistümern in anderen K ö n i g r e i c h e n kastilische K i r c h e n p f r ü n d e n anzugliedern und vakante Bistümer und Pfründen an Personen zu vergeben, die in R o m residieren; dringend bitten die Stände auch den K ö n i g , das 1 5 1 2 von Ferdinand d e m Katholischen K a Über die Entwicklung der kastilischcn Cortes vgl. die klassische Untersuchung von Wladimiro Piskorski, Las Cortes de Castilla en el período de tránsito de la Edad Media a la Moderna 1188-1520. Traducción de C. Sánchez-Albornoz. Con un estudio sobre las cortes medievales castellano-leonesas en la historiografía reciente por Julio Valdeón Baruque. Barcelona 1977. 2 3 Vgl. dazu etwa Maravall, Estado moderno, Bd. 1, 2. Teil, Kap. I, S. 249 ff. 2 3 a Der Begriff wird so von den Cortes gebraucht. Allerdings setzt sich in dieser Zeit schon die Bezeichnung „Untertan" („súbdito") durch, doch lebt der Begriff „Vasallo" bis zum Ausgang des Ancien Regime fort. Die Krone benutzt beide Termini meist zugleich „subdito y vasallo". Mangels begriffsgeschichtlicher Untersuchungen bleibt jedoch unklar, ob „Vasall" einen Bedeutungswandel durchgemacht hat und ggf. welchen (diesbezüglich wäre die Frage zu verfolgen, ob ein „Vasall", d.h. ein in Personenverbandsbeziehungen stehender Mensch ein „Nationalgefühl" entwickeln kann oder ob dies eher der „Untertan" tun kann. Die komplette Liste der Petitionen der Stände, die an dieser Stelle auszugsweise wiedergegeben werden, finden sich in: Cortes de los antiguos reinos de León y de Castilla publicadas por la Real Academia de la Historia, tomo cuarto. Madrid 1882, S.260ff. 22
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stilien angegliederte Königreich Navarra der Krone von Kastilien zu erhalten und es nicht, wie Karl wenig zuvor im Vertrag von Noyon versprochen hatte, dem angestammten Königshaus zurückzugeben - , da es „der Hauptschlüssel dieser Reiche" (Anm.: bezieht sich auf die Pyrenäenübergänge) sei. Die lange Liste der genannten Forderungen läßt erkennen, daß die Vertreter der Städte ganz entschieden gegen eine Vielzahl von ausländischen Einmischungen, Vorrechten, Interessen etc. Front machten und den neuen König auf diese - wenn man so will - „nationale" Linie festzulegen suchten. Mit wenigen Ausnahmen hat Karl allen diesen Forderungen uneingeschränkt zugestimmt, sich jedoch in seiner Regierungspraxis der Folgezeit so gut wie gar nicht daran gehalten, was den Unmut in Kastilien nur noch mehr anfachte. Freilich ist auch damit noch nicht bewiesen, daß ein wirklich breiter Konsens zur Verteidigung der kastilischen Interessen gegeben war, schließlich waren die Vertreter der Städte ja nicht repräsentativ für größere Bevölkerungsschichten, lag doch in Kastilien das Stadtregiment in jener Zeit bereits in den Händen relativ geschlossener adelig-patrizischer Oligarchien. Die Breite des „nationalen" Widerstandes gegen Karl manifestierte sich jedoch in der Folgezeit sehr bald, als die Nachricht vom Tod Kaiser Maximilians in Spanien eintraf. Nach Beendigung der kastilischen Ständeversammlung hatte sich Karl nach Aragon gewandt, um auch dort von der Ständeversammlung anerkannt zu werden. Die Aragonesen leisteten womöglich noch hartnäckigeren Widerstand als die Kastilien waren sie doch nicht bereit, Karl als König anzuerkennen, sondern allenfalls als Regenten anstelle seiner geistig behinderten Mutter Johanna. Während der mehrmonatigen Verhandlungen mit den aragonesischen Ständen starb Maximilian und Karl begann seine Kandidatur um die Kaiserkrone zu betreiben. Die Kaiserwahl und die Vorbereitungen zur Abreise aus Spanien ließen die Erregung in Kastilien auf den Siedepunkt ansteigen. Als Karl aus Geldnot die kastilischen Stände erneut einberief und sie sozusagen auf seinen Weg nach Santiago de Compostela also außerhalb Kastiliens in das Königreich Galicien - bestellte, zugleich auch Druck auf die Städte ausüben ließ, damit diese willfährige Deputierte entsenden sollten, begann die Agitation gegen die Wünsche des Königs in verschiedenen Städten. Angehörige des Adels, aber insbesondere der niedere Ordens- und Weltklerus propagierten den Widerstand: man solle den König am Verlassen der Iberischen Halbinsel hindern und vor allem die Bewilligung zusätzlicher Steuern ablehnen. In Salamanca berieten Juristen und Angehörige der Bettelorden (Augustiner, Franziskaner und Dominikaner) den Stadtrat bei der Formulierung der dem König in den Petitionen der Stände vorzulegenden Gravamina. Gleichzeitig entsandten die salmantiner Klöster Sendboten an die übrigen Städte, um sie ebenfalls zu hartnäckigem Widerstand gegen die königlichen Wünsche aufzufordern und bei der Fixierung ihrer Forderungen zu beraten. Das Programm der Salmantiner Mönche sah vor, den König wegen der Bedeutung der anstehenden Ständeversammlung um deren Verschiebung zu bitten, ihn dringend zum Verbleiben im Lande aufzufordern, erneut und nachdrücklich ihn um die Entfernung aller Ausländer vom Hofe bzw. den Hofämtern zu ersuchen und Finanzmittel nur zu bewilligen, wenn Karl die vorher genannten Punkte erfülle und sich verpflichte, die bewilligten Steuern nur in Kastilien zu verausgaben. U m dies zu gewährleisten, sollte die Verwaltung der bewilligten Gelder unter die Aufsicht der Städte gestellt werden.
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Auch in Toledo war die Situation äußerst gespannt. Bereits 1519 hatte die Stadt eine Gesandtschaft an Karl geschickt, die sich darüber beschweren sollte, daß Karl einen ausländischen Knaben zum Erzbischof habe ernennen lassen und daß der König es im Verlauf von zwei Jahren nicht für nötig gehalten habe, diese neben Burgos wichtigste Stadt Kastiliens persönlich aufzusuchen. Da die Gesandtschaft Toledos nicht vor den König gelangte, hatte der Stadtrat bereits im November 1 5 1 9 ein Rundschreiben an alle übrigen Städte mit Sitz und Stimme in den Cortés gerichtet, in dem es u.a. hieß: „Euere Gnaden erinnern sich der Ankunft des K ö nigs Don Carlos in Spanien (sie), wie sehr sie erwünscht war und wie überraschend nun seine Abreise ist. Seine Abwesenheit bereitet uns nun nicht weniger K u m m e r als uns seinerzeit seine Ankunft Freude bereitet hat. Da seine königliche Person sich in den Reichen von Aragón lange aufgehalten hat und in diesen Reichen nur wenig, sind die Probleme dieser Reiche in keiner Weise erledigt worden. Und da angesichts der Abreise seiner Majestät die Angelegenheiten dieser Reiche in Gefahr sind, erscheint es uns, ihr Herren, wenn es Euch recht ist, da der Schaden alle betrifft, daß wir uns treffen, um über Abhilfe nachzudenken... Es scheint, daß wir über drei Dinge beraten sollten, um dann unsere Sendboten an seine Hoheit zu schicken, erstens, ihn zu bitten, daß er die Reiche Spaniens nicht verlassen möge; zweitens, daß er auf keinen Fall gestatte, daß Geld aus Spanien weggeführt werde, und drittens, daß die Ernennungen der Ausländer für Ämter hierzulande zurückgenommen werden". 2 4 Eine solche nicht vom König einberufene Versammlung der Städte hätte einen offenen Bruch mit der kastilischen Verfassungspraxis bedeutet, da Ständeversammlungen oder auch die Zusammenkunft von Repräsentanten der Städte mit Votum auf den Cortes nur vom König einberufen werden konnten. Toledo propagierte also hier bereits eine Rebellion gegen König Karl. Welches auch immer die politischen und sozialen Ursachen der sich anbahnenden Rebellion gewesen sein mögen, deutlich wird jedoch bereits aufgrund des Toledaner Rundschreibens, daß das auslösende Moment der Bewegung, welches zunächst einmal die überwiegende Mehrzahl der kastilischen Städte zu gemeinsamem Handeln veranlassen konnte, die strikte Ablehnung der Prädominanz ausländischer Vorgänge und Interessen auf kastilische Belange war, wie die drei Forderungen Toledos in aller Deutlichkeit erkennen lassen. Auch der spätere Verlauf der Erhebung der Comunidades unterstreicht dies, da die die Erhebung tragenden Städte sich kaum auf ein gemeinsames politisches Programm einigen konnten und auch die sozialen Trägerschaften heterogen blieben, so daß als einigendes Band stets nur die Verfolgung „nationaler" Interessen gegenüber übermächtig erscheinenden ausländischen Einflußnahmen auf kastilische Belange übrig blieb. Als die Ständetagung schließlich in Santiago zusammentrat, geschah dies ohne die Vertreter Toledos, die aus Angst vor der öffendichen Agitation in ihrer Stadt 24
Alonso de Santa Cruz, Crónica del Emperador Carlos V. 5 vols. Madrid 1920-1925, Bd. 1, S. 2 20 f. bringt in seiner Chronik die hier zitierte Version des Briefes, die zwar apokryph sein soll, aber wohl den Tenor der Demarche der Stadt exakt wiedergibt; vgl. dazu auch Joseph Pérez, La Révolution, S. 143. Die Tatsache, daß die genannte Chronik wohl sinngemäß exakt ist, geht u. a. auch daraus hervor, daß Toledo wenige Monate später mit ähnlichen Forderungen erneut die Initiative ergreift und die Städte zu einer Junta nach Avila einberuft, aus der dann das zentrale Leitungsgremium der Comunidades, die Junta von Tordesillas, hervorgehen sollte, vgl. J. Pérez, La Révolution, S. 173.
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einerseits und vor dem Druck des Hofes am Versammlungsort andererseits der Zusammenkunft ferngeblieben waren. Die dieses Mal von einem kastilischen Bischof verlesene Thronrede Karls bot gerade in bezug auf die in dem vorliegenden Zusammenhang interessierende Thematik eine große Überraschung. Karl läßt - sicherlich auf Anraten Gattinaras - die Größe Spaniens (von dem Kastilien ohnehin der größte und wichtigste Teil sei) beschwören. Wenn Karl die ihm durch göttliche Fügung zugefallene Kaiserkrone akzeptiere, so nicht aus Ehrgeiz, sondern um große Probleme zu bewältigen und vor allem „um große Übel von unserer christlichen Religion abzuwenden"... 25 „Nun sei die alte Größe nach Spanien zurückgekehrt. .. während andere Völker Tribute nach Rom gesandt hätten, habe Spanien Kaiser entsandt; es schickte Trajan, Hadrian und Theodosius, auf die Arcadius und Honorius folgten, und jetzt kam das Imperium um den Kaiser in Spanien zu holen". Danach folgten zahlreiche rechtfertigende Beispiele von spanischen Königen, die ihr Reich verlassen hätten, um andere Kronen zu erwerben und damit die Größe Spaniens zu begründen. Es wäre sicher verkehrt, diese Rede als Ausdruck einer politischen Programmatik Karls oder auch nur Gattinaras überzubewerten, verfolgte sie doch vor allem den Zweck, die aufgebrachten Gemüter in Kastilien zu beruhigen. Dies wäre sicherlich auch auf andere Weise möglich gewesen als durch eine „nationalistische" Rhetorik. Hinter dieser Rede stand offenbar mehr als nur der Versuch, beruhigend zu wirken. Der Rekurs auf die römische Geschichte Spaniens und ihre Verknüpfung mit den Geschicken des römischen Imperiums, auf das sich ja auch das Hl. Römische Reich deutscher Nation berief, und zugleich der Appell an die expansionistischen Tendenzen früherer Zeiten, verknüpft mit der religiösen Überhöhung durch den Hinweis auf die Probleme der Christenheit und die daraus abgeleitete Notwendigkeit für den katholischen Glauben eintreten zu müssen, bildeten genau die Mischung, aus der sich der aggressive, imperiale Sendungsgedanke zusammensetzte, der die später auf den europäischen Schlachtfeldern oder die in Nordafrika gegen die Mauren oder die in Übersee gegen Eingeborene kämpfenden Spanier beseelte 26 und den die spanischen Habsburger bis hin zu Philipp IV. zur Mobilisierung der Ressourcen Kastiliens für ihre Großmachtpolitik nutzten. Man mag dies als imperialen oder auch religiösen Sendungsgedanken bezeichnen, in jedem Fall fußt diese Idee auf einer kaum verhüllten „nationalistischen" Verabsolutierung der spanischen Geschichte und Gegenwart, verbunden mit dem Versuch, dadurch Kräfte freizusetzen für außerspanische politische Ziele. Diese in der Folgezeit immer häufiger anzutreffenden Ideenzusammenhänge begegnen in aller Deutlichkeit zum ersten Mal in der Thronrede vor den kastilischen Cortes des Jahres 1520. In diesem Zusammenhang muß daran erinnert werden, daß auch die Stadt Toledo in ihrem Rundschreiben an die übrigen kastilischen Städte die Idee von Spa25 26
Cortes de los antiguos reinos de León y de Castilla..., tomo cuarto, S. 295. Dieser imperiale Sendungsgedanke ist sowohl in den Quellen zur überseeischen Expansion und Kolonisation, als auch bei den Angehörigen der in Flandern oder Italien stehenden spanischen Tercios faßbar. Man vgl. diesbezüglich nur die „Autobiografías de soldados (siglo XVII). - Biblioteca de Autores Españoles. Bd.XC. Madrid 1956", Memoiren spanischer Soldaten und Offiziere, die u. a. über ihre Aktivitäten im gesamten Mittelmeerraum, in Italien, auf dem Balkan, im Reich und in Flandern berichten, wobei in ihren Berichten immer wieder dieses Uberlegenheitsgefühl anklingt.
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nien benutzte, jedoch in einer defensiven Form mit dem Ziel, reale oder vermeintliche ausländische Bedrohungen abzuwehren und Kastilien zur Beschäftigung mit seinen eigenen Problemen zu veranlassen. Kastilischer Patriotismus, der sich mit defensiver Zielsetzung einer übergreifenden spanischen Einheitsidee bedient, steht mithin einem von der Krone propagierten offensiven Nationsgedanken gegenüber. Zunächst dominiert ersterer, wie die Ereignisse zeigen. Man wird einschränkend allerdings zugeben müssen, daß es bereits zu Zeiten Königin Isabellas eine offensive Version des kastilischen Selbstbewußtseins gegeben zu haben scheint, die ebenfalls in die Richtung der in Karls Thronrede vor den Cortes ausgesprochenen Gedanken zielte. So berichtet beispielsweise der berühmte kastilische Humanist und Verfasser der ersten Grammatik des Kastilischen, Nebrija, daß die Königin ihn noch vor 1492 gefragt habe, welchen Nutzen eine Grammatik des Kastilischen denn habe - man muß darauf hinweisen, daß dies zu einer Zeit erfolgte, als es Grammatiken nur vom Lateinischen, Griechischen und Hebräischen, nicht jedoch von irgendeiner anderen modernen europäischen Sprache gab. Nebrija berichtet weiter, daß ihm der Bischof von Avila, Fray Hernando de Talavera, mit einer Antwort zuvorgekommen sei, indem er der Königin sagte: „daß nachdem ihre Hoheit so viele Barbarenvölker und Nationen mit seltsamen Sprachen unter ihr J o c h gebracht habe und jene mit der Niederlage vor der Notwendigkeit stünden, die Gesetze zu empfangen, die der Sieger dem Besiegten auferlegt und damit auch unsere Sprache, könnten sie sie durch diese meine Kunst erlernen, so wie wir jetzt durch das Erlernen der lateinischen Grammatik die lateinische Sprache erlernen". 2 7 Kastilisch wird also hier als imperiale Sprache dem Lateinischen gleichgesetzt, als eine Sprache, die zur Zivilisierung barbarischer Völker mit seltsamen Sprachen dienen soll und die Funktion einer Hochsprache in einem bunten Völker- und Sprachgemisch innehaben soll, sozusagen als eine Art modernes Latein. In diesem Zusammenhang sei auf die an früherer Stelle zitierte Bemerkung Karls V. über seine spanische Sprache verwiesen, die als Verkehrssprache der Christenheit geeignet sei. Wenn man sich nun vergegenwärtigt, daß sich in der ersten Hälfte des lö.Jahrhunderts die Identifizierung von Kastilisch und Spanisch vollzog, d.h. daß die bis dahin als Kastilisch bezeichnete Sprache Kastiliens nun unter die Bezeichnung Spanisch gefaßt wurde, so liegt die Vermutung nahe, daß diese aggressive Version kastilischen Selbst- oder Nationalbewußtseins unter K a r l V . zu einem spanischen „Nationalismus" ausgeweitet wurde, parallel zur persönlichen Hispanisierung des Kaisers. Dies ist freilich bislang nur eine Vermutung, die zwar durch mehr als einen Quellenbeleg gestützt wird, die jedoch mit den vorherrschenden Deutungen der kaiserlichen Politik und des kaiserlichen Denkens nur schwer in Einklang zu bringen ist. Man wird diesbezüglich allerdings einwenden dürfen, daß in allen großen Darstellungen über Karl V. das spanische Quellenmaterial und die inneren Entwicklungen in Spanien in jener Epoche nur sehr marginal berücksichtigt werden. Es sei lediglich daran erinnert, daß es bis jetzt keine systematische Untersuchung darüber gibt, welche Vorstellung Karl und seine Umgebung mit dem immer wieder gebrauchten, staatsrechtlich jedoch nicht existenten Begriff „Spanien" verbanden, mehr noch, daß es - abgesehen von der Zeit der Erhebung der Comunidades - bislang noch nicht einmal eine befriedigende Darstellung der vom 27
Amado Alonso, op. cit. Anm. 12 a, S. 19 f.
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Kaiser innerhalb Spaniens betriebenen Politik gibt. Merkwürdigerweise sind wir in bezug auf die spanischen Angelegenheiten am besten über die in den amerikanischen Kolonien betriebene Politik des Kaisers unterrichtet und die war strikt absolutistisch und von einem missionarischen Sendungsbewußtsein geprägt, so daß Karl sich in einem Gesetz aus den 20er Jahren als „Bezwinger der Barbaren" bezeichnen konnte. W e n n wir nun zu den Ereignissen in Kastilien zurückkehren, so wird die an früherer Stelle aufgeworfene Frage nach der Massenbasis der „defensiven" Form des kastilischen „Nationalbewußtseins" durch die Ereignisse rasch beantwortet. In La Coruna, wohin sich die Ständeversammlung auf Karls Wunsch begeben hatte, erreichte der Kaiser unter massivem Druck auf die Delegierten, daß die Stände eine neue Steuerbewilligung beschlossen. Daraufhin brach allenthalben in den Städten Unruhe aus. In Toledo wurden die königlichen Autoritäten vertrieben und ein neues Stadtregiment gewählt, das durch Belagerung die Festung der Stadt unter seine Kontrolle brachte. In Segovia wurden bei einer Bürgerversammlung mehrere Befürworter der Legalität zusammen mit einem der beiden städtischen Deputierten bei den Cortes von der aufgebrachten Menge gelyncht. In Zamora wurde eine Art Volksgericht gebildet, das den beiden Cortes-Deputierten ihren Hidalgo-Status aberkannte und sie aus der Stadt verbannte. Nur das Eingreifen eines adeligen Magnaten vermochte in Zamora ein Vorgehen wie in Segovia zu verhindern. Auch in anderen Städten kam es zu Unruhen und Ausschreitungen, die die allgemeine Erregung klar erkennbar werden lassen. Freilich waren diese Ausbrüche offenbar nicht spontan, sondern - wie einzelne Berichte erkennen lassen - auf die Agitation verschiedener sozialer Gruppen zurückzuführen, Gruppen, von denen noch am ehesten der niedere Klerus zu identifizieren ist. Aufgrund der Vorfälle wird man auch mit hinreichender Fundierung unterstellen können, daß die Agitation nicht nur auf die „nationalen" Belange abzielte, sondern auch massive machtpolitische und soziale Inhalte gehabt haben wird, die schon bald auf lokaler Ebene das Übergewicht erlangen sollten. Interessant ist jedenfalls, daß zu Beginn der Erhebung, als es noch den Anschein hatte, als richtete sich der Unmut ausschließlich gegen den ausländischen Einfluß und gegen die Mißachtung kastilischer „nationaler" Interessen, eine sehr breite Zustimmung zu den Vorgängen bei nahezu allen sozialen Schichten, einschließlich großer Teile des Hochadels, zu beobachten ist. Die adeligen Magnaten machten allenthalben einen mäßigenden Einfluß geltend, versuchten die Bewegung zu kanalisieren und im Rahmen der geltenden Ordnung zu halten, wandten sich aber nicht offen dagegen. Auffällig ist allerdings, daß sich die Unruhen auf Alt- und Neukastilien, d. h. auf eine Zone, begrenzt durch die Städte Salamanca, Burgos, Cuenca und Toledo, beschränkten. Das kantabrische Gebiet, Galicien, Extremadura und Andalusien wurden - auch in der Folgezeit - von der Erhebung nicht oder nur am Rande erfaßt. Dies bedeutet, daß Karls Verhalten und seine Politik vor allem in dem am dichtesten besiedelten und urbanisierten Gebiet Kastiliens auf Widerstand stieß, nicht jedoch in den besonders stark adelig-feudal geprägten Randregionen. Dennoch wäre es verkehrt, die Erhebung rundheraus als eine bürgerliche Bewegung zu bezeichnen und den Versuch einer Parallelisierung oder Verknüpfung mit einem „nationalen" Widerstand zu unternehmen, da an der Erhebung bis zuletzt auch mittlere und niedere Adelige und städtische Unterschichten maßgeblich beteiligt waren.
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Immerhin wird man folgern dürfen, daß tendenziell eher die den neuzeitlichen städtischen Wirtschafts- und Handelsaktivitäten verbundenen Bevölkerungselemente, zusammen mit Universitätsabsolventen und anderen Angehörigen der rasch zunehmenden Dienstleistungsberufe - Juristen, Notare, Schreiber, Ärzte, Apotheker - sowie die von der neuen Spiritualität und den religiösen Reformideen erfaßten Angehörigen des niederen Klerus, insbesondere der Bettelorden, die Träger der Bewegung waren; zumindest hatten diese sozialen Gruppen in dem Verbreitungsgebiet des Aufstandes einen relativ größeren Anteil an der Gesamtbevölkerung als in den ruhig gebliebenen Regionen. Im weiteren Verlauf der Ereignisse vollzog sich eine gewisse Spaltung zwischen der eher gemäßigten Führung der Comunidades, vertreten durch die aus Delegierten der Städte gebildete Junta von Tordesillas und der zunehmend revolutionäre politische und soziale Forderungen vertretenden „Basis", der Bewegung in den Städten. Die Junta von Tordesillas vertrat in ihren Verhandlungen mit den von Karl ernannten Regenten eher die „nationalen" Interessen Kastiliens und gemäßigtere politische Reformpläne, die freilich auf eine wesentliche Verstärkung der ständischen Mitspracherechte hinausliefen. In den Vorstellungen, mit deneh die Repräsentanten der Junta von Tordesillas die Königin Johanna für ihre Sache zu gewinnen versuchten oder in ihren Bemühungen um die Unterstützung des portugiesischen Königs überwogen eindeutig die „nationalen" Argumentationslinien. So führte man Johanna vor Augen, daß sie selbst Opfer der Machenschaften der Ausländer sei, die ihr aus Furcht vor ihrer Intervention in die Reichsangelegenheiten eine standesgemäße Hofhaltung an einem zentralen Ort Kastiliens verwehrten. Die Bitte um Hilfe und Fürsprache bei König Karl, die die Junta von Tordesillas an König Manuel I. von Portugal richtete, wird sogar mit „por ser, como somos, una misma nación" begründet. 2 8 Ob sich dieses „weil wir ein und dieselbe Nation sind", auf die Portugiesen insgesamt oder auf das mit dem kastilischen eng verwandte Königshaus bezieht, ist freilich nicht zu klären. In der gegenwärtigen Lage der Forschung dürfte es wenig hilfreich sein, weitere Beispiele für die Bedeutung „nationaler" Gefühle und Interessen im Aufstand der Comunidades anzuführen. Immerhin ist dieser defensive „Nationalismus" der Comunidades die Form von „Nationalgefühl", für die ganz eindeutig eine Massenbasis für den zentralen Teil Kastiliens nachzuweisen ist und für die, zumindest in der fraglichen Zeit, die Bezeichnung „Nationalismus" wohl am ehesten anwendbar ist. Mit der Niederlage der Comunidades gerät diese Strömung allmählich in die Minderheit, auch wenn spätere Cortesversammlungen nach wie vor von Karl verlangen, daß kastilische Gelder nur für kastilische oder zumindest spanische Anliegen verausgabt werden dürften. Die Opposition gegen die imperiale Politik der spanischen Habsburger sollte in Kastilien in der Folgezeit politisch kaum noch, literarisch dagegen sehr deutlich faßbar sein. 29 Mehr und mehr setzte sich das aggressive spanisch-imperiale Selbstbewußtsein durch und unterstützte die Großmachtpolitik Karls V. und seiner Nachfolger. Es ist in diesem Rahmen sicherlich nicht möglich, die eingangs aufgeworfene Frage einigermaßen gründlich zu dokumentieren und damit auch eindeutig zu be28 29
J. Pérez, La Révolution, S. 232. Vgl. José Antonio Maravall, La oposición política bajo los Austrias. Barcelona 1972.
Frühneuzeitlicher Nationalismus in Spanien
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antworten, zumal die Problemlage für Spanien außergewöhnlich komplex und der Forschungsstand ziemlich dürftig ist. Immerhin sollten die vorangehenden Überlegungen sichtbar gemacht haben, daß eine eingehendere Beschäftigung mit dieser Frage dringend notwendig ist, da vielfältige Indizien auf die Existenz mehrerer Nationalismen oder zumindest entscheidender Veränderungen ein- und desselben Nationalismus in der behandelten Zeit hindeuten. Die Vorgehensweise des spanischen Historikers Maravall, der recht wahllos Belege für ein kastilisch-spanisches Eigenbewußtsein sammelt und die Wandlungen in der Bedeutung von Nation und Vaterland mehr andeutet als untersucht, um dann die Existenz eines „Protonationalismus" in Spanien zu postulieren, ist jedenfalls unbefriedigend und unzureichend, auch wenn damit in keiner Weise sein Verdienst, diese Dinge erstmals einigermaßen zusammenhängend verfolgt zu haben, geschmälert werden soll. Besonders deutlich wird anhand von Maravalls Buch, daß das hier angeschnittene Problem der Entstehung eines Nationalgefühls im Zusammenhang mit dem weit gefächerten Problemkomplex der Entstehung des modernen Staates und den vielfältigen parallel verlaufenden Mentalitätsveränderungen und den Transformationen im Lebensstil steht, etwa in Richtung auf eine verstärkte Rationalisierung im Alltagsleben, man denke nur an Zeit- und Gewichtmessung, Verbreitung der Geldwirtschaft, das Eindringen der Schriftlichkeit in das wirtschaftliche und soziale Leben, den Buchdruck etc.; ebenso ist aber auch den Veränderungen in Kirche und Religiosität in diesem Kontext Aufmerksamkeit zu schenken, wurden gerade doch im Spanien jener Zeit Kirche und Religion zu institutionalisierten Instrumenten zur Bildung der neuen Staatlichkeit.30 Damit soll nicht gesagt werden, daß frühneuzeitliches Nationalgefühl eine Folge der o.a. Transformationen sein müßte, sondern lediglich, daß seine jeweilige Artikulation sicherlich sehr eng mit den genannten Phänomenen zusammenhängt. Viele systematische philologisch-textkritische Untersuchungen und ihre Verknüpfung mit den politischen, sozialen, wirtschaftlichen und geistig-religiösen Entwicklungen im Spanien des 15. bis 17.Jahrhunderts sind noch vonnöten, um die hier angerissenen Fragen zu klären. Die iberischen Besonderheiten wird man freilich erst dann klar erkennen, wenn man die so gefundenen Ergebnisse in Beziehung setzt zu den Verhältnissen in anderen europäischen Reichen an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. Ein wichtiger Gradmesser diesbezüglich dürfte die Entwicklung der modernen Volkssprachen sein, die wohl im Bereich der romanischen Sprachen am weitesten in Richtung auf die heutigen Verhältnisse gediehen waren, sind doch etwa die Unterschiede zwischen dem Spanisch des 16. und dem des 20.Jahrhunderts weitaus geringer als dies etwa im Englischen oder Deutschen der Fall ist. Ob dem auch ein stärker entwickeltes Nationalgefühl entsprach, wie es dem oberflächlichen Betrachter erscheinen mag, wird die künftige Forschung zu entscheiden haben.
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Vgl. dazu Pietschmann, Staat und staatliche Entwicklung, S. 7 ff.
English National Selfconsciousness and the Parliament in the Sixteenth Century* G. R. Elton
The English people early acquired a high degree of national selfconsciousness - if by this term we mean an awareness of their own identity and their difference from other nations. Geography helped, in two quite different ways which on the face of it one might have thought contradictory. The boundaries of an island identified themselves with a precision that was lacking in the rest of Europe - a part of the medieval world in which apparent frontiers served rather to mingle the members of adjacent kingdoms and separate them from their own hinterlands, creating a dark area of marches in which national self-identification retreated before a common consciousness resting on a difference shared along the border. In England, the fact that there existed one such march right into the sixteenth century happened to increase the national feelings of the people. The march against Scotland displayed many of the characteristics of such frontier belts as they were found, for instance, in the Iberian peninsula (Moors and Christians confronting each other but growing like each other in the course of time), or along the eastern edge of the Holy Roman Empire. Along the Anglo-Scottish border, too, a broad strip of territory extending south and north stood apart from both England and Scotland away from the march; and here also common experience and private relations across the supposed divide brought into existence a marcher people of both English and Scots who were more clearly marked by these experiences and relations than by their supposed English and Scottish nationhoods. Yet on the English side at least the fact of Englishness was also never forgotten. The English of the northern marches regarded the Scots not only as fellow-marchers but also - and even more so - as visible enemies, men of another kind: as enemies, that is to say, whose existence made the inhabitants of the English march more conscious of being English. For the English living away from the march, in vasdy the greater part of the realm, the Scots were, of course, nothing but enemies, thus providing within the boundaries of an island so well defined by the sea one further ingredient necessary for national selfconsciousness - the presence of another body of people, habitually hostile, opposing whom meant identifying more consciously with your own kind on a national scale. O n e chief reason why the normal conditions of a marcher existence did not even along the border overrule adherence to the English nation lay in the precocious development of the English monarchy. The realm cohered more definitely than any other medieval unit of comparable size because of the policy of kings. The kings of * This ist a reconstruction, from memory, of an address that was originally delivered without a script. I hope this fact will excuse my failure to provide a full apparatus of notes.
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Wessex had managed to establish a nation-wide rule even before the separation from Scotland became manifest, and the Danish conquerors of the eleventh century inherited something like a territorial unit. Above all, the Norman Conquest led to an energetic and persistent assertion of royal authority throughout the kingdom, and this authority extended, with qualifications, even over the border lands of north and west. Peculiar circumstances produced an exceptionally early diffusion of one culture - one set of national reference points - throughout England. The Conquest left the country populated by three peoples - English, Norman and Welsh - who spoke different languages and lived by different popular traditions and laws. Establishing royal rule in such conditions meant creating and asserting a common identity overbearing all disparities; more particularly, it meant asserting one king's law for the whole realm over all local custom (an end achieved to a surprising degree by the beginning of the 13th century); and this endeavour was quite consciously pursued by the post-Conquest monarchy certainly from the middle of the twelfth century. A hundred years later, the ruling order represented an amalgamation of Norman and Anglo-Saxon elements which spoke of itself as the community of England and thought in national terms.1 At this point, however, the English kingdom still faced the existence of a separate Welsh principality within what were becoming its natural frontiers. Thus Edward I's conquest and absorption of this Celtic remnant opened the door to the typically English king-centred attitudes for penetration into Wales, and by the 16th century this interpénétration had gone a long way towards wiping out a Welsh selfconsciousness especially among the gentry which some centuries before had been strong. The so-called Union of England and Wales, codified in the statutes of 1536 and 1543, was indeed based on a programme of reform put forward in Wales itself and accepted by the administration of Thomas Cromwell. As for the specifically English consciousness of national identity, this achieved consolidation in the Hundred Years' War with France. Even by the middle of the 14th century the language spoken by high and low alike was English - no longer Anglo-Saxon or Norman French, but a product descended from both. The age of Chaucer is an unmistakably English age, however much court and chivalry still looked to the international models presented by the Valois monarchs and their knights.2 As so often, fighting an enemy did not necessarily mean breaking all cultural ties, but it did mean fighting as conscious Englishmen. No doubt, the long struggle with France started as a family dispute over an inheritance, but, as is the habit with such quarrels among relatives if only they last long enough, it set up a confrontation between two resolutely hostile parties (in this case nations), a confrontation filled with distrust and dislike that still have life in them to the present day. By the 16th century, therefore, the English were a nation and conscious of the fact. There are some subtle implications in the scene in Shakespeare's Henry V 'm which three captains (English, Scottish and Welsh) tease their Irish companion. "I think, look you, under your correction," says Captain Fluellen to Captain Macmorris, "there is not many of your nation," only to be interrupted by a storming out1
2
M. T. Clanchy, England and its Rulers 1 0 6 6 - 1 2 7 2 (London, 1983) provides an excellent summary of these developments. See especially ch. 10. See Janet Coleman, English Culture in the Fourteenth Century, in: Chaucer and the Italian Trecento, ed. Piero Boitani, Cambridge 1983, 3 3 - 6 3 .
