Die Nation als Waffe und Vorstellung: Nationalismus in Deutschland und Großbritannien im Ersten Weltkrieg 9783666351396, 9783647351391, 3525351399, 9783525351390


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German Pages [430] Year 2002

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Die Nation als Waffe und Vorstellung: Nationalismus in Deutschland und Großbritannien im Ersten Weltkrieg
 9783666351396, 9783647351391, 3525351399, 9783525351390

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Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka Hans-Peter Ullmann, Hans-Ulrich Wehler

Band 158 Sven Oliver Müller Die Nation als Waffe und Vorstellung

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1

Die Nation als Waffe und Vorstellung Nationalismus in Deutschland und Großbritannien im Ersten Weltkrieg

von

Sven Oliver Müller

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1

Umschlagabbildung: Die Erscheinung des Heiligen Georg über dem Schlachtfeld Gemälde von John H. Hassall, 1916 © Imperial War Museum, London, 2002.

Meinen Eltern

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.ddb.de› abrufbar. ISBN 3-525-35139-9 Gedruckt mit Unterstützung der FAZIT-Stiftung Frankfurt a. M. und der Axel Springer Stiftung Berlin. © 2002, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. - Printed in Germany. www.vandenhoeck-ruprecht.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Umschlag: Jürgen Kochinke, Holle. Satz: Text & Form, Garbsen. Druck und Bindung: Guide-Druck GmbH, Tübingen. Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier.

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Inhalt Vorwort

9

Einleitung

11

I. »Augusterlebnis«. Wahrnehmungen und Deutungen des Kriegsausbruchs

35

1. Krise und Kritik. Nationalismus und Krisenrhetorik im Kaiserreich und in Großbritannien am Vorabend des Ersten Weltkriegs a) Flucht in den Krieg? Das Deutsche Reich zwischen 1912 und 1914 b) Am Rande des Bürgerkriegs? Großbritannien 1914 2. Kriegsausbruch. Furcht, Begeisterung und Bereitschaft a) Das »Augusterlebnis« in Deutschland - von »Goldautos« und anderen nationalistischen Phantasien b) Der Kriegsbeginn in Großbritannien. Spionagehysterie und »business as usual« 3. Konstruktion und Erlebnis der utopischen nationalen Gemeinschaft a) Der Kult der Gemeinschaft in Deutschland b) Der Kult der Gemeinschaft in Großbritannien 4. Zweierlei Kriegsausbrüche

36 36 46 56 56 70 81 81 96 108

II. Das Fremde und das Eigene. Die Grenzen der Nation 1. Grenzziehungen in Deutschland und in Großbritannien a) Wer ist der »Hauptfeind«? Die Anglo- und die Russophobie in Deutschland b) Ein idealer Feind? Zur Rolle des deutschen Feindbildes in Großbritannien

113 113 124

2. Nationalismus, Rassismus und Sexismus 134 a) »Ganz minderwertige Rassen«: Die Empörung in Deutschland über schwarze Kolonialtruppen 135 5 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1

b) Deutsche und britische Juden. Zum Stellenwert des politischen Antisemitismus im Ersten Weltkrieg c) Im Intimbereich der britischen Nation: Der Fall des Mr Pemberton Billing 3. Nationale Minderheiten a) Die Grenzen der »Germanisierung«: Die Polenpolitik im Deutschen Reich b) »Bloody Monday«: Die britische Irlandpolitik nach dem Osteraufstand

148 154 154 171

4. Kriegszielpolitik und Selbstbestimmungsrecht a) Der Drang nach Osten. Der Kampf um die Kriegsziele im Deutschen Reich b) »A Fight for Small Nations?« Die Auseinandersetzung um die Kriegsziele in Großbritannien

204

5. Alte und neue Grenzen

216

III. Kritik in der Krise. Der Widerstand gegen die Staatsintervention im totalen Krieg 1. Die Grenzen der Arbeiterloyalität a) »Wir sind das Volk«: Das Hilfsdienstgesetz und die Streikwellen in Deutschland b) Kooperation und Konflikt. Der Munition of War Act und die Streiks in Großbritannien

IV.

140

189 189

221 223 223 238

2. Der Preis der Freiheit? Die Wehrpflichtdebatten in Großbritannien a) Die Einführung der Wehrpflicht 1915/16 b) Der Kampf um die Wehrpflicht für Irland 1918 c) »Aping men«? Frauen in der britischen Armee

254 254 273 280

3. Die Nationalisierung des Krieges

285

Reform oder Revolution? 1. Die Politik der Exklusion. Die Auseinandersetzung um die Wahlrechtsreform in Deutschland a) »Für ein Vaterland des gleichen Rechtes«: Der Kampf um die Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts in Preußen b) Kein Thema: Das Frauenwahlrecht in Deutschland

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289 292 292 312

2. Die Politik der Inklusion. Die Auseinandersetzung um die Wahlrechtsreform in Großbritannien a) »One gun, one vote«: Die Neuregelung des Unterhauswahlrechts b) »Women belong to the nation as much as men«: Die Debatte über das Frauenwahlrecht 3. Die Partizipationsverheißung des Nationalismus

319 319 336 349

V Nationalismus in der deutschen und britischen Kriegsgesellschaft. Bilanz und Folgen

353

Abkürzungen

367

Quellen- und Literaturverzeichnis

369

Register

420

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Vorwort »Uns trennt die gemeinsame Sprache.« Karl Kraus

Das einzig Beständige ist glücklicherweise der Wandel. So unterscheiden sich auch die Ergebnisse dieser von der Fakultät für Geschichtswissenschaft und Philosophie der Universität Bielefeld im Sommersemester 2001 angenommenen Dissertation erheblich von den Ausgangshypothesen. Der ursprüngliche Vergleich nationalistischer Vorstellungen in Deutschland und Großbritannien im Ersten Weltkrieg galt der Suche nach einem Phänomen, welches den gesellschaftlichen Auflösungserscheinungen des totalen Krieges anscheinend entgegenwirkte. Der Befund war ernüchternd. Welche gemeinschaftsstiftende Wirkung man der Nation auch immer zuschrieb, die Sprache des Nationalismus trennte die Menschen mindestens so sehr wie sie diese vereinte. Der unruhigen Geduld und kritischen Förderung Hans-Ulrich Wehlers verdankt die Arbeit nicht nur ihr Thema und ihren Zuschnitt, sondern wohl auch ihre Existenz. Danken möchte ich ihm für den Freiraum, den er mir über all die Jahre hinweg ließ, für seine neugierige Diskussionsbereitschaft und seine profunden Anregungen, mit denen er meine Fragestellung wesentlich beeinflusst hat. Heinz-Gerhard Haupt hat als Zweitgutachter wertvolle Hinweise für die Überarbeitung der Dissertation gegeben. Zudem profitiere ich bis heute von seiner vielfältigen Unterstützung und seiner intellektuellen Toleranz. Mein Dank gebührt auch den Herausgebern der „Kritischen Studien“ für die Aufnahme in die Reihe, namentlich Helmut Berding für seine sorgfältige Lektüre des Manuskriptes. Ein jedenfalls von materiellen Sorgen weitgehend befreites Arbeiten ermöglichten mir großzügige Promotions- und Forschungsstipendien. Die Studienstiftung des Deutschen Volkes unterstütze mich für drei Jahre. Das Deutsche Historische Institut London förderte meine Archivreisen nach England für sechs Monate. Hier bin ich vor allem Lothar Kettenacker und Benedikt Stuchtey für viele bereichernde Gespräche dankbar. Für neun Monate war ich Stipendiat des Instituts für Europäische Geschichte in Mainz, wo große Teile des Textes entstanden. Martin Vogt verdanke ich zudem zahllose Hinweise und manch freundliche Aufmunterung. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der besuchten deutschen und englischen Archive und Bibliotheken halfen mir unermüdlich bei den Recherchen. Verpflichtet bin ich nicht zuletzt der Axel Springer Stiftung und der FAZIT Stiftung, deren unbürokratisch gewährter 9 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1

und generöser Druckkostenzuschuss eine Veröffentlichung der Dissertation ermöglicht hat. Federführend bei der Korrektur der Arbeit war Christel Brüggenbrock. Cornelius Torp steuerte zahllose gebetene und ungebetene Kommentare bei. Ihrer beider Freundschaft verdanken Autor und Text mehr als diese Zeilen ahnen lassen. Dirk Bönker, Svenja Goltermann, Andreas Helle, Till van Rahden, Frank Trentmann und Peter Walkenhorst haben sich des zweifelhaften Vergnügens unterzogen verschiedene Fassungen und Teile des Manuskriptes zu sichten und mit mir zu diskutieren. Jörg Echternkamp hat die Druckfahnen aufmerksam Korrektur gelesen. Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank. Meine Eltern haben die Entstehung der Dissertation beinahe ungeduldiger als ich begleitet und mich aufjede Weise immer wieder unterstützt. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet. Sarah Zalfen hat sowohl die Register des Buches als auch mein Glück ermöglicht. Berlin, im August 2002

Sven Oliver Müller

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Einleitung

»Worte sind heute Schlachten: Richtige Worte gewonnene Schlachten, falsche Worte verlorene Schlachten«. Erich Ludendorff

Diese Studie untersucht Nationalismus im Ersten Weltkrieg als Waffe und Vorstellung, genauer: als politische Handlungsstrategie und als politisches Deutungsmuster.1 Beide Elemente des Nationalismus - hier verstanden als das sich auf die Kategorie der Nation beziehende Denken, Reden und Handeln2 verweisen aufeinander und bestimmen seine Dynamik. Je häufiger Nationsvorstellungen als politische Handlungsstrategie angewandt werden, desto selbstverständlicher scheint es, mit ihrer Hilfe die Umwelt zu deuten und umgekehrt. Im Mittelpunkt der Arbeit stehen widerstreitende Nationsvorstellungen als Kommunikationsformen innenpolitischer Auseinandersetzungen. Dabei interessiert, wie mittels unterschiedlicher Berufungen auf die Nation potentiell jedes politische Lager3 verschiedene Elemente der Umwelt, besonders aber der politischen Öffentlichkeit nach bestimmten Regeln deuten und aktivieren konnte. Der Kampf um die zentralen Fragen des Krieges vollzog sich vor allem anhand der divergierenden Bestimmung der Grenzen und des Inhalts der »Nation«. Nationalistische Deutungen und Argumente spielten eine wichtige Rolle in allen Kontroversen über die innere und äußere Neuord1 Unter Deutungsmuster sollen hier diejenigen im allgemeinen unreflektiert angewandten Sprachmittel verstanden werden, welche zur Wahrnehmung und Sinnzuschreibung der Welt dienen. Das Potential der Deutungsmuster liegt, so kann im Anschluss an Reinhart Koselleck konstatiert werden, im Spannungsverhältnis zwischen der in den Deutungsmustern gespeicherten Erfahrung und Erwartung: In den Deutungsmustern ist mithin nicht nur vergangene Erfahrung gegenwärtig, sondern sie sind auch offen für die Verarbeitung und Aneignung neuer Erfahrungen. Darüber hinaus limitieren sie die zukünftigen Möglichkeiten und Grenzen dessen, was überhaupt aufgenommen und gedacht werden kann. Vgl. Koselleck, Erfahrungsraum, 349-75; Edelman, Politik; die Beiträge in Tannen (Hg.), Framing; sowie Daniel, Clio, 195-218, 259-78. 2 Vgl. Lepsius, Nation, 232. 3 Die Definition des Begriffs »politisches Lager« schließt an Rohe, Wahlen, 19-29, an, der darunter Formationen versteht, welche verschiedene Parteien und unterschiedliche sozialmoralische Milieus enthalten und eher aus der Abgrenzung von anderen als durch eigene Gemeinsamkeiten zusammengehalten werden. Die durch grundlegende Deutungsmuster und Aversionen bedingte Stabilität und die erst unter den Bedingungen des Weltkriegs zunehmende Flexibilität der vier großen politischen Lager des Deutschen Kaiserreichs (Konservative, Zentrum, Liberale und Sozialdemokraten) strukturierten die Öffentlichkeit. Auch für Großbritannien bietet sich ein Lager-Modell (Konservative, Liberale und Labour) an.

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nung der beiden Kriegsgesellschaften, im Streit über Feindbilder und Minderheitenprobleme, Kriegsziel-, Geschlechter- und Wahlrechtsfragen. Da jede Nation erst durch die Exklusion der wie auch immer definierten Nichtzugehörigen konstituiert wird, kam unter den Bedingungen des totalen Krieges der nationalistisch motivierten und legitimierten Feindschaft große Bedeutung zu. In Deutschland und in Großbritannien4 kennzeichnete eine extreme Feindfixierung die politischen Diskurse5 - eine nicht beliebig, aber von den politischen Akteuren doch immer wieder anders bestimmbare Feindschaft. Diese Vieldeutigkeit bedeutete aber auch, dass die Nationvorstellungen sowohl der Ausdruck als auch der Urheber von Auseinandersetzungen sein konnten. Kurz, hier geht es um den politischen Kampf um Macht und Deutungsmacht, mithin um Konflikte. Der Erste Weltkrieg markiert einen fundamentalen Einbruch in die gesellschaftliche Ordnung Deutschlands und Großbritanniens.6 Die fürchterlichen Opfer an Menschen und Material im »Großen Krieg« verursachten eine politische Legitimationskrise neuen Typs. Was die deutschen Armeen vor Verdun und die britischen Truppen an der Somme an Boden gewannen, konnten sie mit eigenen Leichen bedecken. Die Erschütterungen der Materialschlachten waren auch in der Heimat zu spüren. Die Führung eines industrialisierten Krieges setzte eine umfassende ökonomische, soziale und politische Mobilisierung voraus. Beide kriegführenden Staaten reagierten auf die Herausforderung, die der Krieg für den Bestand der herrschenden Ordnung darstellte, indem sie versuchten, sämtliche Ressourcen zu mobilisieren und ihren Einsatz zu kontrollieren. Die massiven staatlichen Eingriffe in die bestehenden Verhältnisse und die ungeheuren Kosten an Blut und Gut erhöhten dramatisch den Rechtfertigungsdruck auf die regierenden Eliten. Die angespannte innenpolitische Situation in beiden Kriegsgesellschaften kennzeichnete eine neue, alles Öffentliche und Private gleichermaßen erfassende Politisierung und Polari4 Strenggenommen müßte stets zwischen Großbritannien (d.i. nach der Union von 1801 auch Schottland und Irland) und England unterschieden werden. Stattdessen werden hier, der konventionellen Sprachregelung auch der Zeitgenossen folgend, beide Bezeichnungen meist synonym verwendet. 5 Zur begrifflichen Klärung des modischen Wortes »Diskurs«, das im Anschluss an Foucault darauf verweist, dass Sprache mehr darstellt als nur ein passives Medium für den Transport vermeintlich bereits vorhandener Bedeutungen vgl. Foucault, Ordnung; White, Discourse, 48-76; Toews, History, 879-907; Schöttler, Paradigma, 159-99; Hunt, History, 1-22; Jäger, Diskursanalyse, und die Analyse des Forschungsstandes von Jelavich, Poststrukturalismus, 259-89. Der Diskurs-Begriff vermittelt zwischen traditioneller Ideengeschichte und Sozialgeschichte und eröffnet eine Geschichte der kollektiven Denk- und Argumentationsmuster. Der Diskurs umfasst öffentliche Redegegenstände, die nach bestimmten, nicht nur sprachlichen Regeln produziert werden und ihrerseits Macht besitzen, weil sie Handlungen zur Folge haben können. 6 Vgl. zur Definitionsfrage wie »modern« und »total« der Erste Weltkrieg war nur die Beiträge in Chickering/Förster, Great War, Total War; Horne, Mobilizing; die Beiträge in Winter, Great War, u. Wehler, Totaler Krieg, 122-37.

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sierung. Die Folgen der erweiterten Staatsintervention und des gestiegenen Legitimationsdruckes waren daher widersprüchlich. Auf der einen Seite weitete der kriegführende Staat in einem bis dahin ungekanntem Ausmaß seinen Zugriff auf die Ressourcen sowie die politischen und sozialen Rechte der Gesellschaft erfolgreich aus. Auf der anderen Seite aber schwächten die Auswirkungen des totalen Krieges und die fortgesetzten staatlichen Bemühungen, die Kriegführung zu kontrollieren, zunehmend die Möglichkeiten der Regierungen in Berlin und London, die von ihnen initiierte Mobilisierung der Gesellschaft zu steuern. Dieser staatliche Kontrollverlust und die Aufwertung der breiten Bevölkerung stellte den Preis dar, den die regierenden Eliten für die Mobilisierung der Gesellschaft im totalen Krieg zu entrichten hatten. Und in dem Maße, in dem immer weitere Teile der Bevölkerung in die Kriegsanstrengungen einbezogen wurden, stiegen ihre politischen und sozialen Partizipationsansprüche.7 Nicht allein durch staatliche Zwangsmaßnahmen ließ sich der auf den politischen Akteuren in Deutschland und Großbritannien liegende Rechtfertigungsdruck mindern, sondern vor allem durch die Berufung auf die »Nation« als höchste Legitimationsinstanz. Zwar bedarf moderne Herrschaft generell einer mehrheitsfähigen Legitimationsbasis, politische Ungleichheit und staatliche Herrschaft, in welcher Form auch immer sie sich ausdrücken, sind in ausdifferenzierten Gesellschaften legitimationsbedürftig. Moderne Politik, verstanden als diejenigen Prozesse und Verhandlungen, die auf grundlegende Ordnungsprobleme zwischen gesellschaftlichen Gruppen oder zwischen diesen und dem Staat bezogen sind,8 sucht sich von dem auf ihr liegenden Legitimationsdruck durch den Bezug auf ein wie immer definiertes »Gemeinwohl« zu entlasten. Denn sobald politische Prozesse nicht mehr als Spiegel einer gegebenen göttlichen oder partikularen Ordnung begriffen und begründungsbedürftigwerden, führtjeder Weg ihrer Rechtfertigung zur Berufung auf ein allgemeines Interesse. Mit der grundsätzlichen Transformation von Herrschaft ist schließlich nur noch die »Demokratie«, genauer: die Regierung »im Namen des Volkes« möglich. Denn ist die Vorstellung vom Gemeinwohl und der Legitimität von Mehrheiten erst etabliert, lässt sich die politische Exklusion der breiten Bevölkerung immer schwerer rechtfertigen.9 Jeder Anspruch auf Legitimität muss sich auf eine vorgestellte Ordnung beziehen, innerhalb derer er gelten soll.10 Eine dieser Legitimationsbasen bietet das Konzept der »Nation«. Die Berufung auf die »Nation« und nicht auf die 7 Vgl. Horne, Mobilizing, 1-17; Geyer, Militarization, 80; Münkler, Nation, 87f.; Helle, Decline, 176f. 8 Dieses Verständnis von Politik folgt Rohe, Politik; ders., Kultur, 321-46, u. Edelman, Politik. 9 Vgl. zu den drei »Typen legitimer Herrschaft«, M. Weber, Wirtschaft, 124ff. 10 Vgl. Lepsius, Parteiensystem, 28.

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Monarchie oder die regierenden Eliten als maßgebliche Legitimationsinstanz markiert eine neue Form von Politik, lässt sich aus diesem Ordnungsentwurf doch der Anspruch der gesamten Bevölkerung auf die gleichberechtigte Teilhabe am Gemeinwesen ableiten.“ Die Berufung auf die Nation suggeriert die Existenz von Mehrheiten und dient gleichzeitig dazu, unterschiedliche politische, soziale und ökonomische Vorstellungen zu rechtfertigen. Legitimationswirksame Argumente zielen in der Regel auf nur sehr schwer zu bezweifelnde Werte. Appelle an vorhandenes und offenbar anerkanntes Wissen werden als geeignet angesehen, um neues mehrheitsfähiges Wissen zu erzeugen. Auf diese Weise werden politische und soziale Konflikte in ethische überführt. Die partikularen Interessen mit einem abstrakten und faktisch unbestimmbaren »nationalen Interesse« gleichzusetzen, erlaubte die Legitimation und die politische Konstruktion bestehender und neuer Herrschaftsverhältnisse.12 Dabei begünstigte der erfolgreiche Bezug des Nationalismus auf konkrete Herrschaftsprobleme, mithin seine realhistorische Geltung, seine Wirkungsmacht in den Augen der politischen Akteure.13 Diese Wirkung des Nationalismus ist nicht die Folge eines Erkenntnisprozesses der Beteiligten, einer - in der Sprache der Nationalisten - »Selbstfindung der Nation«, sondern das Ergebnis einer gegenseitigen Bedeutungszuschreibung, die mit der Logik einer »self-fulfillingprophecy« die Realität der Nation erzeugt. Das ist auch ein Grund dafür, weshalb die Natürlichkeit von Nationalismus und Nation so leicht behauptet werden kann.14 Die wahrhaft mörderischen Bedingungen des Ersten Weltkrieges verstärkten diese Legitimationsfunktion des Nationalismus grundlegend. Vor dem Hintergrund der Belastungen des Krieges waren die Regierungen und die konkurrierenden politischen Lager noch weit stärker als im Frieden gezwungen, ihre Herrschafts- und Partizipationsansprüche auf die denkbar breiteste Legitimationsbasis zu stellen. Die Kosten an Menschen und Material und die massiven staatlichen Beschneidungen institutioneller und personeller Freiheit ließen sich nur durch die Berufung auf die durch den Krieg in ihrer Existenz bedrohte Nation und mit der Notwendigkeit rechtfertigen, den angegriffenen Nationalstaat zu verteidigen. Allein durch den Bezug auf das im Denken der politischen Akteure vermeintlich über den Einzelinteressen stehende Gemeinwohl der kämpfenden Nation konnte man sowohl die Fortdauer der Krieges als auch die weitreichende Umgestaltung der Zivilgesellschaft legitimieren. Dem Appell an die Nation war in einem totalen Krieg mithin noch schwerer als im Frieden zu 11 Grundlegend dazu Breuilly, Nationalism, passim. 12 Vgl. Busshoff, Legitimität, bes. 150-96; Habermas, Strukturwandel; sowie M. Anderson, Practicing. 13 »In so far as nationalism is successful it appears to be true«, Breuilly, Nationalism, 64. Vgl. Ebd., 59-64; Echternkamp, Aufstieg, 480f; Helle, Ulster, 61f.; Münkler, Nation, 95. 14 Vgl. bes. Gellner, Nations, 53f., 126; Edelman, Politik, 146fT., und daneben Weichlein, Nationalismus, 171-200.

