Organisierter gesellschaftlicher Nationalismus in Deutschland (1808–1847) [Reprint 2020 ed.] 9783486842081, 9783486516319


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German Pages 357 [368] Year 1984

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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1. Einleitung: Anmerkungen zur Thematik und Untersuchungsmethodik, zum Forschungsstand, zur Quellenlage und Terminologie
2. Die frühe nationale Turnbewegung (1811-1819)
3. Sänger- und Turner-Organisationen im Vormärz
4. Zusammenfassung
Quellen- und Literaturverzeichnis
Personenregister
Ortsregister
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Organisierter gesellschaftlicher Nationalismus in Deutschland (1808–1847) [Reprint 2020 ed.]
 9783486842081, 9783486516319

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Organisierter gesellschaftlicher Nationalismus in Deutschland (1808-1847)

Studien zur Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts Abhandlung der Forschungsabteilung des Historischen Seminars der Universität zu Köln Band 13 „Neunzehntes Jahrhundert" Forschungsunternehmen der Fritz-Thyssen-Stiftung

Organisierter gesellschaftlicher Nationalismus in Deutschland (1808-1847) Bedeutung und Funktion der Turner- und Sängervereine für die deutsche Nationalbewegung

Dieter Düding

R. OLDENBOURG VERLAG MÜNCHEN 1984

Gedruckt mit Unterstützung der Fritz-Thyssen-Stiftung

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Düding, Dieter: Organisierter gesellschaftlicher Nationalismus in Deutschland (1808-1847): Bedeutung u. Funktion d. Turner- u. Sängervereine für d. dt. Nationalbewegung / Dieter Düding. - München; Wien: Oldenbourg, 1983. (Studien zur Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts; Bd. 13) ISBN 3-486-51631-0 NE: GT

© 1984 R. Oldenbourg Verlag GmbH, München Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege sowie der Speicherung und Auswertung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben auch bei auszugsweiser Verwertung vorbehalten. Werden mit schriftlicher Einwilligung des Verlages einzelne Vervielfältigungsstücke für gewerbliche Zwecke hergestellt, ist an den Verlag die nach § 54 Abs. 2 Urh.G. zu zahlende Vergütung zu entrichten, über deren Höhe der Verlag Auskunft gibt. Gesamtherstellung: R. Oldenbourg, Graphische Betriebe GmbH, Kirchheim ISBN 3-486-51631-0

Inhaltsverzeichnis

Vorwort 1.

Einleitung: Anmerkungen zur Thematik und Untersuchungsmethodik, zum Forschungsstand, zur Quellenlage und Terminologie . . . .

VII 1

2.

Die frühe nationale Turnbewegung (1811-1819)

15

2.1.

Einführung: Deutschland am Beginn des 19. Jahrhunderts und die Entstehung eines gesellschaftlichen Nationalismus

15

2.2.

F. L. Jahns Nationsverständnis im Vergleich mit nationalideologischen Konzeptionen anderer führender deutscher Patrioten im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts

22

2.3.

Die ersten gesellschaftlichen Vereinigungen mit politisch-nationaler Tendenz

42

2.4.

Exkurs

45

2.5.

Allgemeine Charakteristik der frühen nationalen Turnbewegung . . .

50

2.6.

Die Berliner Modell-Turngesellschaft. Entstehung. Öffentlichkeit als Organisationsprinzip. Formale Assoziationsmerkmale

54

2.7.

Territoriale Verbreitung und kommunikatives System der frühen Turnbewegung

58

2.8.

Soziale Stellung der Turner

76

2.9.

Nationale Ideologie und nationales Ritual der frühen Turnbewegung

79

2.9.1.

Konstanz der nationalideologischen Grundpositionen Jahns im 2. Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts. Ihre Übertragung auf die Turnbewegung - Methoden und Mittel

79

F. Liebers Turnfahrt-Bericht - ein beispielhaftes Dokument für Nationalbewußtsein und Nationalgefühl der Turner

83

2.9.3.

Das patriotisch-deutsche Liedgut der Turner - Spiegel ihrer nationalen Gedanken und Stimmungen

94

2.9.4.

Der national-deutsche Gesinnungs- und Verhaltenskodex in den „Turngesetzen" - Surrogat für ein die Turner verpflichtendes Programm

109

Die Nationalfeste der Turner und die Entstehung national-ritueller Ausdrucksformen

111

Die frühe Turnbewegung in ihrem Verhältnis zur Burschenschaftsbewegung

120

Das Ende der frühen Turnbewegung

131

2.9.2.

2.9.5. 2.10. 2.11.

2.12.

Resümee

135

3.

Sänger- und Turner-Organisationen im Vormärz

140

3.1. 3.2.

Politische nalismus Wichtige, märzliche tionsform

3.3.

Exkurs

157

3.4.

Die theoretische Begründung für ein patriotisch-deutsches MännerGesangvereinswesen

160

3.5.

3.6.

Bedingungen für einen vormärzlichen organisierten Natio140 nicht zur Sänger- und zur Turnbewegung gehörende vornationale Assoziationen mit nicht-geheimer Organisaund deren Aktivitäten. Ein Überblick

Ursprung und Entwicklung der nationalen Männer-Gesangvereinsbewegung in Württemberg. Der Stuttgarter Ur-Liederkranz. Formale Assoziationsmerkmale. Arten des kommunikativen Kontaktes zwischen den schwäbischen „Liederkränzen" Überregionale Verbreitung der patriotisch-deutschen Sängerbewegung seit dem Ende der 20er Jahre sowie deren Kommunikationsund Organisationsstruktur. Das (regionale und überregionale) Sängerfest - wichtigstes Kommunikationsmedium und bedeutendstes nationales Bekenntnis- und Aktionsforum der vormärzlichen Sängerbewegung

147

166

174

3.7. 3.8.

Singulare Turner-Organisationen in den 20er und 30er Jahren . . . . Der preußische Staat und die Entstehung der nationalen MännerTurnvereinsbewegung der 40er Jahre

3.9.

Die Männer-Turnvereinsbewegung zwischen 1842 und 1847. Erste Vereinsgründungen. Territoriale Verbreitung und regionale Schwerpunkte. Organisation und Kommunikation Die soziale Struktur der vormärzlichen Sänger- und der vormärzlichen Turnerbewegung

249

Nationale Ausdrucksformen und nationale Ideologie in den beiden vormärzlichen Massenbewegungen

258

3.10. 3.11.

204 213

219

3.11.1. Das vormärzliche Festritual

258

3.11.2. Politisches Liedgut und politische Festreden

266

3.12.

Vormärzliche Turnvereine im Zugriff des Staates/Organisierte Turner und Sänger in der Revolutionszeit, in den 50er und 60er Jahren ein Ausblick

299

Zusammenfassung

314

Quellen- und Literaturverzeichnis

325

Personenregister

343

Ortsregister

349

4.

Vorwort Bei der Forschungsarbeit zu diesem Buch, während seiner Niederschrift und bei seiner Veröffentlichung habe ich von verschiedener Seite Hilfe und Unterstützung erfahren. Für diese Förderung zu danken, ist mir ein besonderes Bedürfnis. Zuallererst bin ich dem Leiter der Forschungsabteilung des Historischen Seminars der Universität zu Köln, Herrn Professor Dr. Theodor Schieder, zu großem Dank verpflichtet für Geduld und Zuspruch, mit denen er das Entstehen der Arbeit begleitete. Die durch die außerordentliche Liberalität ihres Leiters geprägte Arbeitsatmosphäre in der Forschungsabteilung empfand ich zudem immer als besonders wohltuend. In diesem Zusammenhang möchte ich auch den Kolleginnen und Kollegen in der Forschungsabteilung für viele fruchtbare Gespräche danken. Befruchtend haben sich auf meine Arbeit ebenfalls die Gespräche ausgewirkt, die ich mit meiner „alten", in Freundschaft verbundenen Geschichtslehrerin, Frau Ursula Preißer, über den Untersuchungsgegenstand führte. Ihr sei gleichfalls herzlich gedankt. Dank abzustatten habe ich in erheblichem Maße auch der Fritz-Thyssen-Stiftung, ohne deren materielle Hilfe die Arbeit wohl schwerlich hätte geschrieben und veröffentlicht werden können. Die Fritz-Thyssen-Stiftung finanzierte sowohl die von mir unternommenen Forschungsreisen als auch die Drucklegung des Buches. Mein Dank gilt auch den Archivaren der von mir besuchten staatlichen und städtischen Archive sowie den (ehrenamtlichen) Leitern mehrerer Vereinsarchive und Vereinsbibliotheken. Insbesondere möchte ich mich für bereitwillige Hilfe bedanken bei Herrn Heinz Braasch (Kieler Männer-Turnverein v. 1844), Herrn Jürgen Reip (Hamburger Turnerschaft v. 1816), Herrn Dr. M. Hahn (Bücherei des Deutschen Turner-Bundes, Frankfurt), Herrn Carl Lachenmann (Silchermuseum Schnait i. R.), Herrn Emil Büttner (Heidelberger Liederkranz), Herrn Wilhelm Lutz (Eßlinger Liederkranz), Herrn Erwin Straub (Plochinger Liederkranz) und Herrn Heinz Seidel (Fritz Reuter/Richard-Wagner-Museum, Eisenach). Die Untersuchung wurde im Sommersemester 1981 von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln als Habilitationsschrift angenommen. Für die Veröffentlichung wurde sie leicht überarbeitet. Ich widme dieses Buch meiner Frau. Köln, im Februar 1983

Dieter Düding

Fùr Christiane

1.

Einleitung: Anmerkungen zur Thematik und Untersuchungsmethodik, zum Forschungsstand, zur Quellenlage und Terminologie

In der vorliegenden Arbeit werden nicht nur zum ersten Male die nationale Turner- und die nationale Sängerbewegung in Deutschland von ihren jeweiligen Anfängen bis zum Ausbruch der 48er Revolution zusammen und vergleichend untersucht, die Arbeit stellt auch den ersten Versuch dar, die Organisations-, Kommunikations- und Sozialstruktur sowie die nationalen Ausdrucksformen und Ideologien der nationalen Vereinsbewegungen der Turner und Sänger für einen bestimmten Zeitraum systematisch zu erforschen und darzustellen. Das Interesse, in möglichst gründlicher und umfassender Weise zu klären, welche Rolle die beiden Vereinsbewegungen in den ersten Jahrzehnten des 19-Jahrhunderts innerhalb der deutschen Nationalbewegung spielten, ist eine entscheidende Motivation für diese Studie gewesen. Begleitet war das Interesse von der Hoffnung, durch eine solche Untersuchung könne das Wissen um die deutsche Nationalbewegung nicht unerheblich vertieft werden. Die Hoffnung wurde gestützt durch einige Erkenntnisse, die das Erscheinungsbild der deutschen Nationalbewegung im allgemeinen und der zur Nationalbewegung gehörenden Turner- und Sängerorganisationen im besonderen betreffen. Noch bevor wir mit der folgenden Untersuchung begannen, haben wir aufgrund einer Sichtung schon vorhandener Abhandlungen sowie verschiedener Quellen zur Geschichte der nationalen Bewegung in Deutschland diese Erkenntnisse gewonnen. Grundlegend ist die Einsicht, daß die deutsche Nationalbewegung eine gesellschaftliche Bewegung war, die im wesentlichen aus verschiedenen Organisationen (Vereinigungen) mit nationaler Tendenz bestand. In jeder ihrer wichtigen Entwicklungsetappen - in der in das 2.Jahrzehnt des 19.Jahrhunderts fallenden Frühphase, in der in den 20er Jahren beginnenden und bis zum Ende der ersten Jahrhunderthälfte dauernden zweiten Periode und schließlich in der die 60er Jahre umgreifenden, der Nationalstaatsgründung unmittelbar vorausgehenden Phase - waren es primär Assoziationen (in den 60er Jahren auch Parteiorganisationen) und deren Aktivitäten, in denen sich die deutsche Nationalbewegung manifestierte. Für den sich mit der nationalen Bewegung in Deutschland beschäftigenden Historiker resultiert aus diesem Tatbestand die Untersuchung der nationalen Assoziationen als zentrales Forschungsziel1. Eine Untersuchung der in der ersten Phase der Natio1

Die deutsche Nationalbewegung bestand natürlich nicht nur aus organisierten Gruppen und .Teilbewegungen'. Zu ihr gehörten ebenfalls (als Propagandisten tätige) Patrioten, die nicht organisiert waren. Diese beeinflußten ideologisch aufgrund ihres publizistischen und rhetorischen Wirkens zum Teil in nicht geringem Maße auch die organisierten Patrioten. Ernst Moritz Arndt z. B., der nie einer größeren nationalen Organisation angehörte, gewann vor allem durch seine Liedtexte beträchtlichen Einfluß auf das nationale Bewußtsein und die nationalen Stimmungen großer organisierter Gruppierungen der Nationalbewegung. Hat auch zugestandenermaßen die (nicht vereinsgebundene) nationale Pu-

2

1. Einleitung

nalbewegung existierenden frühen organisierten Turnbewegung ( 1 8 1 1 - 1 9 ) und der in der mittleren Entwicklungsperiode bestehenden Vereinsbewegungen der Sänger und Turner (die Sängerbewegung entstand 1824, die Turnbewegung formierte sich vom Jahre 1842 an neu) ist allein schon aufgrund dieses Sachverhalts gerechtfertigt. Um so mehr scheint sie aber aus folgenden Gründen berechtigt und sogar notwendig zu sein: Während der ganzen ersten Entwicklungsetappe der deutschen Nationalbewegung war die frühe, von Jahn ins Leben gerufene und von ihm maßgeblich gelenkte Turnbewegung die bei weitem mitgliederstärkste nationale Organisation. Eine ähnlich herausragende Bedeutung durch ihre jeweiligen Mitgliederbestände hatten die Sängerbewegung und die sich Anfang der 40er Jahre neu konstituierende Turnerbewegung für die zweite Entfaltungsperiode der Nationalbewegung: Bis zum Ausbruch der 48er Revolution waren sie jedenfalls die an Mitgliederzahl größten nationalen Organisationen. Ja, die Zahl der in diesen Bewegungen organisierten Personen war so hoch, daß man sie quasi als die ersten .Massenorganisationen' in Deutschland betrachten kann. Hinzu kommt, daß die frühe Turnbewegung im 2.Jahrzehnt des 19.Jahrhunderts und die Mitte der 20er Jahre ins Leben tretende Sänger- sowie die zu Beginn der 40er Jahre sich neu bildende Turnbewegung in der Zeit des Vormärz 2 die territorial am weitesten verbreiteten Organisationen blizistik die Entstehung der deutschen Nationalbewegung stark gefördert, und hat sie auch innerhalb der Nationalbewegung selbst (in jeder ihrer drei Entwicklungsphasen) eine wichtige Rolle gespielt, wirklich konstitutiv war sie - so meinen wir - für die Nationalbewegung nicht. Sie konnte es nicht sein, weil individuelles publizistisches Artikulieren und Bekennen nicht das Wesentliche und Charakteristische einer gesellschaftlichen Bewegung sind. Eine gesellschaftliche Bewegung ist ihrem Wesen nach eine kollektive Kraft; damit sie zustande kommt, ist der persönliche Kontakt zwischen Individuen, ist der (organisatorische) Zusammenschluß von Menschen, sind Gruppen-Bekenntnisse und Gruppen-Handlungen vonnöten. Die Bildung von Gruppen, von Organisationen ist nach unserer Meinung konstitutiv für die deutsche Nationalbewegung. Durch Organisationen und deren Aktivitäten hat die deutsche Nationalbewegung überdies (wie in dieser Arbeit gezeigt werden soll) ihr spezifisches und facettenreiches Erscheinungsbild erhalten. Außerdem erhielt sie durch den Prozeß der Organisierung erst ihre innere Stabilität und den Charakter eines auf Dauer angelegten Unternehmens. Selbst rigorose staatliche Repressivmaßnahmen vermochten die nationale Bewegung in der Zeit zwischen ihrer Entstehung und ihrem Ende (1870/71) nur für einige Jahre vollends oder weitgehend zu unterdrücken. Die durch gesellschaftliche Assoziierung bewirkte innere Konsistenz der Bewegung hatte auch Auswirkungen auf das nationale Bewußtsein der (organisierten) Patrioten: Ihr deutscher Patriotismus war in der Regel eine konstante, gefestigte Gesinnung (die freilich von nationalen Emotionen begleitet war), während z. B. die heftigen patriotisch-deutschen Gefühle, von denen in den Jahren 1813/14 auch breite, nichtorganisierte gesellschaftliche Kreise ergriffen wurden, meist ebenso schnell wieder verschwanden, wie sie aufgetaucht waren. 2

Unter dem Begriff „Vormärz" verstehen wir in dieser Arbeit die Zeitepoche in Deutschland vom Beginn der 20er Jahre des 19. Jahrhunderts bis zur Märzrevolution (1848). Es ist notwendig, diese Feststellung zu treffen, da es über die zeitliche Dauer der Vormärz-Periode in der historischen Wissenschaft keine einheitliche Auffassung gibt. Oft wird die Periode auf die 40er Jahre (bis zum Ausbruch der Märzrevolution) eingegrenzt, manchmal werden auch die 30er Jahre mit einbezogen. Als Beginn der Epoche wird mitunter auch das Jahr 1815 (Wiener Kongreß, Neuordnung Deutschlands) betrachtet. Für unsere Auffassung, daß die Vormärz-Periode mit den beginnenden 20er Jahren einsetzt, spricht vor allem, daß sich seit diesem Zeitpunkt die organisierten national-freiheitlichen Kräfte in der deutschen Gesellschaft einer staatlichen Repressivpolitik ausgesetzt sahen, die sich nur graduell, nicht aber grundsätzlich bis zum Ausbruch der 48er Revolution änderte.

Einleitung

3

mit nationaler Tendenz in Deutschland gewesen sind. Schließlich gilt für die frühe Turnbewegung, daß sie in der ersten Entfaltungsperiode der deutschen Nationalbewegung diejenige nationale Organisation war, die am längsten existierte. In der zweiten geschichtlichen Entwicklungsperiode der nationalen Bewegung war es dagegen die Sängerbewegung, die länger als jede andere nationale Organisation Bestand hatte. Konnte die Turnbewegung in der mittleren Entwicklungsphase der Nationalbewegung auch nicht mit der Sängerbewegung hinsichtlich der Existenzdauer konkurrieren, so war ihre Lebensdauer - verglichen mit der anderer zwischen 1824 und 1849/50 existierender nationaler Organisationen - aber doch beachtlich lang. Schon unsere bisherigen, sich auf die deutsche Nationalbewegung im allgemeinen und die nationale Turner- und nationale Sängerbewegung im besonderen beziehenden Feststellungen müssen der Hoffnung, daß die folgende Untersuchung zu einer Vertiefung des Wissens um die deutsche Nationalbewegung führen könnte, Nahrung geben. Aber es gibt noch weitere gewichtige Gründe für die Vermutung, daß die folgende Untersuchung den bisherigen, die deutsche Nationalbewegung betreffenden Kenntnis- bzw. Forschungsstand zu erweitern imstande ist. Nicht von ungefähr wurde die Erforschung der Organisations-, Kommunikations- und Sozialstruktur sowie der nationalen Ausdrucksformen und Ideologien der beiden zur Nationalbewegung gehörenden Vereinsbewegungen ganz in den Mittelpunkt der Studie gerückt: Aufgrund der Sichtung von Literatur und zeitgenössischem Schriftgut zur Geschichte der nationalen Bewegung in Deutschland haben wir die Überzeugung gewonnen, daß die deutsche Nationalbewegung in jeder ihrer von uns genannten und zeitlich fixierten Entwicklungsphasen bestimmte Merkmale (organisatorischer, kommunikativer, soziologischer, nationalritueller und nationalideologischer Art) aufzuweisen hat. Die folgenden Merkmale sind nach unserer Meinung für die deutsche Nationalbewegung charakteristisch: 1. Die Tatsache, daß die nationale Einheitsbewegung in Deutschland primär eine Bewegung verschiedener Organisationen war, impliziert, daß ihr organisatorisch-/orraa/i Strukturelemente (wie z.B. Vereinsämter, Vereinsorgane) eigen waren. Ausgebildet wurden diese strukturellen Elemente von der Nationalbewegung zum Zwecke der inneren Stabilität und Kontinuität, was aber einen Wandel in ihrer Zusammensetzung und in ihrer Art im Verlauf der Geschichte der Nationalbewegung keineswegs ausschloß. 2. Mit der deutschen Nationalbewegung ist die öffentliche, nicht geheime Organisierung untrennbar verbunden. In allen Phasen ihrer Entwicklung wird von Initiatoren oder Organisatoren der nationalen Bewegung .Öffentlichkeit' als das der Nationalbewegung allein adäquate Organisierungsprinzip betrachtet. Zwar gab es in einer sehr kurzen, der ersten Entwicklungsperiode der deutschen Nationalbewegung vorausgehenden Phase (1808-1811) einen organisierten gesellschafdichen Nationalismus, der noch nicht öffentlich war, und es gab auch in der eigentlichen Geschichte der deutschen Nationalbewegung mitgliederschwache organisierte Gruppierungen mit geheimem Charakter, jedoch wurde in den allermeisten dieser Fälle die nicht-öffentliche Organisierung durch die politischen Bedingungen diktiert, sie entsprang also nicht prinzipiellen Erwägungen. Erst die öffentliche, nicht geheime Organisierung schuf die Voraussetzung für eine freie, ungehinderte und nichtbeschränkte Mitgliederwerbung und -rekrutierung, erst durch sie gelang es der Nationalbewe-

4

1. Einleitung

gung, sich zur .Massenbewegung* zu entwickeln. 3. In allen drei Entwicklungsphasen zeigte die Nationalbewegung die Tendenz, sich territorial im nationalen Ausmaß zu verbreiten, d. h., nicht nur in einer deutschen Region, sondern in vielen Gebieten, nicht nur in einem deutschen Staat, sondern in einer ganzen Reihe deutscher Territorien, nicht bloß im Norden Deutschlands, sondern auch im deutschen Süden sind nationale Organisationen nachweisbar. 4. Charakteristisch für die deutsche Nationalbewegung war auch die überregionale, verschiedene Territorien einbeziehende Kommunikation. Mit anderen Worten: Die deutsche Nationalbewegung bestand nicht nur aus einer Vielzahl organisatorischer Einheiten in verschiedenen Teilen Deutschlands, zwischen diesen kam es auch zu mannigfaltigen, unterschiedlich gearteten kommunikativen Kontakten. 5. Die nationale Bewegung in Deutschland war eine soziologisch vom Bürgertum, und zwar von Angehörigen verschiedener bürgerlicher Schichten getragene Bewegung. Der proportionale Anteil der Vertreter einzelner (bürgerlicher) Schichten an der Bewegung hat sich in der Entwicklungsgeschichte der Nationalbewegung allerdings stark verändert, und zwar mit der Tendenz einer immer größeren Partizipation kleinbürgerlicher Schichten. 6. Zum Zwecke der Förderung eines nationalen Gemeinschaftsgeistes unter den Mitgliedern und aus der Absicht heraus, wirksam für den nationalen Gedanken in der Öffendichkeit zu werben, war die deutsche Nationalbewegung von Anfang an bestrebt, national-rituelle Ausdrucksformen zu entwickeln. Zu dem von der Nationalbewegung ausgebildeten nationalen Ritual bzw. Zeremoniell gehörten aktionistische, visuelle und gesanglich-melodische Wirkungselemente. 7. Die deutsche Nationalbewegung ist ideologisch nicht nur durch national-kulturelle Vorstellungen geprägt, sondern auch in starkem Maße durch das politische Ziel der nationalstaatlichen Einigung des partikular-staatlich zersplitterten Deutschlands. Dieses Ziel schloß den Gedanken an eine zumindest partielle Beseitigung der feudal-staatlichen und -gesellschaftlichen Ordnung bzw. die Vorstellung von einer politische Rechte und gesellschaftliche Freiheiten genießenden Nation ein. Dennoch war die deutsche Nationalbewegung keineswegs eine politisch-ideologisch homogene Bewegung. Über die staatliche Form eines künftigen nationalen Gemeinwesens - ob dieses etwa eine konstitutionelle Monarchie oder eine Republik sein sollte über das Ausmaß der gesellschaftlichen Veränderungen und der Beteiligung des Volkes an den politischen Entscheidungsprozessen im intendierten Nationalstaat gab es z. B. innerhalb der Nationalbewegung durchaus kontroverse Ansichten. Angesichts der von uns formulierten Thesen zum Charakter und Erscheinungsbild der deutschen Nationalbewegung muß einer empirisch-systematischen Untersuchung der organisatorischen, kommunikativen und sozialen Verhältnisse innerhalb der Turner- und der Sängerbewegung sowie der nationalrituellen Ausdrucksformen und der nationalen Ideologien beider Bewegungen zwischen 1811 und 1847 eine besondere Bedeutung zukommen. Wir verstehen darunter eine Art der Untersuchung, die einerseits durch das Sammeln und Beschreiben einer Vielzahl von Detail-Fakten und -Daten zu den genannten Untersuchungsbereichen gekennzeichnet ist, die sich aber andererseits dadurch auszeichnet, daß sie die Einzelinformationen als Beweis- oder Belegstücke für generalisierende, auf strukturelle Merkmale abhebende Aussagen benutzt. Es müßte auf diese Weise möglich sein, die formulierten Thesen empirisch zu belegen, den genannten Charakteristika im einzelnen nachzuspüren, von ihnen ein konkretes Bild zu zeichnen.

Einleitung 5 Da sich die Untersuchung sowohl mit der die Nationalbewegung in ihrer ersten Entwicklungsphase nicht unwesentlich repräsentierenden frühen Turnbewegung als auch mit der die zweite Entwicklungsperiode der nationalen Bewegung stark prägenden vormärzlichen Sänger- und vormärzlichen Turnbewegung befaßt, müßte es zum anderen möglich sein - vermittels einer komparativischen Analyse nicht nur das Gleichbleibende, sondern auch das sich Wandelnde an den genannten Merkmalen und damit an der deutschen Nationalbewegung in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts herauszuarbeiten und zu benennen. Interessant wäre es z. B. in diesem Zusammenhang zu erfahren, ob sich im Untersuchungszeitraum ein Wandel der formalen Organisationselemente konstatieren läßt, der die Feststellung erlauben würde, durch ihn oder mit ihm habe sich auch die Struktur der Meinungs- und Willensbildung in der organisierten Nationalbewegung verändert. Von Interesse wäre es auch festzustellen, ob die sich öffentlich organisierende Nationalbewegung im Verlauf ihrer Entwicklung die Formen der öffentlichen Selbstdarstellung zu dem Zweck veränderte, größere Kreise der Öffentlichkeit anzusprechen und zu beeinflussen. Durch einen Vergleich zwischen der territorialen Verbreitung der frühen Turnbewegung einerseits und der territorialen Verbreitung der vormärzlichen Sänger- und der vormärzlichen Turnbewegung andererseits müßte es auch möglich sein, Erkenntnisse darüber zu gewinnen, ob die Nationalbewegung in den 30er und 40er Jahren - gemessen an ihrem Entwicklungsstand im 2.Jahrzehnt des 19-Jahrhunderts - neue Territorien .eroberte', ob ihre Organisationsdichte zunahm und ob sich ihre organisatorisch-territorialen Schwerpunkte verlagerten. Durch einen Vergleich der kommunikativen Kontakte kann wahrscheinlich u. a. geklärt werden, ob die Kommunikation innerhalb der vormärzlichen Nationalbewegung intensiver war, ob an ihr mehr Menschen aus mehr Organisationen partizipierten als in der frühen Nationalbewegung. Ein Vergleich zwischen der sozialstrukturellen Beschaffenheit der frühen Turnbewegung auf der einen Seite und der beiden vormärzlichen Bewegungen auf der anderen Seite wird sicherlich auch die Frage beantworten helfen, ob die Nationalbewegung in vorrevolutionärer Zeit bzw. gegen Ende der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts ihre soziale Basis schon erheblich verbreitert hatte, bzw. ob sich der Nationalbewegung in größerer Zahl Angehörige bürgerlicher Schichten angeschlossen hatten, die in der nationalen Bewegung zwischen 1811 und 1819/20 nicht oder nur spärlich vertreten waren. Wurde nicht auch das nationale Ritual bzw. Zeremoniell verändert, erweitert? Vielleicht mit der Absicht, dessen Wirkung innerhalb und außerhalb der Bewegung zu vergrößern? Auch auf diese Frage sollte die Untersuchung eine Antwort geben. Schließlich, welche Entwicklungstendenz läßt sich in der nationalideologischen Orientierung der Nationalbewegung konstatieren? Kam es vielleicht zur Zeit des Vormärz zu einer Verschiebung zugunsten demokratisch-republikanischen und revolutionären Ideengutes auf Kosten liberaler, konstitutionell-monarchischer Vorstellungen? Komparativisch ist die folgende Untersuchung nicht nur insofern angelegt, als die frühe Turnbewegung einerseits und die vormärzliche Sänger- und vormärzliche Turnbewegung andererseits vergleichend betrachtet werden; in der Arbeit werden auch die beiden vormärzlichen Bewegungen untereinander verglichen mit dem Ziel, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden mitgliederstärksten, der Nationalbewegung angehörenden .Teilbewegungen' im Vormärz erkennen zu können. Auch dieser Vergleich wird sich an den von uns genannten charakteristischen

6

1. Einleitung

Merkmalen der deutschen Nationalbewegung orientieren: Es wird danach gefragt werden, ob die beiden Bewegungen Identisches bzw. ob sie Unterschiedliches aufzuweisen hatten im Bereich der formalen Organisierung, bei der Art und Weise, wie sie .Öffentlichkeit' herstellten, im Bereich der organisatorisch-territorialen Verbreitung, der Kommunikation, der Mitglieder-Soziologie, der national-rituellen Ausdrucksformen und der National-Ideologie. Nicht zuletzt soll dieser Vergleich dazu beitragen, ein differenziertes Bild von der deutschen Nationalbewegung im Vormärz zu erhalten. Zum Zwecke des Vergleichs mit der vormärzlichen Sängerund Turnbewegung wird die Arbeit in geraffter Form auch Angaben und Daten zu anderen (von der Mitgliederzahl her kleineren, kurzlebigen und einen geringeren Verbreitungsgrad aufweisenden) vormärzlichen nationalen Organisationen enthalten. Das Einfügen dieser Informationen soll ebenfalls dem Entwurf eines differenzierten Bildes von der vormärzlichen Nationalbewegung dienen. Diese sollen auch indirekt mithelfen, die führende Rolle der Sänger- und Turnbewegung innerhalb der deutschen Nationalbewegung des Vormärz zu bestätigen. Die in mancher Hinsicht herausragende Rolle der frühen Turnbewegung für die sich im 2.Jahrzehnt des 19 Jahrhunderts erstmalig in Deutschland formierende Nationalbewegung glauben wir dagegen u.a. durch einen in den ersten Hauptteil der Arbeit eingefügten Vergleich dieser von Jahn gegründeten und gelenkten Bewegung mit einer anderen zur frühen Nationalbewegung gehörenden .Teilbewegung', der seit 1815 existierenden Burschenschaftsbewegung, sinnfällig machen zu können. Aber auch dieser Vergleich soll dem Ziel dienen, den Blick für die innere Differenziertheit der (frühen) Nationalbewegung zu öffnen. Wirft man die Frage auf, warum es die historische Forschung bisher verabsäumte, Turner- und Sängerbewegung zwischen 1811 und 1847 in den von uns genannten Teilbereichen systematisch und vergleichend zu untersuchen, so dürften dafür verschiedene Gründe ausschlaggebend sein. Zum einen ist daran die für längere Zeit gültige ideen- und personengeschichtliche Orientierung der deutschen Nationalismus-Forschung nicht schuldlos, zu der Friedrich Meinecke mit seinem 1908 erschienenen Werk „Weltbürgertum und Nationalstaat" wesentlich beitrug. Aus dem Blickfeld einer solchermaßen orientierten Forschung blieben nationale .Massenorganisationen' fast gänzlich ausgespart. Nur drei Arbeiten sind vor 1945 entstanden, die als Beiträge der universitären Fachhistorie zur Erforschung der Turnbewegung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu betrachten sind. Jede dieser Studien behandelt nur sehr ausschnitthaft die frühe oder (bzw. und) die vormärzliche Bewegung3. Zur vormärzlichen Sängerbewegung erschien bis zu diesem Zeitpunkt nur eine umfangreiche Studie wissenschaftlichen Charakters, die jedoch nicht von einem Fachhistoriker, sondern von einem Musikwissenschaftler verfaßt 3

Von Wilhelm Rudkowski war 1911 in der „Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens" ein Aufsatz unter dem Titel „Die Breslauer Turnfehde. Ein Vorspiel zur ersten Demagogenverfolgung" (Bd. 45, S. 1-70) erschienen. 1935 wurde in Marburg von Helmut Schulze eine 80 Seiten starke Untersuchung veröffentlicht, die den Titel trug: „Die Bedeutung der nordwestdeutschen Turnvereine für die Einheitsbewegung und die Entwicklung der Turnkunst 1 8 1 6 - 1 8 6 6 " . Die Philosophische Fakultät der Marburger Universität hatte im gleichen Jahr die Studie als Dissertation angenommen. Eine Leipziger Dissertation von Kurt Meinet aus dem Jahre 1928 - sie war betitelt: „Otto Leonhard Heubner. Sein Leben, seine turngeschichtliche und politische Bedeutung" - enthält einige Angaben zur turngeschichtlichen Entwicklung im vormärzlichen Sachsen.

Einleitung

7

worden war4. Daß die Turnbewegung sich für lange Zeit dem Interesse der universitären Fachhistoriker entzog, hing außerdem mit der schlechten Reputation zusammen, die ihr Gründer in Fachhistoriker-Kreisen genoß. Auf zwei herausragende Historiker des 19. Jahrhunderts, Georg Gottfried Gervinus und Heinrich von Treitschke, war dieser Umstand hauptsächlich zurückzuführen. Sie hatten in ihren säkularen Geschichtswerken - ohne sich auf eigene Jahn-Forschungen berufen zu können - F. L. Jahn nicht nur eine eigenständige politische Denkfähigkeit rundweg abgesprochen, sondern auch Jahns Persönlichkeit und seine politisch-gesellschaftlichen Aktivitäten und Hervorbringungen - insbesondere die von ihm gegründete und geleitete frühe Turnbewegung - durch eine Vielzahl von Negativurteilen gründlich diskreditiert5. Mehrere Generationen von Universitätshistorikern dürften nicht nur deshalb kein Interesse entwickelt haben, sich in eigenen Forschungen mit der Turnbewegung zu befassen, weil sie einer Beschäftigung mit gesellschaftlichen Erscheinungen grundsätzlich keine oder nur eine untergeordnete Bedeutung beimaßen, sie scheinen es auch als wissenschaftlich unergiebig angesehen zu haben, einer gesellschaftlichen Bewegung Aufmerksamkeit zu schenken, die nach der Meinung zweier renommierter Fachkollegen das .Produkt* eines unselbständigen, unschöpferischen Geistes war. Auch in den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg, in denen sich die Sozialgeschichte zu einer geachteten Teildisziplin der deutschen Fachhistorie entwikkelte und sich gerade auch in der Nationalismus-Forschung sozialgeschichtliche Fragestellungen mehr und mehr durchsetzten und von ihr die Erforschung nationaler Assoziationen als vorrangig erkannt wurde, kam nicht nur keine Arbeit zustande, in der die Organisations-, Kommunikations- und Sozialstrukturen sowie die nationalen Rituale und die nationalen Ideologien der Turner- und der Sängerbewegung vergleichend und empirisch-systematisch untersucht worden wären, es entstand auch keine Studie, die die empirisch-systematische Erforschung der genannten Merkmale nur einer der beiden Bewegungen zum Inhalt gehabt hätte. Daß die Nationalismus-Forschung nach dem zweiten Weltkrieg keine Untersuchung dieser Art bezüglich der frühen und der vormärzlichen Turnbewegung hervorbrachte, darf sicherlich nicht unbeeinflußt gesehen werden von der ausgesprochenen Langzeitwirkung, die das Verdikt Gervinus' und Treitschkes gegen Jahn und die Turnbewegung innerhalb der deutschen Historiographie hatte. Unsere Feststellung, nach 1945 sei keine Untersuchung zustande gekommen, in der die charakterisierten Bereiche der nationalen Turner- und (bzw. oder) der nationalen Sängerbewegung systematisch erforscht wurden, ist nicht so zu interpretieren, als sei seit diesem Zeitpunkt überhaupt keine wissenschafdiche Arbeit verfaßt worden, die sich mit der Turn- oder mit der Sängerbewegung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschäftigt. So sind während der 60er Jahre in der DDR zwei umfangreiche Arbeiten entstanden, die sich mit der Turnbewegung von ihren Anfängen bis 1819/20 bzw. bis 1847 befassen. Beide Studien beschäftigen sich gleichgewichtig auch mit der im jeweiligen Untersuchungszeitraum existierenden Burschenschaftsbewegung. Es handelt sich bei den Arbeiten um eine von 4 5

Vgl. S. 11 und Anm. 14 dieser Arbeit. G. G. Gervinus, Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts seit den Wiener Verträgen, Bd. 2, Leipzig 1856, S. 366-371; H. v. Treitschke, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Leipzig 1927,1. Teil, S. 298 f. und 2. Teil, S. 377-387.

8

1. Einleitung

der Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig im Jahre 1965 als Habilitationsschrift angenommene und 1967 unter dem Titel „Burschenturner im Kampf um Einheit und Freiheit" publizierte Studie Willi Schröders 6 und um eine ebenfalls aus dem Jahre 1965 stammende Hallenser Dissertation mit dem Titel „Die Turnbewegung und die Burschenschaften als Verfechter des Einheits- und Freiheitsgedankens in Deutschland 1811-1847" von Norbert Heise 7 . Keine der beiden Arbeiten weist jedoch die in unserer Studie enthaltenen zentralen Fragestellungen und thematischen Schwerpunkte auf, denn beide Abhandlungen haben nicht den Charakter empirisch-systematischer und komparativischer Untersuchungen. Das Forschungsziel Schröders und Heises besteht kaum darin, generalisierende, auf strukturelle Merkmale der Turnbewegung abhebende Aussagen zu treffen, geschweige denn Strukturmerkmale der deutschen Nationalbewegung insgesamt zu bestimmen. Eine zum Teil von einer individualisierenden historischen Sehweise beeinflußte ,Ereignisgeschichte* dominiert in beiden Darstellungen 8 . Für die folgende Untersuchung sind die bisher erschienenen Arbeiten zur Geschichte der frühen und vormärzlichen Tumbewegung von Wert. Mancherlei Fakten und Daten konnten ihnen entnommen werden. Da sich unsere Abhandlung von den bisherigen Forschungen zur Geschichte der Turnbewegung in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts aber hinsichtlich der Fragestellungen, inhaltlichen Schwerpunkte und Untersuchungsmethoden grundsätzlich unterscheidet, war eine intensive Beschäftigung mit den Quellen zur Turnbewegung zwischen 1811 und 6

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Willi Schröder, Burschenturner im Kampf um Einheit und Freiheit, Berlin (Ost) 1967. Als Habilitationsschrift angenommen wurde die Arbeit unter dem Titel: „Der Anteil der Turner und Burschenschafter am Kampf um die Lösung der nationalen Frage in den beiden ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Körperkultur." Norbert Heise, Die Turnbewegung und die Burschenschaften als Verfechter des Einheitsund Freiheitsgedankens in Deutschland 1811-1847, phil. Diss. (MS) Halle-Wittenberg 1965. Die Arbeiten Schröders und Heises stehen hinsichtlich der Untersuchungsmethoden in der Tradition einer Reihe von Abhandlungen zur Geschichte der Turnbewegung, die vor 1945 von Angehörigen der Turnbewegung verfaßt worden waren. Denn hatte auch die Geschichtswissenschaft wenig Neigung gezeigt, sich mit der Erforschung der Turnbewegung zu beschäftigen, so bestand doch seit den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts unter den Turnern selbst ein reges Interesse an der Geschichte .ihrer' Bewegung. Eine Frucht ihrer Forschungen war eine stattliche Zahl von Aufsätzen über die Turnbewegung im 2. und im 5. Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, die fast alle in der „Deutschen Turn-Zeitung", dem Mitteilungsorgan für die Mitglieder der „Deutschen Turnerschaft" (des 1868 gegründeten nationalen Turnerverbandes) erschienen. Einige von der Historie .ihrer' Bewegung gefesselte Turner publizierten aber auch umfangreichere, die frühe oder die vormärzliche Turnbewegung betreffende oder berührende Arbeiten. So veröffentlichte Carl Euler im Jahre 1881 eine Jahn-Biographie (C. Euler, Friedrich Ludwig Jahn. Sein Leben und Wirken, Stuttgart 1881); ebenso Fritz Eckardt im Jahre 1924 (F. Eckardt, F. L. Jahn. Eine Würdigung seines Lebens und Wirkens, Dresden 1924). Edmund Neuendorff publizierte in den 30er Jahren eine vierbändige „Geschichte der neueren deutschen Leibesübung". Der 2. Band enthält unter dem Titel „Die Hasenheide" eine umfängliche Abhandlung über die frühe Tumbewegung. Im 3. Band befindet sich ein längeres Kapitel über die Turnvereinsbewegung der 40er Jahre (E. Neuendorff, Geschichte der neueren deutschen Leibesübung vom Beginn des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Bd. II, Dresden [1931], S. 133 ff. und Bd. III, Dresden [1934], S. 397 ff.). Auch die j/>orfhistorische Dissertation von Josef Recla vom Anfang der 30er Jahre ist hier einzuordnen (J. Recla, Freiheit und Einheit. Eine Turngeschichte in gesamtdeutscher Beleuchtung, Graz 1931).

Einleitung

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1819/20 und zwischen 1842 und 1847 unerläßlich. Ohne den Rekurs auf die Quellen hätte die Arbeit nicht geschrieben werden können. Zum einen haben wir für die Untersuchung Quellen herangezogen, die schon von einigen Autoren zumindest partiell benutzt worden sind. Sie werden jedoch für diese Arbeit nach ganz anderen Gesichtspunkten ausgewertet. Es handelt sich sowohl um Quellen, die aus der Turnbewegung selbst stammen - um zeitgenössische Publikationen, (inzwischen im Druck erschienene) Briefe und Tagebuchaufzeichnungen einzelner Mitglieder der Bewegung, um Turnerzeitschriften und Turner-Memoiren - , als auch um staatliche Quellen aus den beiden in Frage kommenden Jahrzehnten (2. und 5.Jahrzehnt des 19.Jahrhunderts), nämlich um die Turnbewegung betreffende Akten der preußischen Zentral-Behörden (befindlich im Zentralen Staatsarchiv der DDR, Abteilung Merseburg). Zum anderen liegen unserer Untersuchung zur frühen und vormärzlichen Turnbewegung Quellen zugrunde, die zum ersten Male benutzt wurden. Zu nennen sind Akten aus nachgeordneten preußischen Behörden, nämlich Oberpräsidialakten aus der Rheinprovinz (Landeshauptarchiv Koblenz) und Akten der Bezirksregierung Düsseldorf (Hauptstaatsarchiv Düsseldorf); ferner staatliche Archivalien nichtpreußischer Provenienz (nassauische und württembergische Ministerialakten, befindlich in den Hauptstaatsarchiven Wiesbaden und Stuttgart), städtische Akten (Stadtarchiv Stuttgart), Universitätsakten (Erlangen-Nürnberg) und Turnvereinsarchivalien (Kieler Männer-Turnverein v. 1844; Turn- und Sportgemeinde Tübingen v. 1845). Erstmals wurde für diese Arbeit auch ein die frühe Turnbewegung betreffender Untersuchungsbericht der Mainzer Zentralen Untersuchungskommission ausgewertet. Der Quellenwert dieses 144 Seiten umfassenden Berichtes (er befindet sich im Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden) ist kaum zu überschätzen, da er auf umfassenden Recherchen der seit Herbst 1819 arbeitenden Kommission basiert. Beschlagnahmte Briefe, Tagebücher und andere persönliche Papiere von Turnern waren in großer Zahl von der Kommission zum Zwecke der Erstellung des Berichtes gesichtet worden. Viele wörtliche Briefzitate sind in den Bericht übernommen worden. Aussagen von Turnern, die diese im Verlauf von Verhören gemacht hatten, waren ebenfalls in den Bericht eingeflossen. Der Bericht dokumentiert anschaulich den Spürsinn und die Akribie der Kommission bei ihrem Versuch, sich ein Bild von den Verhältnissen innerhalb der Turnbewegung und von ihren Aktivitäten zu machen. Quellen von zum Teil beachtlichem Informationsgehalt bezüglich örtlicher zwischen 1811 und 1819 oder im Vormärz existierender Turnerorganisationen sind Turnvereins-Festschriften aus den letzten Jahrzehnten des 19.Jahrhunderts und von der Jahrhundertwende. Ebenfalls erstmalig wurden für die folgende Arbeit eine größere Zahl dieser Vereinsschriften als Quellen genutzt. Die Verfasser der Festschriften, durchweg historisch interessierte Vereinsmitglieder, hatten meist mit großer Sorgfalt die Geschichte ihres Vereins recherchiert und dabei manchmal auch lokalen Vorgängerorganisationen Aufmerksamkeit geschenkt. Die Fundorte der von uns ausgewerteten Turnvereins-Festschriften sind Turnvereinsbibliotheken, da von öffentlichen Bibliotheken in der Vergangenheit derartige von Vereinen herausgegebene Druckwerke in aller Regel nicht gesammelt wurden. Schließlich wurden von uns zum Zwecke einer systematischen Analyse der in den Turnvereinen verbreiteten nationalpolitischen und nationalkulturellen Ideen auch mehrere zeitgenössische Turnliederbücher ausgewertet.

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l. Einleitung

In der DDR sind in den 60er Jahren nicht nur zwei umfangreiche wissenschaftliche Arbeiten zur frühen bzw. zur frühen und vormärzlichen Turnbewegung erschienen, im gleichen Jahrzehnt wurde dort auch eine Dissertation verfaßt, die sich unter dem Thema „Der deutsche Männerchorgesang im 19.Jahrhundert" mit der Männer-Gesangvereinsbewegung des vergangenen Jahrhunderts beschäftigt9. Der Autor der Studie ist jedoch nicht Fachhistoriker, sondern Musikwissenschafder. Das die Abhandlung unverkennbar prägende musikwissenschaftliche Interesse des Autors an seinem Forschungsobjekt und die Konzentrierung der Untersuchung auf die Männer-Gesangvereinsbewegung in Thüringen und in der Stadt Leipzig10 haben verhindert, daß ein abgerundetes Bild von der „Organisation" der Sängerbewegung im 19.Jahrhundert entstand. Die Angaben, die Schmidts Untersuchung zur Sängerbewegung außerhalb Thüringens und Leipzigs enthält, sind hauptsächlich drei die Geschichte des deutschen Männer-Gesangvereinswesens aufarbeitenden Darstellungen entnommen, die schon einige Jahrzehnte vorher entstanden waren. Dabei handelt es sich ebenfalls um Arbeiten von Nicht-Fachhistorikern. Die älteste der drei Veröffentlichungen erschien - in zweifacher Auflage - schon im 19.Jahrhundert; sie stammt von Otto Elben, dem nationalliberalen Stuttgarter Redakteur und Reichstagsabgeordneten, der bereits in vormärzlicher Zeit der nationalen Sängerbewegung in Württemberg angehörte11. Elbens „Geschichte" des „volksthümliche(n) deutsche(n) Männergesang(s)" beruht sowohl „auf der eigenen Anschauung" des Verfassers, d.h. auf Erlebnissen und Erfahrungen, die ihm selbst als Mitglied der Bewegung zuteil wurden, als auch auf umfangreichem, aus verschiedenen Sängervereinen stammendem Quellenmaterial12. Auch wenn der Arbeit eine relativ breite Quellenbasis eigen ist, besitzt sie dennoch nicht den Charakter einer wissenschaftlichen Studie: Es gibt in ihr nämlich nicht nur keine konkreten Quellennachweise, es fehlt in ihr überhaupt ein Anmerkungsapparat. Die Darstellung folgt in breiten Partien dem Ablauf der .Ereignisse', die in ihrer individuellen Besonderheit zu schildern sich Elben zur Aufgabe macht. Ist Elbens Darstellung auch keine .Strukturgeschichte' der deutschen Männer-Gesangvereinsbewegung im 19.Jahrhundert, so ist sie aufgrund ihres Faktenreichtums dennoch für jeden sich in der Gegenwart der nationalen Sängerbewegung zuwendenden Historiker eine wichtige Informationsquelle. Die zweite umfangreiche Darstellung zur Geschichte des deutschen MännerGesangvereinswesens, deren Verfasser selbst Vereinssänger war, erschien erst ei9

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G. Schmidt, Der deutsche Männerchorgesang im 19. Jahrhundert. Ziele, Organisation und gesellschaftliche Auswirkung, insbesondere auf die musikalische Laienbildung, phil. Diss. (MS.) Halle 1962. „Die Arbeit stützt sich in erster Linie auf die Erforschung der Männerchorbewegung in Thüringen und bezieht das Stadtgebiet von Leipzig mit ein" (ebd., S. II.). Vgl. O. Elben, Der volksthümliche deutsche Männergesang, seine Geschichte, seine gesellschaftliche und nationale Bedeutung, Tübingen 1855. Die zweite Auflage des Buches erschien am gleichen Ort im Jahre 1887 unter dem Titel: „Der volksthümliche deutsche Männergesang. Geschichte und Stellung im Leben der Nation." In ihr befaßte sich Elben auch mit der Sängerbewegung in den 60er Jahren und mit dem Männer-Gesangvereinswesen im Kaiserreich. Nach Elbens Auskunft im Vorwort zur 1. und 2. Auflage des Buches. Vgl. Elben, Der volksthümliche deutsche Männergesang ..., Tübingen 1855, S. VIIIf.; ders., Der volksthümliche deutsche Männergesang ..., Tübingen 1887, S. IX.

Einleitung

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nige Jahrzehnte später. Der Leipziger Gymnasialprofessor Richard Kötzschke veröffentlichte sie 1927 unter dem Titel „Geschichte des deutschen Männergesanges - hauptsächlich des Vereinswesens"13. Das Buch Kötzschkes teilt den nichtwissenschaftlichen Charakter der Elbenschen Monographie. Aber auch in methodischer Hinsicht ist Elbens Darstellung für Kötzschke Vorbild. Die dritte umfängliche Abhandlung zur Historie der nationalen Sänger-Assoziationen in Deutschland (der der DDR-Autor Schmidt wichtige Anregungen und Informationen verdankt) konzentriert sich ganz auf die Geschichte der Bewegung in ihrer Entstehungsphase, d.h. nicht einmal die vormärzliche Periode wird vollständig behandelt; mit dem Jahr 1839 endet die von dem Musikwissenschaftler Heinrich Dietel stammende Berliner Dissertation, die dieser 1939 unter dem Titel „Beiträge zur Frühgeschichte des Männergesanges" veröffentlichte14. Wie für Schmidt, so ist auch für Dietel die Kunstform des in den Männer-Gesangvereinen gepflegten vierstimmigen Chorgesangs Gegenstand seines besonderen Interesses; aber Dietel versucht auch Einblicke in die verschiedenen Seiten des internen Vereinslebens zu geben. Er beläßt es jedoch in breiten Partien der Arbeit bei einer vom antiquarischen Interesse am Detail bestimmten Betrachtungsweise. Ein wesentlicher Teil der von Dietel benutzten Quellen bestand aus Vereinsschriftgut, nämlich aus handgeschriebenen Protokollbüchern und Chroniken sowie aus (gedruckten) Festschriften. Auch unsere Untersuchung beruht zu einem ganz erheblichen Teil auf Quellen, die aus der Sängerbewegung selbst stammen. Dazu zählen ebenfalls Vereinsfestschriften, die heute noch in einigen Gesangvereinsbibliotheken aufbewahrt werden 15 . Es gehören dazu aber auch Vereinsarchivalien. Die Archivunterlagen eines Vereins, nämlich der „Lübecker Liedertafel", erwiesen sich für unsere Arbeit als besonders wertvoll; sie sind zweifellos die wichtigste Quelle für den der vormärzlichen Sängerbewegung gewidmeten Teil der Studie. Erwähnt werden muß, daß diese umfangreichen Vereinsarchivalien - sie befinden sich heute als Depositum im Archiv der Stadt Lübeck - von uns zum ersten Male ausgewertet wurden. Sie sind deshalb eine so ergiebige Quelle, weil sie vornehmlich aus Unterlagen bestehen, denen mehr als eine lokale Bedeutung zukommt: Unter ihnen befinden sich nämlich Akten des in den 40er Jahren des 19.Jahrhunderts bestehenden „Norddeutschen Sängerbundes" und Korrespondenzen, die in diesem Jahrzehnt zwischen norddeutschen Sängervereinen und die zwischen der Lübecker Liedertafel und Gesangvereinen außerhalb Norddeutschlands gewechselt wurden; ferner findet man in ihnen detaillierte Beschreibungen von in den 40er Jahren gefeierten norddeutschen Sängerfesten sowie Texte von Liedern und den Wortlaut von Reden, die bei diesen Festen gesungen bzw. gehalten wurden. Alle wichtigen Teilbereiche unserer sich mit der vormärzlichen Sängerbewegung beschäftigenden Darstellung haben von den Archivalien der „Lübecker Liedertafel" ganz erheblich profitiert. 13

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R. Kötzschke, Geschichte des deutschen Männergesanges - hauptsächlich des Vereinswesens, Dresden [1927]. H. Dietel, Beiträge zur Frühgeschichte des Männergesanges, Würzburg 1939. Zwei für diese Arbeit verwertete Festschriften sind enthalten im Bestand „Niedersächsischer Sängerbund", der heute im Stadtarchiv Lübeck verwahrt wird. Der „Niedersächsische Sängerbund" wurde 1862 gegründet.

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1. Einleitung

Ausgewertet wurde für diese Arbeit erstmals auch gedrucktes Quellenmaterial aus den Archiven des Kölner Männer-Gesangvereins und der Männer-Gesangvereine („Liederkränze") in Plochingen und Eßlingen. Die beiden zuletzt genannten Vereinsarchive enthalten wichtige Unterlagen (u.a. Beschreibungen von Sängerfesten, Fest-Programmhefte und Liederhefte) aus der Entstehungsphase der nationalen Sängerbewegung in Deutschland, d.h. aus dem dritten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts. Für unsere Untersuchung wurden auch zum ersten Male wichtige, sich im Stadtarchiv Würzburg befindliche gedruckte Materialien zur vormärzlichen Sängerbewegung herangezogen. Dabei handelt es sich nicht um in einem öffentlichen Archiv hinterlegte Vereinsarchivalien, wie dies für den Bestand „Lübecker Liedertafel" im Stadtarchiv Lübeck zutrifft; das aus der vormärzlichen Sängerbewegung stammende Schriftgut wurde vom Archiv selbst gesammelt. Eine weitere Quelle, die der vormärzlichen Gesangvereinsbewegung entspringt, ist die Sängerzeitschrift „Teutonia", die zu Beginn des Jahres 1846 erstmals erschien. Die Jahrgangsbände 1846-1849 - sie werden heute nur noch im Richard-Wagner-Museum in Eisenach verwahrt - konnten ebenfalls von uns ausgewertet werden. Zwei in den 40er Jahren des 19.Jahrhunderts erschienene Broschüren, in denen der Verlauf einiger vormärzlicher Sängerfeste beschrieben wird und von denen in der Gegenwart einige wenige Exemplare in öffentlichen wissenschaftlichen Bibliotheken vorhanden sind, erwiesen sich ebenfalls als eine gute Informationsquelle für unsere Arbeit 16 . Zum Schluß dieses einleitenden Kapitels möchten wir den im Titel unserer Arbeit erscheinenden Begriff „organisierter gesellschafdicher Nationalismus" inhaltlich erläutern. Eine solche begriffliche Klärung ist insofern notwendig, als der Bezeichnung in der folgenden Untersuchung terminologisch neben dem Begriff „Nationalbewegung" eine zentrale Stellung zukommt. In sprachlich verkürzter Form wird in der Arbeit auch des öfteren von „gesellschaftlichem Nationalismus" oder „organisiertem Nationalismus" die Rede sein. Zu erläutern wäre in diesem Zusammenhang auch, in welchem Verhältnis - nach unserer Meinung - der Begriff „organisierter gesellschaftlicher Nationalismus" zum Terminus „Nationalbewegung" steht. Wenn wir in diese Untersuchung das Wort „Nationalismus" einführen, so nicht mit der Absicht, mit ihm eine politische Bewußtseinshaltung zu charakterisieren, die auf jeden Fall als übersteigert, radikal oder extrem eingestuft werden muß. Einen in dieser Weise reduzierten und pejorativen Bedeutungsgehalt möchten wir dem Wortbegriff a priori nicht unterlegen. Er wird vielmehr von uns in einem viele ideologische Varianten zulassenden und völlig wertneutralen Sinne verwendet. Unbeschadet seiner jeweils konkreten ideologischen Ausprägung verstehen wir unter „Nationalismus" in ideologischer Hinsicht eine Bewußtseinshaltung, die von dem Gedanken der Zugehörigkeit zu einer „Nation", einem „Volk", d. h. einer verschiedene soziale Gruppen und Schichten übergreifenden menschlichen Großgruppe, beherrscht ist und die von der Idee erfüllt ist, daß diese als „Nation" oder „Volk" bezeichnete Großgruppe bestimmte unverwechselbare Identitätsmerkmale (z.B. Sprache, Kultur, Geschichte) auszeichnet. Der Gedanke an die noch zu realisie16

Gemeint ist die Schrift von L. Storch, Der Thüringer Sängerbund und sein erstes Liederfest, Gotha 1843, und die Publikation von H. Hansen, Deutsche Volks- und Sängerfeste in Schleswig-Holstein, besonders das am 1, 2. und 3. Juni 1845 gefeierte Deutsche Volksund Sängerfest in Eckernförde, Altona 1846.