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burst: "Of my nation! What ish my nation?" and so forth. A people divided into warring septs and clans, only in part subjected to what the English regarded as a civilized form of government, could not claim nationhood or national identity, and Macmorris understood that he was being charged with lacking the outward aspect of a cultural development that made his companions more advanced than himself. As a matter of fact, by Shakespeare's time the Welsh also were hardly a genuine nation any more, though it was in the age of Elizabeth that Welsh selfconsciousness began to be recreated by a group of humanist intellectuals, especially George Owen, a Herder devant ses jours. The notion, so often asserted, that the Tudor dynasty itself made propagandist use of its supposed Welsh origin is not, to my knowledge, borne out by any evidence: a few poets' devices late in the century hardly support the case, and I shudder to think what Elizabeth would have said if someone had called her Welsh to her face! In reality, the national selfconsciousness of England included Wales, a fact made apparent by the statutory union of the 1530s and well illustrated by the lack of resentment with which the sizable influx in the early 16th century of Welshman seeking to better themselves in the king's court and government was accepted by the English proper. When a century later the Scots similarly flooded down from the north in the entourage of the first Stuart king of England, they caused the most violent hostility and provoked xenophobic feelings that lasted into the 19th century. England and Wales were one kingdom with one national selfconsciousness; Scotland was such another, and James I never got anywhere near success with his very sensible proposals for a union of the two kingdoms. The Scots were not the only victims of xenophobia. Predictably, English selfconsciousness expressed itself most clearly, indeed most stridently, in hostility to and contempt for other nations. Pride of nationhood easily turned to chauvinism, as the Spanish attendants of Philip of Burgundy and Castile discovered quickly enough when their master, by marrying Mary Tudor, briefly became king of England. The streets of London witnessed frequent clashes in which blood was shed and two manifestations of stubborn pride fed on one another. Englishmen, whether they had travelled abroad or never left home, thought themselves superior to other nations - or at least, in moments of unwonted humility, as vastly more fortunate. They had plenty of meat to eat, whereas the French and Italians had to make do with "grass" or "herbs" - vegetables and salads. They knew peace and plenty, whereas abroad there reigned lawless war and penury. They lived under the law; other nations were ruled by tyranny. Even critics unwittingly repeated such assessments: thus Richard Morison explained in 1536 that the English were notoriously idle and unwilling to work because the demi-paradise they inhabited rendered unnecessary those constant and painful exertions by which other people had to earn a living. No doubt one can find similar national chauvinism elsewhere: it seems improbable that the French sense of superiority, so dominant in the 17th and 18th centuries, should not have been present already in the 16th. Nor should it be forgotten that Englishmen of taste and intellect looked abroad for their inspiration to Italy, to Burgundy, to Erasmus, to Calvin's Geneva. Nevertheless, a peculiarly fortified kind of selfawareness, at times deteriorating into smug contentment, pervaded the thoughts on national identity even among the more distinguished members of the nation. A very real truth about English feelings in the 16th century was
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summed up somewhat innocently in the famous marginal note found in John Aylmer's An Harborowe for Faithful and True Subjects (1559): "God is English." Yet there is another side to story. Englishmen talked readily about being English and proud of it; yet the pull upon their deeds, allegiances and feelings seemed often to be exercised by a territory much smaller than the whole realm. No wonder that quite a few historians will emphasize a different image: to them it seems clear that this apparent consciousness of nationhood covered - and covered thinly - a powerful localism that would seem to make nonsense of the concept of one nation. When men, we are reminded, spoke of their country they meant their county. Most people's horizons did not in practice extend to the limits of the kingdom: they lived in and for a shire, a borough, a village, a manor; and for most of them the realities of social and political existence occurred within these narrower confines. The gentry, and even very often the aristocracy, played out their faction-ridden quarrels for ambition and aggrandisement within their counties: it was there that they wished to shine and rule. Among the lower orders, a man could be a foreigner without having crossed the Channel to come to England; it was enough if he stemmed from another county, sometimes from a neighbouring village. How can we be sure that the men of Lancashire and Kent, of Devon and Durham, thought of themselves as members of one nation? An example often cited is that of Cornwall whose levies rebelled in 1497 at least in part because they regarded a demand for their services against the Scots in the far north an irrelevant intrusion upon their affairs. Or there are the Pilgrims of Grace who in 1536 demonstrated (so it is held) the separateness of the whole north of England from the larger and hated south. Localism has become quite a growth industry in English historical studies; the investigation of this or that shire is reckoned to be the best way to get at social realities and to demolish allegedly anachronistic ideas of "one nation". While I do not doubt the importance of the local scene, I have to say that I cannot agree with the conclusion which denies the existence of a national stage. There is plenty of evidence that even people of lowly status wished to hear the national news and to know what was going on in the greater world beyond the bounds of the realm, especially if such events seemed to threaten the whole kingdom. Troubles on the Scottish border made the news in Norfolk, and rumours of French or Spanish fleets approaching the Solent stirred apprehensions in Yorkshire. As regards those Cornishmen of 1497, it has always seemed to me a strange expression of local separatism that manifests itself in a warlike march across all southern England, to the outskirts of London. In fact, recent work shows that the rising was organized by a remnant of the Yorkist faction seeking to reconquer the crown: it was far more than just an outburst of Cornish-ness. Similarly, the Pilgrimage of Grace really originated in a policy devised in London, by a defeated court faction, though it exploited local hostilities to the centre.3 The error lies in supposing that localism positively excluded the larger sense of nationhood. People were quite capable of thinking of themselves as members of the English nation who also had particular local allegiances and concerns. Nevertheless, I agree that those local allegiances and 3
For the new explanation of the Cornish rebellion see Ian Arthurson, "1497 and the Western Rebellion" (unpublished thesis, Keele, 1981); for the northern rising see G. R. Elton, "Politics and the Pilgrimage of Grace" in Studies in Tudor and Stuart Politics and Government, III (Cambridge, 1983), 183 ff.
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concerns could at times be strong enough to override the attractions of the centre and thus disrupt the outward appearance of one nation conscious of its single nationhood. National consciousness required embodiment in working institutions in order to acquire enduring reality. Two such institutions in fact existed and did the necessary work: the Crown and the Parliament. The house of Tudor fulfilled the monarchic function very successfully, both in outward show and in inner reality. Henry VIII is still the one king of England whom just about every inhabitant of the kingdom would recognize without difficulty, and Elizabeth remains Gloriana to this day. More important, perhaps, was the deliberate decision made by Henry VII and followed by his descendants to be king of all his people and not the leader of a faction among them. The Yorkist recovery of royal authority had been much weakened by the failure of both Edward IV and Richard III to shed their dependence on that faction of the ruling order that had enabled them to win the crown. Edward IV by his marriage split the Yorkist faction and set up Richard's usurpation; Richard III brought his northern supporters south and favoured them there so extravagantly that he created a counterfaction for Henry Tudor. Thus Henry started as a faction leader, too, but from the day he triumphed at the battle of Bosworth he set himself to widen his support and reabsorb all factional interests in a single allegiance to the Crown. He was to be ruler, and father, of all Englishmen - often a stern father but never the servant of some part of them whom he would advance at the expense of others. For the rest of the century, factions often provided the structure of politics, but they did so as the monarchs' instruments and not as their captors. That the monarchy should provide a focus of national sentiment and a way of overcoming the splintering effects of local or personal allegiances causes no surprise: the Tudor kings simply resumed the role which kingship had worked out for itself from Alfred to Edward III. And at first sight Parliament also fits the part well enough. After all, Parliament supposedly represented the coming together of all parts of the realm, on special and specially important occasions: this had been its function from the first beginnings of the institution. As Tudors writers never tired repeating, in the Parliament everybody was present in his own person or by proxy (deputy), a fact upon which rested the claims to obedience vested in its edicts (statutes). What Parliament did had every man's consent, or so the constitutional convention went. Indeed, the 16th century gave signs of recognizing this "uniting" function with exceptional clarity as hitherto unrepresented parts of the realm received the right to elect members to the House of Commons. This right was extended to Calais in 1536, to Wales in the same year with representatives first appearing in 1542, and to the old palatinate of Chester in 1542 whose first members turned up in 1545. Even the town of Tournai, in France, temporarily possessed by England early in Henry VIII's reign, sent representatives in 1513, so as to underline the principle that lands of the English Crown should all come to the Parliaments called by the kings of England. In the end only the episcopal franchise of Durham remained outside the system (until 1833), not, I think, for any very positive or meaningful reason but only because under the old order no principle ever existed without some exception to call it in question among tidy-minded historians. There just arose no occasion for summoning Durham to a Parliament (its bishop, of course, sat in the House of Lords) - whereas members were granted to Calais during a gen-
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eral overhaul of its government and organization, to Wales in the course of turning the principality into a part of the normal shire structure, and to Cheshire because some influential people there did not want to be left out. Ireland, of course, had its own Parliament, a fact which neatly symbolized its separateness - a lordship under the English king but no part of the Crown of England, and from 1541 a second kingdom vested in the king of England. It seems likely that Thomas Cromwell entertained hopes of abolishing the Dublin Parliament and incorporating the second island in the one unitary state which was his constitutional concept, but like most Englishmen throughout history he, too, failed to make a success of his Irish policy. Thus the Parliament at Westminster certainly signified the unity of the realm and nation of England, but it needs to be shown that the sign and symbol actually worked in overcoming localism and sectionalism, so as to give substance to a national selfconsciousness. It must be said that hitherto dominant views of the Parliament in the 16th and 17th centuries do not really lend support to such an interpretation. After all, it has been customary to regard Parliament, and especially the House of Commons, as the opponent of monarchy (that symbol of the nation), as the counterweight to the king's rule, the embodiment of all sorts of divisions within the people. Some, content to accept the king as the embodiment of nationhood, have read Parliament as representing purely sectional interests detrimental to a sense of nationhood. Other historians have emphasized the fact that elections reflected local power and the battles of local factions; people, we learn, came to Parliament to serve specifically sectional interests. Whether the members of the Commons regarded themselves as the champions of the localities, or as the guardians of alleged liberties against royal encroachment, they would in either case have taken away from a common feeling of that English identity that looked to the monarchy as its symbol. Thus, while kings called Parliaments in order to bring the whole nation together in one place, the outcome seemed to show that instead they thereby encouraged entrenched feelings of local identity and sectional selfinterest. Did the Parliament in fact offer an inducement to men from Devon and from Yorkshire to think of themselves as all one people? I must here ask leave to interpose a brief summary of the present state of parliamentary studies. This is necessary because widely familiar and seemingly well founded views have quite recently been just about totally overthrown by a new look at what happened - and indeed a first proper look at the sources. The interpretation of such scholars of the last generation as Sir John Neale and Wallace Notestein - an interpretation which in essentials continued a tradition of historical perversions first put forward by the victorious parties of the 17th century - have quite amazingly collapsed before the more scholarly and dispassionate investigations of the last ten or fifteen years. This may sound like no more than promotion of self at the expense of scholars no longer with us, but in fact it has come to be accepted as the replacement of legend by something much nearer the truth. The news has not yet spread widely outside the Anglo-Saxon community (and encounters resistance in that hotbed of reactionary prejudice, the United States), for which reason it needs to be announced on every possible occasion! It also, however, bears on the theme of this paper.4 4
A comparison of the section on Parliament in the first (I960) and second (1982) editions of G. R. Elton, The Tudor Constitution will best show the transformation in understanding
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The old view regarded king and Parliament as separate and commonly counterpoised aspects of the constitutional framework as well as the political scene: we remember Otto Hintze's famous definition of the Ständestaat in which ruler and assembly balance each other, a definition quite disastrously misleading at least so far as England is concerned. The old view neglected the House of Lords which it regarded as a mere tool in the monarch's hands, and it concentrated attention on the alleged rise to preeminence of the House of Commons as the political instrument of opposition to the Crown. All this, of course, was supposed to explain the events from 1640 onwards when two sets of people somewhat misleadingly termed king and Parliament came to clash in a civil war — an explanation which has turned out to be so inadequate that some of us wonder whether there really was a civil war since its famous causes have all disappeared. That old view was so much taken for granted - it seemed so obviously right - that its foundations were never tested or even argued: one simply knew that Parliament (that is, the Commons) mattered and functioned correctly when it came into conflict with the Crown over issues of principle. Those conflicts had to arise from basic differences concerning the constitution and be fuelled by religious division. Such comfortably ancient views have had a hard time when it began to be seen that legitimate debate did not equal conflict, and (worse) that apparent occasions of battles between king and Commons really reflected rival lines of policy and interest pursued inside the king's government. As soon as people began to question the unconscious assumptions underlying the old convictions and to give proper attention to evidence that had been either ignored or manifestly tailored to a purpose, that whole structure vanished like the shadow it was. Let me summarize the main results that have led to the demolition of this old view and to such drastic rethinking. (1) From at least the 1530s the king was regarded as a member (the head) of the Parliament which structurally included him. He should not be seen standing outside and over against it: if there was conflict or even disagreement, it took place within one institution, one arena of political debate, and not between separate elements of the constitution. (2) It follows that Parliament was in fact a part of the king's government. This should always have been obvious since only a royal summons could bring Parliament into existence, and only the mistaken concentration on expressions of protest ever obscured a fact which remains central to the English Parliament from its early days to the present: like other courts and departments of the state's machinery, it is in the first place an instrument of the Crown used in the government of the realm. (3) The House of Lords mattered greatly. Not only did it contain the recognized social superiors of the members who sat in the Lower House but it played a far more weighty political role. Much of the work of the institution was done there, and the Lords generally led even in all those advances of procedure which had been misinterpreted as the means by which the Commons supposedly acquired independence and power. that has happened to this topic. The second edition also lists the relevant writings that have so far appeared; but see especially G. R. Elton, "Parliament in the Sixteenth Century: Functions and Fortunes", in Studies, III, 156 ff.
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(4) Leadership in the House of Commons belonged to what one may call the official element - Speaker, privy councillors, and other members whom we have learned to call the men of business. Far too much importance had been assigned to occasional protesters like Peter Wentworth whom the House ignored or silenced. Looked at more closely, all those so-called oppositions and their arguments turned into legitimate debate over means rather than ends; supposed leaders of opposition turned into privy councillors continuing the disagreements of the Council Board, or into men anxious to impress their usefulness on the government, that is to say into careerists who quite often achieved their ambitions in this way. The Elizabethan classic case is that of Thomas Norton whom Neale regarded as the champion of a puritan opposition but who in fact, as he himself once stated, worked throughout in the interests of queen and Council to promote official policies. (5) The primary concern of Parliament - the reason for which it was called and the work demanded of it by monarch and nation alike - was not political but legislative: it authorized taxation and it made laws. This function it could exercise only if all disputes ended in sufficient harmony to secure the consent of all three partners, and the operations of Parliament were therefore governed not by confrontation but by managerial devices designed to produce such consent. Differences of opinion, which of course existed, represented not conflict but the hammering out of agreement. On this occasion I obviously cannot work out these points and all their implications, but in any case, surely, on reflection they cease to be especially surprising. Why should anyone either summon or attend a Parliament unless holding it would prove useful? And usefulness implied sufficient agreement to secure productive results. Trouble-makers, so far as they existed, got their usual reward: sighs of impatience at all that wasting of time, or, if they persisted, verbal slaps which freed the road to getting on with business. Parliament was the occasion when people brought problems and needs (technically called grievances, a term which has caused much misunderstanding) from the localities to the centre and tried to get them solved and satisfied. If the issues were general enough to have a political implication, the Parliament would find itself discussing politics (as for instance the problem of Mary Stuart in 1572, or the Union of England and Scotland in 1606), and such discussion would be useful to the government who, generally speaking, raised them in the first place. Such discussions fulfilled a purpose similar to the granting of taxes in Parliament: they informed the nation of the problems confronting government, and they solicited its agreement in what was being done. Insofar as Parliament acted as a political institution it did so because from the Crown's point of view it was politically more sensible, indeed more successful, to proceed by debate and managerial tactics than by order and edict. Manifestly, therefore, this kind of Parliament - involving all the governing sort in the business of ruling - fulfilled the role of a national instrument overcoming particularism, and it fulfilled it very well. However, the chief function of this institution touched the making of laws. That is what people wanted from it, whether we are looking at the Privy Council anxious to obtain an extension of the treason law, at leatherworkers anxious to protect their interests against shoemakers, or at the town of Ipswich anxious to take powers to pave its streets. The range of legislative concerns was enormous; historians have done harm by their inclination to set up hierarchies of importance in the laws
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passed. Acts of great national significance often took up markedly less parliamentary time than arguments over an enclosure bill or over a bill transferring the seat of the local assizes from one town in the shire to another; and from the point of view of the people involved in Parliament, more particularly those charged with getting business forward, the length of time taken signified more than a possible historical impact in a measure. The number of proposals seeking promotion and passage was large. In the first half of Elizabeth's reign parliamentary sessions averaged about ten weeks in length. Each session saw something like 110 bills put into one House or the other of which an average of about 35 succeeded in passing. Failure to do so could arise from many causes, but lack of time stood high among them. However diligently the hard-core of members who troubled to attend actually worked, the queen's preference for short sessions killed more bills than did disputes over them, high-minded or self-interested. Still, it was a respectable harvest, of a very mixed sort. Here it is important to realize that acts of Parliament were of two kinds - either public or private. Public acts were those printed at the end of a session; private acts remained unprinted. The two kinds differed in other, highly technical, ways: thus private acts could not be alleged in a law-suit without the production of a copy bought from the clerk of the House of Lords and certified by him, and private bills paid fees to the officers of both Houses during passage which were not exacted on public bills. Private bills and acts were thus a significant source of income to the clerical staff of Parliament. But the two kinds of acts in no way differed in authority. Both were made by the supreme legislature of the realm, received the assent of Commons, Lords and king, and could not be altered or repealed except by another act of Parliament. Both were thus equally the work of Parliament in the fullest sense of that phrase. But on this occasion private acts deserve special attention. They are, it seems, a peculiarity of the English Parliament, being unknown, for instance, even in the Parliaments of Ireland and Scotland with their lawmaking powers. They served the purposes of a locality or an individual: in 1607 the Speaker laid it down that for a bill to be private it must not affect more than three counties. Legislation by private act enabled a guild to govern itself, protected monopolistic interest in trade or manufacture, empowered a municipality or a county to levy money needed for such local purposes as the building of bridges, the repair of houses, the setting up of schools, or the paving of streets. Private acts also settled problems in the affairs of individuals: they naturalized children born to English parents living abroad, they repealed attainders that affected the rights of persons descended from an executed traitor, they confirmed deals in property, they secured the jointures of wives and widows, they protected inventions and they clarified last wills and testaments. Legislation by private bill and act decanted the affairs of the localities into one central reservoir. Thus while taxation and public legislation generally speaking involved the men coming up from the country in the affairs of the nation, private matters of very particular concern similarly travelled up to London, there to be scrutinized and legitimated by a national institution - incidentally an institution which, with the judges in the Upper House and many lawyers in the Lower, contained large numbers of experts in the kind of problems raised. By making laws for the whole realm that demanded obedience from the whole realm, Parliament testified to the existence of
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a single nation, membership of which overrode sectional or local attachments. By making laws for sectional or local interests, Parliament directed these potentially separatist and disruptive concerns towards an instrument of government of which all the members of the nation were deemed to be part. And so that national selfconsciousness of 16th-century Englishmen, loudly enough voiced in speech and writing, found practical entrenchment not only in the monarch and his glory but also in the Parliament and the laws it made for all.
Nationalismus im Vielvölkerreich Rußland? Andreas Kappeler
Die Sowjetunion wird heute wohl weniger durch den Marxismus-Leninismus als durch einen Nationalismus integriert, einen Nationalismus, der die unter postnationalen, internationalistischen Losungen angetretenen Bol'seviki in den dreißiger Jahren eingeholt hat. Der offizielle Sowjetpatriotismus bezieht sich auf den Staat und die herrschende übernationale Ideologie, in der politischen und gesellschaftlichen Praxis aber vermischt er sich mit einem russischen Nationalismus, der in W i derspruch steht zum marxistisch-leninistischen Internationalismus und zur multinationalen Zusammensetzung des Sowjetreiches. Das Wechselverhältnis zwischen russischem Nationalismus und Vielvölkerreich spielt auch in der Geschichte Rußlands eine wenig beleuchtete Rolle; ich komme später darauf zurück. Ein zentrales Element des sowjetrussischen Nationalismus ist ein Geschichtsbewußtsein, das in Schule und Öffentlichkeit, unter anderem mit Hilfe unzähliger J u biläumsfeiern, wachgehalten wird und das in hohem Maß Legitimationsfunktionen hat. 1 Die Geschichte Rußlands erscheint als eine Kette nationaler Höhepunkte, erfolgreich bestandener Verteidigungskriege, aber auch territorialer Expansion und glänzender staatlicher Macht. Sie ist im populären Geschichtsbild personifiziert in einer nationalen Heldengalerie von Vladimir dem Heiligen über Aleksandr Nevskij, Dmitrij Donskoj, Ivan Groznyj, Minin und Pozarskij, Peter den Großen und Kutuzov bis zu den Helden und Heldinnen des Bürgerkrieges und des „Großen Vaterländischen Krieges". Dieses Geschichtsbild stimmt in wesentlichen Punkten überein nicht nur mit dem der national-russischen Historiographie des 19.Jahrhunderts, sondern schon mit dem historischen Denken des Moskauer Reiches, wie es in offiziellen Geschichtswerken des lö.Jahrhunderts zum Ausdruck kommt. Ein weiterer bis ins lö.Jahrhundert zurückreichender Kontinuitätsstrang genießt seit längerer Zeit im Westen große Popularität: Die Auffassung von einem ewigen russischen nationalen Messianismus, beginnend mit der Lehre von Moskau, dem dritten und letzten Rom, und endend mit der Doktrin von Moskau als dem Zentrum der Dritten Internationale, des Weltkommunismus, der letzten gesellschaftlichen Formation in der Geschichte der Menschheit. Ergibt sich aus den angesprochenen Traditionen des Geschichtsbildes und des Messianismus der direkte Schluß einer jahrhundertelangen Kontinuität des russischen Nationalismus? Ist damit die Frage nach einem vormodernen russischen Nationalismus bereits positiv beantwortet? Die Erfahrungen des Historikers mit nationalen Mythen, mit anachronistischen Rückprojektionen in die Vergangenheit, mit pauschalen Stereotypen mahnen zur Vorsicht. Vor zu schnellen Schlüssen ' Vgl. Erwin Oberländer, Sowjetpatriotismus und Geschichte. Dokumentation. Köln 1967.
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sollte auch das weitgehende Fehlen solider Forschungsarbeiten zur Frage eines vormodernen russischen „Nationalismus" - wie übrigens auch zum russischen Nationalismus des 19. und 20.Jahrhunderts - warnen. Die sowjetrussischen Historiker, eingeklemmt zwischen den Axiomen des Klassenkampfes, der Völkerfreundschaft und des russischen Nationalismus, haben bisher zu unserem Problem keine übergreifenden, weiterführenden Analysen geliefert. Eine der wenigen Spezialstudien, mit dem Titel „Das Nationalbewußtsein der alten Rus'", ist nicht zufällig 1945, auf dem Höhepunkt der nationalistischen Welle, erschienen und als Sammlung von Belegen bis heute nützlich, erfüllt aber in der Interpretation die Aufgabe nationaler Legitimation und Integration. 2 Noch heute ist das national-russische Geschichtsbild in der UdSSR tief verwurzelt und harrt der Entmythologisierung. Die westliche Forschung hat darauf zwar schon wiederholt hingewiesen, doch steht sie selbst unter dem Einfluß der nationalen russischen Historiographie. Ganz im Gegensatz zu Ostmitteleuropa ist Rußland bisher auch nicht in die rege internationale Diskussion über einen vormodernen Nationalismus einbezogen worden. 3 Immerhin existieren einige Einzelstudien zur Formierung eines russischen Nationalbewußtseins, neben dem genannten russischen Werk vor allem die gedankenreichen Arbeiten der Amerikaner Cherniavsky, Miller und Rogger, auf die ich für das folgende wiederholt zurückgreifen werde.4 Dennoch ist die Forschungssituation unbefriedigend. Es steht kein Gerüst gesicherter Ergebnisse bereit, auf dem weiterführende oder gar abschließende Konstruktionen aufgebaut werden könnten. Ich muß mich deshalb auf einige fragmentarische, zum Teil auch hypothetische Bemerkungen beschränken. Ich werde an die Frage eines vormodernen russischen „Nationalismus" in zwei Schritten herangehen: Zunächst werde ich versuchen, einen summarischen Abriß der Formierung eines russischen Nationalbewußtseins zu geben. Im zweiten Schritt möchte ich über die geistige Ebene hinaus- und der Frage nachgehen, inwiefern ein russischer „Nationalismus" in der politischen und gesellschaftlichen Praxis der Vormoderne eine Rolle spielte. Dazu greife ich den Teilbereich der Nationalitätenfrage heraus, die im 19. und 20.Jahrhundert einen der Brennpunkte des russischen Nationalismus darstellen sollte. Ich frage also nach dem Verhältnis der Russen zu den Nichtrussen im vormodernen zaristischen Vielvölkerreich bis zum 2 3
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D. S. Lichacev, Nacional'noe samosoznanie Drevnej Rusi. Ocerki iz oblasti russkoj literatury XI-XVII w . Moskva-Leningrad 1945. Zu Ostmitteleuropa vgl. den Forschungsbericht von Rudolf Jaworski, Zur Frage vormoderner Nationalismen in Ostmitteleuropa, in: Geschichte und Gesellschaft 5 (1979), S. 398-417, und außerdem: Jenö Szücs, Nation und Geschichte. Studien. Köln-Wien 1981 ( = Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 17); Benedykt Zientara, Nationale Strukturen des Mittelalters. Ein Versuch zur Kritik der Terminologie des Nationalbewußtseins unter besonderer Berücksichtigung osteuropäischer Länder, in: Saeculum 32 (1981), S.301-316 (kritisch zu Szücs und Jaworski); Frantisek Graus, Die Nationenbildung der Westslawen im Mittelalter. Sigmaringen 1980 (Nationes 3). Michael Cherniavsky, Russia, in: Orest Ranum (Hg.), National Consciousness, History, and Political Culture in Early-Modern Europe. Baltimore 1975, S. 118-143; ders., Tsar and People. Studies in Russian Myths. New Haven 1961; David B. Miller, The Velikie Minei Chetii and the Stepennaja Kniga of Metropolitan Makarii and the Origins of Russian National Consciousness, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 26 (1979), S. 263-382; Hans Rogger, National Consciousness in Eighteenth-Century Russia. Cambridge/Mass. I960.
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Ende des 18.Jahrhunderts. Das vertrackte Problem der Begriffe diskutiere ich hier nicht. Ich verwende im folgenden die Termini Nation, Nationalbewußtsein, national für die Vormoderne zurückhaltend, den Begriff Nationalismus gar nicht. Die Begründung für diesen restriktiven Gebrauch der Termini sollte sich aus den folgenden Ausführungen ergeben. Die eng mit der Entstehung eines Nationalbewußtseins verknüpfte Frage der Bildung einer russischen Nation kann ich hier nur streifen; sie ist ebenfalls kaum untersucht. 5 Die Anfänge der russischen Nationsbildung fallen zusammen mit dem Beginn der überlieferten Geschichte der Ostslaven, und der langwierige, komplizierte, keineswegs geradlinige Prozeß wurde wohl erst im 20.Jahrhundert abgeschlossen, befindet sich aber noch heute im Fluß, worauf die aktuelle Formel von der „Entstehung einer neuen historischen Gemeinschaft, des Sowjetvolkes", hinweist.6 Im Vergleich zu manchen anderen europäischen Völkern waren die objektiven Bedingungen für die Formierung einer russischen Nation günstig: Zu nennen wären die frühe Staatlichkeit, zunächst in lockerer Form in der Kiever Rus' des 11. und 12.Jahrhunderts, seit der Mitte des 15.Jahrhunderts stabilisiert in der Moskauer Dynastie, und die Kontinuität ihrer Herrschaft und des autokratischen Moskauer Herrschaftssystems bis ins 20.Jahrhundert; die Existenz eines Kristallisationskernes, des politisch, wirtschaftlich und kulturell dominierenden Zentrums Moskau; die religiöse Exklusivität des russischen Herrschers und des russischen Volkes als seit dem Konzil von Ferrara/Florenz und dem Fall Konstantinopels einzig übrig gebliebene Bewahrer des rechten Glaubens; eine relativ große demographische, sprachliche und kulturelle Geschlossenheit. Unter der Decke der Kontinuität, Stabilität und Geschlossenheit einer russischen Nation, wie sie von der nationalen Historiographie über die gesamte russische Geschichte gebreitet worden ist, verbergen sich aber auch Diskontinuitäten und destabilisierende Faktoren: Vor allem die tiefe Kluft zwischen dem Kiever und dem Moskauer Reich, sichtbar in der demographischen und territorialen Verlagerung, der vorübergehenden politischen Desintegration, im Bruch des Mongolensturms; die damit verbundene Aufspaltung der Ostslaven in drei ethnische Gruppen, von denen mindestens die Ukrainer den großrussischen Anspruch auf das Erbe der Kiever Rus' vehement und meines Erachtens über weite Strecken zurecht in Frage stellen - ich beschränke mich im folgenden auf die großrussische Nation; die Brüche der „Wirren" (Smuta) zu Beginn und der Kirchenspaltung, des Raskol, in der zweiten Hälfte des 17.Jahrhunderts, die Brüche der Verwestlichung von Staat und Elite im 18.Jahrhundert, der Industrialisierung seit der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts, der Leninschen und Stalinschen Revolutionen. Die Geschlossenheit der russischen Nation wird in Frage gestellt durch den polyethnischen Charakter, den die russischen Reiche seit dem Mittelalter hatten - russischer Staat und russisches Volk deckten sich nie, auch wenn die Ostslawen immer die 5
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Vgl. Voprosy formirovanija russkoj narodnosti i nacii. Sbornik statej. Moskva-Leningrad 1958; S. S. Dmitriev, Obrazovanie russkoj nacii, in: Voprosy istorii 1955, H.7, S.42-60; Günther Stökl, Die Entstehung der russischen Nation, in: Österreichische Osthefte 8 (1966), S.261-276, wieder in: ders., Der russische Staat in Mittelalter und früher Neuzeit. Ausgewählte Aufsätze. Wiesbaden 1981, S. 58-73. Vgl. z.B. Sovetskij narod - novaja istoriceskaja obäinost' ljudej. Stanovlenie i razvitie. Moskva 1975.
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Bevölkerungsmehrheit stellten - , weiter durch den tiefen Graben zwischen der Elite und den Grundschichten, der sich seit dem 16.Jahrhundert und vor allem seit dem 18.Jahrhundert immer weiter öffnete, und durch die damit einhergehende Auseinanderentwicklung von Hoch- und Volkskultur.
I.
Nun also der Versuch eines knappen Überblicks über die Formierung eines russischen Nationalbewußtseins.7 Schon in den spärlichen Quellen der Kiever Zeit äußert sich ein kollektives Bewußtsein, das schon als frühes Nationalbewußtsein der Rus' gedeutet worden ist. Aus den sporadischen Zeugnissen der Quellen tritt das Bewußtsein einer gemeinsamen Herkunft und der Zusammengehörigkeit hervor, faßbar in zwei Komponenten, der Idee des Rus'-Landes (ruskaja zemlja), die nicht nur territoriale, sondern auch ethnische und politische Faktoren umfaßte, und dem Stolz auf die Erleuchtung durch das Christentum, also einem religiösen Element. 8 Der Mongolensturm und die gleichzeitige Bedrohung von Westen her führten zu einer gewissen geistigen Abkapselung der nordöstlichen Rus', es entstand ein Isolationismus, eine Abwehrhaltung gegenüber den ungläubigen Tataren im Osten und Lateinern im Westen. Diese stark religiös bestimmte Xenophobie erhielt zusätzliche Nahrung, als Moskau - wie erwähnt - in der Mitte des 15.Jahrhunderts zum einzigen Hort der Orthodoxie wurde, nun von lauter irrgläubigen Nachbarn umgeben war. Vom Beginn des 15.Jahrhunderts an läßt sich die allmähliche Verdichtung eines kollektiven Bewußtseins um das neue Zentrum Moskau und seinen Herrscher feststellen. Es handelte sich aber noch nicht um einen kontinuierlichen geradlinigen Verdichtungsprozeß, sondern eher um eine wellenartige Entwicklung. Ein Moskauer Nationalbewußsein kristallisierte sich als Reaktion auf bestimmte historische Konstellationen heraus und trat dann wieder in den Hintergrund. So entstand im Anschluß an den ersten Moskauer Sieg über die Tataren auf dem Kulikovo Pole (1380) ein Kreis von panegyrischen Werken, die an die traditionelle Kiever Vorstellung vom christlichen Land der Rus' anknüpften und sie neu mit dem Moskauer Herrscher (hier Dmitrij Donskoj) und seiner Dynastie koppelten. 9 7
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Zum folgenden die Werke von Cherniavsky (zit. Anm.4), Lichacev (Anm. 2) und L. V. Cerepnin, Istoriceskie uslovija formirovanija russkoj narodnosti do konca XV veka, in: Voprosy (wie Anm. 5), S. 7 - 1 0 5 . Vgl. Werner Philipp, Ansätze zum geschichtlichen und politischen Denken im Kiever Rußland. Breslau 1940 ( = Jahrbücher für Geschichte Osteuropas Beiheft 3), wieder in: ders., Ausgewählte Schriften. Berlin 1983 ( = Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 33), S. 1 5 2 - 2 2 6 ; Charles J. Halperin, The Concept of the Russian Land from the Ninth to the Fourteenth Centuries, in: Russian History 2 (1975), S . 2 9 - 3 8 . Dazu: I. B. Grekov, Vostocnaja Evropa i upadok Zolotoj ordy (na rubeze X I V - X V w.). Moskva 1975, S . 3 1 1 - 4 8 2 ; Charles Jerome Halperin, The Russian Land and the Russian Tsar: The Emergence of Muscovite Ideology, 1 3 8 0 - 1 4 0 8 , in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 23 (1976), S . 7 - 1 0 3 ; Günther Stökl, Imperium und imperiale Ideologie. Erfahrungen am Beispiel des vorpetrinischen Rußland, in: Helmut Berding u.a. (Hg.), Vom Staat des Ancien Régime zum modernen Parteienstaat. Festschrift für Theodor Schieder zu seinem 70.Geburtstag. München-Wien 1978, S . 2 7 - 3 9 , wieder in: ders., Der russische Staat (wie Anm. 5), S. 168-180.