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widersprechen, so dass tendenziell jede Art von Politik in der Sprache des Nationalen formuliert werden musste. Auf diese Weise konnte die Rede von der Nation weitgespannte Vorstellungen und Hoffnungen aktivieren und gleichzeitig zur Durchsetzung von Herrschaftsansprüchen und Interessen gezielt instrumentalisiert werden.15 Nationalismus ist ein modernes politisches Phänomen. Er erlangt seine Bedeutung im Rahmen von grundlegenden Herrschaftskonflikten, die zwischen gesellschaftlichen Gruppen oder zwischen diesen und dem Staat ausgetragen werden. Begreift man Nationalismus als eine Kommunikationsform moderner Politik wird der Blick auf seine Vieldeutigkeit gelenkt. Zwar appellierten die Regierung und die streitenden politischen Lager im öffentlichen Raum an dasselbe Bezugssystem der Nation. Doch gleichartig waren die Nationsvorstellungen in keiner Weise. Das zeitgenössische wie das wissenschaftliche Reden von dem Nationalismus suggeriert zu Unrecht die Existenz einer geschlossenen Doktrin. Denn die scheinbare semantische Eindeutigkeit der Begriffe »Nation« und »Nationalismus« täuscht darüber hinweg, dass diese Kategorien in Deutschland und in Großbritannien (oder anderswo) in den vergangenen beiden Jahrhunderten nie fest oder abschließend bestimmbar waren und dass auch im Ersten Weltkrieg die unterschiedlichsten Vorstellungen von der Nation nebeneinander bestanden. Den Nationalismus als eine geschlossene Doktrin gibt es daher nicht. Das heißt nicht nur, dass wie auch immer geartete substantialistische Vorstellungen und der Glaube an vermeintlich »objektive« Kriterien der »Nation« in die Irre führen. Vielmehr wäre es strenggenommen geboten, stets von einer Vielzahl konkurrierender Nationalismen zu sprechen. Die deutsche und die britische Nation wurde das, was die politisch Handelnden aus ihr machten. Die Gleichzeitigkeit verschiedener Nationalismen innerhalb beider Kriegsgesellschaften entsprach in etwa den jeweiligen politischen Lagerbildungen. Die Grenzziehung der Nation variierte abhängig von Akteur, Kontext und Zeit und verdeutlichte, dass die Nation und ihre Feinde nicht abschließend definiert, sondern in einem politischen Prozess immer neu ausgehandelt wurden. Die Nation hat deshalb einen kontextuellen und prozessualen Charakter. Offenbar projizierten unterschiedliche Gruppen und Individuen, abhängig von ihrer Klasse, ihrer Konfession, ihrem Geschlecht oder ihrer politischen Orientierung, jeweils ihre eigenen Wertvorstellungen und Utopien in die interpretierbare »vorgestellte Gemeinschaft« der Nation. Die divergierenden Nationalismen entwickelten sich in Verbindung mit den verschiedensten Weltbildern und Loyalitäten, weil diese weiterhin Bestand hatten und mit dem Nationalismus symbiotisch koexistierten. Die semantische und ideelle Unschärfe der Nation ist damit eine wesentliche Ursache für ihre Durch15 Vgl. O. Müller, Legitimationsprobleme.

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Setzungsfähigkeit. Zwar berufen sich auch in einem ausgebildeten Nationalstaat nicht alle Lager und Gruppen allein auf die Nation, sondern rekurrieren mindestens ebenso oft etwa auf die Klasse oder die Konfession. Doch erlaubt die Vieldeutigkeit des Nationalismus seinen Anschluss an bestehende Weltbilder und Loyalitäten. Die Nationalismen wurden nicht wegen der Herstellung einer wie immer gearteten einheitlichen Auffassung wirkungsmächtig, sondern deshalb, weil sie die verschiedensten Vorstellungen und Interessen artikulierten, bündelten und gleichzeitig überwölbten.16 Der fortgesetzte Appell an die »Nation« bildet ein Verfahren zur Artikulation von Vorstellungen und zur Durchsetzung von Interessen, das in einer modernen Gesellschaft potentiell jedermann zur Verfügung steht. Keine gesellschaftliche Gruppe verfügt in einer pluralistischen Gesellschaft in politischen Fragen über ein meinungsbildendes Monopol. Zwar haben gesellschaftliche Eliten weit weniger Schwierigkeiten, ihre Politik als im »nationalen Interesse« liegend darzustellen als oppositionelle Gruppen, weil sie über größeren Einfluss auf den Sprachstil und bessere Zugangsmöglichkeiten zum öffentlichen Diskurs verfügen. Doch der Manipulationsspielraum der regierenden Eliten ist eng begrenzt, denn »Sinn« lässt sich nicht administrativ erzeugen. So wenig die kriegführenden Staaten davor zurückschreckten, die erforderliche Mobilisierung mit Hilfe rigoroser Zwangsmaßnahmen zu gewährleisten und Widerstand auch durch Zensur und Propaganda bekämpften, war doch klar, dass diese Mittel versagen mussten, wenn große Teile der Bevölkerung sich dem staatlichen Zugriff verweigerten. 17 Vor allem gilt: Handlungs- und Bewertungsnormen sind nicht abschließend zu begründen. Moderne legitime Herrschaft kennt keine gültige Rangordnung der Werte und Zwecke. Zwar beziehen sich in öffentlichen Auseinandersetzungen politische Argumente immer wieder auf »letzte Gründe«, allerdings mit der entscheidenden Einschränkung, dass diese gegeneinander konkurrieren. Daher besteht allerorten die Möglichkeit, divergierende normative Geltungsansprüche zu rechtfertigen und für deren Anerkennung zu streiten. In der Öffentlichkeit wird die Legitimität von Le-

16 Vgl. Haupt/Tacke, Kultur, 255-83; Ford, Nation, 31-46; H. Mommsen, Nation, 162-185, sowie dagegen Giesen/Junge, Patriotismus, 255-303. Vgl. zu Schweden Strahl, Nationalism. 17 Die verbreitete Auffassung, wonach eine ausgeklügelte regierungsamtliche Propaganda und Zensur die Bevölkerung kriegsbereit gehalten oder gar eine einheitliche »nationale« Stimmung hergestellt hätten, geht an der Realität vorbei. Die Identifikation mit der Nation ließ sich nicht verordnen, und in der Regel überzeugte die Propaganda nur bereits Bekehrte. Nationalismus war daher eher die Voraussetzung für erfolgversprechende Propaganda. Mißlungencne Interpretationsbeispiele stellen Gebele, Probleme, und Kestler, Auslandsaufklärung, dar. Vgl. dagegen Welch, Germany; Marquis, Words, sowie zur britischen Inlands- bzw. Auslandspropaganda Haste, Home Fires; Messinger, Propaganda; Sanders/Taylor, Propaganda. Vgl. zur Funktion von Propaganda insges. Daniel/Siemann, Dimensionen.

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gitimationsideologien nicht durch irgendeine Instanz, sondern nur durch die Konkurrenz der Interessengruppen untereinander entschieden.18 Der Menge der Nationalisten entsprach im Ersten Weltkrieg die Menge nationalistischer Deutungen. Für die Erforschung des Nationalismus im Ersten Weltkrieg, in Gesellschaften also, in denen fast jeder auf die eine oder andere Weise Nationalist war, kommt es besonders darauf an, zwischen verschiedenen Intensitätsgraden und divergierenden Varianten des Nationalismus zu unterscheiden.19 Die unterschiedlichen politischen Akteure durchliefen auch im Ersten Weltkrieg keinen vereinheitlichenden Nationalisierungsprozess, der eine wie auch immer geartete homogene Ordnung hervorgebracht hätte. Die auch von vielen Zeitgenossen projektierte »nationale Einheit«, im Sinn eines übergreifenden gesellschaftlichen Konsenses, ist in ausdifferenzierten Gesellschaften nicht zu erreichen.2“ Die Nation ist keine Interessen- und Wert-, sondern eine Kommunikationsgemeinschaft. Der Nationalismus schafft als Kommunikationsform die Möglichkeit zur Verständigung.21 Je nach dem Charakter der vorgestellten politischen Ordnungen wurden unterschiedliche Elemente der Umwelt nach nationalistischen Regeln gedeutet und zu Bezugspunkten der Handlungsorientierung erhoben. Die Berufung auf die Nation konnte mithin gleichzeitig eine Angelegenheit des Staates, der radikalen Rechten und der Arbeiterbewegung sein.22 Die kriegswirtschaftlich bedingte sowie auch semantisch und ideologisch vollzogene Aufwertung gesellschaftlich Minderprivilegierter erlaubte es diesen Gruppen sich staatlichen Eingriffen unter Berufung auf ihre Zugehörigkeit zur »Nation« und ihre kriegsrelevante Leistung zu widersetzen. Oppositionelle Gruppen konnten die staatliche Herrschaft insofern problematisch machen, als es ihnen unter dem Druck der Kriegsbedingungen gelang, selber das nationale Gemeinwohl zu definieren. Nicht nur, aber vor allem mit dem Appell an die Souveränität, die Egalität und 18 Vgl. M. Weber, Wirtschaft, 16ff., 548-50; Habermas, Legitimationsprobleme, bes. 96-140; Eley, Nations, 289-339; Giddens, Nation-State, 220f. 19 Darauf hat zu Recht Breuilly, Approaches, 37, hingewiesen. Vgl. bereits M. Weber, Wirtschaft, 16f, sowie Helle, Ulster, 50-56; Lemberg, Nationalismus I,31. 20 Irreführend sind Arbeiten wie Mosses, Nationalisierung der Massen. Vgl. auch Dann, Nation, und dagegen Richter, Nation, 146f. 21 Die Nation, dieses »ausgedehnte Allzweck-Kommunikationsnetz von Menschen« (Karl W. Deutsch), verbindet die verschiedenen Individuen durch Kanäle semantischer und sozialer Kommunikation miteinander. Der kommunikationstheoretische Ansatz verdeutlicht, warum Nationalisten denjenigen Nachrichten und Vorstellungen einen Vorrang in ihrer Kommunikation, in ihrer Wahrnehmung und Entscheidungsfindung einräumen, die nationalistisch kodiert sind. Vgl. Deutsch, Nationalism, 96-104; ders., Nation, 51f. 22 Vgl. zum extremen Nationalismus der radikalen Rechten in Deutschland Eley, Reshaping; Chickering, Men; Coetzee, League; Hagenlücke, Vaterlandspartei. Vgl. zu dem liberalen und demokratischen Traditionen verhafteten Nationalismus der Sozialdemokratie Kruse, Krieg; Park, Sozialismus, und Groh/Brandt, Gesellen, und zum Nationalismus des politischen Katholizismus Smith, Nationalism, bes. 37-78; Altgeld, Katholizismus, bes. 63-75, 195-211.

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die Einheit von Nation und Volk ließen sich im Ersten Weltkrieg politische Rechte legitimieren. Während die regierenden Eliten und das konservative Lager die bestehende Ordnung mit dem Verweis auf die in Kriegszeiten notwendige »nationale Einheit« verteidigten, forderte man aus dem gleichen Grund in den Reihen der Arbeiter- und Frauenbewegung politische und soziale Reformen. Je einschneidender die Belastungen des totalen Krieges spürbar wurden, desto erbitterter widersetzten sich minderprivilegierte Schichten der Legende der Regierenden und des konservativen Lagers von der »natürlich« gegebenen Ordnung der deutschen und der britischen Nation. Auch dieser Befund relativiert die vieldiskutierte These, dass sich in Deutschland nach 1878 ein Wandel vom »linken« emanzipatorischen zum »rechten« ausgrenzenden Nationalismus vollzogen habe. Die Betonung eines Funktionswandels vom linken egalitären zum rechten xenophoben Nationalismus unterschlägt die permanente, strukturelle Gleichzeitigkeit partizipationsverheißender und ausgrenzender Elemente im Nationalismus.23 Selbst für das wilhelminische Deutschland und das kriegführende Deutsche Kaiserreich spricht empirisch wenig für eine reine »konservative Okkupation des Nationalismus«.24 Hier ist daher zu fragen, welcher gesellschaftlichen Gruppe es in bestimmten politischen Auseinandersetzungen am erfolgreichsten gelang, mit Hilfe des Nationalismus ihre Vorstellungen zu formulieren und ihre Interessen durchzusetzen. Auf welche Art und Weise und in welche politische Richtung veränderte sich das nationalistische Denken, Reden und Handeln im Ersten Weltkrieg? Im Zentrum des Erkenntnisinteresses steht der mit Hilfe des Nationalismus auch in die Innenpolitik verlagerte totale Krieg. Zwar hat die Nationalismusforschung mit Recht die konstitutive Rolle von Kriegführung und nationalistischer Feindschaft bei der Bildung von Nationen und Nationalstaaten betont: »War made the State, and the State made war«, lautet die bekannte Formel Charles Tillys.25 Dagegen wird aber oft die politisch destabilisierende und für die kriegführenden Staaten dysfunktionale Rolle derselben Prozesse verkannt. Kriege und Nationalismen sind nicht nur »Väter« sondern auch »Totengräber« der Nationen und Nationalstaaten. Denn aus der Bereitschaft der kriegführenden Gesellschaften im Ersten Weltkrieg für einen militärischen Sieg Menschen, Material und Finanzen unbegrenzt einzusetzen, resultierte nicht nur die Entstehung des industrialisierten Vernichtungskrieges. Zu untersuchen ist, wie die 23 Vgl. Winkler, Vom linken, 5-28. Diese Gleichzeitigkeit betonen auch Langewiesche, Nation, 190-236, und Vogel, Nationalismus, 97-110. Vgl. zur Genese des »Liberalnationalismus« Echternkamp, Aufstieg. 24 Langewiesche, Reich, 372. Eine ähnliches Fehlurteil bei Jeismann, Vaterland, 381. Deutlich differenzierter aber Langewiesche, Nation. 25 Tilly, Reflections, 42. Vgl. Colley, Britons;Jeismann, Vaterland; Langewiesche, Nation, 2631, und die Beiträge in Echternkamp/ O. Müller, Politik.

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mit Hilfe divergierender Nationsvorstellungen geführten innenpolitischen Auseinandersetzungen über die Reichweite der gesellschaftlichen Mobilisierung im Ersten Weltkrieg Deutschland und Großbritannien polarisierten. Der Streit um die Umgestaltung der Gesellschaft, die Ziele und die Dauer des Krieges vollzog sich nicht nur, aber besonders durch nationalistisch begründete Grenzziehung und unterschiedliche inhaltliche Bestimmungen der eigenen Nation. Die Nationalismen gaben den Deutungsrahmen für eine semantisch umkämpfte Eigen- und Feindwahrnehmung vor. Als politische Kommunikationsform ist der Nationalismus mithin immer auch der Ausdruck und die Ursache von Konflikten.26 Denn die Grundgegebenheit von Politik bleibt, gleichsam als ihr »Sollzustand«, Streit und Auseinandersetzung, weil die gemeinsame Wahrnehmung eines Problems eben nicht dessen gemeinsame Lösung verspricht. Der in den zentralen politischen Auseinandersetzungen erhobene Anspruch der Regierungen in Berlin und London und der konkurrierenden politischen Lager auf die alleinige Gültigkeit ihrer jeweiligen Nationsvorstellungen öffnete neue Gräben zwischen den zur eigenen Nation Zugehörigen und den Fremden. Die theoretisch von jeder gesellschaftlichen Gruppe und von jedem Mitglied der Nation beanspruchbare Kompetenz zu wissen, wer oder was das Eigene und das Fremde ist, schuf ein ungeheures Konfliktpotential und eröffnete einen endlosen Kampf um überdeterminierte, doch stets im Wandel begriffene nationalistische Grenzziehungen. Indem die Menschen ihre Umwelt durch nationalistische Deutungen bipolar wahrnahmen, erfassten sie auch auf diese Weise - ohne dass es ihnen immer bewusst war ihre innenpolitischen Interessengegensätze deutlicher. Den politischen Akteuren war nicht klar, dass die von ihnen konstruierte Umwelt ihren Erwartungen nicht gerecht werden konnte.27 So reproduzierte bereits die Interpretation des militärisch-weltanschaulichen Kampfes durch nationalistische Vorstellungen den totalen Antagonismus im Innern. Im Gegensatz zur Friedenszeit, spielten sich die politischen Auseinandersetzungen im Krieg immer seltener innerhalb eines weitgehend loyal akzeptierten Verfassungsrahmens ab, sondern zwischen rivalisierenden nationalistischen Legitimitätsansprüchen. Eine wesentliche Ursache für die weitreichenden polarisierenden und destabilisierenden Wirkungen der konkurrierenden Nationalismen bestand nicht nur im fortschreitenden Belastungsdruck des Ersten Weltkrieges. Vielmehr führt bereits die Art und Weise, wie die politischen Ak26 Vgl. zum konfliktiven Potential des Nationalismus Eley, Reshaping; Smith, Nationalism; Geyer, Stigma; O. Müller, Gemeinschaft, und Münkler, Nation. 27 Dieser Widerspruch in der Wirkungsweise des Nationalismus folgt dem von Peter Berger und Thomas Luckmann beschriebene Paradoxon, dass der Mensch fähig ist, sich eine Welt zu konstruieren und sie dann doch als eine bereits vorgegebene begreift. Vgl. Berger/Luckmann, Konstruktion, bes. 139ff; sowie Geyer, Stigma, bes. 77-87; ders., Gewalt, 240-57; Horne, Remobilising, 195f.

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teure durch nationalistische Mobilisierungsstrategien und Deutungsmuster den Zusammenhalt der Nation anstrebten, zu anhaltenden innenpolitischen Auseinandersetzungen. Denn die Konstitution jeder Nation erfolgt durch Grenzziehungen. Erst die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Innen- und Außenseite schafft die Nation. Wer sich auf die »Nation« beruft, muss auswählen und ausklammern, muss Grenzen bestimmen und ihren Verlauf durch den Hinweis auf die »Einheit« innerhalb dieser Grenzen begründen. Die Herstellung der nationalen Kohäsion setzt die Ausgrenzung und Abwertung der wie auch immer definierten Nichtzugehörigen der Nation voraus. Die Nation bedarf für ihren Zusammenhalt der Feindbestimmung ebenso, wie die Konstruktion moderner Feindschaft durch die Berufung auf die Nation erleichtert wird. Die auf diese Weise erreichbare Integration der Nation birgt daher bereits ein konflikthaftes Moment. Da die Nation durch die Dialektik von Inklusion und Exklusion entsteht, ist schon der Akt der Konstitution der Nation ihrer Spaltung förderlich. Weil die »Einheit der Nation« gegen Nichtzugehörige nur durch die Bezeichnung von Unterschieden möglich ist und diese nicht wertneutral sein können, spalten die Nationalismen auch immer die eigene Gesellschaft. Denn die Differenzierungskriterien für nationale Grenzziehungen enthalten politische, soziale und kulturelle Werte, die umstritten bleiben und welche die konkurrierenden Interessengruppen unter anderem mit Hilfe nationalistischer Deutungen durchzusetzen suchen. Zudem rufen bereits die auf die Maßgröße der Nation sich berufenden Argumentationsschemata Widerspruch hervor, nicht trotz, sondern wegen der Behauptung von Einigkeit, wegen der Tendenz, Interessengegensätze zu negieren und abweichende Meinungen zu vereinnahmen. Der Einheitsrhetorik der Nationalisten haben sich auch weite Teile der Nationalismusforschung nicht entziehen können. Denn die meisten Autoren sind sich darin einig, dass der Nationalismus angesichts der Krisenerscheinungen der gesellschaftlichen Modernisierung in den vergangenen beiden Jahrhunderten soziale Integration und den Abbau von Unsicherheit und Spannungen durch die Wiederherstellung eines einheitlichen Normen- und Wertesystems ermöglichte. Diese kompensatorische Nationalismusdefinition besagt: Je einschneidender sich die Probleme der gesellschaftlichen Modernisierung auswirken, desto massiver erfolgt die Reaktion in Gestalt eines einheitsstiftenden Nationalismus, der die neue Grundlage für die Schaffung eines politischen Konsenses bilde.28 Die funktionale Nationalismusinterpretation geht 28 Vgl. zur Deutung des Nationalismus als »Integrationsideologie«, als einheitsstiftende Antwort auf die Herausforderungen der Modernisierung nur Schieder, Probleme; Wehler, Gcsellschaftsgeschichte I, 506-30; ders., Nationalismus; die Beiträge in Dann, Nationalismus, und die Überblicke von H. Mommsen, Nationalismus, und Winkler, Nationalismus. Exemplarisch für diese Beurteilung der Sozialgeschichte der 1970er und 1980er Jahre, und die Deutung des Nationalismus als manipulativ und sozialintegrativ, ist noch Bauerkämper, Rechte, 103: »Die Koexistenz

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explizit von einem integrierenden Potential des Nationalismus aus. Aber auch der kulturwissenschaftliche Nationalismusansatz teilt diese Prämisse wenigstens implizit, was an der Erforschung gemeinsamer Deutungsmuster, Symbole oder Festakte deutlich wird. Namentlich die relativ hohe Stabilität der Kriegsgesellschaften des Ersten Weltkrieges ist immer wieder mit den Wirkungen des Nationalismus und dem Fortbestand gemeinsamer Weltbilder erklärt worden, die ein Gegengewicht gegen desintegrierende Faktoren gebildet hätten.29 Gegenüber Vorstellungen von der Nation als primordialer, substantieller Einheit wird hier der Blick auf die Neuartigkeit, die Offenheit und die Vielfältigkeit des Phänomens gelenkt.30 Das Erkenntnisinteresse des relativen Konstruktivismus zielt nicht auf die der Nation als unveränderlich zugeschriebenen Merkmale wie Sprache, Geschichte und Religion, sondern auf den Prozess dieser Zuschreibung. In den Mittelpunkt rücken Inhalt, Formen und Vermittlungsweisen der jeweiligen Konstruktion, die eine spezifisch nationale Sicht auf die Welt ermöglichen. In der neueren Forschung hat sich das Konzept Benedict Andersons von der Nation als »imagined Community« weitgehend durchgesetzt. Als »vorgestellt« wird die Nation deshalb begriffen, weil die nationale Gemeinschaft im Denken ihrer Mitglieder entsteht.31 Nicht die Nation hat den Nationalismus, sondern dieser hat die Nation hervorgebracht - so Ernest Gellners prägnantes und mittlerweile weithin akzeptiertes Diktum.32 Ausschlaggebend für die Wirkungsmacht des Nationalismus sind der Glaube und die Selbstbindung der Individuen an »ihre« Gruppe, nicht eine vermeintlich »objektive« Realität - in der treffenden Formulierung Walker Connors: »What ultimately matters is not what is but what people believe is«.33 Die vermeintliche Entzauberung nationalistischer Mythenbildung mit Hilfe einer strengen Ideo[... ] politischer Manipulation und populistischer Mobilisierung kennzeichnete insgesamt die nationalistischen und sozialintegrativen Bewegungen sowohl in Großbritannien als auch in Deutschland«. 29 So etwa Winkler, in: MGM 18 (1975), 158-60, und Schramm, in: GG 2 (1976), 244-60, im Zuge ihrer Besprechung von Kockas Klassengellschaft und ihrer Kritik an seinem reinen Konfliktmodcll. Aribert Reimann, Krieg, 10, sucht im Reich der Deutungen und Feindzuschreibungen nach den »gesellschaftlichen Bindekräfte[n], die den ersten industrialisierten Massenkrieg« ermöglichten. 30 Anthony Smiths Plädoyer für eine Nationalismusforschung, welche die ethnischen Ursprünge und kulturellen Gemeinsamkeiten moderner Nationen untersucht, ist bei aller heuristischen Bedeutung seines Ansatzes für die Analyse des Nationalismus in den entwickelten Nationalstaaten des 20. Jahrhunderts wenig hilfreich. Vgl. Smith, Origins; ders., Identity, sowie Hutchinson, Modern, 1-38. Den besten deutschsprachigen Überblick über den Stand der Nationalismusforschung gibt Langewiesche, Nation. Wertvoll sind zudem immer noch H. Mommsen, Nationalismus, und Winkler, Nationalismus. 31 Anderson, Die Erfindung der Nation (Der Originaltitel »Imagined Communities« ist deutlich präziser). Vgl. Gellner, Nations; Kedourie, Nationalism, und zum damit verwandten Konzept der Nation als »gedachter Ordnung« (E. Francis): Lepsius, Nation. 32 Vgl. bereits Gellner, Thought, 168, und ders., Nations, passim. 33 Connor, Ethnonationalism, 93 (Hervorh. i. Orig.).