Einleitung

13

rende oder schon verwirklichte politisch-staatliche Identität der Nation ist in aller Regel Teil dieses Bewußtseins. Wenn wir in dieser Arbeit von gesellschaftlichem Nationalismus reden, so deshalb, um begrifflich zu akzentuieren, daß jenem Nationalismus unsere Aufmerksamkeit gilt, der innerhalb der Gesellschaft zur Entfaltung kommt und der seine Entstehung allein oder ganz primär dem Willen und der Tat gesellschaftlicher Kreise verdankt. Alle Arten eines staatlichen oder staatlich gelenkten Nationalismus (der natürlich auch in der Gesellschaft wirksam werden kann, z. B. durch das Medium der Publizistik) bleiben außerhalb unseres Blickfeldes 17 . Schließlich sprechen wir deshalb in dieser Arbeit von organisiertem gesellschaftlichem Nationalismus, weil die Objekte unserer Untersuchung nationale Assoziationen sind. Aus dem bisher Gesagten wird schon erkennbar, daß nach unserem Verständnis die Begriffsprägung „organisierter gesellschafdicher Nationalismus" inhaltlich mit dem Begriff „Nationalbewegung" verwandt, ja teilweise identisch ist. Jedenfalls trifft diese Verwandtschaft und partielle bzw. temporäre Identität für die deutschen Verhältnisse im 19.Jahrhundert zu. Ausschließlich bezogen auf die Situation in Deutschland während des 19.Jahrhunderts, läßt sich das Zuordnungsverhältnis von „Nationalbewegung" und „organisiertem gesellschaftlichem Nationalismus" folgendermaßen bestimmen: Die Nationalbewegung in Deutschland ist - wie bereits eingangs festgestellt - im wesendichen eine organisierte gesellschaftliche Bewegung gewesen, in der nicht nur kulturnationale Vorstellungen zu Hause waren, sondern in deren Ideologie der Gedanke an die Schaffung eines nationalen staatlichen Gemeinwesens einen herausragenden Platz einnahm 18 . Die deutsche Nationalbewegung war demnach primär „organisierter gesellschaftlicher Nationalismus" in einem ganz bestimmten politisch-ideologischen Gewände. Organisierten gesellschaftlichen Nationalismus, d. h. ein differenziertes nationales Vereinswesen, gab es in Deutschland aber auch noch im 19.Jahrhundert, als die nationalstaadiche Einigung Wirklichkeit geworden war (nach 1870/71). Dieser gesellschaftliche Nationalismus hatte freilich nicht mehr den Charakter einer Nationalbewegung, da ihm das politisch-ideologische Ziel der Nationalstaatsgründung fehlte. Organisierter gesellschaftlicher Nationalismus existierte in Deutschland aber nicht nur zeidich nach dem Bestehen einer Nationalbewegung, sondern auch vorher, d.h., bevor die Existenz einer Nationalbewegung im 2.Jahrzehnt des 19.Jahr17

18

Jeder Nationalstaat wird durch mancherlei Ausdrucksformen und Maßnahmen seine nationale Qualität gegenüber den eigenen Bürgern und nach außen unter Beweis zu stellen versuchen. Es sei nur auf die symbolischen Ausdrucksmittel - Nationalflagge, Nationalhymne, Nationaldenkmäler - und auf die nationale Stimmungen erzeugenden nationalen Fesdichkeiten an staatlicherseits festgesetzten nationalen Gedenktagen verwiesen. Zur nationalstaadichen Symbolik vgl. vor allem den grundlegenden Aufsatz von E. Fehrenbach, Über die Bedeutung der politischen Symbole im Nationalstaat, in: Historische Zeitschrift, Jg. 1971 (Bd. 213), S. 296-357. In die Bezirke staatlicher Politik vermag „Nationalismus" nicht erst Einzug zu halten, wenn ein Staat die Qualität eines Nationalstaates besitzt. Auf die Politik pränationaler Staaten können z.B. von nationalem Bewußtsein erfüllte Staatsmänner Einfluß gewinnen, d.h. sie können sich in politischen Handlungen und Entscheidungen von ihren nationalen Ideen leiten lassen, um damit Zustände zu überwinden, die diesen Vorstellungen entgegenstehen. Nach 1806/07 gelang es z.B. nationaldeutsch gesonnenen Politikern wie Stein, Gneisenau und Scharnhorst, der preußischen Politik für kurze Zeit ihren Stempel aufzudrücken. Vgl. oben S. 4.

14

1. Einleitung

hunderte nachweisbar ist. W i e noch in unserer Arbeit näher gezeigt werden soll, trat in Deutschland seit 1808 ein gesellschaftlicher Nationalismus in kollektiv-organisierter Form in Erscheinung, der zwar als Ziel die Erlangung des Nationalstaates verfolgte, dem jedoch wichtige, zu Beginn dieser Einleitung genannte Merkmale der deutschen Nationalbewegung (z. B. öffentliche Organisationsform, territoriale Verbreitung und Kommunikation ,im nationalen Ausmaß', schichtenübergreifende Mitglieder-Soziologie, national-rituelle Ausdrucksformen) 1 9 fehlten. Zusammenfassend läßt sich also sagen, daß „organisierter gesellschafdicher Nationalismus" die dem Begriff „Nationalbewegung" übergeordnete Begriffsprägung darstellt. Es gab während des 19.Jahrhunderts in Deutschland „organisierten gesellschaftlichen Nationalismus", der die Qualität einer Nationalbewegung hatte, und es gab solchen, der sie (noch) nicht besaß. War ihm die Qualität eigen, so verfolgte er das politisch-ideologische Ziel der Nationalstaatsgründung, und er besaß jene anderen, am Beginn dieser Einleitung erwähnten charakteristischen Merkmale.

19

Vgl. oben S. 3 f.

2.

Die frühe nationale Turnbewegung (1811-1819)

2.1.

Einführung: Deutschland am Beginn des 19. Jahrhunderts und die Entstehung eines gesellschaftlichen Nationalismus

Die Jahre 1808 und 1819/20 markieren als zeitliche Grenzen jenen Abschnitt deutscher Geschichte, in dem erstmals ein organisierter gesellschaftlicher Nationalismus aufkeimte, der schließlich den Charakter einer (organisierten) Nationalbewegung annahm. Die genannten Jahreszahlen umschließen die Geburtsphase und die erste Entfaltungs- und Bewährungsperiode der deutschen Nationalbewegung im 19-Jahrhundert. Die beiden herausragenden politischen Ziele der sich formierenden Bewegung waren die nationalstaatliche Einigung Deutschlands (die eine Überwindung oder Eindämmung des deutschen Partikularismus voraussetzte) und untrennbar damit verbunden - die Modernisierung, d. h. Entfeudalisierung des politisch-gesellschaftlichen Systems. Die Entstehung der Bewegung war kurzfristig durch die napoleonische Deutschlandpolitik provoziert worden, deren - für Deutschland schmerzliche - Resultate 1806/07 offen zutage traten: das Ende des politisch nahezu ausschließlich vom deutschen Fürstenadel getragenen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, der Zusammenschluß deutscher Staaten unter dem Protektorat Napoleons im Rheinbund, die militärisch-politische Katastrophe Preußens (in und nach den Schlachten von Jena und Auerstedt) und die für diesen großen norddeutschen Feudal- und Militärstaat demütigenden Bedingungen des Tilsiter Friedens. Waren die durch den Willen Napoleons bewirkten politischen Veränderungen in Deutschland eine unmittelbare Ursache für das Aufkeimen einer nationaldeutschen Bewegung, so war für deren abruptes, vorläufiges Ende in den Jahren 1819/20 der erklärte Wille der deutschen Fürsten verantwortlich, den freiheitlich-nationalen Regungen den Garaus zu machen. Auch die nationale Turnbewegung fiel als signifikanter Bestandteil des frühen deutschen Nationalismus der reaktionären politischen Wende zum Opfer. Während ihrer gut achtjährigen Existenz hatte sie das Erscheinungsbild des gesellschaftlichen Nationalismus in mancherlei Hinsicht entscheidend geprägt. Durch den Akt ihrer Gründung im Jahre 1811 in Berlin und durch die Ausbildung spezifischer organisatorisch-kommunikativer, sozialer und ritueller Merkmale erhielt der deutsche Nationalismus sogar eine besondere, seine weitere Entwicklung im 19.Jahrhundert vorzeichnende und bestimmende Qualität. Wenn auch die napoleonische Deutschlandpolitik das entscheidende, unmittelbar wirkende Stimulanz für die Entstehung eines organisierten gesellschaftlichen Nationalismus gewesen ist, so war dieser ideologisch freilich schon längerfristig

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2. Die frühe nationale Turnbewegung (1811-1819)

durch die im Kreise deutscher Gebildeter seit dem letzten Drittel des 1 S.Jahrhunderts erstarkten kulturnationalen Vorstellungen und durch die von einigen Angehörigen der deutschen Intelligenz mit kritischer Sympathie aufgenommenen Ideen der Französischen Revolution der Boden bereitet worden. Die sich in der sozialen Revolution des Nachbarlandes auslebenden gesellschaftstheoretischen Ideen der französischen Aufklärung fanden zwar Resonanz bei deutschen Gebildeten; auf die realen politischen Zustände in Deutschland waren sie jedoch so gut wie ohne Einfluß geblieben. Die durch die französische Aufklärungsphilosophie in ihrer Legitimität in Frage gestellte und durch die in Frankreich zum ersten Male durch eine soziale Revolution außer Kraft gesetzte feudalstaatliche Staats- und Gesellschaftsordnung hatte sich in Deutschland nahezu ungebrochen behauptet. Kein deutscher Fürst fand sich bis 1806/07 bereit, politische Rechte seiner Untertanen durch Gewährung einer Verfassung zu kodifizieren und somit Einschränkungen seiner politischen Omnipotenz hinzunehmen. Bezeichnenderweise erhielt als erster deutscher Staat Ende 1807 das von Napoleon gleichsam aus der Retorte geschaffene Königreich Westfalen eine Konstitution. In der „Konstitutionsakte" dieses auf deutschem Boden begründeten französischen Vasallenstaates waren u. a. auch Bestimmungen enthalten, die den Rahmen einer neuen Sozialordnung absteckten: Die Verfassung verkündete die Abschaffung der bäuerlichen Unfreiheit und des Korporationswesens (einschließlich der Zunftordnung) sowie die rechtliche Gleichstellung aller Untertanen. Bis zum Zeitpunkt der Verkündung der westfälischen Verfassung hatte sich keiner der deutschen Landesherren willens gezeigt, die rechtlichen Privilegien des Adelsstandes zu beschneiden. Auch war in keinem der deutschen Staaten die Bauernbefreiung vollends verwirklicht worden. Der Habsburger Joseph II. und der badische Markgraf Karl Friedrich waren zwar bereit gewesen, in ihren Ländern die Leibeigenschaft der Bauern aufzuheben (1781 und 1783), die grundherrlich-bäuerliche Untertänigkeit ließen sie jedoch weiterhin in Kraft. In Preußen wurde erst durch das Steinsche Reformedikt vom Oktober 1807 die Aufhebung der leiblich-personalen Unfreiheit aller Bauern für den Martinitag 1810 angekündigt20. Die Beseitigung der ökonomisch-beruflichen Abhängigkeit der preußischen Bauern war mit diesem Edikt aber ebensowenig intendiert. Nicht nur die feudale Agrarverfassung hatte sich noch weitgehend erhalten, ebenso hatte das dem Mittelalter entstammende ständische Korporationswesen, das den gesellschaftlichen Lebensbereich des von ihm erfaßten Bevölkerungsteils in umfassender Weise normierte und reglementierte, bis 1806/07 kaum etwas von seiner Gültigkeit eingebüßt. Diese Feststellung schließt auch die Zünfte ein, jene Korporationen, die das berufliche und soziale Leben der Handwerker und Gewerbetreibenden maßgeblich bestimmten. Die vom preußischen Staat im 18.Jahrhundert geförderten manufaktureilen Produktionsstätten vermochten die Zunft als dominierende Institution im handwerklich-gewerblichen Sozialbereich nicht zu verdrängen. Der von merkantilistischen Ideen inspirierte absolute Fürstenstaat betrachtete es als seine Pflicht, dem gewerblichen Leben durch bürokratische Intervention und 20

Nur die Domänenbauem in der Provinz Preußen und in dem Gebiet Neu-Ostpreußen deren Grundherr der Landesherr selbst war - waren schon 1804 in die persönliche Freiheit entlassen worden.

Deutschland am Beginn des 19. Jahrhunderts

17

finanziellen Anreiz neue Impulse zu geben, er war aber noch nicht bereit, die Zunft als ständische Organisation anzutasten21. Die weitgehende Beibehaltung der feudalen Sozialformen hatte in Deutschland - verglichen mit Frankreich und England - die ökonomische Entwicklung stagnieren lassen. Haupterwerbszweig der rund 25 Millionen Deutschen - von denen 90% auf dem Lande oder in Gemeinden mit weniger als 5000 Einwohnern lebten - war die Landwirtschaft. Ein einheitlicher nationaler Wirtschaftsraum existierte noch nicht. Obwohl die staatlich-politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Zustände in Deutschland um 1806/07 noch ein weitgehend feudales Gepräge besaßen, hatte sich in der deutschen Gesellschaft des 18.Jahrhunderts dennoch in einer bestimmten Hinsicht ein beachtlicher und - berücksichtigt man die Entwicklung im 19-Jahrhundert - folgenreicher Wandel vollzogen. Motor dieses Wandlungsprozesses war die deutsche Aufklärung bzw. waren die diese geistige Aufbruchbewegung tragenden Sozialgruppen. Die Aufklärung hatte nicht nur zu einer erheblichen Intensivierung der geistigen Kommunikation unter der bürgerlichen und adligen Bildungsschicht Deutschlands geführt, wofür die expandierende Buch- und Zeitschriftenproduktion ein Gradmesser ist; das gesteigerte geistige Kommunikationsbedürfnis, die größere geistige Mobilität löste auch eine neue, bisher in Deutschland so gut wie unbekannte Form von gesellschaftlicher Mobilität aus: Angehörige des gehobenen Bürgertums und - wenn auch quantitativ weitaus geringer - gebildete Adlige zeigten mit zunehmender Tendenz das Bestreben, sich auf freier voluntaristischer Grundlage zu Assoziationen zusammenzuschließen. Durch ihre Entstehungsvoraussetzung unterschieden sich die Assoziationen von den tradierten sozialen Organisationsformen, den Korporationen22. Nicht auf einer individuellen Willensentscheidung beruhte die Zugehörigkeit zu einer Korporation, sie wurde vielmehr determiniert durch Geburt, sozialen Stand und Beruf des einzelnen. Darüber hinaus war auch die Zwecksetzung der Assoziation von derjenigen der Korporation unterschieden. Die Korporation regelte - wie schon erwähnt den gesellschafdichen Lebensbereich jedes Mitgliedes in umfassender Weise, die Assoziation diente hingegen speziellen persönlichen Neigungen, Interessen oder Absichten der in ihr zusammengeschlossenen Individuen. Es bildete sich während des 18.Jahrhunderts eine breite Skala von Motiven für die Entstehung von Assoziationen heraus, deren Mitglieder in den meisten Fällen jeweils Bürger ein und derselben Stadt waren. Neben dem bloß zum Zwecke der Geselligkeit und Unterhaltung gegründeten Vereinigungen entstanden solche, in denen die Mitglieder 21

22

Allein in Bayern waren die Privilegien der Zünfte 1804 beschnitten worden. Die Folge war jedoch nicht eine größere Freiheit des Gewerbes. Dessen Ausübung wurde nun von der Gewährung einer staadichen Konzession abhängig gemacht, die nicht ohne weiteres zu erhalten war. Die Begriffsunterscheidung geht zurück auf O. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 1, Berlin 1868, S. 638 ff. Vgl. hierzu und zum folgenden den instruktiven Aufsatz von O. Dann, Die Anfänge politischer Vereinsbildung in Deutschland, in U. Engelhardt/V Sellin/H. Stuke (Hrsg.), Soziale Bewegung und politische Verfassung, Stuttgart 1976, S. 197-232. Siehe jetzt auch U. Im Hof, Das gesellige Jahrhundert. Gesellschaft und Gesellschaften im Zeitalter der Aufklärung, München 1982. Vgl . ebenfalls Th. Nipperdey, Verein als soziale Struktur im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Geschichtswissenschaft und Vereinswesen im 19. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte historischer Forschung in Deutschland, Göttingen 1972, S. 1—44.

18

2. Die frühe nationale Turnbewegung (1811-1819)

ihre spezifischen wissenschaftlichen, literarischen und künstlerischen Ambitionen zur Entfaltung und Geltung bringen wollten. Außerdem traten Vereine ans Licht der Öffentlichkeit, deren Zweck für ihre Mitglieder darin bestand, sich auf dem Wege allgemeiner Information und Diskussion Meinungen über aktuelle Zeitfragen zu bilden oder - nach Absprache und im Einverständnis mit der obrigkeitlichen Gewalt - in einer bestimmten, eingeschränkten und festumrissenen Form öffentliche Aufgaben zu projektieren und zu realisieren. Der erste der beiden zuletzt angedeuteten Vereinstypen wurde durch die „Lesegesellschaften" repräsentiert, der zweite durch die „patriotischen Gesellschaften", deren .Patriotismus' als ein auf den jeweiligen Einzelstaat bezogenes Loyalitätsdenken interpretiert werden muß und nicht als national-deutsche Orientierung mißverstanden werden darf. Engagierten sich die patriotischen Gesellschaften auch wie z. B. die patriotische Gesellschaft in Hamburg - bei der Verwirklichung von Einzelprojekten „auf ökonomischem, kulturellem und sozialem Gebiet" subsidiär zu den Aufgaben der Obrigkeit, so enthielten sie sich doch vollständig einer politischen Willensbildung 23 . Vereinigungen, die einem der oben charakterisierten Assoziationstypen entsprachen, waren in zahlreichen deutschen Staaten während des 18.Jahrhunderts der Duldung durch den Landesherrn oder durch die Regierung gewiß. Eine landesherrliche Genehmigung - die jederzeit widerrufen werden konnte - mußte freilich eingeholt werden. Angesichts der absolutistischen Herrschaftspraxis und der feudalen Gesellschaftsverhältnisse mochten obrigkeitliche Zugeständnisse dieser Art überraschen. Zu beachten ist jedoch, daß es sich um eine Konzession an eine zahlenmäßig begrenzte, elitäre gesellschaftliche Gruppe handelte. Die Tolerierung dieses neuen gesellschaftlichen Phänomens schien zudem für manche, dem aufgeklärten Geist des Jahrhunderts sich verbunden fühlende Fürsten eine zur Förderung von Vernunft und geistigem Fortschritt nützliche und notwendige Tat zu sein. Absolut unduldsam zeigten sich die deutschen Staaten des 18.Jahrhunderts hingegen, wenn Assoziationen zu einem politischen Zweck gegründet wurden oder wenn unpolitische Vereinigungen nach einer gewissen Zeit einen politischen Charakter annahmen 24 . Versuche, in Vereinen über die Meinungen der Fürsten und Regierungen hinausgehende, auf politische Änderung abzielende Gedanken und Pläne zu entwickeln oder gar durch Vereine das politische Bewußtsein der Öffentlichkeit zu beeinflussen, galten auf jeden Fall als strafbare Handlungen. Die Möglichkeit, politische Vereinigungen legal, d.h. öffentlich und mit Wissen der Regierung, ins Leben zu rufen, bestanden also nicht. Die Gründung von geheimen politischen Organisationen lag deshalb als Notlösung nahe. Die Tatsache des Entstehens solcher Geheimbünde ist jedoch nicht nur auf die Einsicht ihrer Gründer zurückzuführen, der Staat werde ihre öffentliche Organisierung unterbinden; sie ist auch beeinflußt durch das von den unpolitischen Freimaurerlogen praktizierte Arkanumprinzip. Das im 18.Jahrhundert aufblühende Freimaurerwesen muß ebenfalls 23

24

Dann, Anfänge politischer Vereinsbildung, S. 203 f. Vgl. auch O. Dann (Hrsg.), Lesegesellschaften und bürgerliche Emanzipation. Ein europäischer Vergleich, München 1981, H. Hubrig, Die patriotischen Gesellschaften des 18. Jahrhunderts, Weinheim/Bergstraße 1957 und H. Freudenthal, Vereine in Hamburg. Ein Beitrag zur Geschichte und Volkskunde der Geselligkeit, Hamburg 1968, S. 33-43. Vgl. Gierke, S. 873.

Deutschland am Beginn des 19-Jahrhunderts

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als ein Teil des allgemeinen Assoziationsbedürfnisses der bürgerlichen u n d adeligen Intelligenz betrachtet werden. Gesellschaftlich organisierte politische Aktivität war, so läßt sich c u m grano salis behaupten, in Deutschland während des 18.Jahrhunderts allein in geheimen Organisationen möglich 2 5 - natürlich nur so lange wie die staatlichen Organe von ihr keine Kenntnis erhielten. Zahlreiche deutsche Staaten bemühten sich, ihre Verhaltenspraxis gegenüber den Assoziationen durch Polizeiverordnungen in ein gewisses System zu bringen 2 6 . In ihnen wurde die Bildung von politischen u n d geheimen Organisationen unter Strafandrohung verboten. Die Partikularstaaten konnten außerdem einige spezielle Reichsgesetze - z. B. ein Gesetz gegen Vereinigungen zum Bruch des Landfriedens - gegen Assoziationen zur A n w e n d u n g bringen - allerdings nur bei entsprechend weiter Auslegung dieser Gesetze. Der preußische Staat gab im Jahre 1794 als erster Einzelstaat der von ihm gegenüber den Assoziationen angewendeten Verfahrenspraxis eine rechtliche Grundlage. D e r Wortlaut der im Allgemeinen Landrecht enthaltenen Rechtsbestimmung war jedoch derart sibyllinisch, daß die Behörden faktisch auch zukünftig in jedem Einzelfalle freie Hand hatten, einen Verein zu verbieten. Einerseits betonte das Allgemeine Landrecht, jede frei gebildete gesellschaftliche Vereinigung habe ein Existenzrecht, wenn deren Zweck mit „dem gemeinen W o h l " übereinstimme; andererseits sprach es den staatlichen Organen das Recht zu, dieselbe Vereinigung zu verbieten, wenn sie „andern gemeinnützigen Absichten oder Anstalten hinderlich oder nachtheilig" sei 27 . Ein preußisches Edikt v o m Oktober 1798 verschärfte die für die G r ü n d u n g von Vereinigungen gültigen rechtlichen Bestimmungen. Es verbot bei strenger Strafe nicht nur Vereine mit geheimen Zwecken, unbekannten Oberen oder mystischen Formen, sondern auch alle Assoziationen, die - als Haupt- oder Nebenzweck Änderungen in Verfassung oder Verwaltung des Staates erstrebten 2 8 . Angesichts der schon im 18.Jahrhundert von den bürgerlichen u n d adligen Gebildeten ausgehenden Organisierungstendenzen bedeutete das nach 1806/07 auftretende Bestreben patriotisch-deutscher Kreise, sich zu m e h r oder weniger formellen Assoziationen zusammenzuschließen, keineswegs ein N o v u m innerhalb der deutschen Gesellschaft. D e n n o c h trat in der organisierten nationalen Bewegung, wie sie im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts in Deutschland zur Entfaltung kam, ein für das deutsche Vereinigungswesen - und somit für die deutschen gesellschaftlichen Verhältnisse - gänzlich neues Entwicklungselement klar zutage: Da schon einige Jahre nach Entstehung des organisierten Nationalismus aus den Rei23

26 27 28

Vgl. F. Valjavec, Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland 1770-1815, Düsseldorf 1978 (Unveränderter Nachdruck der Erstausgabe von 1951), S. 229 ff. Die gegen Ende des Jahrhunderts in den von Frankreich annektierten linksrheinischen Gebieten entstehenden Jakobinerklubs und Volksgesellschaften sind eine Ausnahme. Ihre Entstehung wäre jedoch ohne den französischen Einfluß bzw. ohne direkte französische Anordnung nicht denkbar gewesen. Die Klubs in Mainz und Aachen z. B. verdanken ihre Gründung einer entsprechenden Aufforderung des französischen Kommandanten (Vgl. Dann, Anfänge politischer Vereinsbildung, S. 207, Anm. 33). Vgl. hierzu und zum folgenden: J. Baron, Das deutsche Vereinswesen und der Staat im 19. Jahrhundert, Diss. jur. Göttingen 1962, S. 5. Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten, Teil II, Bd. I, Berlin 1806, S. 301. Baron, S. 24 f.

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2. Die frühe nationale Turnbewegung

(1811-1819)

hen der sich assoziierenden Patrioten heraus der erfolgreiche Versuch unternommen wurde, die von der Öffendichkeit abgeschirmte Organisationsweise zugunsten einer öffendichen, für jedermann erkennbaren Organisierung preiszugeben, wurde in Deutschland - in Anbetracht der unverkennbar politischen Inhalte des von den sich organisierenden Patrioten vertretenen Nationalismus - zum ersten Male der Schritt zu einem öffentlichen politischen Vereinswesen getan. Bevor sich die Darstellung den Frühformen des organisierten deutschen Nationalismus und speziell der frühen nationalen Turnbewegung zuwendet und bevor in diesem Zusammenhang die Aufmerksamkeit besonders auf den Prozeß des Übergangs von der nichtöffendichen zur öffendichen politischen Organisierung gelenkt wird, soll jedoch eine knappe Skizze von jenen nationalen Gedankeninhalten entworfen werden, wie sie das Bewußtsein derjenigen nationalen Wortführer zwischen 1806 und 1810 auszeichnete, die mit ihren Reden und Schriften in dem genannten Zeitraum den größten Einfluß auf die deutsche Öffentlichkeit ausübten. Es soll aus zwei Gründen geschehen: 1. Diese noch verschwindend kleine Gruppe nationaler Propagandisten, die alle der gebildeten bürgerlichen Schicht angehörten - mit Ausnahme von Friedrich Ludwig Jahn handelte es sich um Hochschullehrer - , förderten durch ihr rhetorisches und publizistisches Wirken die Entstehung eines organisierten gesellschaftlichen Nationalismus. Das nationale Bewußtsein der in den ersten nationalen Kontakt-, Diskussions- und Aktionsgruppen sich vereinenden Individuen wurde zudem durch die patriotisch-deutschen Gedankenelemente der wenigen nationalen Wortführer weitgehend geprägt, zumal einige von diesen den Gruppierungen selbst angehörten oder - im Falle Jahns - diese ins Leben riefen. 2. Der von wenigen Intellektuellen zwischen 1806 und 1810 vertretene und individuell mit großer Wirkung in der Öffentlichkeit propagierte national-deutsche Patriotismus war ebensosehr durch national-ideologische Gemeinsamkeiten als auch durch national-ideologische Unterschiede gekennzeichnet: Wichtig dabei ist, daß sich Jahn aus dem Kreis der wirkungsmächtigsten nationalen Propagandisten durch ein politisches Nationsverständnis heraushob, das das vergleichsweise größte Maß an Konkretheit aufwies. Dieses mußte ihn geradezu dazu prädestinieren, bei der Entstehung nationaler Organisationen eine hervorragende Rolle zu übernehmen. Vier der fünf durch ihr geschriebenes oder gesprochenes Wort wirkungsstärksten Patrioten lebten in Preußen oder siedelten sich dort nach 1806/07 für längere Zeit an. Dies kam nicht von ungefähr. Während alle deutschen Staaten seit Ende 1808 - mit Ausnahme von Österreich, Dänisch-Holstein und Schwedisch-Pommern - aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum Rheinbund dem Willen und der Verfügungsgewalt des französischen Imperators direkt und unbedingt unterworfen waren, besaß das infolge des Tilsiter Friedens um die Hälfte seines Territoriums dezimierte Preußen - trotz französischer Besatzung und Kontrolle - noch so viel innenpolitischen Spielraum, daß in ihm eine Gruppe hoher Staatsbeamter, die von politischem Reformwillen, preußischem und deutschem Patriotismus gleichermaßen beseelt war, durch ihre Berufung in die leitenden Staatsämter entscheidenden Einfluß auf die Geschicke des preußischen Staates gewann. Im Denken Steins, Hardenbergs, Scharnhorsts, Gneisenaus und W. v. Humboldts, die per Gesetzgebung und auf administrativem Wege einen mehrgleisigen politisch-gesellschafdichen Modernisierungsprozeß in Gang setzten (Entlassung der Bauern in die per-

Deutschland am Beginn des 19. Jahrhunderts

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sönliche Freiheit und deren Befreiung von den grundherrlichen Diensten, Abschaffung der Zunftprivilegien und Inkraftsetzen der Gewerbefreiheit, Einführung der geplanten Selbstverwaltung, Reorganisation des Heerwesens, Schul- und Universitätsreform), war der politische Reformgedanke mit der Idee einer preußischen und national-deutschen Regeneration und Befreiung eng verknüpft. Ihre Politik der Erneuerung verstanden sie als Vorgriff auf eine entsprechende reformerische Umgestaltung in ganz Deutschland. 1810 war es Hardenberg sogar gelungen, dem preußischen Monarchen ein öffentliches Verfassungs versprechen abzuringen. Die Tatsache, daß die preußische Regierung nach 1806/07 Männern anvertraut wurde, die nicht nur preußisch-patriotisch, sondern auch national-deutsch dachten und fühlten, war zweifellos eine wichtige Voraussetzung für die Übersiedlung intellektueller deutscher Patrioten in die preußische Metropole, die dort einen regen gesellschaftlichen Aktivismus im Dienste der national-deutschen Sache entfalteten. Mit anderen Worten: Die staatlichen Rahmenbedingungen in Preußen waren für das Aufkeimen eines gesellschaftlichen Nationalismus in diesem deutschen Staat, vor allem in seiner Hauptstadt, äußerst günstig. In keinem der größeren süd-, mittel- und norddeutschen Rheinbundstaaten konnten auch nur annäherungsweise national-deutsch gesonnene Staatsbeamte Einfluß auf die Regierungspolitik gewinnen. Die innerstaatlichen Reformen, die in Bayern, Württemberg und Baden unter dem Druck des französischen Protektors Platz griffen und die sich in ihrem Ausmaß mit den preußischen nicht vergleichen lassen 29 , waren frei von allen national-deutschen Motivationen und Intentionen, die weder im Sinne der Landesfürsten noch Napoleons liegen konnten. Sie sollten dagegen nach dem Willen des jeweiligen Herrschers, der sie veranlaßte, primär dazu dienen, Konsistenz und Homogenität des Partikularstaates herzustellen, um bei den Untertanen ein bayerisches, württembergisches oder badisches Staatsbewußtsein zu wecken und zu fördern. Eine dermaßen an der Unitarisierung des eigenen Staates interessierte und auf die Erzeugung eines einzelstaatlichen Loyalitätsdenkens bedachte obrigkeitliche Gewalt war zwangsläufig bestrebt, innerhalb ihrer territorialen Reichweite Keime eines gesellschaftlichen gesamtdeutschen Nationalismus überhaupt nicht erst entstehen zu lassen. Erste Keime eines solchen sich vornehmlich publizistisch artikulierenden - Nationalismus hatten sich dagegen in dem zweiten großen, nicht dem Rheinbund zugehörenden deutschen Staat, in Österreich, während der Reformära Stadion (1806-09) entwickelt. So wenig aber die durch den national-deutsch orientierten Minister Philipp Stadion inaugurierten Reformen in Ausmaß und Ertrag an die preußischen Reformen heranreichten, sowenig konnten es die national-deutschen gesellschaftlichen Aktivitäten in Österreich in ihrer Wirkung und Durchschlagskraft mit derjenigen in Preußen aufneh29

Das süddeutsche Reformwerk bestand vornehmlich in der Schaffung effektiver zentralistischer Verwaltungssysteme; in Baden wurde freilich der Code Napoléon eingeführt. Die im badischen Kernland im Jahre 1783 vollzogene Aufhebung der Leibeigenschaft hatte für die neubadischen Gebiete erst ab 1818 Gültigkeit. Die Loslösung von den grundherrlichen Fronden geschah unter dem Einfluß der Julirevolution in den Jahren 1831/33. In Bayern befreite ein Reformgesetz des Jahres 1848 die Bauern aus den feudalen Zwängen, obwohl schon 1808 die Aufhebung der leiblichen und grundherrlichen Abhängigkeit verkündet worden war, allerdings vom Einverständnis der Betroffenen, also auch des Grundherrn, abhängig gemacht wurde und somit wirkungslos blieb. In Württemberg kam die volle bäuerliche Emanzipation nach 1830 zustande.

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2. Die frühe nationale Turnbewegung (1811-1819)

men. Bereits 1809 - nach dem Scheitern der antinapoleonischen Erhebung Österreichs, der Endassung Stadions und der Übernahme Metternichs in die Regierung - wurde ihnen der Boden entzogen.

2.2.

F. L. Jahns Nationsverständnis im Vergleich mit nationalideologischen Konzeptionen anderer führender deutscher Patrioten im ersten Jahrzehnt des ^.Jahrhunderts

Schon 1806/07 gingen von drei Persönlichkeiten, Ernst Moritz Arndt, Johann Gottlieb Fichte und Friedrich Schleiermacher, durch das Medium der geschriebenen oder gesprochenen Sprache besondere national-deutsche Impulse aus. Was den Grad des Einflusses auf die Öffentlichkeit betrifft, sind sie in den ersten Jahren des deutschen Niedergangs und des preußischen Desasters die herausragendea nationalen Wortführer. Der von der Insel Rügen gebürtige Arndt, der 1809 in die preußische Residenz kam30, versuchte in dem 1806 in Altona (Dänisch-Holstein) veröffentlichten 1. Teil seines Buches „Geist der Zeit" (1807 erschien eine zweite Auflage am gleichen Ort) das öffentliche Bewußtsein für die Idee der Nation empfänglich zu machen. 1809 ließ er den 2. Teil seiner patriotisch-deutschen Schrift anonym in Stockholm erscheinen. Schon vor den Katastrophenjahren 1806/07, nämlich im Jahre 1803, hatte Arndt in Altona eine Schrift mit dem Titel „Germanien und Europa" publiziert, in der er zum ersten Male - wenn auch noch relativ verhalten — national-deutsche Töne anklingen ließ. Der aus Sachsen stammende Fichte, der - mit einer Unterbrechung in den Jahren 1805-1807 - seit 1799 in Berlin lebte31, verfolgte sein Ziel, das öffentliche Bewußtsein im nationalen Sinne zu beeinflussen, in seinen „Reden an die deutsche Nation", welche er in öffentlichen, nicht nur Studenten zugänglichen Vorträgen an vierzehn Sonntagen von Dezember 1807 bis März 1808 im Kuppelsaal der Berliner Akademie hielt. Der gebürtige Preuße Schleiermacher beabsichtigte mittels seiner zwischen 1806 und 1810 in Halle und Berlin gehaltenen politischen Predigten - er übersiedelte nach der Niederlage Preußens im Oktober 1806 in die preußische Metropole - , bei seinen Zuhörern eine nationale Gesinnung zu wecken und zu fördern32. Seit 1808/09 zählte auch Heinrich Luden, ein noch nicht 30 Jahre alter Geschichtsprofessor in Jena, zu der kleinen, einflußreichen Gruppe nationaler Propa30

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Arndt, Sohn eines Gutsinspektors, war 1805 im schwedischen Greifswald Geschichtsprofessor geworden. Fichte war Sohn eines in der Oberlausitz ansässigen Bandwebers. 1794 hatte er erstmals in Jena eine Philosophie-Professur erhalten. Wegen freigeistiger Äußerungen in einer Publikation veranlaßte der Herzog von Sachsen-Weimar 1799 seine Demission. 1805 erhielt er die Berufung zum Hochschullehrer nach Erlangen, das damals preußisch war. 1810 wurde er Professor und Rektor an der neugegründeten Berliner Universität. Schleiermacher wurde als Sohn eines Feldpredigers in Breslau geboren. 1804-06 war er Theologieprofessor in Halle. In Berlin wirkte Schleiermacher zunächst ausschließlich als Prediger. 1810 erhielt er an der Berliner Universität eine Professur.

F. L. Jahns Nationsverständnis

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gandisten. Im Winter 1808 gelang es ihm, sich an der Jenaer Universität mit einem Vorlesungszyklus „Uber das Studium der vaterländischen Geschichte" einen großen Zuhörerkreis zu verschaffen und ihn für seine aus der Geschichte abgeleiteten nationalen Wunsch- und Zielvorstellungen zu begeistern33. Mit Luden war ein weder in Preußen gebürtiger noch nach Preußen übergesiedelter Angehöriger der gebildeten bürgerlichen Schicht zu dem Kreis der durch Wort und Schrift wirkenden nationalen Aktivisten gestoßen34. Ludens patriotisch-deutsche Vorlesungen an der thüringischen Universität waren möglich, weil Großherzog Karl August - trotz der Zugehörigkeit Sachsen-Weimars zum Rheinbund - den Professoren der Jenaer Hochschule ein verhältnismäßig hohes Maß an Lehrfreiheit garantierte. Im Jahre 1810 schließlich reihte sich auch der in Preußen gebürtige und seit 1809 in dessen Hauptstadt lebende Friedrich Ludwig Jahn durch die Veröffentlichung eines Buches, dem er den Titel „Deutsches Volksthum" gab, in die geistigpolitische Phalanx der Gruppe patriotisch-deutsch gesinnter Intellektueller ein, die sich in dem halben Jahrzehnt nach der preußisch-deutschen Katastrophe für die Ausbildung eines Nationalgeistes in besonderem Maße einsetzten35. Jahn trug dazu seinen Teil zwar nicht durch die unmittelbare Wirkung national-politisch motivierter Reden, Predigten oder Vorlesungen bei - wie Fichte, Schleiermacher oder Luden - ; sein Buch war auch nicht in der betont emotional-lebendigen Sprache geschrieben wie Arndts „Geist der Zeit", dennoch übte es auf die entstehende nationale Bewegung - vor allem durch die Wirkung, die sein Autor mit ihm innerhalb der frühen nationalen Turnbewegung erzielte - einen eminenten Einfluß aus36. 33

Siehe H. Luden, Ueber das Studium der vaterländischen Geschichte. Vier Vorlesungen aus dem Jahre 1808, Gotha 1828, S. IV f. Luden beschreibt die Wirkung, die von seinem Vorlesungsthema ausging, mit den Worten: „Nicht nur das Auditorium war durchaus mit Menschen angefüllt, sondern auch der Vorsaal, die Treppe, ja der Hof standen voll von Studirenden" (ebd., S. V).

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Luden stammte aus dem niedersächsischen Loxstedt, wo sein Vater Landwirt war. Jahn, der 1778 im Dorfe Lanz in der Priegnitz (Mark Brandenburg) als Pfarrerssohn geboren wurde, hatte ein mehr als sechsjähriges Studium (Geschichte, deutsche Sprache) an mehreren Universitäten ohne Examen abgeschlossen. Als er 31 jährig im Dezember 1809 nach - wie er selbst eingesteht - „langen Irrjahren und Irrfahrten" (F. L. Jahn/E. B. Eiselen: Die deutsche Turnkunst, Berlin 1816, S. III) in Berlin eintraf, um sich dort für länger niederzulassen, war seine berufliche Zukunft noch ungeklärt. Er hatte sich allerdings seit 1804 an verschiedenen Stellen als Hauslehrer verdungen. Auf ausgedehnten Wanderfahrten im nord- und mitteldeutschen Raum schuf er sich außerdem einen großen Bekannten- und Freundeskreis. Im Jahre 1806 folgte er bei Kriegsausbruch dem preußischen Heer und erlebte die militärische Katastrophe auf dem Jenaer Schlachtfeld als Zuschauer. Er begleitete danach versprengte Heereseinheiten in den norddeutschen Raum. Vom Tilsiter Friedensschluß bis zu seinem Eintreffen in Berlin lebte er im Hause eines Landrates in Boizenburg (Mecklenburg-Schwerin). Dieser Aufenthalt wurde allerdings durch verschiedene Unternehmungen unterbrochen. In seiner 1835 erschienenen Schrift „Denknisse eines Deutschen" schildert er anschaulich, wie er in dieser Zeit einen mit wichtigen Depeschen ausgestatteten Engländer sicher - ohne daß er in die Hände der französischen Geheimpolizei fiel - nach Hamburg geleitete (Vgl. C. Euler, F. L. Jahns Werke, I. Band, Hof 1884, S. 425 ff.) Siehe zu Jahns Lebensweg vor seiner Ankunft in Berlin: Euler, Jahn, S. 1 - 1 0 2 ; F. G. Schultheiß, F. L . J a h n , Sein Leben und seine Bedeutung, Berlin 1894, S. 5-44.

35

36

Die Auflagenhöhe des Buches ist unbekannt. Ebenso ist nicht bekannt, wieviele Exemplare seiner ersten Auflage - die zweite erschien 1817 in einem Leipziger Verlag - sich absetzen ließen. Immerhin hatten aber ca. 300 Personen das Buch subskribiert (Nach Euler, Jahn, S. 111).

24

2. Die frühe nationale

Turnbewegung

(1811-1819)

Z w a r erschien J a h n s B u c h erst zu Ostern 1 8 1 0 in e i n e m L ü b e c k e r Verlag d r u c k t wurde es in Berlin

ge-

als Manuskript abgeschlossen hatte J a h n es aber s c h o n

1 8 0 8 3 7 . N u r die in der Veröffentlichung angefügte „Schlußrede" verfaßte er erst i m März 1 8 1 0 . Die R e d e n u n d Schriften A r n d t s , Fichtes, Schleiermachers, L u d e n s u n d J a h n s zeichneten sich d u r c h erhebliche nationalideologische

Gemeinsamkeiten,

ebenso d u r c h z u m Teil ins G e w i c h t fallende nationalideologische

aber

Unterschiede

aus. D i e fünf Patrioten s t i m m t e n überein in der Beurteilung der gewordenen

deut-

schen Nation, i m Auffinden u n d B e n e n n e n von entwickelten und gereiften nationalen W e s e n s m e r k m a l e n , in der Vorstellung von e i n e m eigentümlichen

deutschen

Volk. Sie trafen sich in der grundsätzlichen A n s c h a u u n g , daß die Differenzierung des M e n s c h e n g e s c h l e c h t s in Völker bzw. Nationen m i t jeweils unverwechselbaren Eigenarten eine Folge des Urprinzips der Natur

sei, in sich die mannigfaltigsten L e -

bensformen zuzulassen 3 8 . Das deutsche Volk sahen sie vor anderen Völkern - besonders d e m französischen Volk - dadurch ausgezeichnet, daß es sich einen unverstellten Z u g a n g zu seinen ursprünglichen, genuinen Naturkräften bewahrt habe. W e i l sie in der Erhaltung der originären, natürlichen Anlagen eine exklusive Eigentümlichkeit

des

deutschen Volkes zu erkennen glaubten, k o n n t e es als „ S t a m m v o l k " (Fichte) oder

37

Die „Erklärung", die Jahn in Form eines Vorwortes dem Buch voranstellt und in der er von dem fertiggestellten Buchmanuskript spricht, ist nach Jahns Angabe am 1 4 . 1 0 . 1 8 0 8 in seinem Geburtsort abgefaßt worden (Vgl. F. L. Jahn, Deutsches Volksthum, Lübeck 1810, S. XXIV).Berücksichtigt man außerdem, daß das Erscheinen einiger der über 200 Publikationen, die Jahn in seinem Buch zitiert, in das Jahr 1807 fällt - für nur eine Veröffentlichung ist das Jahr 1808 angegeben - , wird man als Zeitraum, in dem das Buch geschrieben wurde, die Jahre 1807/08 veranschlagen dürfen. Hält man sich an die Bemerkung Jahns, er habe „nach der Tilsiter Zeit" - der Tilsiter Friede wurde im Juli 1807 abgeschlossen - mit der Arbeit an der Neufassung eines in den Kriegswirren abhanden gekommenen „Volksthum"-Manuskriptes begonnen (ebd., S. XV), so läßt sich der Zeitraum der Niederschrift noch enger fassen. Ob Jahn wirklich schon einige Jahre zuvor eine Schrift mit dem Titel „Volksthum " und außerdem - wie er behauptet - eine mit „Denkbuch für Deutsche" benannte Arbeit verfaßt hat (ebd.), ist eine offene Frage. Jahns überaus deudiche Betonung, die veröffentlichte Schrift sei höchstens imstande, „auf die ehmahlige vollständige Ausarbeitung" hinzuweisen (ebd.), und die gedanklichen und sprachlichen Schwächen des Buches ergäben sich aus der unfertigen Nachahmung des ursprünglichen Werkes (ebd., S. XVI), legen die Vermutung nahe, daß er mit der Erfindung von zwei Phantomwerken eine auf gewisse Mängel seiner Arbeit insistierende potentielle Kritik von vornherein zu unterlaufen hoffte. Möglicherweise hat Jahn bereits vorhandene Notizen oder Materialsammlungen in den Rang von fertigen Werken erhoben.

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Siehe hierzu vor allem: Jahn, Deutsches Volksthum, S. 5f., 15 f., 31; Luden, S. 7 ff.; F. Schleiermacher, „Wie sehr es die Würde des Menschen erhöht, wenn er mit ganzer Seele an der bürgerlichen Vereinigung hängt, der er angehört" (Predigt, am 24. August 1806 in Halle gehalten u. 1808 in Berlin veröffentlicht), in: F. Schleiermacher, Kleine Schriften und Predigten 1 8 0 0 - 1 8 2 0 , bearb. v. H. Gerdes, Berlin 1970, S. 2 8 5 - 3 0 0 , besonders S. 286, 289, 293, 298f.; J . G. Fichte, Reden an die deutsche Nation, in: Fichte, Ausgewählte Werke in sechs Bänden, hrsg. v. Fritz Medicus, 5. Bd., Darmstadt 1962, S. 425 ff. (4. Rede), S. 485 f. (7. Rede); E. M. Arndt, Germanien und Europa, Altona 1803, S. 3 2 2 - 3 4 0 ; [E. M. Arndt], Geist der Zeit, Teil II, 2. Aufl., London 1813, S. 267 f.

F. L Jahns Nationsverständnis

25

„Urvolk" (Jahn, Fichte) charakterisiert werden39. Der deutschen Nation zu zeigen, was sie durch Natur geworden ist 40 , mußte sich angesichts eines solchen Befundes für die Patrioten als besondere Gegenwartsaufgabe stellen. Vor allem mittels der ursprünglichen-naturhaften deutschen Sprache41 hätte sich nach Meinung der fünf Patrioten die deutsche Nation die Verbindung zu ihren natürlichen Lebenskräften erhalten. Da es die einhellige Auffassung der Patrioten war, daß die nationale Eigentümlichkeit jeder Nation in ihrer Sprache wesentlich zur Geltung komme, ja, daß sich die Nationalität in erheblichem Maße erst mit der Muttersprache verwirkliche und durch diese ihre besondere, von den anderen Nationen trennende Eigenart erhalte, kam der Deutung der deutschen Sprache als lebendige „Ursprache", als Sprache, wie sie bei „ihrem ersten Ausströmen aus der Naturkraft"42 gesprochen werde, ein besonderes Gewicht zu. So sehr die Patrioten auch in der deutschen Volkseigentümlichkeit und - als einem essentiellen Teil von ihr - in der deutschen Sprache ein Ergebnis spezifischer natürlicher Anlagen und Kräfte erblickten, so sehr waren sie andererseits der Auffassung, daß sich Nationalität und Nationalsprache erst im Vollzug der Geschichte verwirklichen würden43. Natur, Geschichte und Kultur eines Volkes wurden jedoch nicht als widersprüchliche, sondern sich ergänzende Mächte empfunden, wenn - wie man dies beim deutschen Volk zu erkennen glaubte - die Natur eines Volkes sich in seiner Geschichte und Kultur Geltung verschaffe. Und die deutsche Sprache konnte deshalb zugleich natürliche Anlage und kulturelle Leistung sein44. Die deutsche Geschichte wurde zu einer reichen Fundgrube von Beweisstücken für die ungebrochene, eigentümlich-naturbedingte Leistungskraft des deutschen

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Jahn, Deutsches Volksthum, S. 393; Fichte, S. 467,470,485 u. 492. Fichte, S. 485f.: „... jetzt wird endlich dieser Nation ... der Spiegel vorgehalten, in -welchem sie mit klarem Begriffe erkenne, was sie bisher ohne deutliches Bewußtsein durch die Natur ward .. Zur Beurteilung der Nationalsprache, insbesondere der deutschen, vgl.: Arndt, Germanien und Europa, S. 323 u. 356ff., Geist der Zeit, Teil II, S. 194f.; Schleiermacher, S. 289; Luden, S. 45 u. 48; Jahn, Deutsches Volksthum, S. 31 u. 199f. - Fichte hatte in der vierten und fünften Rede seines Vorlesungszyklus die Antinomie einer lebendig-ursprünglichen deutschen und einer toten französischen Sprache zum inhaltlichen Schwerpunkt einer breitangelegten Deduktion über die schicksalhafte Bedeutung einer Nationalsprache für die geistig-seelische Entwicklung eines Volkes gemacht. Während das deutsche Volk eine „Ursprache" spreche, seien die „neulateinischen" Völker im Besitz einer „abgestammten", nur auf der Oberfläche sich regenden, in der Wurzel aber toten Sprache. Wenn sich in einem Volk, das eine lebendige Sprache sein eigen nenne, „Geistesbildung" und „Leben" durchdrängen, sich außerdem zum Geist das „Gemüt" geselle und der gebildete Teil des Volkes sich mit dem übrigen Teil der Nation zu verbinden trachte, hätten in einem Volk, dem eine tote Sprache eignet, Bildung und Leben keine Berührungspunkte, fände der Geist keine Ergänzung durch das Gemüt, und blieben die gebildeten Stände vom Volk geschieden (Fichte, S. 422-454). Fichte, S. 455 u. 436. Vgl. z.B. Luden, S. 14, 45;Jahn meinte, daß die „Allmutter" Natur die Völker gebäre und daß die Geschichte in den Völkern „erzeugt" werde. Der geschichtliche Prozeß beeinflusse die Eigentümlichkeiten eines Volkes in ihrer Entstehung und Veränderung. Das „Wandelnde und Bleibende, Langsamwachsende und Langdauernde, Zerstörtwerdende und Unvergängliche" präge ein Volkstum. (Jahn, Deutsches Volksthum, S. 3,8,15 f., 31). Jahn, Deutsches Volksthum, S. 31; Schleiermacher, S. 289; Fichte, S. 426 f.

26

2. Die frühe nationale Turnbewegung (1811-1819)

Volkes. Vor allem .kulturelle' geschichtliche Taten galten als herausragende nationale Leistungsnachweise45. Wenn die fünf Patrioten Natur, Geschichte und Kultur als jene Kräfte ausmachten, denen das deutsche Volk seine gewachsene nationale Individualität verdanke, und wenn sie seine Sprache als lebendigste Ausdrucksform seines durch die Natur gestifteten und durch Geschichte und Kultur bekräftigten und befestigten Gemeinschaftsgeistes interpretierten, so standen sie ohne Unterschied im Banne der Ideen eines deutschen Kultur- und Geschichtsphilosophen des 18.Jahrhunderts, nämlich Johann Gottfried Herders. Nicht jeder der fünf Patrioten mag sich der Schlüsselstellung Herders in der deutschen Geisteswelt des ausgehenden 1 S.Jahrhunderts und seiner Wegbereiterfunktion für ein ,natürlich'-kulturelles Nationsverständnis unter deutschen Intellektuellen voll bewußt gewesen sein, wie dies für Jahn zutraf, der Herder in seinem Buch mehrfach im autoritativen Sinne zitiert und ihm bescheinigt, ein „großer Vertrauter der Geheimnisse der Völkerwelt in Sprache, Volksthum und Geschichte" zu sein46. Dennoch beruhte ihr durch die Faktoren Natur, Geschichte, Sprache und Kultur geformtes Nationsverständnis auf einer mittel- oder unmittelbaren Rezeption Herderscher Gedanken. Allerdings hatten sie die spezifische Herdersche kulturund geschichtsphilosophische Betrachtungsperspektive in einem wichtigen Punkt modifiziert. Herder hatte eine Vielzahl der in Vergangenheit und Gegenwart existierenden Völker gleichrangig in seine kulturgeschichtliche Entwicklungsanalyse einbezogen und der deutschen Nation weder eine herausragende, andere Völker übertreffende natürliche Qualität noch einen andere Nationen deklassierenden historischen Rang eingeräumt47. Den fünf nationalen Protagonisten ging es hingegen 45

Der Grad der Ubereinstimmung bei dem Bemühen, Erscheinungen in der deutschen Geschichte als bestätigende Paradigma für die eigentümliche Leistungsfähigkeit des deutschen Volkes zu reklamieren, wird vor allem daran augenscheinlich, daß man sich auf identische Handlungen und Phänomene berief. So hob man die Taten einzelner Deutscher hervor bzw. das Wirken geschichtlicher Persönlichkeiten, die man zu den deutschen Ahnen zählte. Man nannte den Kampf des Cheruskerfürsten Hermann gegen die römischen Eindringlinge, das reformatorische Wirken Luthers, verwies nachdrücklich auf dessen Verdienst, eine deutsche Hochsprache geschaffen zu haben, und hob kulturelle Gemeinschaftsleistungen, wie die mittelalterliche deutsche Städtekultur, in den Rang national-deutscher Spitzenleistungen (vgl. Z.B.Jahn, Deutsches Volksthum, S. 19, 161 ff., 389f.; E. M. Arndt, Geist der Zeit, Teil 1,2. Aufl., [Altona] 1807, S. 202 f.; Teil II, S. 48, 53 u. 223 f.; Fichte, S. 458 ff. u. 466 ff.; Luden, S. 70 ff.). - Luden stand der lutherischen Reformation allerdings zwiespältig gegenüber. Auch für ihn war es unzweifelhaft, daß sich in der Reformation „der teutsche Charakter in seiner ganzen Herrlichkeit (offenbarte)"; in den politischen Folgen der konfessionellen Spaltung sah er aber „ein höchst unglückseliges Ereigniß" (ebd., S. 72).