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Die zweite, wichtigere Etappe des Verdichtungsprozesses begann im letzten Drittel des 15.Jahrhunderts und erreichte einen Höhepunkt im zweiten Drittel des 16.Jahrhunderts, als das Moskauer Großfürstentum zum einzigen orthodoxen Reich geworden war, sich von der tatarischen Herrschaft gelöst hatte und durch das „Sammeln des russischen Landes" und das mit der Eroberung von Kazan' im Jahre 1552 erfolgreich begonnene „Sammeln der Länder der Goldenen Horde" zu einem mächtigen Zartum herangewachsen war. Im kollektiven Bewußtsein des 16.Jahrhunderts - soweit es in den einseitig auf Staat und Kirche bezogenen Quellen überhaupt faßbar ist - wird die überhöhte Vorstellung vom Moskauer Herrscher und seinem Reich noch stärker akzentuiert als in den Lobpreisungen Dmitrij Donskojs. Das Konzept der zarischen Autokratie, die Auffassung vom gottgekrönten unbeschränkten Herrscher und seiner Dynastie, wird zum Eckpfeiler der Moskauer politischen Ideologie. 10 Im politisch orientierten Nationalbewußtsein, wie es sich in den offiziösen staatlich-kirchlichen Werken um die Mitte des lö.Jahrhunderts äußert - ich bezeichne es im folgenden als Reichspatriotismus - wird das Konzept der Autokratie verknüpft mit den schon seit der Kiever Zeit bekannten Komponenten der Orthodoxie und des russischen Landes, wobei dieses Leitbild nun zu einem Reichsgedanken erweitert wird. In der intoleranten Exklusivität des kirchlichen Denkens, etwa bei der für die Formulierung der neuen imperialen Ideologie zentralen Figur des Metropoliten Makarij, bleibt auch die traditionelle Xenophobie lebendig. Die Berufung auf das Kiever Erbe, die eigenständigen nordost-russischen Wurzeln und daneben auch der erste Schritt zur Nachfolge des Imperiums der Goldenen Horde, die Eroberung des Chanats von Kazan', waren nach der Meinung der meisten neueren Forscher von größerer Bedeutung für die Formierung des Moskauer Reichspatriotismus als die - lange überschätzte - Idee einer bewußten Translatio imperii von Konstantinopel nach Moskau. Zwar wurde die messianistisch-nationalreligiöse Formel von Moskau dem dritten und letzten Rom in der ersten Hälfte des 16.Jahrhunderts geprägt, doch blieb sie der kirchlichen Sphäre verhaftet und wurde - im Gegensatz etwa zu den phantastischen Abstammungslegenden, die das Geschlecht der Rjurikiden bis auf Kaiser Augustus zurückführten - nicht Bestandteil der offiziellen staatlichen Ideologie. 11 Der Reichspatriotismus, der im zweiten Drittel des 16.Jahrhunderts von einem Kreis um Makarij und den jungen Zaren Ivan IV. zu einem geschlossenen Gedankengebäude ausgearbeitet wurde, war das Produkt des Staates und der ihn un10
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Dazu: Werner Philipp, Die gedankliche Begründung der Moskauer Autokratie bei ihrer Entstehung (1458-1522), in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 15 (1970), S. 59-118; Miller (wie Anm.4); Frank Kämpfer, Die Eroberung von Kasan 1552 als Gegenstand der zeitgenössischen russischen Historiographie, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 14 (1969), S. 7-161 ; Jaroslaw Pelenski, Russia and Kazan. Conquest and Imperial Ideology (1438-1560s). The Hague-Paris 1974; Hans Hecker, Politisches Denken und Geschichtsschreibung im Moskauer Reich unter Ivan IV., in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas N. F. 30 (1982), S. 1-15. Hildegard Schaeder, Moskau das Dritte Rom. Studien zur Geschichte der politischen Theorien in der slawischen Welt. Darmstadt 19632; Manfred Hellmann, Moskau und Byzanz, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas N. F. 17 (1969), S.321-344; Frank Kämpfer, Beobachtungen zu den Sendschreiben Filofejs, ebda. 18 (1970), S. 1-46; Aleksandr Gol'dberg, Historische Wirklichkeit und Fälschung der Idee „Moskau - das Dritte Rom",
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terstützenden Kirche. In seiner politisch-territorial-religiösen Ausrichtung, mit den Komponenten Autokratie, Reichsidee und Orthodoxie, blieb er - wenn auch mit veränderten Akzenten und im 19.Jahrhundert auf die dem neuen Zeitalter angepaßte Formel „Orthodoxie, Autokratie, Volksverbundenheit" (narodnost') gebracht - bis zum Ende des Zarenreiches die herrschende staatliche Integrationsideologie. Er übte eine anhaltende Wirkung aus nicht nur auf die führenden sozialen Schichten, sondern auch auf die Grundschicht, faßbar etwa im Zarenglauben der russischen Bauern. Mit dem Reichspatriotismus konkurrierende nationale Ideen werden erst spät und zunächst nur unscharf sichtbar, was allerdings auch auf die beschränkten Artikulationsmöglichkeiten außerhalb des staatlich-kirchlichen Bereichs zurückzuführen sein könnte. Im nationalen russischen Geschichtsbild erscheint der Widerstand breiter Schichten des russischen Volkes gegen die ausländische Intervention im Rahmen der „Wirren" zu Beginn des 17.Jahrhunderts als gewaltiger nationaler Aufschwung. Zwar ist das entstehende russische Nationalbewußtsein wohl nicht unberührt geblieben von den bewegten Ereignissen und tiefen Erschütterungen der Smuta, von der Verteidigung des russischen Landes gegen „die gottlosen Lateiner, die Polen und Litauer". Ein qualitativer Sprung in Richtung Nationalismus läßt sich jedoch nicht belegen. In den zeitgenössischen Quellen zur Smuta treten keine neuen, säkularisierten, spezifisch nationalen Ideen zutage, sondern es dominieren neben der dynastisch-autokratischen Reichstradition und der ständig präsenten und abrufbaren Xenophobie ein christliches Weltbild, religiös-moralische Wertungen.12 Immerhin lassen sich nach der Smuta und zum Teil wohl als Reaktion auf die erneute Bedrohung Rußlands durch die ungläubigen Ausländer und auf den vorübergehenden Zusammenbruch der Zarenautokratie allmählich die Umrisse eines nicht von Staat und offizieller Kirche, sondern wohl von breiteren Schichten artikulierten Nationalgefühls erkennen.13 Auch diese neue Variante eines kollektiven Bewußtseins setzte sich - so Cherniavsky - aus den Elementen Zar, Reich und Orthodoxie zusammen, doch lag der Schwerpunkt nicht mehr auf den politischen Komponenten, der Autokratie, sondern auf dem religiösen Bewußtsein. Wenn sich breitere Schichten des russischen Volkes in der Vormoderne einer übergreifenden Gruppenidentität bewußt waren, dann vereinte sie der orthodoxe Glaube, verstärkt durch die traditionelle Abwehrhaltung gegenüber Andersgläubigen. Russentum und Orthodoxie wurden nicht selten identifiziert. Ein Ausdruck dieses religiösen Nationalgefühls war die Vorstellung vom „Heiligen Rußland", von einer nur mit dem Heiligen Land zu vergleichenden, einzigartigen Rolle Rußlands in der Heilsgeschichte. Der Mythos vom „Heiligen Rußland", der in der zweiten Hälfte des in: Jahrbuch zur Geschichte der sozialistischen Länder Europas 15 (1971), H.2, S. 1 2 3 - 1 4 4 ; A. L. Gol'dberg, Istoriko-politiceskie idei russkoj kniznosti X V - X V I I vekov, in: Istorija S S S R 1975, H.4, S . 6 0 - 7 7 ; Edgar Hösch, Zur Rezeption der Rom-Idee im Rußland des 16.Jahrhunderts, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 25 (1978), S. 136-145. 12
Dazu: W.-G. Contius, Profane Kausalität und göttliches Handeln in der Geschichte. Zum Geschichtsbild in den erzählenden Quellen der Smuta, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 18 (1973), S. 169-186; mit einer Betonung nationaler Elemente: Lichacev (wie Anm.2), S. 1 1 1 - 1 1 9 . Zitat aus: Novyj letopisec, in: Polnoe sobranie russkich letopisej 14. Sanktpeterburg 1910 (Reprint Moskva 1965), S. 108.
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Ich folge hier Cherniavsky, Tsar and People (wie Anm. 4), S. 111-116.
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16.Jahrhunderts erstmals belegt ist, fand nach der Smuta im Laufe des 17 .Jahrhunderts Widerhall in der russischen Volksliteratur. Autokratie und Kirche nahmen jedoch dieses religiöse Sendungsbewußtsein - wie schon seine Vorläuferin, die Idee von „Moskau, dem Dritten Rom" - nicht in den politisch orientierten Reichspatriotismus auf. Das lag wohl daran, daß das der Zarenmacht theoretisch übergeordnete Konzept des „Heiligen Rußland" als Antithese zur Autokratie dienen konnte. Ansatzmöglichkeiten für Widerstand gegen den Staat bot. 14 Dieser potentielle Gegensatz wurde in der zweiten Hälfte des 17.Jahrhunderts Wirklichkeit, als die Altgläubigen auf die als griechische Überfremdung perzipierte Kirchenreform mit einem Rückgriff auf russische Traditionen, auf die Ideen von „Moskau dem Dritten Rom" und vom „Heiligen Rußland", reagierten. Nicht zufällig sind es Äußerungen des Führers der Altgläubigen, Awakum, die bei aller Verwurzelung im religiösen Traditionalismus und in eschatologischen Erwartungen auch erste Anklänge an ein sprachlich-kulturell definiertes Nationalbewußtsein enthalten. „Du kannst viele Sprachen sprechen, doch was bringt das für einen Nutzen?" schreibt Awakum an den Zaren Aleksej, „seufze nach alter Sitte... und sprich in russischer Sprache: ,Herr, sei mir Sünder gnädig!4 Laß das Kyrieeleison, so sprechen die Griechen, spucke auf sie! Du bist doch Russe, Michajlovic, und kein Grieche. Sprich Deine Muttersprache (prirodnyj jazyk), erniedrige sie nicht, weder in der Kirche noch zuhause...". 15 Die Polemik Awakums richtet sich gegen die Überfremdung der kirchenslavischen Literatursprache und den Gebrauch von Fremdsprachen, wird aber gelegentlich, wenn auch nicht konsequent, zum Plädoyer für die russische Volkssprache. Die wiederholte Berufung auf die „russische", nicht auf die „slavische" Sprache gewinnt dadurch an Bedeutung, daß Awakums Schriften zu den ersten der russischen Literatur gehören, die volkssprachliche Sprach- und Stilelemente aufnahmen. 16 Neben der Sprache waren ausländische Einflüsse auf die Ikonenmalerei, einen wesentlichen Bestandteil des russischen Glaubens und der russischen Kultur, Gegenstand der Auseinandersetzungen zwischen Awakum und seinen Opponenten am Zarenhof. Awakum beschimpft seine Gegner und die offiziellen Ikonenmaler als „heidnische Franken" oder als „Schüler der Lateiner und Lutheraner". 17 Schließlich tritt in den Schriften Awakums auch
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Michael Cherniavsky, Holy Russia: A Study in the History of an Idea, in: American Historical Review 63 (1958), S.617-637, überarbeitet wieder in: ders., Tsar and People (wie Anm.4), S. 101-127; Alexandre Soloviev, Holy Russia. The History of a Religious-Social Idea. The Hague 1959; Schaeder (wie Anm. 11), S. 117-125. 2itie protopopa Awakuma, im samim napisannoe, i drugie socinenija. Moskva 1960, S. 159. Allgemein zu Awakum und zum Raskol vgl. Pierre Pascal, Awakum et les débuts du Raskol. Paris-La Haye 1963; Sergej Zen'kovskij, Russkoe staroobrjadcestvo. Duchovnye dvizenija semnadcatogo veka. München 1970; Michael Cherniavsky, The Old Believers and the New Religion, in: Slavic Review 25 (1966), S. 1-39. A. N. Robinson, BorTsa idej v russkoj literature XVII veka. Moskva 1974, hier S. 338-362. Robinson stellt am Beispiel der Schriften Simeons von Polock und Awakums die Auseinandersetzung der Ideen einer „höfisch-feudalen" und einer „national-demokratischen" geistigen Strömung dar. Wie zahlreiche Belege zeigen, entsprechen die beiden Typen weitgehend den beiden Ebenen des Nationalbewußtseins, dem autokratischen Reichspatriotismus, der fremden Einflüssen gegenüber offen ist, und dem xenophoben religiösen Nationalgefühl. Robinson (wie Anm. 16) S. 291-309, Zitate S. 292, 299.
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das russische Volk deutlich hervor. 18 Mit Sprache, Kultur und Volk sind in seinen Werken wesentliche Elemente eines kulturellen „Nationalismus" enthalten, allerdings nie als dominante Werte, sondern eingebettet in ein religiöses Weltbild. Das religiöse Nationalgefühl, das sich gegen eine vom Zaren, von Kirche und Staat ausgehende kulturelle Überfremdung richtete und damit auch die traditionelle Xenophobie aufnahm, trat neben oder unter den von Autokratie und Führungsschicht getragenen Reichspatriotismus. Es fand einige Jahrzehnte später Ausdruck im Widerstand breiter Volksschichten, darunter vieler Altgläubiger, gegen die von Peter dem Großen initiierte Verwestlichung, gegen ausländische Kleidung und Bartscheren, gegen den Fremdkörper Petersburg und schließlich - hier zeigt sich sein herrschaftsgefährdendes Potential - auch gegen den Zaren selbst. In Gerüchten, Volkserzählungen, Legenden und Volksliedern, die schon vielfach in den Akten des Preobrazenskij Prikaz, Peters politischer Polizei, vor allem in Aussagen von Geistlichen, Bauern und Strelitzen, überliefert sind, wird Peter nicht nur als Antichrist auf dem Thron bezeichnet, sondern ihm wird auch sein Russentum abgesprochen: „Was ist das für ein Christentum, für ein Herrscher! Er ist kein Herrscher, er ist ein Lette..., er ist der Antichrist... Alle werden zu Ausländern, alle tragen deutsche (ausländische) Kleider, haben Locken und rasieren sich die Bärte". „Wir haben jetzt keinen Herrscher. Dieser ist ein Deutscher (Ausländer) und glaubt den deutschen (ausländischen) Glauben". „In Moskau ist kein Herrscher, seit sieben Jahren ist er gefangen, auf dem Thron aber sitzt ein Deutscher (Ausländer)". „Der Herrscher ist nicht von russischer Herkunft, .. .er ist als Kind ausgetauscht worden bei einem Ausländer in der Ausländervorstadt (Nemeckaja Sloboda), die Zarin hatte nämlich ein Mädchen geboren". 1 9 Die Legenden vom - in seiner Kindheit oder auf seiner Auslandreise - gegen einen Ausländer ausgetauschten Zaren schließen den Herrscher aus der Gemeinschaft des „Heiligen Rußland" aus; ein ausländischer ungläubiger Herrscher ist kein Herrscher mehr. Das religiös-xenophobe Nationalgefühl, das sich gegen den „deutschen" Zaren, gegen die Ausländer, wenn auch nicht gegen die Zarenautokratie als solche, richtete, äußerte sich auch in direkter Verbindung mit sozialen Protestbewegungen des 18.Jahrhunderts, am deutlichsten im Astrachaner Aufstand von 1705/06, nur am Rande in den Volksaufständen unter der Führung Bulavins ( 1 7 0 7 - 0 9 ) und Pugacevs ( 1 7 7 3 - 7 5 ) . 2 0 18 19
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Robinson (wie Anm. 16), S. 221-226. K. V. Cistov, Russkie narodnye social'no-utopiceskie legendy 17-19 w . Moskva 1967, S. 9 1 - 1 1 2 ; N. B. Golikova, Politiceskie processy pri Petre I. Po materialam Preobrazenskogo Prikaza. Moskva 1957 (Zitate S. 168, 169, 126, 148); S. M. Solov'ev, Istorija Rossii s drevnejsich vremen. Kn.VIII (T. 15-16). Moskva 1962, S. 9 9 - 1 0 3 (zit. S. 102), 3 4 2 - 3 4 4 ; E. F. Smurlo, Petr Velikij v ocenke sovremennikov i potomstva, in: Zumal Ministerstva Narodnago Prosvescenija N. S. XXXV, p.2 (okt. 1911), S.315-340; XXXVI, p.2 (noj.1911), S. 1-37. Golikova (wie Anm. 19), S.221-297; dies., Astrachanskoe vosstanie 1705-1706 gg. Moskva 1975, S. 77-79, 105 f.; E. P. Pod-japol'skaja, Vosstanie Bulavina 1707-1709. Moskva 1962, S. 112-114; Dorothea Peters, Politische und gesellschaftliche Vorstellungen in der Aufstandsbewegung unter Pugacev (1773-1775). Berlin 1973 ( = Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 17), S. 151 f.; E. I. Indova, A. A. Preobrazenskij, Ju. A. Tichonov, Lozungi i trebovanija ucastnikov krest'janskich vojn v Rossii 1 7 - 1 8 w . , in: Krest'janskie vojny v Rossii 17-18 vekov: Problemy, poiski, reäenija. Moskva 1974, S. 239-269, Hier S.251f., 247.
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Auch Teile der Oberschicht protestierten im 18 Jahrhundert gegen die Verwestlichung Rußlands, konkret gegen die Präsenz zahlreicher Ausländer in Regierung, Militär und Bürokratie. Zu einem Symbol dieser Bewegung wurde das Schlagwort von der Bironovscina, der Mißwirtschaft Birons (Bührens), des kurländischen Günstlings der Kaiserin Anna (1730-40). Auch dieser nationale Protest war gegen den überfremdeten Staat gerichtet, war also potentiell systemgefährdend und wurde deshalb vom Staat bekämpft Doch verband sich dieser Protest einzelner Gruppen der Elite nicht mit dem Nationalgefühl breiterer Schichten des Volkes, griff nicht auf das „Heilige Rußland" zurück, verharrte auch nicht in der xenophoben isolationistischen Tradition, sondern weitete sich aus zu einer von westlichen Ideen beeinflußten säkularisierten geistigen Bewegung. Das von der neu entstehenden Bildungselite in der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts artikulierte russische Nationalbewußtsein, das von Hans Rogger eingehend untersucht worden ist, reagierte auf die Herausforderung des fortgeschrittenen Westens und auf die kulturelle Überfremdung Rußlands mit der kompensatorischen Suche nach der eigenen nationalen Identität in der russischen Sprache, der russischen Geschichte, dem russischen Volk und trug deutliche Kennzeichen der ersten, kulturell geprägten Phase des modernen Nationalismus. 21 So zeigten sich bis zum Ende des 18.Jahrhunderts drei Varianten eines russischen Nationalbewußtseins. Sie wurden von unterschiedlichen sozialen Gruppen artikuliert, der vorwiegend politisch ausgerichtete Reichspatriotismus vom Staat und der mit ihm eng verbundenen kirchlichen und weltlichen Führungsschicht; das religiös-xenophobe, potentiell antistaatliche Nationalgefühl von breiteren Schichten des Volkes, während in einem Segment der neuen verwestlichten Bildungselite ein säkularisiertes kulturell-sprachlich-historisch ausgerichtetes Nationalbewußtsein entstand. Die unterschiedlichen Ausprägungen eines Nationalbewußtseins spiegelten damit auch die sozio-politische Struktur Rußlands. Im 19.Jahrhundert blieben alle drei Varianten nebeneinander erhalten. Ihre Fusion zu einem politisch und sozial übergreifenden modernen Nationalismus fand nicht statt. Weder gelang es dem Staat, den traditionellen Reichspatriotismus zu einer nationalen Bindekraft für alle Schichten auszubauen, noch konnten die nationalen Entwürfe der Intelligenz dauerhafte Brücken zum Staat oder zum Volk errichten. 22 Die Frage eines russischen Nationalismus blieb eng verknüpft mit den politischen und sozialen Widersprüchen Rußlands. Der russische Nationalismus vermochte deshalb bis über das Ende des Zarenreiches hinaus nicht in dem Maß integrative Funktionen zu erfüllen wie der Nationalismus in anderen Staaten. Das ist erst im zweiten Drittel des 20.Jahrhunderts, unter Stalins Gewaltherrschaft und im „Großen Vaterländischen Krieg", gelungen.
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Dazu vgl. ausführlich das in Anm.4 zitierte Buch von Rogger. Vgl. auch L. V. Krestova, Otrazenie formirovanija russkoj nacii v russkoj literature i publicistike pervoj poloviny 18 v., in: Voprosy (wie Anm. 5), S . 2 5 3 - 2 9 6 . Vgl. Hans Rogger, Nationalism and the State. A Russian Dilemma, in: Comparative Studies in Society and History 4 (1961/62), S. 2 5 3 - 2 6 4 ; Dietrich Geyer, Funktionen des russischen Nationalismus 1 8 6 0 - 1 8 8 5 , in: Heinrich August Winkler (Hg.), Nationalismus. K ö nigstein/Ts. 1978, S. 173-186.
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II. Im zweiten Teil dieses Beitrages versuche ich, die Frage nach einem vormodernen russischen „Nationalismus" auf einen Aspekt der politischen und gesellschaftlichen Praxis auszuweiten: Wie gestaltete sich das Verhältnis der Russen zu den Nichtrussen des zaristischen Vielvölkerreiches im 16. bis 18.Jahrhundert? Beispiele werde ich vor allem aus den Beziehungen der Russen zu den Völkern der Mittleren Wolga (Kazan'-Tataren, Tschuwaschen, Mordwinen, Mari und Udmurten) heranziehen, zum einen, weil sie sich über die ganze Zeitspanne verfolgen lassen, zum anderen, weil mir dieser Ausschnitt aus dem russischen Vielvölkerreich aus eigener Forschungsarbeit vertraut ist. 23 Schon der aus dem ersten Teil gezogene Schluß der unterschiedlichen sozialen Ebenen eines Nationalbewußtseins läßt vermuten, daß auch das Verhältnis der Russen zu den Nichtrussen des Reiches kein einheitliches war. Ich werde deshalb nacheinander das Verhältnis des Staates, des russischen Adels, der Geistlichkeit, der Stadtbevölkerung und der Bauern zu den Nichtrussen des Zarenreiches kurz betrachten. Die Prioritäten des Staates entsprachen den beiden Hauptfaktoren des Reichspatriotismus. Sie waren gerichtet auf die Erhaltung und Sicherung der zarischen Autokratie und des von ihr beherrschten Reiches, auf die Loyalität der russischen und nichtrussischen Untertanen gegenüber dem Staat. Von Bedeutung ist auch, daß der Staat infolge des Mangels an russischen Fachleuten bis weit ins 19. Jahrhundert auf die Unterstützung nichtrussischer Gruppen angewiesen war, so in der Verwaltung, in Militär und Diplomatie, für wirtschaftliche und kulturelle Verbindungen innerhalb des Reiches und zum Ausland sowie als politisches Gegengewicht zur russischen Elite. Der allgemeinen Zielsetzung entsprach eine politische Grundlinie der vorsichtigen Zurückhaltung, der pragmatischen Flexibilität gegenüber den Nichtrussen, der Kooperation mit nichtrussischen Eliten des Reiches. 24 Ein wichtiger Aspekt der Minderheitenpolitik war die Toleranz des orthodoxen Staates gegenüber fremden Glaubensbekenntnissen. Das dritte konstitutive Prinzip des Reichspatriotismus, die Orthodoxie, wurde in der Praxis den unmittelbaren politischen Interessen untergeordnet.25 Dafür nur ein Beispiel: Am Ende des 16. und im ganzen 17.Jahrhundert waren in der Region der Mittleren Wolga Zehntausende russischer orthodoxer Bauern von tatarischen muslimischen Gutsbesitzern abhängig - ein Zustand, der von der Regierung ausdrücklich sanktioniert wurde.26 Im Rahmen der Verwestlichung kam es im 18.Jahrhundert allerdings zu verschiedenen Schüben einer 23
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Andreas Kappeler, Rußlands erste Nationalitäten. Das Zarenreich und die Völker der Mittleren Wolga vom 16. bis 19.Jahrhundert. Köln-Wien 1982, auch zum folgenden. Andreas Kappeler, Historische Votaussetzungen des Nationalitätenproblems im russischen Vielvölkerreich, in: Geschichte und Gesellschaft 8 (1982), S. 1 5 9 - 1 8 3 . Vgl. auch Marc Raeff, Patterns of Russian Imperial Policy toward the Nationalities, in: Edward Allworth (Hg.), Soviet Nationality Problems. New York 1971, S. 22—42; S. Frederick Starr, Tsarist Government: The Imperial Dimension, in: Jeremy R. Azrael (Hg.), Soviet Nationality Policies and Practices. New York 1978, S.3-38. Vgl. Hans-Heinrich Nolte, Religiöse Toleranz in Rußland 1 6 0 0 - 1 7 2 5 . Göttingen 1969; ders., Verständnis und Bedeutung der religiösen Toleranz in Rußland 1 6 0 0 - 1 7 2 5 , in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas N. F. 17 (1969), S. 4 9 4 - 5 3 0 . Kappeler (wie Anm. 23), S. 165 f., 217 f. (mit Belegen).
Nationalismus im Vielvölkerreich Rußland? aggressiven Integrationspolitik, auch zu gewaltsamen Missionierungsaktionen. Dahinter standen der Wille des Staates zur Systematisierung, Unifizierung und Modernisierung des Reiches nach dem Modell des Westens, auch das Vorbild der westlichen Intoleranz, kaum aber spezifisch nationale Prioritäten im Sinne einer kulturellen Russifizierung. Trotz diesem vorübergehenden Linienwechsel, der nicht für das ganze 18.Jahrhundert und für alle Regionen des Reiches typisch ist, blieben die traditionellen politischen Prioritäten und flexibel-pragmatischen Methoden der Minderheitenpolitik bis ins 19.Jahrhundert vorherrschend. Alle nationalen Regungen und Bewegungen, die den Reichspatriotismus in Frage stellten, auch der im 19.Jahrhundert entstehende russische Nationalismus von Teilen der Gesellschaft, wurden dagegen als systemgefährdend abgelehnt und bekämpft. Der russische Adel war eng mit dem autokratischen Staat verbunden, seine Interessen entsprachen im ganzen den auf Machterhaltung gerichteten Prioritäten des Staates. Sein Verhältnis zu den Nichtrussen des Reiches war kaum von ethnischen Antagonismen geprägt. Im Gegenteil, der russische Adel war offen für anderssprachige und auch andersgläubige Eliten. Entscheidend für eine Aufnahme in den russischen Adel waren weder die ausländische Herkunft, die fremde Sprache und Kultur, noch die fremde Religion, sondern der soziale Status. So erhielten vornehme Tataren aus dem Geschlecht Tschingis-Chans, die in Moskauer Dienste traten, einen höheren politischen und sozialen Rang zugewiesen als die alteingesessenen Moskauer Bojaren. Von Protesten des russischen Adels gegen die Bevorzugung vornehmer Nichtrussen hören wir vor dem 18.Jahrhundert nichts. Die Mehrheit der fremden Aristokraten wurde zwar vom russischen Adel allmählich akkulturiert, vor allem wenn sie zur Orthodoxie übertraten, doch sorgte der nie abbrechende Zustrom neuer Nichtrussen dafür, daß die Oberschicht des Reiches, auch die innere Machtelite am Zarenhof, bis ins 19.Jahrhundert polyethnisch zusammengesetzt blieb.27 Infolge der Erschütterung der traditionalen sozialen und politischen Struktur durch die Petrinischen Reformen, der damit verbundenen Herausforderung durch den Westen und der zunehmenden Bedeutung von Nichtrussen im Machtzentrum kam es, wie erwähnt, im zweiten Viertel des 18.Jahrhunderts zu ersten Protesten russischer Adliger gegen die Ausländerherrschaft. Die anationalen Prioritäten des Adels herrschten jedoch bis ins 19.Jahrhundert vor. In der Kirche, der höheren Geistlichkeit, gleichsam der Intelligenz des vormodernen Rußland, war die traditionelle Xenophobie gegenüber Andersgläubigen seit dem Mittelalter besonders virulent. Wiederholt wurden im 16. bis 18.Jahrhundert Befürchtungen geäußert, das russische Volk könnte von den ungläubigen Nichtorthodoxen, seien es Katholiken, Lutheraner oder Muslime, angesteckt und verdorben werden. Zuweilen forderten Geisdiche den Staat auf, seine nichtchristlichen Untertanen einer - falls nötig auch gewaltsamen - Missionspolitik zu unterwerfen. 27
Die Frage der ethnischen Zusammensetzung des Adels des Russischen Reiches ist noch nie zusammenfassend untersucht worden. Vgl. Edward Keenan, Royal Russian Behavior, Style, and Self-Image, in: Edward Allworth (Hg.), Ethnic Russia in the USSR. The Dilemma of Dominance. New York 1980, S. 3-16; Erik Amburger, Geschichte der Behördenorganisation Rußlands von Peter dem Großen bis 1917. Leiden 1966, S. 502-519; Nikolaj Zagoskin, Ocerki organizacii i proischozdenija sluzilago soslovija v do-petrovskoj Rusi. Kazan' 1875 (unzuverlässig); A. P. Korelin, Dvorjanstvo v poreformennoj Rossii 1861-1904 gg. Sostav, cislennost', korporativnaja organizacija, Mosva 1979, S. 44-51.
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Der Staat band jedoch solche Initiativen in der Regel zurück. Die Kirche konnte also nicht einmal auf ihrem eigentlichen Wirkungsgebiet, der Mission, eine eigenständige Rolle spielen, sondern blieb dem Staat und dessen pragmatischer Politik untergeordnet.28 Höher zu veranschlagen ist, wie erwähnt, der geistige Einfluß der Geistlichkeit auf die Formierung der ersten zwei Varianten eines russischen Nationalbewußtseins. Ein vom Staat autonomes, korporativ gegliedertes, wirtschaftlich starkes Bürgertum, das wie in einigen westlichen Ländern zum Träger nationaler Bestrebungen hätte werden können, gab es in Rußland nicht. Dennoch fällt auf, daß russische Kaufleute immer wieder gegen die Privilegierung von Nichtrussen durch den Staat protestierten. So reichten die russischen Kaufleute von Kazan' eine Reihe von Klagen gegen die sie konkurrenzierenden Tataren der Stadt ein, die als lastenfreie Dienstleute privilegiert waren. Sie stießen jedoch mit ihren Bittschriften bei den Behörden bis in die zweite Hälfte des 18.Jahrhunderts auf Ablehnung.29 Noch häufiger und auch breiter abgestützt waren Petitionen der russischen Stadtbevölkerung gegen die übermächtige Konkurrenz ausländischer Kaufleute und deren Privilegierung durch den Staat. In dieser Frage kam die Regierung den russischen Kaufleuten seit dem 17.Jahrhundert entgegen, ohne daß aber die Dominanz der Ausländer im russischen Außenhandel beseitigt worden wäre.30 Immerhin scheint es, daß die schmale kommerzielle Mittelschicht Ansätze einer nationalen Argumentation, die auch an die traditionelle Xenophobie anknüpfte, entwickelt hat, mindestens wenn sie damit ihre wirtschaftlichen Interessen zu unterstützen suchte. Doch blieben Ziele und Verhaltensweisen der ökonomisch schwachen und politisch abhängigen Stadtbevölkerung reaktiv und traditionalistisch. An eine unter nationalen Vorzeichen stehende Emanzipation vom übermächtigen Staat war nicht zu denken. Daran sollte sich auch im 19.Jahrhundert nichts Wesentliches ändern. Das Verhältnis der Grundschicht der russischen Bauern zu den Nichtrussen des Reiches ist in den Quellen schwer zu fassen. Die ständigen Kontakte russischer Bauern mit Nichtrussen vor allem in den Kolonisationsgebieten verliefen durchaus nicht immer konfliktfrei. Von Auseinandersetzungen unter spezifisch ethnischen Vorzeichen hören wir aber kaum etwas. Dagegen finden sich Zeugnisse von friedlichen Kontakten, von gegenseitiger Akkulturation auch zwischen ethnischen Gruppen unterschiedlicher Kultur und Religion. Die großen russischen Volksaufstände des 17. und 18.Jahrhunderts dokumentierten die Dominanz sozialer über ethnische Kriterien. Russen und Nichtrussen der Peripherie erhoben sich oft gemeinsam gegen die Verwaltungsleute des Zentrums und gegen russische Gutsbesitzer
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Vgl. die in Anm. 25 zitierten Arbeiten von Nolte und Kappeler (wie Anm. 23), passim, z. B. S. 119. Kappeler (wie Anm. 23), S. 222 f., 257, 304 f. Dazu folgende neuere Arbeiten: Samuel H. Baron, Ivan the Terrible, Giles Fletcher, and the Muscovite Merchantry. A Reconsideration, in: The Slavonic and East European Review 56 (1978), S. 5 6 3 - 5 8 5 ; ders., The Muscovy Company, the Muscovite Merchants and the Problem of Reciprocity in Russian Foreign Trade, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 27 (1979), S. 1 3 3 - 1 5 5 ; Richard Hellie, The Stratification of Muscovite Society: The Townsmen, in: Russian History 5 (1978), S. 1 1 9 - 1 7 5 , hier S. 1 6 3 - 1 6 9 ; J Michael Hittle, The Service City. State and Townsmen in Russia 1 6 0 0 - 1 8 0 0 . Cambridge, Mass. 1979, hier S . 6 9 - 7 1 , 105-108.