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logiekritik genügt daher nicht. Denn wenn man die Bedeutung dieses Vorstellungsgebäudes für den einzelnen Akteur wie für kollektive Akteure zu verstehen sucht, ist es wenig fruchtbar, diese Konstruktion der Nation als Herstellung von Unwirklichem zu begreifen und sie »realen« Gemeinschaften gegenüberzustellen.34 Alle sozialen Gemeinschaften werden zuerst »vorgestellt« und konstruiert. Erst die Anbindung neuer politischer Entwürfe an etablierte Verbände und Traditionen ermöglicht ihre Geltung. Entscheidend ist aber die Tatsache, dass die Nation durch den Glauben an ihre Gemeinschaft als Realität gesetzt wird und daher Realität erzeugen kann.35 Der Nationalismus hat - im Gegensatz etwa zum Kommunismus oder Liberalismus - nicht zuletzt deshalb keinen bedeutenden Theoretiker gefunden, weil die Analyse seines Inhalts unfruchtbar oder unmöglich ist. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird daher hier vorgeschlagen, die Nation nicht als substantielle Kategorie, sondern als eine Form zu begreifen.36 Die Nation selber besitzt - im Unterschied zum Nationalstaat - keine fest bestimmbare inhaltliche Substanz. Es sind die verschiedenen Akteure, die mit Hilfe des auf die Nation bezogenen Redens und Handelns - das ist der Nationalismus - ihre Interessen und Vorstellungen ausdrücken. Die Nation bildet eine »im Prinzip leere Hülle, die zu unterschiedlichen Zeiten auch ganz unterschiedlich gefüllt werden kann«.37 Der Nationalismus organisiert als Form politische, kognitive oder emotionale Inhalte, welche die Nationalisten in den verschiedensten Ausprägungen auf die »Nation« beziehen. Die Grundlage und das Medium der Form ist die nationale Sprache. Das zentrale Charakteristikum des Nationalismus ist die Handhabung einer herrschaftskonstituierenden Unterscheidung. Erst die Beschreibung einer Relation konstituiert die Nation. Indem Bestimmtes wahrgenommen wird, wird anderes ausgeschlossen und damit abgewertet. Die von der Form Nationalismus geleistete Wahrnehmung der Welt operiert mit einer scharfen Trennung von innen und außen und mit der »Erfindung« einer Herrschaftsverhältnisse neu konstruierenden Relation. Wo die Trennlinien gezogen werden, bleibt aber oft unbestimmt und von den jeweiligen Akteuren und ihrem Kontext abhängig. Aus diesem Verständnis des Nationalis34 So kritisiert B. Anderson (Erfindung, 16) zu Recht an Gellner, der auf der Erfindung der Nation insistiert, dieser habe »sich so sehr um den Nachweis [bemüht], der Nationalismus spiegle falsche Tatsachen vor, dass er jene›Erfindung‹mit›Herstellen‹von ›Falschem‹ assoziiert, anstatt mit ›Vorstellen‹und ›Kreieren‹.« Von dieser Tendenz, den Nationalismus als Hingabe an ein unwahres ideologisches Konstrukt, mithin als »falsches Bewusstsein« zu entlarven, ist auch Hobsbawm, Nationen, nicht frei. 35 Vgl. Berger/Luckmann, Konstruktion, passim, zudem Breuilly, Nationalism; Balibar/Wallerstein, Rasse, und die Beiträge in Hobsbawm, Invention. 36 Vgl. v.a. Richter, Nation, passim, der an Überlegungen Spencer Browns anknüpft, sowie Miles, Rassismus; Reiterer, Nation bes. 194-99. Vgl. auch Balibar, Nation-Form, in: ders./Wallerstein, Rasse, 107-30. 37 Wehler, Integrationsideologie, 75.

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mus folgt, dass seine Wirkung erst durch die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Innen- und Außenseite möglich ist. Wer sich auf die »Nation« beruft, muss auswählen und ausklammern, muss Grenzen bestimmen und ihren Verlauf begründen. Diese dichotome Klassifizierung der Welt bildet die Grundlage sozialer und politischer Verbände und ist in der Regel mit der normativen Zuschreibung positiver Eigenschaften für die Innenseite der Form und negativer für ihre Außenseite verbunden.38 Eine Nation ist demnach, folgt man dem Bonmot von Karl W. Deutsch, »eine Gruppe von Menschen, die durch einen gemeinsamen Irrtum hinsichtlich ihrer Abstammung und eine gemeinsame Abneigung gegen ihre Nachbarn geeint ist«.39 Mit anderen Worten: Der Nationalismus liefert ein Instrumentarium, um die Welt zu beobachten und zu deuten, das zunächst nur Einteilungs- und Klassifizierungszwecken dient. Durch die Aufnahme unterschiedlichster Bedeutungen machen Berufungen auf die Nation die Welt mit Erfolg sinnhaft verfügbar und bieten gleichzeitig den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Individuen eine politische Handlungsstrategie. Die Analyse der Form ist deshalb von der des Gehaltes nicht zu trennen. Entscheidend ist die unterschiedliche inhaltliche Füllung der Form durch die politischen Akteure. Denn die Nationsvorstellungen sind keine mit anderen Ideologien und Wertesystemen notwendig konkurrierenden Ideologien. Vielmehr greifen die Menschen Bestandteile weiterhin existierender Lebensbereiche und Ideologien mit Hilfe ihrer Nationalismen auf Im Rahmen dieser Arbeit wurde ein formaler Nationalismusbegriff statt eines substantiellen sowohl aus heuristischen als auch aus empirischen Gründen gewählt. Den Nationalismus als Form zu begreifen hat auch für die Erforschung des Phänomens im Ersten Weltkrieg wenigstens vier Vorzüge: Erstens vermeidet man die in der Nationalismusforschung stets lauernde Gefahr der Verdinglichung. Die Anwendung der Kategorie der »Form« veranschaulicht, warum substantialistische Auffassungen, die in der »Nation« und im »Volk« einen wesenhaften Sozialkörper erblicken, der Quellensprache aufsitzen und notwendig in die Irre laufen. Zweitens wird das Bewusstsein für den konstruierten Charakter der Nation und für die Bedeutung der die Umwelt ordnenden nationalen Sprache geschärft. Damit rücken zugleich die Vielfalt und auch die Widersprüchlichkeit dessen, was die Menschen unter »ihrer« Nation verstehen, in den Mittelpunkt der Analyse. Drittens wird der Blick darauf gelenkt, dass dem Nationalismus die Erschaffung einer wie auch immer gerechtfertigten 38 Vgl. Richter, Nation, 86f; Bourdieu, Vernunft, 7ff.; Reiterer, Nation, 197f.; Eley/Suny, Introduction. 39 Deutsch, Nationalismus, 9. Die Bedeutung der Feindschaft für den Nationalismus betonen u.a. Jeismann, Vaterland, passim; Colley, Britons; sowie Imhof, Nationalismus, 327-57; Richter, Nation, 104-11; Panayi, Immigrants, bes. 201-51; Slater, Defeatists, bes. 3-6.

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Grenze und die Konstruktion einer Herrschaftsverhältnisse beschreibenden Relation zugrunde liegt. Gerade die »Erfindung« der anderen Seite der Form ist von großer Bedeutung. Die Beschreibung der Welt mit Hilfe des Nationalismus ist, zugespitzt formuliert, nicht nur konstitutiv an eine Differenz gekoppelt, sondern die Abwertung der Außenseite ist von vornherein angelegt. Auf diese Weise lässt sich schließlich, viertens, mit Hilfe der Denkfigur der Form demonstrieren, warum der Nationalismus gesellschaftspolitische Konflikte befördert. Da die Nation keine feststehende Substanz umfasst, kommt der semantischen Ebene eine besondere Bedeutung zu. Die Nation entsteht erst durch das allseitige Reden von ihr. Die Sprache stellt das wichtigste Medium zur politischen Konstruktion der Nation dar. Sie ist nicht nur oft unbewusst wirksam, sondern kann gleichzeitig auch gezielt zur Durchsetzung von politischen Interessen eingesetzt werden. Die nationale Sprache gibt nach den Regeln der Inklusion und Exklusion der sozialen Welt eine nationale Form. Die eigene Position wird vorzugsweise nach solchen Kriterien und konträren Begriffspaaren bestimmt, welche die jeweilige Gegenposition abwerten. Mehr oder minder bewusst wird dabei augenscheinlich Unvergleichbares gegenübergestellt, um vermeintliche oder tatsächliche Feindgruppen aus der Eigengruppe auszuschließen und gar zu »Unmenschen« erklären zu können (»Händler« und »Helden«, »Britons« und »Aliens«). Je anschlussfähiger und affektgeladener bestimmte Begriffe und Argumentationsschemata gebildet werden, desto mehr Menschen fühlen sich von ihnen angesprochen und können sich ihrer bedienen. Daher können diejenigen Situationen definieren, Handlungsbereitschaft ebenso schaffen wie abrufen, mithin Macht ausüben, denen es gelingt, Sprache mit ihren Inhalten und Bedeutungen glaubhaft zu besetzen.40 Dabei müssen aber von den politisch Handelnden gewisse Regeln für das öffentliche Reden respektiert werden. Die meist unausgesprochenen gesellschaftlichen Kommunikationsregeln beschränken die Möglichkeiten dessen, was gesagt und getan werden kann. Die formale Einheit der Sprache des Nationalismus überdeckt, dass seine Inhalte und Bedeutungen uneindeutig sind. Die Empfänger massenmedialer Botschaften sind nicht nur passive Rezipienten. Das heißt, dass bestimmte politische Akteure sich zwar derselben nationalistischen Schlüsselbegriffe (»Volk«/ «people«, »Vaterland«/«country«) bedienen, diese aber unterschiedlich, ja antagonistisch konnotiert sind, je nachdem, wie Sender und Empfänger sie wahrnehmen. Mit anderen Worten: Auf der einen Seite erzeugen die Nationalismen als Kommunikationsform in und durch die Öffentlichkeit bei den Beteiligten 40 Vgl. v.a. Koselleck, Semantik, 211-259; Steinmetz, Sagbare, bes. 13-34, sowie die Pionierstudie von Hunt, Politics, bes. 10-16; Childers, Language, und bereits Stedman Jones, Languages, bes. 21 f.

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ähnliche Reaktionen und Auffassungen der Umwelt. Die Nationalismen haben in dem Sinn eine gruppenverbindende Funktion, als sie als Deutungsmuster gemeinsame Kategorien, Sinnzuschreibungen und Wahrnehmungen stiften. Die Grundlage der Nation bilden eine standardisierte Sprache und eine regulierte soziale Praxis, mithin gemeinsame Ausdrucksweisen, Denkfiguren, Systeme von Symbolen und Ritualen. Auf der anderen Seite aber verschärfen die mit Hilfe der Nationalismen artikulierten Interessen und Weltbilder bestehende politische, soziale und kulturelle Konfliktfelder und zeichnen für die unterschiedlichsten Reaktionen bei verschiedenen Gruppen verantwortlich. Die Angehörigen derselben »Nation« teilen daher tendenziell dieselbe politische Problemsicht, differieren aber ebenso oft in ihren Problemlösungen.41 Die Öffentlichkeit bezeichnet den gesellschaftlichen Ort der politischen Auseinandersetzungen und der Konstruktion von Herrschaftsverhältnissen.42 Sie ist damit auch der Platz, an dem die »Nation« entwickelt wird, bestehen bleibt oder scheitert. Entscheidend ist, Öffentlichkeit nicht als ein klassenspezifisches, in sich geschlossenes, bürgerliches Phänomen zu verstehen, sondern sie als Ort von zahlreichen konkurrierenden Diskursen und Interessenartikulationen zu begreifen, als Ort der Konfliktaustragung und Legitimierung von Herrschaft. Zwischen den verschiedenen politischen Lagern herrschte eine permanente interessengebundene, ideologische und kulturelle Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit. Sämtliche hier zu analysierenden Herrschaftsauseinandersetzungen vollzogen sich in einer pluralistischen Öffentlichkeit und in der Konkurrenz der durch die fortschreitende Demokratisierung und Parlamentarisierung aufgewerteten politischen Lager.43 Erst diese Entwicklung ermöglichte und erzwang die divergierende nationalistische Interessenlegitimation im öffentlichen Raum. Die hier vor allem interessierende Bedeutung der Öffentlichkeit liegt in ihrem politische Kommunikation ermöglichenden Potential.44 Die legitimationswirksame Öffentlichkeit steigert für bestimmte Phänomene die Aufmerksam41 Vgl. Gellner, Nations, 126f.; Edelman, Politik, 167-73; Geyer, Stigma, 91-95; Rohe, Kultur, 334f. 42 Die durch Habermas, Strukturwandel, angeregte Begriffsbestimmung fußt vor allem auf den Beiträgen in Calhoun, Habermas. Die bei Habermas vollzogene Gegenüberstellung einer kritisch räsonierenden bürgerlichen Öffentlichkeit des ausgehenden 18. und einer manipulativen, kommerzialisierten Öffentlichkeit seit dem Ende des 19. Jahrhunderts erfasst die Entwicklung nur unzureichend. Vgl. Ernst, Öffentlichkeit, 60-80; Requate, Öffentlichkeit, sowie ders., Journalismus, und zum Problem öffentlicher Konkurrenz: Eley, Nations, 289-339; Negt/Kluge, Öffentlichkeit, bes. 313-34. 43 Vgl. M. Anderson, Democracy, bes. 399ff 44 Das Entstehen und das Bestehen der Nationen seit dem 17. oder 18. Jahrhundert ging einher mit der Entstehung und der Existenz von Öffentlichkeit. Der öffentliche Diskurs widerstreitender Vorstellungen und Interessen mit Hilfe von Massenkommunikationsmedien, besonders der Presse, wurde für den Prozess der Nationenbildung grundlegend. Vgl. Deutsch, Nationalism; ders., Nation; Eley, Nations; Geyer, Stigma.

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keit und entzieht damit andere Themen und Probleme der Meinungsbildung. Die politische Kommunikation konzentrierte sich im Ersten Weltkrieg auf relativ wenige konfliktträchtige Themen in einer umkämpften Öffentlichkeit. Die gleichen Phänomene in der Kriegsgesellschaft wurden nun von allen thematisiert, aber ganz unterschiedlich interpretiert. Das polarisierte die Kommunikation, verengte sie auf wenige entscheidende Probleme, die zu Fragen von Sein oder Nichtsein stilisiert wurden. Es galt, im »semantische[n] Kampf, [...] politische oder soziale Positionen zu definieren und kraft der Definition aufrecht zu erhalten oder durchzusetzen«.45 Die Öffentlichkeit bildet daher nicht allein den Ort, an dem die »Nationen« entworfen werden und Regierungen ihre Herrschaft zu legitimieren trachten. Hier sollen besonders die Möglichkeiten untersucht werden, welche die Öffentlichkeit verschiedenen Gruppen bietet, die Ziele und die Geltung namentlich der staatlichen Herrschaft anzugreifen. Wenn die »Nation« eigentlich erst durch die öffentliche Kommunikation entsteht und der durch die nationale Sprache vermittelte Inhalt uneindeutig ist, beschränkt das auch die Möglichkeiten, die Wirkungen der Nationalismen zu kontrollieren. Daher konnte die Ausübung politischer Herrschaft nicht nur auf der Manipulation und ideologischen Eindämmung durch die regierenden Eliten beruhen, sondern musste in öffentlicher Auseinandersetzung stets neu verhandelt, anstatt durch direkte staatliche Kontrolle gewährleistet werden zu können. Der Erfolg in solchen Auseinandersetzungen resultierte gerade nicht aus dem gesellschaftlichen Konsens, dagegen aus kreativen Erfindungen, aus Machttechniken und Prozessen sozialen Lernens, welche die Denk- und Verhaltensweisen, die Vorstellungen und Handlungen der Beteiligten beeinflussten.46 Scheut man die Zuspitzung nicht, dann war die »Nation« im Untersuchungszeitraum die Summe derjenigen, welche die gleichen Zeitungen lasen.47 Da hier die »Nation« als Ergebnis eines öffentlichen Kommunikationsprozesses begriffen wird, bilden die Massenmedien dieses Vorganges, mithin im wesentlichen die Tageszeitungen, die Quellengrundlage des Projektes. Anhand von Tageszeitungen und Zeitschriften lässt sich die politische Orientierung von kollektiven Akteuren, von Einflusszentren - Parteien, Interessengruppen, Regierungseliten - als Repräsentanten der politischen Lager in der Öffentlichkeit untersuchen. Als Hauptquelle zur Herausarbeitung nationalistischer Diskurse über zentrale politische Problemfelder dienen je 16 ausgewählte Publikationsorgane in Deutschland und England, die systematisch von 1914 bis 1918 erfasst wurden. Sie bilden ein breites politisches Spektrum ab, das etwa von der 45 Koselleck, Begnffsgeschichte, 107-29, Zit. 113. 46 Vgl. Eley, Nations, 320-26; Bourdieu, Sprechen, bes. 11-17; Otto, Problematik, ferner Gestrich, Absolutismus, und zu den Prozessen fundamentalen Lernens in Krisensituationen: Siegenthaler, Regelvertrauen. 47 Vgl. B. Anderson, Erfindung, 30-43; Deutsch, Nationalism, 178-81.

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linkssozialdemokratischen »Leipziger Volkszeitung« bis hin zu den »Alldeutschen Blättern« und vom »Labour Leader« bis zur »National Review« reicht. Jedes politische Lager soll mit einigen führenden Zeitungen vertreten sein, die teilweise auch die Publikationsorgane bestimmter Parteien oder Interessenverbände waren. Politische Repräsentativität wurde bei der Zusammenstellung angestrebt. In beiden Vergleichsländern vollzog sich eine Aufwertung der Presse durch die innenpolitischen Bedingungen des Krieges. Das gestiegene Informationsbedürfnis der Gesamtbevölkerung wurde aufgrund des offizielle Burgfriedens der Parteien und selteneren Parlamentssitzungen vor allem durch die Presse bedient. Ungeachtet der staatlichen Zensur blieb in beiden Ländern die Bandbreite dessen erstaunlich groß, was veröffentlicht werden konnte.48 Die in den Zeitungen und Zeitschriften aufgesuchten politischen Debatten sind mit den Auffassungen ihrer Rezipienten nicht identisch. Was Zeitungen schreiben, bildet einerseits lediglich das Rohmaterial, aus dem Vorstellungen und Handlungen entstehen, andererseits reflektieren Zeitungen gesellschaftliche Strömungen und bestätigen bestehende Weltbilder. Medien schärfen insgesamt eher das Bewusstsein für bestimmte Themen, als dass sie die Haltungen und die Meinungen ihrer Leser kreieren. Als weitere Hauptquelle soll die Auswertung ausgewählter Unterhaus- bzw. Reichstags- und preußischer Abgeordnetenhausdebatten darüber Auskunft geben, inwieweit nationalistische Diskurse die konkrete Entscheidungsfindung der staatlichen Politik beeinflussten. Aus demselben Grund wird als dritte Quellengruppe eine Reihe von Regierungs- und Kabinettsakten flankierend herangezogen. Sie sollen den Verlauf der gegenseitigen Beeinflussung zwischen dem nationalistischen Reden in den Tageszeitungen und in den Parlamenten und den internen Regierungsentscheidungen aufhellen. An Literatur zum Ersten Weltkrieg und zum Nationalismus herrscht kein Mangel. Die Wandlungen der vielfältigen Interpretationen und Forschungsfelder spiegeln die Wandlungen eines sich im Laufe des 20. Jahrhunderts stets verändernden Erkenntnisinteresses am Ersten Weltkrieg wider. Eine Geschichte dieser zahlreichen Interpretationen und Debatten ist immer noch nicht geschrieben.49 Wenigstens für die im Anschluss an die Initialzündung der FischerKontroverse50 einsetzende sozialgeschichtliche Weltkriegsforschung und für die kulturgeschichtliche der vergangenen fünfzehn Jahre ist man geneigt, den 48 Vgl. ausführlich zur Zensur Kapitel 1.2. 49 Kommentierende Forschungsberichte über die neuere Literatur zum Ersten Weltkrieg geben Epkenhans, Forschungen, 458-87; Thoß, Weltkrieg, 1012-43; Krumeich, Kriegsgeschichte, 11-29; ders., Kriegsalltag, 187-202. Vgl. zur englischsprachigen Literatur Winter, Trends, 87-97; ders., Politics, 218-23, sowie Mai, Händler, 33-52. 50 Vgl. Fischer, Griff; ders., Illusionen, und ders., Bündnis. Zur Fischer-Kontroverse und einiger ihrer Folgen s. Jäger, Forschung, bes. 132-78, sowie Langdon, July, bes. 66-129.