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Jahn, Deutsches Volksthum, S. 233 f. An seine eigene Richtschnur, eine „Naturgeschichte der Menschheit" „unpartheiisch" und ohne eine „Rangordnung" der Nationen zu schreiben (Herders Sämmtliche Werke, hrsg. von B. Suphan, Berlin 1877 ff., Bd. 18, S. 246 ff.), hielt sich Herder weitgehend. Jedoch ist bei ihm immerhin die Tendenz sichtbar, der deutschen Sprache eine superiore Stellung unter den Nationalsprachen zuzuweisen oder ihr Qualitätsmerkmale zuzuerkennen, die sie positiv von der französischen Sprache abhoben (siehe hierzu in dieser Anmerkung unten und Anm. 50). - Zum Natur- und Geschichtsverständnis Herders vgl. vor allem dessen Abhandlungen „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit" (1774) und „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" (1784ff.) in: Herders Sämmtliche Werke, Bde 5 (S. 475ff.), 13 (S. lff.) u. 14 (S. 1 ff.). Her-

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nicht darum, allgemeine Entwicklungs- und Wachstumsgesetze zu ergründen, denen die Nationen gleichermaßen, wenn auch in individueller Ausprägung, im Laufe der Menschheitsgeschichte unterworfen seien, ihr brennendes Bedürfnis war es vielmehr, nach den Ereignissen der Jahre 1806/07 herausragende deutsche Nationaleigentümlichkeiten aufzuspüren und zu benennen. Ihre im Vergleich zu Herder unveränderte Auffassung, daß sich die Menschheit auf natürliche Weise in verschiedene Völker gliedere, ließ sie nicht zögern, Existenznotwendigkeit und Existenzrecht der übrigen Nationen expressis verbis anzuerkennen; ihre konkreten Aussagen über andere Völker hatten jedoch in den meisten Fällen eine im Dienste der entwickelte seine Natur- und Geschichtsphilosophie in Auseinandersetzung mit dem eher statischen, die geschichtlichen und natürlichen Veränderungen und Unterschiede wenig berücksichtigenden und durch die Vernunft bestimmten Menschheits- und Weltbild der Aufklärung. Er erteilte der menschlichen Vernunft aber keineswegs eine Absage, wollte sie vielmehr als eine die natürlich-seelischen Bezirke des Menschen mit einbeziehende Verstandeskraft gedeutet wissen (Herder: „der Mensch empfindet mit dem VerStande ...", Herders Sämmtliche Werke, Bd. 5, S. 100). Den entscheidenden gedanklichen Anstoß zu einer Besinnung auf die ursprünglichen Kräfte der Natur erhielt Herder durch die Aufklärung selbst in Form der kulturpessimistischen Schriften Rousseaus. Während Rousseau aber menschliche Kultur und Natur als zwei voneinander geschiedene Sphären betrachtete und letztere in einem außerzivilisatorischen und somit auch quasi außergeschichtlichen Raum beließ, galten für Herder die „Naturgesetze" auch im Bereich der Geschichte (siehe Herders diesbezügliche pointierte Aussage in: Herders Sämmtliche Werke, Bd. 14, S. 244). Denn die unter den Gesetzen der Natur entstehenden und lebenden Nationen, in welche Herder die Menschheit zu allen Zeiten geschieden sah, hätten nur im Verlauf der Geschichte die Möglichkeit individueller Wesensverwirklichung. Durch diesen Prozeß leisteten sie ihren eigentümlichen Beitrag zur allgemeinen ethischkulturellen Entwicklung des Menschengeschlechts. Stand für Herder fest, daß jede Nation durch „Ort, Zeit und ... innern Charakter" bestimmt ist und „das Ebenmaas ihrer Vollkommenheit, unvergleichbar mit andern, in sich" trägt (Bd. 14, S. 227) und daß das „Urbild, der Prototyp der Menschheit", „nicht in Einer Nation" liege, sondern daß es „der abgezogne Begriff von allen Exemplaren der Menschennatur in beiden Hemisphären" ist (Herder, „Briefe zu Beförderung der Humanität" (1796) in: Herders Sämmtliche Werke, Bd. 18, S. 248), so war es für ihn auch eine Gewißheit, daß die „ganze Geschichte der Völker" „eine Schule des Wettlaufs zur Erreichung des schönsten Kranzes der Humanität und Menschenwürde" ist (Bd. 14, S. 212 f.). - Uber das Verhältnis von Natur und Sprache und über die Entstehung von Nationalsprachen reflektierte Herder in der ersten Sammlung seiner „Fragmente" („Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Fragmente. Erste Sammlung" (1768) in: Herders Sämmdiche Werke, Bd. 2, S. 1-108) und in seiner 1772 erschienenen „Abhandlung über den Ursprung der Sprache" (in: Herders Sämmtliche Werke, Bd. 5, S. 1-147). Die Hypothese des preußischen Statistikers Johannes Peter Süßmilch (1707-67), wonach die Sprache eine übernatürliche, göttliche Erscheinung sei, verwarf Herder. („Kurz! die ganze Hypothese vom Göttlichen Ursprünge der Sprache ist wider die Analogie aller Menschlichen Erfindungen, wider die Geschichte aller Weltbegebenheiten, und wider alle Sprachenphilosophie". Vgl. Herders Sämmtliche Werke, Bd. 2, S. 67.) Ihm galt es als unumstößliche Tatsache, daß die „Weisheit der Natur" „den Menschen ... dazu organisirt" habe, „sich selbst Sprache zu erfinden" (Herders Sämmdiche Werke, Bd. 5, S. 64) und daß „die Fortbildung der Sprache dem Menschen so natürlich als seine Natur selbst" sei (ebd. S. 101). - Das Entstehen von Nationalsprachen führte Herder auf unterschiedliche klimatisch-geographische Einflüsse, auf sich unterscheidende Lebensgewohnheiten und auf ein angeblich natürliches Bedürfnis menschlicher Großgruppen (Stämme) zurück, eine emotionale Sperre und Abwehrhaltung gegen andere menschliche Lebensgemeinschaften zu entwickeln (ebd., S. 123-147). - Für die Meinung Fichtes, Jahns und Ludens, die deutsche Sprache nehme unter den Nationalsprachen eine herausragende Stellung ein, hatte Herder schon - wie angedeutet - einige Argumente geliefert. Er klassifizierte die deutsche Sprache bereits als „unvermischt mit andern, auf ihrer eig-

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ihrer primären Intention stehende, funktionale Bedeutung: Sie gaben die Negativfolie ab für angeblich positive deutsche Wesensmerkmale 4 8 . Eine Tönung eigener Art gaben Arndt, Fichte, Schleiermacher, Luden und Jahn ihrem jeweiligen nationalen Ideenkonglomerat dadurch, daß sie es - was zunächst überraschen mag - in ein verbal stark hervorgekehrtes Menschheitspathos einbetteten. Nicht nur das kosmopolitische Erbe der Aufklärungsphilosophie dokumentierte sich in einem solchen Vorgang. Herder hatte auch bei dieser ideologischen Besonderheit Pate gestanden. Aber von dem bei Herder gültigen spannungsfreien Nebeneinander des Menschheits- und Humanitätsgedankens einerseits und der natürlich-organischen Nationsidee andererseits war nicht mehr viel zu spüren. Das demonstrative Bekenntnis zur Menschheitsidee schien kaum noch von einer echten Gesinnung getragen. Es konnte Züge einer mehr vordergründig-plakativen und pathetischen Deklamation annehmen oder erfüllte die willkommene Funktion einer Art höheren Begründung, Zwecksetzung und sublimen Weihe des eigenen national-deutschen Patriotismus 49 . Identisch waren die Nationalismen Arndts, Fichtes, Ludens und Jahns - wenn auch in erheblicher Abstufung - in ihrer antifranzösischen Akzentuierung. In den Predigten Schleiermachers fehlen freilich entsprechende Argumentationselemente. Die antifranzösische Staffage dieser individuell artikulierten Nationalismen erklärt nen Wurzel blühend und eine Stiefschwester der vollkommensten, der griechischen Sprache" (Herders Sämmtliche Werke, Bd. 18, S. 114), und er stellte die Frage: „Eine Sprache, die sich in Grammatik und Naturell, und also an Leib und Seele, von den nachbarlichen Sprachen ringsum känntlich unterscheidet..., die wie ein alter Tempel erscheint, von der Nation, nach dem Urbilde ihres Geistes, aus Materialien ihrer eigenen Stein- und Thongruben errichtet, geräumig genug, die Nation zu fassen und dauerhaft genug, um ihr ewiges Denkmal zu seyn - eine Sprache, die dies ist, wäre die nicht... eine ursprüngliche, eigentümliche Nationalsprache?" In seiner Antwort gibt Herder zu erkennen, daß er „keine von allen jetzt lebenden gelehrten Sprachen" als eine solchermaßen charakterisierte Nationalsprache einschätzt - mit Ausnahme der deutschen Sprache (Herders Sämmtliche Werke, Bd. 2, S. 30). 48

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Nur mit dem antiken griechischen Volk stand die deutsche Nation nach Ansicht Jahns, Arndts, Fichtes und Ludens auf gleicher Stufe. Siehe z. B. Jahn, Deutsches Volksthum, S. 158 f.; [Arndt], Geist der Zeit, Teil II, S. 238; Fichte, S. 477, 503; Luden, S. 68. In besonderer Weise unternahm Fichte in seinen „Reden" den Versuch, sein nationales Bewußtsein und Bekenntnis durch angeblich dem deutschen Volk inhärente .menschheitliche' Qualitäten zu überhöhen. Die deutsche Nation sah er in der Missionsrolle einer „Wiedergebärerin und Wiederherstellerin der Welt". Sie trage „unter allen neuren Völkern" den „Keim der menschlichen Vervollkommnung am entschiedensten" in sich. Prophetisch-unheilschwanger verkündete Fichte: Gehe das deutsche Volk zugrunde, so gehe mit ihm „zugleich alle Hoffnung des gesamten Menschengeschlechts auf Rettung aus der Tiefe seiner Übel zugrunde". Es gebe „daher kein(en) Ausweg" für die Deutschen, an die er sich beschwörend wendet: „wenn ihr versinkt, so versinkt die ganze Menschheit mit, ohne Hoffnung einer einstigen Wiederherstellung" (Fichte, S. 597, 609 f.). Ins Phrasenhafte abgleitende Menschheitsbekenntnisse artikulierte Jahn wiederholt im „Deutschen Volksthum". Siehe z.B. S. XIVf., XIX, 23. - Jahn stellte eine Rangordnung der Nationen unter Maßgabe ihrer Annäherung an die Idee der Menschheit her: Die Griechen des Altertums und die Deutschen, „der Menschheit heilige Völker", hätten sich danach „am Meisten der Menschheit genähert" (ebd., S. 21). Siehe auch Luden, S. 7 f., 11, 37, 87; Schleiermacher, S. 286, 295. - Daß das Menschheitsbekenntnis nichts mit einem die geschichdiche Rolle der Nationen relativierenden „schalen Kosmopolitismus" zu tun hatte, sprach Luden unmißverständlich aus (Luden, S. 29; ähnlich [Arndt], Geist der Zeit, Teil II, S. 207, 228).

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sich hauptsächlich aus der aktuellen politischen Situation50. Nicht allein in Napoleon sah man den Bezwinger und Unterjocher Deutschlands, die französische Nation insgesamt erhob man in die Rolle eines Widersachers des deutschen Volkes. Dem unterstellten nationalen Gegensatz von Deutschen und Franzosen verlieh man dadurch eine tiefe Wirkungskraft, daß man die Wesenseigentümlichkeiten des französischen Volkes, seine geistig-seelischen Dispositionen als im diametralen Widerspruch zu den natürlichen Anlagen des deutschen Volkes hinstellte und der prätendierten Antinomie der Volkscharaktere nicht nur die Dimension eines geschichtlich gegründeten Andersgeartetseins gab, sondern sie auch in den Rang einer ethischen Gegensätzlichkeit erhob51. Es drängt sich die Frage auf, ob die kleine Gruppe patriotischer Intellektueller, deren retrospektive Nationsdeutung so sehr von den Begriffen Natur, Geschichte, Sprache und Kultur lebte, auch bestrebt war, politischen Erscheinungsformen der Vergangenheit national-deutsche Qualitäten beizumessen. Konkreter ließe sich fragen : War ihr Nationalismus zum Beispiel erfüllt von Reminiszenzen an das untergegangene deutsche Reich, barg er reichspatriotische Erinnerungselemente in sich? Für drei Patrioten - Luden, Jahn und Arndt - läßt sich die Frage bejahen. Fichtes „Reden" und Schleiermachers Predigten enthalten derartige politisch-nationale Erinnerungselemente nicht. In besonderer Weise verknüpfte Luden mit der Erinnerung an das Reich den Gedanken, daß dieses zumindest zeitweise für die Ausbildung einer deutschen Nation nicht allein „durch Sprache und Sitten", „sondern auch in bürgerlicher Rücksicht" wichtige Schrittmacherdienste geleistet habe. Unter den Habsburgern - bis zum Regiment Karls V. - seien der „National-Handel" erblüht, der deutsche Erfindungsgeist angeregt, die „Künste und Wissenschaften durch die neuen Erfindungen bereichert und unterstützt" worden, und die Reichstage, auf denen die Fürsten zusammen mit den bekanntesten Gelehrten, Dichtern und Künstlern erschienen, seien „Versammlungen der Nation" gewesen52. Jahn verband mit dem Gedanken an das alte Reich - „seit dem allgemeinen Landfrieden" - die Vorstellung, daß die staatlich-politische Organisation der Deutschen auch anderen Nationen großen Gewinn gebracht hätte. Das Reich sei nämlich ein „Weltstaatsverein im Kleinen" gewesen, in der „jede kleinere Volkstümlichkeit geachtet wurde" und in der „der Hochgedanke einer Völkerrechtlichkeit 50

Herdersche Beeinflussung ist aber auch in dieser Hinsicht unübersehbar. Bitter hatte Herder über die „thörichte Gallicomanie" geklagt, welche die Deutschen im Laufe der Jahrhunderte durch die Rezeption französischen Geschmacks und der französischen Sprache an den Tag gelegt hätten (siehe Herders Sämmtliche Werke, Bd. 18, S. 157-165). Herder konstruierte eine Antinomie zwischen französischer und deutscher Sprache, die und hierbei verließ er den Boden der Unparteilichkeit - durchaus Werturteile zugunsten der deutschen Sprache implizierte. Die französische Sprache habe „Geist und Scherz", sie beinhalte flüchtige „Malereien und Bezeichnungen, Spiele der Phantasie und der leichtesten Bemerkung", die deutsche Sprache sei „gleichsam nur Herz und Verstand", sie liebe „Wahrheit und Innigkeit" (ebd., S. 160 f.). Dieser Gegensatz wurde nach 1806/07 vor allem von Fichte und Jahn ins Grandiose gesteigert.

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Siehe z.B. Jahn, Deutsches Volksthum, S. 22, 157; Arndt, Germanien und Europa, S. 58-71, 146-151, 174; Geist der Zeit, Teil I, S. 337f., Teil II, S. 48f., 163f., 185ff.; Fichte, S. 422-488; Luden, S. 59. Luden, S. 66 ff.

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der Staaten", einer „Weltbürgerlichkeit der Völker" „verwirklicht worden" seien53. Zweifellos hatte Jahns Idee von einem .menschheitlichen' deutschen Volkstum, seine Meinung, daß das deutsche Volk für die Menschheit, für andere Nationen, von besonderem Wert sei, auf seine Deutung des untergegangenen Reiches maßgeblich eingewirkt. Natürlich konnten die Patrioten nicht übersehen, daß das politische Mitspracherecht im untergegangenen Reich zwischen den Ständen völlig ungleich verteilt war, daß im Reich „deutscher Nation" nicht die Nation - vertreten durch ihre Stände - die politischen Geschicke bestimmte, das Reich also nicht im eigentlichen Sinne die politische Organisation der deutschen Nation gewesen ist. Wenn Arndt und Luden den Ursachen für den politischen Niedergang des Reiches nachgingen, zögerten sie deshalb auch nicht, die im Reich politisch effektiv Verantwortlichen, die Fürsten, zu Hauptschuldigen zu erklären54. Welche ambivalenten Gefühle und Gedanken die Erinnerung an das alte Reich wecken konnte, beweist der wehmütige Skeptizismus, der sich Arndts bemäch : tigte, als er die Frage aufwarf, ob er „die alte Ordnung des Reiches von Kurfürsten, Bischöfen, Fürsten, Grafen, Freiherren, Ritterschaften, Reichsstädten, Reichsbauren erhalten wissen" wollte. Lieber als er wolle dies wohl „kein teutscher Mann", beantwortete er sich und seinen Lesern die Frage. Dazu sei es aber notwendig, daß „die Mächtigen einem Mächtigsten", einer deutschen Zentralgewalt in der Person des Kaisers dienen, daß „Liebe", „Treue", „Glauben" und „Gehorsam" wieder geweckt würden. Dies liefe aber, so drückte sich Arndt eher verschwommen als konkret aus, auf eine „Verwandlung aller äußern Verhältnisse" hinaus55. Arndts Überlegung, ob die alte deutsche staatlich-politische Ordnung in Gestalt des Reiches einen Zukunftswert besitze, lenkt uns auf die grundsätzliche Frage, welche Entwicklungsmöglichkeiten die Patrioten der deutschen Nation einräumten, für deren eigentümliche Existenz und Leistungsfähigkeit sie so vielfältige Beweise aus ihrer nichtpolitischen Vergangenheit zu liefern wußten. Blieb die bisher konstatierte weitgehende Identität in den nationalideologischen Positionen auch dann gewahrt, wenn sich die Patrioten die Frage nach der zukünftigen Gestaltung des nationalen Lebens vorlegten? Zogen sie die gleiche Konsequenz aus der nationalen Katastrophe der Jahre 1806/07, die ja eine politische Katastrophe war? Einerseits war es sicherlich eine Notwendigkeit, zu einem Zeitpunkt tiefster politischer Demütigung den Deutschen bewußtzumachen - verfolgte man die Absicht, diesen Nationalbewußtsein einzuflößen - , daß eine Nation nicht allein durch die Bande staatlich-politischer Gemeinschaft existiert,' sondern daß auch andere Faktoren über das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Nation entscheiden. Andererseits hatten die Geschehnisse der Jahre 1806/07 aber mehr als deutlich gemacht, wie sehr das Überleben einer Nation maßgeblich von deren politischer und gesellschaftlicher Verfassung abhängt. Woran lag es, daß Deutschland eine so leichte Beute für Napoleon geworden war? Lag ein entscheidender Grund dafür nicht in dem Umstand, daß die Nation sich in der Vergangenheit nicht wirklich als politische Nation konstituiert und organisiert hatte? Waren es nicht die feudalen gesellschaftlichen Zustände, die es verhindert hatten, daß die Nation die nötigen Wi53 5< 55

Jahn, Deutsches Volksthum, S. 395. Arndt, Geist der Zeit, Teil I, S. 374 ff., 248; Luden, S. 73 ff. [Arndt], Geist der Zeit, Teil II, S. 433 f.

F. L. Jahns Nationsverständnis 31 derstandskräfte entwickelte? Mußte man demzufolge nicht in der Konstituierung und Organisierung der politischen Nation eine der dringendsten Zukunftsaufgaben sehen? Und mußten die Wortführer des nationalen Gedankens deshalb nicht gerade für eine politisch-gesellschaftliche Umgestaltung ihre Stimme erheben? Luden verwies das deutsche Volk - insbesondere die studierende Jugend - auf die „vaterländische Geschichte". Ihr könne die Nation die Heilmittel für ihre gegenwärtigen Gebrechen entnehmen. Durch Besinnung auf die nationale Vergangenheit sei die nationale Zukunft zu meistern; nämlich - so hieß es mehr nebulös als präzise: Durch „ein frommes Festhalten am Leben der Väter im stillen Gemüthe, durch Pflege und Wartung Alles dessen, was in teutschem Sinn erzeugt und geboren ist". Zur „unverletzte(n) Treue" gegen die Fürsten - obwohl diese doch nach Ludens eigenem Bekunden ein großes Maß Schuld an der Zerrüttung des Reiches hatten - , zum „hohe(n) Freisinn, der jedem Despotismus widerstrebt", zur „freudigen Todesverachtung", zur „Sitteneinfalt", zum „kindlichfrommen Glauben" der Altvorderen müsse der deutsche Jüngling „zurückstreben", wenn er der „Schande der Gegenwart und der Verachtung der Nachwelt" entgehen wolle56. Die Mächtigkeit des Gedankens, daß Rettung für die Deutschen als Nation vornehmlich in der Reaktivierung angeblich traditioneller - größtenteils unpolitischer deutscher Lebens- und Verhaltensweisen bestehe, versperrte Luden zu diesem Zeitpunkt noch gänzlich die Einsicht in die politisch-gesellschaftlichen Zusammenhänge, in welche die .nationale Frage' eingebettet war. Ludens Vorlesungen enthalten weder den Versuch einer Analyse der zeitgenössischen gesellschafdichen Zustände Deutschlands, noch wird von ihm die Notwendigkeit politischer und gesellschaftlicher Veränderungen im Sinne einer Überwindung des staatlichen Partikularismus und einer Umwandlung der feudalabsolutistischen Machtstrukturen in einen die Nation an der politischen Entscheidung beteiligenden Verfassungsstaat gefordert57. Auch Fichtes nationale Zukunftsperspektive war in einem erstaunlichen Maße unpolitisch. Der Berliner Philosoph sah in einer „gänzliche(n) Veränderung des bisherigen Erziehungswesens" „das einzige Mittel, die deutsche Nation im Dasein zu erhalten". Fichte, der noch in den 90er Jahren heftige Sympathien für die französische Revolution bekundet hatte58, unternahm in den „Reden" keinen ernstlichen Versuch, politisch-freiheitliche Ideen mit seiner nach Jena und Tilsit virulent gewordenen nationalen Gesinnung zu amalgamieren. Jedenfalls wies er der Nation in den „Reden" keinen politischen Weg in eine nationalstaatliche und freiheitliche Zukunft, und er unterließ es vollständig, vor den Ohren seiner Zuhörer mehr oder weniger konkrete, auf einen künftigen Nationalstaat bezogene politische Vorstellungen zu entwickeln. Der Kern der Fichteschen „Reden" bestand vielmehr aus dem Vorschlag, der Begründung und Beschreibung eines Nationalerziehungsplans für die deutsche Jugend. Nach ihm sollte die gesamte männliche und weibliche 56 57

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Luden, S. 84 ff. Erst 1815 erhob Luden in der von ihm herausgegebenen politisch-historischen Zeitschrift „Nemesis" derartige Forderungen. Vgl. E. Reissig, Heinrich Luden als Publizist und Politiker, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde , Bd. 24, Jena 1919, S. 258 ff. Vgl. Fichtes Schriften: „Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publikums über die französische Revolution" (2 Hefte), o.O. 1793 und „Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europens, die sie bisher unterdrückten", o.O. [1793].

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deutsche Jugend in öffentlichen Erziehungsanstalten eine einheitliche Ausbildung erfahren. Entscheidend war, daß Fichte vermittels seines Plans der aus seinem philosophisch-idealistischen Denken erwachsenen Idee der sittlich-geistigen Freiheit eine Chance der Erprobung und Realisierung zu geben beabsichtigte. Denn der seinem nationalpädagogischen Konzept zugrundeliegende Bildungsvorgang hatte sich nicht „an den stehenden Beschaffenheiten der Dinge" zu orientieren, er hatte vielmehr die „Welt des Geistes", „die wahre und wirklich bestehende Welt" zu vermitteln. Fichte löste im Rahmen seines Erziehungsplans den Begriff des Vaterlandes aus seinen natürlichen Zusammenhängen und gab ihm eine transzendentale Weihe: Die Einführung in die Welt des Geistes sollte den einzelnen letztlich befähigen, sich „ein Bild jener übersinnlichen Weltordnung", „die da ewig nur ist", zu entwerfen, sie sollte ihn instand setzen, „die höhere Vaterlandsliebe" zu erringen, „das Erfassen seines irdischen Lebens als eines ewigen und des Vaterlandes als des Trägers dieser Ewigkeit". Erst wenn die Nation „die Aufgabe der Erziehung zum vollkommnen Menschen" gelöst habe, werde „auch jene des vollkommnen Staats" gelöst 59 . Das Utopische in Fichtes nationalem Erziehungsplan, das Irreale in seiner Hoffnung, die deutsche Nation, die er als „gesunkne" oder „verfallne Nation" charakterisierte 60 , werde allein durch eine philosophisch gegründete Erziehung ihrer gesamten Jugend in besonderen Erziehungsanstalten von ausländischer Unterdrükkung befreit werden und schließlich ihre politische Selbstbestimmung und staatliche Einheit erhalten, ist offenkundig. Die „Reden" sind nicht nur ein anschauliches Dokument für den philosophisch-idealistischen Purismus und die politische Realitätsferne ihres Verfassers: in ihnen spiegelt sich auch die im Kreise deutscher Gebildeter um die Jahrhundertwende verbreitete Ansicht, daß durch nationale Erziehungsprogramme die niederdrückende nationale politische Situation behoben werden könne. Beeinflußt durch das Erziehungsdenken der französischen Aufklärung und Herders 61 , hatte im letzten Drittel des 18.Jahrhunderts in Deutschland 59

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Fichtezitate vgl. Fichte, S. 385 (1. Rede), 397 (2. Rede), 408 (3. Rede), 464f. (6. Rede), 511 (9. Rede). Ebd., S. 383 f. Die Aufklärung - vor allem Rousseau - legte den Grund für den um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert in Bildungskreisen verbreiteten Glauben, die Selbstbefreiung des Menschen sei im Medium der Erziehung möglich. In Deutschland waren in den 70er und 80er Jahren in den Philanthropinen private Erziehungsanstalten entstanden, in welchen auf Rousseauschen Erziehungsgrundsätzen fußend - junge Menschen naturgemäß und in einem menschheitlich-kosmopolitischen Sinne erzogen wurden. Herder griff den Rousseauschen Erziehungsgedanken auf und brachte ihn mit seinem national kulturellen Entwicklungsdenken in Zusammenhang. Schon als 25jähriger entwarf er in seinem „Reisejournal" den konkreten Plan einer ,,liefländische(n) Vaterlandsschule", bei dem er sich von der Vorstellung leiten ließ, „den Menschlich wilden Emil des Roußeau zum Nationalkinde Lieflands zu machen" (, Journal meiner Reise im Jahr 1769", in: Herders Sämmtliche Werke, Bd. 4, S. 371). - War Herders Schulerziehungsplan auch auf die zum Zarenreich gehörende, aber von deutscher Kultur geprägte Provinz Livland gemünzt, wo der junge Herder mehrere Jahre lebte, so enthielt er auch allgemeine, von den Iivländischen Bedingungen abstrahierende Sentenzen zur Nationalerziehung. Auch in späterer Zeit blieb für Herder der nationale Erziehungsgedanke als Bestandteil seiner kultur-nationalen Konzeption aktuell. In den „Schulreden" nehmen seine Erörterungen über eine nunmehr deutsche Nationalerziehung einen breiten Raum ein (Herders Sämmtliche Werke, Bd. 30, S. 1-290), auch wenn er nicht mehr einen ähnlich einheitlichen und detaillierten Entwurf wie im „Reisejournal" vorlegte.

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schon eine stattliche Anzahl von Volkserziehungsvorschlägen und -planen das Licht der Öffentlichkeit erblickt, deren Verfasser ganz überwiegend Pädagogen waren 62 . Herder wurde durch sie, aber auch durch die Pädagogik Pestalozzis zu seinem eigenständigen, ganz auf seinen philosophischen Ideen basierenden Entwurf angeregt. Daß es gerade die Mischung von idealistisch-philosophischem und pädagogischem Rigorismus gewesen ist, mit dem Fichte bei seinen zum Teil jugendlichen Zuhörern nationales Bewußtsein und nationale Aktivitäten zu wecken verstand, dürfte aber außer Zweifel stehen. Anders als Luden und Fichte unterließ es Schkiermacher nicht, in einigen seiner der nationalen Thematik gewidmeten Predigten die Forderung nach politisch-gesellschaftlichen Veränderungen im Sinne eines größeren politischen Mitspracheund Mitverantwortungsrechts des Volkes einzubringen. Durch mehr allgemein gehaltene, grundsätzlichere Betrachtungen bemühte sich Schleiermacher, öffentlich die preußische Reformpolitik moralisch zu unterstützen. Er mahnte, sich nicht durch „verfehlte Anhänglichkeit an das Vergangene" davon abhalten zu lassen, „dasjenige ... gern und willig zu thun, was der gegenwärtige Zustand der Dinge von uns fordert". Der „Widerwille" gegen die „Ungleichheiten und Vorrechte" im Staate sei fast allgemein geworden. Auch der „Verstand, der an der Spize der Verwaltung steht", habe die „Nothwendigkeit einer allgemeinen Erneuerung", „einer vollständigen und gedeihlichen Wiedergeburt" erkannt63. Er lehnte es ab, einen Staat zu akzeptieren, der nichts weiter als eine „kunstreiche Maschine" sei. Vielmehr sei die politische Mitarbeit des Bürgers der Natur des Menschen angemessen64. Trotz dieser politischen Akzente in Schleiermachers patriotischen Predigten und obwohl er ein überzeugter Anhänger der Steinschen Reformpolitik war - 6 5 versagte es sich Schleiermacher, in seinen Predigten auch nur ein einziges konkretes staadiches oder gesellschaftliches Reformprojekt vorzuschlagen bzw. zu benennen. Wie ein potentieller deutscher Nationalstaat politisch-gesellschafdich verfaßt und organisiert sein solle, läßt Schleiermacher gänzlich unberührt. Auch nicht in Umrissen entwirft er - sieht man von den erwähnten allgemeinen Postulaten ab - in seinen Predigten ein Bild von der politisch-sozialen Ordnung in einem künftigen nationalen deutschen Staat. Die Ergänzung der .natürlich'-kulturellen Nationsdeutung durch ein politisches Nationsverständnis, für die Schleiermacher in seinen Predigten immerhin den Bo62

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Vgl. H. König, Zur Geschichte der Nationalerziehung in Deutschland im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, (Reihe: Monumenta Paedagogica, Bd. 1), Berlin (Ost) 1960. Vgl. die Predigt „Ueber die rechte Verehrung gegen das einheimische Große aus einer früheren Zeit" (gehalten im Januar 1808 in Berlin), in: Schleiermacher, Kleine Schriften und Predigten, S. 314-330, Zitate, S. 322f. Siehe auch W. Dilthey, Schleiermachers politische Gesinnung und Wirksamkeit, in: Zur preußischen Geschichte (W. Diltheys Gesammelte Schriften, Bd. XII), Leipzig/Berlin 1936, S. 22. Vgl. die Predigt „Wie sehr es die Würde des Menschen erhöht, wenn er mit ganzer Seele an der bürgerlichen Vereinigung hängt, der er angehört" (gehalten im August 1806), in: Schleiermacher, Kleine Schriften und Predigten, S. 285 f.; vgl. auch die Predigt „Uber das rechte Verhältnis des Christen zu seiner Obrigkeit", Inhaltsangabe in: J. Bauer, Schleiermacher als patriotischer Prediger. Ein Beitrag zur Geschichte der nationalen Erhebung vor hundert Jahren, Gießen 1908, S. 54 ff. Siehe ebenfalls E. Müsebeck, Schleiermacher in der Geschichte der Staatsidee und des Nationalbewußtseins, Berlin 1927, S. 60 f. Siehe Müsebeck, Schleiermacher, S. 60 f.

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den zu bereiten schien, trat in Arndts „Geist der Zeit" schon direkter und unverblümter zutage. Arndt stellte seine leidenschaftliche Sprache primär in den Dienst eines von ihm als absolut vorrangig erachteten Zieles: Er beabsichtigte, einen spontanen politischen Widerstands- und Insurrektionswillen im deutschen Volk gegen den ausländischen Unterdrücker zu entfachen. Im nationalen Befreiungskampf sollte sich das deutsche Volk seiner politischen Identität bewußt werden. Zu Arndts Intention einer politisch-militärischen Mobilisierung der Nation fügte sich seine heftige Fürstenkritik. Die deutschen Fürsten schienen nach Meinung Arndts ihren Herrschaftsanspruch eingebüßt zu haben, wenn er ihnen zurief: „Ihr seyd alles durch das Volk und seyd ohne das Volk nichts" 66 . Die radikal anmutende Feudalismuskritik Arndts 67 schlug sich aber nicht in entsprechend konsequenten politischen Reformvorschlägen nieder, wie man hätte erwarten können. Die Diskrepanz zwischen dem antifeudalen Verbalradikalismus Arndts - der in seinem strategischen Konzept, die Deutschen gedanklich und gefühlsmäßig zu gemeinsamem politisch-militärischem Handeln zu rüsten, eine wichtige Funktion erfüllte - und seiner Zurückhaltung, konkrete politisch-gesellschaftliche Reformvorstellungen zu entwickeln und entsprechende Forderungen zu erheben, ist auffallend. Arndt begriff die deutsche Nation, wenn er an deren Zukunft dachte, vor allem als eine politische, auch als eine politisch geeinte Nation. Geeint jedoch zunächst durch einen gemeinsamen spontanen politischen Willen, der sich an der von außen zugefügten nationalen Schmach entzünden sollte. Durch welche Veränderungen im Innern - institutionell-politischer und gesellschaftlicher Art - die Nation aber in den Stand gesetzt werden konnte, sich dauerhaft in eine politische Nation zu verwandeln, und wie ein zukünftiger nationaler deutscher Staat zu organisieren sei, erachtete Arndt zu diesem Zeitpunkt als eine zweitrangige Aufgabe. Seine Überzeugung, daß die Fürsten ihr Dasein dem Volke verdanken, machte Arndt noch lange nicht zu einem Anhänger und Verfechter des Prinzips der Volkssouveränität. Er betonte auch nicht die Notwendigkeit der Einführung einer Verfassung - in Preußen oder in einem zu schaffenden nationalen Staat - 6 8 ; er polemisierte vielmehr - die französischen Vorbilder vor Augen - gegen ihre „ganze Künstlichkeit" 69 . Die einzige gesellschaftliche Reform, die Arndt mit Vehemenz forderte, war eine allgemeine Bauernbefreiung70. Seine Vorschläge für die künftige staatlich-nationale Ordnung waren äußerst spärlich und vage. Obwohl es nach seiner Meinung „glücklicher für Teutschland" wäre, wenn „nur Ein Reich" „von der Ostsee bis zu den Alpen" existiere, glaubte er, daß die Stärke des habsburgischen und des hohenzollernschen Herrscherhauses es erforderlich mache, zwei deutsche Territorialstaaten einzurichten, die aber dennoch zu einem „Reich" zusammengefaßt werden sollten. Angaben darüber, in welcher Form dieser Zusammenschluß zu erfolgen hätte, machte Arndt nicht. Die 66 67 68

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Arndt, Geist der Zeit, Teil I , S. 440. Vgl. auch ebd., S. 108 u. 380 sowie Teil II, S. 53 ff. Erst im Jahre 1814 sprach sich Arndt expressiv verbis für die Einführung ständischer Verfassungen in Deutschland aus. Vgl. E. M. Arndt, Ueber künftige ständische Verfassungen in Teutschland, o.O. 1814. [Arndt], Geist der Zeit, Teil II, S. 340. Siehe hierzu Arndts früherer „Versuch einer Geschichte der Leibeigenschaft in Pommern und Rügen. Nebst einer Einleitung in die alte teutsche Leibeigenschaft", Berlin 1803.

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kleineren und mittleren Territorien seien den beiden neuen deutschen Staatsgebilden anzugliedern. Zwar lief dieser Vorschlag für die Fürsten - mit Ausnahme der Hohenzollern und Habsburger - auf den Verlust ihrer Länder hinaus; dennoch würden sie - wie Arndt betonte - „nicht vergessen"; denn Deutschland sei „reich genug, sie in fürstlichen Ehren und Herrlichkeiten zu erhalten". Die „größeren" sollten dem Habsburgischen und Hohenzollernschen Hause den „regierende(n) Linie(n)" - zugeordnet werden und „Fürsten von Geblüt mit allen Anrechten der Ehre und Nachfolge" bleiben, „und zwar nach dem Maße der Ländermasse, die sie vorher beherrschten". Die „kleinen" Fürsten bekämen Ländereien („Abtheilungen") und „Schlösser als stehende Majorate", sie würden „Pärs des Reichs" und „als geborne Räthe nebst den Fürsten vom Blute den Königen zur Seite" sitzen. Alle Fürsten sollten zusamm e n ein „Oberhaus" mit beratenden Funktionen bilden 7 1 . Die Vorschläge täuschen nicht darüber hinweg, daß Arndt in den ersten Jahren nach J e n a und Tilsit nur ein verschwindend geringes Interesse gezeigt hat, sich mit der inneren Gestaltung eines künftigen nationalen Staates zu beschäftigen. Die Dürftigkeit der Gedanken und die Tatsache, daß er keinerlei Reflexionen über den politischen Willensbildungsprozeß, über Art und Umfang der politischen Mitsprache der Nation in dem nationalen Staatsgebilde anstellte, sind gerade der beste Beweis für Arndts mangelnde Bereitschaft, sich mit einem solchen Zukunftsprojekt ernsthaft zu befassen. Fehlten den nationalen Zukunftsvorstellungen Arndts weitgehend die sich durch Planung und Organisation auszeichnenden Gedankenelemente, so war Jahns „Deutsches Volksthum", das - wie sein Autor hervorhob - ein „nicht dem Augenblicke" gewidmetes Werk sein sollte 7 2 , ein breit angelegter und mit vielen Detailvorschlägen ausgestatteter Entwurf für eine nationaldeutsche Staats- und Gesellschaftsordnung. Unterließen es Luden und Fichte überhaupt, politisch-gesellschaftliche Reformen als Voraussetzung für einen nationalen Neubeginn zu fordern, begrenzte Schleiermacher sein politisch-reformerisches Engagement in der Öffentlichkeit auf die allgemein gehaltene Forderung nach einem politischen Mitspracherecht des Volkes und beschäftigte Arndt die Frage nach der politisch-gesellschaftlichen Machtverteilung und Organisation in einem künftigen deutschen nationalen Staat nur sehr peripher, so bezogen sich alle von J a h n im „Deutschen Volksthum" unterbreiteten Reformvorschläge auf die innere Gestaltung des politischen, kulturellen und sozialen Lebens in einem solchen Staat. Nicht nur zur Einrichtung der wichtigen staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen (z.B. der Volksvertretung, der Regierung, des Gerichtswesens, des Bildungssystems, der Kirche und des Militärwesens) unterbreitete das Buch ein reiches Gedankenmaterial. Auch zu einer Vielzahl von Bereichen des nicht institutionalisierten politischen und gesellschaftlichen Lebens enthält es vielfältige Anregungen. O b und inwieweit J a h n die deutsche Nation zukünftig nicht nur als eine ,natürlich'-kulturelle Erscheinung, sondern auch als politisch-gesellschaftliche Größe anzuerkennen bereit war, mußte an den sozialen und politischen Reformen abzulesen sein, durch die er die Nation aus den feudalstaatlichen Fesseln zu befreien und ihre zumindest mitbe-

71 72

[Arndt], Geist der Zeit, Teil II, S. 431 ff. Jahn, Deutsches Volksthum, S. 296.

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stimmende Einbeziehung in den Bereich der politisch-staatlichen Verantwortung und Entscheidung zu sichern gedachte. Prämisse für Jahns grundsätzliche Forderung nach einem politischen Mitspracherecht des Volkes war seine Uberzeugung, daß die „Vernunft" neben der „Natur" und der „Geschichte" zu den „drei heiligen Offenbarungen" der Menschheit gehöre und demzufolge jeder Mensch ein vernunftbegabtes Wesen sei73. Aus der Teilhabe jedes menschlichen Individuums an der göttlichen Offenbarung „Vernunft" ergab sich für Jahn als Konsequenz auch das politische Mitverantwortungsrecht des einzelnen im Rahmen derjenigen nationalen Gemeinschaft, der er gemäß seiner natürlichen Herkunft angehöre. Die außerordentlich hohe Rangstellung, die Jahn der menschlichen Vernunft zuerkennt, beweist, wie stark er unter dem geistigen Einfluß der Aufklärung stand. In dem Maße, wie er die menschliche Vernunft auch als politische Vernunft deutete, den Vernunftbegriff sozusagen ins Politische wendete, entfernte er sich allerdings von dem weitgehend unpolitischen Vernunftbegriff der deutschen Aufklärung und Herders und näherte sich dem Vernunftbegriff der französischen, die Revolution geistig vorbereitenden Gesellschaftstheoretiker. Eine Frucht dieser Affinität des Jahnschen Vernunftbegriffs, der das konstitutive Element seines politischnationalen Denkens darstellte, zu dem der französischen Aufklärer war Jahns Forderung nach Einführung einer „Volksverfassung". Auch für sie hatte die französische vorrevolutionäre Gesellschaftsphilosophie und die französische Revolution selbst Pate gestanden, obwohl Jahn das epochale Ereignis im französischen Nachbarland in seinem Buch direkt nicht mit einem einzigen Wort erwähnt. Neben einer „festgegründete(n) volksthümliche(n) Verfassung"74 sah Jahn in einem selbstbewußten ständisch zusammengesetzten Parlament75, in der Einbindung von Volksvertretern in die vom Monarchen geführte Reichsregierung, in der städtischen Selbstverwaltung und in einem auf der allgemeinen Wehrpflicht beruhenden Volksheer, in dem der einzelne Soldat Persönlichkeits- und Mitspracherechte genießen sollte, politisch-institutionelle Garantien für den Bestand des nationalen Staates76. Unvereinbar mit den gesellschafdichen Verhältnissen in einer nationalstaadichen Gemeinschaft erachtete Jahn die persönlich-rechtliche Unfreiheit der Angehörigen des Bauernstandes. „Es höre jede Knechtschaft auf", forderte er deshalb unzweideutig, „sie heiße Hörigkeit, Unterthänigkeit oder Leibeigenschaft". Die Abschaffung „aller Patrimonial-, Domanial- und anderer niedren Gerichte" sowie des Patronatsrechts einzelner Bürger gehörte ebenfalls zum Katalog der nach seiner Ansicht unverzichtbaren Gesellschaftsreformen77. 73 74 75

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ebd., S. XIX u. 55. ebd., S. 280. Siehe auch ebd., S. 277 f. „Die Reichsversammlung der Stände" müsse „eine Sprechgemeinde (Parlament) sein, nicht eine Taubstummanstalt von Jaherren und Beifallnickern; nicht eine Versammlung von Gutheißern, um dem Obel etwa nur eine leidliche Gestalt zu geben" (ebd., S. 279). ebd.,S. 51, 56 f., 296-308. ebd., S. 95, 58, 136. - Da Jahn sein Buchmanuskript im Oktober 1808 abgeschlossen hatte (siehe oben Anm. 37), ist davon auszugehen, daß er bei seiner Niederschrift von dem Steinschen Bauernedikt Kenntnis hatte (siehe oben S. 16). Die Verfassung des westfälischen Königreiches hätte ihm ebenfalls im Wortlaut bekannt sein müssen (siehe oben S. 16).

F. L Jahns Nationsverständnis 37 Die vom französischen gesellschaftstheoretischen Denken und vom revolutionären Geschehen abweichenden Beschränkungen, die sich Jahn bei der Aufstellung seines Katalogs institutionell-politischer und sozialer Reformen als Voraussetzung für ein vom Volk getragenes oder zumindest mitverantwortetes Gemeinwesen auferlegte, waren natürlich nicht zu übersehen. Die naturrechtliche Idee der Volkssouveränität lag dem Jahnschen Modell eines deutschen Nationalstaates nicht als Herrschaftsprinzip zugrunde. Das Schicksal der Völker sei - so argumentierte Jahn - mit dem Dasein der Fürsten und ihrer Geschlechter eng verwachsen; diese hätten eine völkerbildende und völkererhaltende Funktion. Trotz dieses grundsätzlichen Bekenntnisses zur Fürstenlegitimität schien Jahn aber in einem nationalen deutschen Staat neben dem regierenden Herrscherhaus für das nach seiner Meinung das Hohenzollernsche im Vergleich zum Habsburgischen die besseren Voraussetzungen böte - die Existenz anderer Dynastien nicht für möglich zu halten. Diese Schlußfolgerung läßt sich aus seinen Bemerkungen über die der „Reichs-Regierung" untergeordneten „Landes-Regierunge(n)" ziehen, die von ,,Landstatthalter(n)" geführt werden sollten und die „in ihren Landen immer anwesend" zu sein hätten. Zumindest eine politische Entmachtung der Fürsten zugunsten einer zentralistisch verwalteten nationalen Monarchie schien Jahn zu befürworten. Jahn schwebte also, wenn er an einen künftigen deutschen Nationalstaat dachte, ein politisch-konstitutionelles System vor; allerdings ein konstitutionelles System, in dem die Volksgewalt noch durch ein ständisch zusammengesetztes Parlament und nicht durch eine sich an den politischen Interessen und Gesinnungen im Volke konstituierende Repräsentativkammer zum Ausdruck gebracht werden sollte. Er unterließ es, verfassungswirksame Regelungen für die Kompetenzabgrenzung und den Kooperationsmechanismus zwischen den beiden Verfassungsorganen .Ständeparlament' und .monarchisch geführte Regierung' vorzuschlagen. Auch die „schwierigen Fragen", „Wie viel Stände" bestehen und ob ein .Allgemeines Standesstimmrecht" eingeführt werden sollte, wie die ständischen Abgeordneten sowie deren „Sprecher" und „Stellvertreter" zu wählen seien, ob die Stände vereint oder getrennt zu tagen hätten, wann und wohin sie berufen werden sollten und welche „Gegenstände der Berathung" für sie in Frage kämen, ließ Jahn bewußt offen. Sie müßten durch „Vaterlandsfreunde" sowie „Staats- und Welt-weise" geklärt werden78. Der schriftstellerische Versuch Jahns, die deutsche Nation als politische Nation zu organisieren, vollzog sich also - trotz seiner Progressivität - innerhalb bestimmter Grenzen; diese wurden teilweise von Jahn selbst mit Überlegung und Absicht, teilweise aber von ihm unbewußt gezogen. Die Transformierung der feudalständischen Gesellschaft und des feudalabsolutistischen Staates in eine Gesellschaft und einen Staat, in denen einem nicht mehr durch überkommene Barrieren und Fesseln gehemmten Volk die freie politische und gesellschaftliche Entfaltungsmöglichkeit eingeräumt ist, durfte nach Jahns fester Überzeugung nicht durch einen revolutionären oder radikalen, die Vergangenheit total überwindenden Akt geschehen, sondern sollte sich in einem Wandlungsprozeß vollziehen, der Neues und Überkommenes harmonisch miteinander verband. Jahns geschichtlich-synthetischer 78

Jahn, Deutsches Volksthum, S. XI, 51 f., 278 , 280 ff.

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Denkansatz - ein Erbe des Herderschen Entwicklungsdenkens - bewirkte seine Distanz zu den französischen Naturrechtstheorien und der revolutionären französischen Praxis, auch wenn er - wie erwähnt - den politischen Vernunftbegriff - der ihn wiederum von Herder trennte und der das Substrat seines politischen Nationsverständnisses war - von den französischen Aufklärungsphilosophen rezipiert hatte. In dem von Jahn empfohlenen nationalen staatlich-gesellschaftlichen System waren nicht nur dessen monarchische Verfassung, sein ständisch zusammengesetztes Parlament und seine ständische Volksgliederung, sondern auch die Existenz eines landbesitzenden Geburtsadels - dem allerdings ein „Verdienstadel" als neuer Stand zur Seite gestellt werden sollte - Ausdruck für Jahns Bemühen, wichtige Elemente der alten staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung zu erhalten. Daß Jahn seinem eigenen Unternehmen Grenzen setzte, der deutschen Nation modellhaft Möglichkeiten aufzuzeigen, wie sie sich als politisch-gesellschaftliche Nation entfalten und organisieren könne, hatte aber noch eine zweite gewichtige Ursache, die Jahn selbst als solche gar nicht bewußt wurde. Er ließ sich bei seinem Bestreben, der in seinem Buch konzipierten nationalstaatlichen Modell -Gesellschaft nationales Leben einzuhauchen, zum Teil noch kräftig von seiner nach wie vor virulenten ,natürlich'-kulturellen, also unpolitischen Nationsidee inspirieren. Beeindruckt vom Rousseauschen Erziehungsdenken, aber auch von den Herderschen und zeitgenössischen Nationalerziehungsplänen79, meinte Jahn, daß die nationalstaatliche Gesellschaft in einer „Deutsche(n) Volkserziehung" eine ihrer wichtigsten Pflichten erkennen müsse. Zu ihrer Realisierung sollte ganz maßgeblich ein von Jahn akribisch erläutertes staatliches, einheitliches und allgemeinbildendes Schulsystem mit vertikaler Gliederung und das Elternhaus beitragen. Als inhaltliche Schwerpunkte der Erziehung empfahl er den Unterricht in der „Muttersprache" und in „Vaterländische(r) Geschichte". Letztere verstand er aber nicht nur als tragende Säule seiner Volkserziehungskonzeption - welcher er allen theoretisch-abstrakten Beigeschmack nahm, indem er ihr durch viele praktische Hinweise und Ratschläge Leben einhauchte - , sondern auch als Hauptstück eines zu schaffenden „volkstümlichen Bücherwesens", das er - durch zahlreiche konkrete Paradigma näher charakterisierend - der Volksverfassung und der Volkserziehung in ihrer Bedeutung für die deutsche Nation gleichgewichtig zur Seite stellte. Nur „durch Wechselwürkung von Volks-Verfassung, -Erziehung und Bücherwesen" könnten „die Deutschen überhaupt" „als ein edles selbständiges Volk gedeihen"80. Nicht nur Fichte, sondern auch Jahn stand also unter starkem Einfluß der von deutschen Pädagogen propagierten Volks- oder Nationalerziehungsidee. Während Fichte diese Idee jedoch verabsolutierte, in ihr gleichsam den einzigen und letzten Rettungsanker für die nach seiner Meinung vom Untergang bedrohte Nation erblickte, war sie für Jahn ein tragendes Element - neben anderen - für eine deutsche Nationalgemeinschaft. Außerdem läßt Jahn in seinem Buch (und später als Leiter der Turnbewegung) keinen Zweifel daran aufkommen, daß er unter Volkserziehung auch politische Erziehung versteht, was ihn ebenfalls von Fichte und seiner von der idealistischen Philosophie getragenen Nationalerziehungs-Konzeption unterscheidet. 79 80

Vgl. unten S. 50 u. Anm. 61. Jahn, Deutsches Volksthum, S. 6 6 - 8 8 , 1 6 7 - 2 7 2 , 285ff., 291 ff., 3 6 9 - 4 0 0 . Zitate S. 182ff., 217, 219 u. 291.

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Wenn Jahn die Gliederung des Volkes in Stände zur Grundlage für die Zusammensetzung einer Nationalrepräsentation, also eines politischen Organs, machen wollte, so schlug in diesem Falle seine Auffassung von einer natürlich entstandenen und gewachsenen Nation durch: Stände seien nämlich nichts weiter als „natürliche Eintheilungen des Volks", die sich aus der „natürliche(n) nothwendige(n) Ungleichheit der Menschen" ergäben81. Ein .unpolitisches' Ständesystem sollte demnach die Basis für eine Volksvertretung abgeben, der ein politisches Mitspracherecht konzediert war. Das kulturelle Erbe in Jahns Nationsverständnis bestimmte endlich auch jenen Teil seines nationalstaatlichen Entwurfs, in welchem dem gesellschaftlichen Leben nationale Betätigungsfelder und Ausdrucksformen zugewiesen werden. Auffallend dabei ist es, wie sehr Jahn in diesem Zusammenhang von dem Gedanken angetan ist, das gesellschaftliche Leben im Nationalstaat zu organisieren: „ Volksfeste"*2, auf denen eine nationale Hochstimmung durch Erinnerung an ein für die Nation bedeutsames geschichtliches Ereignis erzeugt werden solle, nicht nur individuell, sondern auch kollektiv unternommene „vaterländische Wanderungen"*3, durch die sich eine für den Zusammenhang der Nation notwendige Kommunikation unter ihren Gliedern herstellen lasse, und eine „allgemeine Volkstracht"^, die die Zusammengehörigkeit der im Nationalstaat lebenden Menschen optisch wirksam zu demonstrieren imstande sei, sind nach Meinung Jahns die adäquaten Aktions- bzw. Ausdrucksmittel einer sich als homogene und lebendige Nation begreifenden Gesellschaft85. Jahn beschrieb nicht nur den Ablauf der Volks- bzw. Nationalfeste bis ins Detail, auch seine sich auf die „vaterländischen Wanderungen" und auf die „Volkstracht" beziehenden ausführlichen Erörterungen enthielten eine Vielzahl praktischer Anregungen und Vorschläge. Das Jahnsche Modell einer einheitlichen deutschen national-staatlichen (einschließlich national-gesellschaftlichen) Ordnung wurde theoretisch getragen von einem doppelpoligen Nationsverständnis. Jahns Überzeugung, daß die Nation sowohl eine natürlich-kulturelle, unpolitische Individualität als auch eine natürliche Assoziation vernunftbegabter, zur politisch-staatlichen Verantwortung und Entscheidung befähigter Individuen sei, verschaffte seinem Systementwurf eine eigentümliche Prägung. Es sticht dabei ins Auge, daß Jahn in den politischen Beratungsund Entscheidungsinstitutionen des nationalen Staates - einschließlich seiner kommunalen Organe - die politische Vernunft der Nation zur Geltung und Entfaltung bringen wollte, der Nation in ihrem gesellschaftlichen Leben aber noch stark national-kulturell bestimmte Betätigungs- und Ausdrucksformen empfahl. Auch Jahns relativ geringes Interesse für die ökonomische Verfassung der Nationalgesellschaft dürfte darauf zurückzuführen sein, daß in Jahns Vorstellung die Idee von einer nationalen Kulturgesellschaft noch einen hohen Stellenwert hatte. So erachtete Jahn offenbar die Abschaffung der Zunftprivilegien und die Einführung der Gewerbefreiheit noch nicht als notwendige Voraussetzungen für eine Nationalgesellschaft. Jedenfalls werden von ihm mit keinem Wort entsprechende Forderungen 81

82 83 84

85

Ebd., S. 275. Vgl. S. 112 f. dieser Arbeit. Vgl. S. 72 dieser Arbeit. Vgl. S. 83 dieser Arbeit. Jahn, Deutsches Volksthum, S. 327-360,439-447.

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erhoben. Die ökonomische Emanzipation des Bürgertums scheint also kein Motiv für Jahns Nationalismus gewesen zu sein. Das deutsche Volk stellte er sich auch in Zukunft in seiner Mehrheit als „ackerbauendes Volk" 86 vor. Selbst mit der von ihm energisch postulierten Emanzipation der Bauern verband er weniger die Vorstellung einer ökonomischen Befreiung als vielmehr einer Veränderung ihrer rechtlich-persönlichen Position. Wie ein nationaler Markt herzustellen, wie die ökonomische Einheit der Nation zu erlangen sei, waren Fragen, die sich für Jahn nicht stellten. Obwohl sich im Jahnschen nationalstaatlichen Modellentwurf das national-/few/turelle Denken ungehemmt Geltung verschaffte, war dieser doch - wie wir feststellen konnten - ebenso intensiv vom politischen Nationsgedanken durchdrungen. Dieses Ergebnis ist, vergleicht man die nationalideologische Position Jahns mit den nationalideologischen Positionen, wie sie in Reden und Schriften anderer führender Patrioten im ersten Jahrzehnt des 19.Jahrhunderts zur Geltung kommen, von erheblicher Wichtigkeit. Keiner der anderen durch Wort und Schrift in der Öffentlichkeit agierenden Patrioten hat in den ersten Jahren nach dem deutschen Niedergang derartig konkrete, die deutsche Nation als politische Nation konstituierende Reformen gefordert wie Jahn. Wohlgemerkt, Jahn postulierte diese Reformen unter der ausdrücklichen Prämisse, daß sie nicht einzelstaatlich begrenzt sein dürfen, vielmehr von gesamtnationaler Geltung sein müßten. Keiner der anderen nach 1806/07 auftretenden nationalen Wortführer hat sich zudem in für die Öffentlichkeit bestimmten Reden und Schriften auch nur annähernd so ausführlich und detailliert mit der inneren Organisation eines künftigen deutschen Nationalstaates beschäftigt wie Jahn im „Deutschen Volksthum". Diese Feststellung hat auch noch für die ersten Jahre nach 1810 voll Gültigkeit. Jahns starker Wille, der Nation zu ihrer politischen Selbstverwirklichung zu verhelfen, paarte sich mit einem ganz auf staatliche und gesellschaftliche Organisation und Aktion ausgerichteten pragmatischen Sinn. Um seinem Modell eines deutschen Nationalstaates Leben einzuhauchen, übernahm Jahn zweifellos eine Vielzahl von Reformvorschlägen der zeitgenössischen Publizistik. Die Autoren, die die Detailvorschläge unterbreiteten, verstanden diese allerdings nie als Anregungen für die Organisation eines künftigen deutschen Nationalstaates, sondern begriffen sie immer nur als Beiträge zur Reform des gesellschaftlichen, kulturellen etc. Lebens innerhalb der bestehenden staatlichen Ordnung. Jahn war jedoch keineswegs nur Eklektiker. Er steuerte auch eine Fülle eigener, origineller Ideen für sein Nationalstaatsmodell bei. Sie waren gleichsam Produkte von Jahns realitätsbezogenem, sich auf die politische und gesellschaftliche Praxis konzentrierenden Verstand. Auf diese Weise erhielt sein nationalstaatliches Modell ein beträchtliches Maß an Konkretion. Mit Jahns pragmatisch-nüchterner, ganz auf die Organisierung eines deutschen Nationalstaates gerichteten politischen Denkweise konnte sich keiner der anderen zwischen 1806/07 und 1813 in der Öffentlichkeit für den nationalen Gedanken werbenden Patrioten messen. Das „Deutsche Volksthum" ist ein beredtes Zeugnis für Jahns brennenden Wunsch, die politischen Verhältnisse in Deutschland zugunsten eines nationalen Staates zu verändern, und für sein vitales Bedürfnis, sich planend mit der Organisierung eines solchen deutschen Nationalstaates zu beschäftigen. Für die Nach-Til86

Ebd., S. 320.