Nationalismus im Vielvölkerreich Rußland? und Klöster. 31 Daß ethnisch-sprachliche Kategorien für Bauern in der Vormoderne keine große Rolle spielten, entspricht den Erfahrungen aus der Geschichte anderer Länder. Bemerkenswert ist jedoch, daß in der interethnischen Praxis der Grundschicht auch das Prinzip der Orthodoxie, Kern des religiösen Nationalgefühls des russischen Volkes, anderen Prioritäten untergeordnet wurde. Eine Möglichkeit, die vorläufigen Ergebnisse an der Situation am Ende des behandelten Zeitraums zu überprüfen, erlaubt das Material der Gesetzgebenden Kommission Katharinas II., die in den Jahren 1767 bis 1769 tagte. Diese konsultative Versammlung, zu der Vertreter der wichtigsten sozialen und ethnischen Gruppen des Reiches - mit Ausnahme der abhängigen herrschaftlichen Bauern - einberufen worden waren, ließ zwar keine freie Artikulation von Interessen zu, die Instruktionen und Debatten geben aber doch einen gewissen Einblick in die anstehenden Probleme. Dieses Material ist schon in zahlreichen Forschungsarbeiten ausgewertet worden, doch ist die Frage, inwiefern die Gesetzgebende Kommission zu einem Forum nationaler Auseinandersetzungen wurde, bisher noch nicht zusammenfassend untersucht worden.32 Das (von mir nur partiell durchgearbeitete) Material zeigt, daß interethnische Konfliktpunkte nicht im Vordergrund der Instruktionen und Diskussionen der Kommission von 1767/68 standen; dennoch lassen sich gewisse Ansätze nationaler Argumentation orten. So nahmen Vertreter des russischen Adels und russischer Städte die traditionellen Privilegien der Oberschichten der Randgebiete, vor allem der Ostseeprovinzen und der Ukraine, aufs Korn. So verlangte der Adelsdeputierte des Kreises Ljubim im Namen von über fünfzig Delegierten des Adels und der Städte Rußlands, daß „für alle Ihrer Kaiserlichen Majestät untertane Völker einheitliche Gesetze zu schaffen seien". Mehrere Delegierte nahmen Anstoß daran, daß die Bewohner eroberter Provinzen gegenüber den Eroberern, den Russen, privilegiert seien. Die Vertreter der deutschbaltischen und „kleinrussischen" (ukrainischen) Oberschicht verteidigten ihre alten, von allen Zaren bestätigten Rechte mit Vehemenz, zum Teil auch in gemeinsamen Erklärungen.33 Festzuhalten ist, daß
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Vgl. Andreas Kappeler, Die Rolle der Nichtrussen der Mittleren Wolga in den russischen Volksaufständen des 17.Jahrhunderts, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 27 (1980), S. 2 4 9 - 2 6 8 . Vgl. allgemein A. V. Florovskij, Sostav zakonodatel'noj kommissii 1 7 6 7 - 7 4 gg. Odessa 1915; Georg Sacke, Die Gesetzgebende Kommission Katharinas II. Ein Beitrag zur Geschichte des Absolutismus in Rußland. Berlin 1940 ( = Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, Beiheft 2); M. T. Beljavskij, Krest'janskij vopros v Rossii nakanune vosstanija E. I. Pugaceva (Formirovanie antikrepostniceskoj mysli). Moskva 1965; Isabel de Madariaga, Russia in the Age of Catherine the Great. New Haven-London 1981, S. 1 3 9 - 1 8 3 ; Kappeler (wie Anm. 23), S. 2 9 8 - 3 0 7 . Paul Dukes, Catherine the Great and the Russian Nobility. A Study Based on the Materials of the Legislative Commission of 1767. Cambridge 1967, v.a. S. 129f., 153-157, 2 1 3 - 2 1 5 ; Iv. Telicenko, Soslovnyja nuzdy i zelanija malorossijan v epochu Ekaterinskoj kommissii, in: Kievskaja Starina 30 (1890), S. 1 6 1 - 1 9 1 , 3 9 0 - 4 1 9 ; 31 (1890), S . 9 4 - 1 2 2 , 2 5 1 - 2 7 2 , 4 7 1 - 4 9 3 ; 32 (1891), S . 7 3 - 9 7 , 2 3 2 - 2 5 4 ; Zenon Eugene Kohut, The Abolition of Ukrainian Autonomy (1763-1786): A Case Study in the Integration of a Non-Russian Area into the Empire. Ph. D. Diss. Univ. of Pennsylvania 1975 (Ms.), S. 133-207. Alexander von Tobien, Die Livländer im ersten russischen Parlament (1767-1769), in: Mitteilungen aus der livländischen Geschichte 23. Riga 1 9 2 4 - 1 9 2 6 , S . 4 2 4 - 4 8 4 . Zitat aus: Sbornik Imperatorskago russkago istoriceskago obsiestva (SIRIO) 8, S. 330; vgl. auch S. 355 f., 338, 348f., 350f.
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sich die Vertreter des russischen Adels und der russischen Städte nicht etwa für eine Diskriminierung des nichtrussischen Adels im Westen einsetzten, sondern lediglich gegen dessen Privilegierung. Daß gerade in dieser Frage ein interethnischer Konflikt ausgetragen wurde, ist wohl auch darauf zurückzuführen, daß die geäußerten Forderungen den Unifizierungs- und Systematisierungsbestrebungen der Regierung Katharinas II. entsprachen, daß also der Staat und die Vertreter des russischen Adels und der russischen Städte hier gleichlaufende Interessen verfolgten. Von seiten russischer Gutsbesitzer und von Delegierten russischer freier Bauern wurden gelegentlich Ansprüche auf das Land der Nichtrussen der Mittleren Wolga erhoben, die in der Regel besser mit Boden ausgestattet waren als die russischen Bauern der Region. Auch Attacken auf Muslime, Katholiken und Unierte sind bezeugt sowie Proteste gegen die Privilegierung neugetaufter Nichtrussen. 34 Im ganzen machen jedoch Fragen mit „nationaler" Tendenz einen winzigen Anteil der von Vertretern des Adels und der Bauern in der Gesetzgebenden Kommission erörterten Probleme aus. Deutlicher traten nationale Elemente in den Angriffen hervor, die Vertreter russischer Städte auf die Privilegien nichtrussischer Kaufleute und Städte richteten. Bernd Knabe, der die Instruktionen der Stadtbevölkerung untersucht hat, registriert „eine ausgeprägte feindliche Einstellung gegenüber den nichtrussischen Handels- und Gewerbetreibenden" und sieht einen engen Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Konkurrenzsituation. 35 So forderten Vertreter russischer Städte ein Verbot der Handelstätigkeit von Nichtrussen in den Städten, vereinzelt sogar ihren totalen Rückzug auf die Landwirtschaft. Russische Kaufleute protestierten gegen Behinderungen durch deutsche Kaufleute in Reval und Riga und wandten sich erneut gegen die Privilegien und unternehmerischen Aktivitäten der Tataren. Die Delegierten der Städte Kazan' und Orenburg gingen so weit, die muslimischen Tataren pauschal als Betrüger, die Wachs mit Fett und Honig mit Wasser vermischten, zu verleumden, wogegen „die Russen solche Verfälschungen nicht machten, da sie wissen, daß Wachs in den heiligen Kirchen verwendet wird". Diese massive Attacke mit antiislamischen Untertönen rief einen heftigen Protest der sich solidarisierenden 18 nichtrussischen Delegierten der Mittleren Wolga-UralRegion hervor, unter ihnen vor allem Tataren, aber auch getaufte Tschuwaschen und Mordwinen und sogar ein (russischer) Kosak. 3 6 Aus solchen - allerdings auch nicht sehr zahlreichen - Äußerungen wird erneut deutlich, daß sich die russischen Kaufleute nationaler Argumente bedienten, um ihre wirtschaftlichen Interessen gegen die Konkurrenz der Nichtrussen durchzusetzen. Im ganzen aber bestätigt das Material der Gesetzgebenden Kommission den Befund, daß ethnische Antagonismen im Rußland des 18.Jahrhunderts zwar durchaus vorhanden waren, aber
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Vgl. z.B. SIRIO Bd. 14, S.297; Bd.68, S.118; Bd.93, S.9f. Bernd Knabe, Die Struktur der russischen Posadgemeinden und der Katalog der Beschwerden und Forderungen der Kaufmannschaft (1762-1767). Berlin 1975 ( = Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 22), S.260; vgl. etwa auch S. 187f., 195f., 256-260. Vgl. auch François-Xavier Coquin, La Grande Commission législative 1767-1768. Les cahiers de doléances urbains (province de Moscou). Paris 1972, S.207f. Vgl. etwa SIRIO Bd.43, S.609-615; Bd. 134, S.95f.; Bd.8, S. 182-185 (zit. S. 185), S. 191-193; Bd. 134, S.392 f.; Bd. 144, S.243.
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eine höchstens zweitrangige Rolle spielten, ständisch-sozialen und ökonomischen Interessen der einzelnen Gruppen untergeordnet waren. Der summarische, unvollständige und stark vereinfachte Überblick über das 16. bis 18.Jahrhundert ergibt, daß der russische Staat, der Adel und die Bauern im Verhältnis zu den Nichtrussen keine nationalen Prioritäten setzten, daß interethnische Antagonismen für sie von untergeordneter Bedeutung waren. Geistlichkeit und Stadtbevölkerung waren weniger offen gegenüber Nichtrussen, zeigten Ansätze nationaler Verhaltensweisen, ohne aber damit eine breitere Wirkung zu erzielen. Keine der sozialen Gruppen Rußlands kam als Träger eines gegen die Nichtrussen des Reiches gerichteten russischen Nationalismus in Frage. Einer nationalen Führungsrolle des russischen Adels - wie in Polen oder Ungarn - stand seine Fragmentierung und seine enge Verflechtung mit dem Staat im Wege. Erst die 1762 verkündete Dienstfreiheit des Adels schuf Voraussetzungen für die Formierung einer Adelsintelligenz, aus deren Mitte in der Folge allmählich die Träger eines vom Staat unabhängigen, säkularisierten, zunächst kulturell orientierten Nationalismus hervorgingen.37 Als einziger möglicher Träger eines russischen Nationalismus in der Vormoderne bleibt der Staat. Die Zarenregierung hielt jedoch ihren traditionellen politischen Prioritäten der Machterhaltung die Treue, blieb auf Autokratie, Reich und - erst in zweiter Linie - auf die Orthodoxie ausgerichtet, nicht zuletzt um ihre Herrschaft über das Vielvölkerimperium nicht zu gefährden und sich die Unterstützung von Nichtrussen zu sichern.
III. Ich fasse in acht Punkten zusammen: 1. Wie auf Grund der schlechten Forschungs- und Quellenlage zu befürchten war, haben sich keine abschließenden Resultate, kein geschlossenes Bild, sondern lediglich eine Reihe von Beobachtungen und Hypothesen zum Problem eines „Nationalismus" im vormodernen Rußland ergeben. Ein Reichspatriotismus mit den Komponenten Autokratie, Reich und Orthodoxie, den man als frühes russisches Nationalbewußtsein bezeichnen kann, tritt seit dem 16.Jahrhundert deutlich aus den Quellen hervor. Den auf den Zaren, den Staat ausgerichteten Reichspatriotismus konkurrenzierten in den folgenden zwei Jahrhunderten zunächst ein religiöses Nationalgefühl breiterer Schichten, dann ein von Mitgliedern des gebildeten Adels artikuliertes kulturell-sprachliches Nationalbewußtsein. Inhaltlich dominierten im vormodernen russischen Nationalbewußtsein staatlich-politische und religiöse Kriterien, während sprachlich-kulturelle Inhalte vor der Mitte des 18.Jahrhunderts nur ausnahmsweise hervortraten. 3. Auf den verschiedenen Ebenen des Nationalbewußtseins lassen sich längerfristige Kontinuitäten feststellen. Reichspatriotismus, Xenophobie und religiöses Nationalgefühl übten Langzeitwirkungen aus. So wurden im 19.Jahrhundert etwa auch die Ideen von „Moskau, dem Dritten Rom" und vom „Heiligen Rußland" wiederbelebt und in die nationale Gedankenwelt von Teilen der russischen Intelli37
Marc Raeff, Origins of the Russian Intelligentsia. The Eighteenth-Century Nobility. New York 1966.
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genz aufgenommen. Die geistigen Traditionsstränge, die in einzelnen Verästelungen bis in die frühe Moskauer, ja bis in die Kiever Zeit zurückverfolgt werden können, gilt es zu beachten. Sie stellten wichtige Voraussetzungen für den modernen russischen Nationalismus dar. 4. In der politischen und gesellschaftlichen Praxis, exemplifiziert am Verhältnis der Russen zu den Nichtrussen des Reiches (mit besonderer Berücksichtigung der Völker der Mittleren Wolga), spielten nationale Auseinandersetzungen höchstens eine Nebenrolle. Nationale Bindungen waren anderen Loyalitäten untergeordnet, so den kleinräumigen der Familie, des Clans, der Siedlung, der Region, der Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen mit ihren eigenen Lebensformen, Traditionen und Kulturen, und wohl auch der großräumigen polyethnischen Einheit des Zarenreiches. 5. Die Theorie des Nationalbewußtseins und die Praxis der interethnischen Beziehungen deckten sich nicht immer. Das Prinzip der Orthodoxie, religiöses Grundelement des vormodernen Nationalbewußtseins, wurde in der politischen Praxis oft pragmatischen Erwägungen untergeordnet. Das könnte eine Folge davon sein, daß die Geistlichkeit zwar an der Formulierung von Ideen wesentlich beteiligt war, in Staat und Gesellschaft aber nur eine Nebenrolle spielte. Auch im Verhältnis der russischen Elite und der Grundschicht zu andersgläubigen Minderheiten war die religiöse Grenze keine unüberwindliche. Die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis ist im übrigen eine aus der russischen Geschichte vertraute Erscheinung. 6. Ein kontinuierlicher, intensiver, horizontal und vertikal expandierender, anderen Loyalitäten mindestens gleichrangiger, auch in der politischen und gesellschaftlichen Praxis wirksamer Nationalismus läßt sich im vormodernen Rußland nicht erkennen. Er hätte einer sozialen Trägerschicht bedurft, die sich vom Staat emanzipieren konnte. Eine solche Schicht, einen Stand, der im Namen der Nation hätte auftreten können, gab es in Rußland nicht. Das verweist auf die sozio-politischen und sozio-ökonomischen Gegebenheiten der russischen Geschichte, auf das Defizit Rußlands an „organisierter Gesellschaft", auf die Fragmentierung des eng an den Staat gebundenen Adels, auf das Fehlen einer selbstbewußten autonomen Mittelschicht. 7. Immer wieder zeigt sich also die Dominanz des Staates über die Gesellschaft. Der autokratische Staat legte die Prioritäten auf die Erhaltung der Macht, die Stabilität der Herrschaft. Zur Integration eines Vielvölkerreiches taugten Kategorien wie Sprache, Kultur und auch Religion nicht. Daß der Staat an seinen anationalen Zielen, am Reichspatriotismus, der auch die Nichtrussen umfaßte, so lange festhielt, war unter anderem eine Folge der traditionell polyethnischen Zusammensetzung des Russischen Reiches. Ein Vergleich mit westeuropäischen Vielvölkerreichen, die sich unter anderen Bedingungen zu mehr oder weniger einheitlichen Nationalstaaten wandelten, könnte hierzu vielleicht weitere Erklärungen liefern. 8. Die Frage, ob es einen russischen Nationalismus in der Vormoderne gab, muß also verneint werden. Man darf, so scheint mir, die erheblichen Unterschiede in Theorie und Praxis zum modernen Nationalismus nicht gering schätzen. Ich trenne deshalb, mindestens für Rußland, die beiden Phänomene auch in der Bezeichnung. Andererseits müssen kollektive Mentalitäten und interethnische Praxis, die mit der Formierung der Nation einhergingen, als Voraussetzungen des moder-
Nationalismus im Vielvölkerreich Rußland? nen Nationalismus - und als autonome historische Kräfte - noch genauer als bisher untersucht werden. Das frühe Nationalbewußtsein und traditionelle interethnische Verhaltensweisen übten Langzeitwirkungen aus, die mit Industrialisierung und Modernisierung nicht plötzlich abbrachen. Im Gegenteil: Eine Untersuchung des modernen Nationalismus wird ohne Rückgriff auf die Vormoderne unvollständig bleiben.
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Zur Bedeutung von Absolutismus und Revolution für den französischen Nationalstaat und das französische Nationalbewußtsein Eberhard Weis
I. In den Referaten und Diskussionen dieses Kolloquiums haben wir wesentliche Überlegungen und Feststellungen gehört zu den Fragen, welche Äußerungen eines Nationalgefühls es im Mittelalter und in der Renaissance gab, und ob man sie unter dem Begriff „Nationalismus" subsumieren könne. Auch wenn dies möglich sein sollte, so hat - darüber bestand in den Diskussionen weitgehende Einigkeit - der Nationalismus, wie er uns in Europa seit der Französischen Revolution und den napoleonischen Kriegen begegnet, eine neue Qualität. Das Nationalbewußtsein verbindet sich mit der Idee oder schon der Realität eines Einheitsstaates, es verbindet sich mit dem Prinzip der Volkssouveränität, mit der allgemeinen Wehrpflicht, mit wirtschaftlicher Einheit, neuen Kommunikationsmöglichkeiten, mit wachsendem Bevölkerungsdruck und bald mit der zunehmenden Industrialisierung, mit modernen Massenbewegungen. Die Legitimitätsbasis des alten Europa und die ständischen Ordnungen waren vorher zerfallen. In Mittel- und Ostmitteleuropa spielen plötzlich Unterschiede der Sprache und Kultur eine neue politische Rolle und bergen eine starke Sprengkraft. Es scheint ein entscheidendes Moment zu sein, daß der Nationalismus eine aktive Rolle eines großen Teiles, wenn nicht der Mehrheit der Bevölkerung eines Landes, voraussetzt. Diese aktive Rolle kann sich artikulieren in politischen Bewegungen, parlamentarischen Parteien, der Literatur, der Presse und der öffentlichen Meinung, aber auch in Unruhen und bewaffneten Aktionen oder zumindest feindseligen Abgrenzungen gegen Angehörige anderer Nationen oder anderer ethnischer Elemente. Betrachtet man die Geschichte des 20.Jahrhunderts und unserer Gegenwart, so wird man nicht behaupten können, daß es Nationalismus nur in parlamentarisch-demokratischen Staaten und Industrieländern gäbe; im Gegenteil, diese haben ihre nationalistische Periode bereits am weitesten überwunden. Jedenfalls scheint auch in totalitär regierten Staaten Nationalismus eine Beteiligung stärkerer Teile der Bevölkerung am Vorgehen gegen Angehörige anderer Volksgruppen vorauszusetzen, sei es auch nur aufgrund von Indoktrination. Die Franzosen sind natürlich nicht erst durch den Absolutismus oder die Revolution zu einer Nation geworden, wie man hier und da lesen kann. Sie waren es im Prinzip bereits seit dem 9./10.Jahrhundert, ebenso wie die Deutschen. Ich brauche hier nicht die unterschiedliche politische und verfassungsgeschichtliche Entwicklung beider Länder im Mittelalter zu vergleichen. Der (mehr als) Hundertjährige Krieg, der zusammen mit dem Schwarzen Tod mindestens einem Drittel der Bevölkerung das Leben kostete, befreite letztlich fast ganz Frankreich von der engli-
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sehen Herrschaft. Bei diesen Kämpfen, die mit großer Erbitterung geführt wurden, mag sich auch eine Ausländerfeindlichkeit entwickelt haben; es gibt kaum Zeugnisse darüber. Primär jedoch war dieser Krieg ein solcher zweier Könige und ihrer Vasallen gegeneinander, zumal auch im englisch-burgundischen Lager ein großer Teil der Führer und Soldaten französisch sprach. Es war also kein eindeutiger Nationalkrieg, wenn auch sein Endergebnis, der französische Sieg, obendrein verbunden mit der Heldengestalt des Jeanne d'Arc, entscheidend zur endgültigen Einheit des französischen Territoriums, zur allgemeinen Anerkennung des Königtums und zur Steigerung des Selbstbewußtseins der französischen Nation beitrug. Unter den Regierungen Ludwigs XI., eines Fürsten nach dem Herzen Machiavellis, Ludwigs XII., Franz I. und Heinrichs II. hat die französische Monarchie die letzten, zur Opposition fähigen großen Lehensträger entmachtet und sich gegenüber potentiellen Rivalen durchgesetzt. Der König ist nicht nur das Symbol, sondern auch der reelle Garant der Einheit der Nation. Unter anderem mit Hilfe von Bündnissen, darunter mit den Türken und mit deutschen Fürsten, kann sich Frankreich selbst gegenüber Karl V. behaupten. In der Renaissance wird erstmals bei einer größeren Anzahl von Schriftstellern ein humanistischer französischer Patriotismus formuliert. Durch das Konkordat von Bourges von 1516 erhält der König das Recht der Ernennung sämtlicher Bischöfe des Landes und damit endgültig die Kontrolle über die gegenüber dem Papst sehr selbständige Gallikanische Kirche Frankreichs. Niemand im Lande kann dem Monarchen mehr ungestraft widersprechen. Die Generalstände werden 54 Jahre lang nicht mehr einberufen. Der König regiert mit drei Gremien von Räten und 120 Sekretären, im Lande vermehrt er die Stellen der ihm ergebenen Beamten, denen er allerdings die Ämter erblich verkaufen läßt. Besonders Franz I. wird zum Idol seiner Nation. Durch die Kriege in Italien werden müßige Adelige und damit mögliche Opponenten beschäftigt, viele von ihnen fallen, das Zusammengehörigkeitsgefühl der Nation wächst und Kunst, Wissenschaft und Handel lassen Frankreich zu einem Zentrum der Renaissance werden. Und doch geriet Frankreich noch zweimal in Staatskrisen, die möglicherweise zu seinem Zerfall geführt hätten, wenn es nicht bereits ein festes Gefühl der Zusammengehörigkeit der Nation, eine letztlich besonnene und kompromißbereite Mehrheit und zwei überlegene Staatsmänner gegeben hätte. Die erste Krise, 1559-98, stellten die Religionskriege und vor allem deren letzte Phase unter Heinrich III. dar, als die katholische Liga gegen Heinrich III. und Heinrich von Navarra, den späteren Heinrich IV., die Spanier zu Hilfe rief. Heinrich IV. konnte schließlich das Land befreien, da er von einer Mehrheit von Katholiken und Protestanten, der Partei der „Politiker", unterstützt wurde, die sich gegen die katholischen und calvinistischen Extremisten wandte und schließlich den politischen und religiösen Kompromiß und die Vertreibung der Spanier ermöglichte. 1 Sein Werk wurde durch Richelieu ausgebaut und nach innen und außen verteidigt.
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Myriam Yardeni, La conscience nationale en France pendant les guerres de religion, 1 5 5 9 1598, Louvain, Paris 1971. Die Verfasserin unterstreicht die Bedeutung der Regierung Heinrichs IV. für das Entstehen eines neuen gesamtfranzösischen Patriotismus (besonders 317-332).
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Die zweite, kaum minder gefährliche und ebenso verlustreiche Staatskrise, war der Fronde-Aufstand von 1648 bis 1653, in dem ein Bündnis zwischen einigen Prinzen, dem Parlament von Paris, der städtischen Bevölkerung, entlassenen Soldaten und enttäuschten Inhabern erkaufter Ämter (officiers) sich gegen die Regentin Anna von Österreich und deren Minister Kardinal Mazarin erhob. In der Polemik gegen dieses Paar, das nicht nur Frankreich regierte, sondern auch im Leben eng verbunden war, klingt allerdings ein gewisser Fremdenhaß an: Die spanische Regentin und der italienische Kardinal beherrschen Frankreich allein, stellte man fest. Auch jetzt holte aber die Opposition die Spanier zu Hilfe, auch jetzt konnte schließlich die geschickte Politik der Staatsspitze, in diesem Fall Mazarins, gestützt auf die Friedenssehnsucht der Mehrheit der Bevölkerung, die Ordnung wiederherstellen und die Spanier besiegen. Zwar kämpfte Frankreich noch weiter gegen Spanien, bis es diese Macht in ihrer Rolle als erste Militärmacht Europas ablösen konnte. Aber es war zunächst ein innerfranzösischer Krieg, an dem auch spanische Truppen beteiligt waren, dann ein Kabinettskrieg, ein außenpolitischer Machtkampf, wie es vorher und danach viele andere gegeben hatte, ohne daß es zu Äußerungen eines eigentlichen Nationalismus gekommen wäre, zumal es in Frankreich auch immer eine spanienfreundliche Richtung gab. Ludwig XIV., der Enkel Philipps II., heiratete eine spanische Prinzessin in der - später realisierten - Hoffnung, Spanien beerben zu können.
II. Unter Ludwig XIV. nun erfolgte die endgültige Stabilisierung des französischen Absolutismus. Gleichzeitig wurde trotz aller Kriege ein Modell der Regierungspraxis und der Selbstdarstellung der Monarchie geschaffen, das die Fürsten in ganz Europa nachzuahmen versuchten. 2 Ludwig XIV. konnte an die Ergebnisse der Politik Richelieus und Mazarins anknüpfen, durch welche die absolute Monarchie im Inneren gegen ihre Gegner endgültig durchgesetzt und Frankreich außenpolitisch zur ersten Macht Europas gemacht worden war. Beide Kardinäle hatten im Inneren die Protestanten toleriert, nach außen hin im Bündnis mit Schweden und den deutschen evangelischen Fürsten den Kaiser zu den Zugeständnissen des Westfälischen Friedens gezwungen. Daß Ludwig XIV. im Inneren später von dieser Politik abwich, die Protestanten verfolgte und zu Hunderttausenden ins Ausland trieb, daß er daneben auch abwechselnd Anhänger des Papstes, Gallikaner, Jansenisten und Quietisten verfolgte,
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Zu Ludwig XIV.: P. Goubert, Louis X I V et vingt millions de Français, Paris 1966, deutsch: Ludwig XIV. und 20 Millionen Franzosen, Berlin 1973; E. Weis, Frankreich von 1661 bis 1789, in: Th. Schieder (Hg.), Handbuch der europäischen Geschichte Bd.IV (hg. von F. Wagner), Stuttgart 1968, S. 1 6 4 - 3 0 3 , hier 1 6 6 - 2 2 5 ; R. Mandrou, Louis X I V en son temps (Peuples et Civilisations Bd.X), Paris 1973; R. Mandrou, Staatsräson und Vernunft, 1 6 4 9 - 1 7 7 5 (Propyläen Geschichte Europas Bd. 3), Berlin 1976; K. Malettke, Opposition und Konspiration unter Ludwig XIV., Göttingen 1976; A. Corvisier, La France de Louis XIV, 1643-1715, Paris 1979; W . Mager, Frankreich vom Ancien Régime zur Moderne. Wirtschafts-, Gesellschafts- und politische Institutionengeschichte 1 6 3 0 - 1 8 3 0 , Stuttgart 1980, hier 17-157.
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sollte dem Gefüge der französischen Monarchie und der Einheit der Nation tiefe Risse zufügen, ebenso wie dies auch seine vielen Kriege und seine unheilvolle Finanzpolitik taten. Was Ludwig XIV. dennoch an Bleibendem geleistet hat u n d was für die Festig u n g und Bewußtwerdung der französischen Nation eine wichtige Etappe darstellte, das fiel in den ersten Teil seiner langen Regierungszeit, die Jahre 1661 bis etwa 1684, der noch stark durch den Einfluß Colberts bestimmt war. D e r König schaffte Ordnung nach dem Elend der Fronde-Kriege, er förderte Wirtschaft und Gewerbe, domestizierte den Adel weiterhin, indem er dessen mächtigere Vertreter an den Hofdienst band, er modernisierte Regierung, Verwaltung, Justiz, Armee u n d auswärtigen Dienst mit Hilfe fähiger, meist aus d e m Bürgertum k o m m e n d e r Minister, ja er setzte auf diesen Gebieten Maßstäbe für alle europäischen Staaten. Die feudalen Provinzgouverneure entmachtete er mit Hilfe der von der Zentralregierung abhängigen Intendanten. Neben der neuen Beamtenschaft lebte allerdings die alte, auf der Ämterkäuflichkeit beruhende weiter. Da Frankreich nicht die Phase des aufgeklärten Absolutismus durchlief, bestanden hier bis zur Revolution die ausgehöhlten alten neben den neuen Institutionen fort. W e n n auch bei den damaligen technischen Mitteln und beim damaligen Bewußtseinsstand der Bevölkerung noch eine große Diskrepanz bestand zwischen den Dekreten der königlichen Regierung und ihrer Ausführung in den entlegensten Provinzen, wenn auch der Provinzialismus noch groß war - es gab beispielsweise etwa 400 verschiedene Rechtsgebiete - so wurden die Franzosen doch jetzt endgültig daran gewöhnt, daß sie einem großen und mächtigen Staat angehörten, auf den Europa blickte, und daß nicht die lokalen Großen, sondern der König der oberste Gesetzgeber und Richter und der Garant des inneren Friedens war. Frankreich war, gemessen an den Verhältnissen der Zeit, ein Rechtsstaat. Die Parlam e n t e waren zwar politisch entmachtet, erfüllten aber unverändert ihre Funktion als oberste Gerichtshöfe. Die Sonderrechte neugewonnener Provinzen wie z. B. des Elsaß, wurden grundsätzlich respektiert, auch auf dem Gebiet der Religion. Die Sprache seiner Untertanen interessierte Ludwig XIV. kaum. Er begrüßte freudig die Elsässer u n d vertraute diese neue Provinz einigen seiner fähigsten Intendanten an. Auch in anderen Teilen Frankreichs, wie in der Provence oder in der Bretagne, konnten sich die aus Paris entsandten Beamten nicht unmittelbar mit der Mehrheit ihrer Untertanen unterhalten. U m allerdings in der Beamtenhierarchie aufsteigen zu können, war doch - aus administrativen Gründen - die aktive Beherrschung des Französischen notwendig, wie auch in d e m gegen ethnische Minderheiten toleranten Zarenreich oder in Österreich-Ungarn die Beherrschung des Russischen bzw. des Deutschen. Für das Selbstverständnis und die Weiterentwicklung der französischen Nation war natürlich wichtig die Tatsache, daß Frankreich zur ersten Militärmacht Europas, z u m Modell für Verwaltung, Diplomatie und Justiz anderer Staaten, daß der Hof von Versailles vorbildhaft für alle anderen Fürsten wurde. Noch bedeutsamer wurde, daß Frankreich jetzt seine klassische Periode auf den Gebieten der Literatur, der bildenden Kunst, der Musik u n d auch des Kunstgewerbes erlebte, nachd e m bereits durch Richelieu die Académie Française mit dem Ziel der Vereinheitlichung der französischen Sprache gegründet sowie Theater u n d Presse gefördert worden waren. Descartes und Pascal hatten bereits das europäische Geistesleben
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beeinflußt; nun wurde durch die Gründung der Académie des Sciences 1666 Paris neben London zum europäischen Zentrum der Naturwissenschaften. Diese Verdienste blieben im Bewußtsein der französischen Nation, auch wenn im 19. und 20 Jahrhundert die in ihrer großen Mehrheit republikanischen Historiker zu Recht mit Ludwig wegen seiner Außenpolitik und der verheerenden sozialen Folgen seiner Kriege und seiner Religionspolitik, die zusammen mit Mißernten einen Bevölkerungsrückgang um etwa 1 0 % und eine gigantische Schuldenlast verursachten, hart ins Gericht gingen, wie es auch schon seine Zeitgenossen Vauban und Fénelon getan hatten. Der Absolutismus hat den staatlichen Rahmen geschaffen, in dem seit der Revolution die Nation schrittweise ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen konnte. Da dies unter dem Ancien Régime noch nicht möglich war, konnte auch noch kein Nationalismus aufkommen. Die herrschende Staatslehre drückte Ludwig in seinen Instruktionen für seinen Enkel so aus: „La nation ne fait pas corps en France. Elle réside tout entière dans la personne du roi." Kürzer, mit nur drei Worten, hatte es bereits Ludwig XI. formuliert: , J e suis France." 3 In den angegriffenen Staaten, dem Reich und den Niederlanden, war besonders seit 1688, das Erstarken eines Patriotismus, zumindest bei den Intellektuellen, zu beobachten. André Corvisier vertritt die Auffassung, es habe zur Zeit Ludwigs XIV. einen Nationalismus, ja Chauvinismus in Frankreich gegeben."' Zum Beweis stützt er sich vor allem auf die Berichte, welche die Intendanten 1 6 9 7 - 1 6 9 8 für die Unterrichtung des Duc de Bourgogne, des Enkels Ludwigs XIV., über ihre jeweiligen Amtsbezirke, Généralités, einreichten unter dem Titel „Mémoires sur les généralités". Dort wird die seit dem 16.Jahrhundert in Frankreich vorkommende, zuletzt im 18.Jahrhundert mit dem Namen Boulainvillier verbundene These vertreten, die Franzosen, vor allem ihre Führungsschicht, der Adel, seien die Nachkommen der alten Franken, die durch ihr Eindringen in Gallien das Land vor barbarischen Invasoren wie den Hunnen gerettet hätten. Aber auch das Erbe der Römer wird hoch geschätzt. Der Hundertjährige Krieg wird als nationaler Befreiungskampf gegen die Engländer mit zusätzlich erfundenen einmaligen Heldentaten auf Seiten der Franzosen ausgeschmückt, wobei man die Revolten ganzer Provinzen gegen die Valois-Könige unterschlägt. Die Erwerbung so vieler Provinzen durch die französische Monarchie wird jeweils als ein Akt der Befreiung dargestellt, besonders in der Zeit Ludwigs XIV. Die Annexionen dieses Königs werden mit historischen und pseudojuristischen Argumenten, die bis auf die Zeit der alten Gallier zurückgreifen, gerechtfertigt. Flandern und das Elsaß werden als urfranzösische Landschaften dargestellt, wobei etwa die karolingischen Teilungsverträge mit Schweigen übergangen werden und für die Zeit davor fränkisch immer mit französisch gleichgesetzt wird. Aber ich meine, solche Geschichtsklitterungen entsprechen der damaligen, vom Staat lancierten Propaganda im Zusammenhang mit den Annexionen.
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A. Corvisier, La France de Louis X I V 1 6 4 3 - 1 7 1 5 . Ordre intérieur et place en Europe, Paris 1979, S. 39. A. Corvisier (wie A n m . 3 ) S. 5 2 - 5 7 . Corvisier baut dabei auf den Ergebnissen seiner früheren Arbeit auf: Les Français et l'armée sous Louis X I V , d'après les mémoires des intendants de 1697, Paris 1973.