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strapazierten Topos vom Paradigmenwechsel zu bemühen. Mit der Akzentverschiebung zum »Primat der Innenpolitik«51 der Sozialgeschichte gewann auch die Frage nach den Kohäsionskräften einerseits und den sich zunehmend verschärfenden Klassenspannungen andererseits an Bedeutung.52 Einen anderen Weg als die sozialgeschichtliche, an generalisierenden Erklärungsmodellen orientierte Weltkriegsforschung beschreitet die Kultur- und Alltagsgeschichte. Im Verlauf der 1980er Jahre äußerte sich zunehmend Unbehagen an einer Geschichte der Gesellschaft, die Gefahr zu laufen schien, die Perspektive des Individuums und der Mentalitäten auszublenden. Zum einen wird die historische Beschäftigung mit dem Ersten Weltkrieg zur Zeit bestimmt von einer Rekonstruktion des Lebens der einfachen Menschen an der Front und »Heimatfront« unter der Leitkategorie vom »Krieg des kleinen Mannes«.51 Parallel dazu gewann das Kriegserlebnis breiter Bevölkerungsschichten in der Heimat, oft in Gestalt regionalgeschichtlicher Studien, an Interesse. Namentlich der Mythos vom »Augusterlebnis«, vom Glauben also, dass sich die große Mehrheit der Bevölkerung in allen beteiligten Kriegsgesellschaften 1914 vor Euphorie und Kriegsbegeisterung kaum habe halten können, ist in letzter Zeit widerlegt worden.54 Allerdings ist mit dieser berechtigten Kritik an der nationalistischen Mythenbildung oft das problematische Verfahren verbunden, den aggressiven Nationalismus der Eliten mit der vermeintlichen Kriegsgegnerschaft der einfachen Menschen zu kontrastieren.55 Zum anderen vollzog sich auch in der deutschen Weltkriegsforschung mit der Hinwendung zur Analyse 51 Kehr, Der Primat der Innenpolitik. Vgl. Wehler, Bismarck. 52 Vgl. als markantestes Beispiel den Klassiker Kockas, mit dem programmatischen Titel: Klassengesellschaft im Krieg, sowie Feldman, Armee; Bieber, Gewerkschaften; Mai, Kriegswirtschaft; Boll, Massenbewegungen; Miller, Burgfrieden. Vgl. zu Großbritannien Waites, Class; DeGroot, Blighty; Marwick, War, u. insges. Turner, Politics. Vgl. zudem die systematische Überblicksdarstellung Constantines, War. Für die Weltkriegsforschung in Deutschland existiert bislang kein vergleichbares Pendant. Vgl. zur Arbeiterbewegung Hinton, First; Wrigley, Lloyd George; Horne, Labour; Tanner, Change; Klepsch, Labour; sowie insges. Winter, War. 53 Vgl. Ulrich, Augenzeugen; zur Stimmung der Landbevölkerung Ziemann, Front, sowie Jahr, Soldaten, und zu England Fuller, Morale; Winter, Men; Leed, Land. Vgl. insges. Wette, Krieg; Knoch, Kriegsalltag; Reimann, Welt, 129-45. 54 In Frankreich entstand bereits 1977 die Pionierstudie Jean-Jacques Beckers, 1914. Vgl. ders., Français. Entsprechendes für Großbritannien existiert bis heute nicht, trotz des vergleichenden Ansatzes bei Ferguson, Pity, und der Arbeit von Panayi, Enemy. Vgl. für Deutschland Verhey, Spirit; Kruse, Krieg; ders. Kriegsbegeisterung; Raithel, Wunder; Geinitz, Kriegsfurcht; Stöcker, Augusterlebnis; Ziemann, Augusterlebnis; Ullrich, Kriegsalltag, sowie insges. den regionalgeschichtlichen Überblick in Krumeich, Kriegsalltag. 55 Von dieser Neigung sind auch die Arbeiten von Ziemann, Front, und Kruse, Krieg, nicht frei. Vgl. zum Kriegseinsatz der intellektuellen Eliten, namentlich der Rolle der Professoren im Deutschen Kaiserreich und deren ideologischen Überhöhung des Krieges in Gestalt der sogenannten »Ideen von 1914« bes. Schwabe, Wissenschaft; Jansen, Professoren; Fries, Katharsis, sowie die Beiträge in W. Mommsen, Kultur; Lübbe, Philosophie; Rürup, Geist. Vgl. zu Großbritannien Wallace, War; Badash, British, u. insges. Stromberg, Redemption.

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von Wahrnehmungen und individuellen Deutungen eine nachholende Entwicklung zum englischen und französischen Forschungsstand. Denn das Problem der kulturellen Aneignung und Verarbeitung des Krieges mit Hilfe der Sprache hatte in England Paul Fussel bereits 1975 aufgeworfen. Durch die Entschlüsselung kultureller Deutungs- und Wahrnehmungsmuster sucht dieser jüngste Zweig der Weltkriegsforschung auf dem Weg der Sprachanalyse die Perspektive des Individuums, seine Erfahrungen und semantische Konstruktion der Umwelt zu erkunden.56 Vom Nationalismus handelt die Mehrzahl der genannten Arbeiten - auf die eine oder andere Weise. In vielen Darstellungen des Ersten Weltkriegs zeichnet ein selten näher bestimmter, aber überall entdeckter Nationalismus für die Intensität, die Schrecken und die Dauer dieses ersten totalen Krieges verantwortlich. Das »dem Nationalismus« in einem totalen Krieg eine besondere Verbreitung und Bedeutung zukommen kann, leuchtet zwar zunächst unmittelbar ein. Aber nur selten macht man sich die Mühe, genauer zu bestimmen, was unter »Nationalismus« eigentlich zu verstehen ist, und seine Wirkungsmöglichkeiten in der komplexen Situation des Ersten Weltkriegs näher zu untersuchen. Vielmehr läuft man zur Zeit Gefahr, sich in einem regelrechten Nationalismusdschungel zu verirren: Nationalismus wird nicht mehr allein in den Kriegszieldebatten und in den Schriften von Professoren aufgesucht, sondern auch verstärkt in der Werbesprache, in Konzertprogrammen, in Kinderspielzeugen und in allen möglichen Bereichen des Alltags im Ersten Weltkrieg.57 Die methodische Schieflage dabei ist, dass der Nationalismus als Universalschlüssel für alle Erscheinungen und Probleme des Krieges gilt - und damit alles und nichts erklärt. Zudem wird der Nationalismus im Ersten Weltkrieg zur Zeit nicht nur überall ausgemacht, sondern auch immer wieder mit Propaganda, mit staatlicher Meinungsmanipulation und der Herstellung von »falschem Bewusstsein« verwechselt oder gleichgesetzt. 56 Die wichtigste deutschsprachige Neuerscheinung zur Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs, noch dazu in der seltenen vergleichenden Perspektive, stellt die Studie Aribert Reimanns, Der Große Krieg der Sprachen, dar. Die zentrale Schwachstelle bei Reimann scheint aber die fehlende Herstellung der Beziehung zwischen den Wortfeldern und kulturellen Deutungen und den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu sein. Statt systematisch historische Konstellationen zu analysieren, wird oft impressionistisch aufwechselnde semantische Tendenzen verwiesen, weshalb sich trotz vieler überzeugender Ergebnisse der Eindruck einer gewissen Beliebigkeit aufdrängt. Vgl. ausführlich O. Müller, Kriegsausbrüche, u. insges. Fussel, War; ders., Einfluss, und auch Vondung, Propaganda. Grundlegend zur Kritik an Fussels »modernistischer« Lesart der literarisch-ästhetischen Rezeption des Weltkriegs und zum Stand der kulturalistischen Weltkriegsforschung Winter, Sites. Vgl. dazu Bogacz, Tyranny; sowie Mosse, Soldiers; die Beiträge in Hirschfeld, Kriegserfahrungen, und die Aufsätze in ders., Mensch. Vgl. ferner die Beiträge in Becker, Cultures; in van der Linden, Kriegsbegeisterung, und in Dülffer, Krieg. 57 Vgl. nur Hüppauf, War. Das ist auch ein Problem des Sammelbandes von Hirschfeld, Kriegserfahrungen.

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Hinsichtlich der Wirkungsweise nationalistischer Vorstellungen und Handlungsstrategien besteht daher reichlich Erklärungsbedarf Zwar scheint der Nationalismus im Ersten Weltkrieg, besonders derjenige der politischen Akteure in der Öffentlichkeit, zu sattsam bekannt zu sein, um neue Erkenntnisse und Erklärungen zu versprechen.58 Doch die wesentliche Ursache dieses Trugschlusses dürfte in den genannten unscharfen Vorstellungen von der Art und der Rolle der Nationalismen sowie in der Annahme begründet sein, Nationalismus habe eine wie immer geartete, wenigstens Gemeinschaftsvorstellungen und Aggressionshaltungen umfassende Substanz. Trotz der Konjunktur der Weltkriegsforschung und der Tatsache, dass der Stellenwert der nationalistischen Mobilisierung im Krieg als unstrittig gilt, existiert bis heute keine analytisch und systematisch angelegte Monographie, die das Phänomen Nationalismus selber und seine politische und kulturelle Reichweite in zwei Gesellschaften zum Gegenstand hat.59 Ungeachtet der vielen neueren Veröffentlichungen zum Ersten Weltkrieg ist die komparative Weltkriegsforschung über eine überschaubare Anzahl von Studien bislang nicht hinausgekommen - obwohl der systematische Vergleich regelmäßig gefordert wird.60 Eine Ursache dafür liegt darin, dass ein Vergleich mit zahlreichen methodischen und empirischen Problemen verbunden ist. Das generelle Problem vergleichender Geschichte ist, dass sie überaus selektiv und abstrahierend vorgehen muss. Der Vergleich steht stets in der Spannung zwischen der Generalisierung und der Selektion einerseits und der Wahrung des Konkreten und des Kontextes andererseits.61 Ein deutsch-englischer Vergleich wird durch die Tatsache zusätzlich erschwert, dass die soziale Sprache in England und Deutschland erheblich differiert. So ist etwa der mehrdeutige Begriff »race« oft nicht mit »Rasse« zu übersetzen. Vielmehr müssen für die Untersuchung Begriffsäquivalente (wie etwa Volk, Zivilisation, Kultur) verwendet werden. Da zudem bestimmte Schlüsselbegriffe aus dem einen Vergleichs58 So etwa Reimann, Krieg, 18, der von »den bekannten Diskursen des öffentlichen Kriegsnationalismus« ausgeht. 59 Die besten Arbeiten zum Thema, aber im wesentlichen mit Blickrichtung auf den Kriegsausbruch, stellen die genannten Arbeiten von Verhey, Kruse, Raithel und Reimann dar. Vgl. die Monographien von Stibbe, Anglophobia; Jeismann, Vaterland, 299-373; die ideologiekritische Studie Hoovers, God; die Aufsätze von Leonhard, Nationalkrieg und Janz, Nationalismus, sowie insges. zur Wirkungsweise des Nationalismus im Ersten Weltkrieg Geyer, Stigma, ferner M. Coetzee, Nationalism, dagegen Farrar, Nationalism; ders., Villain; Winter, Nationalism. 60 Vgl. außer den genannten Arbeiten von Reimann, Krieg; Raithel, Wunder; Jahr, Soldaten; Hoover, God; Horne, Labour; Leonhard, Nationalkrieg und Janz, Nationalismus; auch Horne, State; Becker, Sociétés. Zusätzlich von Interesse ist der komparative Ansatz bei Jeismann, Vaterland; Baucrkämper, Rechte; Kennedy, Movements; Gordon, Conflict, und ferner in Carsten, War; Marwick, War. 61 Vgl. zu Möglichkeiten und Grenzen des Vergleichs insges. Haupt/Kocka, Vergleich; Kaelble, Vergleich; Kocka, Research; ders., Probleme, sowie Sartori, Compare.

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kontext sich im anderen kaum finden, ist ein Vergleich von Argumentationsmustern demjenigen von Worten überlegen. In der Sprache sind Bedeutung und Erfahrung, Tradition und Kontext gespeichert, die an die Einmaligkeit der jeweiligen Sprache zurückgebunden bleiben. Begreift man die »Nation« als Ergebnis eines Kommunikationsprozesses, fragt man nach der Wirkung von Deutungsmustern, kommt es im Idealfall darauf an, auch die darin verschlüsselten Bedeutungen und Erfahrungen zu übersetzen.62 Angesichts der »Sonderweg«-Debatte birgt gerade ein deutsch-englischer Vergleich die Gefahr in sich, die Ergebnisse des Vergleichs in hohem Maße zu präjudizieren. Der Erste Weltkrieg selbst kann als Urheber der anfänglichen »Sonderweg«-Debatte gelten. Die längst bestehende Übersteigerung einer vermeintlich einzigartigen deutschen Sendung verdichtete sich in Gestalt der »Ideen von 1914« zu extremen Überlegenheitsansprüchen. Diesem positiv gedeuteten deutschen »Sonderweg« hielt die alliierte Kriegspropaganda das Zerrbild einer Abweichung Deutschlands vom idealisierten westlichen Weg in die Moderne entgegen. Die Exzesse des deutschen Radikalfaschismus warfen dann nach 1945 verstärkt die Frage auf, »warum Deutschland nicht England war« (Ralf Dahrendorf). Damit rückte das Problem einer drückenden Kontinuität in der deutschen Geschichte, eines Abstiegs von Bismarck zu Hitler, in den Mittelpunkt historischer Auseinandersetzungen. Es ist hier nicht der Ort, den Gang der hitzigen, immer auch von außerwissenschaftlichen Faktoren beeinflussten »Sonderweg«-Debatte zu schildern.63 Ein methodischer Einwand aber ist entscheidend: Um eine Abweichung zu konstatieren, ist es notwendig, von einer Regel auszugehen. Wenn der Vergleich ein erklärungskräftiges Instrument zur Überprüfung besonderer oder allgemeiner Entwicklungen ist, dürfen von keinem der Vergleichsobjekte oder Vergleichsländer aus die Bedingungen und Normen der Untersuchung gesetzt werden. Man muss sich also davor hüten, Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf eine vermeintlich feststehende »Maßgröße« zu beziehen.64 Unter diesem Vorbehalt sucht die Arbeit auch einen Beitrag zur »Sonderweg«-Debatte zu leisten, indem sie durch die Analyse der politischen Konfliktaustragung in zwei unterschiedlichen gesellschaftlichen Konstellationen »besondere« und »allgemeine« Entwicklungen herauszuarbeiten sucht. 62 Koselleck/Spree/Steinmetz., Welten, 14-58, hier bes. 22. Vgl. Olt, Krieg; Geyer, Violence, 91-95; Cunningham, Language; Chickering, Nationalismus; Fishman, Language, und insges. Fussel, Great War. 63 Vgl. zur Kritik der »Sonderweg«-These im allgemeinen und der Darstellung des Deutschen Kaiserreiches (etwa im gleichnamigen Buch H.-U. Wehlers) im besonderen Blackbourn/Eley, Pecularities; Eley, Geschichte; ders., History, und von konservativer Seite bereits Nipperdey, Kaiserreich. Vgl. Grebing, Sonderweg. Vgl. zur »kritischen Antikritik« H.-U. Wehlers, Sonderweg; u.v.a. ders., Gesellschaftsgeschichte III, 449-86. 64 Vgl. Welskopps berechtigte Kritik, Stolpersteine, 339-67, an Eisenberg, Arbeiterbewegungen. Zu der gleichen methodischen Einsicht gelangte bereits Breuilly, Comparison.

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Für die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts und die Geschichte des Nationalismus kommt daher einem Vergleich von Deutschland und Großbritannien im Ersten Weltkrieg eine zentrale Bedeutung zu. In der Perspektive der Zeitgenossen wie der Historiker stellen die Vergleichsländer die wichtigsten politischen und militärischen Kriegsgegner dar. Die Bedingungen des Weltkrieges und seiner innenpolitischen Folgen bilden die Ausgangsbasis für den vorliegenden Vergleich. Den gemeinsamen Herausforderungen und Problemen des Krieges entsprachen sehr ähnliche Formen der nationalistischen Mobilisierung. Die Geschichte der Vergleichsländer veranschaulicht geradezu idealtypisch mögliche Reaktionen auf die Herausforderung des totalen Krieges und beleuchtet zumal die Prozesse der »nationalen« Legitimationsbeschaffung. Zu fragen ist nach der gesellschaftlichen Reichweite der oft identischen nationalistischen Mobilisierungsstrategien in Deutschland und Großbritannien. Zudem ist stets die Rückwirkung des unterschiedlichen Kriegsverlaufs auf die sich so wandelnden Nationsvorstellungen und Grenzziehungen zu berücksichtigen. Doch ungeachtet einer Reihe von im deutsch-englischen Vergleich auftretenden verblüffenden Parallelen bleiben wichtige Differenzen in der Entwicklung beider Länder. Es ist zu klären, wie ähnliche politische Probleme durch andere Formen nationalistischen Redens und Handelns, aber auch durch spezifische gesellschaftliche Konstellationen eine unterschiedliche Lösung erfuhren. Die fraglos vorhandenen Unterschiede, etwa hinsichtlich des Ausmaßes staatlicher Repression und nationalistischer Exklusion und der Chancen nationalistisch legitimierter Opposition, dürfen nicht verkannt werden. Die in beiden Ländern oft überaus ähnlichen Begründungen nationalistischer Ungleichheit haben, losgelöst aus ihremjeweiligen gesellschaftlichen Kontext, nur einen begrenzten Erklärungswert. Erst die verschiedenartigen politischen, sozialen, kulturellen oder ökonomischen Rahmenbedingungen machen die unterschiedliche Wirkungsweise, z.B. der nahezu identischen biologistischen Deutungsmuster verständlich. Der Vergleich trägt daher dazu bei, das Dickicht an Erklärungsvorschlägen im Bereich der Nationalismusforschung zu lichten und entscheidende Faktoren für gemeinsame und besondere Entwicklungen in beiden Gesellschaften erkennbar zu machen. Die vorliegende Studie begreift den Nationalismus mithin als Relationsphänomen. Sie widmet sich nicht der kaum lösbaren Aufgabe, danach zu fragen, was unter Nationalismus »eigentlich« zu verstehen ist, sondern sucht seine Beziehungen zu anderen Faktoren, seine Wirkungsweise und Grenzen in konkreten historischen Konstellationen im Ersten Weltkrieg zu erfassen. Noch einmal: Von ihrem politischen Kontext und den variierenden Akteuren abgelöst, erklärt die allseitige Berufung auf die Nation wenig. Es kommt daher auf die Vermessung des Verhältnisses zwischen den nationalistischen Deutungsmustern und dem spezifischen historischen Kontext 32 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1

an.65 Diefolgendenzentralen Problemkomplexe werden als Orte von »nationalen« Herrschaftsauseinandersetzungen untersucht: Zunächst gilt es in beiden Vergleichsländern die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, politischen Probleme und die Verschiedenartigkeit konkurrierender Nationsentwürfe am Vorabend des Kriegsausbruchs zu beleuchten (I.1.). Darauf geht es um die Reichweite und die Grenze des sog. »Augusterlebnisses« als Fallbeispiel eines vermeintlich vereinenden gesamtgesellschaftlichen Nationalismus (I.2.U.3.). Auf der funktionalistischen Analyseebene ist zu klären, wie nationalistische Diskurse ihre Deutungsmacht und ihre Breitenwirkung erlangten, wie die Mechanismen gegenseitiger Beeinflussung funktionierten. Wie ließen sich mit Hilfe nationalistischer Argumente politische Macht ausüben und Interessen legitimieren? Auf der kulturwissenschaftlichen Analyseebene ist zu fragen, welche Denk- und Handlungsspielräume nationalistische Vorstellungen eröffneten oder verschlossen. Das zweite Kapitel handelt von nationalistischer Exklusion, von der durch Grenzziehungen immer neu bestimmten Nation und von den auf diese Weise verschärften innenpolitischen Konflikten. Der Kampf um die Grenzen und den Gehalt der eigenen Nation beförderte eine neue Qualität nationalistisch motivierter und legitimierter Feindschaft. Aus der nationalistisch verzerrten Wahrnehmung der Umwelt folgte, dass die Bedrohung durch den viel besser bekannten innenpolitischen Gegner mindestens so akut schien wie die durch den außenpolitischen Gegner (II.1.). Die Transformation der Feindschaft durch biologistische Nationsvorstellungen wird in einem gesonderten Kapitel über den Stellenwert des Rassismus, aber auch im Rahmen der politischen Auseinandersetzungen über »nationale Minderheiten« analysiert. Ob aber aus der sich in beiden Vergleichsländern vollziehenden Ethnisierung und Biologisierung der Nationskonzepte notwendig ihre Radikalisierung resultierte, wie es in der Nationalismusforschung allgemein angenommen wird,66 gilt es am konkreten Fallbeispiel zu untersuchen (II.2.-3.). Vor dem Hintergrund des Homogenitätsdrucks des totalen Krieges und einer vergleichbaren gesellschaftlichen Pariastellung der »nationalen Minderheiten« ist ein Vergleich der deutschen Polen- und der britischen Irlandpolitik von Interesse (Π.3.). Schließlich soll der Kriegszielstreit nicht nur unter dem Aspekt der innenpolitischen Polarisierung vermessen werden, sondern es ist auch zu fragen, inwieweit das nationalistische Reden die Gründe und die Ziele veränderte, für die man erklärte Krieg zu führen (IIA). Im dritten Kapitel geht es anhand der Debatten um politische Streiks und die Einführung der Wehrpflicht in England um die Ausweitung der Staatsintervention und den gesellschaftlichen Widerstand gegen staatliche Repression. 65 Vgl. Breuilly, Nationalism, 69f.; Goltermann, Körper, 327-29. 66 Diese - zunächst überaus plausible - Hypothese teilen u.a. Brubaker, Citizenship, passim: Lepsius, Nation, 235-38; Mosse, Rassismus, 207ff.