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siter Zeit (etwa bis 1813/14) war das Buch aus den genannten Gründen zweifelsohne eine - im positiven Sinn - singulare Leistung. Daran vermögen auch seine sprachlichen Unebenheiten und gedanklichen Schwächen nichts zu ändern. So wechseln in dem Buch Passagen, in denen Jahn seine Vorstellungen in einer plastisch-konkreten Sprache vermittelt, mit solchen, in denen er entweder weitschweifig-umständliche oder abgehackte, bis zu Stichworten verkürzte Sätze formuliert. Das Fragmentarisch-Aphorismenhafte, die Sprunghaftigkeit mancher Gedanken (mitunter läßt es Jahn bei Gedankenblitzen und Gedankensplittern bewenden) auf der einen Seite und das breite Auswalzen von Nebensächlichkeiten andererseits weisen das Werk als eine geistig keineswegs ausgereifte Produktion aus. Es drängt sich die Frage auf, ob die Mischung aus starker nationaler Gesinnung und praktischem, auf organisatorische Gestaltung abzielenden Sinn, die wir beim Autor des „Deutschen Volksthums" beobachten können, nicht eine hervorragende Voraussetzung war, um ihn zu einer aktiven und herausragenden Rolle bei der Gründung und dem Aufbau erster nationaler Assoziationen in Deutschland zu befähigen. Mußte der mit keinem staatlichen Amt betraute Jahn in der innenpolitischen Situation Preußens nach 1806/07 nicht gerade im gesellschaftlichen Bereich die für ihn geeigneten Betätigungsfelder entdecken? Mit der Veröffentlichung des „Deutschen Volksthums" hatte Jahn ja schon einen Beweis dafür geliefert, daß es ihm Ernst mit der Absicht war, die deutsche Gesellschaft im nationalen Sinne zu beeinflussen. Konnte sich aber ein derart intensiver mit der inneren Organisation einer nationalstaatlichen Gemeinschaft beschäftigender Geist mit publizistischer Wirkung allein zufrieden geben? Mußte er nicht, um seinem brennenden Wunsch, der Schaffung einer nationalstaatlichen Ordnung in Deutschland näher zu kommen, auf einen Zusammenschluß von Patrioten zu organisierten Gruppen bedacht sein? Denn waren nicht - diese Frage lag nahe von mehreren oder vielen Individuen miteinander abgesprochene, aufeinander abgestimmte oder gemeinschaftlich unternommene patriotische Aktivitäten für den Erfolg des nationaldeutschen Anliegens am Ende wichtiger als individuelle publizistische oder rhetorische Einsätze? Gerade in der politischen Situation Deutschlands nach 1806/07, in der das Entfachen eines nationalen Sinns untrennbar mit der Mobilisierung des Widerstandsgeistes der Nation gegen den ausländischen Unterdrücker verbunden war, mußte es doch darauf ankommen - sollte sich ein effektives Widerstandspotential herausbilden - , daß sich durch Eigeninitiative auszeichnende und nicht nur aufgrund staatlicher Weisungen und Anordnungen aktionsfähige gesellschaftliche Kräfte zusammengefaßt wurden. In der Tat wurde Jahn von dem Gedanken der Mobilisierung und Organisierung gesellschaftlicher Kreise zugunsten der nationaldeutschen Sache so beherrscht, daß die praktische Ausführung dieses Gedankens eine zwangsläufige Folge war. Kein anderer Patriot setzte sich zwischen 1810 und 1819 für die Entstehung und Verbreitung eines organisierten gesellschaftlichen Nationalismus mit ähnlicher Hingabe ein wie Jahn. Kein Patriot war auf diesem Gebiet gesellschaftlicher Aktivität auch nur annähernd so erfolgreich wie Jahn. Daß die sich im zweiten Jahrzehnt des 19-Jahrhunderts in Deutschland entfaltende organisierte Nationalbewegung ihre Entstehung und Verbreitung in einem erheblichen Maße Jahn verdankt, ist darauf zurückzuführen, daß Jahns leidenschaftlicher Nationalismus, zu dessen festem ideologischen Fundament der Gedanke an die Konstituierung der politischen Nation im Rahmen eines deut-

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sehen Einheitsstaates gehörte, einherging mit einem schier unbändigen Bedürfnis, für dieses politische Ziel gestalterisch-organisatorisch tätig zu werden.

2.3.

Die ersten gesellschaftlichen Vereinigungen mit politisch-nationaler Tendenz

Aufgrund des Einflusses, den die Reformpolitiker Stein, Gneisenau, Scharnhorst, Humboldt u. a. auf die Politik des größten norddeutschen Staates nach dem militärisch-politischen Niedergang gewannen, gab es - so stellten wir fest - für die Entstehung eines politisch gefärbten Nationalismus in der preußischen Gesellschaft verglichen mit der Situation in anderen deutschen Staaten - besonders günstige Bedingungen. Gerade die Hauptstadt Preußens übte auf national-deutsch gesonnene Intellektuelle eine große Anziehungskraft aus. Die Übersiedlung Fichtes, Schleiermachers, Jahns und Arndts nach Berlin sind dafür deudiche Beweise. Unter diesen Umständen kann es nicht überraschen, daß Berlin nach 1806/07 zum Aktionszentrum für die ersten Formen eines organisierten Nationalismus in Deutschland wurde. Folgende drei Assoziationen bzw. assoziationsähnliche Zusammenschlüsse, deren Mitgliedern nicht nur ein kultur-, sondern auch ein politisch-nationales Bewußtsein eigen war, sind vor dem Entstehen der nationalen Turnbewegung in Preußen nachweisbar: Der Reimersche Kreis, eine sich seit 1808 im Hause des Berliner Verlegers Georg Andreas Reimer versammelnde und um Information, Diskussion und Meinungsbildung bemühte Kommunikationsgruppe, der z.B. Schleiermacher und Arndt angehörten87; die Fechtbodengeselbchaft, die im gleichen Jahr wie der Reimersche Kreis von Friedrich Friesen, einem erst 24 Jahre alten, von glühendem Nationalgefühl erfüllten Lehrer, in Berlin ins Leben gerufen wurde und die sich zum Ziel steckte, ihre Mitglieder durch Waffenexerzitien für den Befreiungskampf zu rüsten88; der Deutsche Bund, eine im November 1810 in der preußischen Hauptstadt von F. L.Jahn gegründete Organisation, deren Mitglieder bestrebt waren, in ihrem jeweiligen gesellschaftlichen Umkreis propagandistisch für den nationalen Gedanken zu werben89. Die dem Bunde angehörenden 87

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Mitglieder des Reimerschen Kreises verstanden sich auch als „schießende Gesellschaft", wenn sie sich zu gemeinsamen Schießübungen in Charlottenburg trafen. Vgl. zum Reimerschen Kreis: Th. Roller, Georg Andreas Reimer und sein Kreis. Zur Geschichte des politischen Denkens in Deutschland um die Zeit der Befreiungskriege, Berlin 1924, S. 8 - 1 7 ; A. Scharff, Der Gedanke der preußischen Vorherrschaft in den Anfängen der deutschen Einheitsbewegung, Bonn 1929, S. 13 f. - Im Reimerschen Verlag erschienen schon 1808 Fichtes „Reden" und Schleiermachers patriotische Predigten im Druck. 1813 brachte der Verlag in dritter Auflage den zweiten Teil von Arndts „Geist der Zeit" heraus. Zur Fechtbodengesellschaft siehe: E. Rundnagel, Friedrich Friesen. Ein politisches Lebensbild, München/Berlin 1936, S. 46f.; Schröder, S. 70ff.; C. Euler, Friedrich Friesen, Leipzig/Wien 1899, S. 12 f. Wichtige Kenntnisse über den Deutschen Bund verdanken wir einem amtlichen Bericht, den der Dichter E. T. A. Hoffmann im Februar 1820 in seiner Eigenschaft als Untersuchungsrichter seiner vorgesetzten Behörde erstattete. Hoffmann war beauftragt worden, gegen den im Juli 1819 verhafteten Jahn zu ermitteln. Der Bericht ist abgedruckt in H. Pröhle, Friedrich Ludwig Jahn's Leben. Nebst Mittheilungen aus seinem literarischen

Die ersten gesellschaftlichen Vereinigungen

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Lehrer versuchten außerdem - den Jahnschen Intentionen gemäß durch das Medium der Erziehung in der ihr anvertrauten Jugend nationales Bewußtsein zu wekken. Im Jahre 1812 gingen viele Mitglieder des Bundes auch dazu über, Vorbereitungen für eine Insurrektion gegen Napoleon zu betreiben, indem sie z. B. napoleonische Truppen beobachteten und französische Militärgeheimnisse ausspähten90. Gemeinsames Ziel der drei nationalen Gruppierungen war die Beendigung der napoleonischen Fremdherrschaft in Deutschland und die Bildung eines deutschen Nationalstaates. Während sich die Patriotengruppe um Reimer und der Fechtbodenverein aber kein schriftlich formuliertes politisches Programm zulegten, hatte der Deutsche Bund ein von Jahn verfaßtes Programm erhalten, in dem u. a. das „Hinwirken zur endlichen Einheit unseres zersplitterten, getheilten und getrennten Volks" den Mitgliedern zur Pflicht gemacht wurde91. Obwohl der Deutsche Bund gegenüber den beiden ersten in Preußen nachweisbaren Gruppenbildungen mit politisch-nationaler Tendenz - der Fechtbodengesellschaft und der Reimerschen Kommunikationsgruppe - in mancher Hinsicht die entwickeltere nationalpolitische Vereinigung war (ihm war nicht nur ein schriftliches Programm zu eigen, er hatte auch eine Organisation, die sich nicht mehr allein auf die preußische Hauptstadt beschränkte, und er bildete ansatzweise rituelle Nationalismuselemente aus)92, besaßen die drei Gruppierungen über ihre politisch-ideologische Affinität hinaus so signifikante organisatorisch-soziologische Identitätsmerkmale, daß man sie ohne weiteres derselben, nämlich der ersten (der - wie wir meinen - eigentlichen Nationalbewegung vorausgehenden) Entwicklungsstufe des organisierten gesellschaftlichen Nationalismus zurechnen muß. 1. Die Vereinigungen existierten, ohne daß von ihnen die Öffentlichkeit erfuhr93. 2. Indem die Assoziationen das Licht der Öffentlichkeit mieden (der Deutsche Bund machte es zwar jedem einzelnen Mitglied zur Pflicht, im Sinne der nationalen Zwecksetzung des Bundes öffentlich agitatorisch oder pädagogisch zu wirNachlasse, Berlin 1855, S. 321—424. Von großem Informationswert sind auch die sich mit dem Deutschen Bund beschäftigenden Partien in den Memoiren des Pädagogen und Mitbegründers des Bundes Wilhelm Harnisch. Siehe W. Harnisch, Mein Lebensmorgen. Nachgelassene Schrift von Wilhelm Harnisch. Zur Geschichte der Jahre 1787-1822, hrsg. von H. E. Schmieder, Berlin 1865, S. 218-223, 298-305, 370-380. Zum Deutschen Bund vgl. folgende Literatur, die teilweise auf weitere amtliche Unterlagen (Vernehmungsprotokolle) rekurriert: Scharff, S. 26 ff.; Rundnagel, S. 63 ff.; Schröder, S. 80 ff. - Fechtvereinsgründer Friedrich Friesen, seit 1809 Berufskollege und Freund Jahns (beide unterrichteten an der Plamannschen Anstalt), nahm an der Gründungsversammlung des Deutschen Bundes teil und trat diesem nicht nur selbst als Mitglied bei, sondern führte ihm auch mehrere Angehörige der Fechtbodengesellschaft als Mitglieder zu. 90

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Sie handelten gemäß einem Insurrektionsplan, den der seit Mai 1812 am Hofe des russischen Zaren befindliche Freiherr vom Stein ausgearbeitet hatte. Mit seiner Ausführung beauftragte Stein den in Prag lebenden Justus Gruner, der bis März 1812 Polizeichef in Berlin war. Gruner knüpfte von Prag aus Kontakte zu Mitgliedern des Deutschen Bundes und übertrug ihnen allein das schwierige Geschäft der Insurrektionsvorbereitungen. Pröhle, S. 351. Vgl.Anm.94. Zwei Gründe dürften für die nicht-öffentliche, geheime Gruppenbildung ausschlaggebend gewesen sein. Ein Grund ist in der Geschichte des deutschen Vereinigungswesens zu suchen. Die geheime Organisationsform war die traditionelle für Vereinigungen mit politischen Zwecken und für Freimaurerbünde (vgl. oben S. 18 f.). Mußte sich den Gründern erster national-politisch orientierter Gruppierungen diese überkommene Organisa-

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ken, als Organisation blieb er aber der Öffentlichkeit verborgen), setzten sie übereinstimmend ihrem Mitgliederbestand zahlenmäßig sehr enge Grenzen. Der Deutsche Bund hatte nie mehr als 80 Mitglieder. Mit dieser Zahl übertraf er aller Wahrscheinlichkeit nach die maximale Mitgliedermenge des Reimerschen Kreises und der Fechtbodengesellschaft. 3. Aber nicht allein auf die Quantität der Mitglieder wirkte sich die geheime Assoziierung aus, auch die spezifische soziale Zusammensetzung dürfte sie mit beeinflußt haben. Im Reimerschen Zirkel, in der Fechtbodengesellschaft und im Deutschen Bund blieben Angehörige des gehobenen Bürgertums und einige Adlige unter sich. Aus Professoren, höheren Beamten, Offizieren, Diplomaten, Lehrern und Studenten (letztere nur in der Fechtbodengesellschaft) setzten sich die Mitglieder zusammen. Der organisierte gesellschaftliche Nationalismus war in seiner Entstehungsphase nicht nur wegen seiner nicht-öffentlichen Organisationsweise, sondern auch aufgrund seiner soziologischen Beschaffenheit eine exklusive Erscheinung. Er wurde in seiner sozialen Zusammensetzung ausschließlich geprägt von wenigen Angehörigen .elitärer' Gesellschaftsschichten. Wir können deshalb auch von einem .Elite-Nationalismus* sprechen. 4. Der Deutsche Bund begann sich zwar - im Unterschied zum Reimerschen Kreis und zum Fechtbodenverein - durch die Gründung von Filialvereinen auch außerhalb der preußischen Hauptstadt eine Mitgliederbasis zu verschaffen - in den Städten Königsberg, Köslin, Marienwerder, Stargard, Gransee und Kolberg, in Wertheim (Main), Weimar, Gotha und Erfurt kamen Zweigvereine zustande (über die Art der kommunikativen Kontakte zwischen diesen Vereinen ist nichts bekannt) - , er repräsentierte aber in Ubereinstimmung mit den beiden anderen Gruppierungen durch seine Organisation und Mitgliedschaft noch nicht im entferntesten den intendierten deuttionsform nicht zur Nachahmung anbieten, selbst wenn die traditionelle, während des 18. Jahrhunderts vorhandene Ursache für die geheime Organisationsform - die Nichtzulassung politisch-organisierter Betätigung durch die deutschen Fürsten - in der preußischen Reformära wegzufallen schien? Zu dem traditionellen Grund gesellte sich ein aktueller. Die Anwesenheit französischer Kontrolleure in Preußen barg Risiken in sich. Es schien zweckmäßig zu sein, diese über Existenz und Art der Gruppierungen in Unkenntnis zu halten. Wodurch konnte dies eher als durch Geheimhaltung erreicht werden? Nicht-öffentliche Organisierung schloß indes Kontakte zur Regierung nicht aus. Die sich organisierenden national-deutschen Patrioten betrachteten ihre Aktivitäten als im Einklang befindlich mit den Intentionen preußischer Reformpolitiker. Während vom Reimerschen Kreis bekannt ist, daß er über Gneisenau, der Mitglied des Zirkels war, Verbindungen zu Regierungsstellen unterhielt, sind solche von der Fechtbodengesellschaft nicht bekannt. Auch der Deutsche Bund schien von Anfang an Kontakte zu staatlichen Stellen gepflegt zu haben, was allerdings nicht verhinderte, daß 1812 die preußische Regierung unter Hardenberg mehrere Mitglieder des Deutschen Bundes verhaften und bei Haussuchungen Unterlagen des Bundes beschlagnahmen ließ. Staatskanzler Hardenberg war erst 1812 durch eine Denunziation über die Existenz des Bundes und über die auf eine Insurrektion abzielenden Tätigkeiten seiner Mitglieder informiert worden. Da der preußische König im März 1812 einen Bündnisvertrag mit dem zur militärischen Aggression gegen Rußland entschlossenen Napoleon abgeschlossen hatte, paßten die Aufstandsvorbereitungen des Bundes nicht in das Konzept der Regierung. Mit einem Verbot wurde der Bund seitens der Regierung jedoch nicht belegt. Vgl. zum Verhältnis Deutscher Bund/preußische Regierung und zu den insurrektionellen Aktivitäten des Deutschen Bundes: Harnisch, S. 298-302 u. Schröder, S. 113-125. - Der Deutsche Bund existierte - ebenso wie die Fechtbodengesellschaft - bis Anfang des Jahres 1813. Die beiden Organisationen lösten sich auf, als der Befreiungskampf gegen Napoleon in Sicht war. Der Reimersche Zirkel überlebte dagegen das Jahr 1813 und blieb auch in den folgenden Jahren bestehen.

Exkurs

45

sehen Nationalstaat in territorialer Hinsicht. 5. Der Deutsche Bund bildete zwar erstmals in Ansätzen rituelle Elemente mit nationalem Inhalt aus, diese beschränkten sich aber auf einige wenige verbale Bekenntnis- und Bekräftigungsformein9*. Ebenso wie die beiden zwei Jahre vorher entstandenen Gruppierungen besaß der Deutsche Bund noch kein nationales Ritual mit aktionistischen, visuellen und gesanglich-melodischen Wirkungselementen95. Auch dieser Sachverhalt muß im Zusammenhang mit der jede Öffentlichkeit ausschließenden Organisierung gesehen werden. Was freilich die Fechtbodengesellschaft und in einem noch höheren Maße den Deutschen Bund vom Reimerschen Kreis unterschied, war der durch deren Satzungen vorgeschriebene Ausbau der inneren Organisation. Der Kreis um den Berliner Verleger blieb eine informelle Kommunikationsgruppe. Die stark ausgebildeten formalen Organisationsmerkmale des Deutschen Bundes96 waren zusammen mit seinem schriftlichen Programm und seinen - wenn auch noch sehr bescheidenen - nationalen Ritualen unzweideutig Resultate der außerordentlichen, auf gesellschaftlich-politische Organisierung drängenden Tatkraft F. L. Jahns.

2.4.

Exkurs

Zwei weitere in Preußen nach dem Zusammenbruch von 1806/07 entstandene Assoziationen sind nach unserer Meinung nicht den ersten Organisationen mit nationalpolitischer Tendenz zuzurechnen. Soweit in ihnen national-deutsches Bewußtsein zur Geltung kam, war dieses ausschließlich kulturell geprägt. Im Dezember 1808 stiftete in Berlin Karl Friedrich Zelter, Komponist und Leiter der Singakademie (eines Instituts für gemischten Chorgesang), die erste gesellschaftliche Vereinigung in Deutschland, in der sich - im Rahmen einer .gepflegten', geistreichen und nach bestimmten Riten praktizierten Geselligkeit - Männer gemeinschaftlich dem Dichten, Komponieren, Einüben und Singen weltlicher Lieder widmeten. Zelter gab der Vereinigung den Namen Liedertafel. Was den Geselligkeitscharakter der .Liedertafel' betrifft, diente Zelter als anspruchsvolles, geschichtlich-legendäres Vorbild die Tafelrunde des Königs Artus. Die Liedertäfler nahmen bei ihren all94

95 96

Neu in den Bund eingetretene Mitglieder hatten einen im Wortlaut vorgeschriebenen eidähnlichen Schwur abzulegen, in dem die Verpflichtung zu einer Lebensführung nach den Grundsätzen des Bundes u.a. mit der Formel „so wahr ich ein Mann und ein Deutscher bin" bekräftigt wurde. Auch für den Fall, daß sich untereinander nicht bekannte Mitglieder gegenseitig als Bundesgenossen zu erkennen gaben, war ein aus Wortformeln bestehendes Zwiegespräch vorgesehen. Im Wechsel wurden die Worte gesprochen: „Deutschland erwacher - „Sage die Rache." - „Muthig und blutig." - „Wage, beginne; schlage, gewinne" (vgl. Pröhle, S. 362 f. u. 365). Vgl. S. 43 dieser Arbeit. Das Vereinsleben wurde nicht nur durch Satzungen, sondern auch durch mehrere Bundesämter geregelt. Einen Ordner - der faktisch der Leiter des Bundes war (zuerst hatte Jahn, dann Friesen das Ordneramt inne) - , einen Sekretär, einen Schriftwart und Kassenwart beauftragten die Mitglieder durch Wahlen mit der Verwaltung des Bundes. Nach demokratischen Spielregeln wurden auch andere wichtige Entscheidungen in den Vollversammlungen des Bundes getroffen (vgl. Harnisch, S. 372 f.; Schröder, S. 84).

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2. Die frühe nationale Turnbewegung (1811-1819)

monatlichen Zusammenkünften an einer Tafel Platz, an der sie sich nicht nur dem Kunstgenuß, sondern auch einem „frugalen Mahle" hingaben. Die Entstehung der .Liedertafel' war freilich kein von den konkreten politischen Zeitumständen losgelöster Akt. Es wäre falsch, in der Gründung der Gesangvereinigung einen Vorgang zu sehen, der von ausschließlich kunst- und geselligkeitsbeflissenen und dem politischen Leben absolut fern stehenden Personen inszeniert wurde. „Zur Feier der Wiederkunft des Königs" aus Memel nach Berlin hatte man - wie Zelter im Monat ihrer Gründung an Goethe schrieb - die Liedertafel gestiftet. In den Satzungen, die sich die Vereinigung im Januar 1809 gab, wurde ebenfalls festgehalten, daß die Liedertafel sich als Stiftung sehe, „welche die ersehnte Zurückkunft des königlichen Hauses feiert und verewigt" (diese verzögerte sich bis Dezember 1809). Treue zum König, zur Monarchie, überhaupt preußischer Patriotismus waren mit ausschlaggebende Triebkräfte für die Gründung der Vereinigung. Man gedachte in einer Zeit schwerer Bedrängnis für den preußischen Staat und seine Bürger durch das mittels Gesang evozierte Gemeinschaftserlebnis das eigene Selbstgefühl zu stärken. Auf diese Weise glaubte man auch dem preußischen Staat zu dienen. Nicht jedoch von weltlichen Gesängen schlechthin erhoffte man sich eine Stärkung des Gemüts, sondern - und hier machte sich das £«/i«rnationale Bewußtsein der Liedertäfler geltend - von „gefälligen deutschen Gesängen" (Zelter an Goethe v. 26.12.1808), von Liedern, „die den deutschen Sinn, Ernst und Fröhlichkeit atmen" und die „keine bloßen Nachahmungen ausländischer Formen sind" (Text der Liedertafelsatzung). Die von der Liedertafelrunde gesammelten und intonierten „deutschen" Gesänge waren Lieder, die der Liebe, der Freundschaft, den Frauen und dem Wein gewidmet waren oder in denen Geselligkeit, Humor, Natur und Tod zentrale Motive und Themen darstellten. Einige wenige stellten eine Huldigung an den preußischen König dar. Keines von ihnen war .vaterländisch'-deutsch in dem Sinne, daß es etwa Begriffe wie .deutsches Volk', .deutsches Vaterland', .deutsches Reich' oder .deutsche Einheit' thematisch umkreist hätte. Den Liedern fehlte jede politisch-nationale Tendenz. Auch die im Liedertafelkreis stattfindenden Gespräche hatten keine politisch-nationalen Inhalte. Der Kreis der Liedertäfler zeichnete sich durch organisatorisch-soziale Exklusivität aus. Analog zu den ersten nationalpolitischen Gruppierungen schirmte er seine monatlichen Begegnungen von der Öffentlichkeit streng ab. Bei der Aufnahme von Mitgliedern, die durchweg dem gehobenen Bürgertum entstammten und deren Zahl auf 25 begrenzt blieb, betrieb er eine äußerst kritische Selektion. Durchweg gehörten der Liedertafel Männer an, die Mitglieder der Singakademie waren und zueinander in einem engen persönlichen Verhältnis standen. Es versteht sich, daß sich ein derart elitär gelierender und gegenüber der gesellschaftlichen Umwelt verschließender Männerzirkel jede Einwirkungsmöglichkeit auf das Bewußtsein der Zeitgenossen versperrte 97 .

97

Zur Zelterechen Liedertafel vgl. W. Bornemann, Die Zeltersche Liedertafel in Berlin, ihre Entstehung, Stiftung und Fortgang, nebst einer Auswahl von Liedertafel-Gesängen und Liedern, Berlin 1851, Dietel, S. 29-42 und Der Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter, hrsg. v. M. Hecker, Bd. 1, Leipzig 1913. Voranstehende Zitate: Briefwechsel, S. 228f. und Dietel, S. 34 f.

Exkurs

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Bei der zweiten nach 1806/07 in Preußen entstandenen nicht-nationalpolitischen Vereinigung handelt es sich um den im April 1808 von Königsberger Logenbrüdern ins Leben gerufenen Tugendbund, der auch die Namen „Gesellschaft zur Übung öffentlicher Tugenden" und „sittlich-wissenschaftlicher Verein" trug. Ideelle Zielsetzung und praktische Tätigkeit der Mitglieder des Bundes verbieten es, diesen den ersten nationalpolitischen Vereinigungen zuzuordnen, obwohl er wie die Liedertafel - mit den drei nationalpolitischen Gruppen die nichtöffentliche Organisationsform und die spezifische soziale Mitgliederbeschaffenheit teilte. Auch seine Mitglieder entstammten fast ausschließlich dem arrivierten Bürgertum oder waren - zahlenmäßig weitaus geringer - Adlige. Durch die Zahl seiner Mitglieder (über 700) und durch den Grad seiner organisatorisch-territorialen Ausdehnung (in 25 preußischen Städten konnte er Lokalvereine, sog. „Kammern", errichten) hob er sich allerdings sowohl von den ersten nationalpolitischen Vereinigungen als auch von der Liedertafel ab. Gemäß der „Verfassung", die die Tugendbundstifter ausarbeiteten, sollte die „Werkthätigkeit in öffentlichen Tugenden" die „Hauptrichtung" des Bundes sein, die zudem „nie verändert" werden dürfe. Jedes Bundesmitglied müsse sich - so deklarierte die „Verfassung" - „die Aufsuchung des gemeinen Volks" „zum Zwecke" setzen, „um demselben sittlichen Enthusiasm einzuflößen". Um „die Idee" „wahrer Menschheit" „im Volke zu beleben", um „Humanität und Anfesselung jedes Menschen an jeden und an das Gesetz" zu bewirken, war nach Auffassung der Tugendbundgründer eine direkte Einwirkung der Bundesmitglieder auf „das Volk" vonnöten. Das Begriffsvokabular verrät das aufklärerische Denken der freimaurerischen Bundesstifter. Ein breites Spektrum von praktischen Arbeitsfeldern, vor allem im Bereich des Erziehungswesens und der Volksbildung, wurden den Mitgliedern des Tugendbundes bzw. den örtlichen Kammern zugewiesen. U.a. dachte man an die Abfassung eines für „die frühe Jugend" bestimmten „Katechism", der in faßlicher und prägnanter Sprache „die Grundwahrheiten des Lebens und der Religion, einfache Vorstellungen von Familie, Staat und Regenten enthält", an die Herausgabe einer „periodische(n) Volksschrift" mit dem Titel „Der Volksfreund" und an eine sich mit der Literatur und Kunst beschäftigende Zeitschrift unter dem Namen „Wiedergeburt der sittlichen Welt". Man regte an, für die Verbreitung geprüfter und nützlich befundener „Ackergeräthe und Erfindungen" in der Landwirtschaft zu sorgen, unverschuldet verarmten Handwerkern „durch Beschaffung des Handwerkszeuges aufzuhelfen", die Unterstützung der Polizeiarbeit durch die Bevölkerung mit der Herausgabe eines „Polizeikatechism" zu fördern und ehemaligen Strafgefangenen Arbeitsstellen zu vermitteln. Von dem breitgefächerten, ehrgeizigen Aktionsprogramm konnte der Tugendbund in der kurzen Zeit seines Bestehens (bis Januar 1810) nur einen kleinen Bruchteil verwirklichen. Die Königsberger „Kammer" gab die populär gehaltene Zeitschrift „Der Volksfreund" heraus und errichtete eine „Armenspeiseanstalt". Die besonders aktive Braunsberger „Kammer" rief eine Industrieschule ins Leben, in der Mädchen im Spinnen, Stricken, Nähen und Anfertigen von Kleidern unterrichtet wurden. Trotz der Zwecksetzung des Bundes, auf breite Bevölkerungsschichten einzuwirken, war er bestrebt, als Organisation in der Öffentlichkeit unbekannt zu bleiben.

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2. Die frühe nationale Turnbewegung (1811-1819)

Das auf „Humanität", „Sittlichkeit" und „Tugend" abzielende Programm des Tugendbundes wurde von seinen Stiftern durchaus als patriotisches Programm verstanden. Die Gründung des Tugendbundes ist ebenso wie die Entstehung der Liedertafel ohne die seit 1806/07 bestehende politische Situation Preußens undenkbar. Auch die Königsberger Logenbrüder waren bei ihrem Tun von preußischem Patriotismus beseelt. Mit der Stiftung des Bundes und seinen Aktivitäten beabsichtigten sie, dem preußischen Staat und der preußischen Bevölkerung einen Dienst zu erweisen. Durch ein .aufgeklärtes* und in .sittlicher' Hinsicht gefestigtes preußisches Volk glaubten sie auch die Widerstandskräfte des preußischen Staates zu restabilisieren. Wenn in der „Verfassung" des Tugendbundes von „Vaterland" und „Nazion" sowie von „patriotischgesinnten Bürgern" die Rede ist, so dachten die Verfasser dabei ausschließlich an Preußen bzw. an die königstreuen und gouvernemental gesonnenen preußischen Untertanen. Zwar sei „der thätig tugendhafte Mensch Gegenstand der Wirksamkeit des Vereins", heißt es in der Einleitung der „Verfassung", „zuvörderst" meine man damit aber den ,,gute(n) Preußische(n) Staatsbürger". Der Bund bilde, so heißt es an gleicher Stelle der „Verfassung", „eine Schutzmauer um den Thron des jetzigen Beherrschers von Preußen und des Hauses Hohenzollern gegen den Andrang des unsittlichen Zeitgeistes". Das Organisationsstatut des Vereins nannte nur preußische Städte, in denen „Kammern" gebildet werden sollten, und die regionale Zusammenfassung der „Kammern" zu „Provinzialkammern" richtete sich ausschließlich nach der territorial-administrativen Gliederung des preußischen Staates. In der Tat hat sich der Bund über Preußen hinaus nicht organisiert. Jede in den Bund eintretende Person hatte außerdem einen Revers zu unterschreiben, in dem sie aufgefordert wurde, „als Preußischer Staatsbürger" ihre „Pflichten mit größter Aufmerksamkeit zu erfüllen und dem jetzigen Könige und seinem Hause mit ganz besondrer Treue anzuhangen". Die preußisch-gouvernementale Gesinnung der Stifter des Tugendbundes spricht auch aus deren Bemühen, unmittelbar nach Entstehen der Vereinigung die königliche Genehmigung für seine Verfassung per Schreiben an Friedrich Wilhelm III. und an den leitenden Minister, Freiherrn vom Stein, einzuholen. Diese wurde vom Monarchen erteilt. Als aber Friedrich Wilhelm am 31.12.1809 den „Generalzensor" des Bundes über seinen Entschluß informierte, er werde die Organisation aufheben (der preußische Monarch beugte sich wahrscheinlich einer Intervention Napoleons), lösten die Tugendbündler - ihrer gouvernementalen Gesinnung folgend die Vereinigung augenblicklich auf. Von preußischem Patriotismus waren also die Stifter und Mitglieder des Tugendbundes primär erfüllt; national-deutsches Bewußtsein war eine von ihnen nur schwach ausgebildete geistige Triebkraft. Einige wenige kultur-nationale Ideenelemente fanden Eingang in die „Verfassung" des Tugendbundes. Die Pflege „deutscher Sitten" und der deutschen Sprache waren Nebenzwecke der Vereinigung, aber nicht mehr. So sollte nach dem Willen der Väter des Tugendbund-Grundgesetzes eine von mehreren auf die Verbesserung der Erziehung abzielenden Maßnahmen die Einrichtung und der Zusammenschluß von studentischen „Freivereinen" unter dem Namen „Deutscher Bund" sein. Diese hätten den bestehenden studentischen „Orden" und Landsmannschaften, deren Roheiten, Duellen und Unsittlichkeiten entgegenzuarbeiten und u.a. für die .Aufrechthaltung deutscher Sitten" zu sorgen. Die vom Tugendbund herausgegebene literarisch-künstlerische

Exkurs

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Zeitschrift sollte neben „Denk- und Gewissensfreiheit" ebenfalls „deutsche Sitten", außerdem „deutsche Sprache vertreten"98. Unverkennbar hatte der Tugendbund, obwohl er es mied, in der Öffentlichkeit als Organisation bekannt zu werden, aufgrund seines auf den Einzelstaat bezogenen Patriotismus und seines Bemühens, in Übereinstimmung mit der Regierung zu handeln, große Ähnlichkeit mit den patriotischen Gesellschaften des 1 S.Jahrhunderts99. Aber an seinen Betätigungsfeldern und seinen Wirkungsintentionen wird auch sichtbar, daß er nicht eine patriotische Gesellschaft herkömmlichen Typs war. Einmal hatte der Tugendbund im Vergleich zu den überkommenen patriotischen Gesellschaften den Umfang der geplanten öffentlichen Betätigungen beträchtlich ausgeweitet. Zum anderen bekundete er mit seiner Absicht, „sittliche" Wirkungen im Volk, insbesondere in den unteren Volksschichten, zu erzielen, daß es ihm nicht nur um sachgebundene Neuerungs- und Reformprojekte ging - wie den patriotischen Gesellschaften im 18 Jahrhundert - , sondern daß er auf eine Bewußtseinsveränderung breiter Gesellschaftsschichten abzielte. Außerdem übertraf der Tugendbund die im vorangegangenen Jahrhundert gegründeten patriotischen Gesellschaften durch die große Zahl seiner lokalen Organisationen und Mitglieder. Schließlich gab es in den alten patriotischen Gesellschaften kein Pendant für die im Tugendbund vorhandenen, wenn auch schwach ausgebildeten national-deutschen Tendenzen. Da diese noch keinerlei politischen Charakter hatten, ist es aber, wie schon erwähnt, nicht berechtigt, den Tugendbund den ersten nach 1806/07 entstehenden national-politisch orientierten Vereinigungen zuzurechnen. Vergegenwärtigt man sich, daß der preußisch-patriotische Tugendbund eine bedeutend höhere Mitgliederzahl aufwies als die zur gleichen Zeit entstehenden drei nationalpolitischen bzw. deutsch-patriotischen Vereinigungen zusammen, wird erkennbar, daß in der gesellschaftlichen .Elite* Preußens nach Jena und Tilsit ein auf einen deutschen Nationalstaat fixiertes politisches Bewußtsein noch keineswegs eine Selbstverständlichkeit war. Teile des gehobenen Bürgertums und des Adels in Preußen reagierten auf die staatlich-politische Katastrophe und den von der Regierung entfachten Reformgeist, indem sie vor allem einen preußischen Patriotismus entwickelten und hervorkehrten. Nur eine sehr kleine Gruppe von Angehörigen der gehobenen Gesellschaftsschichten bildete nach 1806/07 ein national-deutsches 98

Zum Tugendbund vgl. A. Lehmann, Der Tugendbund. Aus den hinterlassenen Papieren des Mitstifters Professor Dr. Hans Friedrich Gottlieb Lehmann, Berlin 1867; J. Voigt, Geschichte des sogenannten Tugend-Bundes oder des sittlich-wissenschaftlichen Vereins, Berlin 1850; P. Stettiner, Der Tugendbund, Königsberg 1904. Besonders Lehmann, S. 145-192. Dort auch obige Zitate. Neuerdings beschäftigte sich O. Dann in einem Aufsatz mit dem „Tugendbundstreit", d.h. einer publizistischen Kontroverse, die fünf Jahre nach Auflösung des Vereins zwischen deutschen Patrioten - z. B. Schleiermacher und Niebuhr - und dem Geheimrat Th. Schmalz in Preußen stattfand und die in der zeitgenössischen Öffentlichkeit einiges Aufsehen erregte. Schmalz hatte in einer dem König zugesandten Schrift die geheime Organisationsform des aufgelösten Bundes massiv kritisiert, weil sie auf politischen Oppositionsgeist schließen lasse, den er grundsätzlich für unstatthaft hielt. Schmalzens publizistische Gegner lehnten zwar auch die Gründung geheimer Gesellschaften ab, betonten aber nachdrücklich das staatsbürgerliche Recht auf Bildung von öffentlichen Organisationen mit politisch-oppositioneller Tendenz. Vgl. O. Dann, Geheime Organisierung und politisches Engagement im deutschen Bürgertum des frühen 19. Jahrhunderts. Der Tugendbund-Streit in Preußen, in: P. Chr. Ludz (Hrsg.), Geheime Gesellschaften (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, Bd. V/1), Heidelberg 1979, S. 399-428.

99

Vgl. oben S. 18.

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2. Die frühe nationale Turnbewegung

(1811-1819)

Bewußtsein von solcher Intensität aus, daß es zu einer im organisatorisch-gesellschaftlichen Bereich manifest werdenden politischen Triebkraft wurde. Die Liedertafel und der Tugendbund einerseits und die drei nationalpolitischen Vereinigungen andererseits (deren Mitglieder im übrigen auch noch preußisch-patriotisch gesonnen waren; ihr national-deutsches Bewußtsein war aber deutlich stärker ausgebildet als ihr preußischer Patriotismus) vermitteln also erst zusammen ein Bild von den staatlich-politischen Loyalitäten und Fixierungen der gesellschaftlichen .Elite' Preußens in den ersten Jahren nach 1806/07. Von sozial- und ideengeschichtlicher Relevanz ist es, daß sich der ideell-politische Wandel von einem partikular-staatlich-preußischen zu einem national-deutschen Patriotismus in den Jahren nach der deutsch-preußischen Niederlage in eng gezogenen soziologischen Grenzen, nämlich innerhalb der aus gehobenem Bürgertum und Adel bestehenden gesellschaftlichen .Elite', abspielte.

2.5.

Allgemeine Charakteristik der frühen nationalen Turnbewegung

Erst als der 1808 entstehende organisierte Nationalismus in Deutschland seine nicht-öffentliche Organisierung preisgab, seine engen sozialen Schranken überwand, sich in vielen Teilen Deutschlands ausbreitete, ein kommunikatives System und ein massenwirksames nationales Ritual ausbildete, gelang es ihm, sich zu einer einflußreichen gesellschaftlichen Kraft zu entwickeln. Als der wichtigste Schrittmacher in dieser Richtung erwies sich seit 1813/14 die von Jahn 1811 ins Leben gerufene Turnbewegung. Aber noch vor Beginn der Befreiungskriege legte Jahn für diese Entwicklung das Fundament. Mit dem Vorgang der Gründung des Berliner Turnplatzes verfolgte Jahn einen ausgesprochen nationalpädagogischen Zweck. Sein erzieherisches Ziel war zunächst einmal die körperliche Ertüchtigung der Jugend, und er verstand diese pädagogische Intention als notwendigen Bestandteil eines umfassenden national-erzieherischen Auftrags der Gesellschaft. Dies war jedoch nicht eine unerhört neue, originäre Idee Jahns. So wie in pädagogischen Kreisen Deutschlands im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert die Forderung nach einer einheitlichen Volks- oder Nationalerziehung erhoben wurde und schon in diversen Erziehungsprogrammen konkrete Gestalt angenommen hatte 100 , so plädierten auch übereinstimmend renommierte und einflußreiche zeitgenössische Pädagogen für die Einbeziehung körperlicher Übungen in allgemeine Erziehungspläne. Hauptsächlich wurden diese Plädoyers mit dem Hinweis auf eine allseitig-harmonische, Geist und Körper einbeziehende Ausbildung begründet. Aber auch das Argument tauchte bereits auf, von in Gemeinschaft veranstalteten Körper-Übungen und -Spielen ginge ein Zusammengehörigkeits- und Nationalgefühl weckender Effekt aus. Jahn - der unter starkem Einfluß des pädagogischen Denkens seiner Zeit stand - wurde angeregt durch bereits vorhandene Volkserziehungskonzepte, als er einen Natio100

Vgl. oben S. 38.

Allgemeine Charakteristik

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nalerziehungsentwurf im „Deutschen Volksthum" entwickelte 101 und als er die Edukation der Jugend im nationalen Sinne zu einer Schwerpunkttätigkeit für die pädagogisch wirkenden Mitglieder des von ihm gegründeten „Deutschen Bundes" deklarierte 102 . Er wurde aber auch von dem in der zeitgenössischen deutschen Pädagogik vertretenen und sogar schon praktizierten Gedanken, die körperliche Erziehung müsse integraler Teil einer umfassenden Individual- bzw. einer allgemeinen Volks- oder Nationalerziehung sein, zu seinem körpererzieherischen Experiment inspiriert 103 . Hinzu kam, daß Jahn - unabhängig vom Diskussionsstand in der Päd101 102 103

Vgl. oben S. 38. Vgl. oben S. 42 f. Die diversen praktischen und schriftstellerischen Bemühungen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts um die Einführung der Leibesübungen in privaten und öffentlichen Schulen sind ohne das Erscheinen des Rousseauschen Erziehungsromans „Emile" im Jahre 1762 kaum denkbar. Der Roman des französischen Schriftstellers und Gesellschaftstheoretikers enthielt ein Bekenntnis zur Leibesertüchtigung im Rahmen der Individualerziehung. Vor allem der Philanthropismus, eine im ausgehenden 18. Jahrhundert in Deutschland entstehende pädagogische Reformbewegung, berief sich expressis verbis auf die pädagogischen Grundsätze Rousseaus und versuchte in privaten Erziehungsanstalten eine allgemeine standesunabhängige, natur- und vernunftgemäße sowie die Individualität des Schülers allseitig fördernde Erziehung zu verwirklichen (vgl. Anm. 61). Leibesübungen waren ein integraler Bestandteil dieses Erziehungsprogramms. So führte Johann Bernhard Basedow in seinem 1774 gegründeten Dessauer Philanthropin - der ersten philanthropischen Erziehungsanstalt in Deutschland - die Leibesübungen als Unterrichtsfach ein. Körperliche Übungen wurden auch in dem seit 1777 bestehenden Philanthropin zu Heidesheim bei Dürkheim (Pfalz) betrieben. Der Leiter der Heidesheimer Anstalt, der Pädagoge und Theologe K. F. Bahrdt, hatte schon 1775/76 gymnastische Übungen in den Lehrplan des Philanthropins zu Marschlins in Graubünden (Schweiz) eingeführt. Schließlich nahm auch Christian Salzmann körperliche Übungen in den Unterrichtsplan seines 1785 im thüringischen Schnepfenthal errichteten privaten Erziehungsinstituts auf (siehe K. Wassmannsdorff, Die Turnübungen in den Philanthropinen zu Dessau, Marschlins, Heidesheim u. Schnepfenthal, in: Deutsche Turn-Zeitung, Jg. 1870, Nr. 16 u. 17, S. 77ff. u. 85 ff.). Vor dem Entstehen der Philanthropine war in Deutschland körperliche Erziehung ausschließlich an adligen Standesschulen, den sog. Ritterakademien, ein festes Unterrichtsfach. Diese standesspezifische Körpererziehung bestand freilich nur aus den Disziplinen Fechten und Reiten. Obwohl der Konzeption nach philanthropische Erziehung eine nichtstandesgebundene Erziehung sein sollte, blieb die im Dessauer, Heidesheimer und Schnepfenthaler Philanthropin vermittelte Erziehung Jugendlichen aus dem gehobenen Bürgertum vorbehalten. Den philanthropischen Privat-Erziehungsanstalten kam also das Verdienst zu, zum ersten Male einige aus dem Bürgertum stammende Jugendliche mit der Gymnastik vertraut gemacht zu haben. Für die Einführung der Gymnastik als Unterrichtsfach an öffentlichen Schulen setzten sich in ihren Schriften - wenngleich ohne Erfolg - der Mediziner Johann Peter Frank („System einer vollständigen medizinischen Polizei", Bd. 2, Mannheim 1780) sowie die Pädagogen Peter Villaume („Von der Bildung des Körpers in Rücksicht auf die Vollkommenheit und Glückseligkeit des Menschen", in: J. H. Campe (Hrsg.), Allgemeine Revision des gesammten Schul- u. Erziehungswesens, Teil 8, Wien/Wolfenbüttel 1787) und Anton Vieth („Versuch einer Encyklopädie der Leibesübungen", Berlin 1794/95) ein. Aus dem Kreis der Pädagogen, die literarisch die Leibesübungen als Erziehungsmittel empfahlen, stach Johann Christoph GutsMuths hervor, da er sich als erster deutscher Pädagoge von dem Erlebnis kollektiv veranstalteter Körperübungen eine Zusammengehörigkeits- und Nationalgefühl erzeugende Wirkung versprach. GutsMuths leitete seit 1786 den Gymnastikunterricht an der Schnepfenthaler Anstalt. Gleichsam als Frucht seiner Unterrichtserfahrungen veröffentlichte er 1793 das erste neuzeitliche, mit einer Vielzahl praktischer Beispiele angereicherte gymnastische Lehrbuch unter dem Titel „Gymnastik für die Jugend". In ihm hob er einerseits nachdrücklich den auf das Individuum abgestellten pädagogischen Sinn der Gymnastik her-

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2. Die frühe nationale Turnbewegung

(1811-1819)

agogik seiner Zeit - dem Turnen von Anbeginn eine vormilitärische Ausbildungsfunktion zuwies104. Entscheidend für die Entwicklung des Turnwesens war jedoch, daß Jahn das Turnen als nationalerzieherische Veranstaltung - entgegen der bisherigen Praxis gymnastischen Unterrichts - außerhalb des institutionalisierten Erzie-

vor, indem er als ihren „Hauptzweck" die Herstellung der „Harmonie zwischen Geist und Leib" bezeichnete. Zum anderen betonte er, daß mit den in Deutschland gelehrten Leibesübungen auch nationale Bedürfnisse erfüllt werden müßten; die „deutsche Gymnastik" hätte sich „ganz an deutsche Zwecke" anzuschmiegen - so wie die Griechen und Römer des Altertums jeweils die Gymnastik ihren nationalen Erfordernissen angepaßt hätten. Ohne die „deutschen Zwecke" zu erläutern, empfahl GutsMuths den zuständigen staatlichen Stellen in Deutschland die Einführung des Gymnastikunterrichts an „Gymnasien und öffentlichen Schulen" mit der Begründung, die „Leibesübungen" und „gymnastischen Spiele" hätten „so etwas großes, Herzerhebendes, so viel Kraft, auf den Nationalgeist zu wirken, das Volk zu leiten, ihm Patriotismus einzuflößen, sein Gefühl für Tugend und Rechtschaffenheit zu erhöhen und einen gewissen edlen Sinn selbst unter den niedrigsten Volksclassen zu verbreiten", daß sie als „ein Haupterziehungsmittel einer ganzen Nation" zu betrachten seien (J. Ch. GutsMuths, Gymnastik für die Jugend. Unveränderte Ausgabe der ersten, im Jahre 1793 erschienenen Auflage, Wien/Leipzig 1893, S. 61, 76 u. 100). Jahn zögerte nicht, in der Öffentlichkeit auf einige der wichtigsten schriftstellerischen und praktischen Beiträge zur Einführung der Leibesübungen an Schulen hinzuweisen. Schon im „Deutschen Volksthum", in dem er den Leibesübungen im Rahmen seines nationalen Schulerziehungsplans (vgl. oben S. 38) einen Abschnitt widmete, erwähnte er die Namen GutsMuths, Franks, Villaumes und Vieths und deren Schriften mit Anerkennung (Jahn, Deutsches Volksthum, S. 246, 251 f. u. 263). GutsMuths machte er sogar 1807 in Schnepfenthal seine „persönliche Aufwartung" (W. Meyer, Die Briefe Friedrich Ludwig Jahns, Leipzig 1913, S. 21). Der Schnepfenthaler Erzieher erschien ihm als „echter Vaterlandsfreund" (Jahn, Deutsches Volksthum, S. 252), und sein Gymnastikbuch würdigte er als „ein treffliches Lehrbuch" (ebd., S. 252). Einige Jahre später bezeichnete er GutsMuths und Vieth „dankbar" als seine „Vorarbeiter" (Jahn/Eiselen, S. V). 104

Bereits in seinem in den Jahren 1807/08 verfaßten „Deutschen Volksthum" maß Jahn der Gymnastik auch die Bedeutung einer vormilitärischen Ausbildung bei. Körperliche Erziehung sei nicht nur von „Nutzen" „für den Einzelnen" und „ein Mittel zu einer vollkommenen Volksbildung" - habe also nicht nur eine individual- und national-pädagogische Funktion - , sie sei auch eine „Vorarbeit für künftige Vaterlandsvertheidiger" (Jahn, Deutsches Volksthum, S. 248 u. 251). Zur gleichen Zeit spielte Fichte - wenn auch sehr verhalten - in seinen „Reden an die deutsche Nation" auf den Gedanken an, die körperliche Ertüchtigung der Jugend im Schulunterricht könne für eine Nation nützlich sein, die bestimmt ist, „ihre Selbständigkeit" wieder herzustellen und „fernerhin" zu „erhalten" (siehe Fichte, S. 522). Fichte hatte aus seinem in den „Reden" unterbreiteten System einer deutschen Nationalerziehung gymnastischen Unterricht nicht ausgespart. Er sollte in den unteren Klassen erteilt werden. Hierzu angeregt worden war Fichte durch Pestalozzi, der in seinen Schweizer Versuchsschulen die Gymnastik als Schulfach erstmals den Kindern einfacherer Volksschichten zugänglich machte. Auch die preußischen Reformer Stein, Scharnhorst und Gneisenau sprachen sich 1807 regierungsintern für die Einführung der Körpererziehung zum Zwecke der Wehrertüchtigung an den öffentlichen Schulen aus (siehe G. H. Pertz, Aus Steins Leben, Berlin 1856,1. Hälfte, S. 281 f.; Ders., Das Leben des Feldmarschalls Grafen Neithardt von Gneisenau, Bd. I, Berlin 1864, S. 331), ohne daß solchen Erwägungen entsprechende Taten folgten. Stein berief sich ausdrücklich auf die Vorschläge GutsMuths, der bis zu diesem Zeitpunkt in seinen pädagogischen Schriften einer körperlichen Erziehung zum Zwecke der Vorbereitung auf den Militär- und Kriegsdienst zwar nie das Wort geredet hatte, in einer Eingabe an den preußischen Minister von Massow im Jahre 1804 aber körperliche Übungen „als Vorbereitung zur Waffentracht" empfahl (Nach J . C. GutsMuths, Turnbuch für die Söhne des Vaterlandes, Frankfurt/M. 1817, S.XXXV).

Allgemeine Charakteristik

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hungswesens, d.h. fern vom normalen Schulbetrieb, öffentlich organisierte 105 und es (auch hierfür gab es kein reales zeitgenössisches Vorbild) ideologisch - man möchte sagen - untrennbar nicht nur mit einem kulturellen, sondern auch mit einem politischen Nationalgedanken verknüpfte. Nationalpädagogisches Wirken schloß für Jahn politische Erziehungsarbeit und Gesinnungsschulung ein; es bedeutete für ihn, in der Jugend auch jene national -politischen Wünsche und Ziele zu •wecken, die ihm selbst eigen waren. Nur so konnte es geschehen, daß das aus national-pädagogischen Absichten heraus entstehende Turnwesen (einschließlich der Absicht, die Jugend vormilitärisch auszubilden) den Charakter einer organisierten gesellschaftlichen Bewegung mit politischer Tendenz annahm, ohne allerdings seinen praktisch-erzieherischen Inhalt zu verlieren. Diese Entwicklung war geradezu zwangsläufig angesichts der institutionsunabhängigen, freien, öffentlichen gesellschaftlichen Organisierung des Unternehmens. Jahns nationalpädagogisches Projekt entwickelte sich unter diesen organisatorischen Bedingungen mehr und mehr zu einem Instrument seines national-politischen Wollens. Vor allem angesichts der sich nach 1815 allmählich verändernden innenpolitischen Konstellation in Preußen trat der - allerdings mit starken nationalkulturellen Zügen durchsetzte - politisch-nationale und damit politisch-oppositionelle Charakter der Turnbewegung immer mehr zum Vorschein 106 .

105

Schon J. C. GutsMuths, Johann Jacob Brechter und Bonaventura Andres hatten in pädagogischen Veröffentlichungen angedeutet, daß die Möglichkeit bestünde, öffentliche Gymnastikplätze einzurichten, die nicht in organisatorischer Abhängigkeit zu privaten oder öffentlichen Schulen stehen. Vgl. GutsMuths, Gymnastik, S. 61; J. J. Brechter, Joh. Jacob Brechters Briefe über den Aemil des Herrn Rousseau, Zürich 1773, S. 399; Quinktilians Pädagogik und Didaktik, hrsg. v. B. Andres, Würzburg 1783, S. 178 f. Aber erst als die durch das pädagogische Denken der Zeit vorgegebene Idee mit Jahns leidenschaftlichem nationalen Engagement und mit seinem nach Handlung und Organisation drängenden praktischen Sinn eine Verbindung einging, wurde sie erfolgreich verwirklicht. Bevor Jahn den Turnplatz in der Hasenheide begründete, bestand nur für kurze Zeit, nämlich während des Sommers 1809, in der ostpreußischen Stadt Braunsberg ein von der dortigen „Kammer" des Tugendbundes eingerichteter öffendicher Gymnastikplatz, der an keine Schule angeschlossen war und der der Jugend und den erwachsenen Bürgern der Stadt gleichermaßen offenstehen sollte. Daß sich die Braunsberger Tugendbundkammer durch die entsprechende Empfehlung in GutsMuths Gymnastikbuch zu dem Schritt hatte animieren lassen, dürfte feststehen. Die Zahl der Gymnastiktreibenden auf dem Übungsplatz in Braunsberg scheint über 45 nicht hinausgekommen zu sein. Eine Vermittlung national-deutschen Gedankenguts fand auf dem Braunsberger Gymnastikplatz nicht statt Ob Jahn von dem Braunsberger Versuch erfahren hat, ist nicht bekannt (vgl. Voigt, S. 77 u. K. Wassmannsdorff, Uber den ersten öffentlichen Turnplatz vor Jahn's Turnplatz von 1811 in der Hasenheide, in: Deutsche Turn-Zeitung, Jg. 1894, Nr. 7, S. 103 ff., Nr. 9, S. 139 ff., Nr. 11, S. 175 ff.).