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Die Intendanten als abhängige Beamte, die wußten, daß ihre bzw. ihrer Mitarbeiter Elaborate auch dem Sonnenkönig vorgelegt wurden, wollten hiermit ein Pflichtsoll im Interesse ihrer Karriere leisten. Abenteuerliche Geschichtskonstruktionen hatte es überall auch schon im Spätmittelalter und zur Zeit der Humanisten gegeben, etwa wenn Kaiser Maximilian I. durch seine Historiographen und Künstler das Haus Habsburg bis auf die Römer, die Trojaner und bis auf Noah zurückführen ließ, von einem Imperium mundi träumte und vorübergehend die angebliche Rückeroberung weiter Teile Europas von Norwegen bis zum Heiligen Land ins Auge faßte. Ausführungen wie in den nicht zur Veröffentlichung bestimmten „Mémoires" sind, auch wenn sie im Falle Ludwigs XIV. mit dessen Annexionspolitik verbunden waren, meines Erachtens höchstens in erster Näherung mit dem modernen Ausdruck „Nationalismus" zu kennzeichnen. Corvisier gibt selbst zu, daß sowohl der Adel als der Klerus als auch die Masse der Bevölkerung im Reich Ludwigs XIV. ganz andere, natürlich unterschiedliche Vorstellungen hatten von der französischen Nation und dem, was für diese erstrebenswert wäre.
III. Im 18.Jahrhundert, zwischen 1714 und der Revolution, war Frankreich trotz der Teilnahme an einer Reihe von Kriegen, in die es abgesehen vom Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg mehr oder weniger hineingezogen worden war, einer der friedfertigsten Staaten Europas, ruhebedürftig nach den Abenteuern Ludwigs XIV., an dessen Schulden es schwer zu tragen hatte. Seine Außenpolitik war meist auf Ausgleich gerichtet, England hatte Frankreich an politischem Gewicht überflügelt; dafür hatte sich die französische Sprache als zweite Muttersprache der Gebildeten, Adeligen und Diplomaten überall durchgesetzt von Portugal bis Rußland, von Skandinavien bis Sizilien. Der zunehmende Reichtum des höheren Bürgertums und eines Teils des Adels in einer Zeit überwiegend günstiger Konjunktur kontrastierte mit der Leere der Staatskassen. J e stärker das Bürgertum Wirtschaft und Kultur des Landes beherrschte, desto weniger wurde es noch zu Spitzenstellungen in Verwaltung, Armee und Kirche zugelassen. Frankreich war gekennzeichnet durch das Auseinanderklaffen von Staat und Gesellschaft im Zeitalter der Aufklärung, ferner durch zwei gutwillige, aber überwiegend indolente und vom Volk abgesondert lebende Könige, durch die verzweifelten Reformanstrengungen einer großen Zahl fähiger Minister und Intendanten, die aber meistens steckenblieben wegen des Widerstands der Parlamente, der Provinzialstände und der hinter ihnen stehenden Adelsgruppen, sowie des Hofadels. Die französische Monarchie war zwar staatsrechtlich nach wie vor absolut, aber sie war seit dem Tode Ludwigs X I V . eine der schwächsten des Kontinents. Nicht ihre Stärke, sondern ihre Schwäche führte dazu, daß Frankreich vor 1787 keine Reformen im Stil des aufgeklärten A b solutismus ins Werk setzte, und die Neuerungen von 1787 kamen zu spät, waren zu bescheiden, und wurden außerdem überrollt durch die Adelsrevolte und dann die Revolution. Die öffentliche Meinung war hier so stark wie - abgesehen von England - in keinem europäischen Lande, und doch unterstützten bis 1788 die
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Schriftsteller und Journalisten der Aufklärung nicht die reformwilligen Minister der Krone, sondern die Parlamente, die gerade die Reformen verhinderten. 5 Bei allen Lagern des Ancien Régime, so heftig sie sich auch untereinander bekämpften, ist in dieser Zeit kaum etwas zu entdecken von Nationalismus oder Imperialismus. Nach der Niederlage im Siebenjährigen Krieg nahmen Regierung wie Öffentlichkeit ziemlich gelassen den Verlust eines großen Kolonialreiches hin. Wegen Indiens gab es zwar noch einen Schauprozeß gegen einen glücklosen Gouverneur vor dem Parlament von Paris, aber über den Verlust Kanadas waren sowohl die Regierung als auch die öffentliche Meinung offenbar geradezu erleichtert und froh. In diese, wie man sagte, unproduktiven Schneefelder hatte man nur laufend Geld stecken müssen. Man tröstete sich damit, daß man ja die, damals in der Tat wirtschaftlich viel wichtigeren, kleinen Zuckerinseln Guadeloupe und Martinique behalten hatte. Ludwig X V . gab sogar obendrein freiwillig noch ganz Louisiana westlich des Mississippi an Spanien ab, obwohl dies die Engländer garnicht verlangt hatten. Voltaire schrieb damals an einen leitenden Beamten des Außenministeriums : „Wenn ich es wagte, ich würde Sie auf den Knien bitten, die französische Regierung für immer von Kanada zu befreien... Ich wünschte, Kanada befände sich auf dem Grund des Eismeeres... Frankreich kann glücklich sein ohne Québec." 6 Und über das Militär schreibt Voltaire, der in seinem „Siècle de Louis X I V . " die Taten des Sonnenkönigs verherrlicht hatte, die Soldaten seien „der Abschaum der Nation", „mörderische Söldner, die wegen ihrer Gier nach Ausschweifung und nach Raub ihre ländliche Umgebung verlassen haben", sie verdienten ihr Brot mit Raub und Mord, weil sie keinen anständigeren Beruf hätten. In seinem „Dictionnaire philosophique" legt Voltaire dar, der Begriff „patrie" sei etwas so Ungewisses, daß die Mehrzahl der Franzosen nicht wüßte, was das ist. Und er fügt hinsichtlich des Vaterlandes hinzu: „Es sind weder Hunde, noch Mädchen, noch Lakaien, noch Soldaten." 7 In einem solchen geistigen Klima braucht man kaum nach Spuren des Nationalismus zu suchen, ausgenommen eventuell bei Rousseau, der auch in dieser Hinsicht ein Problem darstellt. Aber auch bei dem Genfer Rousseau, wird man kaum einen Ausdruck des Nationalismus finden, wenngleich dieser Denker auch bekanntlich später in Anspruch genommen worden ist durch die diktatorische Revolutionsregierung Robespierre, dann durch totalitäre Ideologien, aber auch durch den frühen romantischen Nationalismus. Das letztere dürfte die krasseste Fehlinterpretation Rousseaus gewesen sein.
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Ubernblick über diese Vorgänge bei E. Weis in Handbuch der europäischen Geschichte Bd. IV (oben Anm.2) S. 225-303. Uber die Adelsfronde vor der Revolution : J. Egret, La Pré - Révolution Française (1787-1788), Paris 1962. Wichtig auch: Eberhard Schmitt, Repräsentation und Revolution. Eine Untersuchung zur Genesis der kontinentalen Theorie und Praxis parlamentarischer Repräsentation aus der Herrschaftspraxis des Ancien Régime in Frankreich (1760-1789), München 1969. Zitiert nach P. Gaxotte, Le siècle de Louis XV, Paris 1975, S.231. Das Zitat von mir übersetzt. Ebd. S. 263.
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IV. Die Französische Revolution wird gemeinhin als einer der Ausgangspunkte des modernen Nationalismus betrachtet. Dafür mag sprechen, daß seit spätestens 1792 ihr erklärtes Ziel die Befreiung der noch unfreien Nachbarvölker wurde und es ihr genügte, wenn eine winzige Minderheit dieser Völker sie zu Hilfe rief, um dort einzumarschieren und ihnen eine Revolutionsregierung aufzuzwingen.8 Dafür spricht auch, daß die Revolution eine gewaltige Dynamik auslöste, die dazu führte, daß einige Zeit nach der Errichtung der allgemeinen Wehrpflicht die revolutionären Armeen die Nachbarländer Frankreichs überschwemmten, und daß diese Entwicklung sich unter Bonaparte, der doch in vieler Hinsicht als Vollstrecker der Revolution auftrat, fortsetzte, schließlich, daß in der Zeit Napoleons bei den unterdrückten und sich befreienden Völkern ein echter Nationalismus entstand. 9 Dennoch war die Revolution, soweit es sich aus ihren wichtigen offiziellen Verlautbarungen erkennen läßt, der Ideologie nach nicht nationalistisch. Die ganze Wucht der Agitation richtete sich auch 1793/94 gegen die innenpolitischen Gegner der Bergpartei sowie gegen die fremden Fürsten, aber nicht deren Völker. Die maßgebenden Revolutionsgremien erklärten nirgends, daß sie die Nachbarvölker für inferior hielten oder daß man sie um jeden Preis bekämpfen und unterwerfen müsse, sondern nur, daß man ihnen, wenn sie es wünschten, helfen wollte, jene Freiheit zu erringen, die das französische Volk als erstes selbst erkämpft habe.
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Zu dieser Problematik u. a. J. Godechot, La Grande Nation. L'expansion révolutionnaire de la France dans le monde, 1789-1799, 2 Bde., Paris 1956, hier I, S.lOf., 166-270; II, S.668-690. Hierzu auch: Beatrice F. Hyslop, French Nationalism in 1789 according to the General Cahiers, New York 1934, besonders S. 22-28. Die Verfasserin zieht aus den von ihr veröffentlichten bzw. analysierten Dokumenten den Schluß, daß die Ausdrucksformen des Nationalismus, die im weiteren Verlauf der Revolution festzustellen sind, bereits weitgehend in den Cahiers des Frühjahrs 1789 zum Ausdruck kommen. B. Hyslop nimmt, wie schon 1905 F. Baldensperger, an, daß das Wort „nationalisme" im Französischen erstmals durch Abbé Barruel, Mémoires pour servir à l'histoire du jacobinisme, Hamburg 1798, Bd. III, S. 184 eingeführt worden ist. Das Wort sei durch deutsche Kosmopoliten im Sinne eines egoistischen, aggressiven Nationalismus verstanden worden, während französische Autoren damals einem humanen Nationalismus das Wort reden wollten, der den Jakobinismus bekämpfen würde (Hyslop, S. 22). B. Hyslop unterscheidet vier voneinander getrennte Elemente: „consciousness of nationality", „national patriotism", „democracy" und „étatisme". Alle vier hätten sich erst im Frankreich des 19.Jahrhunderts miteinander verbunden. Über B. Hyslop geht aufgrund seiner eigenen Arbeiten hinaus: Jacques Godechot, Nation, Patrie, Nationalisme et Patriotisme en France au XVIII e siècle, in : Actes du Colloque Patriotisme et Nationalisme en Europe à l'époque de la Révolution française et de Napoléon, XIII e Congrès International des Sciences Historiques (Moscou, 19 août 1970), Paris 1973, S. 7-27 (Hg.: Société des Etudes Robespierristes). Godechot zieht am Schluß folgendes Fazit: „La Révolution, certes, a donné des sens nouveaux aux mots patrie et nation. Elle a défini le patriote et pourvu l'expression patriotisme d'une charge affective qu'elle n'avait pas. Le nationalisme, sons doute, est né de la Révolution, mais de la Révolution conquérente; il n'est ni logique ni raisonnable d'employer ce mot pour caractériser la mentalité française à l'époque révolutionnaire. Le nationalisme se développe lentement sous le Consulat et l'Empire; on ne peut parler, semble-t-il, de nationalisme en Europe que vers 1840. Il est évident qu'il s'agit ici de conclusions provisoires. La sémantique historique est encore dans l'enfance ..." (S. 27). Uberblick über diese Vorgänge bei E. Weis, Propyläen Geschichte Europas Bd. 4: Der Durchbruch des Bürgertums, 1776-1847, Berlin 1978 (als Paperback 1982), S. 222-349-
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In der Alltagspraxis war dies freilich anders; um dies zu zeigen, muß man Äußerungen von zweit- und drittrangigen Figuren der Revolution und Kommissaren in den besetzten Gebieten beachten. So sagte der Abgeordnete der Bergpartei J . Duval, ein Richter, als man den weltbürgerlich-liberalen Plan Condorcets für eine Nationalerziehung ersetzen wollte, im Juli 1793 im Nationalkonvent beispielsweise: Führt die Söhne der Bürger in die nationale Geographie ein, „aber man soll vermeiden, ihnen Karten der Welt vorzulegen, damit sie nicht eine zu geringe Vorstellung von ihrem Vaterland bekommen, wenn sie dieses nur als einen im Weltall verlorenen Punkt sehen." 1 0 Der Geschichtsunterricht soll auf die nationale Vergangenheit beschränkt werden. Klassische Sprachen sowie spekulative und lebensfremde Wissenschaften sind nicht mehr zu lehren. Andere Abgeordnete verlangen, im Mittelpunkt aller Veranstaltungen der Schüler sollen Kulthandlungen vor dem Altar des Vaterlandes stehen, wobei die Jugend Waffen tragen und die Menge patriotische Hymnen singen soll. Jugend soll durch Jugendliche geführt werden. Zur Erweckung des vaterländischen Geistes sollten Paraden vor dem Abendessen, republikanische Tänze danach, Instrumentalmusik vor dem Einschlafen, Trompetenklänge zum Aufstehen dienen. „Man liest, man liest wieder ohne Unterlaß die Erklärung der Menschenrechte". Auch die Erwachsenen bis hin zu den Insassen der Altenheime sollen politisch geschult werden. Vormilitärische Ausbildung für alle Knaben in den Schulen ist Pflicht, unter 12 Jahren mit dem Bogen, darüber mit dem Gewehr." Niemand wird als Lehrer zugelassen, der keine Kenntnisse in der Chirurgie hat, niemand als Lehrerin, wenn sie nicht als Hebamme ausgebildet ist." Ein erheblicher Teil der umfangreichen Protokolle, der Procès-verbaux des Nationalkonvents, und der großen Edition der „Archives Parlementaires" besteht aus Deklamationen einzelner Bürger oder von Abordnungen von Vereinen oder Gemeinden aus ganz Frankreich, die an der Barriere der Nationalversammlung abgegeben wurden, um die patriotische Gesinnung der Verfasser zu dokumentieren, die dann vom Konvent routinemäßig mit einer „mention honorable", einer ehrenvollen Erwähnung, im Protokoll belohnt und an einen Ausschuß überwiesen wurden, wo sie archiviert wurden. Der Nationalkonvent, der in der Ara Robespierre ohnehin nicht viel zu sagen hatte, mußte den größten Teil seiner Zeit mit dem Anhören dieser patriotischen Erklärungen verbringen. Ich greife aus den Archives Parlementaires ein ziemlich willkürlich ausgewähltes Beispiel heraus: Eine Abordnung der société populaire der heute durch ein weltweit beliebtes Getränk bekannten südwestfranzösischen Stadt Cognac erklärte am 21.Februar 1794 vor den Schranken des Konvents: „Von diesem unkorrumpierbaren Berg" - gemeint ist die Bergpartei - „sind republikanische Vulkanausbrüche erfolgt, die alle unsere Herzen begeistert haben. V o m Gipfel ist der Blitz ausgegangen, der die Throne der Tyrannen zittern ließ und die Satelliten, die ihnen dienen, mit Furcht erfüllte. Kein Waffenstillstand, kein Friedensschluß, solange diese Verbrecher bewaffnete Satelliten gegen unser Vaterland aufgestellt haben. Erklärt ihnen im Namen von 25 Millionen Seelen, die ihr repräsentiert, daß ihr nicht mit ihnen verhandelt, sondern daß vielmehr im nächsten Frühjahr die Tricolore über dieser unverschämten und hoch10
Dieses und die folgenden Zitate nach E. Weis, Liberalismus und Totalitarismus in den Erziehungsplänen des französischen Nationalkonvents 1792-1793, Historisches Jahrbuch 74 (1955) (Festschrift für Franz Schnabel), S . 3 8 3 - 3 9 3 , hier besonders 3 8 9 - 3 9 2 . Die Zitate übersetzt.
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mütigen Stadt London flattern wird. Sagt ihnen im Namen der Franzosen, daß das englische Blut, welches die Themse röten wird, sie lehren wird, was ein Volk wert ist, das für die Verteidigung seiner Rechte kämpft. Erklärt den spanischen Fanatikern, daß die republikanischen Soldaten sie mit der Macht ihrer Bajonette bekannt machen werden und daß sie zum Schmelztiegel der Republik die Metall-Fetische bringen werden, die anzubeten jene dumm genug sind. Sagt dem schwachsinnigen Österreicher, daß wir mit ihm nur verhandeln werden, wenn er zugestimmt haben wird, daß der Rhein die Demarkationslinie zwischen einem freien und einem versklavten Volk wird. Kündigt dem tyrannischen und kriminellen Preußen an, daß er nur auf Pardon von Seiten der Französischen Republik hoffen darf, wenn er mit Schande bedeckt an seinen Herd zurückgekehrt sein und seine Missetaten eingestanden haben wird, ferner wenn er all jenen Feiglingen den Kopf hat abschneiden lassen, die ihr Vaterland verlassen haben und die sich jetzt auf seinem Territorium befinden. Erklärt, daß Holland nur auf unsere Milde hoffen darf, wenn es zuvor die Kosten des Krieges bezahlt haben wird, an dem es teilgenommen hat." Der Beschluß des Nationalkonvents hierauf lautete routinemäßig: „Mention honorable, insertion au bulletin et renvoi au comité de salut public." 11 Bei den Sansculotten des Jahres 1793 gab es einen ausgeprägten Fremdenhaß. W e r eine Ausländerin heiratet, „ist ein Feind der Franzosen, ist im Herzen ein Emigrant", wer ein Kleidungsstück aus importiertem Stoff trägt, „schmückt sich mit der Livrée unserer Feinde, um unsere braven Handwerker im Elend zu lassen." 1 2 Bei den Revolutionsarmeen im Ausland, vor allem ihren politischen Kommissaren und Propagandisten, zeigte sich ebenfalls weitverbreitet eine Einstellung, die man als nationalistisch bezeichnen könnte, und die, neben der materiellen Ausbeutung der besetzten Gebiete, wesentlich dazu beitrug, daß die französischen Besatzungen extrem unbeliebt waren und daß die von innen mit Hilfe von einheimischen Minderheiten gegründeten „Schwesterrepubliken" in Italien und der Schweiz nach dem Abzug der Franzosen fast überall sogleich wie ein Kartenhaus zusammenbrachen. Godechot betont in seinem Werk „La Grande Nation", daß noch mehr als die Besatzung die drückenden französischen Requisitionen und Kontributionen die selbstgefällige Propaganda der Vertreter der „Grande Nation" die Bevölkerung der besetzten Gebiete und selbst der Schwesterrepubliken enttäuschte und abstieß. So schrieb der „Courrier de l'Armée de l'Italie" 1797: „Alle Schritte der Großen Nation sind gekennzeichnet durch Wohltaten. Wohl dem Bürger, der daran teil hat! Glücklich derjenige, der sagen kann, wenn er unsere großen Männer sieht: Dies sind meine Freunde, meine Brüder!" 13 Umsomehr mußten solche Worte empören, wenn die Politik der Brüder, wie es meist der Fall war, nur der Aussaugung und Unterdrückung der besetzten Gebiete diente, gleich ob diese Freunden, Feinden oder Neutralen gehörten. So sind die nationalistischen Töne und Verhaltensweisen nicht aus den großen politischen Dokumenten der Französischen Revolution, sondern eher aus Erklä11
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Archives Parlementaires, Première Série, t. 85 (du 26 pluviôse An 12 au 12 ventôse An II, 14.2.-2.3.1794), Paris 1964, S. 305 f. Von mir übersetzt. F. Furet, D. Richet, Die Französische Revolution, Frankfurt 1968, S. 175 (das französische Original „La Révolution" Paris 1965/66. Eine weitere Übersetzung erschien München 1980). J. Godechot, La Grande Nation (wie Anm.8), I, S. 10.
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rungen von weniger bedeutenden Figuren und französischen Vertretern im Ausland sowie aus der Alltagspraxis zu entnehmen. Dies war ähnlich unter Napoleon, der zwar insoweit kein Nationalist war, als er sogar gern in seinem Dienst Deutsche und Italiener beschäftigte, der aber ein rücksichtsloses System der wirtschaftlichen und militärischen Ausbeutung nicht nur besetzter feindlicher Gebiete, sondern auch der Staaten seiner Verbündeten entwickelte, das schließlich entscheidend dazu beitrug, die Völker Europas gegen ihn aufzubringen und zu einen.
V. Zwar nicht der Nationalismus, aber der noch heute gültige französische Begriff der Nation ist in der Zeit der Aufklärung bereits klar formuliert worden, und zwar durch Diderot in der Encyclopédie. Diderot definiert dort das Wort „nation" wie folgt: „Ein kollektiver Ausdruck, dessen man sich bedient, um eine größere Anzahl von Menschen zu bezeichnen, die ein bestimmtes, durch feste Grenzen eingeschlossenes Gebiet bewohnen und ein und derselben Regierung gehorchen." 14 Eine ganz ähnliche Definition, an die sich Diderot hier offensichtlich anlehnt, hatte auch schon Furetière ein Jahrhundert früher gegeben; damals allerdings hatte man in diesen Begriff dem Kontext zufolge noch stärker sprachliche und ethnische Elemente einbezogen, als man es seit der Aufklärung tat. Bei Diderot ist „Nation" ein rein politischer Begriff, die Menschen nämlich, die in einem bestimmten Gebiet wohnen und einer gemeinsamen Regierung unterworfen sind. Da ist nichts von gemeinsamer Sprache, gemeinsamer Kultur, gemeinsamer Geschichte oder gar einer Mystik des Blutes gesagt. Den Nationsbegriff, wie Diderot ihn formulierte, hat Frankreich beibehalten. Auch in allen vier Verfassungen der Französischen Revolution ist er verankert, wobei allerdings in der Verfassung von 1795 Ausländer erst nach siebenjährigem Aufenthalt in Frankreich, in der Verfassung von 1799 erst nach zehnjährigem Aufenthalt das französische Bürgerrecht erwerben können. 15 In der politischen Literatur hat sich Frankreich später nicht nennenswert beeinflussen lassen von Vorstellungen der Romantik über Volksgeist und Individualität eines Volkes, wie sie seit Herder in Mittel- und Osteuropa so großen Einfluß gewonnen haben. Allerdings fiel es Frankreich dann auch schwer, zuzugeben, daß es Bürger geben konnte, die zwar im französischen Staatsverband mit allen Bürgerrechten lebten, aber keine Franzosen sein wollten, wie die Algerier in den frühen fünfziger Jahren unseres Jahrhunderts. Die Vierte Republik wagte wegen der fran14 15
Encyclopédie, Artikel „Nation". Vgl. dazu E. Weis, Geschichtsauffassung und Staatsauffassung in der französischen Enzyklopädie. Wiesbaden 1936, S. 203 ff. Vgl. dazu ebd. S. 141 ff. Verfassung vom 3.9.1791: Titel II Art. 1-5; Verfassung vom 24.6.1793: Verfassungsurkunde Art4; Verfassung vom 22.8.1795: Zweiter Titel Art. 10. Texte u.a. bei J. Godechot (Hg.), Les constitutions de la France depuis 1789, Paris 1970. Deutsche Ubersetzungen bei W. Grab, Die Französische Revolution, eine Dokumentation, München 1973. Zu diesen Verfassungen: J. Godechot, Les institutions de la France sous la Révolution et l'Empire, Paris 21968, S. 27-468. Zu den Unterschieden zwischen dem französischen und dem deutschen Nationalbegriff: F. Schnabel, Deutsche Geschichte im. 19.Jahrhundert, Bd.I, Freiburg 21937, S. 115-126, 283-315; Hans Rothfels, Die Nationsidee in westlicher und ösdicher Sicht, in: Osteuropa und der deutsche Osten. Beiträge aus Forschungsarbeiten und Vorträgen des Landes Nordrhein-Westfalen, Bd.I... Universität Bonn, Köln 1956, S.7-18;
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zösischen öffentlichen Meinung nicht, dies anzuerkennen, ein Umstand, der Frankreich in ausweglose Kämpfe verstrickte. Erst de Gaulle war souverän genug, Frankreich aus dieser Sackgasse durch Anerkennung der Realität, also Anerkennung eines souveränen Algerien, herauszuführen. Nochmals zur positiven Seite dieses Staatsbegriffes: Meines Wissens gibt es kein europäisches Land, das mit solcher Selbstverständlichkeit stets bereit war und ist, Zugereiste, wenn sie sich einmal in Frankreich niedergelassen haben, ganz gleich aus welchem Land oder Kontinent sie kommen, als Bürger oder, falls sie das Bürgerrecht noch nicht besitzen, zumindest als Mitmenschen voll anzuerkennen. Ein nennenswertes Farbigen- oder Gastarbeiterproblem hat es in Frankreich zumindest bis in die siebziger Jahre nicht gegeben. Dies hat sich erst in den letzten Jahren unter dem Eindruck der Arbeitslosigkeit und einer gewissen Überflutung durch Einwanderer aus dem ehemaligen Kolonialreich etwas gewandelt. Damit bin ich bei den Fernwirkungen von Aufklärung und Revolution. Ich sage nichts Unbekanntes, wenn ich feststelle, daß das heutige Frankreich nach wie vor auf der Grundlage steht, welche die Französische Revolution, vor allem bis 1792, gelegt hat, sowie auf der Grundlage, die auf dem Gebiet der Verwaltung und des Rechts das Erste Empire geschaffen hat und dies, obwohl es seitdem Restauration, Bürgerkönigtum, ein zweites Kaiserreich und vier weitere Republiken gegeben hat, die alle gesetzgeberische und kulturelle Spuren hinterlassen haben. Die Regierungen und Parlamente der Dritten, Vierten und Fünften Republik, gleich welcher Couleur sie waren, haben diese Grundlage nicht verleugnet. Dies wird sich ohne Zweifel auch bei den bereits jetzt vorbereiteten Feierlichkeiten für 1989 zeigen, ganz gleich, ob dann noch die Sozialisten regieren werden, oder wieder das bürgerliche Lager. Andererseits ist man sich aber in allen demokratischen Parteien Frankreichs stets bewußt, daß die französische Geschichte nicht erst mit 1789 begonnen hat, sondern daß sie auch das Werk von mehr als einem Jahrtausend davor ist, und daß die Monarchie Grundlagen gelegt hat, die seit der Revolution ergänzt und fortentwickelt wurden. Dieses selbstverständliche Gefühl für Kontinuität scheint mir der Bewunderung würdig.
M. Rainer Lepsius, Nation und Nationalismus in Deutschland, in : Heinrich August Winkler (Hg.), Nationalismus in der Welt von heute, Göttingen 1982 (Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 8), S. 1 2 - 2 7 . - Mein Aufsatz stützt sich nicht auf die aus sehr verschiedenen Epochen und politisch-historischen Standpunkten heraus entstandenen Uberblicke, die im folgenden zur Abrundung genannt seien: Alphonse Aulard, Le patriotisme français de la Renaissance â la Révolution, Paris 1921; Louis Dimier, Le nationalisme littéraire et ses méfaits chez les Français, Paris 1935; Otto Vossler, Der Nationalgedanke von Rousseau bis Ranke, Berlin 1937; Hans Kohn, The Idea of Nationalism, A Study in its Origins and Background, 1944, deutsch: Die Idee des Nationalismus, Ursprung und Geschichte bis zur Französischen Revolution, Frankfurt 1962; Jean Lestocquoy, Histoire du patriotisme en France des origines à nos jours, Paris 1968; Klaus Otto Nass, Gefährdete Freundschaft, Ein Versuch über den Nationalismus in Frankreich und Deutschland, Bonn 1971; demgegenüber historisch viel konkreter und präziser: Raymond Poidevin, Jacques Bariéty, Frankreich und Deutschland. Die Geschichte ihrer Beziehungen 1 8 1 5 - 1 9 7 5 , München 1982). Boyd C. Shafer, Faces of Nationalism, New Realities and Old Myths, New York 1972; Jean-René Suratteau, L'Idée nationale de la Révolution à nos jours, Paris 1972. - Zu weiterer Literatur siehe Heinrich August Winkler, Thomas Schnabel (Hg.), Bibliographie zum Nationalismus, Göttingen 1979.
Friedrich der Große - eine Integrationsfigur des deutschen Nationalbewußtseins im 18. Jahrhundert?* Theodor Schieder ("f")
I. Ich habe mein Thema als Frage formuliert: War Friedrich der Große eine Integrationsfigur für das deutsche Nationalbewußtsein im 18.Jahrhundert? Dabei soll die Einschränkung auf das 18.Jahrhundert entscheidend sein. Wir befassen uns nicht mit dem, was das 19. und 20.Jahrhundert aus Friedrich gemacht haben, angefangen bei der preußisch-deutschen Reichsgründung und ihrer Nachgeschichte bis zum Tag von Potsdam und den letzten Tagen des Dritten Reiches, als Goebbels beim Tode Roosevelts das Miracle einer Kriegswende verkündete analog dem Miracle des Hauses Brandenburg im Jahre 1759 nach der Schlacht von Kunersdorf. Unter ,Integrationsfigur' soll hier eine geschichtliche Persönlichkeit verstanden werden, die durch ihr Handeln, durch ihr Charisma, vielleicht auch durch ihre Ideologie zusammenführend wirkt, in besonderem nationalen Sinne: politische Gesinnungen, die an der Nation orientiert sind, weckt und stärkt. In welchem regionalen Umfang oder auf welche Schichten bezogen, bleibt dabei noch offen. Auch was „an der Nation orientiert sein" bedeutet, bedarf genauerer Definition; in der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts kann mancherlei darunter verstanden werden. Die Elemente, aus denen nationales Bewußtsein sich zusammensetzt, sind sowohl traditionaler Art, beziehen sich auf das Reich und können daher als Reichspatriotismus bezeichnet werden. Es geht dann um Reform des Reiches mit dem Ziele seiner Stärkung gegenüber dem territorialstaatlichen, reichsständischen Patriotismus, um die Veränderung seiner Führungsstrukturen, d.h. von Kaiser und Reichstag, um die Sicherung gegen fremdstaatliche Einflüsse, vor allem den französischen. Nationales Bewußtsein ist aber nicht nur an der Vergangenheit, sondern auch an der Zukunft orientiert. Es ist die in der aufblühenden bürgerlichen Schicht lebendige Idee einer deutschen Kulturgemeinschaft, die sich u.U. von allen Formen politischer Gemeinschaft abwendet, wie es in dem bekannten, von Meinecke wiederentdeckten Fragment Schillers über deutsche Größe von 1804 heißt: „Deutsches Reich und deutsche Nation sind zweierlei Dinge. Die Majestät des Deutschen ruhte nie auf dem Haupte seiner Fürsten. Abgesondert von dem Politischen hat der Deutsche sich einen eigenen Wert gegründet, und wenn auch das Imperium unterginge, so bliebe die deutsche Würde unangefochten."
* Theodor Schieder hat den Text dieses Beitrags - den wir hier unverändert abdrucken noch kurz vor seinem Tode fertiggestellt. Er ist nicht mehr dazu gekommen, ihn in der Reinschrift durchzusehen, ihm Belege und Anmerkungen hinzuzufügen.