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Die massiven staatlichen Eingriffe in die bestehende Ordnung, aber auch der Widerstand gegen staatliche Zwangsmaßnahmen ließen sich nur durch die Berufung auf die durch den Krieg in ihrer Existenz bedrohte Nation rechtfertigen. Gerade in Großbritannien verteidigte man so im Kampf um die Wehrpflicht entschlossen die liberale Zivilgesellschaft der Vorkriegszeit. Zu klären ist, inwieweit die kriegswirtschaftlich bedingte und auch ideologisch vollzogene Aufwertung Minderprivilegierter und vor allem der Arbeiterbewegung, es oppositionellen Gruppen erlaubte, sich unter Berufung auf ihre Zugehörigkeit zur Nation und ihre kriegsrelevante Leistung staatlichen Zwangsmaßnahmen zu widersetzen (III.l.u.2.). Das vierte Kapitel untersucht schließlich die inklusive Dimension nationalistischer Exklusion am Beispiel der Debatten über die Reform des Wahlrechts zum preußischen Abgeordnetenhaus und zum britischen Unterhaus. Bereits aus der Vorstellung von nationaler Einheit folgte für alle Mitglieder der Nation zwingend der Anspruch auf kollektive Inklusion, ja, auf politische Partizipation. Die durch nationalistische Grenzziehungen im Krieg vorgenommene Exklusion von Fremdgruppen eröffnete im Umkehrschluss denjenigen, die sich zur eigenen Nation bekannten, neue Handlungsspielräume und überwand selbst vermeintlich feststehende Grenzen. Zu fragen ist, ob und auf welche Art und Weise ehemals minderprivilegierte Gruppen, voran Arbeiter und Frauen, von dieser Revolutionierung des Nationsverständnisses profitierten (IV.1.u.2.). Die Wahlrechtsdebatten veranschaulichen gerade die Dynamik der nichtintendierten Folgen nationalistischen Redens. Wie schlug nationalistisches Reden in politisches Handeln um? In der Debatte über die »Herausforderung der Kulturgeschichte«67 wird zwar stets auf die Wirkungsmacht der Vorstellungen verwiesen, doch der Umschlag aus dem Reich der Vorstellungen in politische Handlungen unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Strukturen wird oft eher behauptet als beschrieben. In Deutschland wie in Großbritannien war im Ersten Weltkrieg allerorten von der »Nation« die Rede. Die politischen Lager und die Regierungseliten verliehen so ihren Vorstellungen Ausdruck und legitimierten gleichzeitig ihre Interessen. Damit verband man immer auch die Hoffnung, an eine Instanz zu appellieren, die augenscheinlich über den alltäglichen Niederungen des gesellschaftlichen Streites stand. Auch weil der Kategorie »Nation« mit Erfolg zugeschrieben werden konnte, letztlich »unpolitisch« zu sein, fiel es schwer, sich ihrem totalen Deutungsanspruch zu entziehen. Doch nichts ist politischer als das vermeintlich Unpolitische. 67 Vgl. die Beiträge in Mergel, Geschichte, und in Hardtwig, Kulturgeschichte; Daniel, Clio; dies., »Kultur«; Jelavich, Poststrukturalismus, und bereits Hunt, Cultural. Zu den wichtigsten kulturwissenschaftlichen Nationalismusstudien in Deutschland zählen die Beiträge in François, Nation; Haupt/Tacke, Kultur; dies., Denkmal; Dörner, Mythos, u. besonders die Arbeiten von SL. Hoffmann, Politik; Goltermann, Körper.

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I. »Augusterlebnis«. Wahrnehmungen und Deutungen des Kriegsausbruchs »England looked strange to us returned soldiers. We could not understand the war-madness that ran wild everywhere, looking for a pseudomilitary outlet. The civilians talked a foreign language; and it was newspaper language«. Robert Graves

In Deutschland wie in Großbritannien war vor dem August 1914 viel von Krisen die Rede. Den Forderungen der Arbeiter- und der Frauenbewegung, den durch »nationale Minderheiten« und rechtsradikale Oppositionen verursachten inneren Problemen standen außenpolitisch ein gefährlicher Rüstungswettlauf und eine hochbrisante Eskalation der internationalen Beziehungen gegenüber. Der allgegenwärtigen Krisenrhetorik entsprach die Vielzahl der widerstreitenden politischen Lager und wechselseitigen Berufungen auf die »Nation«. Das folgende Kapitel skizziert zunächst die sehr ähnlichen innenund außenpolitischen Rahmenbedingungen beider Gesellschaften und untersucht die Rolle nationalistischer Handlungsstrategien und Deutungen bei der Legitimation von Interessen und der Verbreitung politischer Vorstellungen. In einem ausdifferenzierten Nationalstaat lässt sich politisches Handeln nur durch den Bezug aufMehrheiten rechtfertigen. Das leistet die Berufung auf die Nation, die Mehrheiten suggeriert und politisches Handeln legitimiert. Infolge der Ausweitung des »politischen Massenmarktes« (H. Rosenberg), also einer pluralistischen, durch Interessenkonkurrenz gekennzeichneten Öffentlichkeit, bildete der Nationalismus nicht allein ein Instrument für regierende Eliten, sondern stand als politisches Argumentationsmuster allen gesellschaftlichen Gruppen von links bis rechts und von oben nach unten zur Verfügung. Das galt für Deutschland wie für Großbritannien vor und nach 1914. Auch bei Kriegsausbruch erfolgte keine »nationale« Bekehrung oppositioneller Gruppen, sondern die konkurrierenden Nationalismen der unterschiedlichen politischen Akteure bestanden nebeneinander fort. Die Unvereinbarkeit der divergierenden nationalistischen Vorstellungen und Gesellschaftsentwürfe im August 1914 blieb den meisten Zeitgenossen zunächst verborgen. Vielmehr versprach man sich von der Berufung auf die Nation die Herstellung der bitter vermissten politischen und sozialen Einheit. Wie zu zeigen ist, war das »Augusterlebnis« weder für die Breitenwirkung der Kriegsbegeisterung und des Hurrapatriotismus noch für die Durchsetzungsmacht eines die divergierenden Welt35 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1

bilder vereinigenden Nationalismus ein guter Indikator. Die hohe Fähigkeit zum Anschluss der Nationalismen an weiterbestehende Loyalitäten und Weltbilder bildete aber zusammen mit der krisenhaften und bedrohlichen Wahrnehmung der Umwelt die realhistorische und folgenreiche Grundlage des »Augusterlebnisses«. Der allseitige Glaube der politischen Lager an eine ihre jeweiligen gesellschaftlichen Ideale erfüllende »nationale« Einheit überdauerte die Demonstrationen und Ausschreitungen der ersten Augusttage.

1. Krise und Kritik. Nationalismus und Krisenrhetorik im Kaiserreich und in Großbritannien am Vorabend des Ersten Weltkriegs a) Flucht in den Krieg? Das Deutsche Reich zwischen 1912 und 1914 In jeder Epoche klagen die Zeitgenossen über Krisen. Denn irgendeine Krise, bedrohlich und akut, herrscht im Grunde genommen immer. Augenscheinlich aber hatte in den Jahren vor dem »Großen Krieg« für viele Menschen - und darin lag das eigentliche historische Merkmal der »Krise« - die Welt an Übersichtlichkeit, hatten die gesellschaftlichen Prozesse an Prognostizierbarkeit verloren. Auch wenn der Krisenbegriff als analytische Kategorie ausscheidet, bleibt der Befund, dass zumindest weite Teile des Bildungsbürgertums in Deutschland die rapiden gesellschaftlichen Veränderungen seit den 1890er Jahren als »Krise« wahrnahmen. Hatte man die schnellen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Umwälzungen bei der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert unter dem Zeichen der Fortschrittseuphorie noch eher als Chance begriffen, verschoben sich bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs die Bewertungsmaßstäbe. Die Widersprüche der Modernisierung, die Erschütterung bestehender Wertorientierungen, wurden jetzt deutlicher wahrgenommen und manifestierten sich in einer Krisenrhetorik mit kulturpessimistischem Einschlag. Unter dem Eindruck der Reichstagswahl von 1912 lamentierte der alldeutsche Publizist Edmund Weber: »Unser Volk geht mit Riesenschritten zurück, die geistige Leistung wird nicht mehr gewertet wie sie es verdient, das Männliche findet keine Schätzung mehr, das Weib reißt uns die Herrschaft aus den Händen, die Kinder verlieren die Achtung vor uns, unreife Sozialdemokraten triumphieren in unserem Parlament. Überall Unsicherheit, überall Schwäche, überall Angst, Angst, Angst!« Webers Traktat war nur eine Spitze des rechtspopulistischen Eisbergs. 1912 erschien der folgenreiche Krisenbestseller des Militärschriftstellers 36 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1

Friedrich von Bernhardi »Deutschland und der nächste Krieg«, in dem dieser die machtpolitische und biologische Notwendigkeit des Krieges zu begründen suchte. Und im selben Jahr begegnete der Vorsitzende des Alldeutschen Verbandes (ADV), Heinrich Claß, den befürchteten Verfallserscheinungen mit seiner pseudonym veröffentlichten völkischen Kampfschrift »Wenn ich der Kaiser wär'«.1 Die bildungsbürgerliche Krisenrhetorik war nicht völlig unbegründet. Tatsächlich überlagerten und durchdrangen sich in den Jahren vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs langlebige politische Veränderungen und kurzlebige Konflikte. Als Folge gewachsener politischer Partizipationsansprüche, die vor allem die Arbeiterbewegung gegen die regierenden Eliten des Kaiserreichs richtete, beschleunigte sich die innenpolitische Fragmentierung. In dieser Hinsicht unterschied sich das Kaiserreich nur wenig von Großbritannien. Im Gegensatz zu England bildete aber die Verbindung eines demokratischen Wahlrechts mit einem autoritären, nicht parlamentarischen politischen System eine Quelle zusätzlicher gesellschaftlicher Spannungen. Außenpolitisch ergänzten ein ruinöser Rüstungswettlauf und die weitgehende Isolierung des Deutschen Reiches die politische Misere. Besonders problematisch wurde am Vorabend des Ersten Weltkriegs, dass die innen- und die außenpolitischen Spannungen in der Perspektive der Zeitgenossen sich gegenseitig bedingten. Erst die Verschränkung der Krisenrhetorik mit den tatsächlichen Konflikten verlieh der Situation ihre Dynamik. Das »annus miserabilis« für die vermeintlich desolate Situation des wilhelminischen Deutschlands war das Jahr 1912. Der Erdrutschsieg der Sozialdemokratischen Partei (SPD) bei den Reichstagswahlen vom Januar verursachte ausgewachsene Panikreaktionen auf der Rechten. Während die Sozialdemokratie 110 Reichstagsmandate errang, schrumpfte die parlamentarische Rechte aus Konservativen, Freikonservativen und dem rechtem Flügel der Nationalliberalen auf einen nie da gewesenen Tiefstand von 62 Sitzen. Erstmals entstanden Befürchtungen über ein mögliches Links-Mitte-Bündnis, denn der SPDSieg war nur durch Wahlabsprachen mit der linksliberalen Fortschrittlichen Volkspartei (FVP) ermöglicht worden. Das warf die Frage der Mehrheitsbildung im neuen Reichstag und letztlich das Problem der Handlungsfähigkeit der Regierung auf Was mochte erst geschehen, wenn SPD und Linksliberale 1917 zur absoluten Mehrheit gelangen sollten? Anfang März 1912 erschütterte ein Bergarbeiterstreik das Ruhrgebiet, der, obwohl er bald scheiterte, eine Phase heftiger Arbeitskämpfe einleitete. Diese Ausstände verstärkten die traumatische Wirkung der Reichstagswahl in konservativen Gruppen und in weiten 1 E. Weber, Krieg, Zit. 50f. Vgl. Frymann (d.i. H. Claß), Kaiser, und zur bürgerlichen Desorientierung und Krisenrhetorik Radkau, Zeitalter, passim, und die methodischen Bemerkungen bei Siegenthaler, Regelvertrauen, bes. 16f., 84ff.; sowie Jarausch, Krise; vom Bruch, Wilhelminismus, und bereits Stern, Kulturpessimismus, bes. 2-21, 51-110.

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Teilen des Bürgertums.2 Zu der vermeintlichen politischen und ökonomischen Bedrohung durch die organisierte Arbeiterschaft trat das Unbehagen vor der erstarkten Frauenbewegung. Der Sieg der Linksparteien bei den Reichstagswahlen schien auch die angestammte Rolle der Frau zu beeinflussen und sogar eine Wahlrechtsänderung zugunsten der Frauen in erreichbare Nähe zu bringen. Das bedrohte in der Perspektive nicht allein der Konservativen und des politischen Katholizismus die »natürliche« Ordnung der Geschlechter und die »richtige« Ordnung der deutschen Gesellschaft. Im Juni 1912 erfolgte daher die Gründung eines antifeministischen Verbandes nach englischem Muster, des »Deutschen Bundes zur Bekämpfung der Frauenemanzipation«, dessen Ziel es war, die überkommenen Geschlechterverhältnisse zu zementieren.3 Der in der Tagespresse heftig diskutierte Gründungsaufruf des antifeministischen Bundes war ein weiteres Indiz für die brisante Atmosphäre der beiden Vorkriegsjahre. Die »Zabernaffäre« offenbarte eines der charakteristischsten Probleme des Deutschen Kaiserreiches. Die willkürliche und widerrechtliche Behandlung der einheimischen Zivilbevölkerung im elsässischen Garnisonsstädtchen Zabern im Herbst 1913 durch die örtlichen Militärs entfachte einen Sturm der Entrüstung. Die Affäre erwies zweierlei: Zum einen, dass die Integration von »nationalen Minderheiten« in den kleindeutschen Nationalstaat von 1871 ein offenes Problem und der Widerstand nicht allein der Elsässer gegen die deutsche Nationalitätenpolitik ungebrochen blieb. Denn der anhaltende Widerstand der großen polnischen Minderheit gegen ihre zwangsweise »Germanisierung« stellte für die deutsche Innenpolitik eine noch größere Belastung dar. Zum anderen enthüllte der Vorfall das ungeschminkte Gesicht des deutschen Militarismus und desillusionierte erneut Sozialdemokraten, aber auch Liberale und Katholiken über die Reformchancen der bestehenden Ordnung. Eine Mehrheit im Reichstag und in der Öffentlichkeit demonstrierte gegen die autokratischen Auswüchse des durch die Regierung gedeckten Militärs.4 Die verschärfte innenpolitische Situation des Kaiserreiches nach 1912 war wesentlich durch eine zunehmende ideologische Verhärtung, vor allem auf Seiten der Rechten gekennzeichnet. Um den antizipierten Aufstieg der Sozialdemokratie und den Niedergang des Reiches im allgemeinen sowie der eigenen Stellung im besonderen einzudämmen, suchten die konservativen Parteien und Interessenverbände ihre Machtbasis zu erweitern. Im Mittelpunkt der Kooperationsbestrebungen zwischen alter und neuer Rechter stand der ADV. Allerdings ist der politische Einfluss des Verbandes als Bindeglied zwischen 2 Vgl. zur Wahrnehmung der Reichstagswahl F. Fischer, Illusionen, 145-68; Berghahn, Approach, 145-64; Eley, Konservative, 239-41; zur Arbeiterbewegung Groh, Integration, 265-89, 305-10, sowie Boll, Massenbewegungen, 70-144. 3 Vgl. Planert, Antifeminismus, bes. 152-76; sowie Evans, Feminist, 175-201. 4 Zur Zabernaffäre vgl. Wehler, Fall; ders., Gesellschaftsgeschichte III, 1125-29; Berghahn, Approach, 174-79.

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Reichsnationalismus und Nationalsozialismus, zwischen Bismarck und Hitler, insgesamt wohl überschätzt worden.3 Denn obwohl es dem ADV gelungen war, eine Schlüsselposition innerhalb eines Netzwerkes nationalistischer Organisationen zu besetzen, der Verband teils bei der Gründung von Kampfverbänden Pate gestanden hatte (Deutscher Wehrverein [DWV], 1912) und eine starke Stellung in der schwerindustriellen und agrarischen Presse behauptete, scheiterte letztlich der Versuch eines übergreifenden Bündnisses mit den Gruppierungen der alten Rechten und den wirtschaftlichen Interessenvereinigungen.6 Selbst unter dem verheerenden Eindruck der Reichstagswahlen 1912 verweigerte die Mehrheit der Konservativen Partei (DKP) um ihren Vorsitzenden Ernst v. Heydebrand und der Lasa die Zusammenarbeit mit einem ADV, dessen populistische Radikalität und rassistischer Nationalismus ihr suspekt blieb. Da auch dem Zusammenschluss führender wirtschaftlicher Interessenverbände im August 1913 zum »Kartell der schaffenden Stände« wenig Erfolg beschieden war - und es sogleich als »Kartell der raffenden Hände« verspottet wurde -, scheiterte eine umfassende schwerindustriell-großagrarisch-bürgerliche »Sammlungspolitik« schon im Ansatz.7 Doch offenbarten diese bürgerlichen Panikreaktionen erneut das Ausmaß der politischen Verhärtung und ideologischen Kompromisslosigkeit im konservativen Lager. Schließlich trug auch die außenpolitische und militärische Lage des Deutschen Kaiserreichs wenig zum Abbau des Krisenpessimismus bei. Zwar ging die internationale Eskalation bis 1914 vorüber, ohne den großen Krieg auszulösen, doch offenbarte spätestens der demütigende Ausgang der zweiten Marokkokrise 1911, wie weit Deutschland sich isoliert hatte. Der Vermittlungsversuch des britischen Kriegsministers Lord Haidane 1912 scheiterte, weil sich die Reichsleitung weigerte, das Bautempo der neuen Schlachtschiffe signifikant herabzusetzen und sich weiter anschickte, neben der bestehenden stärks5 Diese Aufwertung des ADV hat dazu geführt, dass über keinen Agitationsverband eine vergleichbare Fülle von Studien erschienen ist. Im Vergleich mit der einschlägigen Arbeit von Chickering, Men, fallen Peters, Verband; Schödl, Verband, ebenso wie die ältere Literatur Kruck, Verband; Wertheimer, League und Werner, Verband, ab. 6 Zum Einfluss auf Personen und Presse s. Chickering, Men, 204—7, 277-83; Kruck, Verband, 18-24; Stegmann, Erben, 50-58; Jarausch, Alldeutschen, 438-43, und die eindrucksvolle Liste von prominenten Verbandsmitgliedern bei Schilling, Beiträge, 403-05. Zur Arbeit des Münchner Verlegers Julius Lehmanns für den ADV vgl. Stark, Entrepreneurs, bes. 111-24. Hamel, Verband, 98-110, hat für den Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verband die enge Kooperation mit dem ADV zeigen können. 7 Zum Konzept einer sozialdefensiven »Sammlungspolitik«, definiert nach Dirk Stegmann als »Kompromissideologie der herrschenden Schichten von Industrie und Landwirtschaft mit der Basis in dem gemeinsamen [...] antiliberalen und antisozialistischen Kalkül« vgl. Stegmann, Erben, 13-18, Zit. 13. Vgl. aus der berechtigten Kritik an diesem Modell nur Eley, Reshaping, 41-44 und passim; Chickering, Men, 12-15; W. Mommsen, Triebkräfte und Evans, Germany, 16f. Zur DKP nach 1912 und zu dem gescheiterten Versuch einer »Nationalen Opposition« vgl. auch Retallack, Notables, bes. 211ff.; Peck, Radicals, 107-45.