106

GutsMuths hatte zwar in seinem Gymnastikbuch zum ersten Male die Meinung vertreten, von den Leibesübungen ginge ein Nationalgefühl weckender und fördernder Effekt aus, mit nationd-politischen Vorstellungen brachte der national-deutsch gesonnene Philanthrop gymnastische Übungen und Spiele aber noch nicht in Verbindung. Jahn schwor dagegen seine Turnbewegung auf den politisch-nationalen Einheits- und Freiheitsgedanken ein.

2.6.

Die Berliner Modell-Turngesellschaft. Entstehung. Öffentlichkeit als Organisationsprinzip. Formale Assoziationsmerkmale

Die Entstehungsgeschichte des Berliner Turnplatzes offenbart, daß Jahn den von ihm erstmals als „Turnen" bezeichneten körperlichen Übungen und Spielen 1 0 7 von Anfang an eine eigenständige, vom Schulsystem unabhängige Organisationsform gab. A u s ihr wird aber auch erkennbar, daß Jahns Tätigkeit als Lehrer an einer höheren Schule der preußischen Hauptstadt und die Teilnahme der Berliner Schul\ugend zwei wichtige Voraussetzungen für das Zustandekommen seines außerschulischen pädagogischen Versuchs waren, dessen Anfänge in das Jahr 1810 zurückzuverfolgen sind. Im Frühling dieses Jahres führte J a h n nämlich mehrere Quintaner des Berlinisch-Köllnischen Gymnasiums, an dem er zur gleichen Zeit wie an der Plamannschen Privatschule als Hilfslehrer beschäftigt war, an schulfreien Nachmittagen zu Wanderungen ins Freie. Er folgte damit einer an diesem Gymnasium herrschenden Sitte. Ungewöhnlich war es jedoch, daß Jahn die Ausflüge dazu benutzte, mit den sich ihm freiwillig anschließenden Schülern an mehreren Stellen am Rande und außerhalb der Stadt körperliche Übungen und Geländespiele zu veranstalten. Auch Schüler der höheren Klassen der gleichen Schule beteiligten sich bald an den Wanderungen und den mit ihnen verbundenen Übungen und Spielen, die Jahn regelmäßig an den Mittwoch- und Samstagnachmittagen bis zum Ende des Sommers unternahm 1 0 8 . Im Frühjahr 1811 begann J a h n erneut an den gleichen Nachmittagen der Woche mit dem Übungsbetrieb, dessen Teilnehmerkreis und Organisation sich freilich - verglichen mit denen des Vorjahres - im Laufe der nächsten Monate erheblich verändern sollten. Nicht nur Schüler des Berlinisch-Köllnischen Gymnasiums nahmen an ihm teil, auch Zöglinge anderer Gymnasien und Erziehungsanstalten wurden von dem neuartigen Unternehmen und von den unkonventionellen pädagogischen Praktiken seines Veranstalters angelockt. Selbst Studenten, darunter Zuhörer Fichtes, schlössen sich dem Turnbetrieb an, der seit Anfang J u n i mit dem von Jahn und seiner Gefolgschaft hergerichteten Hasenheide-Turnplatz ein örtliches Zentrum erhielt 1 0 9 . Indem Jahn schon 1811 die Zugehörigkeit zu der sich um 107

Der Wortstamm „turn" war von Jahn irrtümlich als ein „Deutscher Urlaut" aufgefaßt worden, der auch „in ausgestorbenen und noch lebenden" „Deutschen Schwestersprachen" vernommen werde, „und überall drehen, kehren, wenden, lenken, schwenken, großes Regen und Bewegen" bedeute (Jahn/Eiselen, S. X X V I I f.). In Wahrheit hat das Wort eine lateinische Wurzel.

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Q u e l l e n für die der Gründung des Turnplatzes vorausgehenden turnerischen Aktivitäten J a h n s im Jahre 1810 sind die Memoiren Chr. Eduard L. Dürres, der als 14jähriger Schüler des Berlinisch-Köllnischen Gymnasiums an ihnen beteiligt war, und der von Jahn stamm e n d e „Vorbericht" in der von ihm und Eiselen verfaßten „Deutschen Turnkunst". Vgl. C. E. L. Dürre, Aufzeichnungen, Tagebücher und Briefe aus einem deutschen Turnerund Lehrerleben, hrsg. v. Dr. Ernst Friedrich Dürre, Leipzig 1881, S. 76f. u. 80; J a h n / E i selen, S. III f.

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Vorstehende Fakten nach: Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Abt. 210 (Herzgl. Nassauisches Staatsministerium), Nr. 12 542 (Untersuchungsbericht der Mainzer Zentralen Untersuchungskommission über das Turnwesen 1811-19), Bl. 10 (Text eines Briefes von J a h n an E. M. Arndt v. 4.11.1811); Dürre, S. 80 f. u. H . F. Maßmann, Die Turnplätze

Die Berliner Modell- Tumgesellschaft

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ihn sammelnden Schüler- und Studentenschar durch die Erhebung eines Mitgliedsbeitrages 110 und durch die Ausgabe von Mitgliedsmarken 111 formalisierte, wurde der Charakter der Gruppe als einer sich auf freier voluntaristischer Basis zusammenschließenden außerschulischen Gemeinschaft unterstrichen. Die von Jahn bereits im gleichen Jahr verwendete Bezeichnung „Turngesellschaft" für die unter seiner Leitung auf der Hasenheide turnende Jugend - eine Benennung, die in den folgenden Jahren nicht nur im Kreise der Turner gebräuchlich war - 1 1 2 ist ebenfalls ein Zeichen dafür, daß Jahn sein pädagogisches Experiment als ein schulunabhängiges, auf gesellschaftlicher Assoziation beruhendes, wenn auch in erster Linie für die Jugend bestimmtes Unternehmen verstand. Seit dem Jahr 1812 ging Jahn dazu über, außer mittwochs und samstags auch an Sonntagen Turnübungen zu veranstalten, was zur Folge hatte, daß sich nunmehr im Beruf stehende junge Leute der Turngesellschaft anschlössen 113 . in der Hasenhaide bei Berlin , in: G. Hirth (Hrsg.), Das gesammte Turnwesen. Ein Lesebuch für deutsche Turner, Leipzig 1865, S. 280 f. Eine ertragreiche Quelle zur Berliner Turngesellschaft von 1811-1819 stellt der Bericht der Mainzer Zentralen Untersuchungskommission dar. Weitere sehr wichtige Quellen zur Berliner Turngesellschaft, die zu ihrer Organisation, zu der sozialen Zusammensetzung ihrer Mitglieder, ihrer nationalideologischen Orientierung und ihrem Aktionismus Informationen enthalten, sind Tagebuchaufzeichnungen, Briefe, zeitgenössische Darstellungen, Erinnerungsberichte und Memoiren von führenden Mitgliedern der Gesellschaft. Außer der „Deutschen Turnkunst" von Jahn und Eiselen, den Memoiren Dürres und dem Erinnerungsbericht Maßmanns handelt es sich dabei u.a. um die Tagebuchnotizen Eiselens, die Briefe Jahns und um zeitgenössische Publikationen von J. J. W. Bornemann. Vgl. E. B. Eiselen, Mittheilungen aus seinem Tagebuche, veröffentlicht v. A. Böttcher, in: Deutsche Turn-Zeitung,Jg. 1874, Nr. 12, 13, 14, S. 61 ff., 65 ff. u. 73 ff.; W. Meyer, Die Briefe Jahns; [J. J. W. Bornemann], Der Turnplatz in der Hasenheide, Berlin [1812]; Ders., Lehrbuch der von Friedrich Ludwig Jahn unter dem Namen der Turnkunst wiedererweckten Gymnastik, Berlin 1814. 110

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[Bornemann], Turnplatz, S. 7; Ders., Lehrbuch, S. 44; Hess. HStA Wiesbaden, Abt. 210, Nr. 12 542, BI. 10. Der Beitrag für einen Sommer belief sich auf 14 Groschen und wurde für die Anschaffung der Turngeräte verwendet. Vgl. auch Dürre, S. 80. Vgl. Brief Jahns an Feuerstein v. 25.7.1811, in: Meyer, S. 35; Dürre, S. 80 u. Hess. HStA Wiesbaden, Abt. 210, Nr. 12 542, Bl. 10. Brief Jahns v. 25.7.1811 an Feuerstein, in: Meyer, S. 34 f. Jahn verwendet in dem Brief den Begriff an zwei Stellen. Einmal auf sich selbst bezogen („Meine Turngesellschaft"), ein anderes Mal neutral. In einem Brief v. 12.9.1812 an Mönnich spricht Jahn ebenfalls von der „Turngesellschaft" und von „unserer Gesellschaft" (ebd. S. 36). Der Brief Jahns an Arndt v. 4.11.1811 enthält die Bezeichnung „Gesellschaft für Leibesübungen" (Hess. HStA Wiesbaden, Abt. 210, Nr. 12 542, Bl. 10). In der „Deutschen Turnkunst", an der Jahn laut Eiselen schon während des Jahres 1812 schrieb (Eiselen, Tagebuch, S. 61), und von der nach Mitteilung Maßmanns im Winter 1812/13 eine erste Jahnsche, im Manuskript vollendete Fassung vorgelegen haben soll (Maßmann, S. 282), führt Jahn die Bezeichnungen „Turngesellschaft", „Turngemeinde" und „Turngemeinschaft" neben „Turnanstalt" und vielen anderen mit der Stammsilbe „turn" gebildeten Wörtern als „bereits redebräuchlich" an (vgl. Jahn/Eiselen, S. XXVI f.). Als Beispiel für eine zeitgenössische schriftliche Quelle, die nicht der Turnbewegung entstammt, in der aber über die „von Fr. L. Jahn gestiftete Turngesellschaft" berichtet wird, vgl. in: K. Hoffmann (Hrsg.), Des Teutschen Volkes feuriger Dank- und Ehrentempel oder Beschreibung wie das aus zwanzigjähriger französischer Sklaverei durch Fürsten-Eintracht und Volkskraft gerettete Teutsche Volk die Tage der entscheidenden Völker- und Rettungsschlacht bei Leipzig am 18. und 19-Oktober 1814 zum erstenmale gefeiert hat, Offenbach 1815, S. 690f. Behördlicherseits verwendet man dagegen mehr die Bezeichnung „Turnanstalt". [Bornemann], Turnplatz, S. 15.

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2. Die frühe nationale Turnbewegung (1811-1819)

Bedeutsam ist das Jahr 1812 für die Entwicklung der Jahnschen Turngesellschaft auch deshalb, weil nämlich bereits in diesem Jahr die öffentliche, nicht geheime Organisationsform, die Jahn absichtlich für das Turnwesen gewählt hatte, seine von Jahn gewünschten - Folgen zeitigte. Nicht nur die Zahl der Jugendlichen, die der Turngesellschaft als Mitglieder angehörten, hatte sich gegenüber 1811 erheblich vergrößert 114 ; hinzu kam, daß Jahns auf den Turnbetrieb des Jahres 1811 gemünzte Charakteristik, „von Knaben und Jünglingen" seien ,4m Freien, öffentlich und vor jedermanns Augen" Leibesübungen „in Gesellschaft getrieben" worden 115 , für das Jahr 1812 erstmals ganz der Wirklichkeit entsprach: Hunderte von Zuschauern fanden sich nämlich während des Sommers am Rande des Turnplatzes in der Hasenheide ein 116 ; sie waren der Beweis für das binnen kurzer Zeit geweckte öffentliche Interesse an der Jahnschen Turngesellschaft. In den folgenden Jahren riß der Zustrom von zuschauenden Turnplatzbesuchern nicht ab, ja, er vergrößerte sich noch 117 . Unter ihnen befanden sich auch herausragende Repräsentanten des preußischen Staates, wie z.B. der Kronprinz, Blücher, Boyen, Oberbürgermeister Büsching und der Berliner Polizeipräsident Lecoq 118 . Jahn bemühte sich, den Turnplatz so anzulegen, daß ein möglichst großes Publikum das turnerische und das damit im Zusammenhang stehende Geschehen 119 verfolgen konnte 120 . Auch die Zahl der Hasenheide-Turner schnellte seit Sommer 1815 weiter in die Höhe, nachdem sie 1813/14 eine rückläufige Tendenz hatte 121 , was nicht auf schwindendes Interesse, sondern auf den Umstand zurückzuführen war, daß die älteren Turner zu den Fahnen eilten. Jahns Entschluß, das Turnwesen als „öffentliche Vereinigung" zu organisieren, weil - wie er sich ausdrückte - seine „Seele" „das Volksleben" sei und diese „nur in Öffentlichkeit, in Licht und Luft" gedeihe, trug seine Früchte 122 . Allein wenn man die Mitgliederentwicklung der Berliner 114 115 116 117 118 119 120 121

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1811 wuchs sie auf 300, 1812 auf über 500 an, vgl. [Bornemann], Turnplatz, S. 14; Ders., Lehrbuch, S. 44 u. 47. Jahn/Eiselen, S. IV. Bornemann, Lehrbuch, S. 47. Nach Maßmann, S. 284. Mafimann spricht davon, daß „Tausende an den Schranken" gestanden hätten (ebd.). Vgl. Eiselen, S. 66 u.Jahn an Müller v. 16.9.1814, in: Meyer, S. 58. Siehe S. 115 u. 117f. dieser Arbeit. Nach Maßmann, S. 284. 1813 betrug die Zahl der auf der Hasenheide Turnenden 370,1814 450 und 1815 778. In den Jahren 1816 und 1817 erreichte die Mitgliederentwicklung in der Berliner Turngesellschaft mit 1037 und 1074 Turnern ihren Höhepunkt. 1818 sank die Zahl der Hasenheide-Turner auf 815. Nach F. L.Jahn, Selbstverteidigung, in: Euler,Jahns Werke, Bd. II, 1, S. 298. Jahn hatte die für 1813-1819 gültigen Zahlen den von Eiselen geführten „Turnrollen" entnommen. Es handelte sich um Listen, in die Vor- und Geschlechtsname, Geburtszeit und Geburtsort, der Stand des Vaters, Schule, Lehre, Gewerbe, Beschäftigung oder Amt und die Adresse von jedem Turner eingetragen wurden. In einem Brief an Vieth v. 11.4.1818 gibt Jahn die Zahl der Berliner Turner für das Jahr 1817 mit 1056 an. Vgl. Meyer, S. 103. Jahn an Zernial v. 7.11.1815, in: Meyer, S. 64. Die Briefstelle lautet vollständig: „... Ebensowenig ist das Turnwesen aus dem Tugendbund hervorgegangen, noch aus einen andern. Es ist eine öffentliche Vereinigung gewesen, wie es auch noch ist und bleiben wird und muß. Jetzt ist die Zeit, wo alles offenbar werden muß, was im Dunkel sonst verborgen war. Die Seele des Turnwesens ist das Volksleben und, dieses gedeiht nur in Öffentlichkeit, in Licht und Luft. Das Volksleben zerstört man aber durch alles Verklicken, durch geheime Laster und Lüste, geheime Bunde und geheime Schergen" (ebd., S. 64 f.).

Die Berliner Modell-Turngesellschaft 57 Turngesellschaft und das Interesse, das diese in der Öffentlichkeit Berlins weckte, berücksichtigt, drängt sich eine solche Feststellung auf. Seit dem Herbst 1812 war die organisierte Kontinuität der Turngesellschaft auch im Winterhalbjahr, während dem der Turnbetrieb auf der Hasenheide ruhte, voll gewährleistet. Eine kleinere Gruppe von Turnern setzte die Turnübungen in einem Saale fort 123 . Außerdem bildeten die „Turnfertigsten und Allgemeingebildetsten eine Art Turnkünstler-Verein" zum Zwecke der „wissenschaftlichen Erforschung und kunstrechten Begründung des Turnwesens" - wie sich Jahn ausdrückte 124 . Friedrich Friesen verwaltete auf Wunsch Jahns bei den Zusammenkünften das „Ordneramt" 125 . Im Herbst 1814 formierte sich aus zunächst neun erwachsenen Turnern ein beratendes Gremium, das Jahn in seiner Funktion als Leiter der Turngesellschaft erheblich entlastete. Es legte sich die Bezeichnung „Turnrath" zu und erörterte allwöchentlich zur festgesetzten Zeit nicht nur Turnkunst und Turnübungen betreffende Fragen - so wie es vordem der nun nicht mehr existente „Turnkünsder-Verein" getan hatte; es beriet außerdem, wie der deutsch-patriotische Gesang unter den Turnern zu verbreiten sei. Zu diesem Zwecke sammelte der Turnrat entsprechende Lieder und übte sie ein. Er stellte die „Turngesetze" zusammen und wählte die „Vorturner" 126 . Die Beratungen des Turnrates verdichteten sich zwar zu „Beschlüsse^)", diese wurden aber „zur Bestätigung und Entscheidung" Jahn vorgelegt, der den Versammlungen „oft" beiwohnte 127 . Schon Anfang 1815 erweiterte der „Turnrath" seine Mitgliederzahl. Durch Kooptation nahm er 16 weitere Turner auf 128 . Daß die Berliner Turngesellschaft eine Assoziation mit ausgeprägter innerer Organisation und praktizierter Vereinsdemokratie war, kann nicht behauptet werden; sie war zweifellos ein recht archaischer Typ einer gesellschaftlichen Vereinigung. Da nämlich die Turngesellschaft ihr internes Leben nicht durch eine Satzung regelte, in der u.a. auch das Mitsprache-, Kontroll- und Wahlrecht des Einzelmitglieds fixiert war, und da die Leitung des Vereins in der Praxis in patriarchalischhierarchischen Formen ausgeübt wurde, hatte das einzelne, meist im jugendlichen

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E. M. Arndt, der schon 1812 dem Hasenheide-Tumplatz einen Besuch abgestattet hatte, publizierte 1818 im Rahmen des 4. Teils seines Werkes „Geist der Zeit" einen Essay mit dem Titel „Das Turnwesen". In dem Aufsatz, der 1842 unverändert als selbständige Publikation ein zweites Mal erschien, rechnete er es Jahn als hohes Verdienst an, daß er „und kein anderer" das „Turnwesen", „dieses freie, öffentliche, volkliche, nicht in den Wänden eines Gymnasiums oder eines Reitstalles und Gartens einer Erziehungsanstalt eingeschlossene", gestiftet habe. Die „große Idee der Oeffentlichkeit und Volksthümlichkeit und der Wiedererweckung und Belebung eines durch alle Klassen und Stände gehenden ... Volksgeistes" habe Jahn „zuerst ins Leben gestellt". „Die Lehre der Turnplätze" sei „eine der öffendichsten Lehren und keine geheime" (E. M. Arndt, Das Turnwesen, Leipzig 1842, S. 23 u. 27). Dürre, S. 97. Jahn/Eiselen, S. VI. Ebd., S. VII. Nach Eiselen, Tagebuch, S. 66 u. Hess. HStA Wiesbaden, Abt. 210, Nr. 12542, Bl. 15.Vgl. auch Jahn/Eiselen, S. X. Eiselen, Tagebuch, S. 66. Hess. HStA Wiesbaden, Abt. 210, Nr. 12 542, Bl. 15.

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2. Die frühe nationale Turnbewegung

(1811-1819)

Alter befindliche Mitglied der Turngesellschaft kaum die Möglichkeit, Einfluß auf die Vereinsführung zu nehmen. Zieht man aber in Betracht, daß sich mit der Turnbewegung in Deutschland eine von der Wirkungsintention her ganz neue Art gesellschaftlicher Organisierung durchzusetzen begann - nämlich die öffentlich-politische Assoziierung 129 - , und bedenkt man, daß die Turnbewegung ihre Entstehung einer pädagogischen Motivation verdankte und real - obwohl sie den Charakter einer politisch-öffentlichen Bewegung annahm - immer auch ein pädagogisches Unternehmen blieb, wird das Urtümliche und Unterentwickelte, das der Organisation und den Willensbildungsprozessen innerhalb der Berliner Turngesellschaft anhaftete, verständlich. Daß die Berliner Turngemeinde aber eine „gesellschaftliche Vereinigung" (Jahn) war, beweisen nicht nur die bisher genannten formalen Assoziationsmerkmale, dies wird auch durch die in der Turngesellschaft gültigen „Turngesetze" nachdrücklich bestätigt. Sie enthielten neben einer Aufzählung von allgemeingehaltenen, .sittlichen', den Turner in seiner Lebensführung verpflichtenden Postulaten und einer umfangreichen, mit überzogener Akribie ausgearbeiteten „Turnordnung" - die einen reibungslosen Turnbetrieb gewährleisten sollte - einen für jedes Mitglied unbedingt verbindlichen, in einer leidenschaftlich-pathetischen und kompromißlosen Sprache abgefaßten national-deutschen Gesinnungs- und Verhaltenskodex 130 .

2.7.

Territoriale Verbreitung und kommunikatives System der frühen Turnbewegung.

Die Berliner Turngesellschaft war binnen kurzer Zeit zum Gegenstand des öffentlichen Interesses in Deutschland geworden. Indem Jahn „Öffentlichkeit" zu einer Conditio sine qua non für die Organisierung der Berliner Turngesellschaft machte, bewirkte er freilich nicht nur, daß die Berliner Turngemeinde sich einen festen Platz im öffentlichen Bewußtsein eroberte, er legte damit auch den Grund für eine Vielzahl von Tumplatzgründungen in ganz Deutschland. „Öffentlichkeit" wurde zu einem entscheidenden Antriebsaggregat für die territoriale Verbreitung der Turnbewegung, die 1813 einsetzte. Vor allem Pädagogen, unter ihnen in erheblicher Anzahl Lehrer und Rektoren von Gymnasien, ließen sich von dem Jahnschen Projekt anregen und riefen Turngesellschaften ins Leben. In der mecklenburgischen Stadt Friedland waren es z. B. der Prorektor und der Konrektor des dortigen

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An der von Staat und Schule unabhängigen Stellung und an dem Assoziationscharakter der Berliner Turngemeinschaft änderten auch nichts die schriftlichen und persönlichen Kontakte, die Bornemann und Jahn in den Jahren 1814/15 zum preußischen Innenministerium bzw. zum Staatskanzler Hardenberg herstellten. Auch wurde die Berliner Turngemeinschaft in ihrer Stellung als freie gesellschaftliche Vereinigung weder durch den jährlichen finanziellen Zuschuß, den die Regierung ihr vom Jahre 1815 an zahlte, noch durch die jährlichen Honorare, die das Innenministerium seit demselben Jahr Jahn und Eiselen für ihre Tätigkeit auf dem Turnplatz bewilligte, gefährdet. Die Berliner Turngesellschaft blieb von ministerieller oder behördlicher Direktive bzw. Einflußnahme völlig frei.

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Vgl. den Text in: Jahn/Eiselen, S. 2 3 3 - 2 4 4 . Siehe auch S. 109 ff. dieser Arbeit.

Territoriale Verbreitung und kommunikatives System

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Gymnasiums, die die Initiative zur Gründung einer Schüler-Turngesellschaft ergriffen (1814) 1 3 1 . In Hanau und Stuttgart bewirkten ebenfalls Gymnasiallehrer die Bildung von Turngesellschaften (1817) 1 3 2 . Ein Schulrat, der Jahns Deutschem Bund als Mitglied angehört hatte, gab den Anstoß für das Entstehen des Turnplatzes im westpreußischen Marienwerder (1813) 1 3 3 . Selbst Universitätslehrer setzten sich für die Entstehung einer Turngesellschaft ein: Der Jenaer Geschichtsprofessor Heinrich Luden, der in seiner in Weimar erscheinenden Zeitschrift „Nemesis" 1816 die Jahnsche Turngesellschaft mit großem Lob bedachte 1 3 4 , bemühte sich im Frühjahr des gleichen Jahres zusammen mit seinem Kollegen, dem Mediziner Dietrich Georg Kieser, in einer Eingabe beim Prorektor der thüringischen Universität die Gründung einer studentischen Turngesellschaft durchzusetzen. Zur Turngesellschaft sollten neben den an der Jenaer Hochschule Studierenden „alle turnfähigen Einwohner der Stadt" Zutritt haben 1 3 5 . Motiviert zu ihrem Entschluß, eine Turngemeinde in der thüringischen Universitätsstadt ins Leben zu rufen, wurden die beiden Hochschullehrer mit ziemlicher Sicherheit einmal durch die gerade erschienene „Deutsche Turnkunst", von der Jahn als Mitautor dem Jenaer Historiker und Nemesis-Herausgeber persönlich ein Exemplar zuschickte 136 , zum anderen durch die Ankündigung, die Jahn Luden auf brieflichem Wege machte, es würden zwei seiner „vorzüglichsten Turner" nach Jena kommen 1 3 7 . Der gut 19 Jahre alte Eduard Dürre und der nur wenige Monate jüngere Ferdinand Maßmann - auf diese beiden Studenten war Jahns Bemerkung gemünzt - 1 3 8 trafen Anfang Mai 1816 in Jena ein 1 3 9 . Sie waren bei der Gründung der Turngesellschaft behilflich und übernahmen die Leitung des Turnbetriebs 140 . Zum Personenkreis derer, die zwecks Gründung einer Turngesellschaft initiativ wurden, gehörten neben Pädagogen auch andere Honoratioren ohne und mit öffentlichem Amt, ebenso Amtspersonen mit überörtlichem Wirkungskreis. Einige wenige Beispiele seien genannt: Gleich drei Turnplätze verdanken ihre Gründung z.T. der Tatkraft eines Bückeburger Arztes (Dr. Faust). Zusammen mit einem Jahnschen „Turnschüler", Friedrich Zelle, gründete er die Turnplätze in der Schaumburg-Lippischen Residenz (1816), in Rinteln (Kft. Hessen; 1817) und in Minden (Preußen; 1818) 1 4 1 . In Lübeck warben der Bürgermeister Overbeck und der Syndi131

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Vgl. H. Timm, Das Turnen mit besonderer Beziehung auf Meklenburg, Neustrelitz 1848, S. 75ff. Siehe Geschichte der Turngemeinde zu Hanau 1837-1887, Festschrift zur Feier des 50jährigen Bestehens, Hanau 1887, S. 9, HStA Stuttgart, E 200 (Ministerium des Kirchen- und Schulwesens), Bü. 318, U-Fasz. 19 (Stuttgarter Turnanstalt) und G. Rauschnabel, Geschichte des Männerturnvereins Stuttgart. Festschrift zur Feier seines 50jährigen Bestehens, Stuttgart 1893, S. 4. Nach Heise, S. 16. Nemesis. Zeitschrift für Politik und Geschichte, Jg. 1816, Bd. 7, S. 140ff. Nach Schröder, S. 167. Begleitschreiben Jahns v. 13.4.1816, in: Meyer, S. 74f. Jahn an Luden v. 23. 3.1816, ebd., S. 73. Im Jahre 1816 war der briefliche Kontakt Jahns mit Luden ziemlich rege; vgl. die Briefe Jahns an Luden ebd., S. 7 2 - 7 8 . Vgl. Jahn an Luden v. 2 8 . 4 . 1 8 1 6 , in: Meyer, S. 73 f. Vgl.Jahn an Luden v. 4 . 5 . 1 8 1 6 , ebd., S. 75. Dürre, S. 189 u. 194. Vgl. Festschrift zum 100jährigen Bestehen des Männerturnvereins von 1860 Minden e.V., Minden 1960, S. 9 u. W . Braungardt, Geschichte der deutschen Turnerschaft in Niedersachsen, Oldenburg, 1938, S. 4.

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2. Die frühe nationale Turnbewegung (1811-1819)

kus Curtius in Vorträgen erfolgreich für die Einrichtung eines Turnplatzes in der Hansestadt. 1817 kam ein solcher nach Jahnschem Vorbild zustande 1 4 2 . In Düsseldorf regte 1815 der Generalgouverneur von Berg, Justus Gruner, ehemals Berliner Polizeipräsident und leidenschaftlicher Patriot, mit Erfolg die Gründung einer Turngesellschaft an 1 4 3 . Das Wohlwollen, mit dem preußische Staatsmänner wie Hardenberg und Innenminister Schuckmann der Jahnschen Turnbewegung begegneten, übertrug sich auch auf die an der Spitze von Bezirksregierungen stehenden Staatsbeamten. So wandte sich z.B. der Kölner Regierungspräsident von Solms-Laubach, von dem Gedanken bewegt, in der Domstadt die Gründung einer Turngesellschaft zu initiieren, um Rat an das Staatsministerium in Berlin. Dieses empfahl ihm im April 1817, sich um Entsendung eines für die Leitung der Kölner Turngesellschaft bestimmten turnerfahrenen jungen Mannes an Jahn zu wenden 1 4 4 . Auch die Regierungen und Fürsten anderer deutscher Staaten verhielten sich nach den Befreiungskriegen aufgeschlossen gegenüber der sich mehr und mehr verbreitenden Tumbewegung. Der Herzog von Mecklenburg-Strelitz kümmerte sich höchstpersönlich um die Errichtung eines öffentlichen Turnplatzes in der Residenzstadt und bat J a h n um die Entsendung eines geeigneten Turnlehrers 1 4 5 . Burschenschaftsstudenten bildeten eine weitere Personengruppe, die sich durch Turnplatzgründungen um die Verbreitung der nationalen Turnbewegung in einem besonderen Maße verdient machte. Die von Luden und Kieser angeregte Jenaer Turngesellschaft stand in einem engen Verhältnis zur 1815 entstandenen Jenaer (Ur-)Burschenschaft. 1818 wurde der Turnplatz sogar dem Schutz und der Aufsicht der Burschenschaft unterstellt 1 4 6 . Die radikal-demokratisch und national-deutsch orientierten Gießener Burschenschafter unter Führung Karl Follens, die sog. Gießener „Schwarzen" oder „Unbedingten", riefen 1816 eine Turngesellschaft ins Leben, der Karl Folien als Turnwart vorstand 1 4 7 . Die Tübinger Burschenschaft be142

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Siehe Lübecker Turnerschaft von 1854-1904. Festschrift zur Feier des fünfzigjährigen Bestehens der Lübecker Turnerschaft, Lübeck 1904, S. 10; M. Zettler, Bausteine zur Geschichte des deutschen Turnens, in: Deutsche Turn-Zeitung, Jg. 1885, Nr. 21, S. 271; Timm, S. 156. Hess. HStA Wiesbaden, Abt. 210, Nr. 12 542, Bl. 17 Rs; Siehe auch A. Beckel, Geschichte des Düsseldorfer Turn- u. Sportvereins von 1847 (Festschrift), Düsseldorf 1922, S. 9. Zentrales Staatsarchiv Merseburg, Rep. 76, Tit. VII, Sect. XXIV. Gen. bb, Nr. 1. (Die öffentlichen gymnastischen Bildungs- oder Turn- auch Schwimm-Anstalten im Regierungsbezirk Cöln 1817-21), Bl. 1-7 Rs. Laut brieflicher Mitteilung Jahns an den Konrektor Arndt in Ratzeburg v. 25.5.1816, in: Meyer, S. 82. Schröder, S. 173 f.; Hess. HStA Wiesbaden, Abt. 210, Nr. 12 542, Bl. 69. Vgl. auch den in den Akten der Mainzer Zentralen Untersuchungskommission zitierten Brief des Jenaer Studenten Witte, den dieser am 31. Mai 1818 an den Studenten Ganzel in Berlin schrieb; „... Mit dem Turnen geht es hier sehr gut. Es sind 120 bis 140. Wir haben einen Turnrath ... von 8 wirklichen Mitgliedern und 4 Beisitzern. Kieser ... ist Turnwart und nimmt sich der Sache recht an." Die von Witte namentlich genannten Turnratsmitglieder (Wesselhöft, Lieber, Gründler, Leo, Asmus, Porsche, Timlich und Haupt) sind ausnahmslos führende Jenaer Burschenschafter (Hess. HStA Wiesbaden 210, Nr. 12542, Bl. 22 Rs.). Vgl. M. Zettler, Aus dem romantischen Zeitalter des deutschen Turnens. Karl Folien und die Schwarzen, in: Deutsche Turn-Zeitung, Jg. 1882, Nr. 6, S. 45; siehe auch Universitätsarchiv Gießen, Handschriftensammlung (HS) NF 32, Abschriften aus den Akten der Mainzer Zentralen Untersuchungskommission, Bl. 15 u. Hess. HStA Wiesbaden, Abt. 210, Nr. 12 542, Bl. 26.

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gann mit der Planung eines Turnplatzes im Jahre 1817. Als Leiter des organisierten Turnens in der schwäbischen Universitätsstadt gewann man den Jenaer Burschenschafter Carl Völker 148 . Noch in drei weiteren Universitätsstädten - nämlich in Erlangen 149 , Heidelberg 150 und Kiel 131 - entstanden von Studenten geleitete oder besuchte Turnplätze. Einige der aufgezählten Beispiele für örtliche Turnplatzgründungen lassen erkennen, daß die Initiativen nicht allein eine Frucht des großen Interesses waren, mit dem die Öffentlichkeit dem Jahnschen Experiment begegnete. Sie wurden nicht nur ausgelöst durch Nachrichten, die durch Mundpropaganda und auf publizistischem Wege über den Berliner Turnplatz verbreitet wurden. Jahn selbst wirkte an der Entstehung vieler Turnplätze mit und garantierte deren Fortbestand. Ja, das Netz lokaler Turner-Organisationen, mit dem Deutschland überzogen wurde, konnte nur deshalb so dicht geknüpft werden, weil Jahn seine schriftstellerischen und organisatorischen Fähigkeiten und sein Talent, junge Menschen an sich zu binden und in seinem Sinne zu lenken, für die Ausbildung der Turnbewegung voll einsetzte. Eine kaum überschaubare Zahl der die Gründung des Berliner Turnplatzes nachahmenden Initiativen verdankte ihre eigentliche Verwirklichung Jahns ebenso umsichtig planendem wie improvisationsreichem Handeln. Der schon erwähnten Turnplatz-Gründung in Jena kommt insofern paradigmatische Bedeutung zu, als bei ihr alle Mittel erkennbar sind, mit denen Jahn von Berlin aus dafür sorgte, daß lokale Gründungsinitiativen nicht im Sande verliefen. Jahn hatte Luden die zu Ostern 1816 von ihm und Bernhard Eiselen herausgegebene „Deutsche Turnkunst" übersandt. Da das Buch neben ausführlichen Hinweisen und Beschreibungen zur Turnpraxis u.a. die „Turngesetze" 152 und eine instruktive Darstellung des organisatorischen Aufbaus der Berliner Turngesellschaft enthielt, konnte es den Leser motivieren, selbst die Bildung einer Turngemeinde in Angriff zu nehmen. Fest steht, daß nicht nur Personen durch die Lektüre der „Deutschen Turnkunst" zu Turnplatzgründungen veranlaßt wurden, denen Jahn das Werk persönlich zuschickte 153 . Der Gründungsvorgang der Jenaer Turngesellschaft exemplifiziert, daß Jahn Turnplatz-Gründungsprozesse auch durch einen intensiven Briefwechsel mit auswärtigen Turnplatzinteressenten und durch die Vermittlung von Berliner „Vorturnern" beeinflußte. Diese zeichneten sich nicht nur

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Vgl. H. Hermes, Geschichte des Turnens und der Turngemeinde Tübingen, Tübingen 1905, S. 2. Vgl. Universitätsarchiv Erlangen-Nürnberg, Tit. IV, Pos. 2, Nr. 1 1 1 („Acta der Königl. Universität Erlangen. Die Differenzen mit dem Kgl. Policei-Commissariat wegen des zu gymnastischen Uebungen bestimmten Hauses dahier"), Bl. 1 ff. Burschenschaftliche Verhältnisse und Bestrebungen in Heidelberg in den Jahren 1 8 1 6 - 1 9 (aus einer noch ungedruckten Biographie mitgetheilt von K. Wassmannsdorff), in: Deutsche Turn-Zeitung, Jg. 1889, Nr. 11, S. 164; Hess. HStA Wiesbaden, Abt. 210, Nr. 12 542, Bl. 24 Rs. Eiselen, Tagebuch, S. 68. Vgl. S. 58 dieser Arbeit. Vgl. K. Ruckstuhl, Prolog auf die Errichtung eines Turnplatzes: zum Schluß des Schuljahrs und zur Feyer der Herbst-Prüfung 1817 am Königlichen Gymnasium zu Bonn, Bonn [1817], S. 67 f. - Vor dem Erscheinen des Jahnschen Buches hatte schon die von Bornemann im Jahre 1 8 1 4 verfaßte Schrift über den Berliner Turnplatz vereinzelt Turnplatz-Gründungsinitiativen ausgelöst. Siehe Timm, S. 77.

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durch eine feste nationale Gesinnung aus, sondern waren auch imstande, Leitungsfunktionen in neuentstandenen Turngemeinden zu übernehmen. Jahn stand in brieflichem Kontakt mit zahlreichen zur Schaffung lokaler Turngesellschaften entschlossenen Personen154. Entweder hatten diese die Verbindung mit dem nach 1811 rasch bekannt und populär gewordenen Jahn gesucht und gefunden, oder Jahn hatte umgekehrt Personen, mit denen er bereits korrespondierte, für die Idee gewonnen, Turnplätze ins Leben zu rufen. Im letzteren Fall waren die Briefkontakte auf zeitlich vorausgegangene persönliche Begegnungen der Korrespondierenden zurückzuführen. Jahns ausgedehnte Fußwanderungen, die er als Student, aber auch in späterer Zeit, als er sich als Hauslehrer seinen Lebensunterhalt verdiente, quer durch ganz Deutschland unternommen und bei denen er unzählige Bekanntschaften gemacht und Freundschaften geknüpft hatte, schienen sich auszuzahlen155. Einige Turnplatzinitiatoren, mit denen Jahn korrespondierte, kamen nach Berlin, um sich an Ort und Stelle über das Leben und Treiben in der ersten Turngemeinde Deutschlands zu informieren156. Unabhängig davon, ob solche Besuche stattfanden oder nicht, vereinbarten Jahn und sein jeweiliger auswärtiger, an einer Turnplatzgründung interessierter Briefpartner in aller Regel die Entsendung eines Berliner „Vorturners"'57. Manchmal wurde dieser nicht nur mit der Leitung des Turnbetriebs betraut; zuweilen mußte er erst einmal die Gründung der Turngesellschaft vornehmen. Es konnte auch geschehen, daß in einer Turngesellschaft statt einem zwei oder drei Berliner Turnern Leitungsämter übertragen wurden, und zwar nicht nur gleichzeitig - wie im Falle des Jenaer Turnplatzes - , sondern ebenso nacheinander* Turngesellschaften auf diese Weise ins Leben zu rufen und lebensfähig zu erhalten war nur möglich, weil es Jahn gelungen war, aus der großen Schar der Hasenheide-Turner einen kleineren, engeren Zirkel junger Turner auszusondern und für seine organisatorischen Pläne und Ad-hoc-Entscheidungen verfügbar zu machen. Er hatte es verstanden, zu diesen jungen Leuten - es handelte sich überwiegend um Studenten - ein besonderes Vertrauensverhältnis zu begründen und sie nicht nur mit einem unerschütterlichen Nationalbewußtsein auszustatten159, sondern sie auch zu leistungsstarken Turnern auszubilden. Sie stellten für die frühe Turnbewegung zweifellos eine Art Führungskader dar. 154

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Siehe Jahns Bemerkung in der „Deutschen Turnkunst": „Wir hatten bis über den Rhein und die Weichsel einen lebhaften Briefwechsel zu führen" (Jahn/Eiselen, S. XI f.). Vgl. hierzu auch die Briefe Jahns an Konrektor Arndt in Ratzeburg, Rektor Kannengießer in Prenzlau und Direktor Straß in Nordhausen (Meyer, S. 78 ff., 87 f. u. 89 f.). Jahn war sich seiner außerordentlichen Wanderleistungen bewußt. 1807 charakterisierte er sich als einen Menschen, „der im Reisen lebt und im Dasein reiset" (Meyer, S. 22). Vorbilder waren ihm in dieser Hinsicht J. G. Seume und der um neun Jahre ältere E. M. Arndt. In sprachlich effektvoller Weise bezeichnete er sie im „Deutschen Volksthum" als „unsere Deutschen Meisterwanderer" (Jahn, Deutsches Volksthum, S. 446). Hess. HStA Wiesbaden , Abt. 210, Nr. 12 542, Bl. 14 u. Timm, S. 77. Vgl. Meyer, S. 78 f. u. 89. Siehe z.B. die Bemerkung Jahns im Brief an Konrektor Arndt v. 24.6.1816, er beabsichtige zum neugegründeten Neustrelitzer Turnplatz „4 Turner zu schicken, 3 auf 3 Wochen und einen auf 7" (Meyer, S. 84). Dem Turnplatzgründer Arndt in Ratzeburg konnte Jahn seinen „Vorturner" Sonntag als einen jungen Mann vorstellen, der „von deutschem Streben" sei (Meyer, S. 79), und Maßmann bezeichnete er in einem Brief an Harnisch als „eine reine deutsche Seele" (ebd.,

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Ihr nationales und praktisch-turnerisches Engagement sowie ihre ausgeprägte und von Jahn gezielt geförderte räumliche Mobilität waren wichtige Voraussetzungen für die erfolgreiche territoriale Verbreitung der Turnbewegung. Manche der zur .Turnerelite' zählenden jungen Männer verließen Berlin, um nicht nur einen, sondern zwei oder gar mehrere Turnplätze ins Leben zu rufen oder zu betreuen. Die Studenten Maßmann und Dürre z. B., die Jahn 1816 nach Jena geschickt hatte, um der dort entstehenden Turngesellschaft fachmännischen Rat und tatkräftige Hilfe zuteil werden zu lassen, taten sich noch an anderen Orten bei der Einführung des Turnbetriebs hervor. Maßmann übersiedelte 1817 - auf Veranlassung Jahns nach Breslau, wo er seit dem Frühjahr 1818 dem Ubungsbetrieb in der Turngesellschaft vorstand. Dürre war schon 1814 von Jahn nach Friedland in Mecklenburg entsandt worden, um den sich für die Schaffung eines Turnplatzes engagierenden Pädagogen und Honoratioren der Stadt hilfreich zur Seite zu stehen. Im selben Jahr, in dem Dürre zusammen mit Maßmann die Jenaer Turngesellschaft zu einer lebensfähigen Turngemeinde ausbildete, half er bei einem Aufenthalt in Gotha auch dort einer Schar von Turnwilligen bei der Einrichtung eines Turnplatzes 160 . Den Gymnasiasten und späteren Studenten Wilhelm Zernial schickte Jahn für die Jahre 1815/16 zur Leitung des Turnbetriebs nach Düsseldorf und aus dem gleichen Grunde 1817 nach Dessau und 1818 nach Königsberg 161 . Konrad Rumschöttel, ebenfalls zuerst Oberschüler und danach Student, konnte Jahn 1817/18 nach Heiligenstadt (Eichsfeld) und Nordhausen (am Südrande des Harz) als „Vorturner" vermitteln 162 . Ebenfalls nach Nordhausen und Heiligenstadt, außerdem noch in drei weitere in Mitteldeutschland gelegene Orte, nämlich Erfurt, Mühlhausen und Schleusingen, begab sich der zum Volksschullehrer ausgebildete Jahnsche „Vorturner" Salomon (1817-19), nachdem er schon 1815 zu Salzbrunn in Schlesien einen Turnplatz eingerichtet hatte 163 . Der Hasenheide-Turner Jungnickel siedelte nach Beendigung der Befreiungskriege nach Frankfurt/Oder über, wo er sich als Regierungsreferendar ausbilden ließ, aber gleichzeitig die Leitung einer im Entstehen begriffenen Turngesellschaft übernahm 164 . 1817 ging er nach Köln, um bei der dortigen Regierung seine berufliche Ausbildung fortzusetzen und um in der Domstadt eine Turngesellschaft mitbegründen und ihre Leitung übernehmen zu können. 165 Zum Zwecke der Betreuung von mindestens einer Turngesellschaft verließen folgende zum Führungskader der Turnbewegung gehörende Oberschüler oder Stu-

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S. 59). Vgl. auch Jahns mahnende Worte an Vorturner Mönnich v. 12.9.1812: „... Halte Dich frisch und Deutsch und vergiß in keinem Augenblick Deiner Jugend, daß des deutschen Knaben und Jünglings heiligste Pflicht ist, ein deutscher Mann zu werden und es geworden, zu bleiben" (ebd., S. 37). Zu den turnerischen Aktivitäten Maßmanns und Dürres außerhalb von Berlin siehe W. Rudkowski, Die Breslauer Turnfehde, S. 10; Timm, S. 77, Dürre, S. 195. Meyer, S. 64 f., 66 ff., 89 u. 95 f. u. Hess. HStA Wiesbaden, Abt. 210, Nr. 12 542.B1. 17 Rs. Meyer, S. 89. Hess. HStA Wiesbaden, Abt. 210, Nr. 12 542, Bl. 22 Rs./23; Deutsche Turn-Zeitung, Jg. 1862, Nr. 39, S. 221 f. (Die Erfurter Turnerei unter Salomo (1818-1819); Heise! S. 28 ff. u. Neuendorff, Bd. II, S. 222. Neuendorff, Bd. II, S. 220. ZStA Merseburg, Rep. 76, Tit. VII, Sect. XXIV., Gen. bb, Nr. 1, Bl. 19. Vgl. oben S. 60.

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denten die preußische Hauptstadt: Schallehn (er ging nach Königsberg i.d. Neumark), Karl Lange (nach Prenzlau), Schulz (nach Lübeck) und Manger (nach Neustrelitz) 166 . Nachweisbar ist auch die Entsendung des Buchbindergesellen Sonntag nach Ratzeburg und des Predigtamtskandidaten Schröder nach Marienwerder 167 . Belegt ist ebenso die Eröffnung eines Turnplatzes in Trier durch den Regierungsregistrator Heinrich Rumschöttel, einen Bruder des nach Heiligenstadt und Nordhausen entsandten Konrad Rumschöttel 1 6 8 . Nicht jeder von einem Berliner Turngenossen und Jahn-Vertrauten durchgeführten auswärtigen Turnplatz-Gründung oder Turnplatz-Betreuung ging freilich ein Briefwechsel Jahns mit Turnplatz-Interessenten in der betreffenden Gemeinde voraus. Einige „Vorturner", die Jahn von Berlin in andere Städte entsandte, entfalteten bald in Nachbargemeinden eigene Turnplatz-Gründungsinitiativen. Auch war nicht in jedem Falle das primäre Motiv für einen Ortswechsel, den ein junger Berliner Turngenosse und Jahn-Adlatus vollzog, die Absicht, Verantwortung für eine auswärtige, vor der Entstehung oder in der Aufbauphase befindliche Turngemeinde zu übernehmen. Berufliche Gründe konnten in Einzelfällen für eine Ortsveränderung ausschlaggebend sein. Wilhelm Benecke z. B., ein begeisterter Hasenheide-Turner, verließ 1815 18jährig Berlin, um in Hamburg seine kaufmännische Ausbildung zu vervollständigen. Bald nach seiner Ankunft in der Hansestadt rief er eine Turnvereinigung ins Leben 1 6 9 . Sein eigener Tatendrang, der möglicherweise durch eine entsprechende Empfehlung Jahns unterstützt wurde, hatte diesen Schritt ausgelöst. Wilhelm Harnisch, der Jahn persönlich und politisch-gesinnungsmäßig sehr nahestand und ein Turnfreund, aber kein sonderlich qualifizierter Turner war, wurde als 2 5jähriger von Berlin als Dozent an das evangelische Schullehrerseminar nach Breslau berufen. Ihn drängte es ebenfalls, in der schlesischen Provinzhauptstadt eine Turngesellschaft einzurichten. Sie kam 1815 zustande 170 und entwickelte sich mitgliedermäßig in den nächsten Jahren zur zweitgrößten Turngemeinde in Deutschland. Behilflich waren Harnisch allerdings bei seiner Pioniertat auf turnerisch-organisatorischem Gebiet in Breslau während der Jahre 1815/16 drei junge Männer, die vormals auf der Hasenheide geturnt hatten: Es waren die Volksschullehrer-Seminaristen John und Sauermann - der letztere war Harnisch bei einem Besuch in Berlin während des Sommers 1815 von Jahn vermittelt worden - und der Primaner Mönnich, der - nach Aussage Jahns - zum „alten Berliner Turner-Stamm" zählte 171 .

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Meyer, S. 87 u. 89; Timm, S. 104. Meyer, S. 78 f., 80f. u. 82; Neuendorff, Bd. II, S. 300. Meyer, S. 89. - Zur Zeit seines Berliner Aufenthaltes war H. Rumschöttel in schulischer Ausbildung, die wie bei anderen über 17 Jahre alten und damit kriegsdienstfähigen Hasenheide-Turnern durch die Teilnahme an den Befreiungskriegen unterbrochen wurde. Nach C. Schneider, Die Hamburger Turnerschaft von 1816 von ihrer Begründung bis zur Gegenwart, Hamburg 1891, S. 13 f. - Unterstützt wurde Benecke in seinem Engagement von Karl Krutisch, der ebenfalls auf der Hasenheide geturnt hatte und nun als Kaufmann in Hamburg beschäftigt war (ebd., S. 14). Harnisch, S. 237 u. 331 f.; Hess. HStA Wiesbaden, Abt. 210, Nr. 12 542, Bl. 16 Rs. Rudkowski, Die Breslauer Turnfehde, S. 7; Meyer, S. 65; ZStA Merseburg, Rep. 76, Tit. VII., Sect.I., Gen. bb, Nr. 6 (Die Untersuchung der Beschwerden über die Turn-Anstalten zu Breslau und zu Liegnitz 1818), Bl. 197 Rs./198; Hess. HStA Wiesbaden, Abt. 210, Nr. 12 542, Bl. 16Rs.

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Zwei Berliner Jahn-Vertraute, Wilhelm Göttling und Friedrich Schulze, übersiedelten nach Rudolstadt bzw. Liegnitz, um an dortigen höheren Lehranstalten pädagogische Aufgaben zu übernehmen. Göttling trat schon 1816 in der Saale-Stadt als Initiator und Leiter einer Turngesellschaft hervor172. Dr. Schulze exponierte sich in der schlesischen Provinzstadt ein Jahr später in gleicher Weise 173 . Bernhard Eiselen begab sich im Sommer 1817 für einige Wochen zu einem Kuraufenthalt an die Ostsee. Bei dieser Gelegenheit gab er den Anstoß für die Einführung des organisierten Turnens unter Kieler Studenten und Gymnasiasten174. Jahn selbst tat sich bei einem Besuch in Frankfurt/M. als Turnplatzinitiator hervor. Im Spätsommer 1815 veranlaßte er bei einem kurzen Aufenthalt in der Main-Metropole die Gymnasiasten der Stadt zur Bildung einer Schüler-Turnvereinigung175. Falsch wäre es zu vermuten, daß jene zum Kreise der Jahn-Vertrauten zählenden Turner, welche Berlin eindeutig deshalb verließen, weil Jahn sie für eine Funktion in einer entstehenden Turngesellschaft auserkoren hatte - und dies war die ganz überwiegende Mehrzahl - , eine Beeinträchtigung ihrer schulischen, universitären oder beruflichen Ausbildung hätten in Kauf nehmen müssen. Im Gegenteil: Jahn verwandte außerordentlich viel Energie und Zeit darauf, den seinem Turnerstamm angehörenden jungen Leuten den Ausbildungsweg zu ebnen und eine materielle Sicherung angedeihen zu lassen. Hilfe war schon deshalb geboten, da einige von ihnen ärmeren Elternhäusern entstammten und weitgehend mittellos waren176. Eine Entfernung von Berlin ohne materielle Unterstützung oder ohne daß die Ausbildung hätte fortgesetzt werden können, wäre sehr oft unmöglich gewesen. Jahn gelang es, eine ganze Reihe von ihnen mit einem staatlichen Ausbildungsstipendium zu versorgen177. In nicht selten zähen Verhandlungen mit kommunalen Verwaltungen, Schulbehörden und Anstaltsleitungen sicherte er seinen „Vorturnern" 172

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Vgl. R. Ruhe, Die Errichtung des ersten Turnplatzes in Rudolstadt 1816, in: Rudolstädter Heimathefte, Jg. 1961, Heft 8/9, S. 194 ff. Siehe W. Rudkowski, Die erste Turnanstalt in Liegnitz, in: Deutsche Turn-Zeitung, Jg. 1910, Nr. 42, S. 797 ff. - Als Entstehungsjahr für die Liegnitzer „Turnanstalt" wird im Aufsatz Rudkowskis das Jahr 1807 genannt. Daß es sich dabei um einen Druckfehler handelt und nur das Jahr 1817 als Beginn des organisierten Turnens in Liegnitz in Frage kommt, ergibt sich unzweideutig aus dem Gesamtzusammenhang des Aufsatzes (ebd., S. 798). Eiselen, Tagebuch, S. 68 u. Meyer, S. 90. Laut Der Frankfurter Turnverein von 1860-1885 (Festschrift), Frankfurt 1885, S. 3; vgl. auch G. Danneberg, Kurze Geschichte der Turnvereine in Frankfurt am Main, in: Deutsche Turn-Zeitung, Jg. 1880, Nr. 20, S. 165 f. Maßmann und Dürre waren z. B. Handwerkersöhne. Besonders schlecht waren die materiellen Verhältnisse der Gebrüder Rumschöttel. Vgl. Jahns Schilderung in: Meyer, S. 89. In einem Brief v. 9.9.1817 an Direktor Straß in Nordhausen zählt Jahn die Namen einiger von Berlin entsandter Vorturner auf, denen er ein Stipendium „für die hohe Schule" vermitteln konnte. Er nennt Manger, Zernial, Schallehn, Lange, Schulz und Grell (Meyer, S. 89). Ob Konrad Rumschöttel, für den sich Jahn ganz besonders verantwortlich fühlte („Gewissermaßen bin ich sein Vormund"), nach Nordhausen geschickt werden kann, hänge ganz davon ab, ob ihm ebenfalls ein Stipendium zugesichert werden könne (ebd.). Jahn fühlte sich geradezu verpflichtet, seinen „Vorturnern" den Weg zur höheren Bildung zu ebnen. Er sah sogar einen Zusammenhang zwischen dem Bildungsgrad der „Vorturner" und dem Erfolg der Turnbewegung: „... Ich muß mit aller Kraft dahin streben, daß wenigstens die Vorturner zum höchsten Ziel der Wissenschaft gelangen. So nur kann die gute Sache gedeihen, einheimisch im Volke werden und bis in die fernste Zeit fortleben ..." (ebd., S. 90).