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Es gibt drei Ebenen von politischem Wirklichkeitsbewußtsein im 18.Jahrhundert. Die erste gründet sich auf die noch existierende nationale Gesamtform, das Heilige Römische Reich deutscher Nation. Auf ihr treibt man nicht nationale, sondern Reichspolitik. Die zweite, noch höchst dünne und zerbrechliche, ist die Wirklichkeit einer deutschen Kulturgemeinschaft. Sie existiert in einer sich neu bildenden Bürgerwelt, deren intellektuelle Sprecher sie verkünden, am extremsten Schiller, der sich die nationale Kulturgemeinschaft ohne jeden politischen Untergrund vorstellt, als ein Ideensystem. Die dritte Wirklichkeitsebene ist die der Partikularstaaten; sie entwickeln in sehr verschiedenem Grade Loyalitäten gegenüber den Dynastien und dem Land. In den Regionen der klein- und mittelstaatlichen Gebiete, namentlich in Südwestdeutschland, ist schon wegen eigener Schwäche das Reichsbewußtsein dominant. Politisch wirkt sich das in der Anlehnung an das Kaisertum, d. h. an die österreichische Politik aus, vor allem in den geistlichen Fürstentümern. Am stärksten ist das partikulare Sonderbewußtsein ausgebildet bei den weltlichen Kurfürstentümern, die seit der Goldenen Bulle über Hoheitsrechte verfügen, die von den anderen Territorien erst durch die Westfälischen Friedensschlüsse erreicht wurden. Verschiedene Formen der Machterhöhung zeichnen sich bei ihnen ab: der Gedanke einer gesamtwittelsbachischen Politik durch die Vereinigung von Bayern und der Pfalz, der gegen Ende des Jahrhunderts verwirklicht wird; die Rangerhöhung durch außerdeutschen Machtzuwachs: so die Nachfolgeschaft der Weifen in der britischen Krone oder die Wahl der sächsischen Kurfürsten August II. und III. zu Königen von Polen. Der einzige Kurfürst, der eine Erhöhung seiner Stellung aus eigener Kraft versuchte, ist der brandenburgische Kurfürst. Im Jahre 1701 errichtete Kurfürst Friedrich III. auf dem außerhalb des Reichsverbands stehenden Herzogtum Preußen ein Königreich: kein Machtzuwachs im realen Sinne, aber Prestige-Zuwachs, der im barocken Zeitalter viel bedeutet. Titel sind, wie Leibniz in einem Gutachten zu der Königserhebung sagt, complementum essentiae. Dabei ist es bei den Nachfolgern nicht geblieben, sie haben eine politische, ökonomische und militärische Machterweiterung verfolgt und durchgesetzt. Die Entstehung eines gesamtstaatlichen Bewußtseins in einem territorial zersplitterten, aus heterogenen Teilen bestehenden Staatswesen hinkt aber hinter der äußeren Machtfassade hinterher und ist erst unter Friedrich II. durch systematische Assimilationspolitik seitens der Verwaltung und Armee, auch durch gemeinsame politische Schicksale entstanden. Es sind zwei Fragen, die wir zu stellen haben: 1. Treibt Friedrich nationale Politik im Sinne von Reichsreformpolitik oder Reichshegemonialpolitik? 2. Verbündet sich der König mit der bürgerlichen deutschen Bewegung sowohl in ihrer aufgeklärten als auch in ihrer irrationalistischen Form? Bevor wir darauf eingehen, muß geklärt werden, wieweit Friedrich selbst ein Bewußtsein besaß, der deutschen Nation politisch und kulturell anzugehören, wieweit er also von seiner Person her und von seinem Identitätsbewußtsein her als Deutscher zu gelten hat. Es wäre paradox, von einer nationalen Integrationsfigur zu sprechen, die sich selbst als gar nicht zu der Nation gehörend fühlte, in der ihm diese Funktion zugesprochen wird. Wir stehen damit vor begriffsgeschichtlichen Schwierigkeiten, die die weite Entfernung vom 19- und 20.Jahrhundert zeigen. Ich will dies an zwei Punkten aufzeigen:
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1. Sprache konstituiert, mindestens in der ersten Hälfte des 18.Jahrhunderts vor dem Wirken Herders - , noch nicht Nation. Für Friedrich ist Französisch wenn nicht Muttersprache, so doch Sekundärsprache für den täglichen Umgang in der Oberschicht, in fast allen Bereichen der Literatur, der Wissenschaft, also Umgangsund Literatursprache einer Oberschicht in einer anderssprachigen, d. h. deutschen Umwelt. Das gilt so gut wie ausnahmslos für die europäische Oberschicht aller Länder, z. B. auch für Maria Theresia oder Katharina, Zarin deutscher Abkunft im Russischen Reich. Doch bestehen bei Friedrich Ausnahmen: nahen Beratern wie dem General von Winterfeldt, auf den die Pläne des Feldzugs von 1757 zurückgehen, schreibt er oder läßt er deutsch schreiben, weil dieser nicht Französisch versteht. Der für lange Jahrzehnte entscheidende Kabinettschef Eichel verkehrt als Sprachrohr des Königs mit seinen Adressaten fast nur in deutscher Sprache. Daß Friedrich deutsch gesprochen habe wie ein Kutscher, wie er selbst gesagt haben soll, ist nicht zutreffend; er beherrschte nur die Rechtschreibung in keiner Weise (was er übrigens mit anderen Fürsten, etwa mit Maria Theresia, gemein hat). Für den König war aber deutsch oder französich zu sprechen und zu schreiben keine nationale, sondern eine gesellschaftliche Entscheidung. 2. Was das politische Bewußtsein des Königs betrifft, so wäre es unzutreffend zu meinen, er habe sich in einem unverbindlichen, mehr schicksalhaft gemeinten Sinn nicht als Deutscher gefühlt. Meist geschieht das etwa im Briefwechsel mit Voltaire in dem Sinne einer Versicherung, er sei nur ein plumper, französischen Finessen oder sogar Raffinessen unzugänglicher Deutscher. Gelegentlich wird dieses Problem aber vertieft. Die Ode aux Germains, entstanden in der bedrückendsten Zeit des Siebenjährigen Krieges im März 1760 während des Winterlagers im sächsischen Freiberg, macht deutlich, daß die politische Bewußtseinsstruktur des Königs nicht entlang einer Spaltung zwischen Deutsch und Französisch, sondern ausschließlich zwischen Deutsch und Preußisch verstanden werden muß. Diese Ode geht aus von der Klage über die deutschen Bürgerkriege (guerres intestines). Sie haben Deutschland verwüstet und in Barbarei gestürzt. Dies ist wohlgemerkt während eines solchen Bürgerkriegs gesagt. Es ist viel rhetorische Phraseologie in dieser Ode, wie in den meisten Poemen Friedrichs, so die Klage über die Anwerbung fremder Söldner, an der sich Preußen bekanntlich in drastischem Maße selbst beteiligt hat, ebenso wie an den Bündnissen mit fremden Mächten, die der König aufführt: Franzosen, Schweden und Russen. Davor ist er ebenfalls nie zurückgeschreckt. Wichtig erscheint mir, daß in diesem Poem der Gedanke ausgesprochen wird, die Preußen könnten dieses zerrissene Land Deutschland verlassen und sich anderswo eine bessere Heimat suchen: „Partez, partez, Prussiens, et quittez cette terre Sous un ciel plus heureux cherchons une entrée.." Der Gedanke wird zwar verworfen, ohne daß die Alternative klar wird; aber interessant ist, daß er überhaupt auftaucht. Friedrichs politisches Bewußtsein ist, das geht aus dieser wie aus unzähligen anderen Quellen hervor, ausschließlich staatsbezogen. Die Preußen als Staatsvolk sind es, an die er sich als eine Art selbständige Nationalität richtet, wenn dieser für das 18.Jahrhundert unzeitgemäße Begriff erlaubt ist. Für Preußen war Friedrich tat-
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sächlich eine Integrationsfigur, die Preußen waren es auch, die ihm nach dem 2.Schlesischen Krieg beim Einzug in Berlin, Ende Dezember 1745, den Titel „der Große" verliehen. Die näheren Umstände, die Regie und die Regisseure dieser mit einem feierlichen triumphartigen Adventus verbundenen Proklamation dieses Beinamens sind nicht geklärt. Aus Beschreibungen geht allerdings eindeutig hervor, daß die Beteiligung der adligen Oberschichten an diesem Akt offenbar nicht besonders groß war: das Wort .Fridericus Magnus' wird von einer Kompanie berittener Kaufmannschaft ausgesprochen, die Illuminationslisten mit ehrenden Attributen des Königs wie ,Pater Patriae', .Terror histium' und immer wieder .Magnus' zählen überwiegend Gebäude von Handwerkern und bürgerlichen Familien auf. 3. Das dritte Problem stellt sich in Friedrichs Stellung zum Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. Hier lassen sich zwei zeitliche Phasen unterscheiden: Einmal die erste des Versuchs, ein von Preußen abhängiges Kaisertum zu schaffen und damit hegemoniale Reichspolitik zu treiben. Und dann die zweite in der Form föderativer Reichspolitik, die aus der Tradition der Reichsassoziationspolitik hergeleitet werden kann: gemeint ist der Fürstenbund von 1785. In dem Maße, in dem die Länder der preußischen Monarchie vor allem durch die administrativen Reformen Friedrich Wilhelms I. zusammenwuchsen, steigerte sich das Bewußtsein selbständiger Staatlichkeit. Es vertrug sich bei Friedrich Wilhelm I. noch ungezwungener mit Reichstreue und Loyalität zum Kaiser, wandelte sich bei seinem Nachfolger aber zu Indifferenz, ja zu Feindseligkeit. Darin steckte bei Friedrich II. anfangs wohl mehr voltairianische Abneigung gegen veraltetes und überlebtes Mittelalter, Herrschaft des Aberglaubens und des Pfaffentums als politische Erwägungen. Erst allmählich wurden diese Empfindungen Friedrichs in politisches Kalkül übersetzt. Dann rückte das Reich in die Funktion eines Manövrierfeldes für Verschiebungen von Macht und Mächten ein, auf dem sich Preußen und Österreich als gleichrangige Gegner gegenüberstanden. Der König von Preußen sah im Heiligen Römischen Reich weder eine übergeordnete noch eine ebenbürtige Macht, auch nicht eine nationale Gesamtform der Deutschen, sondern ein zu eigenen Entscheidungen unfähiges, passives System kleinerer Staaten, ein Gebilde sui generis, aus dem sich zwei Mächte von europäischem Rang heraushoben. Friedrich machte weder einen ernsthaften Versuch, dieses System zu zerstören, noch sich von ihm zu lösen. Er nutzte es für seine Zwecke und wandte dabei die kontrastreichsten Mittel an. Keiner europäischen Macht gegenüber hat er sich so widerspruchsvoll verhalten wie zum Reich, und doch ist seine Reichspolitik in sich völlig konsequent gewesen; sie entbehrte jeder nationalen oder reichischen Gefühlsmomente und diente ausschließlich den preußischen Staatsinteressen. So weit wie er war darin noch kein Reichsfürst gegangen. Eben aus diesem Grunde ist er einer Verlockung nie gefolgt: Es ist so gut wie sicher, daß er niemals danach strebte, selbst die Kaiserwürde zu gewinnen. Diese Möglichkeit bestand theoretisch nach dem Tode Kaiser Karls VI. im Oktober 1740. Damals schrieb Voltaire dem König: „Sie sind im Begriffe einen Kaiser zu küren oder einer zu sein. Es wäre durchaus gerecht, wenn der, der den Charakter eines Titus, Trajan, Antonin und Julian besitzt, auch ihren Thron bestiege." Das scheint nicht nur eine Form der Schmeichelei gewesen zu sein, denn andere, Friedrich näherstehende Männer: Fürst Leopold von Dessau, selbst der von Natur zum Zaudern neigende Minister Podewils, dachten ähnlich. Friedrich hat aber
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selbst eine solche Idee abgelehnt. Erst in seinem Testament von 1752 gab er die Gründe dafür bekannt: ein König von Preußen müsse mehr sich darum bemühen, eine Provinz zu erobern als sich mit einem leeren Titel (vain titre) zu schmücken. „Eure erste Sorge sei", schärfte er dem Thronfolger ein, „den Staat auf den Gipfel der Größe zu führen, dessen Idealbild ich Euch gezeigt habe. Erst dann dürft Ihr der Eitelkeit opfern (sacrifier à la vanité), wenn Ihr Eure Macht für die Dauer begründet habt." Anders als der Königstitel von 1701, der auch ein Werk der Eitelkeit war, stellte für ihn der Kaisertitel kein Stimulans für politische Größe dar. Der neue auf reale Macht gegründete Staat bedurfte nicht der Dekoration mit einer Würde, die keine Autorität schuf, aber eine solche voraussetzte. Das war die Lehre, die Friedrich 1752 aus dem gescheiterten Kaisertum des Wittelsbachers Karl VII. zog, an dessen Schöpfung und Stützung er so sehr beteiligt gewesen war. In der ersten Phase seiner Reichspolitik erschien Friedrich in der höchst paradoxen Rolle des Protektors eines von ihm mitgeschaffenen, hilflosen und ohnmächtigen Kaisers, des ersten seit Jahrhunderten, der nicht aus der Dynastie der Habsburger stammte und geradezu als Gegenmacht gegen die Habsburgerin Maria Theresia gedacht war. „Seine Erhebung hätte ein bedeutendes Ereignis für Deutschland werden können", so Ranke, aber es blieb eine Episode. Der König bediente sich der verschiedensten, oft sich widersprechenden Mittel, um den neuen Kaiser, der seiner politischen Funktion nach eigentlich ein Gegenkaiser war, mit Macht und Autorität auszustatten. Er trat nicht mehr als Reichsstand auf, der nach den Artikeln des Westfälischen Friedens das ius territoriale verteidigt, sondern wie eine auswärtige'Macht, die in die Verfassung des Reiches eingriff, das Kaisertum wohl nicht für sich in Anspruch nahm, aber sich dessen äußeren Ansehens bemächtigte und einem Schattenkaiser dessen Belastungen überließ. Er ließ sich zuerst darauf ein, die großen Teilungsprojekte der österreichischen Monarchie zu unterstützen, wie sie von Sachsen und Bayern betrieben wurden, und dem Wittelsbacher den Besitz von Böhmen zu garantieren, wo dieser sich bereits mit französischer Hilfe festgesetzt hatte. Böhmen und Bayern hätten die ausreichende Basis eines wittelsbachischen Imperators geboten. Als das Kriegsgeschehen solchen ausgreifenden Gebietsveränderungen ein baldiges Ende bereitete, zog sich der König von Preußen aus dem Kriege zurück, um für sich Schlesien zu retten. Noch gab er aber nicht auf, dem unglücklichen Karl VII., der aus seinen Stammlanden vertrieben, Frankfurt zu seiner provisorischen Residenz gemacht hatte, mit anderen Mitteln eine territoriale Grundlage zu verschaffen. Schon vor dem Breslauer Frieden ist im preußischen Kabinett ein Gedanke aufgetaucht, der im Zuge der reformatorischen Umwälzungen in ganz anderem Sinne Anwendung gefunden hatte und seither nie ganz aus der Diskussion verschwunden war: Friedrich regte die Säkularisation geistlicher Stifter wie der Bistümer Eichstädt, Freising, Regensburg, Augsburg und Salzburg an, dazu die Mediatisierung einer Reihe oberdeutscher Reichsstädte, um das bayrische Stammland des Kaisers in ansehnlichem Umfang zu vergrößern. Dieser Vorschlag erregte, als er durch Indiskretionen bekannt wurde, einen Sturm der Entrüstung bis hinauf zum Papst; in ihm zeigte sich eine fundamentale Verkennung der inneren Voraussetzungen, auf denen das alte Reich mit seinem halb sakralen Charakter ruhte. Dafür hatte der Aufklärer Friedrich kein Organ; in den großen politischen Analysen seiner Geschichtswerke und Testamente hielt er es meist gar nicht für nötig, auf die
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geistlichen Fürstentümer einzugehen, nachdem er über sie im 11. Kapitel seines Antimachiavell eine vernichtende Kritik geschrieben hatte. Immerhin meinte er noch im ersten Politischen Testament, die Zeit, wo man sie säkularisierte, sei vorüber, jetzt würden sich der Papst und alle Katholiken dem widersetzen, auch möchte kein katholischer Fürst sie besitzen. Es war dies genau die Schilderung dessen, was vorher eingetroffen war: Kaiser Karl selbst lehnte die ihm angebotenen Danaergeschenke ab, deren Beschaffung ihm zu Unrecht selbst zur Last gelegt worden war. Letztenendes hat der Säkularisierungsplan nur die moralische Position der Habsburger gestärkt, zu deren traditioneller Klientel die geistlichen Stifter gehörten, die sich nun deren Hilfe zu versichern suchten. Friedrich hatte keine glückliche Hand, wenn er auf dem Boden der ihm wesensfremden Reichspolitik agierte. Er griff entweder seiner Zeit weit voraus wie bei dem Säkularisierungsprojekt oder er hantierte mit abgenutzten Instrumenten wie der Idee einer Reorganisation der Reichsarmee, die mit Hilfe einer Assoziation von Reichskreisen vorgenommen werden und dem Kaiser Beistand leisten sollte. Sie sollte unter dem „Deckmantel" einer Neutralitätsarmee, wie Friedrich in seinen Memoiren selbst schrieb, dem König von Preußen Gelegenheit geben, sich zum militärischen Führer der Reichstruppen aufzuwerfen und den Titel ihres immerwährenden Generalissimus (lieutenant-général á perpétuité des troupes de l'Empire) anzunehmen. Das wäre eine Form der Reichsreform gewesen, die dem preußischen Militärstaat eine Vormachtstellung gegeben und eine Art „erbliches Majordomat" geschaffen hätte. )r Aber der Plan scheiterte", liest man in der „Geschichte meiner Zeit", „an der knechtischen Furcht der Reichsfürsten vor dem Hause Österreich", mit anderen Worten: an den überlieferten Abhängigkeitsverhältnissen der deutschen Kleinstaaten von der Wiener Hegemonie im Reich, die leichter zu ertragen war als eine preußische, hinter der man zu alledem noch eine französische Regie befürchtete. Von einer französischen Mitwirkung, mindestens in Form von Subsidienzahlungen, ging der König in der Tat aus. Es führte kein Weg daran vorbei: für ein antihabsburgisches Gegenkaisertum unter preußischem Schutz war kein Platz, ohne daß das Reich in seinen Grundfesten erschüttert wurde. In der großen Auseinandersetzung zwischen Habsburg und dem zur Großmacht aufsteigenden Preußen mußte der Kampf direkt, auf europäischer Ebene, ausgetragen werden. Das Reich blieb Nebenschauplatz und rückte nur in den letzten Lebensjahren Friedrichs an die erste Stelle, als die preußischen Bündnismöglichkeiten erschöpft waren. Der Assoziationsplan war nur eine kurze Episode. Der König verzichtete bald auf alle, zuweilen ans Phantastische grenzenden Pläne seiner bisherigen Reichspolitik, begnügte sich damit, Schlesien zu behaupten und überließ nach dem Tode des unglücklichen und unfähigen Karl VII. (20.Januar 1745) das Kaisertum wieder der mit ihm historisch verwachsenen habsburgischen Monarchie. Damit ist eine Periode der Reichspolitik Friedrichs II. abgeschlossen, die an großen inneren Widersprüchen gelitten hatte. Daß ein Reichsstand, der nicht nur territorial, sondern auch durch seine politisch-staatliche Struktur über das Reich längst hinausgewachsen war und als europäische Macht fungierte, sich des Kaisertums und des Reiches als Mittel zum Zwecke der eigenen Macht bediente, war im Grunde ein unvereinbarer Gegensatz und wurde von Friedrich niemals mit letztem Ernst betrieben. Als Aufklärer, ja schon als protestantischer Reichsfürst, als Beherrscher eines auf administrative und militärische Effizienz gerichteten Staatswesens
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war der König von Preußen eher auf die Rolle eines die Fesseln des Reiches sprengenden Rebellen zugeschritten und wurde als solcher schon in seiner Zeit mit Heinrich dem Löwen verglichen. In der Tat ist Friedrich in dieser Rolle populär geworden, ein Wort, das man hier bewußt gebrauchen kann: Bei dem Vollzug der gegen den König vom Reichstag in Regensburg erklärten Reichsacht stieß die aus kleinen und kleinsten Kontingenten zusammengesetzte Reichsarmee, zusammen mit den zahlenmäßig weit überlegenen Franzosen, bei Roßbach am 5.November 1757 auf die preußische Armee: Franzosen und Reichsarmee wurden vernichtend geschlagen ohne einen übermäßigen strategischen Aufwand des Königs von Preußen. Dieser Sieg gilt als der Höhepunkt der Volkstümlichkeit Friedrichs in der deutschen Öffentlichkeit, und er war dies in erster Linie als Sieg über die Franzosen. Dies trifft wohl in gewissem Grade auch für die nicht-deutsche Öffentlichkeit zu. Voltaire schrieb danach: ,Jetzt hat er alles erreicht, was er immer sich ersehnt hat: den Franzosen zu gefallen, sich lustig über sie zu machen und sie zu schlagen ... Für die Franzosen im Ausland ist gegenwärtig keine gute Zeit. Man lacht uns ins Gesicht, als wären wir die Adjutanten des Herrn von Soubise gewesen." Man muß fragen, wo die deutschen Zeugnisse für eine nationale Hochstimmung zu suchen sind, die man auf dem Hintergrund einer hundertjährigen, fast ununterbrochenen Überlegenheit der französischen Kriegführung seit den Tagen Ludwigs XIV. sehen müßte. Wir haben eine Quellen-Kategorie in den sogenannten historischen Volksliedern, die auf deutscher und österreichischer Seite im 19.Jahrhundert gesammelt und ediert worden sind. Über Roßbach gibt es zahlreiche; interessant ist es, daß sie in fast gleicher Zahl Spottlieder auf die Franzosen und ihren Befehlshaber Soubise und Spottlieder auf die Reichsarmee sind: die Reichsarmee, die sich ihren Ruhm im Laufen erworben hat; andererseits die Reichsarmee als Opfer der Franzosen: „Der Franzmann nahm euch alles weg, So saß die Reichsarmee im Dreck, Der Franzmann füllet seinen Kropf, Die Reichsarmee schleckt leeren Topf..." Diese Quellenzeugnisse zeigen eine verworrene Situation an: vom reichspatriotischen Standpunkt aus ist die Schlacht von Roßbach ein bedauernswertes Ereignis. Es konnte aber auch wenigstens stimmungsmäßigen Auftrieb geben, wenn man bedachte, daß es dazu beitrug, die Abhängigkeit der Reichspolitik von Frankreich zu vermindern. Das Verhältnis zu Preußen ist davon unmittelbar nicht berührt: daß Friedrich, d. h. Preußen, der Sieger war, wurde keineswegs in allen Soldatenliedern ausdrücklich erwähnt. Nirgends erscheint der König von Preußen als nationaler Befreier. In den Schlesischen Kriegen, einschließlich des Siebenjährigen, hatte Preußen noch um eine machtpolitische Ebenbürtigkeit gekämpft. Seither bemächtigte sich der kleinen und mittleren Reichsstände eine wachsende Unruhe; sie verfolgten das Ziel, sich als dritte Kraft durch Assoziation zu konstituieren, eine Tendenz, die noch ins 19.Jahrhundert hineinwirkte, sich aber niemals durchsetzen ließ. Fürstenbundpläne sind zuerst in Kreisen der kleinen Reichsstände entwickelt worden: von Carl August von Weimar, Franz von Anhalt-Dessau und Karl Friedrich von Baden, denen sich der Zweibrücker Herzog Karl August, der nächste Erbe des
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Wittelsbacher Gesamthauses, anschloß. Hier lebte neben kleinstaatlichem Selbsterhaltungsdrang echte reichspatriotische Gesinnung, die im kaiserlichen Österreich Josephs II. mehr und mehr durch einen großstaatlichen Rationalismus verdrängt wurde. Im Preußen Friedrichs II. hatte sie ohnehin keinen Platz. Die treibende Kraft der Kleinen war anfangs der leitende Minister des Markgrafen Carl Friedrich von Baden, Wilhelm Freiherr von Edelsheim, der im November 1783 eine Denkschrift über eine Fürstenunion unter preußischer Garantie, aber ohne Preußen und Österreich, ausarbeitete. Z u ihren Kernsätzen gehörte die Gewährleistung des Besitzstandes der Reichsstände, aber auch reformerische Vorstellungen von der Aufstellung eines gemeinsamen Heeres. Von diesen Projekten hatte Friedrich der Große zunächst keine Kenntnis; sein Interesse an Assoziationsplänen erwachte erst richtig, als Kaiser Joseph erneut den Versuch unternahm, seinen großen Plan eines Tausches der wittelsbachischen Länder gegen die österreichischen Niederlande wiederaufzunehmen und dafür den hochverschuldeten Herzog von Zweibrücken durch ein auch finanziell attraktives Angebot zu gewinnen. So wenig Friedrich über diese Einzelheiten unterrichtet war, er sah die Dinge nicht als Reichsfürst, sondern im Zusammenhang der europäischen Politik, und er sah sie im düstersten Lichte. Seit der Mitte seines Lebens, seit dem Entscheidungsjahr 1756, wurde er von Ängsten um den Bestand Preußens geplagt, dessen relative Schwäche ihm immer bewußt war. Aber die Ängste seiner letzten Lebensjahre waren Existenzängste persönlicher Art. Es war die Sorge der Zukunft Preußens unter einem schwachen, von ihm geringgeachteten Nachfolger. War es möglich, dies Zukunft zu sichern? Nachdem alle Abstützungen der preußischen Machtstellung durch Verbündete ins Wanken gekommen waren, zuletzt auch das Bündnis mit Rußland hinfällig wurde, erschien ein Bund der Reichsfürsten als letzte und alleinige Möglichkeit, Preußen zu sichern. So hat man den Fürstenbund auf der einen Seite lediglich als das Eingeständnis einer außenpolitischen Ausweglosigkeit bezeichnen wollen, auf der anderen als grundsätzliche Abkehr von einer preußischen Machtpolitik zu einer neuen, nationaldeutschen Politik. Aber so einfach ging die Rechnung nicht auf. Die Wendung zurück zu der geringgeschätzten Welt der Reichsfürsten und zu einem Bund mit denen, die früher zum Teil seine erbitterten Feinde waren, konnte kein Mittel sein, um sich aus den Verstrickungen in das europäische Mächtesystem zu lösen, aber sie konnte in Preußens nächster Umwelt Ruhe schaffen, ja das Gewicht Preußens erhöhen und es wenigstens im Reiche zu einem Gegengewicht gegen die sich ausbreitende Kaisermacht werden lassen. Daraus erklärt sich der von vornherein defensive Charakter der Fürstenbundspolitik des alten Friedrich des Großen. Der Fürstenbund, der formell als Assoziation der drei kurfürstlichen Höfe von Sachsen, Brandenburg und Braunschweig-Lüneburg am 23.Juli 1785 unterzeichnet wurde, folgte ganz dem preußischen Konzept und proklamierte „die constitutionsmäßige Erhaltung des deutschen Reichssystems und der Reichsständischen Gerechtsame nach den Reichsgesetzen und Reichsfriedensschlüssen", von denen die Westphälischen Friedensschlüsse und die kaiserliche Wahlkapitulation ausdrücklich genannt wurden. Das war eine allgemeine Verwahrung zugunsten von Rechten, von denen man nicht eigentlich sagen kann, daß sie durch die kaiserliche Politik unmittelbar verletzt worden waren. Einen neuralgischen Punkt der josefini-
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sehen Reichspolitik berührte es aber, -wenn für die allgemeine Reichsversammlung, den Regensburger Reichstag, eine „beständige Tätigkeit und Fortgang" gefordert, „ordnungsgemäße Beratschlagung und Conclusa" verlangt und „keine Neuerungen oder unbefugte Einmischungen und Willkürlichkeiten" geduldet werden sollten. Das war ebenso gegen kaiserliche Übergriffe gerichtet wie die Forderung nach Erhaltung der Reichsgerichte „bei derer gesetzmäßigen Ordnung und Einrichtung". Es enthielt eine Warnung „vor unbefugten Eingriffen" der Gerichte, namentlich des Reichshofrats in die Gerechtsame der geistlichen und weltlichen Stände und davor, daß sie „der gesetzgebenden Gewalt zu nahe treten". Was alles damit gemeint sein konnte, den Kern der Sache trifft es erst, wenn die Kurfürsten sich zu gemeinsamem Widerstand „gegen widerrechtliche eigenmächtige Ansprüche und gegen jede willkürliche aufgetragene Zumutungen" verpflichteten. Freilich bleibt diese Verpflichtung beschränkt auf Maßnahmen „auf reichsinstitutionsmäßige Weise, es sei durch Widerspruch, Verwendung, bona officia, Gegenvorstellungen, Benachrichtigung anderer Reichsständischer von der Gefahr, Aufforderung der Reichsversammlung, Veranlassung einer Abmahnung vom gesamten Reiche und dergleichen". Es ist das Dickicht formalrechtlicher Mittel, das die Reichspolitik so undurchdringlich und zugleich unwirksam gemacht hat; von militärischen Beistandsverpflichtungen ist nur in einem „Geheimsten Artikel" in der vorsichtigen Formulierung „Anwendung tätiger Kräfte" die Rede. Bei einem Austausch oder einer widerrechtlichen Okkupation von Bayern oder „anderen reichskonstitutionswidrigen Unternehmungen" sollte der casus foederis eintreten, aber nur zur wechselseitigen Verteidigung des Vertragspartners war die „tätige Hilfe" auf 15000 Mann für jeden Verbündeten festgelegt. Aber bestand Aussicht für die Erfüllung solcher Verpflichtungen bei der Halbherzigkeit, mit der allein Sachsen sich angeschlossen hatte? Wieweit man von einer politischen Wirkung des Fürstenbunds wird sprechen können, ist eine fast hypothetische Frage angesichts seiner kurzen Lebensdauer. Immerhin hat er die österreichische Politik in einige Verwirrung gestürzt und sie möglicherweise von einer weiteren Verfolgung des Tauschprojekts abgehalten. Für Preußen stellte er eine Art Überbrückung der als Risikophase geltenden Zeit nach dem Tode Friedrichs des Großen dar. Daß in dieser Risikophase jemals die Gefahr eines Angriffs auf die preußische Monarchie bestand, muß man allerdings verneinen. Auf die Dauer hätte Preußen mit dem Fürstenbund auch bei seiner längeren Lebensdauer niemals den Gefahren standhalten können, die ihm bevorstanden und denen es zwanzig Jahre später zum Opfer fiel. Erhaltung als leitendes Prinzip genügte hierzu nicht, dazu hätte es einer vollständigen Umgestaltung bedurft. So ist wohl die stärkste Wirkung des Fürstenbundes in der Bewegung der Gefühle und Mentalitäten zu sehen, die er ausgelöst hat. Ihm kommt, wie Friedrich dem Großen, eine besondere Stellung in der verwickelten Geschichte des deutschen Nationalbewußtseins zu. In begrenztem Umfang kannte das 18.Jahrhundert bereits eine mit westlichen Ländern allerdings nicht vergleichbare, selbständig wirkende öffendiche Meinung, die wohl behindert war durch die Zensur und unzulängliche technische Mittel, vor allem eine schwach entwickelte Presse für die Information breiterer Kreise, aber sich schon in kritischen Momenten als eigene Kraft geltend machte. Weit wirksamer war jedoch die publizistische Beeinflussung durch Regierungen und Höfe und die von ihnen gekauften Helfer, die mit einer
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Fülle von Abhandlungen und Flugschriften die Öffenüichkeit überschwemmten. Politische und rechüiche Kontroversen wurden in ihnen, allein sprachlich nur einem beschränkten Kreis verständlich, ausgetragen. Friedrich der Große lernte dieses Handwerk der Politik auch erst im Laufe seiner Regierungstätigkeit, beherrschte es aber bei Ausbruch des Siebenjährigen Krieges schon vollständig. In seinen letzten Jahren hatte er hierin einen des Schreibens kundigen Gehilfen in dem Außenminister Graf Hertzberg, dessen zahlreiche, auch noch aus der Ära Friedrich Wilhelms II. stammenden Abhandlungen später in mehreren Bänden gesammelt erschienen sind. Alle diese Schriften sind offiziöse Literatur: sie verteidigten Standpunkte und Rechte und wirkten kaum über den engeren Kreis der kleinen politischen Führungsschicht Preußens hinaus; genauso galt dies für die Gegenschriften in Wien auf der anderen Seite. Die publizistische Auseinandersetzung war ein Kampf der politischen Experten, sozusagen halböffentliche diplomatische Diskussionen, an denen selbst die interessierten oberen Schichten nur wenig Anteil nahmen. Indessen ging auch von den Ereignissen selbst eine eigenartige Faszination aus. Wenn Friedrich irgendwann zu seinen Lebzeiten nationale Empfindungen auch im nichtpreußischen Deutschland erregt hat, so war es nach Roßbach und beim Abschluß des Fürstenbunds. Daß es sich bei diesem zweiten Anlaß um ein grandioses Mißverständnis seiner Absichten gehandelt hat, ist letztenendes nur den wenigen Mithandelnden an den kleinen Fürstenhöfen zum vollen Bewußtsein gekommen, die wie Carl August von Weimar und sein Minister von Goethe sich dem reinen preußischen Machtdenken des Königs und seiner Minister gegenübergestellt sahen. Für alle anderen trug das Fürstenbundereignis dazu bei, daß der in den kleineren Reichsständen noch lebendige Reichspatriotismus sich mit einem neuen Nationalgeist bürgerlich-intellektueller Schichten verband und daß diese Amalgamierung sich durch die Erscheinung König Friedrichs vollzog. Er war der Mann, der durch seine Taten, und keinesweg durch seine Gesinnung, ein deutsches Selbstgefühl geweckt hatte, dem noch feste politische Konturen fehlten. Diese Funktion eines nationalen Friedrich-Mythos (des Fürsten, der anstelle des verblaßten und integrationsunfähigen Kaisertums eine Erneuerung des Reiches herbeiführen sollte) ist, allerdings wohl nur in begrenzten Kreisen, niemals so deutlich geworden als während der Jahre des Fürstenbunds. Damals dichtete Christian Friedrich Daniel Schubart als Gefangener auf dem Hohenasperg seinen Hymnus „Friedrich der Große" und würdigte in dithyrambischen Worten den Fürstenbund: „Er wog im Verborgnen die Rechte der Fürsten, Auch hieng er furchtlos die Wagschaal ans Schwerdt, Da drangen sich Teutoniens Fürsten In Friedrichs Felsenburg, wo der Riese Sinnt auf dem eisernen Lager. Sie boten ihm die Hand, und nannten ihn Den Schützer ihrer großen Rechte, sprachen: „Sey unser Führer, Friedrich Hermann!" Er wollt's. Da ward der teutsche Bund." Hier verdichten sich Sehnsüchte zu einem Wunschbild, das in der Wirklichkeit nie existierte. Aber damit ist weniger über Friedrich den Großen ausgesagt als über
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Stimmungen, die seine Erscheinung in der deutschen Öffentlichkeit auslöste: bei einem beschränkten Kreis von klein- und mitteldeutschen Beamten, einem Teil der bürgerlichen Intelligenz. Dagegen schlug diese Stimmung nie auf die Unterschichten durch, wie wir es aus den sogenannten historischen Volksliedern wissen. Solche Stimmungen waren beim Abschluß des Fürstenbundes auf einem Höhepunkt angelangt und lassen sich an dem Grad der Enttäuschung ermessen, die nach dem Tode des Königs und beim Ende der Hoffnungen auf eine Fortentwicklung der Fürstenunion eintrat. Der Fürstenbund, schrieb der Historiker Johannes von Müller im Jahre 1787, möge nie vergessen, „daß nicht seine Existenz das Nationalglück macht, sondern seine Tätigkeit". Noch in der im Jahre darauf erschienenen Schrift „Teutschlands Erwartungen vom Fürstenbund" liest man: „Wenn die teutsche liaison zu nichts Besserem dienen soll, als den gegenwärtigen status quo der Besitzungen zu erhalten, so ist sie unter den mancherlei politischen Operationen, die in Teutschland vorgenommen werden, wirklich die uninteressanteste." Der Gedanke, daß die Erben Friedrichs des Großen dessen eigentliche Absicht, den Fürstenbund als ein Mittel der nationalen Reform zu begründen, vernachlässigt hätten, hielt sich hartnäckig bis in die Zeit der nationalen Bewegung in der Jahrhundertmitte. Der Historiker Adolf Schmidt, ehemaliges Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung, veröffentlichte im Jahre 1850 sein Buch „Preußens Deutsche Politik", das die Brücke schlug zu der preußisch-deutschen Politik zwischen 1848 und 1871. Der tiefere, der eigentliche Zweck des Fürstenbundes sei gewesen, „den Bund selbst an die Stelle des Reiches treten zu lassen, Deutschland unter preußischer Leitung neu zu konstituieren". So hat der Fürstenbund von 1785 einen entscheidenden Beitrag zur Entstehung des nationaldeutschen FriedrichMythos geliefert, der sich weit von der Realität der friderizianischen Politik entfernt hatte. Der erste Test auf die Tragfähigkeit der These, Friedrich der Große könne als nationaldeutsche Integrationsfigur im 18.Jahrhundert gelten, muß mit negativem Ergebnis abgeschlossen werden. Ein zweiter Versuch soll uns auf das Gebiet der Literatur führen und damit auf das Feld, auf dem sich zuerst nationales deutsches Kulturbewußtsein gezeigt hat.