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ten Armee auch eine für England gefährliche Flotte aufzubauen. Der hektische Aktionismus der deutschen Hochrüstung zu Wasser und zu Lande in den Jahren 1912 und 1913 täuschte viele darüber hinweg, dass das leistungsfähigere England das Wettrüsten zur See längst für sich entschieden hatte. Eine augenscheinlich von England initiierte bedrohliche »Einkreisung« - tatsächlich eher eine außenpolitische Ausgrenzung - des Deutschen Reiches führte zur weiteren Ausbreitung der Anglophobie.8 Eine wesentliche Ursache für die Deutung der sich häufenden und überlagernden Konflikte als »Krise« bildete die Ausweitung einer pluralistischen Öffentlichkeit und die Konkurrenz der politischen Lager. Die Kommunikation intensivierte sich und ermöglichte eine zunehmende Repräsentation gesellschaftlicher Interessen. Nun war es für die Reichsleitung und die Arbeiterbewegung, für jedes sich formierende politische Lager von rechts bis links möglich, aber auch notwendig, seine Interessen im öffentlichen Raum durchzusetzen. Durch die neuen Formen und die Intensität der Kommunikation wurden die tatsächlichen Widersprüche und Konflikte der Zeit stärker wahrgenommen oder erst eigentlich erzeugt. Denn die intensivierte Kommunikation und Mobilisierung bildeten die Grundlagen für die »Fundamentalpolitisierung« (Karl Mannheim) der modernen Gesellschaften. Bereits seit den 1890er Jahren nahm die organisierte Interessenpolitik rapide zu. Der gesellschaftliche Transformationsprozess führte zu einer Ausweitung der politischen Öffentlichkeit und der sozialen Partizipation immer breiterer Bevölkerungsschichten. An den Reichstagswahlen 1912 beispielsweise beteiligten sich über 12 Millionen deutsche Männer, 85% der Wähler. Schon die sprunghaft steigende Wahlbeteiligung zum Reichstag und die damit verbundene Wahlagitation, wirkte politisch mobilisierend. Die immer heftigeren Reichstagswahlkämpfe förderten den Prozess des »Nationbuilding«, verstärkten aber gleichzeitig das öffentliche Problembewusstsein für die Interessengegensätze und die divergierenden politischen Ziele innerhalb des Kaiserreiches. Ähnliche Folgen hatte das Emporschnellen der Zeitungsauflagen und die Entstehung zahlreicher »Pressure Groups«, die eine neue Möglichkeit zur politischen Artikulation von Interessen boten. Sich auf den derart demonstrierten Willen des Volkes zu berufen wurde die obligatorische Angelegenheit nicht nur von Politikern, sondern von jeder Gruppe, die glaubhaft behaupten wollte, von der »öffentlichen Meinung« und dem »Willen des Volkes« getragen zu werden.9 8 Vgl. zur Flottenrüstung Berghahn, Tirpitz-Plan; Epkenhans, Flottenrüstung. Vgl. zum bürgerlichen »Expertenmilitarismus« (Dirk W. Bönker) und zur Heeresrüstung 1913 Förster, Militarismus. Grundlegend zur Verschärfung des deutsch-englischen Konfliktes vor 1914 ist P. Kennedy, Antagonism, s. ferner McClelland, Historians, bes. 161-236 und bereits Anderson, Background; Kehr, Englandhass. 9 Vgl. Sperber,Voters, bes. 203-94; M.Anderson, Democracy, 239ff.; Requate,Journalismus, 117-242; Ullmann, Interessenverbände, 104-23. Marilyn Coetzee, Army, 12, weist darauf hin,

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Die Berufung auf die »Nation« legitimierte moderne Politik noch überzeugender als der Appell an die Klasse oder die Konfession. Eine wichtige Rolle bei der Formulierung politischer wie wirtschaftlicher Interessen und bei der Ausbildung der politischen Lager spielte - nicht allein in Deutschland - die Presse. In einer Zeit neuer Herstellungsverfahren und verbesserter Infrastruktur einerseits und einer erhöhten Nachfrage und Politisierung andererseits dienten Tageszeitungen und Zeitschriften in einem heute nur noch schwer vorstellbaren Ausmaß als eigentliche Medien moderner Massenkommunikation. Ungeachtet staatlicher Zensurmaßnahmen nahm der Meinungspluralismus in der wilhelminischen Zeitungslandschaft am Vorabend des Weltkrieges noch weiter zu. Weiterhin behauptete sich der Vorrang der liberalen Presse im Meinungskampf, da man im konservativen Lager nur mit einiger Mühe die Vorbehalte gegen die Notwendigkeit überwand, sich an öffentlichen Diskussionen zu beteiligen. Der Aufstieg der kommerzialisierten Massenpresse bedeutete daher keineswegs den Abschied von einer kritisch räsonierenden Öffentlichkeit, sondern ermöglichte vielmehr sowohl einen urteilsfähigen, investigativen als auch einen parteipolitisch gebundenen Journalismus. Mehr noch: Die enge Anlehnung der wichtigsten Tageszeitungen an bestimmte politische Parteien forderte die Ausbildung öffentlich konkurrierender politischer Deutungsmuster. Davon profitierten auch die Zeitungen der ehemals als »Reichsfeinde« stigmatisierten Sozialdemokratie und des politischen Katholizismus. Die eng mit der Partei verzahnte Presse der SPD avancierte zu einer offensiv genutzten politischen Waffe, die fortgesetzt die bestehenden Herrschaftsverhältnisse attackierte.10 Das Reden von der »Krise« und die innenpolitische Fragmentierung der wilhelminischen Politik hingen eng mit den Wirkungen der Nationalismen zusammen. Die allseitige Berufung auf die Nation war Ausdruck und Ursache des Krisenpessimismus. Denn dieser entstand auch durch die Deutung der tatsächlichen gesellschaftlichen Veränderungen und politischen Verwerfungen mit Hilfe des Nationalismus. Die strenge Dichotomisierung durch nationalistische Deutungsmuster verursachte eine erheblich eingeschränkte Wahrnehmung der Welt. In den Bedrohungsängsten vor inneren und äußeren Feinden spiegelte sich die selektive Wahrnehmungsfähigkeit derer wider, die bestimmte Wirklichkeitselemente nationalistisch verschlüsselt aufnahmen. Das polarisierte die Kommunikation. Mit Hilfe des Nationalismus trennte man die Welt

dass der Deutsche Wehrverein etwa 75% seines Budgets in die Propaganda, also in das, was man heute Öffentlichkcitsarbeit nenne würde, investierte. 10 Vgl. v.a. Requate, Journalismus, 243-324; Schirmer, Mythos, und zur Rolle der Presse im Rahmen des Krisenbewusstseins der Vorkriegszeit Rosenberger, Zeitungen. Vgl. zur SPD Hall, Scandal; insges. die Beiträge in H.-D. Fischer, Zeitungen; Wilke, Presse, sowie Wehler, Gesellschaftsgcschichte III, 1232-49; Nipperdey, Geschichte I, 797-811.

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scharf in gut und böse und markierte Ziele und Symbole, auf welche die Aggression hingelenkt werden konnte.“ Wer sich des Nationalismus als Kommunikationsmedium bediente, tendierte zu einer verstärkten Wahrnehmung gesellschaftlicher Konflikte. Die bipolar strukturierten nationalistischen Deutungsmuster fixierten stets und in allen gesellschaftlichen Bereichen die Differenz. Da mittels des Nationalismus die eigene Position zudem als »unpolitisch« und im übergeordneten Interesse des »Volkes« erschien, war damit zugleich die Auffassung des Gegners grundsätzlich entwertet. Dieser handelte sich den Vorwurf ein, »antinational«, ja, »undeutsch« zu sein. Was aber unter den meist synonym verwendeten Begriffen »Nation« und »Volk« zu verstehen war, blieb für die Zeitgenossen interpretierbar. Der Anzahl der Deuter entsprach beinahe die Fülle der Deutungen. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs klafften die ohnehin stets divergierenden Vorstellungen über nationale Zugehörigkeit und Ungleichheit weiter denn je auseinander. Die Anhänger des konservativen staatlichen Reichsnationalismus12 in Regierung und bürgerlicher Elite waren zunehmend unter Konkurrenzdruck geraten. Mit der Gründung und den unbestreitbaren wirtschaftlichen, sozialen und politischen Erfolgen des Nationalstaates von 1871 hatte der Reichsnationalismus, der auf das kleindeutsche Reich als Nationalstaat bezogene Nationalismus, seinen Siegeszug angetreten. Sein Aufstieg war in erster Linie eine Folge der prägenden Kraft des neuen Machtstaates, der staatlich garantierten und erzwungenen Einheit der mit dem Kaiserreich gleichgesetzten Nation. Zudem gründete sich der Nationalstaat auf eine neue Legitimationsbasis: Die Rechtsfiktion einer Einheit von Fürstenherrschaft und dem Willen der »Nation«. Der sich etablierende kleindeutsche Staat versöhnte zwar allmählich auch Gruppen mit seiner Ordnung, die zunächst abseits vom Reich gestanden hatten - voran den preußischen Konservativismus und den politischen Katholizismus. Doch ein Problem blieb offen. Der Reichsnationalismus stellte keine klaren Kriterien für die Zugehörigkeit zur Reichsnation auf So umfasste die Reichsnation von 1871 nur einen Teil des deutschsprachigen »Volkes«, wie auch Minderheiten nichtdeutscher Sprachgruppen in ihr lebten. Obwohl die großdeutsche Option mit der Reichsgründung von der politischen Tagesordnung verschwand und obwohl die Reichsleitung eine immer rücksichtslosere »Germanisierungspolitik«,

11 Diese Prädisposition der Kommunikationsfähigkeit entspricht Deutschs Definition vom extremen Nationalismus. Vgl. Deutsch, Nation, 51 f. und zur Situation vor 1914 Chickcring, Men, 122-32; Schödl, Verband, 233-46; Doerry, Übergangsmenschen, 56f. 12 Dieser Begriff suggeriert wie alle »Bindestrichnationalismen« eine einigermaßen feststehende inhaltlich Bestimmung des Nationalismus, die - wie zu zeigen ist - tatsächlich nicht besteht. Daher wird hier nur im Ausnahmefall an Bezeichnungen wie Reichs- oder Liberalnationalismus als idealtypischen Zuspitzungen festgehalten und in der Regel auf »weichere« Formulierungen wie »der Nationalismus der Konservativen«, etc. zurückgegriffen.

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vor allem gegen die polnische Minderheit betrieb, war der Vorwurf der »Unvollendetheit« des kleindeutschen Nationalstaates stets aktualisierbar.13 Doch der mit Hilfe des Reichsnationalismus ausgeübte Konformitätsdruck auf angebliche innere »Reichsfeinde« änderte nicht nur wenig am Fortbestand konkurrierender Nationsentwürfe, sondern verstärkte diese sogar. Auch für die letzten Friedensjahre des wilhelminischen Deutschlands spricht wenig für die Annahme, ein liberaler linker sei erfolgreich durch einen konservativen rechten Nationalismus ersetzt worden.14 Denn je rigoroser sich regierende Eliten des Reichsnationalismus bedienten und eine exklusive Vorstellung vom Deutschsein entwickelten, desto heftiger erfolgten die Abwehrreaktionen von nationalen Minderheiten, dem politischen Katholizismus und der Sozialdemokratie. Der politische Katholizismus etwa stand eben nicht, wie es die Verfechter des »Kulturkampfes« propagierten, in unauflösbarer Antinomie zur deutschen Nation. Und in den Jahren vor 1914 sah die große Mehrheit der Katholiken erst recht keinen grundsätzlichen Gegensatz mehr zwischen ihrer universalen Gemeinschaft und derjenigen des deutschen Nationalstaates. Doch setzten katholische Intellektuelle gegen das Ideal einer staatszentristischen homogenen Reichsnation ihre Vorstellungen von einer großdeutschen, kulturell plural und katholisch-universalen deutschen Nation.15 Auch in der Sozialdemokratie berief man sich auf ein anderes Deutschland und bestritt den Ausschließlichkeitsanspruch des Reichsnationalismus der regierenden Eliten. Die sozialistische Arbeiterbewegung hatte ihr nationaldemokratisches Erbe von 1848, ungeachtet der innenpolitischen Frontstellung im wilhelminischen Reich, in dem ihre Mitglieder selbst vom Staatsoberhaupt als »vaterlandslose Gesellen« diffamiert wurden, nie ganz verdrängt. Nicht allein die Parteilinke bemühte sich um die Unterscheidung zwischen einem bürgerlichen und proletarischen »Patriotismus«, der nicht im Widerspruch, sondern in Einklang mit dem proletarischen Internationalismus stehe. Das Kaiserreich erschien lediglich als Ausbeutungsinstrument der besitzenden Klassen, das es in das »wahre Vaterland« (Clara Zetkin) aller Gesellschaftsklassen zu verwandeln galt. Scharf unterschied man in der SPD zwischen einer demokratisch und sozialreformerisch gedeuteten deutschen Nation, in die von Seiten der Revisi13 Vgl. v.a. Schieder, Nationalstaat, 48-63; ders., Kaiserreich; Wehler, Gesellschaftsgeschichte III, 938-65; Langewiesche, Reich. 14 Die Kritik an dem von Winkler (vgl. Einleitung, Anm. 23) markierten »Funktionswandels« des Nationalismus nach 1878/79 betont, so etwa Wehler, Gesellschaftsgeschichte III, 946ff. demgegenüber den grundlegenden Inhaltswandel. Begreift man den Nationalismus dagegen lediglich als inhaltsleere, beinahe beliebig füllbare Hülse, stützt das eher Winklers These vom Funktionswandel des Nationalismus in einer neuen historischen Konstellation. Zur Relativierung dieser Zäsur vgl. auch Goltermann, Körper, 25f. 15 Vgl. zum Verhältnis von Nationalismus, Katholizismus und konfessioneller Spaltung v.a. Smith, Nationalism, 37-78 u. passim; Altgeld, Katholizismus, 63-75,195-211; Gründer, Nation; sowie insges. Loth, Katholiken.

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onisten aber bereits ethnisch-kulturelle Elemente eingeflossen waren, und dem Kaiserreich als verachtetem »Klassenstaat«.16 Kurzum: Die Wertschätzung von Konfession und Klasse standen am Vorabend des Ersten Weltkriegs nicht in einem notwendigen Gegensatz zur Loyalität zur »Nation«. Es war das Nationskonzept der neuen Rechten, welches die zentrale ideologische Herausforderungen an das Kaiserreich als Staatsnation bildete: der Entwurf einer ethnisch homogenen »Volksnation«. Die Forderung nach der Kongruenz von Staats- und Sprachgebiet, von Nationalstaat und fiktiver Abstammungsgemeinschaft bildete die Grundlage eines neuen völkischen Nationalismus nach 1890. Dem öffentlichen Netzwerk der radikalen Nationalisten um den ADV war es bis 1914 gelungen, einer schleichenden semantischen Ethnisierung des doppeldeutigen Volksbegriffs vom Staatsvolk (Demos) hin zur Abstammungsgemeinschaft (Ethnos) in großen Teilen des Bildungsbürgertums Vorschub zu leisten. Den Schlüsselbegriff bildete die »Rasse«. Das Wort wurde häufig, auch alltagssprachlich, als Bezeichnung für ethnische Gruppen verwandt. »Rasse« bezeichnete keinesfalls eine klar bestimmbare Kategorie, vielmehr bestanden die unterschiedlichsten, nun aber im Anschluss an Darwin wissenschaftlich -wie es schien - untermauerten Vorstellungen von einer »nordischen« oder »arischen« Gemeinschaft des »Blutes« nebeneinander, denen nur die begriffliche Verwirrung gemeinsam war. Doch gab der Rassebegriff den radikalen Nationalisten ein attraktives neues Deutungsmuster: Nun war potentiell jede kulturelle Eigenart, jedes gesellschaftliche Verhalten auf eine scheinbar naturwissenschaftliche Basis gestellt. Damit konnte die nationalistische Ungleichheit zu Fremdgruppen so fundamental und »natürlich« - weil scheinbar biologisch determiniert - begründet werden, dass diese eine neue, nur noch schwer zu relativierende Qualität erhielt.17 Die militante Berufung der Aktivisten des völkischen Nationalismus auf eine fiktive ethnische Abstammungsgemeinschaft der Deutschen und auf das Nationalitätenprinzip barg für das kleindeutsche Reich die Gefahr der Instabilität. Die Forderung nach der äußeren »Vollendung« des Nationalstaates, durch die rücksichtslose Ausdehnung des Reiches auf das Siedlungsgebiet der »Deutschstämmigen« in Osteuropa nährte die latente großdeutsche Bedrohung der bestehenden Ordnung. Damit nicht genug, die einflussreichsten nationale Vgl. zum Komplex der sog. »negativen Integration« (Guenther Roth) und zu den sozialdemokratischen Nationsvorstellungen Park, Sozialismus, bes. 268-77; Conze/Groh, Arbeiterbewegung, bes. 114-26; Wehler, Sozialdemokratie, 211ff.; den Überblick bei Groh/Brandt, Gesellen, und insges. Groh, Integration. 17 Vgl. zur »Verwissenschaftlichung« und Biologisierung nationaler Ungleichheit bzw. zur Rolle des radikalen Nationalismus im wilhelminischen Deutschland Geulen, Wahlverwandtschaften, passim; die Beiträge in Puschner (Hg.), Handbuch; Chickering, Men, 74-82; Peters, Verband, 34—36; F. Fischer, Illusion, 64-68, insges. v.a. Weingart u.a., Rasse, 27-103, und zur Typologie der »Volksnation« Lepsius, Nation, 235-38.

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listischen Agitationsverbände (ADV, DWV, Deutscher Flottenverein) stellten auch im politischen Alltagsleben eine Quelle pausenloser Konflikte dar. Denn ihre zentrale politische Prämisse bestand in dem Vorwurf, die Regierung verrate die deutschen Interessen. Zum einen witterten die radikalen Nationalisten überall Feinde und Verrat, zum anderen fühlten sich diese selbsternannten Wächter der Nation zur Führung eines nach den Kriterien Machtpolitik und Effizienz reorganisierten Deutschland berufen. Die radikale Rechte machte aus ihrem Wunsch, sowohl die »Sozialistenfrage« gewaltsam zu lösen und das Parlament zu entmachten als auch die Regierung von Reichskanzler Theobald v. Bethmann Hollweg zu stürzen, kein Geheimnis.18 Mit anderen Worten: Das wilhelminische Deutschland erlebte einen Kampf konkurrierender Nationalismen. Der Streit um die grundlegende Frage, wer weshalb Deutscher sei, und wer oder was die deutsche Nation bedrohe, trug wesentlich zum Krisenpessimismus der Epoche bei. Dennoch verband sich mit dem Einsatz des Nationalismus als politischer Waffe auch die Hoffnung auf eine ausgleichende Überwölbung der Interessengegensätze. Der ungebrochene Fortbestand dieser Zuversicht, gleichsam eines sozialharmonischen Erlösungsglaubens, entbehrte insofern nicht einer gewissen Ironie, als es ganz wesentlich der Kampf um die Bestimmung dessen, was national sei, war, der die innenpolitische Spaltung und die außenpolitischen Konflikte beförderte. Beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs sollte diese auf den Nationalismus gesetzte Erwartungshaltung ihren markantesten Ausdruck finden. Die radikalste Antwort der neuen bürgerlichen Rechten auf die Herausforderungen einer pluralistischen Gesellschaft und der außenpolitischen Bedrohung, bildete der »Kult der Offensive«,19 das Konzept des bedingungslosen Angriffskrieges. Dieser war ein integraler Bestandteil ihres militanten Nationalismus und reflektierte das virulente Krisenbewusstsein der Vorkriegsepoche. Vom Krieg im allgemeinen und von der Offensive im besonderen versprachen sich aber nicht nur radikale Nationalisten, sondern auch konservative Berufsoffiziere und Teile der Reichsleitung die Erhaltung der Weltstellung des eigenen Staates und die Überwindung der innenpolitischen Krisen. Die bellizistischen Grundannahmen der radikalnationalistischen Ideologie waren erstens die Vorstellung von den zersetzenden Wirkungen lang andauernder Friedenszeiten und zweitens die sozialdarwinistische Überzeugung, dass der Kampf das zentrale Moment der menschlichen Existenz ausmache. Als Heilmittel gegen befürchtete gesellschaftliche Verfallserscheinungen, unmännliche Schwäche und »weitere [[...]] Verseuchung unseres Volkes« erschien etwa Heinrich Claß allein ein großer Krieg als »das wirksamste Mittel zur Rettung 18 Zum destabilisierenden Potential der radikalen Rechten vgl. bes. Eley, Reshaping, 160-205; sowie Chickering, Men, 108-21, 213-23; M. Coetzee, Army, 45-58; P. Kennedy, Rise, 372-78. 19 Der Begriff geht in dieser Form auf Van Evera, Cult, zurück.

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der Deutschen aus dem verderbensschwangeren Zustand«.20 Da die neue Rechte den Krieg als notwendig zur Verjüngung und Erneuerung der erstarrten Gesellschaft erachtete, hatte dieser sich als geradezu naturgegebenes Mittel der Auseinandersetzung zwischen den Völkern zu ereignen. Wenn Kriege den Rang von Naturereignissen einnahmen, war es jedoch bestenfalls sinnlos, eher aber verwerflich zu versuchen, diese »natürliche« und daher unvermeidliche und positive Entwicklung aufzuhalten. Dem entsprach die sozialdarwinistische Deutung des Krieges als Test für die Überlegenheit und Überlebensfähigkeit der Nationen. Der Angriffskrieg war die große Prüfung, in dem nur die stärksten Nationen und Rassen erfolgreich wetteifern konnten. Dieser sollte aktiv herbeigeführt werden, um die Leistungsfähigkeit und Gesundheit sowohl des einzelnen wie der Nation unter Beweis zu stellen.21 Die Verbreitung des Krisenbewusstseins, des Radikalnationalismus und des Offensivkultes im Kaiserreich, bis hinein in die Spitzen der Regierung und der Militärs, scheint eine Deutung des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs als »Flucht in den Krieg«22 nahezulegen. Auch wenn eine direkte Beziehung zwischen Innen- und Außenpolitik angesichts der aggressiven Eskalationsstrategie des Deutschen Reiches in der Julikrise 1914 auf der Hand zu liegen scheint: Der Vergleich mit Großbritannien relativiert den latenten Automatismus dieses Modells. Welche Rolle spielten mithin die Zunahme gesellschaftlicher Spannungen und politischer Fragmentierungen, die Rede von der »Krise« und die konkurrierenden Nationalismen vor 1914 in Großbritannien? b) Am Rande des Bürgerkriegs? Großbritannien 1914 Das 20. Jahrhundert begann für die Supermacht des 19. wenig verheißungsvoll. Die einfache Gleichung, nach der Veränderung stets Fortschritt bedeutete, ging offenbar nicht mehr auf Die nicht allein die britische Rechte prägende Erfahrung war der relative ökonomische und machtpolitische Niedergang Großbritanniens. Zugegeben, die Wirtschaft hatte gerade nach 1906 wieder Tritt gefasst, Britanniens Flotte beherrschte noch -wenn auch nicht mehr unangefochten 20 ADB 1910, zit. Rohrbach, Chauvinismus, 33, 40. Der Anthropologe Otto Schmidt-Gibichenfels, warnte 1912 - im selben Jahr wie Bernhardi - in seinem Aufsatz »Der Krieg als Kulturfaktor, als Schöpfer und Erhalter der Staaten«, 7: »Schon zu lange Friedenszeiten können [...] für ein Volk, eine Rasse lebensgefährlich werden«. 21 Vgl. W. Mommsen, Topos, 380-93; Förster, Kaiserreich, 132-38; F. Fischer Illusionen, 269-76; Chickcring, Krieg. 22 Vgl. zu dieser verbreiteten These nur zwei der prominentesten Urteile, wenn auch aus verschiedener Perspektive: F. Fischer, Illusionen, passim; ders., Griff, 13-86 und Wehler, Gesellschaftsgeschichte III, bes. 1152-68; sowie insges. den vergleichenden Ansatz bei Gordon, Conflict; Berghahn, Approach; die Beiträge in Schöllgen, Flucht, und die berechtigte Skepsis bei Joll, Origins, 117-19 und G. Schmidt, Parlamentarisicrung, bes. 258f, 275-78.