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Freiplätze an Schulen, Ausbildungsinstituten oder Universitäten in denjenigen Städten und Orten zu, wo sie gemäß seinem Auftrag das organisierte Turnen einführen oder ihm verantwortlich vorstehen sollten 178 . Auch Anstellungen an Erziehungsanstalten und Positionen im Bereich der staatlichen Verwaltung vermochte er einigen von ihnen in den Kommunen zu verschaffen, in denen sie den Grundstein für das organisierte Turnen legen oder ihm zum Durchbruch verhelfen sollten 1 7 9 . Resümierend läßt sich feststellen, daß ohne Jahns vielseitigen, auf die Ausbreitung der Turnbewegung abzielenden Aktivismus und ohne die Einsatzbereitschaft der Berliner „Vorturner" eine ganz erhebliche Zahl örtlicher Initiativen zur Gründung von Turngemeinden nicht zustande gekommen bzw. zum Scheitern verurteilt gewesen wäre. Die territoriale Verbreitung der Turnbewegung war demnach nicht allein das Ergebnis der Wirkung, welche die Berliner Turngesellschaft in der Öffentlichkeit erlangte, sie war auch ein Resultat der aktiven Hilfe, die ihr Leiter und eine Gruppe von etwa 2 5 - 3 0 Berliner Turnern entstehenden Turngemeinden leisteten. Die Funktion des unentbehrlichen Anregers und Förderers, die der Berliner Turngesellschaft bei der territorialen Verbreitung der Turnbewegung zukam, konnte auch nicht dadurch beeinträchtigt werden, daß von einigen anderen Turngesellschaften Initiativen zur regionalen Ausweitung des organisierten Turnens ausgingen. Mitglieder der Turngemeinden in Köln, Breslau und Gießen sorgten für die Gründung von Turngemeinden in Kommunen, die im engeren oder weiteren Umfeld der genannten Städte lagen 180 . 178

Nach Aufzählung der Namen von „Vorturnern", denen er ein Stipendium beschaffen konnte, und nach Nennung der Gemeinden, in denen diese aktiv wurden, erwähnt Jahn in seinem Brief an Straß v. 9 - 9 . 1 8 1 7 , daß man in „manchen anderen Orten" die Sache „durch eine beträchtliche Vergütigung" „im voraus abgemacht und ausgeglichen hat" (ebd., S. 90). An „Vorturner" Schulz in Lübeck schrieb Jahn am 13.10.1817, nachdem er ihm eröffnet hatte, er wolle gerne einen Berliner Turner als Nachfolger von Schulz nach Lübeck schicken: „... Und ich meine einen, der noch die Schule gehörig mit besuchen könnte. Es versteht sich, daß die Stadt ihm alles freigeben und ihm ein Hilfsgeld für die hohe Schule zusichern muß. Das ist ja überall der Fall und in Städten, die lange nicht soviel in die Butter zu brocken haben als wie Lübeck ..." (ebd., S. 91 f.). - Dem Berliner Turner Sauermann wurde - als Jahn ihn der Breslauer Turngesellschaft vermittelte - ein Ausbildungsfreiplatz am Volksschullehrerseminar der schlesischen Metropole verschafft (vgl. Rudkowski, Turnfehde, S. 7).

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Jungnickel vermittelte er z. B. als Regierungsreferendar nach Köln, Maßmann als Hilfslehrer nach Breslau. V g l . oben S. 63. Der Gießener Turner und Burschenschafter Christian Sartorius rief während eines Heimaturlaubs in Darmstadt im Frühjahr 1817 eine Turngemeinde ins Leben. Auch in anderen Orten dieser Region gründeten Gießener „Burschenturner" - so nannte Jahn die der Turnbewegung angehörenden Studenten - Turnplätze (Hess. HStA Wiesbaden, Abt. 210, Nr. 12 542, Bl. 27; H. Thierolf, Geschichte der Turngemeinde Darmstadt, Darmstadt 1896, S. 2; Schröder, S. 225). Vgl. die ironiegetränkten Bemerkungen Sartorius' im Brief vom 7. Mai 1817 an von Buri in Gießen: „... Ich fange diese Woche meine Volksverführungen an, d.h. das Turnen. In einem einfachen, aber doch gewaltig pathetischen Schreiben habe ich die ... Schüler aufgefordert, sich unter meine Fahnen zu sammeln und mit fröhligem Eifer das Leib und Seele verdrehende Ding zu beginnen . . . " (zitiert in Hess. HStA Wiesbaden, Abt. 210, Nr. 12 542, Bl. 27 Rs). 1815/16 entstanden u.a. in den schlesischen Orten Hindersdorf, Nimptsch, Salzbrunn, Bunzlau, Pleß, Pitschen, Neiße, Leobschütz, Hirschberg, Kreuzberg, Klein-Glogau Turngemeinden (ebd. Bl. 17/17 Rs.). Ehemalige Studierende des Breslauer Volksschullehrerseminars, die auch Angehörige der

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Territoriale Verbreitung und kommunikatives System In welchen Gegenden oder Staaten Deutschlands verbreitete sich die nationale Turnbewegung in ihrer Frühphase (1811-19), und in welcher zeitlichen Abfolge geschah dies? Wo hatte sie ihre organisatorischen Schwerpunkte? Während der Zeit des antinapoleonischen Befreiungskampfes, in den Jahren 1813/14, entstanden erste Turngemeinden in Mecklenburg (Friedland, Parchim), in Westpreußen (Elbing, Marienwerder), in der preußischen Provinz Brandenburg (Frankfurt/O.) und in Hessen (Butzbach) 181 . Ab 1815 nahm die territoriale Ausbreitung rapide zu. Im Jahr der endgültigen Besiegung Napoleons existierten mit Ausnahme von Posen in allen preußischen Provinzen Turngemeinden 182 . 1816/17 wuchs deren Zahl noch erheblich an. Schlesien dürfte diejenige preußische Provinz gewesen sein, in der die meisten Turngesellschaften entstanden, gefolgt von der Rheinprovinz, Brandenburg, Westpreußen, Pommern und Ostpreußen. Nach einer Erhebung der preußischen Regierung gab es 1818 in Preußen ca. 100 Turngesellschaften mit zusammen 6000 Mitgliedern 183 . Eine starke Position vermochte sich die Turnbewegung nach dem Ende der Befreiungskriege auch durch weitere Neugründungen in Mecklenburg (M.-Schwerin u. M.-Strelitz) zu verschaffen 184 . Seit 1815/16 faßte sie darüber hinaus in den freien Städten Lübeck, Hamburg, Bremen und Frankfurt/M., in Thüringen, Hessen (Großherzogtum u. Kurfürstentum) sowie in Württemberg, Baden und Bayern Fuß 1 8 5 . Das Königreich Sachsen konnte keinen Turnplatz aufweisen. Auch in Österreich war keine Turngemeinde entstanden. Die Zahl der Turngemeinden im süddeutschen Raum blieb gering. Immerhin kamen im Gebiet südlich des Mains neun Turngemeinden zustande, nämlich in Darmstadt, Worms (Großherzogtum Hessen), Stuttgart, Tübingen (Württemberg), Mannheim, Heidelberg, Wertheim (Baden), Erlangen und Bayreuth (Bayern). In Bayern bildeten sich außerdem in Würzburg und Hof Turngesellschaften. Jahn bezifferte im Jahre 1818 die Anzahl der Turngemeinden in ganz Deutschland mit 150 und die der Turner mit 12000 1 8 6 . Bringt man von diesen insgesamt 150 Turngemeinden die (von der preußischen Regierung ebenfalls für das Jahr 1818 veranschlagten) 100 preußischen Turngemeinden in Abzug und berücksichtigt man die oben genannte Zahl der südlich des Mains entstandenen Turngesellschaften, so erkennt man, daß die meisten der ca. 50 nichtpreußischen Turngesellschaften in Nord- und Mitteldeutschland (Thüringen) sowie im nördlichen Hessen (Großherzogtum nördl. des Mains und Kurfürstentum) existierten.

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Breslauer Turngesellschaft waren, widmeten sich - sobald sie nach Abschluß ihres Studiums Breslau verließen - in besonderem Maße der Gründung neuer Turngemeinden in Schlesien. Zur Kölner Turngemeinde vgl. Ruckstuhl, S. 67 f. Timm, S. 75 ff. u. 129; H. Braun, Das turnerische und politische Wirken von A. F. L. Weidig 1 7 9 1 - 1 8 3 7 , Ahrensburg 1977, S. 29. In Posen wurde 1818 eine Turngemeinde in der Stadt Bromberg ins Leben gerufen. Es scheint sich um die einzige Turnorganisation im Großherzogtum zwischen 1815 und 1819 gehandelt zu haben. Nach Teresa Ziölkowska, Deutsche Turnvereine im Großherzogtum Posen 1815-1918, in: Stadion, Zeitschrift für Geschichte des Sports und der Körperkultur, Bd. IV, 1978, S. 324. Nach Neuendorff, Bd. II, S. 304. Timm, S. 93 f., 101,119. Siehe hierzu und zum folgenden: Hess. HStA Wiesbaden, Abt. 210, Nr. 12 542, Bl. 14/14 Rs u. 2 3 - 2 5 , Festschrift zur 50jährigen Jubelfeier des allgemeinen Bremer Turnvereins, Bremen (1910), S. 2, Neuendorff, S. 258 f. Vgl. auch oben S. 59 ff. Jahn an Vieth in Dessau v. 11.4.1818, in: Meyer, S. 103.

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Da alle Turngesellschaften ihre Entstehung direkt oder indirekt Jahn bzw. der Berliner Turngesellschaft verdankten 187 , war es allzu natürlich, daß die allermeisten von ihnen sich organisatorisch stark dem Berliner Vorbild anglichen oder wenigstens einige wichtige Organisationselemente des Berliner Modells kopierten. Sie erhoben - dem Usus auf dem Berliner Turnplatz entsprechend - Mitgliedsbeiträge, stellten Mitgliederlisten zusammen und terminierten die Zusammenkünfte auf Mittwoch- oder Samstagnachmittag. Ältere Mitglieder, die die Funktion von Vorturnern innehatten, erfüllten unter der Bezeichnung „Turnrat" Führungsaufgaben der Gesellschaft, was in der Regel nicht ausschloß, daß einem „Turnwart" die patronal ausgeübte Oberleitung der Vereinigung anvertraut war. Den „Vorstand" konnten aber auch nichtturnende örtliche Honoratioren stellen. „Turngesetze", im Wortlaut identisch oder fast gleichlautend mit denen, die auf der Hasenheide galten, waren in den allermeisten Turngesellschaften in Kraft 1 8 8 . Die Hanauer Turngemeinde löste sich 1818 von dem vorgegebenen Modell der Patronatsvereinigung, indem sie die Willensbildung demokratisierte. „Turnwart" und „Vorturner" wurden von den Mitgliedern der Gesellschaft gewählt. Auch sehr junge, noch nicht 14 Jahre alte Gemeindeangehörige konnten in den Turnrat delegiert werden, in dem sie wie ihre älteren Turngenossen Beratungs- und Stimmrecht besaßen 189 . J e doch blieb die Hanauer Turngesellschaft mit der Praktizierung derart weitgehender demokratischer Spielregeln unter den bis 1819 entstehenden Turngemeinden mit einiger Wahrscheinlichkeit ein Ausnahmefall 190 . 187

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Direkt wirkte Jahn auf den Entstehungsprozeß von Turngemeinden ein, wenn er mit Turnplatz-Gründern korrespondierte und ihnen .Eliteturner' vermittelte. Eine indirekte Anregung oder Beeinflussung liegt nach unserer Meinung dann vor, wenn Gründungsinitiativen allein auf publizistisch oder mündlich vermittelte Informationen über den Berliner Turnplatz zurückzuführen sind. Die Mainzer Zentrale Untersuchungskommission kommt in ihrem Bericht sogar zu dem Ergebnis, daß - „wie sich aus den Akten" ergebe - die Turngesetze „auf allen Turnplätzen angenommen waren" (Hess. HStA Wiesbaden, Abt. 210, Nr. 12 542, Bl. 12 Rs./13). Siehe auch die „Gesetze für die Turngemeinde zu Tübingen" (1819), handschriftl. im Archiv der Turn- u. Sportgemeinde Tübingen v. 1845. Vgl. auch den Text der Friedländer Turngesetze vom Jahre 1815, in: Timm, S. 89. Belege für die anderen angeführten formalen Assoziationsmerkmale in: ZStA Merseburg, Rep. 76, Tit. VII., Sect. I, Gen. bb, Nr. 6, Bl. 178 u. 187; Hess. HStA Wiesbaden, Abt. 210, Nr. 15 542, Bl. 13, 16 Rs., 22 Rs., 31 Rs. u. 32 Rs.; Rudkowski, Tumfehde, S. 15 f.; Schneider, Hamburger Turnerschaft, S. 23; Geschichte der Turngemeinde zu Hanau 1837-1887, S. 9 f.; Die Lübecker Turnerschaft 1854-1904, S. 10; Thierolf, S. 2. Nach Geschichte der Turngemeinde zu Hanau 1837-1887, S. 14. Immerhin wurde in der Trierer und der Kölner Turngesellschaft zumindest zeitweise die Mitgliedschaft im Turnrat von der Zustimmung der Turngemeinde abhängig gemacht, damit - wie es der Leiter der Kölner Turngemeinde ausdrückte - , „ein republikanisches Wesen auf den Turnplatz käme, was nur von Wirkung seyn könne". (Hess. HStA Wiesbaden, Abt. 210, Nr. 12 542, Bl. 28 Rs). - Nicht uninteressant ist es, daß durch inhaltlich weitgehend identische Feststellungen bzw. Bestimmungen in den Turngesetzen wie sie innerhalb zweier Turngesellschaften gültig waren, das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit aller deutschen Turner gestärkt werden sollte: In den „Turngesetzen" der Tübinger Turngemeinde hieß es: „Alle Turner durch ganz Deutschland haben Gastfreundschaft untereinander" und die „Turngesetze" der Bonner Turngesellschaft enthielten den Hinweis, „daß die Karte, die jeder eingeschriebene Turner erhalte, ihn auch zu gastfreundlicher Aufnahme auf andern Turnplätzen beurkunde" (Hess. HStA Wiesbaden, Abt. 210, Nr. 12 542, Bl. 64 Rs). Der Vorschlag des „Vorturners" Lang in Eisenach (den dieser in einem Brief vom 20.5.1819 an Dürre macht), man solle den „führenden Turnern irgend

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Um mit der Turnbewegung ein funktionierendes nationales Kommunikationsnetz, ein erstes breit organisiertes Kontaktsystem deutscher Patrioten entstehen zu lassen, wäre es nicht ausreichend gewesen, hätte Jahn bloß für die Gründung vieler örtlicher Turnvereinigungen gesorgt. Es war dazu nötig, über eine bloße Ansammlung miteinander unverbundener lokaler organisatorischer Einheiten hinaus zu einem System untereinander kommunizierender Lokalorganisationen zu gelangen. Jahn erkannte rasch die Notwendigkeit derartiger kommunikativer Verbindungen unter den Turngesellschaften. Zwei der von ihm angewandten und von uns schon näher geschilderten Mittel der direkten Einwirkung auf örtliche Turnplatz- Grün¿/wngjprozesse bargen in sich auch die Möglichkeit nicht nur temporärer, sondern dauerhafter kommunikativer Kontakte zwischen der Berliner Turngesellschaft einerseits und den neu entstehenden Turngemeinden in den verschiedensten Teilen Deutschlands andererseits. Die von Jahn mit auswärtigen Turnplatzinteressenten gepflegten Briefkontakte ließen sich zum Zwecke der Nachrichtenvermittlung auch über den eigentlichen Gründungszeitraum hinaus aufrechterhalten. In einigen Fällen bemühte sich Jahn um die Fortsetzung solcher Kontakte 191 . In ganz besonderem Maße schienen sich aber die räumlich flexiblen Berliner .Eliteturner' wegen ihrer auswärtigen Pioniertätigkeit als Informationsträger zwischen der Berliner Turngemeinde bzw. deren Leiter und den neu entstehenden lokalen Turnerassoziationen anzubieten. Es verwundert deshalb nicht, daß Jahn bestrebt war, ihnen wichtige Funktionen bei der Einrichtung eines die Turnvereinigungen verbindenden Informationsnetzes zu übertragen. Während ihrer Abwesenheit von Berlin standen manche von ihnen in brieflichem Kontakt zu Jahn 192 . Dieser ermahnte sie eindringlich, den Briefverkehr nicht einzustellen, und forderte sie auf, ihm über die Zustände in den ihnen anvertrauten Turngemeinden zu berichten 193 . Er informierte sie seinerseits über die Verhältnisse in der Berliner Gesellschaft 194 . Die Kommunikation zwischen Jahn und seinen Emissären spielte sich

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eine Art von Tumpaß zur Rechtfertigung" mit auf den Weg geben, „damit nicht allerlei loses Gesindel unter unserm Namen im Lande herumzieht" (ebd.), wurde jedoch bis zum Verbot der frühen Turnbewegung nicht mehr verwirklicht. Erst in der Turnbewegung der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts wurden „Turnerpäße" ausgestellt. Vgl. Anm. 976. Vgl. die Briefe Jahns an Luden. Der erste stammte vom März 1816, der letzte wurde Ostern 1818 geschrieben (Meyer, S. 72-78). Siehe Jahns Briefkontakte zu Harnisch, Zernial, Grell, Schulz und Dürre, in: Meyer, S. 59, 64 ff., 90 ff., 95 f. u. 111 ff. Vgl. auch die Anmerkung Dürres über seinen Briefwechsel, den er während seiner Anwesenheit in Jena mit dem in Berlin weilenden Jahn führte (Dürre, S. 209). Meyer, S. 65, 68 u. 90. Jahn ermahnte Zernial in Düsseldorf am 30.6.1816: „... Schreib nur bald, wie den Großen und Kleinen, Turnern und Nichtturnern die .Deutsche Turnkunst' gefällt und was es dort Neues gibt im Guten und Bösen. Grüße alle Turner und ermahne sie, nicht auf Lotterbettlein der Sicherheit einzuschlafen, wie nur zu oft die siegestrunkenen Helden nach dem Frieden tun ..." (ebd., S. 68). Schulz in Lübeck bedrängte Jahn am 13.10.1817 mit folgenden Fragen: „... Nun aber eine Frage auf Dein Gewissen. Ist das Turnen in L.[übeck] soweit gediehen, daß es nach Deinem Abgang nicht wieder ins Stocken gerät? Oder, wenn es auch fortdauert, nicht eine falsche Richtung bekommt? Und ist dies [überhaupt] zu verhindern, wenn ... unbefugte Leute für die Folge in die Sache hineinpfuschen? Hast Du in der kurzen Zeit einen Turnerstamm bilden können, der diese Kraft erlangt hat?" (ebd., S. 91). Siehe z.B. die Briefe Jahns an Mönnich, Harnisch und Schulz (ebd, S. 36 f., 59 u. 90 ff.).

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also zum Teil im Medium der Korrespondenz ab; es handelte sich um die gleiche Kommunikationsform, die zwischen Jahn und den auswärtigen Turnplatzgründern üblich war. So wie deren briefliche Verbindungen aber zum Teil auf länger zurückliegenden persönlichen Begegnungen basierten (oder in Einzelfällen von persönlichen Kontakten begleitet wurden), so war das persönliche Gespräch bzw. der mündliche Kontakt auch ein wesentlicher Bestandteil der von Jahn-Emissären übernommenen Kommunikationsrolle. Sie unterrichteten nicht allein die Turngesellschaften, deren Betreuer sie waren, über das Leben in der Berliner Turngemeinde; kehrten sie - entbunden von ihren externen Funktionen - nach Berlin zurück, war es für sie ebenso ein normaler Vorgang, Jahn über die Verhältnisse in den jungen Gemeinden mündlich Bericht zu erstatten195. Die bisher geschilderten kommunikativen Kontakte zwischen den Turngemeinden lassen eine Kommunikationsstruktur erkennen, die durch eine Vielzahl von bilateralen Kontaktverhältnissen bestimmt ist. In jedem dieser Verhältnisse stellt die Berliner Turngesellschaft - repräsentiert durch ihren Leiter196 - einen der beiden Kommunikationspartner dar. Der andere Partner ist jeweils eine neu ins Leben gerufene Turngemeinde, die jedoch - ebenso wie die Berliner Gesellschaft an dem Kommunikationsverhältnis nicht unmittelbar, nicht als Gruppe partizipiert. Gleichsam stellvertretend für diese fungiert als Kontaktperson entweder ein einheimischer Turnfreund oder der aus Berlin stammende „Vorturner". Die beschriebenen Kontaktverhältnisse machten allerdings noch keineswegs das ganze sich real entwickelnde Kommunikationssystem der frühen Turnbewegung aus. Es kam in ihr zu weiteren, z.T. andersgearteten persönlich-mündlichen Kontakten. Zwischen manchen Turngemeinden entstand eine kommunikative Verbindung, die nicht - oder nicht nur - von deren Leitern, sondern von vereinzelten .normalen' Mitgliedern getragen wurde. Es handelt sich dabei durchweg um Burschenschaftsstudenten, die seit 1815/16 der Turnbewegung in größerer Zahl angehörten. Ihre stark ausgeprägte Neigung, den Studienplatz zu wechseln, war für die Kommunikation zwischen den in Universitätsstädten existierenden und hauptsächlich von Studenten besuchten Turnplätzen äußerst dienlich. Durch die räumlich fluktuierenden „Burschenturner" kam nicht nur ein Informationsfluß zwischen der Berliner Turngesellschaft einerseits und den Turngesellschaften in Jena, Gießen, Tübingen, Heidelberg und Erlangen andererseits zustande: Die mittel- und süddeutschen studentischen Turnplätze erhielten durch die „Burschenturner" auch untereinander Kontakt 197 . 195

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Jahn übertrug seinen mobilen „Vorturnern" noch eine weitere Aufgabe. Ihre vielen Fußreisen prädestinierten sie dazu, Briefkurierdienste zu übernehmen. Nicht nur zwischen Turnplatzgründem und Jahn fungierten sie als Briefkuriere, sondern auch zwischen Jahn und nicht der Turnbewegung angehörenden Patrioten (ebd., S. 66, 7 6 , 8 0 , 8 7 ) . Jahn übertrug das „Briefamt" der Berliner Turngesellschaft zeitweise an einen Berliner ,Eliteturner'. Vor allem Dürre übernahm diese Funktion des öfteren. A m 6 . 8 . 1 8 1 5 schrieb Jahn an Zemial in Düsseldorf: „Das Neue und Neueste - in Beziehung auf Turnwesen - sollst Du immer brieflich erfahren. Dürre wird es vorläufig übernehmen ..." (Hess. HStA Wiesbaden, Abt. 210, Nr. 12 542, Bl. 35). Im Sommer/Herbst 1817 weilten z. B. die „Burschenturner" Dr. Jung aus Heidelberg und Elveter aus Erlangen in Berlin, vgl. Jahns Brief an Schulz in Lübeck v. 13.10.1817, in: Meyer, S. 91. Zur Fluktuation der „Burschenturner" zwischen den im Text genannten

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Zur Herstellung multilateraler Kontakte unter den Turngemeinden - in Ergänzung zu den schon geschilderten bilateralen - gingen jedoch auch von Jahn selbst besondere Impulse aus. Mit dem Knüpfen solcher Verbindungen beauftragte er z.B. seine auf Außenposten' wirkenden Berliner „Vorturner". Zum Zwecke des Meinungs- und Informationsaustausches drängte er sie, „Vorturner"-Kollegen und Turngesellschaften in anderen Städten zu besuchen 198 . Diese Kontaktaufnahme diente der Nachrichtenübermittlung zwischen Tochtergemeinden. Gleichzeitig erweiterte sich dadurch der Informationsstand der .Turnerelite' und - wegen ihrer Verbindung zu Jahn - auch die der Berliner Stammgemeinde. Jahn stellte die Bereitschaft seiner .Eliteturner', extensive Fußreisen im Dienste der nationalen Turnbewegung zu unternehmen, aber noch auf weitere Proben. Nicht allein andere Turnplätze und Turner sollten sie auf ihren zu Fuß unternommenen Reisen kennenlernen, sie wurden auch angehalten, Kontakte zu deutschen Patrioten zu knüpfen, die nicht der nationalen Tumbewegung, aber doch dem Freundes- und Bekanntenkreis Jahns angehörten. Die Turnbewegung sollte nach Jahns Intention nicht eine in sich geschlossene, sich nach außen abkapselnde patriotisch-deutsche Bewegung sein; ihre führenden Mitglieder hatten den Auftrag, auch Verbindungen zu nationalen Kräften außerhalb der Turnbewegung herzustellen. Außerdem drängte Jahn seine .Eliteturner', ihre Fußreisen so einzurichten, daß sie auf ihnen möglichst viele deutsche Staaten, Gegenden, Städte und Hochschulen kennenlernten 199 . Die Wichtigkeit, ja Notwendigkeit derartiger „vaterländischer Wanderungen" hatte Jahn schon im „Deutschen Volksthum" hervorgehoben; sie entsprächen einem ,,Urdeutsche(n) Reisetrieb", und durch Weckung von „Mitgefühl, Theilnahme" und „Gemeingeist" beim Wandernden könnten sie zu einer „Innenbefestigung des Volksthums" beitragen200.

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Städten siehe Schröder, S. 241; H. Haupt, Karl Folien und die Gießener Schwarzen, Gießen 1907, S. 37, 77f., 93 f., 99f. u. 127; Hermes, S. 2. Nach Gründung der Bonner Universität im Herbst 1818 kamen „Burschenturner" aus Heidelberg, Jena und Gießen nach Bonn. Leiter der im gleichen Jahr ins Leben gerufenen Bonner Turngemeinde wurde der ehemalige Heidelberger Burschenschafter Baumeister (Haupt, S. 97 f.; Hess. HStA Wiesbaden, Abt. 210, Nr. 12 542, Bl. 51 Rs/52, 61). An „Vorturner" Schulz in Lübeck konnte Jahn am 13.10.1817 schreiben: „... Statt schriftlicher Antwort habe ich Dir manche Besuche verschafft: zuerst Eiselen, dann einige Neustrelitzer Vorturner, auch habe ich einen Friedländer Vorturner, den wackern Asmus, an Dich gewiesen.... Der Werneucher Schmidt hat mir gesagt, Du wolltest nach Berlin kommen und den Winter über hier die hohe Schule besuchen ... Eiselen sieht sehr gern, wenn Du noch vorher einen Abstecher nach Kiel machtest, um zu sehen, welchen Fortgang das Turnen nach seiner Abreise hat ... Wahrscheinlich bist Du doch wohl in Ratzeburg gewesen ..." (Meyer, S. 90 ff.). Sehr erhellend ist in diesem Zusammenhang Jahns ausführlicher Brief an Zernial vom 30.6.1816. In ihm erteilt er dem „Vorturner" genaue Instruktionen für eine Fußreise von Düsseldorf nach Berlin. Zusammenfassend bemerkt er: „... Auf solche Art würde nach diesem Reiseplan Deine Wanderschaft schöne Gegenden, merkwürdige Orte, verschiedene Turnplätze und mancherlei Staaten berühren, Du könntest bei vielen guten Bekannten und alten Freunden vorsprechen, inne werden, wie es ums Herz ist, machst einige Erfahrungen von hohen Schulen und dächtest an das alte Sprichwort: ,Was ich nicht erlernt, das habe ich erwandert'" (ebd., S. 67f.). Dem „Vorturner" Schulz machte Jahn mit Blick auf dessen Rückreise von Lübeck nach Berlin die Offerte: „... Ich habe fast überall Bekannte und möchte Dich dann doch an manchen Mann empfehlen, den kennen zu lernen sich lohnt..." (ebd., S. 91). Jahn, Deutsches Volksthum, S. 443,445 ff.

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Sind die bis jetzt geschilderten kommunikativen Verbindungen zwischen Turngemeinden als mittelbare Kontakte einzustufen - d. h., an den Begegnungen nahm nicht eine Vielzahl von Mitgliedern aus zwei oder mehreren Turngesellschaften teil, die Kontakte wurden vielmehr stellvertretend für die Gesamtgemeinde durch Turnplatzgründer, Turnplatzleiter oder einige andere, den Turnplatz wechselnde Angehörige der Turnbewegung hergestellt so entstanden nach 1815 auch Kontakte, an denen alle bzw. viele Mitglieder mehrerer Turngemeinden unmittelbar beteiligt waren. Ein von Jahn empfohlenes und auch von ihm und der Berliner Turngesellschaft zuerst praktiziertes kommunikatives Kontaktmittel waren von vielen Mitgliedern einer Turngemeinde gemeinschaftlich unternommene Wanderungen mit dem erklärten Ziel, Turngemeinden in anderen Orten aufzusuchen. Jahn unternahm zusammen mit größeren Gruppen von Hasenheide-Turnern solche - wie er sie nannte - „Turnfahrten" selbst in weiter von Berlin entfernte Gegenden201. Auf diesen Wanderungen wurden nacheinander mehrere Turngesellschaften besucht. Bei jeder einzelnen Begegnung während einer „Turnfahrt" gewannen also jeweils die Mitglieder zweier Turngesellschaften einen unmittelbaren Kontakt zueinander. Die von den Berliner Turnern aufgesuchten Turngemeinden nahmen an den Begegnungen, bei denen der Erfahrungsaustausch über alle die Turnbewegung betreffenden Fragen und gemeinsam veranstaltete Turnübungen im Mittelpunkt stand, so gut wie vollzählig teil. Die Turnfahrt als Mittel direkter kommunikativer Verbindung zwischen Turngemeinden wurde von anderen Turnerassoziationen rezipiert. Dabei konnte das Jahnsche .Turnfahrt-ModeH' auch in der Weise abgewandelt werden, daß man „Turnfahrten" aus der Absicht heraus antrat, nur eine einzige in einer anderen Stadt befindliche Turngemeinde aufzusuchen. Turngesellschaften im Rheinland, in Hessen, Thüringen, Mecklenburg und Schlesien kommunizierten auf „Turnfahrten" mit anderen, allerdings nur im engeren regionalen Umfeld existierenden Turnvereinigungen202. 201

1817 wanderte er z.B. mit zwanzig erwachsenen Berliner Turnern zu mecklenburgischen Turnplätzen (Timm, S. 95 u. 102 f.). 1818 besuchte er in Begleitung einer Gruppe von Hasenheide-Turnern auf einer vier Wochen dauernden „Turnfahrt" mehrere schlesische Turnplätze (siehe den zum ersten Male von K . Wassmannsdorff in der Deutschen TurnZeitung publizierten handschriftlichen Bericht Franz Liebers aus dem Jahre 1818: „Des Berliner Turners Franz Lieber's ,Die Farth nach Schlesien im Jahre 1818 um vom Tie vorzulesen beschrieben'", in: Deutsche Turn-Zeitung, Jg. 1895, Nr. 30 u. 32, S. 637-642 u. 686-690. Vgl. auch die Erlebnisschilderungen des Breslauer Turners Wolfgang Menzel: „Wolfgang Menzel's Schilderung seines Turnlebens zu Breslau in den Jahren 1817 und 1818", in: Deutsche Turn-Zeitung, Jg. 1884, Nr. 1 u. 2, S. 2 - 4 u. 13-15 sowie Jahns Brief an Zernial v. 14.8.1818, in: Meyer, S. 95f. und Hess. HStA Wiesbaden, Abt. 210, Nr. 12 542, Bl. 51. Die zum Zwecke des Besuchs von anderen Turngemeinden veranstalteten Turnfahrten hingen entstehungsmäßig mit andersgearteten kollektiv veranstalteten Fußreisen zusammen. Seit dem Gründungsjahr des Berliner Turnplatzes unternahm Jahn jeden Sommer mit Hasenheide-Turnern Wanderungen in die nähere Umgebung von Berlin. Nicht andere Turngemeinden wurden auf diesen Fußreisen, die man mitunter auch als „Turnfahrten" bezeichnete, besucht, sie wurden ausschließlich veranstaltet, um die Natur und um Land und Leute kennenzulernen ([Bornemann], Turnplatz, S. 21; Ders., Lehrbuch, S. 100 f.).

202

Timm, S. 94; Heise, S. 29 u. 36. Vgl. auch die Feststellung im Bericht der Zentralen Untersuchungskommission: „Von andern Turnplätzen wurden bald ebensolche Fahrten unternommen, Besuche wurden gegeben und erwidert, und so wurde durch die Turnfahrten ein Band gegenseitiger Bekanntschaft unter den Turnern angeknüpft und immer weiter

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Begegneten sich auf einer „Turnfahrt", die mit der Absicht unternommen wurde, Turngenossen in einer Reihe von Orten zu kontaktieren, zeitlich nacheinander Mitglieder verschiedener Turngemeinden, so kam es seit 1818 in der nationalen Turnbewegung zu einer Form der direkten Begegnung zwischen Turngesellschaften, die auf einen gleichzeitigen Kontakt von Mitgliedern mehrerer Turnorganisationen einer Region hinauslief. Dabei handelte es sich um sogenannte Turnfeste, die regional veranstaltet wurden und denen der Charakter von Nationalfesten zukam. Die Veranstaltungen entsprachen in ihrer Zwecksetzung und weitgehend auch in der Gestaltung den Festen, die Jahn seit 1814 mit den Berliner Turnern feierte und die in den folgenden Jahren alljährlich von vielen Turngemeinden inszeniert wurden 203 . Von den lokalen Feiern mit nationalem Inhalt hoben sie sich jedoch dadurch ab, daß ihre Teilnehmer nicht nur aus einer Stadt, sondern aus mehreren, meist in derselben Region oder Provinz gelegenen Orten stammten. Turngesellschaften in Städten, die räumlich nicht allzuweit voneinander entfernt lagen, vereinbarten, zum Zwecke einer gemeinsamen Feier in einer Kommune, in der eine Turngesellschaft existierte, oder an einem neutralen Ort zusammenzukommen. Nicht allein die lokale Nationalfeier hatte bei der Entstehung dieser kommunikativen Kontaktform Pate gestanden, als kommunikatives Mittel dürfte ohne Zweifel auch die „Turnfahrt" ,Geburtshelferdienste' geleistet haben. Jahn selbst und die Berliner Turngesellschaft ergriffen freilich keine Initiative, um ein regionales Turnfest zu feiern. Sie waren auch nicht an einem solchen beteiligt. Vielmehr ging der Anstoß von Tochter-Turngemeinden aus. Am 18. Juni 1818 wurde von der Kölner Turngemeinde ein Turnfest gefeiert, wozu „eine große Menge Turner" von Bonn, Siegburg, Königswinter und Kirchen (bei Siegen) erschienen war 204 . Die Gießener Turngemeinde feierte am 22. Juli 1818 ein Turnfest und hatte dazu andere Turngemeinden der Region eingeladen 205 . Das von der Zahl der aktiv Beteiligten her möglicherweise größte regionale Nationalfest kam im August 1818 in Erfurt zustande, wo sich ca. 600 Turner aus Eisenach, Nordhausen, Mühlhausen und anderen thüringischen Turngemeinden vereinigten 206 . An der sogenannten Katzbach-Feier bei Liegnitz am 26. August 1818 beteiligten sich 159 Turner aus mehreren schlesischen Turngemeinden (Liegnitz, Breslau, Hirschberg, Landeshut, Bunzlau). Rund 1000 Menschen verfolgten außerdem als Zuschauer das Festgeschehen. Eingeladen zu der Feier hatte der Liegnitzer „Turnwart" Dr. Schulze 207 „im Namen der Liegnitzer Turngemeinde" 208 . Im August und September 1818 lud im Auftrage der Bonner Turner der Leiter der dortigen Turngemeinde, Gymnasiallehrer Baumeister, die Turngemeinden in Köln, Düsseldorf, Trier, Gießen, Siegen,

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geschlungen, das außer der angegebenen Absicht, einen fröhlichen Jugendgeist, vaterländischen Sinn und Turnsitte zu beleben, auch andere Zwecke" (gemeint ist zweifellos die Vermittlung und Verbreitung politisch-nationalen Bewußtseins, D. D.) „zuließ und deren Verfolgung erleichterte" (Hess. HStA Wiesbaden, Abt. 210, Nr. 12 542, Bl. 50 Rs.). Vgl. hierzu ausführlich S. 115 ff. Hess. HStA Wiesbaden, Abt 210, Nr. 12 542, Bl. 55. Nur einige Kirberger und Emmerzhäuser Turner scheinen allerdings der Einladung Folge geleistet zu haben. Vgl. Hess. HStA Wiesbaden, Abt. 210, Nr. 12 542, Bl. 55/55 Rs. Hess. HStA Wiesbaden, Abt. 210, Nr. 12 542, Bl. 55 Rs. Vgl. S. 65 dieser Arbeit. Rudkowski, Turnanstalt, S. 798 f.; ZStA Merseburg, Geheimes Zivilkabinett. 2.2.1., Nr. 22640 (Das Turnwesen 1817-1819), Bl. 13 f.

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Koblenz, Königswinter, Siegburg, Kirchen, Aachen und Kleve für den 18. Oktober zu einer Feier auf den Drachenfels ein 209 . Obwohl auf Anweisung des Staatskanzlers Hardenberg von den Behörden die Zusammenkunft verboten wurde 210 , fand sie am gleichen Tag - wenn auch im kleineren Kreise - auf dem in der Nähe Bonns gelegenen Kreuzberg statt211. Im Oktober des darauffolgenden Jahres konnte das von Baumeister angeregte Fest auf dem Drachenfels nachgeholt werden 212 . Ebenfalls 1819 wurde in Siegen eine Turnfeier abgehalten, zu der die Siegener Turngesellschaft die rheinischen Turngemeinden eingeladen hatte 213 . Die von uns beschriebenen vielfältigen kommunikativen Kontakte zwischen den Turngemeinden ließen eine organisierte Bewegung entstehen, die sich durch ein erhebliches Maß an Homogenität auszeichnete. Daß die Turngemeinden nicht nur übereinstimmende formale Organisationsmerkmale ausbildeten, sondern daß ihre Mitglieder auch ein bis zu einem gewissen Grade inhaltlich identisches Nationalbewußtsein entwickelten, dem sie außerdem in denselben rituellen Formen öffentlich Ausdruck verliehen 214 , war nur möglich, weil die Menge der kommunikativen Verbindungen zwischen den Turngemeinden einen regen Informationsfluß und Meinungsaustausch gewährleistete 215 . Eine zentrale Stellung innerhalb des geschilderten Kommunikationsnetzes nahm zweifellos Jahn bzw. die Berliner Turngesellschaft ein. Die örtlich organisierten Turnergruppen empfingen vermittels des gut funktionierenden Nachrichtensystems entscheidende Impulse und Anregungen für die Gestaltung der verschiedenen Bereiche ihres vereinsinternen Lebens aus Berlin216. Dessenungeachtet gab es ziemlich zahlreiche und intensive Kommu209

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Landeshauptarchiv Koblenz, Abt. 402, Nr. 391 (Acta des königl. Ober-Präsidii betreffend die von den Turnern zu Bonn intendierte Feier des 18 ten October 1818 ...), Bl. 7/8; Hess. HStA Wiesbaden, Abt. 210, Nr. 12 542, Bl. 59 Rs/60. Landeshauptarchiv Koblenz, Abt. 402, Nr. 391, Bl. 1. Hess. HStA Wiesbaden, Abt. 210, Nr. 12 542, Bl. 55 Rs, 60/60 Rs, Haupt, S. 117. Hauptsächlich waren Turner aus Trier und Gießen erschienen. ZStA Merseburg, Rep. 77, Tit. 925, Nr. 10, Bd. 1 (Das Turnwesen in der Rheinprovinz 1819-1844), Bl. 2; Heise, S. 35. Heise, S. 35 f. Vgl. hierzu S. 116 ff., besonders S. 118 dieser Arbeit. Die entwickelten kommunikativen Kontakte ermöglichten - soweit feststellbar - auch eine weitgehend identische turnerische Praxis in den Gemeinden. Eine Feststellung, die aus j/iort-historischem Blickwinkel nicht irrelevant sein dürfte. Für die Kommunikation unter den Turngemeinden sehr dienlich erachtete Jahn auch die Herausgabe eines Jahrbuches, das Berichte über alle deutschen Turngemeinden enthalten sollte (vgl. Jahn/Eiselen, S.XLVI). Jahn dachte daran, die Berichte nach einem von ihm vorgegebenen Fragenkatalog (ebd., S.XLVI f.) von den Turngemeinden selbst abfassen zu lassen. Schon in der „Deutschen Turnkunst" bat er die Turngesellschaften um Zusendung der Beiträge. Zernial in Düsseldorf und Arndt in Ratzeburg forderte er im Mai/Juni 1816 auf, Berichte zu erstellen. (An Zernial schrieb er: „Den ungefähren Plan wirst Du aus dem Vorbericht zur Turnkunst ersehen haben und nun daraus abnehmen, auf was für Mitteilungen Du Dich zu schicken hast"; Arndt mahnte er: „Versäumen Sie nicht, zum Jahrbuch der Turnkunst beizusteuern", Meyer, S.66 u. 83.) Obwohl von mehreren Turngemeinden Berichte an Jahn geschickt wurden, die dieser im Berliner Turnrat vorlas (Hess. HStA Wiesbaden, Abt. 210, Nr. 12 542, Bl.34/34 Rs; vgl. auch Timm, S.80), und Jahn mit Harnisch 1818 vereinbart hatte, die Jahrbücher in Breslau erscheinen zu lassen (Harnisch, S.342), blieb der Publikationsplan unrealisiert. Unabhängig von Jahn waren die Turngemeinden in Gießen, Trier und Bonn Anfang 1819 übereingekommen, eine periodische Turnschrift herauszugeben (Hess. HStA Wiesbaden, Abt. 210, Nr. 12 542, B1.33 Rs). Von dem Plan, der ebenfalls nicht zur Ausführung kam, informierte „Turnvorsteher"

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nikationskontakte innerhalb der Turnbewegung, an denen Jahn oder die Berliner Turngemeinde nicht beteiligt waren. Ein gewisses kommunikatives .Gefälle' in der Turnbewegung läßt sich zwischen nördlich und südlich des Mains existierenden Turngemeinden konstatieren. Während die innerhalb der Turnbewegung am weitesten entwickelten Formen des kommunikativen Kontaktes - nämlich Turnfahrten und regionale Turnfeste - von nord-, mittel- und westdeutschen sowie von nordhessischen Turngemeinden praktiziert wurden, hatten die süddeutschen Gemeinden diese noch nicht ausgebildet. Dennoch waren auch die süddeutschen Turngesellschaften - vor allem durch die räumlich mobilen „Burschenturner" - an das Kommunikationssystem der Turnbewegung fest angebunden. Auffallend ist, daß es zu einer Begegnung - etwa in Form eines Turnfestes an der Turner aus allen oder den meisten deutschen Turnvereinigungen teilgenommen hätten, bis 1819 nicht gekommen ist. Obwohl Jahn und zwei seiner ,Eliteturner' als die eigentlichen Initiatoren des studentischen Wartburgfestes im Jahre 1817 betrachtet werden müssen 217 , eines Nationalfestes, zu dem die Studenten aller protestantischen deutschen Hochschulen Einladungen erhielten, kam eine Zusammenkunft deutscher Turner ,auf nationaler Ebene' bis 1819 nicht zustande auch wenn es entsprechende Pläne gab 218 . Trotz der zahlreichen Begegnungen zwischen Turnern aus einer Region oder Provinz sind in der frühen nationalen Turnbewegung auch keine Zusammenschlüsse von Turngemeinden zu regionalen oder provinziellen Organisationen erfolgt und entsprechende Vertretungsorgane (etwa ein ,Provinzturnrat' oder eine .Turner-Delegierten-Versammlung') gebildet worden. Auch ein alle deutschen Turngemeinden einbeziehendes und deren formale Verbindung untereinander regelndes Organisationsstatut trat nicht in Kraft obwohl ein entsprechender Entwurf schon 1816 von Maßmann ausgearbeitet worden war 219 . Rumschöttel in Trier auf brieflichem Wege Eduard Dürre: „Unser Turnwesen wird an Aufnahme dadurch gewinnen, daß wir uns vereinigt haben, von Zeit zu Zeit eine Turnschrift erscheinen zu lassen, die als Einigungspunkt dienen soll und zur Vernichtung von Vorurtheilen beitragen wird; das Nähere hierüber habe ich meinem Bruder mitgetheilt, der dir Kunde davon geben wird. Mitarbeiter sind die einzelnen Turnplätze, dann A. L. Follenius, der in Elberfeld jetzt eine Zeitung schreibt, Sartorius, Buri und einige Andere. Ich denke, es wird gut gehen" (ebd.). 217 218

219

Vgl. S. 122 f. dieser Arbeit. Dr. Schulze, Leiter der Liegnitzer Turngemeinde, bezeichnete in einer Rede während der Katzbach-Feier das Turnfest der schlesischen Turner als „Vorspiel ... des großen Deutschen Turnfestes, das wir Turner aus allen deutschen Gauen auf dem Walfelde von Leipzig den 18. eines jeden Siegmondes feiern wollen" (Rudkowski, Turnanstalt, S.798). Auch Jahn meinte bereits in der „Deutschen Turnkunst", daß - wenn „die gesammte Jugend erst eingeturnt" sei - sich „die besten Turner des ganzen Volks" zu einem nationalen „Hauptfeste" in der „Hauptstadt" (er meinte damit zweifelsohne die Metropole eines noch zu begründenden deutschen Nationalstaates) treffen sollten (Jahn/Eiselen, S.212). Maßmann nannte seinen Entwurf „Urkunde der ganzen Turngemeinschaft". Danach sollten alle Turngesellschaften in strenger organisatorischer Subordination zum „Richter-, Muster-" und „Oberturnplatz" in Berlin und seinem „Turnmeister" (Jahn) sowie seinem „Oberturnwart" (Maßmann) stehen. Vgl. Textentwurf und Kommentar seines Verfassers in: H. Ueberhorst, Zurück zu Jahn? Gab es kein besseres Vorwärts, Bochum 1969, S.94ff. Maßmann hatte den Entwurf zur Begutachtung unter den Mitgliedern des Berliner Turnrats zirkulieren lassen (Hess. HStA Wiesbaden, Abt. 210, Nr. 12 542, B1.35 Rs/36). In einem Begleitschreiben begründete er die Notwendigkeit eines Organisationsstatuts mit folgenden Worten: „Da nun nach unserer Hoffnung und Glauben das Turnwesen sich

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2. Die frühe nationale Turnbewegung (1811-1819)

Entbehrte auch das Verhältnis der Turngemeinden untereinander jeder formellen, durch Vereinssatzungen festgelegten Regelung, so ermöglichte doch die Vielfalt der realen, in einem erheblichen Maße von Jahn angeregten und entwickelten sowie von der Spontaneität vieler Turngemeinden und einzelner Turner getragenen kommunikativen Kontakte, daß die Turngemeinden organisatorisch-formale, ideologische und aktionistische Identitäten und Affinitäten ausbildeten und in d.er Öffentlichkeit insgesamt den Eindruck einer weitgehend homogenen gesellschaftlichen Bewegung machten.

2.8.

Soziale Stellung der Turner

Mehr als naheliegend war es, daß Jahn seinen auf freiem gesellschafdichen Zusammenschluß basierenden Turnplatz-Erziehungsbetrieb mit Jugendlichen, die sich noch in Schulausbildung befanden, begann; hatte doch die pädagogische Reformliteratur den gymnastischen Unterricht ausschließlich als ein für Heranwachsende bestimmtes Erziehungsmittel behandelt. Aber Jahn mußte auch deshalb geneigt und bestrebt sein, die Jugend für das Turnen zu gewinnen, da er - über die Gedanken der Reformpädagogen zum Sinn und Zweck der Gymnastik hinausgehend körperlichen Übungen und Spielen eine herausragende vormilitärische Ausbildungsfunktion zuerkannte. Daß sein körpererzieherisches Experiment unter der Jugend großen Zuspruch fand, steht außer Zweifel. Der ganz überwiegende Anteil der in der Berliner Turngesellschaft Turnenden wurde von Schülern und Studenten gestellt. An dieser sozialen Beschaffenheit der Turngesellschaft änderte sich nichts bis zu ihrem Ende im Jahre 18 19 2 2 0 . Die soziale Herkunft der jugendlichen Hasenheide-Turner war aber nicht einheitlich. Keineswegs nur den gehobenen Gesellschaftsschichten entstammende Jugendliche zählten zu den Mitgliedern der Turngesellschaft. Schon für das Jahr 1811 konstatierte Bornemann eine jugendliche Turnerschar, die sich „aus allen Ständen" rekrutierte; „Zöglinge" „von der Privatschule bis zu den akademischen Hörsälen, vom Waisenknaben bis zum Fürstensohne" seien unter den Turnern vertreten 221 . Auch Jahn registrierte 1816, daß die in der Turngesellschaft dominante Gruppe der Schüler sich „durch alle Stände der bürgerlichen Gesellschaft" verbreite 222 . Nach Angaben Bornemanns aus dem Jahre 1814, deren Adresse das preußische Innenministerium war, gehörten dieser Gruppe nicht

220

221 222

über ganz Deutschland verbreiten wird und muß und dadurch eine All-Gemeinschaft, zumal der deutschen Jugend, geschlossen werde, und es ein Mittel seyn soll,... das deutsche Volk in Kraft und Liebe zu binden, so kommen uns eben diese unsere eigenen Verhältnisse in der Sache, wie wir alle in Zeit und Gott zusammengestellt, zusammenberufen und verbrüdert sind, für ein Ziel gemeinsam zu leben und zu wirken, so natürlich und leicht entgegen, die Verfassung zu verwirklichen, welche ich als die tauglichste ... aufgestellt" (ebd., Bl. 36). Die auf dem Turnplatz jährlich angefertigten, u.a. soziale Herkunft bzw. Beruf jedes Turners beinhaltenden Mitgliederlisten sind leider nicht überliefert (vgl. Anm. 121). Bornemann, Lehrbuch, S. 44. Jahn/Eiselen, S.XI.

Soziale Stellung der Turner

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alleine Oberschüler an 2 2 3 . In einem Bericht der Bezirksregierung Berlin vom 21. April 1818 an das preußische Kultusministerium wird die soziale Herkunft der 136 Turner, die während des IF/wte/halbjahres 1 8 1 7 / 1 8 in der Berliner Turngesellschaft Übungen betrieben, wie folgt angegeben: 58 von ihnen seien „Söhne von Vätern höherer Stände". 54 stammten von Vätern „mittlerer" und 24 seien Abkömmlinge von Vätern „niederer Stände" 2 2 4 . 1824 konnte Jahn darauf verweisen, daß aus den ehemaligen Turnern, die sich in schulischer und universitärer Ausbildung befunden hatten, nicht nur Beamte, Offiziere, Lehrer, Prediger, Ärzte und Künstler geworden waren, sondern auch Kaufleute und Handwerker 2 2 3 . Was für die soziale Herkunft der auf der Hasenheide turnenden Schüler und Studenten zutraf, galt auch für den sozialen Stand der in der Turngesellschaft befindlichen berufstätigen Erwachsenen, nachdem J a h n diesen durch die Einführung des sonntäglichen Turnens im Jahre 1812 den Zutritt erleichtert hatte. Zu ihnen gehörten Lehrer und Offiziere, aber ebenso Angehörige des Mittelstandes. Bereits 1812 befanden sich - laut Auskunft Dürres - Kaufleute und Schreiber unter den „älteren Sonntagsturnern" 2 2 6 ,18 1 4 waren u.a. mehrere Handlungsgehilfen Mitglieder der Turngesellschaft. Die Zahl der im Beruf stehenden Erwachsenen innerhalb der Turngesellschaft dürfte in den ersten Jahren nicht sehr erheblich gewesen sein - am 15. Juli 1814 turnten 24 einen Beruf ausübende junge Männer auf dem Turnplatz - 2 2 7 , jedoch stieg sie allmählich an. Jedenfalls konnte Eiselen 1816 in seinem Tagebuch vermerken, „Turnwesen und Tumleben" würden „jetzt immer allgemeiner", und zu seiner „großen Freude" schienen „auch die Erwachsenen immer mehr Antheil daran zu nehmen . . . " 2 2 8 . Franz Lieber bescheinigte im Jahre 1818 den in der Berliner Turngesellschaft turnenden Handwerkern ein besonderes Engagement für die Turnsache. Die unter Leitung Jahns von einer „Turnfahrt" nach Schlesien zurückkehrende Turnerschar sei nahezu von allen Handwerkern, „die nur des Sonntags turnen können" und „gerade den regesten Geist zeigen", vor den Toren Berlins begrüßt worden 2 2 9 . In dem schon angeführten Bericht der Berliner Bezirksregierung an das Kultusministerium werden die im B*7»i«halbjahr 1 8 1 7 / 1 8 den Berliner Turnbetrieb bestreitenden 136 Turner beruflich-soziologisch folgendermaßen aufgeschlüsselt: Sie setzten sich zusammen aus 33 Studenten, 62 Gymnasiasten, 5 Schülern aus Privatanstalten, 14 Künstlern, 9 Handwerkern, 8 Lehrern, 4 Offizieren und einem Kaufmann. 4 der Turnenden waren unter 14, 72 zwischen 14 und 18, 27 zwischen 18 und 20, 33 über 20 Jahre alt. Der jüngste war 13 Jahre, der älteste 25, das Alter eines Turners ist nicht angegeben 2 3 0 . D e r in der Berliner Turngesellschaft zu beobachtende soziologische Trend findet sein Pendant in mehreren der nach 1815 entstehenden Turngemeinden. Viele der wie Pilze aus dem Boden schießenden Gemeinden waren zwar von Anbeginn bis 223 224

225 226 227 228 229 230

Nach Neuendorff, Bd.II, S. 175. Vgl. Ein amtlicher Bericht über Friedrich Ludwig Jahn und sein Turnen aus dem Jahre 1818, in: Deutsche Turn-Zeitung, Jg. 1887, Nr. 30, S.434. Jahn, Selbstverteidigung, in: Euler,Jahns Werke, Bd.II, l,S.298f. Dürre, S. 91. Neuendorff, Bd. II, S. 175. Eiselen, Tagebuch, S. 67. Des Berliner Turners Franz Lieber's ,Die Farth nach Schlesien im Jahre 1818 ...', S.690. Ein amtlicher Bericht über Friedrich Ludwig Jahn und sein Turnen, S.434.

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2. Die frühe nationale Turnbewegung

(1811-1819)

zu ihrem Ende im Januar 1819 reine Schüler-Turnvereinigungen, in denen oft nur Schüler einer Lehranstalt turnten; in einer keineswegs geringen Zahl der Turngesellschaften turnten aber bald zahlreiche Berufstätige und nicht nur solche mit g e hobenen' Berufen. Junge Erwachsene mit kaufmännischen und handwerklichen Berufen waren auf einer ganzen Reihe von Turnplätzen zu finden. Auch in der handwerklichen oder kaufmännischen Ausbildung befindliche junge Leute schlössen sich den Turngemeinden an. In Breslau z. B. turnten neben Studenten, Seminaristen, Schülern, Volksschullehrern und Professoren Handwerker und Kaufleute. Von den 570 Breslauer Turnern des Jahres 1818 waren immerhin 120 nicht mehr in der Ausbildung. 59 davon waren Volksschullehrer 2 3 1 . In Neubrandenburg turnten Schüler, junge Advokaten und Kandidaten Seite an Seite mit Handlungs- und Apothekerlehrlingen 2 3 2 . Lehrer vereinigten sich mit Soldaten, Kaufleuten und Handwerkern in der Turngesellschaft Mühlhausen (Thüringen) 2 3 3 . Aus Schülern, Offizieren, Handwerksgesellen und Kaufleuten bestand die Turngemeinde in Minden 2 3 4 . In Darmstadt versammelten sich Schüler, Künstler, angehende Beamte und junge Kaufleute auf dem Turnplatz 2 3 5 . Der Kölner und der Bonner Turngesellschaft hatten sich außer Schülern auch „junge Kaufleute" angeschlossen 2 3 6 . In der Hamburger Turngesellschaft waren von Anfang an ebenfalls Oberschüler und junge Kaufleute organisiert 2 3 7 . In der Erfurter Turngemeinde turnten ,.nicht blos Jünglinge, sondern auch Männer aus verschiedenen Berufsständen" 2 3 8 . Die von Burschenschaftern gegründeten Turnplätze waren alles andere als studentische Turnreservate: In der Gießener Turngesellschaft waren neben Studenten Gymnasiasten und junge Kaufleute Mitglieder 2 3 9 ; in der Tübinger Turngemeinde gab es außer den Burschenturnern turnende Schüler und junge Leute, die im Berufsleben standen 2 4 0 .

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232 233 234 235 236 237 238 239

240

Des Berliner Turners Franz Lieber's ,Die Farth nach Schlesien im Jahre 1818 ...', S.688; Neuendorff, Bd. II, S.332. Timm, S. 94. Heise, S. 29. Ebd., S. 31 f. Thierolf, S.2. Hess. HStA Wiesbaden, Abt. 210, Nr. 12 542, Bl. 30 Rs. Schulze, S. 3. Hess. HStA Wiesbaden, Abt. 210, Nr. 12 542, B1.31. Zettler, Aus dem romantischen Zeitalter des deutschen Turnens. Karl Folien und die Schwarzen, S.45. Heise, S. 34; Hermes, S. 3.

2.9.

Nationale Ideologie und nationales Ritual der frühen Turnbewegung

2.9.1.