II. Friedrich II. von Preußen spielt in der deutschen Literatur als Autor keine Rolle; er hat sich nur durch eine einzige Schrift über die deutsche Literatur geäußert. Sie erschien Ende November 1780 bei L. J. Decker in Berlin unter dem umständlichen Titel ,De la littérature allemande; des défauts qu'on peut lui reprocher; quelles en sont les causes; et par quels moyens on peut les corriger*. Man vergegenwärtige sich, daß im Jahre 1780 die deutsche Aufklärung ihre Höhe erreicht hatte : Lessings Nathan der Weise, in dem die Toleranzidee und der Humanitätsgedanke der deutschen Aufklärung gipfelte, wurde 1779 veröffentlicht. Im gleichen Jahre wie Friedrichs Schrift erschien Lessings Abhandlung „Die Erziehung des Menschengeschlechts". Friedrich Nicolai, der die Rolle eines geistigen Organisators der Berliner Aufklärung spielte, hatte seine „Briefe die Neueste Litteratur betreffend" bereits in der Mitte der 60er Jahre abgeschlossen. Seither war er
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der unbeugsame Wächter und Warner vor dem heraufkommenden Irrationalismus. Lessings Freund Moses Mendelssohn begann 1780, seine Übersetzung des Pentateuchs zu schreiben. Jedoch war diese dünne geistige Schicht der deutschen Aufklärung bereits unterlaufen von dem Ansturm der irrationalen Bewegung, die ihre erste Sturm- und Drang-Phase abzuschließen begann und zu einer neuen Synthese von Aufklärung und Humanismus strebte: Johann Georg Hamann und Johann Gottfried Herder waren dabei, für den neuen Irrationalismus die theoretischen Grundlagen zu schaffen und hatten wesentliche Beiträge dafür schon geliefert. 1778 erschienen Herders .Stimmen der Völker in Liedern*. 1779 vollendete Goethe die Niederschrift der ersten (Prosa-)Fassung der Iphigenie, die das Thema der Humanität in den Mittelpunkt rückte und damit eine Versöhnung mit der Aufklärung einleitete. Über alle diese stürmischen Vorgänge, die eine immer breitere Öffentlichkeit in ihren Bann zogen, sagt der Verfasser der Schrift ,De la littérature allemande' nichts. Einzig Goethes ,Götz von Berlichingen' wird erwähnt, der zuerst 1774 in Berlin durch eine Wandertruppe aufgeführt worden ist, worüber der König wohl etwas erfahren hatte. Der ,Götz' aber ist für ihn lediglich „eine scheußliche Nachahmung der schlechten englischen Stücke" Shakespeares, ein Beispiel „abgeschmackter Plattheiten", so wie er von Shakespeares Dramen als „fürchterlichen Stücken" spricht. Er überblickt nicht die ganze literarische Szene, auf der sich dieses Einzelereignis abspielt, es war ihm nur zufällig zu Ohren gekommen. Der alte König war bei dem Literaturverständnis stehengeblieben, wie er es sich in der Kronprinzenzeit während der Bildungsjahre in Rheinsberg erworben hatte, und sah nicht mehr über den ästhetischen Kanon der französischen Tragödie des 17.Jahrhunderts, Racines und Corneilles, und den galanten Stil der literarischen Kritik des 18.Jahrhunderts hinaus, dessen unerreichter Gipfel für ihn Voltaire gewesen ist. Die Wandlungen, die im französischen Geistesleben vor sich gingen, beachtete er wohl, aber lehnte sie radikal ab, wie das Beispiel Rousseaus zeigt. Es war eine Form der Erstarrung, die sich aus der besonderen Lebensgeschichte Friedrichs ergeben hat: Die französische Bildungswelt mit ihrem Gipfel Voltaire, in der er immer noch lebte, hatte er sich als junger Mensch angeeignet, um sich gegen den brutalen Erziehungsversuch seines Vaters immun zu machen. In den nicht weniger brutalen Eingriffen seines späteren Schicksals gab ihm diese Welt einen letzten Halt, den er nicht aufgeben konnte und wollte. Er hielt sich von Erschütterungen fern, die ihm bei aller seiner Sensibilität neue geistige Bewegungen bereitet hätten. Diese psychologische Deutung bedeutet keine Entlastung, aber eine Erklärung. Die Literatur-Schrift Friedrichs des Großen hatte ein gewaltiges Echo, was allein schon durch die Persönlichkeit ihres Verfassers hervorgerufen wurde. W o war schon ein regierender Fürst, der sich anmaßte, als Zensor und Diktator des Geschmacks aufzutreten? Lessing war es, der ihm vorhielt, daß der König „nicht auch Despote des Geschmacks und der Wissenschaften" hätte sein sollen. Aber dieser Gedanke ist in den zahlreichen Gegenschriften nicht eigentlich das Hauptthema, sondern es ist die Betroffenheit einer Schicht von Literaten, Gelehrten und Intellektuellen, die sich in ihrem noch jungen Selbstbewußtsein verletzt fühlten, und dies ausgerechnet von dem Manne, der ihnen unter den regierenden Fürsten am nächsten zu stehen schien. Jetzt stellte sich heraus, daß er sie mißachtete, ja überhaupt übersah; selbst glühende Verehrer des Königs wie Ramler und Gleim wur-
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den nicht erwähnt. Die grundsätzlichen Differenzen aber hat keiner so klar gesehen wie der alte Justus Moser, der Osnabrücker Geschichtsschreiber und große Anreger für viele der jungen Generation des Sturm und Drangs, namentlich für Goethe. Moser hat das ganze Konzept des Königs für falsch erklärt: das Nachahmen fremder Nationen teile den innerlichen Fehler aller Kopien, „die man um deswillen geringer als ihre Originale schätzt, weil der Kopist natürlicherweise immer mehr oder weniger ausdrückt, als der rechte Meister empfunden hat; es macht uns unwahr..." Der richtige Weg wäre, daß wir „durchaus mehr aus uns selbst und aus unserem Boden ziehen, als wir bisher getan haben, und die Kunst unserer Nachbarn höchstens nur insoweit nutzen, als sie zur Verbesserung unserer eigenthümlichen Güter und ihrer Kultur dient." Moser versteht Kultur als Ausdruck nationalen Lebens und nicht als ein überall gültiges Regelsystem. Er ist im Grunde ein Bewunderer Friedrichs und wird wie viele Deutsche in einen tiefen Zwiespalt der Empfindungen gestürzt. Er findet schließlich, daß der König, „wo er sich als Deutscher zeigt, wo Kopf und Herz zu großen Zwecken mächtig und dauerhaft arbeiten, größer ist, als wo er mit den Ausländern um den Preis in ihren Künsten wetteifert." Nur da, „wo es auf Verzierungen ankommt", sehe man in seinen Schriften oft die Manier des fremden Meisters. Es gehe ihm (Moser) als Deutschem nahe, „ihn, der in allem übrigen ihr Meister ist und auch in deutscher Art und Kunst unser aller Meister sein könnte, hinter Voltaire zu erblicken". Der Zwiespalt Mosers zwischen Bewunderung und Enttäuschung hatte eine über diese Situation hinausgehende Bedeutung: die Möglichkeit, daß sich die aufstehende norddeutsch-protestantische Bildungsschicht geistig mit dem aufstrebenden preußischen Staat verbündete, wurde dadurch verfehlt. Das hat gewiß weitgehende Konsequenzen für die deutsche Geschichte gehabt. Jedenfalls ist 1780 ein Abstand zwischen Geist und Staat sichtbar geworden, der nicht auf diesen Augenblick beschränkt bleiben sollte, wenn auch fünf Jahre später 1785 der Fürstenbund noch einmal die Chancen für eine Überbrückung dieser Distanz zu öffnen schien. Friedrichs Orientierung an der französischen Literatur und seine Befangenheit in ihren formalen und inhaltlichen Regeln hat nicht immer so gelassene Beurteilung gefunden wie bei Justus Moser. Sie war für viele, die im Vorhof der deutschen klassischen Literatur standen, der eigentliche Stein des Anstoßes, da ihr junges, erst in einer Entfaltungsphase befindliches deutsches Kulturbewußtsein und ihre Bemühungen um die deutsche Sprache besonders empfindlich auf Verletzungen reagierten. Für sie war Friedrich die Verkörperung der französischen Kulturdominanz, von der sie sich gerade zu emanzipieren versuchten. Ein Kronzeuge dieser Haltung ist Klopstock. Er gehörte anfänglich zu den Bewunderern Friedrichs und schrieb für ihn im Jahre 1749 ein ,Kriegslied'. In ihm war von dem „besten Mann im ganzen Vaterland" die Rede, der in der Schlacht zum Sieg führt. Dieses Lied widmete Klopstock später aus Zorn über Friedrichs französische Neigungen auf „Heinrich den Vogler" um. Das Erscheinen der Literatur-Schrift machte ihn dann vollends zum unbarmherzigen Gegner des Königs. In der Ode ,Die Rache' entlud sich sein Zorn. „Lang' erwarteten wir, du würdest Deutschlands Muse schätzen, auch so mit Ruhm dich krönen; Durch den schöneren Lorbeer Decken des andern Blut!"
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War die Antwort so, daß die deutsche Muse ihr Auge niedersenken mußte, „Und die Wang ihr Flammte vor röterer Scham", so war das letzte Wort Friedrichs unannehmbar: „.. .Dein Blatt von Deutschlands Sprache! Die, die Rache ist selbst dem Widerrufe Nicht vertilgbar; beschleiern Tust du ihn, kann er es nur." Diese auch sprachlich gekünstelten Verse waren sicher nicht angetan, Friedrichs Meinung über die deutsche Literatur zu verbessern. Sie sind im übrigen ein Zeugnis dafür, wie sehr seine kritische Schrift über die deutsche Literatur ein gereiztes Nationalgefühl erregt hat, das sonst noch unterschwellig geblieben wäre. Friedrich hat solche Wirkungen kaum wahrgenommen. Es hätte ihn vielleicht berührt, hätte er erfahren, daß Klopstock sich nach Wien gewandt hat, um dort eine nationale Gegenposition aufzubauen. Der Dichter widmete sein Drama .Hermanns Schlacht' schon 1769 Kaiser Joseph II. und entwarf Pläne für eine Akademie der Künste und Wissenschaften in der kaiserlichen Hauptstadt. Jedoch mußte er bald das Scheitern solcher Erwartungen einsehen: Joseph II. erwies sich als Schirmherr der deutschen Literatur ebenso ungeeignet, wenn auch aus anderen Gründen, als der preußische König, dem er so nachzueifern bestrebt war. Man wird aber nicht die Positionen der Vermittlung übersehen dürfen, die es damals wie später gegeben hat. Goethe hatte in seiner Jugend Friedrich bewundert. Er ist dabei trotz aller Ernüchterungen, wie er sie zuerst als Student in Leipzig und Dresden erlebte, immer geblieben. Nun war er in Friedrichs Schrift unmittelbar angesprochen worden und dies in fast verächtlicher Form, er war es sich selbst schuldig, darauf zu reagieren. Er hat diese Absicht auch ausgeführt und den Entwurf seiner Erwiderung verschiedenen ihm nahestehenden Personen geschickt. Aus einem Brief Herders an Hamann weiß man, was die Goethesche Antwort enthielt. Herder schreibt: „Ich weiß nicht, ob ich Ihnen schon gemeldet habe, daß Göthe ein Gespräch in einem Wirtshause zu Frankfurt, an der table d'hote geschrieben hat, wo ein Deutscher und ein Franzose sich über des Königs Schrift... besprechen? Er hats mir zu lesen gegeben und es sind einzelne schöne Gedanken drinn; das Ganze aber hat mir nicht gnuggethan und die Einfassung nicht gefallen. Er wills Französisch übersetzen lassen und so herausgeben, wo es sich aber nicht ausnehmen wird." Aus diesen Andeutungen entnimmt man nur, daß der Versuch Goethes sich von allen anderen Gegenschriften wenigstens in der Form unterschied. War es Ironie, mit der er in seinem Dialog vom König erwidern wollte? Jedenfalls schrieb er nicht, so wie fast alle anderen, eine akademische Streitschrift und hoffte, den König auf leichtere Weise zu erreichen und vielleicht wollte er ihm sogar beweisen, daß die Deutschen auch anders als weitschweifend schreiben können und in der Lage sind, Ideen durch Worte auszudrücken. Wir kennen nicht die Gründe für Goethes Verzicht auf eine Veröffentlichung. Daß es äußere Rücksichten auf die engen Beziehungen Herzog Carl Augusts zu Preußen und seiner Armee gewesen sein könnten, macht die Art, in der Goethe seinen Versuch in Briefen an den Herzog behandelt, so gut wie ausgeschlossen.
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Erich Kästner hat sogar gemeint, Goethe sei auf dem Wege zu neuen Kunstanschauungen gewesen und konnte deshalb seinen eigenen „Götz" nicht m e h r verteidigen. „Daß er den Dialog schrieb, zeigt, woher er jungen und vollen Herzens kam; daß der Druck unterblieb, kann als Symbol dafür g e n o m m e n werden, wohin er männlich und besonnen strebte." A m wahrscheinlichsten scheint mir i m m e r noch, daß i h n eine verhaltene Bewunderung für den König davon abhielt, diesen offen herauszufordern. Er hat zeitlebens die Autorität verehrt. So läßt sich eine Äußerung in einem Briefe an die Tochter Justus Mosers verstehen: „Wenn der König mein Stück in Unehren erwähnt, ist es mir nichts befremdendes. Ein Vielgewaltiger, der Menschen zu Tausenden mit einem eisernen Szepter führt, muß die Produktion eines freien und ungezogenen Knaben unerträglich finden. Überdies möchte ein billiger u n d toleranter Geschmack wohl keine ansprechende Eigenschaft eines Königs sein, so wenig sie ihm, wenn er sie auch hätte, einen großen N a m e n erwerben würde, vielmehr dünkt mich, das Ausschließende zieme sich für das Große u n d Vornehme. Lassen Sie uns darüber ruhig sein, mit einander d e m mannigfaltigen W a h r e n treu bleiben und allein das Schöne und Erhabene verehren, das auf dessen Gipfel steht." So fand die geistige Auseinandersetzung Goethes mit Friedrich nicht statt, so wenig es je zu einer persönlichen Begegnung g e k o m m e n ist. Das Erlebnis von 1780 hat aber lange bei Goethe nachgewirkt: Noch in d e m Alterswerk .Maximen u n d Reflexionen' findet sich ein nachdenkliches W o r t : „Daß Friedrich der Große aber gar nichts von ihnen wissen wollte, das verdroß die Deutschen doch, und sie taten das Möglichste, als Etwas vor ihm zu erscheinen." Was damit gemeint war, läßt sich aus .Dichtung und Wahrheit' entnehmen, wo der alte Goethe in d e m großen Überblick über die deutsche Literatur im 7. Buch des 2.Teils die Gegensätze in mildem, verklärtem Licht erscheinen läßt: Durch die Vorliebe des Königs für die Bildung der französischen Nation und für ihre Finanzanstalten (sc. die „Regie") sei eine Masse französischer Kultur nach Deutschland g e k o m m e n , „welche den Deutschen höchst förderlich ward, indem sie dadurch zu Widerspruch und Widerstreben aufgefordert wurden; ebenso war die Abneigung Friedrichs gegen die Deutschen für die Bildung des Literaturwesens ein Glück. Man tat alles, u m sich von dem König bemerken zu machen, nicht etwa u m von ihm geachtet, sondern nur beachtet zu werden; aber man tat's auf deutsche Weise, nach innerer Überzeugung, man tat, was man für recht erkannte, und wünschte und wollte, daß der König, dieses deutsche Rechte anerkennen und schätzen solle. Dies geschah nicht und konnte nicht geschehen; denn wie kann man von einem König, der geistig leben und genießen will, verlangen, daß er seine Jahre verliere, u m das, was er für barbarisch hält, nur allzu spät entwickelt und genießbar zu sehen?" War das Bemühen der Deutschen, d e m König von Preußen zu gefallen, also nicht umsonst? G o e t h e verweist auf ein Werk, das gewiß nicht aus diesem Antrieb entstanden ist, aber doch in einem größeren Z u s a m m e n h a n g hierher gehört, auf Lessings ,Minna von Barnhelm', „die wahrste Ausgeburt des Siebenjährigen Krieges". Sie war f ü r Goethe eine Probe auf die Richtigkeit seiner versöhnlichen Ansicht, daß „der erste wahre und höhere eigentliche Lebensgehalt" durch Friedrich den Großen und die Taten des Siebenjährigen Krieges in die deutsche Poesie gekommen sei. Dies war n u n doch wieder eine indirekte Rechtfertigung und eine wenn auch höchst vermittelte A n e r k e n n u n g einer nationalen Funktion nicht nur der friderizianischen Schrift, sondern der Existenz, ja der „Taten" Friedrichs, wie es Goethe nannte.
Die Idee kultureller Nationbildung und die Entstehung der Literatursprache in Deutschland Wolf gang Frühwald
I.
In Friedrich Schillers „Musen-Almanach für das Jahr 1796" erschien unter Goethes „Venetianischen Epigrammen" auch die Nummer 29, die Friedrich Gottlieb Klopstock sogleich zu einer heftigen Replik veranlaßte, so daß von diesem Jahr 1796 an der Streit zwischen den Weimarer Klassikern und Klopstock datierte. Goethe nämlich hatte selbstkritisch und ironisch geschrieben: „Vieles hab ich versucht, gezeichnet, in Kupfer gestochen, Öl gemahlt, in Thon hab ich auch manches gedruckt, Aber unbeständig, und nichts gelernt noch geleistet; Nur der Meisterschaft nah bracht ich ein einzig Talent: Deutsch zu schreiben, und so verderb ich unglücklicher Dichter, In dem schlechtesten Stoff, leider nun Leben und Kunst." „Mich", soll Klopstock nach der Lektüre dieses Epigramms ausgerufen haben, „mag man nach Belieben angreifen. Ich werde mich nicht vertheidigen. Aber Schmähungen der deutschen Sprache kann ich nicht dulden. Dann tadelte er den Ausdruck Talent, deutsch zu schreiben, da zwar die Fähigkeit gut zu schreiben als Sache des Talents angesehen werden könne, nicht aber die Fähigkeit deutsch zu schreiben."1 Schließlich hatte erst Klopstock die deutsche Literatursprache vom Reim- und Regelapparat des Barock endgültig befreit, hatte sie im reimlosen Vers so geschmeidig gemacht, daß er als ein die Jugend verderbender Revolutionär galt. In Goethes Vaterhaus war die Lektüre von Klopstocks Versen streng verboten, da dem kaiserlichen Rat Dr. jur. Johann Kaspar Goethe Klopstocks Verse eben „keine Verse schienen".2 Er hatte sich wohl gehütet, Klopstocks „Messias" seiner Bibliothek einzuverleiben, doch der Hausfreund, Rat Schneider, schwärzte das Buch ein „und steckte es der Mutter und den Kindern zu". Katharina Elisabeth Goethe, die 1
Vgl. dazu Friedrich Gottlieb Klopstock, Epigramme. Text und Apparat. Hrsg. von Klaus Hurlebusch. Berlin, New York 1982. S. 2 3 3 - 2 3 5 . Mag in dieser Ausgabe .der Kommentar auch gelegentlich den Text überwuchern, gegenüber einer unsachlichen Kritik, wie etwa der von Klaus Weimar, ist festzuhalten, daß in dieser ersten historisch-kritischen Ausgabe der Werke und Briefe Klopstocks Text und Apparat bis in die kleinsten Details so sorgfältig und zuverlässig gearbeitet sind, daß die Edition als musterhaft bezeichnet werden muß. Jeder, der die Texte Klopstocks nicht nur lesen möchte, sondern mit ihnen arbeitet, findet hier ein reiches, anregendes Material.
2
Goethe, Dichtung und Wahrheit. Erster Teil, 2. Buch. Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. Bd. IX. Mit Anmerkungen versehen von Erich Trunz. Textkritisch durchgesehen von Lieselotte Blumenthal. Hamburg 2 1957. S.80. Das folgende Zitat ebd.
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schon zu Lebzeiten legendäre Frau Rat, genoß mit ihren Kindern heimlich die neue, tatsächlich revolutionäre Stilkunst, und noch der wahnsinnige Hölderlin soll, in seinem Tübinger Turmzimmer auf- und abgehend, laut die Oden Klopstocks, das literarische Erlebnis seiner Jugend, rezitiert haben. Der deutschen Sprache jedenfalls schrieb Klopstock, „wenigstens in Beziehung auf die höhere Dichtkunst, eine edlere Seele" zu als der griechischen und arbeitete einer Zeit vor, in der man dies allgemein als erwiesen halten werde. So schrieb er als Antwort auf Goethes Epigramm, gleichsam im Auftrag und mit der Stimme der deutschen Sprache, jenes Distichon, das im ästhetisch-rhythmischen Vergleich mit Goethes Text dessen Klage zu bestätigen scheint; die deutsche Sprache ist bei der Bildung der kanonisierten antiken Verse anderen europäischen Sprachen (insbesondere der Romania) unterlegen: „Göthe, du dauerst dich, daß du mich schreibest? Wenn du mich kenntest; Wäre dieß dir nicht Gram: Göthe, du dauerst mich auch."3 Friedrich Gottlieb Klopstock, der nicht müde wurde, die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Sprache mit den antiken Sprachen und dem Französischen, der europäischen Gemeinsprache der Gebildeten, zu preisen, der im Grunde eine deutsche Dichtersprache erst geschaffen hat, reagierte empfindlich auf alle die Sprache betreffenden Angriffe, da er durch sie das von ihm gehegte und gepflegte Pflänzchen eines deutschen Nationalbewußtseins aus der Wurzel einer gemeinsamen Sprache und Kultur bedroht sah. Dabei ist der Streit zwischen Goethe und Klopstock, den beiden für die Entwicklung einer deutschen Literatursprache und damit einer deutschen Nationalkultur bedeutendsten Autoren, nicht zufällig in den letzten Jahren des 18.Jahrhunderts entstanden. Die Jahre seit 1770 etwa sind ja die Jahre, in denen - nach Reinhart Kosellecks bekannter These4 - die Sprache zum Indikator eines „langfristigen und tiefgreifenden, manchmal plötzlich vorangetriebenen Erfahrungswandels" wurde, der seit der Mitte des 18.Jahrhunderts mit zunehmender Beschleunigung vor sich ging. Meine These also lautet, daß in den Jahren des 18.Jahrhunderts, in denen sich das empirisch gewonnene Wissen nahezu explosionsartig aus den tradierten Sinnhorizonten entfernte, allein die Literatursprache, nicht die Fachsprachen, nicht die politischsoziale Sprache und nicht die Standardsprache, mit dieser Entwicklung kurze Zeit Schritt halten konnte. Der Versuch des mit Klopstock beginnenden und mit den späten Romantikern endenden „Kunstzeitalters", einen neuen Sinnhorizont in Poesie, Sprache, Kunst und Kultur zu schaffen, nachdem Philosophie und Theologie gegenüber dem mächtig andrängenden Erfahrungswissen auch in ihren letzten universalen Systemen versagt hatten, endete in den dreißiger Jahren des 19-Jahrhunderts mit dem „horror plenitudinis"5, dem Entsetzen vor der nicht mehr zu greifenden und zu begreifenden, damit die Welt dem Menschen entfremdenden 3 4
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Klopstock, Epigramme (s. Anm. 1), S. 39. Reinhart Koselleck, Einleitung zu: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck. Bd. 1. Stuttgart 1972. S.XV. Diesen erhellenden Terminus zur Verdeutlichung der geistigen Situation der romantischen Generation verwendete Hermann Timm in einer Diskussion über die Frühromantik.
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Fülle des Wissens und einer analog dazu überzüchtet bildhaft-idealistischen Sprache der Dichter, die sich von der politisch-sozialen Sprache ebenso weit, wie von der Standardsprache entfernt hatte. Das große Experiment der Gründung einer Sprachnation der Deutschen endete also in Sprachskepsis, Sprachverzweiflung und Sprachverfluchung, von der die bekannte, noch unser Jahrhundert prägende deutsche Sprachdivergenz ihren Ausgang nahm. 6
II. Von Klopstock bis Georg Büchner, etwa über ein Menschenalter hin, reicht die Periode des Umbruchs, in der mit der Entstehung des modernen Nationalgedankens und dem Versuch, die Staatsnation aus den Elementen der Kulturnation, das heißt aus Gemeinsprache, Religion und Literatur, zu bilden, eine deutsche Nationalliteratur und eine dieser Literatur gemeinsame Sprache geschaffen wurde. Diese Literatursprache lebt in Lexik, Grammatik und Syntax aus der Sprache der deutschen Landschaften, die von jeher sprachprägend gewesen sind, also aus dem mitteldeutsch-sächsischen Bereich und den Gegenden an Rhein und Main; sie speist sich semantisch aus der inspirierten Sprache des deutschen Pietismus und lebt strukturell von Individualismus und Idealismus, wobei ein großer oberdeutscher, das heißt bayerisch-österreichischer Sprach- und Literaturraum, damit die Prävalenz des Visuellen, der Volkskultur und der katholisch geprägten Breitenkultur, aus dieser Entwicklung zunächst ausgeschlossen wurden. In der gleichen Zeit, in der diese literarische, eroberungstüchtige und durch die bayerischen Könige dann auch im Süden Deutschlands verbreitete Koiné entstand, verlagerte sich das Schwergewicht von der schwindenden Hoffnung auf die Bildung einer Staatsnation in Richtung auf den Ausbau der Kulturnation, welche damit nicht als etwas Existent-Gegebenes, sondern als eine im Bewußtsein der Menschen erst herzustellende Nation erschien, so daß die Idee der „Kulturnation", anders als in Meineckes Begriff der vegetativen Kulturnation, ein den Gebildeten bewußtes Surrogat für die deutsche Staatsnation wurde; es entstand die vor allem durch die Romantiker propagierte Ideologie der deutschen Kulturnation, die maßgeblich an der Entstehung und der Praktizierung einer Zweideutschlandtheorie, das heißt der Theorie von der Existenz eines inneren, heiligen, kulturellen und eines äußeren, machtgierigen, politischen Deutschland, beteiligt war und noch in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur präsent ist. Die reflektierte Idee einer deutschen Kulturnation, welche inmitten von Kleinstaaterei und politischem Opportunismus eine die Staatsgrenzen überschreitende Einheit der besten Geister der Nation behauptete und dieses Postulat durch den Wettbewerb in der Ausbildung einer gemeinsamen Literatursprache zu belegen suchte, ist von Klopstock und Herder über Goethe, die Romantiker, Nietzsche, Thomas Mann, Karl Kraus und Bertolt Brecht bis zu den Autoren unserer Tage (in Ost und West) eine mächtige Antriebskraft für Literatur und Kultur. Im Kampf
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Zur Divergenz zwischen Standard- und Literatursprache in Deutschland vgl. Wolfgang Frühwald, „Ruhe und Ordnung". Literatursprache - Sprache der politischen Werbung. München 1976, bes. S. 156 ff.
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mit dem politischen Nationalismus ist diese Idee vielfach scheinbar unterlegen, jedoch niemals zerstört worden. Sie erlangte in mehreren Exildebatten, der des Vormärz, der der Jahre seit 1930 und der seit dem Bau der Berliner Mauer, auch politische Aktualität, wie kaum eine andere im Umkreis der Literatur geborene Idee unserer neueren Geschichte. Die Idee der deutschen Kulturnation ist Ingredienz eines literarisch dominierten Historismus und von der Philologie stets an die durch Friedrich Meinecke begründete politische Ideengeschichte verwiesen worden. Der enge Zusammenhang zwischen dem Historismus und der Entwicklung einer deutschen Literatursprache nämlich wurde schon von Meinecke in seinem Buch „Weltbürgertum und Nationalstaat" (1907) festgestellt, wenn er davon spricht, „daß der Ära des modernen Nationalgedankens eine Ära individualistischer Freiheitsregungen unmittelbar vorangeht. Die Nation trank gleichsam das Blut der freien Persönlichkeiten, um sich selbst zur Persönlichkeit zu erheben." 7 Es scheint sich sogar strukturell um die gleiche Bewegung zu handeln, wenn Justus Moser und Johann Gottfried Herder, um nur zwei prägende Gestalten des frühen Historismus in Deutschland zu nennen, die Individualität der Völker, die Natur und Not des Landes entdeckten, und wenn durch Klopstock, stilbildend für die Moderne, die deutsche Dichtersprache „zu einem Ausdrucksorgan des individuellen Fühlens" gemacht wurde.8 Für Herder begann mit Klopstock die „neue Zeit", Neuzeit im Sinne epochalen Bewußtseins, da er in den „Fragmenten", in denen „der Charakter einer Nation, der ihr eigene Ton der Denkart" die nationale Individuation bestimmt, Klopstock als den ersten Dichter unseres Volkes bezeichnet, „der, so wie Alexander Macedonien, die Deutsche Sprache seiner Zeit nothwendig für sich zu enge finden muste: der sich also in ihr eine Schöpfersmacht anmaaßte, diese zur Bewunderung ausübte, und zu noch größerer Bewunderung nicht übertrieb: ein Genie, das auch in der Sprache eine neue Zeit anfängt." 9 August Wilhelm Schlegel, Propagator und Popularisator der frühromantischen Kunstauffassung, urteilte dann - paradigmatisch für die kritische Bewunderung Klopstocks durch die Zirkel der romantischen Bewegung: „In Klopstock, ohngeachtet er die Mißverständnisse und die Affectation so ins Große treibt, wie schwerlich vor ihm ein anderer Dichter, ist doch etwas, was nicht untergehen kann, denn er muß wenigstens im grammatischen Theile der Poesie als ein Stifter betrachtet werden." 10 Ohne Zweifel ist Klopstock nicht das Originalgenie gewesen, zu welchem ihn im Gefolge von Herders Elogen die Romantiker noch in ihren märchenhaften Satiren stilisiert haben, denn seine literarische Sprache basiert auf den Schriften Bod7
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Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat. Hrsg. und eingeleitet von Hans Herzfeld. München 1969. S. 16. Die Entgegensetzung von Kulturnation und Staatsnation entnehme ich diesem Buch Meineckes; die Idee der Kulturnation, nicht der Begriff, ist eine Schöpfung des deutschen Historismus. Karl Ludwig Schneider, Klopstock und die Erneuerung der deutschen Dichtersprache im 18.Jahrhundert. Heidelberg 2 1965. S.7. Johann Gottfried Herder, Uber die neuere Deutsche Literatur. Fragmente. Erste Sammlung. Zweite völlig umgearbeitete Ausgabe. 1768. In: Herders Sämmtliche Werke. Hrsg. von Bernhard Suphan. Bd. II. Berlin 1877, S.42. Karl August Böttiger, Klopstock und Wieland oder die Traubenpflege in Osmanstädt. Bruchstück aus Christoph Martin Wielands Denkwürdigkeiten im Jahre 1797. In: Deutsches Museum hrsg. von Friedrich Schlegel. Bd. IV. Wien 1813, S.22f.
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mers, Brei tingers, Hallers, Pyras und Langes; Klopstock hat aber in praxi, nicht in der Theorie, die Herrschaft des aufklärerischen Verständlichkeitspostulates in der Poesie so gründlich gebrochen, daß es den Romantikern leichtfiel, das ersehnte goldene Zeitalter der Poesie mit einer ironisch gemeinten Theorie „Uber die Unverständlichkeit" einzuleiten. 11 Die Hauptkriterien eines literarischen Historismus, die bis heute das Selbstverständnis der hochgewerteten Literatur bestimmen, wurden von Klopstock so dezidiert betont, daß sie seither als stilprägend und stilbestimmend akzeptiert wurden. Es sind u. a. der innerliterarische, dialogische Charakter der Wortkunst, also das nur den Eingeweihten sogleich erkennbare Dichtergespräch; die Quellen- und Vorlagenorientierung von Kunst, das heißt die aus Literatur entstehende und kryptisch oder offen Literatur zitierende „literarische Literatur"; 12 der Surrogat-Charakter von Literatur, durch den in einem gewaltigen Säkularisationsvorgang Literatur an die Stelle von Religion und Theologie rückte und am Ende des wissenschaftsgläubigen 19.Jahrhunderts in eine problematische Bildungsreligion mündete. Literatur behauptet seither nicht allein ein moralisches, sondern ein prophetisch-religiöses Wächteramt. Auch wenn der Typus des durch Klopstock geschaffenen bürgerlichen Dichterfürsten seit Thomas Mann und seinem parodistischen Antipoden Bertolt Brecht ausgestorben scheint, hat die Literatur diesen Anspruch nicht aufgegeben. Noch immer fühlen sich die Autoren als Anwalt des Volkes, als Stachel im Gewissen der Mächtigen, als das moralische Gewissen ihrer Nation. Daß am Ende des 18.Jahrhunderts der Literatur geglückt schien, was vorher den Gelehrten und dem Theater mißglückt war, nämlich mit Sprach- und Kunstbewußtsein auch ein Bewußtsein des Deutsch-Seins, also doch wohl kulturell bestimmtes Nationalbewußtsein zu erzeugen, hat die Legende vom Einfluß der Literatur auf das öffentliche Leben mit geschaffen, so daß selbst unter dem Vorzeichen der Medienrevolution Literatur bis heute eine fast anachronistische Position in der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit bewahrt. Die Auseinandersetzung um Rang und Rolle der Literatur in Gesellschaft und Staat begann aber schon zu Klopstocks Zeiten, als die Gottschedianer den jugendverderbenden Einfluß der neuen Schreibart konstatierten, und „in dem überzeitlichen Gegensatz von sprachschöpferischem Genius und Alltagspublikum sich hier zugleich die erbitterte Auseinandersetzung einer rationalistisch bestimmten und verhärteten Sprachauffassung mit den Anfängen einer irrationalistischen Umstrukturierung des dichterischen Ausdrucks vollzog." 13 Klopstock ist nicht unschuldig an den heftigen Auseinandersetzungen, die sich an seiner Person und seiner Schreibart entzündeten, denn er stellte sich schon 1779 mit großem Selbstbewußtsein in eine Reihe mit Luther, der „unsre Sprache", welche „bisher unter ihren Müttern den Mundarten (denn die Sprachen haben
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Vgl. Wolfgang Frühwald, Der Zwang zur Verständlichkeit. August Wilhelm Schlegels Begründung romantischer Esoterik aus der Kritik rationalistischer Poetologie. In: Die literarische Frühromantik. Hrsg. von Silvio Vietta. Göttingen 1983. S. 129 ff. „Uber die Unverständlichkeit" überschrieb Friedrich Schlegel einen programmatischen Aufsatz in der Zeitschrift „Athenaeum". Zum Historismus in der Literatur vgl. Klaus Jeziorkowski, Literarität und Historismus. Beobachtungen zu ihrer Erscheinungsform im 19.Jahrhundert am Beispiel Gottfried Kellers. Heidelberg 1979. Schneider (s. Anm. 8), S. 29.