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die Meere und garantierte den Bestand des größten jemals errichteten Weltreiches. Doch Großbritanniens Stellung als unangefochtene Weltmacht bröckelte. Das britische Wirtschaftswachstum hielt mit dem seiner schärfsten Herausforderer, der USA und des Deutschen Reiches, nicht mehr mit. Und die konservative Presse wurde nicht müde zu betonen, dass ökonomische und politischmilitärische Stärke zwei Seiten derselben Medaille seien. Die kolonialen Konflikte der 1890er Jahre demonstrierten, dass Großbritanniens Isolation längst aufgehört hatte, »splendid« zu sein, und warfen damit die Frage auf, ob die Kräfte des Landes noch genügten, das riesige »Empire« zusammenzuhalten. Der anfangs demütigende Verlauf des Burenkrieges (1899-1902) zeigte dann tatsächlich die völlig unzureichende militärische Leistungsfähigkeit Großbritanniens. Und ausgerechnet zur gleichen Zeit, als sich in England die Überzeugung verbreitete, zunehmend in der Defensive zu stehen, begann das Deutsche Reich sein beispielloses Wettrüsten zur See, welches auf Englands Lebensnerv zielte. Das symbolische Ende eines Zeitalters trügerischer Sicherheit schließlich markierte am 22. Januar 1901, als das neue Jahrhundert kaum drei Wochen alt war, der Tod der greisen Namenspatronin der vergangenen Epoche: der Königin Victoria.23 Zehn Jahre später hatte sich - ungeachtet der Entente cordiale mit Frankreich und Russland - Großbritanniens innenpolitische Lage nicht verbessert. Im Gegenteil: Von 1911 bis 1914 erschütterten vier Herausforderungen den inneren Frieden, zwei mehr oder weniger von der linken Seite des politischen Spektrums, die Zunahme der Streiks und die Militanz des radikalen Flügels der Frauenbewegung, zwei eher von rechts, die kompromisslose Haltung der Konservativen bei der Verteidigung der Machtstellung des Oberhauses und der heraufziehende Bürgerkrieg in Irland. Als Folge der massiven realen Lohneinbuße nach 1900 gaben die Führungsspitzen der Gewerkschaften seit 1909 zunehmend der Streikforderung der Basis nach. 1912 erreichte die Streikwelle ihren Höhepunkt. Am Anfang des Jahres erschütterte ein Bergarbeiterstreik für die Einführung eines Mindestlohns das edwardianische England. Der Erfolg dieses Ausstandes, an dem sich beinahe zwei Millionen Männer beteiligten, zog im Sommer 1912 zahlreiche neue Arbeitskämpfe in anderen Branchen nach sich. Diese Tatsache und die Angst vor einem künftigen gemeinsamen Vorgehen der großen Gewerkschaften schürten in der konservativen wie in Teilen der liberalen Presse die Befürchtung, dass diese Streiks den Beginn revolutionärer Unruhen ankündigten. Überall sprach man bezeichnenderweise vom »industrial warfare«. Ein mindestens vergleichbares öffentliches Aufsehen erregten die gewaltsamen Aktionen des militanten Flügels der Frauenbewegung. Seit 1912 rief die 23 Grundlegend zum Problem des relativen Niedergangs Großbritanniens, Friedberg, Titan, und Steiner, Britain; sowie Searle, Quest, 34-53; P. Kennedy, Rise, 306-20; F. Coetzee, Party, 937.

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Vorsitzende der »Women's Social and Political Union« (WSPU), Emmeline Pankhurst, ihre Anhängerinnen dazu auf, Schaufensterscheiben einzuwerfen. Das taten diese nach der erneuten Ablehnung des Wahlrechts für Frauen im Januar 1913 mit um so größerem Enthusiasmus. Kirchen und Bahnhöfe wurden systematisch angezündet, Kabinettsmitglieder angegriffen und gelegentlich Bomben gelegt. Die Angst vor einem »sex war« machte die Runde. Das Ausmaß der Gewalt bestärkte den gemäßigten Flügel der Frauenbewegung um Millicent Fawcetts »National Union of Women's Suffrage Societies« (NUWSS) in ihrem konstitutionellen Kurs. Der Glaube, durch eine Allianz mit der neuen Labour Party und durch gewaltfreie Arbeit im parlamentarischen System mehr zu erreichen, sollte sich als die erfolgreichere politische Strategie erweisen. Denn der sich bald formierende erbitterte Widerstand gegen die radikalen Feministinnen offenbarte, dass Gewaltaktionen die Durchsetzung der Ziele der Frauenbewegung erheblich erschwerten. Die 1911 gegründete antifeministische »National League for opposing Women's Suffrage« (NLOWS) ließ dann auch keinen Zweifel daran, dass für sie der Platz der Frau nicht im Unterhaus, sondern im Haus ihres Mannes war.24 Von der rechten Seite des politischen Spektrums erfuhr das edwardianische England einen noch größeren Druck. Im Jahre 1909 lehnte die konservative Mehrheit im Oberhaus die Finanzierung der sozialreformerischen Gesetzesvorlagen der liberalen Regierung von Premierminister Herbert H. Asquith ab; ein ungeheurer Vorfall, missachteten die Aristokraten im Oberhaus doch das ungeschriebene Gesetz, die Budgetkontrolle des Unterhauses nicht anzutasten. Um den fundamentalen Widerstand des Oberhauses gegen den Entzug seines Vetorechts bei Finanzvorlagen zu brechen, drohte die liberale Regierung 1911 schließlich, im Einverständnis mit König George V, das House of Lords mit zahlreichen neuen liberalen Peers zu überschwemmen. So entschloss sich die konservative Parteiführung, nolens volens dem Oberhaus die Aufgabe seiner Obstruktionspolitik zu empfehlen. Dennoch weigerten sich 112 Peers - die sog. »Diehards«, darunter namhafte Vertreter der radikalen Rechten wie Alfred Milner und Lord Roberts - dem Vorschlag zu entsprechen und stimmten gegen die sogenannte »Parliament Bill«. Die Frustration der »Diehards« über das politische System eskalierte bis zu dem Punkt, an dem man nichts weniger als die Beseitigung der parlamentarischen Regierung forderte.25 Der für die Rechte demütigenden Ausgang des Verfassungskonfliktes gab einen Vorgeschmack auf den neuen politischen Stil der Konservativen Partei 24 Vgl. zum »industrial war« Dangerfield, Death, 178-266; Read, England, 194-207; Pugh, Politics, 129-35 und zur Frauenbewegung und dem »sex war« Holton, Feminism, 72-115; Kent, Sex, 184-219; Harrison, Spheres; Read, England, 214-23. 25 Vgl. v.a. Phillips, Diehards, 1-12,111-15,142—48; sowie Searle, Revolt; Bauerkämper, radikale Rechte, 41—44; insges. Dangerfield, Death, 72-120 und zur Rolle und Selbstverständnis der britischen Aristokratie, Cannadine, History.

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und der radikalen Rechten während der Endphase der Auseinandersetzung um Home Rule für Irland 1914. Als Protest gegen Gladstones Home Rule-Politik 1886 hatte sich ein Teil der liberalen Partei den Konservativen angeschlossen, die sich fortab, um die Bedeutung der Erhaltung der Union mit Irland zu unterstreichen, »Unionists« nannten. 1912 unternahm Premierminister Asquith einen erneuten Versuch, Irland ein gewisses Maß an innenpolitischer Teilautonomie (»Home Rule«) zu gewähren. Seit den Unterhauswahlen von 1910 war seine Regierung von den Stimmen der Irish Parliamentary Party (IPP) John Redmonds abhängig. Die irischen Nationalisten begriffen sich als Teil der Völkerfamilie des Empires und strebten für Irland keinesfalls die staatliche Unabhängigkeit von Großbritannien, sondern allenfalls den Status eines Dominions etwa nach südafrikanischem Vorbild an. So sah die Home Rule-Gesetzesvorlage der Regierung Asquith lediglich die Kontrolle der Iren über ihre Innenpolitik vor, wogegen die Außen- und Sicherheitspolitik weiter unter Londons Aufsicht verbleiben sollte. Doch trafen bereits diese Zugeständnisse auf den fundamentalen Widerstand der englischen wie der irischen Unionisten, obwohl Asquith bei der zweiten Lesung der Home Rule Bills im März 1914 in Aussicht stellte, dass vier oder gegebenenfalls sechs Grafschaften des protestantischen Ulster nach einem Plebiszit zunächst unter der Kontrolle Londons verbleiben sollten. Doch die protestantischen Unionisten auf beiden Inseln des Vereinigten Königreiches sprachen dem katholischen, als halbwild stigmatisierten Irland ab, eine Nation zu sein und bezweifelten dessen Fähigkeit, sich selber zu regieren. Die Unionisten waren der festen Überzeugung, dass die korrupten Liberalen unter dem Druck der irischen Nationalisten nicht einmal davor zurückschreckten, die nationalstaatliche Einheit Großbritanniens von 1801 (Act of Union) aufzugeben, um an der Macht zu bleiben. Wegen dieses vermeintlichen Bruchs der Verfassung sah die Konservative Partei keinen Verhandlungsspielraum mit der Regierung. Im Frühling 1914 überstürzten sich die Ereignisse in Irland: Die irischen Unionisten bereiteten in Ulster den bewaffneten Widerstand vor. Die Irish Unionist Party Sir Edward Carsons suchte durch ein Plebiszit die Selbstverwaltung Irlands zu verhindern und stellte gleichzeitig eine provisorische Regierung sowie eine über 100.000 Mann zählende bewaffnete Miliz, die Ulster Volunteer Force, auf. Namhafte englische Unionisten, voran der »Diehard« Lord Milner, schreckten sogar vor Hochverrat nicht zurück. Sei es, dass sie die Bewaffnung der Ulster Volunteers finanzierten, sei es dass sie wie Milner versuchten, das Offizierskorps in Ulster zur Gehorsamsverweigerung gegen die Zwangsmaßnahmen der Regierung zu bewegen. Die sogenannte »Meuterei von Curragh« im März 1914 - obwohl keine Meuterei im eigentlichen Sinne offenbarte der Regierung dann auch, dass sie sich nicht auf die Armee in Irland verlassen konnte. John Redmond und die irischen Nationalisten fürchteten, bereits zu lange auf die parlamentarische Karte und die liberale Regierung ge49 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1

setzt zu haben, und unterstützten fortab ihrerseits eine Miliz, die Irish Volunteers. Ende Juli 1914 standen sich die katholischen Nationalisten des Südens und die protestantischen Unionisten des Nordens bewaffnet gegenüber. Auf beiden Seiten gab es erste Tote. Eine in letzter Minute in London einberufene Konferenz unter dem Vorsitz des Königs scheiterte. Doch Asquith hielt an seiner unerschütterlichen Überzeugung fest, »that in politics the expected rarely happens«.26 Er behielt recht. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs bewahrte Großbritannien wahrscheinlich vor einem Bürgerkrieg in Irland.27 Die genannten innenpolitischen Konflikte, und besonders die bis an den Rand des offenen Bürgerkrieges führende Krise in Irland, veranlassten George Dangerfield 1935, für die Jahre unmittelbar vor Ausbruch des Weltkriegs einen allgemeinen Zerfallsprozess der etablierten gesellschaftlichen Ordnung und der liberalen politischen Kultur zu konstatieren. Allerdings ist Dangerfields These seit langem in der Forschung aus guten Gründen heftig umstritten.28 Trotz gewisser Ähnlichkeiten im Verhalten der protestierenden Gruppen blieben die Verbindungen zwischen ihnen schwach, ihre Ziele oftmals entgegengesetzt und ihre politische Reichweite begrenzt. Auch deshalb erscheint die Vorstellung einer in Auflösung begriffenen britischen Gesellschaft problematisch. Doch für die meisten Zeitgenossen - und zwar nicht nur für das gehobene Bürgertum und die politische Rechte - bedeutete die Häufung, das Ausmaß und die Intensität der Vorkriegskonflikte eine tiefe Krisenerfahrung und Verunsicherung. Eine zentrale Ursache für die Deutung der sich bis 1914 häufenden Konflikte als »Krise« bildete auch in Großbritannien die Ausweitung des »politischen Massenmarktes«. Mit der verstärkten Rekrutierung der politischen Eliten aus dem mittleren Bürgertum und der Ausweitung des Wahlrechts - obwohl im Gegensatz zum Deutschen Reich 1910 erst 59 % der männlichen Erwachsenen das Wahlrecht zum Unterhaus besaßen - war der direkte Appell an eine politisierte Öffentlichkeit notwendig geworden. Am Vorabend des Weltkrieges kulminierte eine Entwicklung, die sich im laufe des langen 19. Jahrhunderts abgezeichnet hatte: Die beiden großen Parteien und zahlreiche neu entstandene außerparteiliche »pressure groups« suchten ihre politische Macht durch die Zustimmung einer breiteren Basis zu legitimieren. Ein notwendiges und erfolgversprechendes Resultat dieser Entwicklung waren Dauerappelle an »nation«, »people« oder »country«. Die damit einhergehenden neuen Formen 26 Zit. n. Read, England, 233. 27 Einschlägig zur Irlandkrise 1914 ist Stewart, Ulster, passim. Vgl. Kee, Flag II, 165-216; Dangerfield, Death, 269ff.; Jackson, Unionism; Tuathaigh, Ireland; Buckland, Carson; sowie Gollin, Proconsul, 172-220; Philipps, Diehards, 149-54. 28 Dangerfield, Death, passim. Vgl. die Beitrage in Langan, Crises; Kimmig, Aspekte, 157-70; Stevenson, Society, 43-45 und die eindrucksvolle Schilderung vom Fortbestand des »liberalen Englands« bis 1914 bei Turner, History, 1f.

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der Kommunikation ermöglichten eine zunehmende Repräsentation gesellschaftlicher Interessen, wodurch aber die unterschiedlichen Auffassungen, die Verwerfungen und Probleme der Zeit deutlicher ins öffentliche Bewusstsein rückten oder sogar erst hervorgerufen wurden.29 Der Nationalismus verschärfte auch hier die Konflikte, sei es, dass er für die Instrumentalisierung durch alle politischen Lager offen blieb, sei es, dass er - auch durch diese Deutungsoffenheit - die gesellschaftliche Politisierung und Polarisierung verstärkte. Eine wesentliche Rolle bei der Formulierung politischer wie wirtschaftlicher Interessen und bei der Ausbildung der politischer Lager spielte die Presse. Angesichts fehlender staatlicher Zensur, sprunghaft steigender Auflagenzahlen und fallender Preise verstärkten die Zeitungen und Zeitschriften in Großbritannien - und das hieß im edwardianischen England in London - die Ausbildung einer nationalstaatlichen, immer weniger lokal geprägten Politik. Im Unterschied zum Deutschen Reich waren die stärker kommerziell orientierten großen Tageszeitungen weit weniger an einzelne politische Parteien gebunden. Der Fortbestand des Meinungspluralismus wurde auch dadurch nicht gefährdet, dass die Auflagenstärke der liberalen mit derjenigen der konservativen Presse nicht konkurrieren konnte, einzelne Pressezaren wie der berüchtigte Lord Northcliffe (»Times«, »Daily Mail«) die Kontrolle über große Marktsegmente ausübten, und es der Arbeiterbewegung nur mit Mühe gelang, landesweit erscheinende Zeitungen zu betreiben.30 Die hochgespannte innenpolitische Lage in Großbritannien vor 1914 war durch die fortgesetzten Appelle einer zunehmend ideologisch verhärteten konservativen Presse und rechtsradikaler Interessenverbände an die »Nation« und die »Öffentlichkeit« gekennzeichnet. Die radikale Rechte formierte sich um das stillschweigende Axiom, dass die »Nation« - so wie sie diese verstand - sich von der konventionellen Politik nicht mehr vertreten glaubte. Die verschiedenen Strömungen rechts von der Konservativen Partei wurden eher durch die rücksichtslose Ablehnung der bestehenden politischen Ordnung als durch weitreichende personelle oder ideologische Gemeinsamkeiten verbunden. Was konservative Herausgeber wie Lord Northcliffe, James L. Garvin (»Observer«) und Leopold Maxse (»National Review«) mit den aristokratischen »Diehards« und den populistischen Agitationsverbänden wie der »Navy League« und der »National Service League« (NSL) vereinte, waren zwei gemeinsame Feindbilder: die liberale Regierung und das Deutsche Reich.31 29 Vgl. Green, Crisis, bes. 267ff.; Finn, Chartism, 1-59; insges. Colley, Britons. 30 Zur englischen Presse vgl. Lee, Origins, passim; Koss, Rise, passim; S. Taylor, Outsiders; Ayerst, Guardian; Holton, Herald, 347-76 und den Überblick bei Robbins, Freedom, 85-99. 31 Die Typologie der radikalen Rechten folgt hier Searle, Critics, 82ff. Vgl. Mock, Entstehung, 5-16 und die Einwände von Sykes, Right, 662ff; sowie F. Coetzee, Party; Gollin, Garvin und Hutcheson, Maxse.

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Die bevorzugten Ziele rechtsradikaler Hasstiraden im Innern waren die Parteien im allgemeinen und die liberale Regierung im besonderen. Gerade die rücksichtslosen Invektiven eines Leo Maxse offenbarten ein verändertes antagonistisches Politikverständnis, das Premierminister Asquith als »the new style«32 charakterisierte. Maxse und Milner wetterten mit einem geradezu pathologischen Hass gegen angeblich unfähige und dekadente liberale Politiker und diffamierten die Regierung schlicht als »criminals«. Das ideologische Herzstück der radikalen Rechten bildete die Doktrin der »National Efficiency«, mit deren Hilfe man danach trachtete, die Gesellschaft angesichts der zahlreichen Herausforderungen ausschließlich nach dem Kriterium der Effektivität zu reorganisieren. Die radikale Rechte polemisierte gegen das liberale Laisser-FairePrinzip und favorisierte einen gezielten Staatsinterventionismus, eine Regierung aus »überparteilichen« Experten und die Einführung der Wehrpflicht. Die Quintessenz der »National Efficiency«-Doktrin bestand in der antiliberalen Überzeugung, dass zentrale institutionelle und personelle Freiheiten zu verschwinden hätten, wollte Großbritannien den Niedergang des Empires aufhalten.33 Zu einem modernen Modell gesellschaftlichen Zusammenschlusses im Sinne der Effizienzideologie stilisierte die britische Rechte das autoritäre Herrschaftssystem des Kaiserreiches. Der Kernbestandteil diese Deutschlandbildes war dessen Janusköpfigkeit als Organisationsmodell einerseits und zugleich wegen des eskalierenden Rüstungswettlaufs zur See - als Feindbild andererseits. Das Feindbild Deutschland eignete sich vorzüglich zur Instrumentalisierung durch die radikale Rechte. Denn durch die emotionale Fixierung auf den äußeren Feind konnte sowohl die innere Kohäsion der Nation als auch die der eigenen Gruppe, zumal gegen die politische Linke, behauptet werden. Das vornehmliche Ziel nationalistischer Aktivisten war es daher, Angst und Unsicherheit zu erzeugen. Im Zuge des parlamentarischen Streits um die Flottenpolitik, zumal während der erregten Nachrüstungsdebatte 1909 und den sogenannten »war scares«, nutzte die radikale Rechte gezielt die Flottenagitation, um die vorhandene Germanophobie und die verbreitete Invasionsfurcht in ihrem Interesse zu verschärfen. Die nationalistische Bedrohungsangst und Spionagehysterie artikulierte sich in einer Welle von Invasionsliteratur, von der hier nur solche Bestseller wie »The Riddle of the Sands« (Erskine Childers, 1903) und »The Invasion of 1910« (William Le Queux, 1906) genannt seien. Lord Northcliffe und der NSL-Vorsitzende Lord Roberts hatten die Publikation von »The Invasion of 1910« mit allen Kräften gefördert.34 32 Zit. n. Hutcheson, Maxse, xviii. 33 Vgl. zur Ideologie der »National Efficiency« v.a. Searle, Efficiency, 54-106; sowie Schröder, Imperialismus, bes. 15-59; Semmel, Imperialism, 53-82; Philipps, Diehards, 87-112 und insges. zur Effizienzproblematik Rohe, Kultur, 13-23. 34 Vgl. zum deutschen Feindbild, Wendt, Einleitung, 12-34; Hollenberg, Interesse, 59-63;

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Auch in Großbritannien galt: Der Nationalismus war sowohl Ausdruck als auch Ursache des Krisenpessimismus. Wer den gesellschaftlichen Wandel und die sich vor 1914 häufenden massiven politischen Spannungen mit Hilfe des Nationalismus deutete, nahm die Umwelt zusätzlich polarisiert wahr, weil die Sinngebung durch die Nation trennscharfe Inklusionen und Exklusionen vornahm. So fixierte sich das Denken auf fundamentale Differenzen von »wir« oder »sie«, von »gut« und »böse«. Sobald daher jemand mittels des Nationalismus kommunizierte, tendierte dieser zu einer verstärkten Wahrnehmung gesellschaftlicher Konflikte. So blieb es auch in Großbritannien interpretierfähig und umstritten, was unter den Begriffen »nation« oder »country« zu verstehen war. Denn selbst im Vereinigten Königreich, dem vermeintlichen Musterbeispiel eines gefestigten, alt-ehrwürdigen Nationalstaates, konkurrierten vor 1914 so viele divergierende Vorstellungen über die Grenzen und den Gehalt der »nation« miteinander wie wohl niemals zuvor. Offenbar versprach kein Weltbild eine ähnliche politische Deutungsmacht.35 Während die Literatur zum Nationalismus in Deutschland für diese Epoche kaum noch überschaubar scheint, ist der Nationalismus in Großbritannien - bezeichnenderweise redet man hier bevorzugt vom offenbar harmloseren »patriotism« - weit seltener Gegenstand wissenschaftlichen Interesses geworden. Große Teile der Forschung sind augenscheinlich dem »myth of the absence of nationalism«36 in Großbritannien aufgesessen. Die britische Staatsnation hatte sich im 17. und 18. Jahrhundert nicht trotz, sondern wegen der Tatsache ausgebildet, dass sie verschiedene lokale und kulturelle Loyalitäten umfasste und diese gleichzeitig durch die oftmals kriegerische Abgrenzung nach außen überwölbte. Das wesentliche Band des Vereinigten Königreichs als Staatsnation bildeten weniger kulturelle Traditionen als die politischen Verfahren und Verfassungsinstitutionen des Landes. So kennzeichnete die britische Staatsnation zum einen eine multiple Loyalität, wenn sich etwa viele Einwohner Schottlands im Laufe der Zeit gleichzeitig als Schotten und Briten begriffen. Zum anderen machten nicht allein Engländer zunehmend seltener die Unterscheidung zwischen »England« und »Britain«. »Englishness« und »Britishness« bildeten 1914 schon längst beinahe beliebige Synonyme. Allerdings mahnte man nach Kriegsausbruch überall nachdrücklich an, von »Britain« zu sprechen, wenn vom Vereinigten Königreich und auch vom British Empire die Rede sei. Denn das Empire, genauer die großen DomiFest, Jingoism, 181-86, und zu den »war scares« der britischen Presse bzw. zur Invasionsliteratur v.a. Morris, Scaremongers, bes. 1-3, 37ff., 148ff. u. passim; Eby, Road; Hamilton, Navy, 165ff.; Gooch, Attitudes, 89-93. Aufschlussreich in diesem Kontext auch Blatchford, Englands, 7ff. und Cramb, Germany. 35 Vgl. zum Phänomen konkurrierender Nationalismen um 1914 Grainger, Patriotisms; passim; Thompson, Language, 147-77. 36 Nairn, Britain, 293.