Konstanz der nationalideologischen Grundpositionen Jahns im 2. Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts. Ihre Übertragung auf die Turnbewegung - Methoden und Mittel

Im Jahre 1810, als Jahn mit den ersten, die Turnplatzgründung vorbereitenden Turnexperimenten in Berlin begann, veröffentlichte er sein „Deutsches Volksthum". Wie nachgewiesen werden konnte, war das Buch ein beredtes Zeugnis für Jahns fortgeschrittenen nationalideologischen Entwicklungsstand. Zum einen offenbarte die umfangreiche Schrift, daß ihr Autor - in Übereinstimmung mit anderen sich durch Wort und Schrift artikulierenden Patrioten (Luden, Fichte, Schleiermacher, Arndt) - einem durch die Faktoren Natur, Geschichte, Kultur und Sprache geformten Nationsverständnis anhing. Zum anderen war ein politisches Nationsbewußtsein, nämlich 1) der Gedanke an die staatlich geeinte deutsche Nation und 2) die Vorstellung der mitbestimmenden Einbeziehung der Nation in den Bereich der politisch-staatlichen Verantwortung und Entscheidung, das für die Abfassung des Buches entscheidende nationale Bewußtseinselement. Jahn blieb seinen im „Deutschen Volksthum" geäußerten, auf Nation und Nationalstaat bezogenen Ideen auch in den folgenden Jahren treu und wurde nicht müde, für sie in Briefen, Gesprächen und Reden zu werben. Seine ideologische Grundsatztreue schloß nicht aus, daß er gewissen Gedankenelementen seines nationalen Ideenkonglomerats seit den Befreiungskriegen bzw. seit 1815 in einer besonders aggressiven oder leidenschafdichen Form Ausdruck verlieh. Ab 1813 kam die antifranzösische Komponente seines Nationalismus in einer scharfen, unversöhnlichen Sprache zur Geltung. Auch nicht die Niederlage der Franzosen und die Abdankung Napoleons vermochten dies zu mildern2'". Selbst unmittelbar nach dem Wiener Kongreß kompensierte er seine Enttäuschung und Verbitterung über die Nichterfüllung der von ihm gehegten nationalen Wünsche und Hoffnungen durch einen verbal stark artikulierten Franzosenhaß242. Bald nach 1815 trat jedoch die innenpolitische Stoßrichtung seines Nationalismus mit steigender Vehemenz zutage, auch wenn dessen frankophobes Element nie verschwand. Jahn wurde sich mehr und mehr bewußt, daß die Gegner eines mit einer freiheitlichen Verfassung ausgestatteten deutschen Nationalstaates nunmehr in Deutschland selbst zu su-

241

242

In einer im Dezember 1813 verfaßten und Anfang 1814 veröffentlichten Schrift mit dem Titel „Runenblätter" bezeichnete Jahn Frankreich als „Erbfeind" und „Erzfeind" (Euler, Jahns Werke, Bd.I., S.418). 1 8 1 5 schrieb Jahn in das Stammbuch der Wartburg: „Der Baum fällt nicht auf einen Hieb, das Wasser steigt nicht mit einem Hub. Den Deutschen kann nur durch Deutsche geholfen werden;... Neuerdings ist die ganze Welt zusammengetrommelt worden, vom Ural und Kaukasus bis zu Herkules Säulen, um die Franzosen zu zwingen. Nun hat Gott den Deutschen den Sieg gegeben; aber alle ... Mitesser wollen Deutschland bevormunden. Deutschland braucht einen Krieg auf eigene Faust, - um sich in seinem Vermögen zu fühlen; es braucht eine Fehde mit dem Franzosentum, um sich in ganzer Füller seiner Volkstümlichkeit zu entfalten ... Deutschland über Welschland!" (ebd., Bd. II, 2, S. 1003).

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2. Die frühe nationale Turnbewegung

(1811-1819)

eher» waren. Voll Bitterkeit registrierte er, daß sich die deutschen Fürsten - einschließlich des preußischen Monarchen - einer Politik der nationalstaatlichen Einigung versperrten und daß der preußische König nach Befreiung des Landes von ausländischem Zwang nicht mehr bereit war, den politischen Reformkurs fortzusetzen und sein vor den Befreiungskriegen gegebenes Verfassungsversprechen zu halten. Mit großem Bekennermut und polemischer Schärfe, ja mit Ironie und Sarkasmus setzte er sich in Briefen, Gesprächen und Reden gegen die allmählich erstarkende innenpolitische Reaktion zur Wehr. Er betrachtete sich als einen von mehreren für die Interessen der Nation streitenden „freiwillige(n) Sprecher", die nach seiner Meinung von „gewählten Worthaltern" (Volksvertretern) sobald wie möglich abgelöst werden müßten 2 4 3 . Bei seinen verbalen Attacken verschonte er weitgehend die deutschen Fürsten mit direkter Kritik, geißelte dafür aber um so heftiger die reaktionäre Gesinnung von Ministern, hohen Staatsbeamten und Publizisten. Er verband diese Angriffe mit einem leidenschaftlichen Plädoyer für eine Umgestaltung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland im freiheitlich-nationalen Sinne, ohne dabei ein Hehl aus seiner Sympathie für die Hohenzollern-Dynastie zu machen 2 4 4 . Z u m wichtigsten und permanenten Adressaten seiner nationalen Uberzeugungsarbeit machte J a h n die Turnbewegung, so daß diese in erheblichem Maße die unpolitischen und politischen Ideologie-Elemente seines Nationalismus rezipierte. Nicht zu Unrecht erschien der Öffentlichkeit und den Regierenden die Turnbewegung demzufolge mehr und mehr als eine gesellschaftliche Kraft, die von Jahn ideologisch maßgeblich geformt und gelenkt wurde. Die Übernahme des Jahnschen Nationalismus durch die frühe Turnbewegung geschah jedoch zum Teil auf informelle Weise. So kam es in der frühen Turnbewegung nicht zur schriftlichen Fixierung eines politischen Programms. Dieser Umstand darf freilich den Blick für die ausgesprochen politischen Tendenzen der frühen Turnbewegung nicht verstellen. Sowenig wie die vielfältigen kommunikativen Beziehungen zwischen den Turngesellschaften durch die Abfassung eines Organisationsstatuts eine formale 243 244

Jahn an Th. Müller v. 17.1.1817, in: Meyer, S.72. Ein konkretes Beispiel für den diesbezüglichen rednerischen Aktivismus Jahns siehe unten S.91 f. Jahns Brief vom 24.8.1816 an den in der Schweiz lebenden deutschen Erzieher Theodor Müller ist ein Beispiel dafür, wie sich in den nach 1815 von Jahn verfaßten Briefen dessen brennender Wunsch nach Schaffung einer Volksvertretung und Gewährung einer Verfassung sowie sein originäres und teilweise unbändiges Bedürfnis, die Gegner solcher Veränderungen mit beißendem Spott zu überziehen, niederschlug: „... Hier in Deutschland leben wir auf die alte Weise. Das alte Lied aus Faust: ,Den Bösen sind sie los, die Bösen sind geblieben ... Dadurch, daß die Fürsten und Könige keine Anwartschaft des Volkes gründen und nur mit Schranzen und Franzen, mit Hungerern und Lungerern, mit Kämmerern und Kümmerern, mit Schreibern und Neidern verkehren, kommen sie aus der menschlichen Allwissenheit in die Alldummheit und aus der Allgegenwart in die Allgefangenschaft. Wer nicht die Weisen hört, der muß den Narren gehorchen ... Alle unsere verfassungswidrigen Minister sind alte Buhlerinnen, die junge Schöne sein wollen. Minister, Philister, Viel frißt er, Wenig liest er, Und was er liest, vergißt er ..." (Meyer, S.69 f.). In einem Brief vom 3.10.18 an Geheimrat Schweitzer spricht Jahn von dem „verfassungsscheue(n) Staatsgesinde", das vom Volke nichts hoffe, aber alles fürchte (ebd., S.99). An v.Türk schrieb Jahn am 30.8.16: „Die Leutlein wissen kaum, daß jede Regierung nur mit Vorspann des Volks fährt und meinen: Ein Staat ließe sich durch eine Dampfkunst verwalten. Daß alle Biedermänner im Frieden freiwillige Verwalter sind, ahnen sie noch nicht" (ebd., S.86).

Konstanz der nationalideologischen Grundpositionen Jahns

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Grundlage erhielten, sowenig schlug sich der politische Nationalismus der frühen Turnbewegung in einem schriftlichen Programm nieder, das konkrete politische Forderungen enthielt. Deshalb aber zu vermuten, der politische Nationalismus sei in der frühen Turnbewegung eine ideelle Triebkraft von untergeordneter Bedeutung gewesen, wäre verfehlt. Im folgenden sollen diejenigen Umstände, Mittel und Aktivitäten in knapper Aufreihung genannt werden, denen es die frühe Turnbewegung verdankt, daß sie eine nationale Bewegung wurde, eine Bewegung, welcher ein Nationalismus zuwuchs, der eine sowohl kulturell- als auch politisch-ideologische Prägung besaß. Um den Nationalsinn unter den Berliner Turnern zu entfachen und ihn wachzuhalten, hielt Jahn vor den Turnern kurze .nationale Ansprachen', oder er las ihnen Passagen aus dem „Deutschen Volksthum" sowie aus den Werken anderer Patrioten vor. Zu diesem Zweck kamen die Mitglieder der Berliner Turngesellschaft während der Turnpausen auf dem „Tie" zusammen, einer separaten Versammlungs- und Kommunikationsstätte inmitten des Hasenheide-Turnplatzes 245 . Gespräche, die Jahn mit einzelnen Turnern oder mit Turngruppen während der Turnstunden oder bei anderen Gelegenheiten führte und in denen nationale Fragen erörtert wurden, taten ein übriges, um nationales Bewußtsein zu bilden und zu festigen. Die Unterhaltungen im kleinen Kreis hatten oft einen noch größeren politischen Gehalt als die quasi offiziellen Ansprachen und Rezitationen auf dem Tie. Gerade die ,Elite-Turner' wurden von Jahn in besonderem Maße politisch-ideologisch geformt, so daß sie, erhielten sie Führungsaufgaben in einer anderen Turngemeinde zugewiesen, die nationalideologische Schulung der ihnen anvertrauten Turnerschar - dem Jahnschen Vorbild entsprechend - mit Erfolg betreiben konnten. Am Prozeß der nationalen Bewußtseinsweckung und -Vermittlung in Tochterturngemeinden war Jahn in einigen Fällen höchstpersönlich beteiligt. Jahn nutzte die von ihm geleiteten „Turnfahrten" dazu, den von den Berliner Turnern aufgesuchten Turngemeinden seine nationalen Vorstellungen in intensiven Gesprächen und wirkungsvollen Vorträgen zu vermitteln 246 . Zudem sorgte Jahn dafür, daß in 243

246

Jahn bezeichnete den „Tie" in der „Deutschen Turnkunst" als „Versammlung(s)-, Erholung^)-, Unterhaltung^)- und Gesellschafts-Platz". Er unterließ es nicht, darauf hinzuweisen, daß „natürlich jeder Turnplatz" einen der Größe der Turngesellschaft entsprechenden „Tie" haben müsse (Jahn/Eiselen, S. 229). Belege für die genannten Methoden und Formen nationaler .Agitation' unter den Turnern in: Hess. HStA Wiesbaden, Abt. 210, Nr. 12 542, Bl.45/45 Rs, 47, 49, 91 Rs. u. 93 Rs.; Dürre, S.81 u. 94; Pröhle, S. 164 f.; Timm, S. 102 f.; Des Berliner Turners Franz Lieber's ,Die Farth nach Schlesien im Jahre 1818 ...', S.640 u. 688ff.; Wolfgang Menzel's Schilderung seines Turnlebens zu Breslau in den Jahren 1817 und 1818, S. 3 f. Vgl. auch die Bemerkung im Bericht der Zentralen Untersuchungskommission, es sei nicht zu bezweifeln, „daß Jahns Unterhaltungen und Vorträge von verderblichem Einflüsse auf den Geist der Tumjugend waren, und mit Recht mögen daher einige Lehrer zu Berlin hierin einen Hauptgrund der politischen Schwärmerei suchen, die vorzüglich unter den Schülern des grauen Klosters, wo Jahn früher gelehrt hatte, bemerkbar wurde ..." (Hess. HStA Wiesbaden, Abt. 210, Nr. 12 542, B1.50). - Sowohl bei „Turnfahrten" als auch in Berlin konnte es geschehen, daß Jahn Vorlesungen mit nationalem Inhalt vor einem Zuhörerkreis hielt, der nicht nur aus Turnern bestand, sondern, der sich auch aus einer großen Zahl anderer Personen zusammensetzte, die ein Interesse für die Jahnschen, die Gegenwart und die Zukunft der Nation betreffenden Erörterungen aufbrachten.

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2. Die frühe nationale Turnbewegung

(1811-1819)

der Turnbewegung der deutsch-patriotische Gesang heimisch wurde, der sich als ein besonders erfolgreiches Mittel zur Ausbildung von nationalem Bewußtsein unter den Turnern erweisen sollte 247 . Im übrigen war das dichtgeknüpfte Kommunikationsnetz der frühen Turnbewegung die beste Garantie dafür, daß sich so gut wie alle Turngemeinden zu nationalen Gesinnungsgemeinschaften entwickelten und sich identischer nationaler Ausdrucksformen bedienten 2 4 8 . Daß es Jahn gelang, in vielen der ihn umgebenden und mit ihm in Berührung kommenden jungen Turnern ein glühendes Nationalgefühl und in manchen von ihnen einen wahren nationalen Missionseifer zu entfachen, beruhte nicht unwesentlich auf seiner persönlich-fesselnden Art und seinem natürlich-direkten, ungekünstelt-derben Wesen, seiner extremen Begeisterungsfähigkeit und überdurchschnittlichen menschlichen Ausstrahlungskraft. Jahns starke Emotionalität, sein ausgeprägter Sinn für unkonventionell-natürliche Lebens- und Verhaltensformen und seine Neigung, diese zu praktizieren, schlugen die Jugend in ihren Bann 2 4 9 . Es war für Jahn deshalb ein leichtes, „Natürlichkeit" und „Ursprünglichkeit" zu Erkennungs- und Wesens-Merkmalen der nationalen Turnbewegung zu machen. Natürlich-ungezwungen waren die Umgangsformen der Turner untereinander. Auf das vertrauliche „Du" in der Anrede - auch zwischen jüngeren und älteren Turnern - legte Jahn großen Wert. Diese Form der Anrede wurde in der Turnbewegung üblich 250 . Natürlich-schlicht und einheitlich, von den ständisch differenzier-

247 248 249

250

Siehe hierzu ausführlich S. 94 ff. dieser Arbeit. Vgl. S.74 dieser Arbeit Der Berliner .Eliteturner' Eduard Dürre, der als langjähriges Mitglied der Berliner Turngesellschaft und als Angehöriger des Lützowschen Freikorps, in dem Jahn Offizier gewesen war, genügend Gelegenheit hatte, Jahns Wirkung auf Menschen zu beobachten, charakterisierte ihn in seinen Memoiren als einen Mann, der die Aura eines Volksführers besessen habe (Dürre, S. 94). Der Breslauer Naturphilosoph Henrich Steffens, der Jahn und den Hasenheide-Turnplatz 1817 kennenlernte und der - erschrocken von den Wirkungen, die er von einer selbständigen, keinem staatlichen Reglement unterworfenen Bewegung ausgehen sah - in einer Streitschrift Jahn und die Turner massiv angriff, registrierte an Jahn „etwas ... Ursprüngliches". In seinem „derben Wesen" habe man ein ,,gährende{s) Chaos" wahrnehmen können, das Jahn zusammen mit der „innere(n) Unendlichkeit" der von ihm „entschieden ergriffenen einseitigen Richtung" bedeutenden Einfluß auf Knaben, Jünglinge und Familienväter habe gewinnen lassen; ein Einfluß, der - wie Steffens konzedierte - schließlich zu einer „Regeneration des Volkes" geführt habe. „Ein Mann, der eine solche Macht ausübte, war mir", so gestand Steffens in seinen Lebenserinnerungen, „schon als ein solcher, als ein mächtig geschichtlicher Naturgegenstand anziehend und wichtig". Aber gleichzeitig sei ihm eben diese von Jahn ausgeübte Macht „grauenhaft" erschienen (H. Steffens, Was ich erlebte, Breslau 1843, Bd. 8, S. 306 ff.). Zwei weitere Zeugnisse für die schwärmerische Verehrung und Bewunderung, die Turner Jahn entgegenbrachten, sind schriftliche Äußerungen von Dr. Jung und von dem Studenten Carl Ulrich. Jung schrieb im September 1817 aus Berlin an den Auscultator Kretzschmer in Breslau: „Ich fühle mich überaus glücklich in dem recht genauen Umgang mit Jahn, dem wahren, reinen Urbild für alle kommende teutsche Größe" (Hess. HStA Wiesbaden, Abt. 210, Nr. 12 542, Bl. 109). Ulrich bemerkte in einem undatierten Schreiben an den gleichen Adressaten: „Gibt Gott Leben und Gesundheit, so ziehe ich künftige Ostern nach Bonn zu Arndt und Görres. Weiter hierin reicht mein Auge jetzt nicht. Bis dahin bleibe ich bei Jahn. O, Freund! diesen Herbst wirst du ihn sehen! Freue dich! Der Anblick wird etwas in dir vorgehen lassen, ungefähr als wärst du bei Leipzig geblieben und zögst nun ein in Wallhalla ..." (ebd.). Hess. HStA Wiesbaden, Abt. 210, Nr. 12 542, B1.32 Rs. u. 38 Rs./39.

F. Liebers Turnfahrt-Bericht

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ten Kleidersitten der Gesellschaft sich abhebend, war die Kleidung, die Jahn unter den Turnern einführte. Bei Turn-Übungen, -Fahrten und -Festen trugen die Turner die „Turntracht", d.h. eine Jacke und Beinkleider aus grauer ungebleichter Leinwand 251 . Jahns Idee einer deutschen „Volkstracht", die er schon im „Deutschen Volksthum" der Öffentlichkeit unterbreitet hatte 2 5 2 , dürfte bei der Einführung der „Turntracht" Pate gestanden haben. Von seinem Bedürfnis nach natürlicher Lebensgestaltung waren auch Jahns wiederholte Mahnungen an die Turner diktiert, sich in Eß- und Trinkgewohnheiten Mäßigkeit aufzuerlegen. Auf dem Turnplatz wurde nach dem Willen Jahns in den Turnpausen nur trockenes Brot gegessen und Wasser getrunken 2 5 3 . Die sich am Rande des Berliner Turnplatzes bald nach dessen Eröffnung einfindenden Kuchenbäcker straften die Turner mit Verachtung. Gegner der Turnbewegung wurden von ihnen pauschal als „Kuchenbäcker" beschimpft 2 5 4 . Jahn übertrug der Turnbewegung aber nicht allein deshalb die Rolle einer Erneuerin und Hüterin natürlicher Verhaltens- und Lebensformen, weil ein natürlicher Lebensstil Jahns persönlichem Wesen und ureigenen Bedürfnissen entsprach: „Natürlichkeit" war für Jahn nicht nur ein individuelles, sondern - wie wir schon feststellen konnten - ein nationales Wesensmerkmal. Dem Sonderungsprinzip der Natur verdankten die Nationen ihre Existenz, und die deutsche Nation habe sich von den Völkern der Neuzeit am ehesten den Zugang zu ihrer natürlichen Ursprünglichkeit bewahrt. Dies war die erklärte Auffassung Jahns und der anderen patriotischen Wortführer schon in den ersten Jahren nach Jena und Tilsit 2 5 5 . Was lag für Jahn angesichts dieser patriotischen Grundüberzeugung näher, als in der von ihm ins Leben gerufenen nationalen Bewegung „Natürlichkeit" als Verhaltens- und Lebensnorm einzuführen? Da die Natur nach Meinung Jahns die Gebärerin der Nation war und diese, wollte sie lebensfähig bleiben, stets von natürlichen Kräften durchdrungen sein müsse, glaubte Jahn, daß praktizierte „Natürlichkeit" wesentlich zur Begründung eines wahrhaftigen und dauerhaften Nations-Gefühls und -Verständnisses bei den sich ihm anschließenden Schülern und jungen Männern beitrug.

2.9.2.

F. Liebers Turnfahrt-Bericht - ein beispielhaftes Dokument für Nationalbewußtsein und Nationalgefühl der Turner

Die besten Möglichkeiten, seinen Turnern den Sinn für den Zusammenhang von Nation und Natur zu schärfen, ihnen Bewußtsein und Gefühl für das Verquicktsein des deutschen Volkes mit der Natur des Landes, in dem es lebt, zu vermitteln und ihnen den Blick für die natürlichen Qualitäten und Besonderheiten des „deutschen Vaterlandes" zu öffnen, boten nach Auffassung Jahns die „Turnfahrten". Aber nicht nur wegen der Begegnungen mit der Natur waren sie besonders geeignet, den Turnern nationales Fühlen und Denken zu vermitteln. Solche Wanderfahrten 251 232 253 254

255

Jahn/Eiselen, S.226; Hess. HStA Wiesbaden, Abt. 210, Nr. 12 542, B1.38 Rs. Vgl. oben S.39. Jahn/Eiselen, S.230. [Bornemann], Turnplatz, S.26; Des Berliner Turners Franz Lieber's ,Die Farth nach Schlesien im Jahre 1818 ...', S.640. Vgl. oben S. 24 f.

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2. Die frühe nationale Turnbewegung

(1811-1819)

bargen noch andere wichtige nationale Emotionen und nationale Gedanken fördernde Faktoren in sich. In welcher Weise J a h n Turnfahrten zur Aktivierung des nationalen Bewußtseins und der nationalen Gefühle der ihn begleitenden und ihm begegnenden Turner nutzte, in welchen Formen die wandernden Turner ihrer nationalen Gedanken- und Gefühlswelt Ausdruck verliehen und aus welchen ideologischen Komponenten sich das Nationalbewußtsein der Turner zusammensetzte, dies vermag beispielhaft ein konkreter, von einem Beteiligten niedergeschriebener Turnfahrt-Bericht zu erhellen. Gemeint ist die aus dem Jahre 1818 stammende, sehr ausführliche und detaillierte Turnfahrt-,Reportage' des Berliner Turners Franz Lieber 2 5 6 über die Wanderfahrt einer Gruppe von Hasenheide-Turnern nach Schlesien 2 3 7 . Der zum Zeitpunkt des Unternehmens gerade 20 Jahre alte Gymnasiast Lieber schrieb seinen in einer lebendigen Sprache verfaßten Bericht unmittelbar nach der Fußreise und noch ganz unter ihren Eindrücken stehend nieder. Adressat des Berichtes war die Berliner Turngesellschaft: Die .Reportage' sollte den an der Turnfahrt nicht teilnehmenden Berliner Turngenossen auf dem Tie vorgelesen werden. Nicht nur die Erlebnisschilderung Liebers, auch die Reflexionen, die er in seinem Bericht anstellt, bieten interessante Aufschlüsse, zumal es im wesentlichen Meinungen waren, die von Jahn stammten und von vielen Turnern geteilt wurden. Lieber eröffnete seinen Bericht mit der Feststellung, er könne nicht alle „Höhen, Berge, Felsen, Steine, Wasserfälle, Schluchten, Abgründe, Thäler, Flüße, alle Wiesen, Wälder, Gefilde und Auen, jede Schönheit" des „lieben Vaterlandes" „beschreiben", die sie gesehen hätten. Es reiche „kein süßes Gethu und kein stolzer Wortschwall gegen die Wirklichkeit", da helfe „nichts als ,geh hin und siehe selbst z u ' " 2 5 8 . Dennoch gab Lieber eine Vielzahl von Landschafts- und Natureindrücken wieder. Er schilderte außerdem, wie Jahn den Turnern wiederholt erd- und naturkundliche Vorträge hielt und ihnen am konkreten Beispiel die Zusammenhänge zwischen der natürlichen Beschaffenheit des Landes einerseits und den Siedlungseigenschaften und der Gewerbetätigkeit seiner Bewohner andererseits demonstrierte. Dort, wo die Turner während der Wanderfahrt erlebten, daß die „freie Natur" durch menschlichen Unverstand oder menschliches Fehlverhalten „gequält" wurde, wie sich Lieber ausdrückte, registrierten sie im gleichen Augenblick unausgesprochen einen nationalen Makel. So etwa, wenn sie „eine neuerbaute Burg, die alt aussehen soll[te]", wahrnahmen. Ihre Erbauer mußten ihnen als jämmerliche Imitatoren einer vergangenen Epoche und nicht als ursprüngliche, mit den Schöpferkräften der Natur und der Nation im Einklang stehende Geister erscheinen. Oder wenn ihnen der Turnbewegung fern stehende Schüler als „geschniegelte und bestrickte Jungherren" begegneten, nahm sich deren Erscheinen in ihren Augen als ein Verstoß gegen Natur und „Volksthum" aus. Wiederholt legte Jahn den Tur256

257 258

In späteren Jahren machte Lieber eine beachtliche wissenschaftliche Karriere im Ausland. 1827 emigrierte er in die Vereinigten Staaten, wo er die 13bändige Encyclopedia Americana herausgab (1829ff.), 1835 Professor für Geschichte und politische Ökonomie in Columbia (South-Carolina) und 1857 Professor am Columbia College in New York wurde. Vgl. A. Kirsch. Franz Lieber. Turner, Freiheitskämpfer und Emigrant 1798-1830, phil. Diss. Köln 1952, S.69,82, 97 u. 101. Vgl. oben Anm. 201. Des Berliner Turners Franz Lieber's ,Die Farth nach Schlesien im Jahre 1818 ...', S.638. Die Quelle für folgende Ausführungen und Zitate ebd., S.639,687 u. 689.

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nern der schlesischen Turngemeinden, die er und seine Berliner Begleiter aufsuchten, ans Herz, sich im Umgang miteinander natürlich-ungezwungen zu verhalten. Er mahnte sie, „einander D u zu nennen" und auch ihn mit Du anzureden, „wie's deutsch ist". Die Liegnitzer Turner „warnte" er, „wenn sie älter würden", „sich nicht ... vom Vornehmthum verführen zu lassen". Die Möglichkeit der Begegnung mit deutscher Geschichte war für J a h n ein zweiter Grund, warum ihm Turnfahrten besonders geeignet erschienen, das nationale Bewußtsein seiner Turner fest und dauerhaft zu begründen. Da Jahn der Meinung war, daß die durch Natur geschaffene Nation ihre Eigentümlichkeit erst im Prozeß der Geschichte deudich hervorkehre und entwickle und in ihm durch individuelle und kollektive Taten ihre spezifische Leistungsfähigkeit unter Beweis stelle 2 5 9 , betrachtete er es als unumgänglich, in seinen Turnern Interesse für die deutsche Geschichte zu wecken. Betonte Lieber, bei Turnfahrten gebe es oft Gelegenheit, „etwas aus der Geschichte zu erzählen", und richtete er an die Leser oder Zuhörer seines Berichts die Mahnung: „... lest recht v i e l . . . in eures Volks Geschichte", so plagiierte er mit Sicherheit Aussagen Jahns 2 6 0 . Schon im einführenden Teil seines erlebnis- und ausdrucksstarken, mit tiefer innerer Anteilnahme und Bewegung geschriebenen Berichts schlug Lieber - gleichsam zur Einstimmung - das Thema .Geschichte und Nation' an. „Stätten wollten wir sehen", bekundete er emphatisch, „wo die Altvordern lebten und liebten, wo sie kämpften und stritten. Wahlfelder wollten wir bewandern, wo Freie Männer Leib und Leben Gut und Blut für deutsche Freiheit in die Schanze schlugen." Der Jugend stehe es wohl an, „da ihre ... W e i h e zu empfangen, wo der Väter Blut die Aue tränkte". Reichlich war dann auch die Zahl solcher vaterländischer Weihestätten, die die Berliner Turner auf ihrer Wanderfahrt in Augenschein nahmen. Und an jeder von ihnen wußte J a h n seine jungen Turngenossen mit historischen Erläuterungen zu fesseln. Im Orte Wahlstatt bei Liegnitz gedachten sie der Schlacht Herzog Heinrichs II. von Schlesien gegen die Mongolen im Jahre 1241 und studierten einen Bericht über die „Tartarschlacht". Obwohl viele Deutsche ihr Leben hätten lassen müssen und die Mongolen das Feld behaupteten, sei - wie Lieber bemerkte - ihr „Blutstrom" nicht „vergebens" gewesen; sie blieben „Zeugen deutscher Freiheit" und hätten „Sieg und Leben ... im Tode". In dem Dorfe Starzeddel bei Guben machte Jahn seine Weggefährten darauf aufmerksam, daß Wallenstein in diesem Orte „sein erstes Heer aufrüstete), da er gegen den Mannsfelder zog". Es war für J a h n eine Gelegenheit, „noch manche schreckliche Geschichte von Wallensteins Grausamkeit und vom ganzen 30jährigen Kriege" zu erzählen, „den er", wie sich Lieber voll Anerkennung äußerte, „so kennt, als hätt er in Augsburgischen Diensten gestanden". Nicht unweit von Kunersdorf (bei Frankfurt/O.), im Dorfe Leuthen (bei Breslau) und in der Gemeinde Kai (bei Liegnitz) konnte Jahn die Turner an Schlachten Friedrichs des Großen erinnern, die dieser in der Nähe oder an Ort und Stelle geschlagen hatte. Ein besonderes Anliegen Jahns war es jedoch, daß seinen Turnern - „den jungen Bothen des Volkes" (Lieber) - die Erinnerung an die Befreiungskriege, die für manche von ihnen selbst miterlebte Geschichte waren, nicht verschüttet wurde. Er führte sie deshalb zum Schlachtfeld an der Katzbach, auf dem die von Blücher 259 260

Vgl. Anm. 45 dieser Arbeit. Des Berliner Turners Franz Lieber^ ,Die Farth nach Schlesien im Jahre 1818 ...', S.641 u. 690. Zu den folgenden Ausführungen und Zitaten vgl. ebd., S. 638 ff., 686,688 f.

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und Gneisenau befehligten Preußen im August 1813 einen Sieg über die Franzosen errangen. Der Anblick des Kampffeldes berührte die -wandernden Turner tief. Nur in Versen vermochte Lieber seine Gefühle auszudrücken: „Was wir empfunden? - vermag es nicht./Was wir gesungen? das wißt ihr./Was wir gesehen? seht' auch - " . Schon einige Tage vorher, beim Besuch des Zobtenberges, hatte J a h n die Gedanken der Turner auf die Ereignisse des Jahres 1813 gelenkt. Der Genus loci inspirierte ihn, seine jungen Freunde daran zu erinnern, daß „im Frühlingsjahre der Deutschen Freiheit" (Lieber) der Freiheitssänger Theodor Körner, er selbst und „viele Leute der Schwarzen Schaar" (gemeint war das Lützowsche Freikorps), „die unten im Städtlein Zopten lagen, oft oben ihr Wesen trieben". Er machte sie auf die Weinstube, „wo sie des Abends alle Tage voll, übervoll von Freude" Rat hielten, aufmerksam, und zeigte ihnen „den Stein, worauf Körner immer beim Befehl gestanden hatte". Als die Turner am nächsten Morgen, noch bewegt von den Erlebnissen des Vortages, ein Lied zu Ehren Scharnhorsts anstimmten, erzählte Jahn ihnen spontan dessen Lebenslauf. Indes war nicht unbedingt die Präsenz einer durch die Ereignisse der Freiheitskriege geweihten Stätte vonnöten, um Jahn dazu zu bringen, seine Kriegserlebnisse aus dem Jahre 1813 vor den Turnern auszubreiten. Schon wenn der Weg „durch einen sehr schönen Eichwald" führte, waren J a h n und der mitwandernde Liegnitzer Turnplatzleiter Schulze genügend angeregt, um von den „Farthen" der „schwarzen Schaar" zu erzählen. Der Anblick der Eichen, denen die Turner eine national-deutsche Symbolkraft zumaßen 2 6 1 , reichte aus, um die Sprache auf jenes preußische Kriegskorps zu bringen, das in den Augen seiner Angehörigen als deutsche Freischar galt, weil sich unter seiner Fahne Freiwillige aus ganz Deutschland versammelt hatten 2 6 2 . Den wachen Blicken, mit denen die auf Wanderschaft befindlichen Turner ihre Umgebung nach Zeugnissen aus den Freiheitskriegen hin durchforschten, konnte eine von den „gottlosen Franzosen" (Lieber) zerstörte Kapelle im Riesengebirge natürlich nicht entgehen. Lieber kommentierte den Anblick des geschändeten Gotteshauses mit den Worten, des „Feindes Niedertracht" sei „auch hier ... nicht m a l . . . nur auf einen Augenblick gedämpft" worden. Auch den „ungeheuren Schaden", den französische Truppen in einem Walde bei Bunzlau „angerichtet hatten", nahmen die Turner mit Empörung zur Kenntnis. Das Negativbild, das Lieber und die übrigen wandernden Turner von den Bewohnern des Nachbarlandes besaßen, war symptomatisch für die ganze Turnbewegung. Jahn hatte die Turner gründlich mit seiner Frankophobie infiziert. Aber nicht nur den aus der Zeit der französischen Besetzung und der Befreiungskriege stammenden Franzosenhaß deutscher Patrioten verstand Jahn in seinen Turnern lebendig zu erhalten, das Befreiungskriegs-Erlebnis insgesamt, also mit seinen überwiegend positiven Gefühls- und Bewußtseinsaspekten, lebte unter den Turnern weiter. Lieber schien mit dem Munde Jahns zu reden, wenn der Gymnasiast in seinem für die Ohren der Berliner Mitturner bestimmten Bericht beschwörend rief: .„Deutschland werde frei', so hat Gott gesprochen bei Leipzig, und in jedem Blutstropfen der geflossen, ists zu le261 262

Vgl. unten S. 98 f. Zur landsmannschaftlichen Herkunft der Angehörigen des Lützowschen Freikorps vgl. jetzt: R. Ibbeken, Preußen 1807-1813. Staat und Volk als Idee und in Wirklichkeit, Köln/Berlin 1970, S.449.

F. Liebers Tumfahrt-Bericht

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sen; aber der Jugend, euch! euch! liegt es anheim die Jahre 1813 und 14 und 15 in Ehren zu halten. Dank- und Denktage nicht in Werkeltagskrämerei umkommen zu lassen". Bemerkenswert ist, daß Lieber diesem, an seine Turngenossen gerichteten flammenden Appell fast unmittelbar die Ermahnung folgen läßt, ohne Unterlaß zu turnen, und daß er in Verbindung mit der Aufforderung auch die Zwecke nennt, die nach seiner Ansicht das Turnen erfülle: „Rastlos müßt ihr turnen, damit ihr Leiber bekommt, die einst freien Männern ziemen, zu allem Wandern und schweren Kriegsmärschen gerecht; damit ihr euch kennen lernt, und endlich einseht wie herrlich es ist, einen Freund zu haben, sein ganzes Volk zu lieben". Nicht nur eine vormilitärische Ausbildungsfunktion also sollte das Turnen erfüllen, es sollte auch die für ausgiebige Wanderfahrten notwendige physische Kraft und Ausdauer vermitteln. Den Nutzen der Wanderungen aber erblickte Lieber, der sich auch in dieser Hinsicht als gelehriger Schüler Jahns erwies, in der Möglichkeit des Kennenlernens der Turner untereinander und in der Bekräftigung und Fundierung von deren Nationalempfinden. Wenn Lieber bemerkte, daß durch Turnen gestärkte Körper „freien Männern" adäquat seien, so meinte er damit deutsche Bürger, die sowohl von ausländischer Unterjochung, als auch - wie unsere Untersuchung des Lieberschen Berichts noch erkennbar machen wird - von den Fesseln deutscher Feudalherren befreit und ungehindert leben. Zur nationalen Gefühls- und Bewußtseinsbildung der Turner trugen während der Turnfahrt als Erlebnisfaktoren nicht nur die Begegnung mit der Natur und mit nationaler Geschichte bei, sondern auch die Berührung mit deutscher Kultur. Ebenso konnte, wie Liebers Bericht offenbart, das Erleben sakraler oder profaner Bau- und Kunstwerke, denen nach Meinung der Turner kein national-deutscher Wert beizumessen war, die Turner animieren, über die rechte Beschaffenheit einer Nationalkunst Erörterungen anzustellen. Die Besichtigung des Breslauer Doms, in dem die Turner „manch ... sauber Schnitzwerk", aber auch „manche Holzbilder", „die nirgend's hinpassen", entdeckten, veranlaßte Lieber, für Deutschland eine kirchliche Kunst zu fordern, die mit der Natur in Einklang stehe. „Eben wie die Natur" müsse sie sein. „Bilder und Bildsäulen" gehörten in die Kirche, „so gut wie Gesang und Spiel": aber da dürfe „kein lästiger Prunk, noch kleinlicher Schnörkel die Andacht stören; alles einfach und schlicht, aber gediegen und schön, von den besten Meistern 263 ". Der Kommentar Liebers faßte mit ziemlicher Sicherheit den Inhalt der Gespräche zusammen, die Jahn mit seinen Turnern bei der Begutachtung der Kunstwerke des Breslauer Doms führte. Bereits vor der Ankunft in der schlesischen Metropole hatte Lieber über kirchliche Baukunst meditiert und höchstwahrscheinlich die Gelegenheit wahrgenommen, mit Jahn und den übrigen Turnfahrt-Genossen darüber zu diskutieren. Das Fehlen einer Kirche in einer kleinen Gemeinde bei Sommerfeld war für ihn nicht nur ein ausreichender Grund, um für den Bau möglichst vieler Gotteshäuser zu plädieren, deren Bedeutung als zentrale Gemeinde-Versammlungsstätten er hervorhob, es motivierte ihn auch zu einem kurzen gedanklichen Exkurs über sakrale Baukunst, in den mit einiger Wahrscheinlichkeit von Jahn geäußerte Gedanken einflössen. Die Kirchen sollen „hoch und hehr" erscheinen, meinte Lieber, so „wie die deutsche Bauart es mit sich" 263

Des Berlines Turners Franz Lieber's ,Die Farth nach Schlesien im Jahre 1818 ...', S.688. Folgende Zitate ebd., S.640 u. 687.

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brächte. Sie hätten schlicht, aber „himmelanstrebend" zu sein „wie der Münster zu Straßburg, die Dome zu Cöln und Amsterdamm". „Himmelanstrebend" nicht zuletzt deshalb, weil sie sich so dem „blaue(n) Zelt" nähern, das das „höchste und beste Domgewölbe bleibt". Es müsse „eine Zeit kommen", so bemerkte Lieber in diesem Zusammenhang, „wo wir" - er meinte die Turner - „nicht bloß beim Anblick einer solchen Kirche säufzen, ach die Väter bauten schön". Man müsse „die Kraft erflehen und erringen, solche Pläne zu entwerfen und Hände erturnen, solche Werkstücke den Wolken näher zu bringen". Liebers Plädoyer für eine Vollendung noch nicht fertiggestellter gotischer Dome oder für den Bau neuer Kirchen nach gotischem Vorbild schien im Widerspruch zu seiner und anderer Turner Auffassung zu stehen, historische Bauformen, auch wenn es sich um solche der eigenen Nation handle, dürften nicht ohne weiteres kopiert werden. So hatte Lieber Ritterburgen, „keck und verwegen auf hohem Abhang" gebaut, zwar als Baumonumente, in denen sich der Lebenswille und die Lebensart eines freien deutschen Rittergeschlechts unverstellt, natürlich-ursprünglich ausdrücke, anerkennend beurteilt, ihre Imitation in der Gegenwart lehnte er hingegen - wie schon festgestellt entschieden ab, da sie nicht natürlicher Ausdruck der gegenwärtigen nationalen Lebensformen und Lebensgefühle seien. Die .deutsche Gotik' als sakraler Baustil schien Lieber aber in einem Maße zu beeindrucken, daß er sie auch noch in der Gegenwart als die für das religiöse Empfinden der Nation adäquate Bauform betrachtete. Bezeichnend ist es, daß sich Lieber ,Gotik* nicht als (westeuropäischer Baustil mitteilte, sondern er nur dessen deutsch-germanische Variante wahrnahm. Dies fügte sich zu seinem Verständnis von nationaler Baukunst, unter der er eine im sakralen wie profanen Bereich - weitgehend von ausländischen Einflüssen befreite Architektur verstand. So mokierte er sich über an Bürgershäusern angebrachte griechische und römische Steinschriften und Bildsäulen und bemerkte, er „glaube in ganz Rom waren so viel Götzen nicht, als jetzt in Berlin" existierten. So komme es, „wenn man sein Volk und Vaterland" verlasse, dann gehe es „mit Windesschnelle von Thorheit zu Thorheit, auf Sünde und Laster". Immer aber spiegle man sich in seinen Werken, und „noch kommenden Geschlechtern" zeige „sich die verzerrte Fratze dessen, der bei andern Völkern ... suchte". Mit den Worten: „Ach, -was ist hier noch alles zu sagen", beendete Lieber seine Reflexionen, und in Erwartung, daß sein Bericht auf dem Tie den zurückgebliebenen Berliner Turngenossen vorgelesen werde, fügte er, sie zu Gesprächen über dieses Thema animierend, hinzu: „Beim Feuer am 18. des Siegesmondes" - er meinte damit die Feier der Berliner Turner am Jahrestag der Leipziger Völkerschlacht264 - werde „noch manch Wort sich reden lassen". Die Beschäftigung mit deutscher Sprache war ein weiteres, viertes Element nationaler Bewußtseinsbildung, dessen sich Jahn während der Turnfahrt bediente. Es hielt in puncto Intensität einem Vergleich mit der auf der Turnfahrt beobachteten nationalen Bewußtseinsvermittlung, die sich in der Begegnung mit Natur, Geschichte und Kultur vollzog, freilich nicht ganz stand. Jahn bemühte sich den ihn begleitenden Turnern den Klangreichtum und die Mutationsfähigkeit der deutschen Sprache an einigen Beispielen zu demonstrieren. Er griff Namensbezeichnungen gewisser Landschafts- und Naturerscheinungen auf, die die Turner unterVgl. S. 115 u. 117 f. dieser Arbeit.

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wegs wahrnahmen, und erklärte deren sprachlich-lautliche Herkunft, legte Namens- und Begriffsverwandtschaften offen und verwies auf etymologische und lautliche Zusammenhänge zwischen Hoch- und Plattdeutsch 2 6 5 . So verhalten, wie dies anscheinend geschah, waren entsprechende Bemühungen Jahns auf dem Berliner Turnplatz und bei anderen Gelegenheiten aber keineswegs. Es war ein zentrales Anliegen Jahns, in den Turnern ein Gefühl der Hochachtung gegenüber der deutschen Sprache und einen Sinn für sorgfältigen und bewußten Umgang mit ihr entstehen zu lassen. Letztlich beabsichtigte er damit, in ihnen die Vorstellung fest zu gründen, die Eigentümlichkeit der deutschen Nation komme in ihrer Sprache unverstellt zum Ausdruck. Vor Übertreibungen war J a h n im Umgang mit der deutschen Sprache allerdings nicht gefeit. Er gerierte sich als ausgesprochener Sprachpurist, wenn er grundsätzlich den Gebrauch von Fremdwörtern oder deren Eindeutschung ablehnte 2 6 6 . Es nimmt deshalb nicht wunder, daß Jahnsche „Vorturner" innerhalb der Turnbewegung nicht nur zu Propagandisten für eine gegen ausländische Einflüsse abgeschottete Nationalkultur wurden - wie z. B. Franz Lieber - , sondern sich auch mit missionarischem Eifer für eine von Fremdwörtern gereinigte deutsche Schrift- und Umgangssprache stark machten - wie etwa Ferdinand Maßmann 2 6 7 . Durch wortschöpferische oder wortbildnerische Bemühungen gelang es Jahn einmal mehr, die Turner zur Beschäftigung mit deutscher Sprache anzuregen. Mit Nachdruck hatte er in Reden und Gesprächen auf dem Berliner Turnplatz den Turnern die Rolle Luthers als Schöpfer einer deutschen Hochsprache vor Augen gestellt 2 6 8 . Luthers individuelle Leistung bestand nach Jahns Auffassung darin, die deutsche Sprache in ihrem natürlich-geschichtlichen Entwicklungsprozeß auf eine neue Entwicklungsstufe gehoben zu haben. Von Luthers sprachschöpferischer Großtat ließen sich Jahn und die Berliner Turner zu eigenen wortbildnerischen Aktivitäten anspornen. Sie entwickelten eine eigene „Turnsprache" (Jahn), d. h. sie 265

Noch nicht unweit von Berlin, „auf der Wasserscheide zwischen Oder und Spree" und die „rhaunischen Berge, worin die großen Granitblöcke liegen", vor Augen, erklärte Jahn auf seine Weise die Bezeichnung „Golm": „Der Golm ragt über den andern Haag weit vor. Golm ist verwandt mit Holm, dann auch mit Halm und Helm, und heißt: ein über andere hervorragender Berg. Es giebt viel Holme, wie der auf dem hohen Fläming, der zu Pfingsten von den Turnern bewandert wurde, auch der in Hinterpommern bei Keßlin." (Des Berliner Turners Franz Lieber's, ,Die Farth nach Schlesien im Jahre 1818 ...', S.639) Vgl. auch folgende Stellen in Liebers Bericht: „Zwischen Guben und Breiden, dem nächsten Dorf vor der Stadt stiegen wir ins Neißethal. Es giebt viel Neißen. Der Name kommt von naß ..." (S.639). „Nachmittag gingen [wir] wieder aus Neißethal, standen bald auf der Scheide zwischen Neiße und Lubst und dann im Lubstthal. Die Lubst ist ein kleines Ding, ein Flüßlein, was in die Neiße geht. Ihr Name kommt von laufen, wie man auch Luber, Luppe, Lippe als Flußnamen hat" (S.640). J a h n erklärte uns an einem recht deutlichen Beispiele, was das sei, Rand der Niederung u. Urufer, Winterbett und Sommerbett, erzählte dann von der Flüsse Lauf, von ihrem Durchbruch, wie die Elbe im Erzgebirge, redete vom Worte Höhe im Gegensatz von Tiefe und dem pladdeutschen Höcht im Gegensatz von Niederung..." (S.641).

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Vgl. Jahn/Eiselen, S. XXII. Maßmanns sprachpuristischer Eifer konnte groteske Züge annehmen. In einer Ansprache vor Breslauer Turnern redete er durchgehend von der „großen Schlacht bei Schönbundingen", wenn er die Schlacht bei Belle Alliance meinte (nach Wolfgang Menzel's Schilderung seines Turnlebens zu Breslau in den Jahren 1817 und 1818, S.4). Vgl. Pröhle, S. 164.

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schufen Begriffe für Turnübungen, Turngeräte und Turnplatzeinrichtungen. Dabei war es für die Turner eine Selbstverständlichkeit, die neuen Wortgebilde von schon existenten, teilweise aus dem Sprachgebrauch gekommenen Wortformen oder von in deutschen Dialekten gebräuchlichen Bezeichnungen abzuleiten 269 . Deutsche Sprachforschung' gehörte also bis zu einem gewissen Grade zur Beschäftigung von Berliner ,Eliteturnern'. Liebers Turnfahrt-Bericht war einerseits ein anschauliches Zeugnis dafür, wie stark das Nationalbewußtsein der Turner durch die Begriffe Natur, nationale Geschichte, National-Kultur und deutsche Sprache Leben erhielt. Kaum minder jedoch ist Liebers Turnfahrt-Reportage ein untrügliches Dokument für die in die Zukunft gerichteten politischen Nationsvorstellungen der Turner, für ihren Wunsch nach nationalstaatlicher Einigung Deutschlands und einer sich entfeudalisierenden deutschen Gesellschaft. Schon das Befreiungskriegs-Erlebnis, das Jahn im Medium der Erzählung ohne Unterlaß auf Gemüt und Bewußtsein der wandernden Turner einwirken ließ, war dazu angetan, unter diesen nationalpolitische Assoziationen zu wecken und wachzuhalten; nationalpolitische Vorstellungen, die größtenteils von der politischen Wirklichkeit nach 1813/14 nicht eingelöst worden waren. Mitunter ungestüm brach sich während der Turnfahrt der politische Veränderungswille der Turner in Worten und ausdrucksstarken Handlungen Bahn. Als sie die Spitze der Schneekoppe, des höchsten Berges im Riesengebirge, erklettert hatten, von der sich ein ungehinderter Blick auf die Ebenen und Höhenzüge Schlesiens und Böhmens eröffnete, verspürten sie ein spontanes, unbändiges Bedürfnis, ihre Sehnsucht nach einem geeinten Deutschland zu artikulieren. Sie stimmten das Arndtsche, im Jahre 1813 entstandene Lied „Was ist des Deutschen Vaterland" an. „Da schauten wir weit gen Süden ins Bömerland", berichtete Lieber, „gen Norden in Schlesien und rieben] alle allen zu: ,das soll es sein, das ganze Deutschland soll es sein'". Schon kurze Zeit vorher, als die wandernden Turner die Grenze nach Böhmen überschritten, hatten sie gemeinsam Arndts „Was ist des Deutschen Vaterland" gesungen 270 . Nicht unweit der Schneekoppe, an der Elbquelle, entlud sich der Unmut der Turner gegen unkritische Fürstenverehrung und Fürstenallmacht in einer Handlung von elementarer Direktheit. Dort hatten - wie sich Lieber ausdrückte - „Fürstenknechte" dem österreichischen Erzherzog Johann 1804 „einen hohen Denkstein" errichtet, „wie das Leipziger Schlachtfeld keinen aufzuweisen" habe. Kurzentschlossen „warfen" die Turner „das Ding um" und beförderten es „in einen nahen Sumpf". Lieber kommentierte den Vorgang mit der sarkastischen Bemerkung: „Daß nicht eher von den Gebirgshirten sich einer drüber erbarmte", wundere ihn nicht, denn in Böhmen gebe es „nichts als knechtisches Bettelgesindel" 271 . Lieber 269

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Eine allgemeine Charakteristik der deutschen Sprache sowie ausführliche Erläuterungen zur Entstehung der „Turnsprache" mit vielen Beispielen gibt Jahn in der „Deutschen Turnkunst", S . X I X - X L V . Des Berliner Turners Franz Lieber^ ,Die Farth nach Schlesien im Jahre 1818 ...', S. 686. Ebd., S.686. - Der Breslauer Turner Wolfgang Menzel, der sich den .turnfahrenden' Berliner Turnern zeitweise anschloß, berichtete in seinen Memoiren von einem zweiten gegen Fürstenverherrlichung und Byzantinismus gerichteten Akt der Turner während der Turnfahrt. Vor einer am Kochelfall im Riesengebirge angebrachten Marmortafel, auf der in goldenen Buchstaben zu lesen war: „Allhier geruhten Seine Majestät der König Friedrich Wilhelm III. und Ihre Majestät die Königin Luise die Wunder Gottes in allerhöch-

F. Liebers Turnfahrt-Bericht 91 ließ in seinem Bericht auch keinen Zweifel daran, daß er und die anderen an der Beseitigung des Denkmals beteiligten Turner gegen „auf Wahlfelder" errichtete „Denkstein(e)", die „das Volk immer wieder" an seine eigenen „großen Thaten" erinnere, absolut nichts einzuwenden hätten 272 . Mit Genugtuung dagegen registrierten die auf Turnfahrt befindlichen Turner die allmähliche Verwirklichung der schon vor den Befreiungskriegen von der preußischen Regierung verkündeten Bauernbefreiung. Ausgesprochene „Freude" bereitete es ihnen, wenn sie unterwegs gewahr wurden - und das geschah „einige mal auf der Farth" - , daß „die Bauern ihre Edelleute auskaufen und so freie Leute und Herren ihrer Rast und Arbeit werden". „In der Prignitz" seien die Bauern „schon weiter", fügte Lieber kommentierend hinzu, und sie würden „bald nach ihren Rechten fragen" 273 . Jahn tat während der Turnfahrt ein übriges, um den politischen Veränderungswillen der Turner zu nähren. In der schlesischen Provinzhauptstadt las er in Anwesenheit der ihn begleitenden Berliner Turner und vieler Breslauer Turner und Turnfreunde (es hatten sich Professoren, „Burschen" und Schüler eingefunden) Abschnitte aus öffentlichen, mit starken politischen Akzenten versehenen Vorlesungen über „Deutsches Volksthum" vor 274 , die er zu Beginn des Jahres 1817 einem großen Publikum (bestehend aus Turnern und anderen Zuhörern) in Berlin gehalten hatte. Er hatte in diesen Vorträgen zwar einerseits seine Zuhörerschaft mit eindringlichen Worten zu einem die bestehenden politischen Verhältnisse überwindenden Handeln aufzurütteln versucht 275 und die gegenwärtigen politischen Zustände unnachsichtig kritisiert276, andererseits aber seiner Anhänglichkeit zur Hohenzollern-Dynastie unüberhörbar Ausdruck verliehen. Die Uberwindung

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sten Augenschein zu nehmen", ließen die Turner ihrem Spott freien Lauf. Sie hockten sich nieder, hielten die Finger in Richtung Tafel und verhöhnten die devote Gesinnung ihrer Urheber mit einem „äh, äh!" (Wolfgang Menzel's Schilderung seines Turnlebens zu Breslau in den Jahren 1817 und 1818, S. 14). Ebd., S. 686. Ebd., S. 640. Ebd., S. 688. U.a. enthielt einer seiner Vorträge folgenden flammenden Appell: „Es ist hohe Zeit, daß es anders wird. Ohne Volkstümlichkeit im Schirm weiser Verfassung bleibt die Kunst ein Spiel für den Sclaven, um seine Ketten zu vergolden und die Wissenschaft ist nur ein Zeitvertreib der langen Weile seiner lebenslänglichen Gefangenschaft. Ein fressender Krebs nagt an unsern edelsten Theilen, wir siechen und giehnen schon eine schreckliche Zeit. Sollen wir aber stier und starr das Ende abwarten? Sollen wir die Hände in den Schooß legen? Haben wir keine andere Wehr und Waffen, als Seufzer, Ach und Weh!? Sind wir gebundene Opferthiere, so sich obendrein mit ihrer Geduld, Gelassenheit und Ergebung brüsten? Noch dürfen wir uns nicht übergeben, noch dürfen wir nicht verzweifeln! Noch sind wir nicht verloren! Noch sind wir zu retten! Aber nur durch uns selbst. Den Deutschen kann nur durch Deutsche geholfen werden" (Nach Euler, Jahn, S.490). Die staatsrechdiche Konstruktion des Deutschen Bundes ironisierte er mit den Sätzen: „Es ist viel darüber geschrieben worden, was Deutschland eigentlich durch seine Bundesurkunde sei. Man hat gesagt, es sei ein Bundesstaat... Das hat ein geehrter Redner ... widerlegt und ist auf Staaten-Bund verharret. Witzbolde meinen, es frage sich, ob es heiße der Bund oder das Bund, und ob letzteres etwa mit einem t müsse geschrieben werden. Einige haben Deutschen Reichsbund vorgeschlagen, Andere meinen, der beste Name sei Deutschklein wie Hasenklein oder Gänseklein" (Euler, Jahn, S.490).