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viele Mütter) mit der Wildheit unerzogner Kinder herumgeirrt", in sein Haus geführt habe. 14 Damals sei die Sprache noch ein Kind gewesen, „etwa zwölf Jahr alt"; doch unter Luthers Pflege „gedieh und wuchs sie, daß es eine Lust zu sehen war." Von Opitz, der die Sprache als ein halberwachsenes Mädchen, mit etwa 16 Jahren, bei sich aufgenommen hatte, bis zu Klopstocks Gegenwart sei die Sprache - bei schlechter Kost - nur um ein Jahr gewachsen. Nun freilich ist sie mit 17 Jahren heiratsfähig und fragt den, der sie jetzt in sein Haus geführt hat: „Willst du die Lebensregeln, die ich mir vorgeschrieben habe, bekannt machen, damit sich, wer mich mit Nahrung versieht, danach richte? [...] Willst du in der Sache gar so weit gehen, daß du bei Erwähnung der Farben, mit denen ich am redendsten gemalt werde, die unnötigen wegwirfst, den treffenden ihre Stelle bestimmst, und dich dadurch um meinentwillen all dem Geklage der Leute aussetzest, daß ihnen die Augen nicht aufhörten und nie aufhören würden von der neuen Farbenmischung weh zu tun?" „Ich will Alles", anwortet der so befragte Dichter, „denn ich liebe." Die Sprache ist also nicht die Mutter, sondern die Geliebte des Dichters, der dafür zu sorgen hat, daß sie in seiner Liebe geborgen ist und so spät wie irgend möglich altert. Die Bildlichkeit der Liebe steht am Anfang des Enthusiasmus der Sprach- und Kulturnation. Am Ende dieses Zeitraumes aber erscheint in den Dirnengedichten Brentanos der am Ubermaß des zwecklos gewordenen Sprechens leidende Dichter, der die Poesie öffentlich eine Hure schilt, und sie heimlich liebkost. 15 Die um 1815/16 epidemisch um sich greifende Sprachskepsis der Klopstockschüler, faßbar u. a. in der Poesiethematik romantischer Dirnengedichte, der bis zur Sprachverfluchung sich steigernde Sprachzweifel derer, die am Übermaß des Erbes und der eigenen Sprachbegabung leiden, fällt zusammen mit der Deutschlandschelte der Dichter. Eine national-kulturell funktionslos gewordene Dichtung, welche die Hoffnung auf die Entstehung einer freien Staatsnation aus der Idee der Kulturnation aufgegeben hatte, zweifelt nicht nur an „den Deutschen", welche die Verwirklichung der heiligen Idee „Deutschland" verhindern, sondern auch an der eigenen Überzeugungsfähigkeit. Joseph von Eichendorff, der verspätete Romantiker, den Bismarck 1851 zu seinem Erstaunen noch unter den Lebenden erblickte, obwohl ihn die Lexika des katholischen Deutschland schon seit 1847, Meyers Konversations-Lexikon seit 1846 tot gesagt hatten, wurde nicht müde, in Lied und Prosa, die Idee eines friedlich und gerecht regierten Deutschland zu feiern; er ist - wie überhaupt in seiner Bildsprache - auch in dieser Idee der Erbe eines aus dem Gedanken der Kulturnation entstehenden Reiches der Deutschen, der Erbe idealistischer Literatur. 1848 aber schrieb er jenes grimmige, erst aus seinem Nachlaß bekannt gewordene Schimpfgedicht, das dem Erlebnis der Revolution ebenso galt, wie der romantischen - jetzt enttäuschten - Liebe zu Deutschland:
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Friedrich Gottlieb Klopstock, Zur Geschichte unsrer Sprache. In: Klopstock, Ausgewählte Werke. Hrsg. von Karl August Schleiden. Nachwort von Friedrich Georg Jünger. München 1962, S. 9 6 8 - 9 7 0 . Vgl. dazu Rudolf Alexander Schröder, Vorwort zu: Clemens Brentano, Ausgewählte Gedichte. Zum hundertsten Todestage unter Benutzung des handschriftlichen Nachlasses neu hrsg. von Sophie Brentano und Rudolf Alexander Schröder. Berlin 1943. S.XIX.
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„Familienähnlichkeit Zwei Arten von Getieren Nach einem Schliff geschliffen: Aufwarten, apportieren, So wie der Herr gepfiffen. Wo zwei zusammenlaufen, Zaust einer dem andern die Ohren, Und all' zusammen raufen Den Bruder, der verloren. Die einen nennt man Hunde, Die andern heißen Deutsche. S'ist einerlei im Grunde, Und beiden gebührt die Peitsche." 16
III. Der Gedanke einer deutschen Sprachnation, gebildet durch das Sprachverständnis der Dichter, die in ihr Werk Poesie und Kultur des Volkes aufgenommen haben, so daß sie sowohl den Ungelehrten, wie den Gebildeten verständlich sind, wurde intensiv von Johann Gottfried Herder gedacht und von ihm an das 19-Jahrhundert vermittelt, auch wenn sich von den Romantikern nur der nach Herkunft, Lebensführung und Werk innerhalb der „Schule" marginalisierte Joseph Görres öffentlich zu Herder als seinem Lehrer bekannt hat. Für Herder war es eine unumstößliche Tatsache der Geschichte, „daß alle herrschende Völker der Weltperioden nicht durch Waffen allein, sondern vielmehr durch Verstand, Kunst und durch eine ausgebildetere Sprache über andre Völker oft Jahrtausende hin geherrschet haben, ja daß selbst, wenn ihre politische Macht verfallen war, das ausgebildete Werkzeug ihrer Gedanken und Einrichtungen andern Nationen als ein Vorbild und Heiligtum wert geblieben." 17 Durch Herder erst wurde der Sprache jene Rolle zugewiesen, welche den Dichter, als den Sprachmächtigen, zum Künder des Nationalbewußtseins machte. Die Poesie ist für Herder die sinnliche Macht, die unmittelbar zum Herzen des Menschen spricht, so daß er ganzheitlich, nicht nur mit dem Intellekt verstehen lernt. Aufgabe der Poesie also ist es, aus vielen zerstreuten, dumpf um ihre materielle Existenz besorgten Menschen ein Volk, eine Gemeinschaft zu bilden. Daß Herder dabei nicht nur ein gewaltiger Prediger, sondern auch ein sprachprägender Dichter gewesen ist, zeigt sich u. a. an seinem berühmten ,Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker". Dort belegt er, daß ein „lebendi16
Reinhold Wesemeier, Joseph von Eichendorffs satirische Novellen. Diss. Marburg a. L. 1915. S. 59 (Erstdruck). 17 Johann Gottfried Herder, Idee zum ersten patriotischen Institut für den Allgemeingeist Deutschlands. In: Herder, Werke in zwei Bänden. Hrsg. von Karl-Gustav Gerold. München 1953. Bd.II, S.515.
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ges Volk" auch einen „allgemeinen Satz, eine abgezogne Wahrheit [...] lebendig und kühn" behandeln kann: „Hören Sie einmal eine Probe der Art über den allgemeinen Satz: Der Liebe läßt sich nicht widerstehen! Wie würde ein neuer analytischer, dogmatischer Kopf den Satz ausgeführt haben, und nun der alte Sänger? Uber die Berge! Über die Quellen! Unter den Gräbern, Unter den Wellen, Unter Tiefen und Seen, In der Abgründe Steg, Über Felsen, über Höhen Find't Liebe den Weg! [...] Konnte der Gedanke sinnlicher, mächtiger, stärker ausgeführt werden? Und mit welchem Fluge! mit welchem Wurfe von Bildern! Lassen Sie den dümmsten Menschen das Lied dreimal hören: er wirds können und mit Freude und Entzückung singen; sagen Sie ihm aber eben dieselbe Sache auf einförmige, dogmatische Art, in hübsch abgezählten Strophen, und seine Seele schläft." 18 Von Prémontval (André Pierre le Guay), den Friedrich der Große an die Berliner Akademie berufen hatte, übernahm Herder in den „Briefen zur Beförderung der Humanität" die Erkenntnis der Trennung von Literatur- und Standardsprache, da Prémontval bei allzuvielen Deutschen die „völlige Unbekanntschaft mit den Dichtern ihrer eignen Nation" konstatierte: „Sehr wenige Deutsche also wissen ihre Sprache (außer einem gewissen Geschwätz des täglichen gemeinen Lebens), denn man weiß eine Sprache nicht, deren Dichter man nicht verstehet." 19 Das Unverständnis gegenüber den Dichtern der Muttersprache führte Prémontval darauf zurück, daß den Deutschen „alle Übung und Bekanntschaft mit einer Sprache fehle, die sich über die gemeine Volkssprache nur etwas erhebet." Bei der Interpretation von Prémontvals Scheltrede auf die „Gallicomanie in Deutschland" erkannte Herder den die Standesgegensätze betonenden Gebrauch des Französischen im Deutschland des 18.Jahrhunderts, und stellte den Versuch einer Verbreitung der deutschen Literatursprache an den Anfang aller Bemühungen zu einer auch politisch gedachten Nationwerdung der Deutschen. Wer den immensen Briefwechsel von Gottfried Wilhelm Leibniz auch nur einer flüchtigen Durchsicht unterzieht, wird den Standescharakter des üblichen Sprachgebrauches im 17. und 18.Jahrhundert leicht erkennen. Leibniz schrieb an Standespersonen, insbesondere an Angehörige des Hofes und des Adels in französischer Sprache, an Fachkollegen in lateinischer, an seine Verwandten in deutscher. Georg Büchner und Friedrich Ludwig Weidig konstatierten im „Hessischen Landboten" den Klassencharakter der Sprache, den in der Sprache am deutlichsten ausgedrückten Unterschied zwischen Vornehmen und Geringen, zwischen Reichen und Armen: „Das Leben der Vornehmen ist ein langer Sonntag, sie wohnen in 18 19
Herder, Werke (s. Anm. 17), Bd. I, S. 866 f. Ebd. Bd. II, S. 497.
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schönen Häusern, sie tragen zierliche Kleider, sie haben feiste Gesichter und reden eine eigne Sprache; das Volk aber liegt vor ihnen wie Dünger auf dem Acker." 2 0 Herder freilich hatte schon vierzig Jahre vor den hessischen Revolutionären den klassenspezifischen Gebrauch des Französischen und des Deutschen in Deutschland angeprangert: „ [...] mit wem man Deutsch sprach, der war Domestique (nur mit denen von gleichem Stande sprach man Französisch und foderte von ihnen diesen jargon als ein Zeichen des Eintritts in die Gesellschaft von guter Erziehung, als ein Standes-, Ranges- und Ehrenzeichen); zur Dienerschaft sprach man, wie man zu Knechten und Mägden sprechen muß, ein Knecht- und Mägdedeutsch, weil man ein edleres, ein besseres Deutsch nicht verstand und über sie in dieser Denkart dachte; wenn dies ein ganzes reines Jahrhundert ungestört, mit wenigen Ausnahmen, so fortging: dörfen wir uns wohl wundern, warum die deutsche Nation so nachgeblieben, so zurückgekommen und ganzen Ständen nach so leer und verächtlich worden ist, als wir sie leider nach dem Gesamturteil andrer Nationen im Angesicht Europas finden?" 2 1 Herders Interpretation der herrschenden Gallocomanie bedeutet, daß die Vorbedingung für eine Nationwerdung der Deutschen die Verfeinerung und die Veredelung ihrer Sprachgewohnheiten ist, die weite Verbreitung dessen, was wir mit einem relativ engen, auf die Dichtersprache bezogenen Begriff Literatursprache zu nennen uns gewöhnt haben, was Herder aber unter dem Horizont eines sehr weiten Literaturbegriffes die „Bücher-Sprache" nannte. Diese Büchersprache, in Herders erkenntnisscharfer Definition „ein künstliches Gewächs, das aus der Mundart mehrerer Provinzen durch angenehme und vorzügliche Schriftsteller allmählich heraufgesproßt ist" 2 2 , soll die Basis des durch Kultur zusammenwachsenden Vaterlandes sein, ja dieses Vaterland, als einen Garanten des Friedens, erst begründen: „Die wachsende Kultur unsres Vaterlandes kann also keinen andern Weg nehmen, als diese geläuterte Büchersprache unter feinern Menschen aller deutschen Provinzen gemein zu machen, über die Gesetze derselben, von der Orthographie und Interpunktion an bis zu den feinsten Wendungen des Stils, durch gute Vorbilder mehr als durch zwingende Regeln sich zu vereinigen und die Bekanntschaft dieser Muster mit wählender Sorgfalt weiter umher zu verbreiten." 23 Herder war immerhin insoweit ein Sohn des aufgeklärten Zeitalters, als er die Bildung der Kulturnation durch Sprache für eine Erziehungsaufgabe hielt, die den Staaten auferlegt sei; er glaubte nicht an Rousseau, hing nicht der Annahme einer gleichsam automatischen Entwicklung an, sondern kannte - an der Pufendorfischen Tradition orientiert - drei Stufen der Nationbildung: Die Stufe der „Bildung einer Nation durch sich", also die Erkenntnis entwickelbarer Anlagen; die Stufe der „Bildung einer Nation durch Anstalten: die keine Gesetze sind" (Theater, Akademien, öffentl. Gerichte, öffentl. Schulen und Universitäten, Museen, Bibliotheken etc.); und schließlich als dritte Stufe die sparsame, aber notwendige Nachah20
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Gerhard Schaub, Georg Büchner: Der Hessische Landbote. Texte, Materialien, Kommentar. München 1976. S.8. Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität. In: Werke (s. Anm. 17), Bd. II, S. 504. Herder, Idee zum ersten patriotischen Institut für den Allgemeingeist Deutschlands. In: Werke (s. Anm. 17), Bd. II, S. 516. Ebd.
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mung anderer Nationen. „Also Reisen", heißt es bei Herder. „Insonderheit heut zu tage für das Ganze eines Staats unentbehrlich."24 Durch die Adaption Pufendorfischen Gedankengutes und seiner Fortentwicklung durch Montesquieu ist die weltbürgerlich-universalistische Verankerung von Herders Nationalgedanken offenkundig. Seine Sehnsucht einer Nation-Bildung der Deutschen wurzelt in der Idee der menschheitlichen Völkerfamilie, in der Vaterland neben Vaterland in einem friedlichen Wettstreit lebt, in der Idee einer Familie gleichgebildeter Nationen. Es mag ein historischer Irrtum Herders gewesen sein, daß sich nur Kabinette betrügen und politische Maschinerien gegenseitig zersprengen, Vaterländer aber sich als Familien beistehen; in seinem Begriff des „moralischen Vaterlandes" jedenfalls ist die Vorstellung „Vaterländergegen Vaterländer im Blutkampf" tatsächlich „der ärgste Barbarismus der menschlichen Sprache".25 Herder suchte ein „moralisches Vaterland", das im Wettstreit der Geistes- und Kulturkräfte der Völker Europas und der Völker der Welt bestehen könnte, und er fand ein in Stände zerrissenes, in Duodezstaaten gespaltenes Land, in dem die Gebildeten die eigene Sprache kaum besser kannten als der „Pöbel", und der französische Standesdialekt nichts anderes war als eine Klassen-Sprache, ein Jargon.
IV. Von Herder ging das Bestreben aus, auch und gerade die Poesie der Ungelehrten in die Bildung der Nation mit einzubeziehen, die Volkspoesie aller Nationen zu sammeln und bekannt zu machen; in seiner Idee einer Sprachnation ist sowohl die soziale, wie die kulturelle, die politische und die ästhetische Dimension der Sprache gegenwärtig. In den später so genannten „Stimmen der Völker in Liedern" hat Herder die Idee einer aus moralischen Vaterländern bestehenden Völkerfamilie demonstriert und jene Bewegung initiiert, welche die deutsche Lyrik von Grund auf revolutionierte. Der vor allem aus englischen Texten übernommene Volksliedton wurde von Herder, gegen den heftigen Widerstand der rationalistischen Kunsttheoretiker, in die deutsche Literatur eingeführt, unter seinem Einfluß sammelte Goethe im Elsaß die Überlieferungen der Volkspoesie und wurde überhaupt „mit der Poesie von einer ganz andern Seite, in einem andern Sinne bekannt als bisher [.. .]."26 Herder lehrte seine Schüler, an der universalen Tendenz der Volkspoesie festzuhalten, Individuation und Humanität so im Gleichgewicht zu halten, daß ihnen „die Dichtkunst überhaupt eine Welt- und Völkergabe" schien, „nicht ein Privaterbteil einiger feinen, gebildeten Männer."27. Noch Heinrich Himmler hat, ge24 25
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Herder, Einzelne Blätter zum .Journal der Reise". Suphan (s. Anm.9), Bd. IV. S.477. Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität. In: Werke (s. Anm. 17), Bd.II, S.483, 487, 488. Für freundliche Hinweise vor allem zur Orientierung Herders an Quellen und Vorlagen danke ich Wolfgang Proß (München), dem Herausgeber der neuen Herder-Studienausgabe. Sein Buch über: Johann Gottfried Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Text, Materialien, Kommentar (München 1978) - in Japan inzwischen bekannter als in Deutschland - enthält auch zu dem hier gezeichneten Zusammenhang reiches Material. Goethe, Dichtung und Wahrheit. Zweiter Teil. 10.Buch. In: Goethes Werke (s. Anm.2), Bd. IX, S. 408. Goethe, Dichtung und Wahrheit, ebd. S.408f.
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gen die einen völkischen Herder konstruierende Germanistik des Dritten Reiches, die weltbürgerliche Orientierung von Herders Volksliedbegriff erkannt und entsprechend gerügt. Vor SS-Führern in Posen soll er am 4. Oktober 1943 gesagt haben : „Es ist grundfalsch, wenn wir unsere ganze harmlose Seele mit Gemüt, wenn wir unsere Gutmütigkeit, unseren Idealismus in fremde Völker hineintragen. Das gilt, angefangen von Herder, der die .Stimmen der Völker' wohl in einer besoffenen Stunde geschrieben hat und uns, den Nachkommen, damit so maßloses Leid und Elend gebracht hat." 28 Erst in der deutschen Romantik begann die nationalliterarische Verengung von Herders Volks-, Volkslied- und Volkspoesie-Begriff, die in den Reden Fichtes, den patriotischen Hermannsdramen, der Kampf- und Kriegslyrik der Befreiungskriege schon deutlich nationalistische Züge aufwies. Die „alten deutschen Lieder", welche Achim von Arnim und Clemens Brentano in der Zeit der Napoleonischen Kriege sammelten, waren ihrer Intention nach alte deutsche Lieder und unterschieden sich von Herders Sammlung vor allem durch den Verzicht auf Texte, die aus fremden Sprachen übersetzt wurden. Dieser Verzicht, der freilich in einem vierten Band von „Des Knaben Wunderhorn" korrigiert werden sollte, war wohl zunächst politisch motiviert, da nun der Gedanke einer deutschen Kulturnation, das heißt das im Volke zu erhaltende oder gar erst zu erzeugende Bewußtsein sprachlich-kultureller Zusammengehörigkeit, an die Stelle der sich auflösenden Staatsnation treten sollte. Die von Achim von Arnim verfaßten Zirkularbriefe und Aufforderungen zur Sammlung von Volksliedern zeigen diese Absicht sehr deutlich. Schon in der Voranzeige zum ersten Band von „Des Knaben Wunderhorn" heißt es in mythisierender Sprache über die deutschen Volkslieder: „Unbekannt in ihrer Entstehung, an keinen Stand, an keine Zeit - nur an das deutsche Volk im Ganzen gebunden, sind sie durch ein wunderbares Schicksal zerstreut bis auf unsre Zeit fortgesungen und erhalten worden." 29 Und in der Aufforderung zur Fortsetzung der Sammeltätigkeit schrieb Arnim, nach Erscheinen des ersten „Wunderhorn"-Bandes, unter kenntlicher Anspielung auf die Gründung des Rheinbundes: „Wären die deutschen Völker in einem einigen Geiste verbunden, sie bedürften dieser gedruckten Sammlungen nicht, die mündliche Ueberlieferung machte sie überflüssig; aber eben jetzt, wo der Rhein einen schönen Theil unsres alten Landes los löst vom alten Stamme, andere Gegenden in kurzsichtiger Klugheit sich vereinzeln, da wird es nothwendig, das zu bewahren und aufmunternd auf das zu wirken, was noch übrig ist, es in Lebenslust zu erhalten und zu verbinden." 30 In der zeitgenössischen Rezeption von „Des Knaben Wunderhorn" wird eine Entwicklung kenntlich, die zur Ideologisierung der Bemühungen um kulturelle Nationbildung geführt und ihren stärksten Ausdruck in Johann Gottlieb Fichtes, parallel zum „Wunderhorn" entstandenen, „Reden an die deutsche Nation" (Erst28
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Das Himmler-Zitat nach dem informativen Nachwort von Heinz Rölleke in: Johann Gottfried Herder, Stimmen der Völker in Liedern. Volkslieder. Zwei Teile 1778/79. Stuttgart 1975. S. 487 f. Voranzeige zum ersten Band von „Des Knaben Wunderhorn" vom 1.Oktober 1805. In: Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder. Gesammelt von L. A. v. Arnim und Clemens Brentano. Hrsg. von Heinz Rölleke. Frankfurter Brentano-Ausgabe Bd. 8. Stuttgart u.a. 1977. S.345. Achim von Arnim, Aufforderung, ebd. S. 347.
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druck 1808) gefunden hat. Die Idee der Kulturnation erlangte in der Deutschen Bewegung und in den Freiheitskriegen eine fast mythische Dimension und wurde in die Entfesselung von Nationalgefühl und Nationalbewußtsein einbezogen. Damit freilich wurde eine Saat gelegt, die unheilvoll im Nationalismus des Jahrhundertendes aufgegangen ist. Mag Fichte immerhin einen Vernunftstaat gemeint haben, mag ihm eine Vernunftnation vorgeschwebt haben 3 1 , mag er von der Höhe eines universalen ethischen Ideals aus argumentiert haben, seine Bindung des Individuums an „Volk und Vaterland [...] als Träger und Unterpfand der irdischen Ewigkeit" 3 2 , sein Postulat, daß der edle Mensch Dauer allein in der selbständigen Fortdauer seiner Nation finden könne, daß er also, „um diese zu retten" sogar müsse „sterben wollen, damit diese lebe, und er in ihr lebe das einzige Leben, das er von je gemocht hat", weckte mächtige irrationale Kräfte, die sich sogleich in der blutrünstigen Nationallyrik der Freiheitskriege manifestierten. Herders und Klopstocks Idee kultureller Nationbildung durch Sprache und Poesie wurde somit einerseits politisch mythisiert, andererseits auch ästhetisiert. Schon in des Novalis hymnischer Huldigung an Luise von Preußen, überhaupt im Luisenkult der preußischen Patrioten, dann auch in der ästhetischen Konstruktion eines Volksliedtones in „Des Knaben Wunderhorn" ist diese Ästhetisierung politisch-sozialer Phänomene erkennbar. Das alte deutsche Lied wurde in scheinbarer Naivität dem Volk - im Sinne von Herder und Görres - entfremdet; Stereotypen, Requisiten und Motive populärer Literatur wurden in die Hochliteratur eingeführt und in ihrer bildsprachlichen Bedeutung nur einem kleinen Kreis von gebildeten Anhängern der romantischen Bewegung erschlossen. Clemens Brentano hat die Ästhetisierung des Politischen später selbst bedauert. Als er, nach Arnims Tod, dessen Frau Bettine bei einer Neubearbeitung von „Des Knaben Wunderhorn" beriet, hat er versucht, die politische Tendenz des Buches zurückzudrängen: „Vor allzuvielen historisch politischen Liedern ist sich zu hüten, sie sind auch damals wie heut zu Tage außer wenigen, kaum gelesen und nicht gesungen worden, nur was so kurz dauert wie die Liebe, wird gesungen, weil es ewig wiederkömmt." 33 In Heinrich Heines „Romantischer Schule" und in seinem „Buch der Lieder" sind beide Strömungen, welche die weitere Entwicklung der Idee der Kulturnation im 19.Jahrhundert bestimmt haben, die politische Mythisierung und die Ästhetisierung, nochmals wie in einem Brennspiegel faßbar. „Die Romantische Schule" aber gehört an den Beginn einer Exilliteratur, in der die Idee der Kulturnation, esoterisch konkurrierend mit den realpolitischen Fortschritten und Rückschlägen bei der Bildung eines deutschen Einheitsstaates, erhalten blieb. Der Traum, den Heinrich von Kleist in seinem Schauspiel „Prinz Friedrich von Homburg" geträumt hat, ein Traum, der Mensch und Offizier, Kultur- und Staatsnation in ei-
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Vgl. Meinecke (s. Anm. 7), S. 111. Johannn Gottlieb Fichte, Reden an die deutsche Nation. In: Joh. Gottl. Fichte, Werke. Auswahl in sechs Bänden. Hrsg. und eingeleitet von Fritz Medicus. Bd.V. Leipzig o. J. S. 1 3 1 , 1 3 0 , ( 8 . Rede). Otto Mallon, Ungedruckte Briefe Brentanos. Plan einer Neubearbeitung des .Wunderhorns'. In: Das neue Ufer. Beilage zur .Germania'. Nr. 14. 17.Mai 1930. Brief Brentanos an seine Schwester Bettine von Arnim vom 7. Mai 1839.
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nem Preußen genannten irdischen Paradies vereint sah, blieb - auch weil er überidealisiert war -
eine unerfüllte und unerfüllbare Vision „in preußischblauer
Nacht". 3 4
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Zur Formulierung vgl. Bertolt Brechts Sonett „Uber Kleists Stück ,Der Prinz von Homburg'". Zur Problematik vgl. Klaus Kanzog, Heinrich von Kleist: Prinz Friedrich von Homburg. Text, Kontexte, Kommentar. München 1977. S. 123 ff.
Bibliographie zum Proto-Nationalismus in Europa Die folgende Bibliographie enthält die wichtigste Forschungsliteratur über Nationsbildung und Nationalismus im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa. Der behandelte Zeitraum reicht bis zum Datum von ,1789', dem Beginn moderner Nationalbewegungen. (Zum Begriff ,Proto-Nationalismus' und den Kriterien seiner Abgrenzung vgl. S. 9 f!) Es war bei der Auswahl nicht immer einfach, zwischen Nationalgeschichte und Problemgeschichte des Nationalismus zu unterscheiden. Es wurde versucht, alle europäischen Regionen, auch die in diesem Bande nicht behandelten Länder, zu berücksichtigen. In der Regel wurde der jüngeren Literatur der Vorzug gegeben. Die Titel sind in jedem Abschnitt nach ihrem Erscheinungsjahr chronologisch geordnet. Vollständigkeit war nicht intendiert. Publikationen, die mehrere Nationen behandeln, werden in dem Abschnitt A, für Osteuropa am Beginn von Abschnitt B. 7 genannt und später nicht noch einmal erwähnt. Für ihre Mithilfe bei der Erstellung dieser Bibliographie sei allen Beteiligten, vor allem Frau Lydia Krämer herzlich gedankt.
Inhaltsübersicht A. Allgemeine und nationenübergreifende Beiträge B. Beiträge zu einzelnen Nationen 1. Iberische Halbinsel 2. Frankreich 3. Italien 4. Britische Inseln 5. Mitteleuropa 6. Nordische Länder 7. Osteuropa und Balkan
A. Allgemeine und nationenübergreifende Beiträge Dove, A., Der Wiedereintritt des nationalen Prinzips in die Weltgeschichte. In: Ders., Ausgewählte Schriftchen vornehmlich historischen Inhalts, 1898. Finke, H., Weltimperialismus und nationale Regungen im späteren Mittelalter, 1916. Huizinga, J., Patriottisme en Nationalisme in de Europese Geschiedenis tot het Einde der negentiende Eeuw. Haarlem 1940. Kohn, H., Die Idee des Nationalismus. Ursprung und Geschichte bis zur Französischen Revolution. Heidelberg 1950. Holtzmann, W., Das mittelalterliche Imperium und die werdenden Nationen (Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Geisteswissenschaften, H. 7, Abhandlung), 1953.
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Bibliographie
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B. Beiträge zu einzelnen Nationen 1.
Iberische Halbinsel
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Theodor Schieder Vom Beruf des Historikers in einer Zeit beschleunigten Wandels Akademische Gedenkfeier für Theodor Schieder am 8. Februar 1985 in der Universität zu Köln Herausgegeben von Andreas Hillgruber 1985.64 Seiten, DM 2 8 , ISBN 3-486-52841-6 Mit Beiträgen von Andreas Hillgruber, Artur Greive Helmut Coing, Wilhelm Schneemelcher, Eberhard Weis, Werner Conze, Wolfgang J. Mommsen.
Politische Ideologien und nationalstaatliche Ordnung Studien zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts — Festschrift für Theodor Schieder zu seinem 60. Geburtstag. Herausgegeben von Kurt Kluxen und Wolfgang J. Mommsen 1968.467 S., 1 Tafel, Ln. DM 5 2 , - ISBN 3-486-47031-0 Mit Beiträgen von Georg, Mommsen, Kluxen, Birtsch, Nipperdey, Scheibert, Gall, Rüsen, Nolte, Schröder, Zenner, Berding, Pabst, Düwell, Wehler, Lill, Fehrenbach, Burian, Viefhaus, Broszat.
Vom Staat des Ancien Régime zum modernen Parteienstaat Festschrift für Theodor Schieder zu seinem 70. Geburtstag Herausgegeben von Helmut Berding u.a. 1978. 518 S., Ln. DM 9 8 , ISBN 3486-48431-1
Mit Beiträgen von Gilbert, Stökl, Kluxen, Birtsch, Krebs, Hinsbrey, Aron, Craig, Angermann, Bonjour, Schieder, Fehrenbach, Blasius, Berding, Mommsen, Bußmann, Gall, Romeo, Rüsen, Conze, Wehler, Alter, Nipperdey, Scheibert, Düwell, Droz, Kahle, Hillgruber, Scheuner
Oldenbourg
Das 19. Jahrhundert Reformen im ifaeinbündischen Deutschland Herausgegeben von Eberhard Weis unter Mitarbeit von Elisabeth Miiller-Luckner 1984. XVI, 310 Seiten, DM 78,ISBN 3486-51671-X Schriften des Historischen Kollegs, Band 4 Mit Beiträgen von: Jean Tulard, Alfred Kube, Michael Müller, Dietmar Stutzer, Christof Dipper, Roger Dufraisse, HansPeter Ullmann, Pankraz Fried, Wolfgang von Hippel, Karl Möckl, Wilhelm Volkert, Bernd Wunder, Christian Probst, Walter Demel, Werner K. Blessing, Elisabeth Fehrenbach, Helmut Berding und Rudolf Vierhaus. Regine Quack-Eustathiades Der deutsche Philhellenismus während des griechischen Freiheitskampfes 1821 -1827 1984.285 Seiten, DM 98,ISBN 3486-52031-8 Südosteuropäische Arbeiten, Band 79
Gregor Schöllgen Imperialismus und Gleichgewicht Deutschland, England und die orientalische Frage 1871 -1914 1984. XIV, 501 Seiten, DM 120,ISBN 3486-52001-6 Lothar Gall Europa auf dem Weg in die Moderne 1850 -1890 1984. 268 Seiten, geb. DM 64,ISBN 348648891-0 brosch. DM 32,ISBN 348649771-5 Oldenbourg Grundriß der Geschichte, Band 14 Historische Zeitschrift, Beiheft 9: Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland Herausgegeben von Otto Dann 1984. 180 Seiten, DM48,(fiir Bezieher der HZ DM 38,-) ISBN 3486-520814 Mit Beiträgen von: Wolfgang Hardtwig, Dieter Langewiesche, Klaus Tenfelde, Alfons Hueber, Albrecht Lehmann und Hans-Jörg Siewert.
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Geschichtswissenschaft Herta Nagl-Docekal Die Objektivität der Geschichtswissenschaft Systematische Untersuchungen zum wissenschaftlichen Status der Historie 1982. 280 Seiten, DM 5 2 , - ISBN 3486-51251-X Überlieferung und Aufgabe, Band 22 Dieter Ruloff Geschichtsforschung und Sozialwissenschaft Eine vergleichende Untersuchung erkenntnistheoretischer und wissenschaftslogischer Ansätze 1984. X, 467 Seiten, DM 9 8 I S B N 3-486-51621-3 Forschungsergebnisse bei Oldenbourg Biographie und Geschichtswissenschaft Aufsätze zur Theorie und Praxis biographischer Arbeit Herausgegeben von Grete Klingenstein, Heinrich Lutz und Gerald Stourzh 1980. 268 Seiten, DM 5 4 , - ISBN 3 4 8 6 4 2 3 5 1 - 7 Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit, Band 6 Hans Hecker Russische UniVersalgeschichtsschreibung Von den „Vierziger Jahren" des 19. Jahrhunderts bis zur sowjetischen „Weltgeschichte" (1955 - 1965) 1983. XV, 376 Seiten, DM 9 8 , - ISBN 3-486-51121-1 Studien zur modernen Geschichte, Band 29 Erich Zöllner Probleme und Aufgaben der österreichischen Geschichtsforschung Ausgewählte Aufsätze Herausgegeben von Heide Dienst und Gernot Heiß 1984. 458 Seiten, DM 8 8 , - ISBN 3486-51951-4
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