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des deutschen Partikularismus, die politische Einigung Deutschlands unter preußischer Führung und die Einführung einer Verfassung, zunächst in Preußen und dann in einem geeinten Deutschland, waren die in den Berliner Vorlesungen enthaltenen zentralen politischen Forderungen 277 . Obwohl Lieber über den Inhalt der Breslauer Auswahlvorlesung in seinem Bericht keine Angaben macht (nur über deren Wirkung im Auditorium äußerte er sich mit dem Satz: „Das weiß ich, gefaßt hats gewiß bei manchem"), dürfte er in ihr mit ziemlicher Sicherheit dieselben Forderungen in den Mittelpunkt gerückt haben 2 7 8 . Über das bisher Gesagte hinaus erlaubte der Liebersche Bericht noch weitere aufschlußreiche Einblicke in die nationale Gedanken- und Gefühlswelt der in der Turnbewegung organisierten jungen Patrioten. Aus Liebers Erlebnisschilderung läßt sich unschwer erkennen, wie stark der Nationalismus der Turner mit religiösem Fühlen und Denken verquickt war. Lieber ließ keinen Zweifel daran aufkommen, daß nationales Engagement, daß aufopfernde Hingabe für die Interessen der Nation dem Willen Gottes entspräche, ja ein im höchsten Grade gottgefälliges Werk sei. So konnte er in einem Atemzug von „Hingebung für Volk und Kirche" reden, die Ermahnung aussprechen, „recht viel in Gottes Wort" und gleichzeitig in des eigenen „Volks Geschichte" zu lesen, dazu auffordern, „Gottes Willen" zu tun, indem man sich schon „am Lebensmorgen" dem Vaterland weihe, und er konnte den Abfall von „Gott und Vaterland" beklagen 279 . Daß Lieber keineswegs nur höchst private Ansichten äußerte, sondern das ausdrückte, was viele Turner fühlten 277

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Am Schluß der Vortragsfolge faßte Jahn seine wichtigsten nationalen Zielvorstellungen zusammen, indem er sie in die Worte eines pastoralen Segens kleidete: „Gott segne den König, erhalte Zollern's Haus, schirme das Vaterland, mehre die Deutschheit, läutere unser Volksthum von Wälschsucht und Ausländerei, mache Preußen zum leuchtenden Vorbild des Deutschen Bundes, binde den Bund zum neuen Reich und verleihe gnädig und bald - das Eine, was noth tut - eine weise Verfassung!" (Euler, Jahn, S. 491; siehe auch Hess. HStA Wiesbaden, Abt. 210, Nr. 12 542, B1.46 Rs). Zur Wirkung der Jahnschen Vorlesungen in der Öffentlichkeit und auf die feudalen Kreise der Hauptstadt vgl. den von der Zentralen Untersuchungskommission zitierten Brief des Studenten Ofen (Berlin) an den Studenten Asverus (Heidelberg) v. 28.3.1817: Jahns Vorlesungen begeistern die junge bessere Welt und Alles will auf den Sommer mitturnen. Man sieht hier jetzt seit einiger Zeit mehr teutsche Röcke als früher und was die Hauptsache ist, von Menschen, die es ernstlich meinen, die keine Narren sind. ... Sonst herrscht hier unter den Studenten ein herrlicher Geist, besonders in der letzten Zeit, wo Alles durch Jahns Vorlesung begeistert, an allen Begebenheiten, die im Vaterlande vorfallen, den herrlichsten Antheil nimmt. Der Adel und der Hof sind freilich sehr über Alles das aufgebracht, müssen aber schweigen, weil sonst der Ausbruch einer Empörung unvermeidlich wäre ..." (Hess. HStA Wiesbaden, Abt. 210, Nr. 12 542, B1.46). Dafür sprechen Zeugenaussagen im Rahmen des Prozesses, den die preußischen Behörden dem 1819 auf Befehl Staatskanzler Hardenbergs verhafteten und wegen „demagogischer Umtriebe" angeklagten Jahn machten. Die Breslauer Rede war ein wichtiger Verhandlungsgegenstand. Der massive Vorwurf der Anklage freilich, Jahn habe in der Rede ausgeführt, man müsse dieselben Mittel gegen die „inländischen Zwingherrn" anwenden, die man einst gegen die „ausländischen Zwingherrn" benutzt habe, wurde von den Zeugen nicht bestätigt (vgl. Pröhle, S. 397 ff.). Der Student Kretschmer gab in einer Vernehmung zu Protokoll, Jahn habe in der Rede geäußert, es solle „mit heiligem Grimme" gegen die „inwärtigen Zwingherrn" „gesprochen werden", „wenn es sich nicht endlich bald im Innern zum Besseren kehre" (Hess. HStA Wiesbaden, Abt. 210, Nr. 12 542, Bl. 51 Rs.). Des Berliner Turners Franz Lieber's ,Die Farth nach Schlesien im Jahre 1818 ...', S.638, 641 u. 687.

F. Liebers Turnfahrt-Bericht

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und dachten, machen einige von Lieber geschilderte Turnfahrt-Vorkommnisse offenkundig. Allein der häufige Besuch von Kirchen und Gottesdiensten während der Turnfahrt 280 war ein Indiz für die religiösen Bedürfnisse der Turner. Wie sehr die nationalen Empfindungen der Turner sich mit deren religiösen Stimmungen verbanden, dafür ist die schon teilweise geschilderte Szene auf der Schneekoppe ein eindrucksvolles Beispiel. Nachdem Arndts Vaterlandslied verklungen war und sie sich gegenseitig versichert hatten, daß nur das „ganze Deutschland" Ziel ihrer Hoffnungen und Wünsche sein könne, zündeten die Turner ein Holzfeuer an und sangen Luthers Lied „Ein feste Burg ist unser Gott" 2 8 1 . Nationales und religiöses Bekenntnis verschmolzen zu einer Einheit. Daß der Nationalismus der jungen turnenden Patrioten von starken religiösen Empfindungen begleitet, ja gestützt wurde, dazu hatte Jahn erheblich beigetragen. Der von einer elementaren Frömmigkeit beseelte Jahn hatte schon im „Deutschen Volksthum" zu erkennen gegeben, daß er von dem Gedanken an eine „freigläubige einige Deutsche Kirche", die sich durch innige Anteilnahme am Leben der Nation auszeichnen sollte, erfüllt war 282 . Zwischen nationalem und kirchlichem Leben sollte jede trennende Barriere verschwinden 283 . Auch die innige Verbindung von nationaler und religiöser Aussage in den zum Teil aus den Befreiungskriegen stammenden und sich bei den Turnern großer Beachtung und Beliebtheit erfreuenden deutsch-patriotischen Gesängen vermochte zur Verquickung von nationalen und religiösen Gefühlen unter den Turnern beizutragen 284 . Liebers Turnfahrt-Bericht macht außerdem offenbar, daß Jahn auch erfolgreich gewisse antikatholische Affekte seines religiös gefärbten Nationalismus - die schon im „Deutschen Volksthum" zu beobachten sind - auf die Turnbewegung, zumindest auf Berliner .Elitetumer' übertragen hatte. So spricht Lieber voller Herablassung vom „Papistisch(en) Wesen" (ohne zu begründen, was er darunter versteht), oder er behauptet apodiktisch, „Von Gottes Wort wissen diese Katholiken nichts" (ohne auch nur den Versuch einer Beweisführung für seine Behauptung zu machen) 2 8 5 . Aus unserer bisherigen Analyse des Lieberschen Turnfahrt-Berichtes wurde schon unschwer erkennbar, daß der Nationalismus der Turner nicht eine bloß intellektuell-ideologische Dimension besaß, sondern daß ihm auch eine sehr starke stimmungsmäßige, emotionale Komponente eigen war. Die religiöse Grundhaltung, die Züge von religiöser Schwärmerei annahm, und der ausgesprochene Gesangsenthusiasmus der auf Wanderschaft befindlichen Turner - der Bericht ist voll von Bemerkungen wie: „unser Gesang hallte weit", „Wir sangen viel", „Vor Schlafen gehen sangen wir mancher Lei", „In vollem Gesang gings nun nach der Stadt", 280 281 282 283

284 285

Ebd., S. 639,688 f. Ebd., S. 686. Vgl. Jahn, Deutsches Volksthum, S. 165. Wie erfolgreich Jahn sein Gedankenmodell einer deutschen Nationalkirche im Bewußtsein seiner .Eliteturner' verankert hatte, beweist Liebers Bemerkung, es sollten genügend Gotteshäuser gebaut werden, „wo Kindlein getauft, Jünglinge bewehrt, Landwehr eingesegnet und den Gebliebenen ein Todtenfest gefeiert wird, wo viele Geschlechter ... beten werden" (Des Berliner Turners Franz Lieber's ,Die Farth nach Schlesien im Jahre 1818 ...', S.640). Vgl. unten S. 107 f. Des Berliner Turners Franz Lieber's ,Die Farth nach Schlesien im Jahre 1818 ...', S.640 u. 686.

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2. Die frühe nationale Turnbewegung (1811-1819)

„Nach dem Turnen wird regelmäßig gesungen" 2 8 6 - trug zur Emotionalisierung entscheidend bei. Lieber zögerte auch nicht zu betonen, daß der Zweck der Lieder über die Vermittlung von Gedankeninhalten hinaus in ihrem stimmungserzeugenden Effekt liege; die Worte eines solchen Liedes müsse man „im Kopfe" und das „ganze Lied im Herzen" haben, dann könne es „andächtige Gefühle erwecken" 2 8 7 . Eine außerordentliche emotionalisierende Wirkung unter den Turnern hatten während der Wanderfahrt auch die nationalen Ansprachen' Jahns. Als Jahn den Liegnitzer Turnern zum Abschied in einer Rede Sinn und Zweck der Turnbewegung erläuterte, standen diese - obwohl die Berliner Turner sich schon auf den Weg gemacht hatten - „in gedrängtem Haufen noch immer da ..., halb bestürzt, halb innig, die Worte im Herzen bewegend. In manches Auge schimmerten Thränen." 2 8 8 Es war eine Ansprache, wie sie Lieber auf dem Hasenheide-Tie oft gehört hatte, nämlich eine Rede, die „von Herzen kommt" und die „zu Herzen (geht)" 289 .

2.9.3.

Das patriotisch-deutsche Liedgut der Turner Spiegel ihrer nationalen Gedanken und Stimmungen

Der Liebersche Turnfahrt-Bericht dokumentiert anschaulich, mit welcher Ausdauer und welchem Eifer sich die wandernden Turner dem Singen patriotischer Lieder hingaben. Freilich nicht allein auf Turnfahrten bedienten sie sich des patriotischen Liedes, um ihrer nationalen Gedanken- und Gefühlswelt stimmungsvoll Ausdruck zu verleihen: Das patriotische Lied war für die Turner auch bei anderen Gelegenheiten eines der wichtigsten Ausdrucksmittel ihrer nationalen Vorstellungen und Emotionen. In der gesamten Turnbewegung, in so gut wie allen Turngemeinden wurde der Pflege des patriotischen Liedes eine besondere Bedeutung zugemessen. Sowohl bei Turn- bzw. National-Festen, d.h. bei mehr exzeptionellen, eine breite Öffentlichkeit einbeziehenden Veranstaltungen, als auch im Alltag der Turngemeinden hatte der patriotische Gesang einen festen Platz 290 . Daß die frühe Turnbewegung die erste organisierte Bewegung in Deutschland wurde, die u. a. vermittels patriotischem Gesang die ihr innewohnenden nationalen Überzeugungen und Hoffnungen artikulierte (sie teilte allerdings diese Eigenschaft seit 1815 mit der Burschenschaftsbewegung), war ganz primär ein Verdienst ihres Gründers. Jahn hatte frühzeitig, nämlich schon 1813, den großen meinungsbildenden und propagandistischen Wert patriotischer Lieder im Rahmen eines öffentlichen, national-deutsche Stimmungen und Bewußtseinsinhalte erzeugenden Aktionismus erkannt und Lieder nationalen Inhalts auf verschiedene Weise für die nationale Agitation nutzbar zu machen versucht. Zu Ostern 1813 ließ er unter dem Titel „Deutsche Wehrlieder für das Königlich-Preußische Frei-Corps" zwölf von verschiede286 287 288 285 290

Ebd., S. 6 3 9 , 6 8 7 ff. Ebd., S. 642. Ebd., S. 689. Ebd., S. 640. Zur Rolle und Funktion des patriotischen Gesangs während der von Turngemeinden organisierten Nationalfeste siehe unten S. 117 ff.

Das patriotisch-deutsche Liedgut der Turner

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nen Autoren nach 1806/07 verfaßte deutsch-patriotische Liedtexte mit den dazu gehörenden Melodien im Druck erscheinen 291 . An die Spitze der Liedersammlung hatte Jahn den Wortlaut des Arndtschen Liedes „Was ist des Deutschen Vaterland?" gerückt. Ebenfalls im Jahr des Kriegsausbruchs und noch zeitlich vor der Veröffentlichung der „Wehrlieder" kümmerte sich Jahn auf einer Agitationsreise durch das Königreich Westfalen, die er zusammen mit Eduard Dürre unternahm, angelegentlich um die Verbreitung des genannten Arndt-Liedes. Den gesangstalentierten Dürre bewegte er, die patriotischen Verse wiederholt vor großem Publikum zum Vortrag zu bringen, währenddessen er für die Verteilung des Lied-Textes in Form von Flugblättern unter den Zuhörern sorgte 292 . Schließlich rief Jahn innerhalb des Lützowschen Freikorps, für dessen Zustandekommen er sich als Werber unermüdlich eingesetzt hatte, im März 1813 einen Sängerchor ins Leben, der die Aufgabe haben sollte, unter den Freikorps-Angehörigen patriotisches Liedgut bekannt und populär zu machen. Einen Schüler der von Zelter geleiteten Berliner Singakademie 293 betraute er mit der Leitung des Chores 2 9 4 . Im .zivilen Leben' erachtete Jahn allerdings die Turngesellschaften als die für die Pflege des patriotischen Gesangs adäquaten organisierten Gruppen. Schon während der Freiheitskriege gelang es ihm mit durchschlagendem Erfolg, das Interesse der Turner für den patriotischen Gesang zu wecken und zwar dermaßen, daß die frühe Turnbewegung bis 1819 diejenige organisierte Gemeinschaft war, die sich am intensivsten des patriotischen Liedgutes annahm und die aktivste und wirkungsvollste Rolle bei seiner Popularisierung spielte. Die Gründung von Vereinigungen, die sich ausschließlich dem patriotischen Gesang widmeten, befand Jahn bis 1819/20 nicht für notwendig. Er glaubte das national-deutsche Lied in den Gemeinden der nationaldeutschen Turner am besten aufgehoben. Animierte Jahn zuerst Mitglieder der Berliner Turngesellschaft, patriotische Lieder zu sammeln, zu lernen und zu singen, so wurden bald - dank des kommunikativen Systems der Turnbewegung auch die anderen Turngesellschaften zu diesem Tun angeregt. Neben den Versen Arndts waren es hauptsächlich die von Theodor Körner und Max von Schenkendorf stammenden, überwiegend 1813/14 entstandenen Lieder, die Jahn in der Turnbewegung heimisch machte 2 9 5 . Seit 1816 engagierten sich für die Verbreitung des patriotischen Gesangs in der Turnbewegung neben Jahn und der Berliner Turngemeinde zumindest ebenso intensiv und erfolgreich die Gießener Turner. Führende Vertreter der Gießener „Unbedingten" die die Turngesellschaft in der hessischen Universitätsstadt gründeten und unterhielten, ließen es indes bei bloßer 291

292 293 294 295

„Deutsche Wehrlieder für das Königlich-Preussische Frei-Corps herausgegeben. Erste Sammlung. Ostern 1813"; abgedruckt in: Euler, Jahns Werke, Bd. I, S . 3 8 7 - 4 0 4 . Nach einer Mitteilung Dürres in der Deutschen Turn-Zeitung, Jg. 1876, Nr. 18, S. 123. Vgl. oben S. 45. Nach Euler, Jahn, S. 317. Vgl. die in der Berliner Turngesellschaft und in anderen norddeutschen Turngemeinden verbreitete gedruckte Liedersammlung: Deutsche Lieder für Jung und Alt, Berlin 1818. Nach der Aussage Liebers vor den Untersuchungsbehörden waren die Lieder von ihm und einigen anderen Berliner Turnern, darunter Dr. Jung und Zelle, ausgewählt und in Druck gegeben worden. Vor der Veröffentlichung habe man Jahn die Sammlung zur Prüfung vorgelegt, der sie guthieß (Hess. HStA Wiesbaden, Abt. 210, Nr. 12 542, B1.40 Rs; siehe auch K. Wassmannsdorff, Uber Entstehung und Inhalt des Liederbuches .Deutsche Lieder für Jung und Alt. Berlin 1818', in: Monatsschrift für das Turnwesen, Jg. 1895 (14), Heft 4, S. 134 ff.).

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2. Die frühe nationale Turnbewegung

(1811-1819)

Aneignung und Propagierung patriotischer Gesänge nicht bewenden; anders als Jahn und die Berliner Turngenossen versuchten sie sich selbst als Lied-Autoren. Ihnen gelang es, patriotische Verse von großer bildlich-poetischer Aussagekraft und in einer eindringlich-mitreißenden Rhetorik zu verfassen 296 . Dadurch, daß Karl Folien, sein Bruder August Ludwig Folien und Christian v. Buri, um nur die prominentesten der nationalen ,Propaganda-Poeten' unter den „Unbedingten" zu nennen, eine spezielle Art patriotischer Lieder, nämlich ,1TurneiWsdei", in großer Menge schrieben (d. h. Lieder, in deren Text expressis verbis „die Turngemeinde", „die Turner" oder „die Turnerei" als Subjekt der in den Versen enthaltenen patriotisch-politischen Aussage genannt werden), wurde einmal mehr der Charakter der Turnbewegung als einer gesellschaftlichen Bewegung mit national-politischer Tendenz unterstrichen. Nicht nur das national-deutsche Bewußtsein der Turner selbst wurde durch derartige Texte besonders effektiv gestärkt, solche Lieder mußten 296

Vgl. die von Adolf Ludwig Folien 1819 in Jena für den Gebrauch in Turngemeinden herausgegebene patriotische Liedersammlung: A. L. Folien [Hrsg.], Freye Stimmen frischer Jugend, Jena 1819. EÜiche der patriotisch-lyrischen Produkte der „Unbedingten" waren schon, bevor sie Folien veröffentlichte, in einer Reihe von Turngemeinden bekannt. 1817 war bereits in Darmstadt ein Turnliederbuch erschienen, das von den Unbedingten stammende patriotische Liedtexte enthielt (siehe Lieder für deutsche Turner, Erstes Heft, Darmstadt 1817). 1818 gab der Referendar Ammon in Düsseldorf „Lieder für deutsche Turner" heraus. Die Sammlung wies ebenfalls Lieder auf, die von den Unbedingten verfaßt worden waren (Hess. HStA Wiesbaden, Abt. 210, Nr. 12 542, B1.39 Rs./40). Von dem Düsseldorfer Turnliederbuch verteilte der Bonner Vorturner Baumeister „gegen 100 Exemplare" an seine Turner. Auch in Köln und Koblenz wurden sie verbreitet. Baumeister schrieb an Ammon, „daß sie viel Gutes gewirkt hätten" (ebd., B1.39 Rs.). Auch die umfangreiche, von A. L. Folien herausgegebene Sammlung fand einen guten Absatz. Völker in Tübingen forderte für seine Turngemeinde 50 Exemplare an (ebd., B1.42). Der Lehrer und Turnplatzleiter Grube in Kirchen (an der Sieg) schrieb am 14.5.1819 an A. L. Folien: „Die 82 Liederbücher habe ich zu rechter Zeit erhalten und hier schon wacker vertheilt... Nach Siegen meldete ich es gleich und dachte dort wenigstens 14 Exemplare unterzubringen ... Ich werde morgen dem Baumeister 24 Exemplare zusenden ..." (ebd., B1.40 Rs.). Einer von mehreren Adressaten der Follenschen Turnliederbücher war Dr. Jung in Berlin. An ihn schickte Folien 600 Exemplare ab. Vor den Untersuchungsbehörden behauptete Jung, nur ein Exemplar erhalten zu haben (ebd., Bl.41/42). Daß die Gießener „Unbedingten" bestrebt waren, ihre Lieder auch handschrifdich zu verbreiten, davon konnte sich die Mainzer Zentrale Untersuchungskommission überzeugen. Zu dem in der Follenschen Sammlung enthaltenen, von Karl Folien verfaßten Lied „Turnbekenntniß" stellte sie fest: „Es ist von diesem Liede noch zu bemerken, daß eine Abschrift desselben von der bekannten Hand des Dr. Carl Follenius unter den Papieren des Franz Lieber in Berlin sich befand ..." (ebd., B1.42 Rs.). Welche Wirkung sich führende Turner von der Liedersammlung Follens erhofften, läßt der Brief des Studenten v. Mühlenfels an Dr. Jung v. 25. Oktober 1818 erkennen: „... Folien giebt Turnlieder heraus, ich verspreche mir davon eine sehr große Wirkung. ... Berede mit Reimer, wie wohl der Absatz am leichtesten zu bewirken; in den Buchhandel dürfen nicht so gar Viele, denn ich ... (unleserlich, D.D.), sie werden bald verboten ..." (ebd., B1.41 Rs.). - „Zur richtigen Würdigung der Tendenz und des Einflusses" der von den Unbedingten verfaßten „Turnlieder" meinte die Zentrale Untersuchungskommission die Regierungen darauf hinweisen zu müssen, daß die Lieder „größtentheils erst in der neuren Zeit, wo die äußere politische Ruhe in Deutschland wieder hergestellt war, entstanden sind", und „daß man sie durch schnell aufeinander folgende, absichtlich verbreitete Sammlungen immer wieder hervorzuheben, recht allgemein zu machen und besonders in die Hände der Jugend zu bringen suchte und daß als Verfasser, Sammler und Verbreiter dieser Lieder immer solche hervortreten, die, wie sich zum Theil schon gezeigt hat und in der Folge noch mehr zeigen wird, auch in dem allgemeinen politischen Treiben am thätigsten erscheinen" (ebd., Bl. 44).

Das patriotisch-deutsche Liedgut der Turner

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auch nachhaltig dazu beitragen, daß nicht den Turngemeinden angehörende Zuhörer die Turnbewegung mit bestimmten politisch-nationalen Vorstellungen identifizierten. Von nicht untergeordneter Bedeutung war es, daß vermittels der sich in der Turnbewegung verbreitenden Liedtexte der „Unbedingten" in diese auch politisch-nationale Anschauungen eindrangen, die mit den Jahnschen nicht in jeder Hinsicht identisch waren. Die im geistigen Banne Karl Follens stehenden und innerhalb der Turnbewegung eine so aktive Rolle spielenden Gießener Burschenschaftsstudenten hatten sich spätestens seit 1817/18 von der Vorstellung eines konstitutionell regierten deutschen Nationalstaates gelöst und verfochten statt dessen - vom Prinzip der Volkssouveränität ausgehend - die Idee eines deutschen „Freistaates". Das einzige Mittel zu seiner Verwirklichung erblickten sie angesichts der politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse in einer gewaltsamen Erhebung, die sie mit staatsrechtlichen, ethischen und religiös-christlichen Argumenten rechtfertigten297. Durch ihr Bekenntnis zum Prinzip der Volkssouveränität, der strikten politischen und gesellschaftlichen „Gleichheit" aller Staatsbürger, und zur Republik als Staatsform, sowie durch ihre Sympathie zur Revolution als Methode politischer Umgestaltung unterschied sich der politische Nationalismus der „Unbedingten" von Jahns national-politischer Position, wohingegen diese die Hoffnung auf die politisch-staatliche Einheit der Nation und die oppositionelle Haltung zum bestehenden verfassungslosen Fürstenstaat mit Jahn verband. Die radikalen nationalpolitischen Ideen der „Unbedingten" fanden nicht nur Eingang in die Gießener Turngemeinde, sie gewannen z. B. auch Anhänger unter Mitgliedern der Turngesellschaften in Heidelberg, Tübingen, Darmstadt, Butzbach, Bonn, Köln, Koblenz, Siegburg und Kirchen (an der Sieg), die mit der Gießener Turnvereinigung kommunikativ eng verbunden waren. Dadurch, daß der national-politische Radikalismus der „Unbedingten" einen deutlichen Niederschlag in deren patriotischen 297

Vgl. R. Pregizer, Die politischen Ideen des Karl Folien. Ein Beitrag zur Geschichte des Radikalismus in Deutschland, Tübingen 1912, S. 22 ff. u. 53 ff. Um Revolutionen vom staatsrechtlichen Standpunkt aus zu legitimieren, beriefen sich die „Unbedingten" auf die Rousseausche Gesellschafts-Vertragstheorie. Der zwischen dem Volk in seinem Urzustand und der Regierung geschlossene Vertrag könne vom Volk bzw. von jedem einzelnen Bürger als aufgelöst betrachtet und erklärt werden, wenn die Regierung den in ihm übernommenen Pflichten, insbesondere der Pflicht der Verteidigung der Freiheit aller gegen Willkür Einzelner, nicht mehr nachkomme bzw. sich selbst Willkür anmaße. Jedes Individuum trete dann in den Stand der Notwehr (ebd., S.60). In den 1817/18 abgefaßten, 34 Paragraphen umfassenden „Grundzüge(n) für eine künftige teutsche Reichs-Verfassung" präzisierten die „Unbedingten" ihre Vorstellung von einem deutschen „Freistaat". Die gesetzgebende, vollziehende und richterliche Gewalt sollte in einem deutschen Nationalstaat, der bei den „Unbedingten" - wie bei den übrigen zeitgenössischen Patrioten in der Regel unter der historisch vorgegebenen Bezeichnung „deutsches Reich" figurierte, in den Händen des Volkes liegen (Abdruck des Reichs-Verfassungsentwurfs der „Unbedingten" in: C. E. Jarcke, Carl Ludwig Sand und sein an dem kaiserlich-russischen Staatsrath v. Kotzebue verübter Mord, Berlin 1831, S.88-111). Die revolutionäre Grundüberzeugung der „Unbedingten" kommt unverblümt in ihrem hauptsächlich 1818 entstandenen sog. „Großen Lied" zur Geltung, einer Dichtung von lyrisch-epischem Charakter, in der in einer z.T. mystisch-religiösen Sprache Bürger und Bauern zum Aufruhr und zur Gewaltanwendung gegen die fürstlichen „Zwingherrn" aufgerufen werden. Teile des „Großen Liedes" wurden von den „Unbedingten" als Flugblatt gedruckt und in verschiedenen Gegenden Deutschlands in Umlauf gebracht (vgl. Haupt, S. 133. Der Text des „Großen Liedes" ist enthalten in: J. Wit, Fragmente aus meinem Leben und meiner Zeit, Bd. 1, Leipzig 1830, S. 430-448).

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2. Die frühe nationale Turnbewegung (1811-1819)

Liedtexten fand 2 9 8 und einige von diesen seit 1817/18 auch zum Lied-Repertoire preußischer Turngemeinden gehörten, läßt sich von diesem Zeitpunkt an das Eindringen radikaler politischer Anschauungen auch in preußische Turngemeinden datieren, ohne daß sich durch diesen Prozeß an der Dominanz des Jahnschen politischen Nationalismus innerhalb der Turnbewegung etwas geändert hätte und ohne daß es in ihr bis zu ihrem Verbot zum Austrag eines Konfliktes über die nationalpolitische Orientierung gekommen wäre. Dies verhinderte schon die ungeteilte Sympathie, ja Verehrung, die der im Jahre 1818 bereits das vierte Lebensjahrzehnt vollendende „Vater" J a h n als herausragender nationaldeutscher Propagandist und Organisator auch bei den radikalen Gießener Studenten genoß. Hinzu kommt, daß die weitgehend unpolitischen, durch die Faktoren Natur, Geschichte, Kultur und Sprache bestimmten Ideologie-Bestandteile des Jahnschen Nationalismus, aber auch seine starken religiösen und emotionalen Komponenten gleichermaßen zur ideologischen Grundausstattung des Nationalismus gehörten, dem sich die Gießener „Schwarzen" verschrieben hatten. Sowohl in den von Jahn innerhalb der Turnbewegung protegierten patriotischen Liedern Arndts, Körners und Schenkendorfs, als auch in den für die Turner bestimmten und von ihnen aufgegriffenen patriotischen Lieddichtungen der radikalen Gießener „Burschenturner" waren diese nationalen Ideologie-Elemente reichlich vorhanden. Um den naturhaften Charakter der deutschen Nation, „des deutschen Volkes", ins Bewußtsein zu heben, um unter Beweis zu stellen, daß sich „das deutsche Vaterland" nicht zuletzt in natürlichen und landschaftlichen Daseins- und Erscheinungsformen objektivierte, bemühten die patriotischen Dichter eine stattliche Zahl von Naturbildern, denen sie stillschweigend oder expressis verbis die Eigenschaft zuschrieben, „deutsch" zu sein. Die „grünen", „hohen" oder „hochgewachsenen Eichen" waren Natur-Metaphern, die in diesem Zusammenhang am meisten verwendet wurden. Mit ihnen verband man in Gedanken Begriffe wie natürliche Stärke, Majestät, Festigkeit und Fruchtbarkeit. Wegen der spezifischen Funktionen, die die Patrioten den EichenMetaphern im Rahmen ihrer poetisch-patriotischen Aussage zuwiesen, erhielt das Eichenmotiv in der patriotischen Lieddichtung durchaus den Rang eines nationalen Symbols 2 9 9 . S o konnte man bildlich-paraphrasierend vom „Vaterland der grünen Eichen" oder vom „Lande der Eichen" reden, wenn man Deutschland meinte 3 0 0 . Körner flößte dem deutschen Volk, das er als „wackres Volk" charakterisierte, Selbstbewußtsein ein, indem er ihm versicherte: „Hoch schlägt dein Herz, hoch wachsen deine E i c h e n 3 0 1 ! " Oder er klassifizierte metaphorisch den sich der napoleonischen Herrschaft unterwerfenden Deutschen als jemanden, „der die teutsche Eiche brach 3 0 2 ". W e n n er im selben Lied hoffnungsvoll ausrief: „Wachse die Freyheit der teutschen Eichen 3 0 3 !", so konnte es für niemanden, der den Text des Liedes mit Aufmerksamkeit las oder hörte, einen Zweifel darüber geben, daß der

2,8

299 300 301 302 303

Das Liederbuch der „Unbedingten" „Freye Stimmen frischer Jugend" bezeichnete die Zentrale Untersuchungskommission als eine Liedersammlung, „die den heftigsten demokratischen Geist athmet" (Hess. HStA Wiesbaden, Abt. 210, Nr. 12 542, Bl. 40 Rs.). Vgl. hierzu auch S. 8 6 , 1 1 4 u. 117 dieser Arbeit. Deutsche Lieder, S.84, Folien [Hrsg.], Freye Stimmen, S.76. Folien [Hrsg.], Freye Stimmen, S.44. Ebd., S. 51. Ebd., S. 52.

Das patriotisch-deutsche Liedgut der Turner

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Dichter damit die Freiheit des deutschen Volkes meinte 3 0 4 . Auch der körperliche und geistige Aktivismus der Turner für die nationale Sache wurde von den dichtenden Gießener Burschenturnern mit eindrucksvollen Natur-Metaphern poetisch artikuliert. Das von Karl Folien stammende Lied „Turnbekenntniß" enthielt z.B. die Verse: „Auf, auf, du Turner! Du Teutscher, wolan! / Auf ehrliche, wehrliche Jugend! ... Schwerdstahl, aus dem Rost! aus dem Schlauch junger Most! Durch die Dunstluft, Nordost! grüner May, aus dem Frost 3 0 5 !" Und in dem gemeinsam von Karl Folien und Adolf Ludwig Folien verfaßten Lied „Turnmay" findet man die Verszeilen: „Turnerey, lustiger May! / Grünende Kräfte, schwellende Säfte; / Knospen zerspringen, die Blume wird frey" 306 . Das Frühlingsmotiv, das den optimistischen Gedanken des natürlichen Neubeginns und das Gefühl der Hoffnung signalisiert, wurde von A. L. Folien auch in ein von ihm allein geschriebenen patriotischen Liedtext, der den Titel „Des Strommannes Frühlingsgrus" trägt, eingebracht. Auch hier erfüllt es im Rahmen der patriotischen Aussage eine wichtige Funktion. Dennoch ist es nicht das zentrale Motiv des Liedes. Diesem dient es vielmehr neben anderen Bildmotiven zur näheren Beschreibung und Charakteristik. Das Lied lebt vom Motiv des durch eine grüne Frühlingslandschaft fließenden Rhein-Stromes, der personifiziert als „Herr Rhein" vorgestellt wird. In den Reben, Wäldern und Wiesen „entlang der Stromesbahn", in denen „das grüne Frühlingsblut (wallt)", erkennt der Dichter das (grüne) „Waffenhemde" des Flusses, und die sich im bewegten Wasser brechenden Sonnenstrahlen muten ihm an wie die funkelnden, freudigen Blicke des „Strommannes 3 0 7 ". Daß der größte deutsche Fluß, den Frankreich zu Beginn des Jahrhunderts zur Grenze zwischen sich und Deutschland degradiert hatte (ein zeitgenössischer Vorgang, der - obwohl inzwischen rückgängig gemacht - aus der Erinnerung eines deutschen Patrioten nicht zu streichen war), Folien als deutscher Strom par excellence erscheint, daran läßt er keinen Zweifel aufkommen. Und daß nach seiner sicheren Überzeugung die durch die Geschichte begründete .nationale Qualität' des Stromes in der Gegenwart und in der Zukunft ungebrochen fortwirke - trotz der Versuche von außen, ihm seine nationale Integrität zu nehmen - , gibt er u.a. durch die Feststellung, „der alte, teutsche Rhein" grüne „ewig ... aufs neue 3 0 8 " und durch 304

305 306 307 308

Vgl. auch die Verbindung des Eichen-Motivs mit dem „Strom"- oder „Fluß"-Motiv: „.. .wo die hohen Eichen sausen, Himmel an das Haupt gewandt, wo die starken Ströme brausen, alles das ist teutsches Land" (Deutsche Lieder, S.45). A. L. Folien forderte die „rüstige(n) Turner" auf, sich „fest, wie die Eichen in Teutoburgs Forsten" zusammenzuschließen (Folien [Hrsg.], Freye Stimmen, S. 93). Das Eichenmotiv konnte auch in modifizierter Form aufgegriffen werden. Christian v. Buri sprach z.B. in seinem „Turngemeinde" betitelten Lied von „viel Eichelsaat", die in den „Heimathboden" eingestreut werden müsse, auf daß „manch ein Held erstehen soll, dem's Höchste wohl gelingt: Der Teutschland, nun so jammervoll, in Jubel wieder bringt" (ebd., S.8). In seinem Lied „Turnruf" wies v. Buri auf den „Eichenhain" hin, der dem „Volk zu Dank und Ruhm gehegt" werden solle (ebd., S. 10), und Arndt vergaß nicht, „den Kranz von Eichenblättern" zu erwähnen, der den „Vaterlands-Errettern" gebühre (Deutsche Lieder, S. 83). Karl Folien versicherte schließlich in einem Lied, dem er die Überschrift „Turnbekenntnis" gab, der „Begeisterung Blitz" und der „Mannheit Eiche" hätten „in Teutschland wieder gezündet" (ebd., S. 14). Folien [Hrsg.], Freye Stimmen, S. 15. Ebd., S. 16. Ebd., S. 17 f. Ebd., S. 19.

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die enge Verknüpfung von Rhein- und Frühlings-Motiv deutlich genug zu erkennen. Im vergangenen und zukünftigen Schicksal des Rhein-Stromes manifestiert sich, diese Uberzeugung spricht aus Follens Lied, nationales Schicksal schlechthin. Der Rhein kann deshalb vom Dichter ohne Schwierigkeiten in den Rang einer nationalen Allegorie erhoben werden. Rhetorisch geschickt versteht es Folien, in dem Lied das Rhein-Motiv mit anderen national .aufgeladenen* Metaphern und Motiven zu verbinden. So läßt er den „Geist" des Flusses „am Drachenfels" aus dem Wasser steigen und gibt ihm hoch auf dem Rücken des Berges die Gestalt eines in die „Lüfte" ragenden „Eichenbaum(s)" 3 0 9 . Die Geschichte der Nation, vor allem „des Volkes grose Zeit", „spiegelt (sich)" (Folien) in den Fluten des Flusses: Die Stadtmauern, die Dome, der Kölner D o m wird gesondert erwähnt, die Burgen entlang seinen Ufern sind in den Augen Follens eindrucksvolle Zeugnisse für das einstige Vorhandensein eines selbstbewußtfreien deutschen Bürgerstandes und eines wehrhaft-freien deutschen Rittergeschlechts und somit glänzende Beweisstücke für die geschichtliche Größe der Nation. Ein herausragendes Zeugnis aus einer weit zurückliegenden Epoche germanisch-deutscher Geschichte berge der Rhein sogar am „tiefsten Ort" seines Flußbettes: den sagenumwobenen Nibelungenhort 3 1 0 . Poetisch-gestalterisches Geschick beweist Folien auch bei seinem Versuch, die „Turnerey" bildlich und thematisch in das vom Fluß-Motiv getragene Lied einzuführen: Der dem Wasser entstiegene Geist des .nationalen Stromes' nimmt „auf Bergen, Bäumen und Au'n" die singenden, springenden, ringenden und schwingenden „Schwärme" junger Turner wahr. Voll Erleichterung kann er registrieren, daß das Leben an seinen Ufern sich nun endlich „wieder frey" (frei von ausländischer Unterdrückung!) rege und die Turner „die teutsche W e l t " der Turniere reaktiviert hätten 3 1 1 . Nationales Geschichtsbewußtsein vermittelte nicht nur A. L. Follens näher betrachtetes Lied, sondern viele der in Turnerkreisen verbreiteten patriotischen Gesänge. Einer historisch-legendären Gestalt aus grauer Frühzeit, dem Germanenfürst Hermann, wurde dabei eine absolute Vorrangstellung zuteil. Auf keine andere geschichtliche Figur beriefen sich die liederdichtenden Patrioten so oft und so variationsreich wie auf den kriegerischen Cherusker-Helden. Der germanische Stammesführer spielte in den Liedern die Rolle einer national-deutschen Identifikationsfigur allerersten Ranges. Ja, er war ein der Geschichte entlehntes nationales Symbol, so wie die Eiche ein aus dem Bereich der Natur stammendes Nationalsymbol war 3 1 2 . Heinrich I., Otto der Große, Rudolf von Habsburg, Kaiser Maximi309 310 311 312

Ebd., S. 18. Ebd., S. 18 f. Ebd., S. 18. Beispiele für den Hermann-Kult in den unter den Turnern verbreiteten patriotischen Liedern: „Liebst du den Hermann? liebst du den Retter?" fragt A. L. Folien eindringlich (Folien [Hrsg.], Freye Stimmen, S. 92). Und damit jeder unter des „Vaterlands Söhne(n)" weiß, um wen es sich handelt, entwirft er ein idealisiertes Bild von dessen historischer Leistung: „Wer steht am Heldendom der teutschen Lande/Am Thor und winkt uns mit dem Eichenkranz?/Ihn trieb zum Feind der Schmerz um Volkesschande;/Lockt Würde, Kaisergunst ihn dort in Bande?/Kein Hermann glaubt an Erdengötzenglanz! - / Er kehret heim, vereint die Freyheitsgluthen/Auf Römerschädel baut er Teutoburg:/Siegjubelnd, selbst verkannt, für's Volk zu bluten/Steigt er hinan zu Wuodan's Sternenburg (ebd., S.85). Während v. Schenkendorf inständig bittet: „O Hermann, Hermann! werde wach!" (ebd., S.84), verkünden die Gebrüder Folien in dem Lied „Turnmay" erleichtert und be-

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lian, Luther, Teil, Schiller und Andreas Hofer konnten zwar auch als Garanten deutscher Leistungsfähigkeit herausgestellt werden 3 1 3 , ihr Ruhm verblaßte jedoch neben dem Hermanns. Thematisiert war in mehreren patriotischen Liedern auch das, was ihre Verfasser in der deutschen Geschichte als besondere national-kulturelle Leistung wahrnahmen. „Teutsche(n) Sinn", „teutsche Art", „teutsche(n) Fleis" und „teutsche Treue" erkannte man vornehmlich in den Werken Erwin von Steinbachs, Wolfram von Eschenbachs, Dürers und Hans Sachs' 3 1 4 . Schließlich wurde in einigen Liedern auf den subjektiv empfundenen Qualitätsvorsprung der deutschen Sprache vor anderen Nationalsprachen, ihre angebliche Schändung durch das ungehemmte Eindringen fremder, sprich französischer, Sprachelemente, auf die Notwendigkeit des Abstreifens ihres fremdsprachlichen „Bettelrock(s)" und auf die ihr eigene Regenerations- und Fortbildungsfähigkeit verwiesen 315 . In den patriotischen Liedern, die in den Gemeinden der Turner gesammelt und bei vielerlei Gelegenheit intoniert wurden, kam jedoch auch mehr oder weniger direkt die Rede auf die politische Zukunft der deutschen Nation; es wurde mehr oder weniger unverblümt ausgedrückt, auf welche politischen Rechte und in welchem staatlichen Gehäuse zu leben das deutsche Volk Anspruch habe; kurz: der auf die Nation bezogene politische Veränderungswille der Patrioten brach sich in den Gesängen Bahn. Zu beiden in dieser Arbeit nach ihrer Herkunft unterschiedenen pa-

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geistert: „... Volkesgemeinde! Teutsche Gemeinde, dein Hermann ist da!" (ebd., S. 17). Für Karl Folien ist das junge gläubige, kräftige, keusche und freie Geschlecht der Turner schlicht „Hermanns Geschlecht" (ebd., S. 1). G. A. v. Selchow bekennt in „Reiters Morgenlied": „Für Hermanns Erb und Gut versprützen wir das Blut" (ebd., S.45), und E. M. Arndt kündet in dem 1813 entstandenen Lied „Der Freyheit Schlachtruf" an: „So ziehen wir zur Hermannsschlacht und wollen Rache haben" (ebd., S.23). Auch A. L. Folien beschwört die Hermannsschlacht, als er die Turner auffordert, sich fest zusammenzuschließen: „Steig' aus der Nacht, o Hermannsschlacht!" (ebd., S.93). Folien [Hrsg.], Freye Stimmen, S. 54, 87 ff., 92. Von den genannten historischen Figuren wurde Luther die größte Verehrung entgegengebracht. Vgl. K. Follens Lobpreis: „Dich preis ich, o Luther, wol/leis und laut/O begeisterter Redner zum Volke!/Der die Wahrheit umfasste, die Himmelsbraut/Wie der Sturm die glühende Wolke;/Dich, Glaubens Flammberg, dich Freyheitsdolch/Auf das Pfaffengewürm und den römischen Molch!" (ebd., S. 90). Ebd., S.34, 36, 88. v. Schenkendorf widmet dem Straßburger Münster und seinem Erbauer ein eigenes Lied (ebd., S.34). Einer seiner Verse lautet: „Wir sprechen dort (am Straßburger Münster, D. D.) ein hohes Wort, ein brünstiges Gebet/Daß Gott der Teutschen starker Hort verbleibe stet und stet^Daß, wie der Thurm, der teutsche Sinn entwachse seiner Zeit^Und nach dem Himmel strebe hin, wann ihn die Welt bedräut." In seinem „Lied von teutschen Städten" spricht v. Schenkendorf mit seinen Worten den Gedanken aus, daß sich in den „edlen Künste(n)", wie sie in der Stadt Nürnberg gepflegt werden, deutsches Wesen offenbare. Auch hier bleibt aber die historische Perspektive durch die Erwähnung von Dürer und Sachs gewahrt: „Wertn Einer Teutschland kennen und Teutschland lieben soll:/Wird man ihm Nürnberg nennen, der edlen Künste voll;/ Dich, nimmer noch veraltet, du treue, fleisge Stadt/Wo Dürers Kraft gewaltet und Sachs gesungen hat./Das ist die teutsche Treue, das ist der teutsche Fleis,/Der sonder Wank und Reue sein Werk zu treiben weiss." (ebd., S. 36). - Vgl. auch die Zeilen in A. L. Follens Lied „Teutschlands Stolz. Unser Schmerz": „Suchst du die grosen Führer zu tiefem, teutschem Sinn:/Dann schau auf Eick und Dürer, auf Wolfram und Erwin/Den reichen Himmel, wo das Licht aus Farbe, Stein und Tönen bricht" (ebd., S. 88). Vgl. Deutsche Lieder, S.44 u. 48; Folien [Hrsg.], Freye Stimme, S.51.

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triotischen Liedgruppen - zu den Liedern Arndts, v. Schenkendorfs, Körners (und einiger weiterer Patrioten) einerseits und den Liedern der radikalen Gießener „Burschenturner" andererseits - gehörten patriotische Texte, die den Gedanken an ein staatlich geeintes Deutschland verklausuliert oder offen aussprachen. Die Bezeichnung „Nationalstaat" verwendeten die dichtenden Patrioten freilich nicht; er gehörte nicht zum Begriffsvokabular des frühen deutschen Nationalismus. Die Bildung eines solchen Wortbegriffs lag für die Patrioten schon deshalb nicht nahe, weil unter ihnen das Wort „Nation" wegen seiner fremdsprachlichen Herkunft verpönt war und sie deshalb - dem Jahnschen Sprachgebrauch entsprechend - durchgängig vom deutschen „Volk" sprachen oder den Begriff deutsches „Volksthum" verwendeten, wenn sie an die Summe aller Wesenseigentümlichkeiten der deutschen Nation dachten. Terminologisch waren die politisch .gemäßigten' und die .entschiedenen' Patrioten stark rückwärts orientiert, wollten sie den Gedanken an ein politisch geeintes Deutschland zum Ausdruck bringen: Sie redeten in der Regel vom ,Reich', ,heil'gen teutschen Reich', ,neuen Reich' oder von einem ,freien Reich'316. Recht anschaulich dokumentiert ein Lied Max v. Schenkendorfs, wie sehr der staatliche Einigungswille der Patrioten auf die zum Gemeinschaftsgesang geeigneten Liedtexte durchschlug und wie sehr man sich in Patriotenkreisen der Rolle Jahns als herausragendem Vorkämpfer und unermüdlichem Propagandisten für eine politische Einigung Deutschlands bewußt war. v. Schenkendorf hatte einem seiner ausdrucksvollsten Lieder den langen Titel „Erneueter Schwur an den Jahn, vonwegen des heiligen teutschen Reiches" gegeben, um schon so klarzustellen, worum es ihm im Liede geht. Der Gesang war ein Preis auf die „Lehrer teutscher Jugend", insbesondere auf Jahn, die die Vision eines politisch geeinten und frei verfaßten Vaterlandes zuerst vor den Augen der Zeitgenossen, vor allem der Jugend, hatten entstehen lassen, und enthielt das leidenschaftliche Bekenntnis, man wolle an dem aufgezeigten Ziel unerschütterlich festhalten: „Wenn Alle untreu werden, so bleiben Wir doch treu" beginnt das Lied, und es endet mit den Versen: „Wir woll'n das Wort nicht brechen und Buben werden gleich,/Woll'n predigen und sprechen vom heil'gen teutschen Reich"317. In einem der am meisten von Turnern bis 1819/20 gesungenen deutsch-patriotischen Lieder, in Arndts „Was ist des Deutschen Vaterland318?" wurde der Wunsch nach staatlicher Einheit Deutschlands indirekt und dennoch unüberhörbar geäußert. Sieben Strophen seines Liedes beginnt Arndt mit derselben Frage: „Was ist des Deutschen Vaterland?" Nach jeder Frage nennt der Dichter einige deutsche Staaten oder Landschaften, um jedesmal die ungestüm-abwehrende Feststellung zu treffen, daß diese allein nicht das Vaterland des Deutschen sein könnten: „O nein, o nein, o nein! sein Vaterland muß größer sein"319. Im siebenten Liedvers gibt Arndt auf die wiederholt gestellte Frage nach der territorialen Reichweite des „Va316 317 318 319

Vgl. z.B. Folien [Hrsg.], Freye Stimmen, S. 13,28,41. Folien [Hrsg.], Freye Stimmen, S.41 ff. Vgl. z.B. oben S.90. Arndt zählt folgende „Länder" auf: „Preußenland", „Schwabenland", das Land „am Rhein", das Land „am Belt", „Baierland", „Steierland", das Land, „wo des Marsen Rind sich streckt", „wo der Märker Eisen reckt", „Pommerland", „Westphalenland", das Land, „wo der Sand der Dünen weht", „die Donau brausend geht", das „Land der Schweizer", „Tyrol" und „Oesterreich" (Deutsche Lieder, S.41 ff.).

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terlandes" endlich die erlösende Antwort: „So weit die Deutsche Zunge klingt, und Gott im Himmel Lieder singt! Das soll es sein, das, wackrer Deutscher, soll es sein" 320 . Die Verbreitung der deutschen Sprache als Muttersprache diente Arndt demnach als Kriterium für die Bestimmung des „Vaterlandet'. Alle jene Territorien und Landstriche, in denen vorwiegend Menschen leben, deren Muttersprache Deutsch ist, sind - so wird man Arndt realistischerweise interpretieren müssen Teile des deutschen Vaterlandes. Durch die mehrmalige Bekräftigung am Schluß des Liedes: „Das soll es sein, das ganze Deutschland soll es sein", unterstrich Arndt seine Auffassung, daß alle von deutschsprechenden Menschen besiedelten Gebiete - von denen er, wie erwähnt, in seinem vielstrophigen Lied nicht wenige aufzählt erst zusammen das „Vaterland" ausmachen. Sprachliches und territoriales Nationsverständnis vermischten sich miteinander. Durch die massive Betonung der Ganzheit des „Vaterlande/', der Zusammengehörigkeit und Einheit der deutschen Länder, mußte bei Sängern und Zuhörern des Liedes mit ziemlicher Zwangsläufigkeit der Gedanke an die staatliche Einheit der Nation geweckt werden und sich in deren Bewußtsein festsetzen, was die Absicht Arndts gewesen sein dürfte. In der von Jahn favorisierten und von ihm innerhalb der Turnbewegung protegierten patriotischen Gesangslyrik Arndts, v. Schenkendorfs und Körners und in den nationalen Gesängen der radikalen hessischen „Burschenturner" wurde nicht nur übereinstimmend der Gedanke an einen deutschen Nationalstaat genährt, in beiden Liedgruppen wurde auch der Begriff „Freiheit" in eine enge Beziehung zum deutschen Volk gesetzt. Bei der Lektüre der Liedtexte dominiert ganz der Eindruck, daß die Autoren „Freiheit" als ein elementares, unverzichtbares Grundrecht der Deutschen begriffen. Versucht man den von den Liedermachern plakativ herausgestellten Freiheitsbegriff näher zu fassen, bemüht man sich, dem Inhalt der von den Verfassern verkündeten und beschworenen „Freiheit" des deutschen Volkes auf die Spur zu kommen, so werden allerdings Unterschiede im Freiheits-Verständnis der Autoren sichtbar. Wenn Arndt, v. Schenkendorf und Körner in leidenschaftlich-poetischer und kämpferisch-visionärer Sprache die Freiheit des deutschen Volkes und Vaterlandes avisierten, so meinten sie damit ganz offenkundig in erster Linie ein von den vielfältigen Pressionen napoleonischer, also ausländischer Macht- und Gewaltpolitik, weniger ein von der Herrschaftswillkür deutscher Fürsten befreites deutsches Volk. Vor allem der Nationalismus der patriotischen „Kriegslieder", die von den drei Patrioten aus der Kriegseuphorie der Jahre 1813/14 heraus in großer Menge produziert (und von den Turngemeinden aufgegriffen) wurden, lebt ganz von einer antinapoleonisch-antifranzösischen Grundeinstellung321. Dennoch wird auch in einigen dieser Lieder - zumal in denen von Arndt - die Tendenz sichtbar, den Freiheitsbegriff weiterzufassen. Wenn es z. B. in dem Liede Arndts „Des teutschen Knaben Robert Schwur" heißt: „Ich schwöre 320 321

Deutsche Lieder, S. 43. Vgl. etwa Körners Lied „Frischauf mein Volk" (Folien [Hrsg.], Freye Stimmen, S.42ff.): „Frischauf mein Volk! die Flammenzeichen rauchen/Hell aus dem Norden bricht der Freyheit Licht/Du sollst den Stahl in Feindesherzen tauchen :/Frischauf mein Volk! die Flammenzeichen rauchen,/... Der Freyheit eine Gasse!- wasch die Erde,/Dein teutsches Land mit deinem Blute rein!" Beispielhaft auch Körners Lied „Letzter Trost": „... Und die wir hier rüstig zusammenstehn/Und keck dem Tod in die Augen sehn:/Woll'n nicht von dem Rechte lassen^Die Freyheit retten, das Vaterland^Oder freudig sterben das Schwerd in der HandyÜnd Knechtschaft und Wüthriche hassen!" (ebd., S. 58).

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dir, o Freyheit! auch, zu dienen bis zum letzten Hauch!/Mit Herz und Seele, Muth und Blut; du bist des Menschen höchstes Gut.//Auch schwör ich heisen, blut'gen Hass und tiefen Zorn ohn' Unterlass/Der Knechtschaft und dem franschen Tand, und jedem Joch im teutschen Land"322, so wird deutlich, daß Arndt unter „Freiheit" keineswegs nur ein Frei-sein von ausländischer Pression versteht323. Dessen ungeachtet kontrastiert der Freiheitsbegriff in den einige Jahre später entstandenen Liedern der Gießener zu dem in den Liedern von Arndt, Körner und v. Schenkendorf enthaltenen Freiheitsbegriff nicht wenig. Die „Unbedingten" verstanden unter „Freiheit" des deutschen Volkes immer ein Befreitsein der Nation von Fürstenmacht und Fürstenwillkür. Ihr Freiheitsbegriff konstituierte sich ausschließlich am Antagonismus von fürstlicher Gewaltherrschaft und unterdrücktem, seiner Rechte beraubtem Volk. Ob die Fürstengewalt ausländischer oder inländischer Art war, war für die „Unbedingten" von sekundärer Bedeutung. Angesichts der politischen Zustände Deutschlands in den Jahren nach 1815, in denen die „Unbedingten" ihre patriotischen Lieder schrieben und mit ihnen auf die Turnbewegung einwirkten, konnte sich jedoch ihre mit der Propagierung der nationalen Freiheit verbundene Fürstenkritik nur gegen die deutschen Feudalherrscher richten. Ein durchaus revolutionärer Atem ging von der mitreißend-schwungvollen Rhetorik der Gießener aus, wenn sie in ihren Versen Freiheitspathos mit Fürstenanklage verschmolzen. „Fürsten! eure Gauklerkunst spielt auf mürben Brettern;/Götzengroll und Höflingsgunst: das zerfleugt wie Dampf und Dunst,/In der Freyheit Wettern", warnte Karl Folien die fürstlichen Potentaten unüberhörbar324 und drückte den festen Willen zur Ausrottung jeglichen Despotismus mit den Worten aus: ,Ja, bey Gott und Vaterland! verderben/Woll'n wir der Gewaltherrn letzte Spur;/Gern für Recht, für Freyheit sterben, bleibt dem Volk die Freyheit nur"325. In dem Lied „Turnbekenntniß" prophezeite Folien in einem sprachlich prägnanten und bildlich beeindruckenden Zweizeiler die Erringung der Freiheit und die Beseitigung von Unterdrückung als ein Werk der Turner: „Der Freyheit Wiege, dein Sarg, Drängerey!/ Wird gezimmert aus dem Baume der Turnerey"326. Eine politisch-emanzipative Mission zugunsten des Volkes wies auch der „Burschenturner" Karl Heinrich Hofmann in einem seiner Liedtexte den Turnern zu. In dem Lied „Turnreihen" machte er sich und den Turngenossen Mut: „Gottseel'ger Muth und Einigkeit das liebe, arme Volk befreyt./Einigkeit Volk befreyt.. ."327 Mit dem Liede „Der Freyheit Ausfahrt im Turnmay" setzten schließlich die Brüder Folien Jahn in seiner Eigenschaft als Begründer der Turnbewegung und als Kämpfer für die „urheilige(n) Rechte" des Volkes, insbesondere seines Rechtes auf „Freyheit", ein Denkmal eigener Art. Das Lied setzt ein mit den Versen: „Als der Turnermeister, der alte Jahn,/ Für des Volks urheilige Rechte/Vortrat zu der Freyheit Rennlaufbahn :/Da folgt

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Folien [Hrsg.] Freye Stimmen, S.9. Vgl. ebenso v.Schenkendorfs patriotisches Kriegslied: „Warum Er in's Feld zieht". In ihm hebt er ausdrücklich hervor, daß er „nicht um Fürstenlohn und Ruhm" den Kampf gegen den äußeren Feind aufnehme, sondern als „Freyer" zusammen „mit freyen Bauern" (ebd., S. 46). Ebd., S. 29. Ebd., S. 27. Ebd., S. 14. Ebd., S. 14.

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ihm ein wehrlich Geschlechte./Hei! wie schwungen sich die Jungen frisch, froh, fromm, frey!/Hei! wie sungen da die Jungen: juchhei..." 3 2 8 Nicht nur den Freiheitsbegriff führten die „Unbedingten" in ihre patriotischen Gesangsdichtungen ein, sondern auch den in ihrer nationalpolitischen Ideologie, einen so maßgeblichen Rang einnehmenden Begriff der „Gleichheit". Ihn setzten sie sowohl in enge Beziehung zum Freiheitsgedanken als auch zum Nations- und Nationaljfei