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nions mit weißer Bevölkerung, waren nach verbreiteter Auffassung integraler Bestandteil eines »Greater Britain« (Sir Charles Dilke, 1868). Die britische Völkerfamilie stand demnach in der nationalen Pflicht, den »unterentwickelten« Teil der Welt zivilisatorisch zu beglücken und zu beherrschen.37 Dieser immer auch auf das Empire bezogene Nationalismus erschwerte zwar in gewisser Hinsicht eine Verabsolutierung der britischen Staatsnation, doch mahnten Linksliberale besonders nach dem Burenkrieg an, dass das Konzept des Greater Britain leicht zur Unterdrückung kleiner Nationen fuhren konnte. Namhafte Liberale wie der Imperialismustheoretiker John A. Hobson und Henry W. Massingham, der Herausgeber der »Nation«, fürchteten ein weiteres Ausgreifen des Imperialismus und des Militarismus, da diese den Kern von dem bedrohten, was für sie die britische Nation ausmachte: individuelle und kollektive Freiheit. Im liberalen Lager begriff man Großbritannien als einen vier eigenständige Nationalitäten überwölbenden Nationalstaat, und zielte eher auf eine innere sozialstaatliche und moralische Erneuerung des Landes als auf äußere Expansion.38 In enger Verwandtschaft mit den Ideen der Linksliberalen bildeten sich die Nationsvorstellungen der Sozialisten und die der Labour Party heraus. Die Arbeiterbewegung in Großbritannien war nie so explizit wie in Deutschland aus der Nation ausgegrenzt worden und erachtete es wohl auch deshalb für weniger notwendig, die internationale Rhetorik zu bemühen. Ihr Ideal der Nation sah gleichwohl eine sozialstaatliche Reorganisation der bestehenden kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse vor.39 Diese Entwürfe einer pluralistischen und sozialreformerischen Zivilgesellschaft, empörten aber konservative Politiker, weil sie ihrem Konzept einer geschlossenen, wehrhaften Nation entgegenliefen. Für die sich als wahre Vertreter und Verwalter der britischen Nation begreifenden Unionisten drohte vor allem die - oftmals als »Anti-National-Party« titulierte - Liberale Partei mit ihrer Home Rule-Politik die Einheit von Nation und Nationalstaat zu zerstören. Selbst Gewalt und Hochverrat erschienen daher als legitime Mittel, um die territoriale Integrität des Nationalstaates von 1801 zu bewahren. Im nationalistischen Reden der Unionisten und vor allem der radikalen Rechten, existierte kein Platz für legitime politische Differenzen. Entweder verpflichtete man sich der »nationalen« Sache und dem Empire oder lief Gefahr, als Verräter stigmati-

37 Vgl. zur Entstehung und dem Gehalt der Staatsnation in Großbritannien und zum Verhältnis von »Britishness« und »Englishness« Colley, Britons; Grainger, Patriotisms, 48-64, 182-218; Nairn, Britain; sowie Fischelmayer, Konzeptionen; P. Taylor, English, 146-61; Lottes, Großbritannien, 85-94; Kohn, Idee, 151-78. 38 Vgl. zum linksliberalen Konzept der britischen Nation Grainger, Patriotisms, 140-66; D. Smith, Englishness, 254-82; G.A. Ritter, Nation; Havighurst, Massingham. 39 Vgl. Yeo, Socialism, 308-69; die vergleichende Perspektive bei S. Berger, Labour, bes. 1869; ferner Semmel, Imperialism, 222-33; A. Smith, Statesman.

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siert zu werden. Die eigene Position galt als unbedingt unparteilich, weil »national«, die gegnerische als gefährlich »anti-national«.40 Von der radikalen Rechten ausgehend, verbreitete sich im konservativen Lager zudem die Vorstellung eines »race patriotism«, mittels dessen man nationalistische Ungleichheit fundamental begründen konnte. Zwar verwandten die unterschiedlichsten Gruppen den Begriff »race« und das in einem sehr weiten Sinne. Außerdem setzte in der Regel selbst die radikale Rechte den Terminus »race« synonym mit »nation« oder »civilisation«, nicht mit einer biologistisch gedeuteten britischen »Rasse«. Doch seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert verschmolzen im Zuge des Hochimperialismus ethnozentrische und kulturelle Vorstellungen der Nation zum »race patriotism«. Demnach bildete die mit einer zivilisatorischen Mission ausgestattete »British race« eine kulturell-ethnische Abstammungsgemeinschaft, die alle weißen Bewohner der britischen Inseln und des Empires umfasste. Wenn etwa Lord Milner folgerte, »the British State must follow the race«41, kehrte er damit die traditionelle Definition der britischen Staatsnation um. Obwohl die bestehenden Grenzen des Inselreiches einem auf äußere Expansion und auf die Destruktion der Staatsnation zielenden Nationalismus weniger Nahrung boten als es in Deutschland der Fall war, sollte im Ersten Weltkrieg die Vorstellung von ethnischer Ungleichheit in ungekanntem Maße die politischen Debatten prägen.42 Im Zuge der Auseinandersetzung um Home Rule bekamen die irischen Nationalisten bereits einen Vorgeschmack auf den fundamental ausgrenzenden, ethnischen und antikatholischen Nationalismus der Unionisten. Die protestantischen Unionisten fürchteten nicht allein unter die Herrschaft eines römisch-katholischen Staates zu geraten, sondern sprachen auch den Iren wie den farbigen Völkern als »Wilde« die Fähigkeit ab, sich selber zu regieren. Die irischen Nationalisten um John Redmond dagegen weigerten sich zu akzeptieren, dass sie ihr Katholizismus und ihr Nationalismus in Antinomie zur britischen Staatsnation setzten. Irland sei, mochten die Unionisten sich auch quer stellen, zwar eine eigene Nation, doch bilde es gleichzeitig einen integralen Bestandteil eines pluralistisch verstandenen britischen Nationalstaates.43 Es war dieser innenpolitische Kampf um die Grenzen des Nationalstaates und um die inhaltliche Bestimmung der britischen Nation - nicht die maritime Bedrohung durch das Deutsche Reich -, der die giftigsten nationalistischen 40 Vgl. zum Nationalismus der Unionisten, Grainger, Patriotisms, 167-81, 219-55; Cunningham, Party, 283-307; F. Coetzee, Party; Morris, Scaremongers. 41 Zit. n. Gollin, Proconsul, 129. 42 Vgl. zum »race patriotism« Gollin, Proconsul, 127-32; Howard, Empire, 340-47; Miles, Theories, 32-34; Lebzelter, Anti-Scmitism, 102f.; Phillips, Willoughby, 96f. 43 Vgl. zum irischen und unionistischen Nationalismus Boyee, Britons, 230-53; ders., Nationalism, 259-94; Wolffe, God, 112-15; Dunn/Hennessy, Ireland, 179-81; Fischelmayer, Konzeptionen, 298-300.

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Emotionen entfachte und der Großbritannien 1914 bis an den Rand des Bürgerkriegs führte. Die Gegner und die Befürworter von Home Rule beriefen sich beide auf den Primat und den Willen der britischen Nation - sei es in Gestalt der Verteidigung der Union, sei es in der Berufung auf den Supremat des Parlaments. In ihrem Leitartikel vom 27. Juli 1914 beklagte die »Times« diese destabilisierenden Auswirkungen des Nationalismus und resümierte: »There can no longer be the slightest doubt that the country is now confronted with one of the greatest crises in the history of the British race«. Bezeichnenderweise war damit - vier Tage vor Ausbruch der Weltkriegs - allein die innenpolitische Krise gemeint. Dieser Befund widerspricht Deutungen, welche die deeskalierende Außenpolitik Großbritanniens, im Unterschied zu der des Deutschen Reiches, den Wirkungen eines fest etablierten und in unstrittigen Grenzen in sich ruhenden Nationalstaats zuschreiben.44 Zudem propagierte auch in England die radikale Rechte zur Zerschlagung des innen- und außenpolitischen gordischen Knotens einen gewaltsamen Schlag. Wenigstens für rechtsradikale Nationalisten war der Kriegsausbruch als Ausweg aus dem Bürgerkrieg willkommen. Bereits 1911 schrieb der Autor und Verleger Frederick S. Oliver seinem engen Freund Milner: »Nothing will save us except the sight of red blood running pretty freely; but wether British and German Blood, or only British I don't know - nor do I think it much matters«.45

2. Kriegsausbruch. Furcht, Begeisterung und Bereitschaft a) Das »Augusterlebnis« in Deutschland von »Goldautos« und anderen nationalistischen Phantasien Der Kriegsausbruch in Deutschland 1914 ist vielfach beschrieben worden. Die einschlägigen Darstellungen des Ersten Weltkriegs zehren von der immer gleichen Schilderung enthusiasmierter Menschenmengen, jubelnd an die Front ziehender Soldaten und begeisterter Sentenzen namhafter Intellektueller. Der in der Forschung strapazierte Topos vom »Wunder des Augustes 1914«, der Glaube, die deutsche Bevölkerung habe sich bei Beginn der Feindseligkeiten vor »nationalistischer« Begeisterung kaum halten können, ist selbst längst zu einem Mythos geworden. Unabhängig von seinem realhistorischen Kern war dieser Mythos so gut erfunden, dass er im Ersten Weltkrieg, über diesen hinaus, 44 So Gordon, Conflict, 209-13, Zit. 210, der im Vergleich zu Deutschland auf einen »sense of common nationhood« im Vereinigten Königreich verweist. Ähnlich argumentiert P. Kennedy, Rise, 437. 45 Zit. n. Searle, Revolt, 27. Vgl. aber zur relativ geringeren Resonanz des Kultes der Offensive in Großbritannien Howard, Doctrine, 510-22; Travers, Offensive, 538—46; Gooch, Attitudes 9395; Steiner, Britain, 153-56, 194-200.

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ja, bis in die Gegenwart hinein das öffentliche Bewusstsein vom Kriegsausbruch prägte. Irgendwann »wusste« man eben, dass 1914 »alle« gejubelt hatten. Von dieser Regel bildeten bis vor kurzem auch die Historiker keine Ausnahme. Thomas Nipperdey glaubte bei Kriegsausbruch »eine gewaltige Woge der Kriegbegeisterung« auszumachen, bei der es sich um »keine patriotische Legende« gehandelt habe. Auch Thomas Rohkrämer konstatierte »eine weit verbreitete Begeisterung« und Klaus Hildebrand ging von einem »rauschhaft gefeierten Augusterlebnis der Massen« aus.4* In der Überbetonung der Kriegsbegeisterung durch die Forschung schwingt oft das bildungsbürgerliche Klischee von der Irrationalität und vom Fanatismus der »Massen« mit.47 Unkritisch folgte man über Jahrzehnte hinweg im Urteil wie in der Sprache einer Interpretation, welche die bildungsbürgerlichen Eliten im Jahre 1914 entwickelt hatten. So notierte etwa Stefan Zweig in seinen vielzitierten Erinnerungen: »Um der Wahrheit die Ehre zu geben, muss ich bekennen, dass in diesem ersten Aufbruch der Massen etwas Großartiges, Hinreißendes und sogar Verführerisches lag, dem man sich schwer entziehen konnte. [...] Alle Unterschiede der Stände, der Sprachen, der Klassen, der Religionen waren überflutet für diesen einen Augenblick von dem strömenden Gefühl der Brüderlichkeit. [...] Jeder einzelne erlebte eine Steigerung seines Ichs, er war nicht mehr der isolierte Mensch von früher, er war angetan in eine Masse, er war Volk, und seine Person, seine sonst unbeachtete Person hatte einen Sinn bekommen«.48 Derartige Beispiele ließen sich auch anhand der Tagespresse beinahe beliebig vermehren. »Niemandem mehr erlaubt die Stunde, irgend etwas anderes zu sein als einzig und ganz und gar nur national, [...] er ist nicht länger sein eigenes Zentrum, er ist ein kleinstes Stück von einem sehr geliebten Ganzen. Die Masse weiß das nicht, aber sie fühlt es unter der Schwelle des Bewusstseins«.49 Im wesentlichen haben drei Gründe zur Langlebigkeit des Mythos vom »Augusterlebnis« geführt. Erstens die jahrzehntelange Konzentration der For46 Nipperdey, Geschichte II, 778f.; Rohkrämer, August, 760; Hildebrand, Reich, 314. Entsprechend noch 1998 (!) Peter Schade, Nachrichtenpolitik, 45ff. Sehr viel differenzierter hingegen W. Mommsen, Bürgerstolz, 564f. 47 Modris Eksteins, Rites, 92-99, suggeriert sogar ernsthaft, der angebliche Enthusiasmus der »Massen« habe die EntScheidungsprozesse der politischen Führung beeinflusst. Ein ähnliches Fehlurteil bereits bei G. Ritter, Staatskunst II, 314f. Das trifft nicht einmal für die Haltung der Parteiführung der SPD zu, vgl. Kruse, Krieg, 55f, Ullrich, Arbeiterbewegung, 142f 48 Zweig, Welt von Gestern, 263f. Der nachmalige Nestor der deutschen Geschichtswissenschaft, Friedrich Meinecke, Autobiographische Schriften, 222, bekannte mit der gleichen Inbrunst noch nach drei Jahrzehnten und nach zwei Weltkriegen, er habe damals im August 1914 »einen der schönsten Momente [s]eines Lebens« gehabt. 49 BT (M), 2.8.1914,6. »Da dachte keiner mehr daran«, schrieb die nationalliberale »Kölnische Zeitung« (SoA), 2.8.1914, 1, »was ihn noch gestern von dem Volksgenossen getrennt hatte, ob konservativ, ob liberal, ob Zentrumsmann oder Sozialdemokrat, sie alle einte der Schwur: Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern!«

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schung auf die Stimmung der in der Öffentlichkeit dominierenden bildungsbürgerlichen Eliten, auf die Wissenschaftler und Pfarrer, die Schriftsteller und Journalisten. Zweitens versprach das »Augusterlebnis«, einen aussagekräftigen Lackmustest für die Breitenwirkung des Nationalismus abzugeben. Vorzugsweise kontrastierte man so die Durchschlagskraft des Nationalismus mit der vermeintlich überwundenen konkurrierenden Loyalität, sei es die der »Klasse« im Falle der SPD, sei es die der »Konfession« im Falle des politischen Katholizismus.50 Drittens schließlich schuf der Mythos der kriegsbegeisterten, einigen Nation durch die Tatsache, dass in der Weimarer Republik wie im Nationalsozialismus immer wieder an die Vorbildfunktion dieser »Volksgemeinschaft« appelliert wurde, seine eigene Realität.51 Die erste Frage ist daher, wer außerhalb des Bildungsbürgertums vom »Augusterlebnis« ergriffen wurde, wer sich 1914 dieser Einheitseuphorie wie weit und wie lange hingab. Anstatt der tradierten Interpretationslinie zu folgen, erscheint es aufschlussreicher, vorab auf den sich neu formierenden Kenntnisstand der Forschung über die Stimmung und das Verhalten der Bevölkerung des Deutschen Reiches bei Kriegsbeginn hinzuweisen, der erst allmählich verallgemeinerbare Aussagen zulässt.52 Dabei besteht allerdings die Gefahr, den Mythos umzukehren und lediglich auf die Verzweiflung und die Passivität der Zeitgenossen zu verweisen. Insgesamt aber kommen die Regionalstudien, die seit einigen Jahren das »Augusterlebnis« erforschen, zu sehr relativierenden Ergebnissen. Bereits ein Blick in die überregionale Tagespresse zeigt, dass sich der Kriegsausbruch für Bildungsbürger und Arbeiter, für Erwachsene und Jugendliche oder für Männer und Frauen oft sehr unterschiedlich darstellte.53 Anstatt von einer einheitlichen Kriegsmentalität im wilhelminischen Deutschland auszugehen, müsste in Zukunft noch eingehender nach prägenden gesellschaftlichen Kategorien wie Klassenzugehörigkeit, Konfession, Geschlecht, Alter, Region und politischer Haltung differenziert werden. Die zweite, entscheidende Frage ist die nach der Rolle nationalistischer Vorstellungen. Kann das »Augusterlebnis« auf der Linie nicht allein der älteren 50 Vgl. zum Phänomen der multiplen Loyalität etwa Gay, Cultivation, 518f. 51 Ausführlich dazu Verhey, Spirit, 206-30; sowie Raithel, Wunder, 506ff. Vgl. hier Kptl. V. 52 Eine differenzierte Untersuchung zur Stimmung der Bevölkerung bei Kriegsausbruch, wie sie Jean-Jaques Becker, Francis, für Frankreich schon 1977 mit sehr relativierenden Ergebnissen vorgelegt hat, existierte bis vor kurzem nicht. Vgl. inzwischen aber Raithel, Wunder; passim; Verhey, Spirit, bes. 12-114; Kruse, Krieg, bes. 29-61; zu Freiburg, Geinitz, Kriegsfurcht, passim; zu Darmstadt Stöcker, Augusterlebnis; zu Hamburg Ullrich, Arbeiterbewegung I, bes. 140-47; ders., Kriegsalltag; zu Hannover und Braunschweig Boll, Massenbewegungen, 145-87, und zum ländlichen »Augusterlcbnis« v.a. Zicmann, Front, bes. 39-54,229-89; ders., Augustcrlcbnis, 193203. 53 Das haben v.a. die Arbeiten von Verhey, Spirit und Raithel, Wunder, geleistet, aber im Ansatz bereits die unbeachtet gebliebene Kölner Dissertation Ludwig Schmetzers, Meinung, aus dem Jahre 1922(!).

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Forschung als idealtypisches Exempel für die Durchsetzungsmacht eines einheitlichen Reichsnationalismus verstanden werden? Versetzten nationalistische Vorstellungen die Bürger in eine kriegsbegeisterte Ekstase, oder muss von komplexeren, indirekteren Wirkungen ausgegangen werden? Auch wenn Furcht die Stimmung oft treffender charakterisierte als Kriegsbegeisterung, bedeutete das gerade nicht das Fehlen von Nationalismus. Vielmehr begünstigten die »nationalen« Interpretationen der tatsächlichen Krise den Umschlag von Bedrohungsvorstellungen in Panikreaktionen. Bevor anhand der Presse einige Aspekte des »Augusterlebnisses«, Begeisterung wie Verzweiflung, Protest wie Panikreaktion, skizziert und daran die Erscheinungsformen der Nationalismen untersucht werden, ist jedoch zunächst knapp auf einige Rahmenbedingungen von Öffentlichkeit im kriegführenden Kaiserreich zu verweisen. Mit der Erklärung der drohenden Kriegsgefahr am 31. Juli 1914 ging die vollziehende Gewalt außerhalb Bayerns in die Hände von 57 mit außerordentlichen Vollmachten ausgestatteten Militärbefehlshabern über. Damit lag auch die Zensur in der Hand der Militärs, die, obwohl es formal keine politische Zensur gab, fortab die verfassungsmäßigen Rechte der Bevölkerung einschränkten. Doch kam während der gesamten Dauer des Krieges eine erfolgreiche, zentral gesteuerte Handhabung der Zensurmaßnahmen ebenso wenig zustande, wie es gelang, die öffentliche Stimmungsbildung zu unterdrücken. Die sich hartnäckig in der Forschung behauptende Ansicht, nach der eine zensierte und willfährige Presse, und eine ausgeklügelte staatliche Manipulation die Bevölkerung »nationalistisch« und kriegsbereit gehalten hätten, geht an der Problematik vorbei. Auch wenn die linke Presse in Deutschland ihren relativen Mangel an Freiheit im Vergleich zur englischen beklagte,54 wurde auch in Deutschland die Zensur von nichtmilitärischen Nachrichten oft erstaunlich großzügig gehandhabt. Die uneinheitliche, ja, oftmals aufgrund der Überforderung der Behörden relativ zurückhaltende Handhabung der Zensur in der Praxis,55 kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der Regel gerade die Veröffentlichungen der Sozialdemokratie und der polnischen Minderheit weiterhin eine überproportional harte Unterdrückung erfuhren.56 Doch blieb davon die Freiheit der meisten Zeitungen unberührt, zu politischen Fragen Stellung zu beziehen. Die insgesamt relativ ineffiziente Zensur stellte gerade 54 Vgl. etwa den »Vorwärts« vom 14.9.1914, 1. 55 »Es ist das Wesen der militärischen Zensur, dass sie sich fortgesetzt ändert«, hieß es in einer Pressekonferenz des Kriegspresseamtes am 26.11.1916. BA Rl 501 112328/1, BI.278. Vgl. zur deutlich liberaleren Handhabung der Zensur in Bayern D. Fischer, Zensurstelle, bes. 110-24, 187-91; sowie insges. Welch, Germany, 27-40; Creutz, Pressepolitik, 43-61; Deist, Zensur, 153-63 und Koszyk, Pressepolitik; Herrmann, Zusammenbruch. 56 Vgl. die weiterhin aufmerksame Beobachtung der SPD und des Zentrums durch die Behörden, GStA PK Rep. 77, Tit. 885/5, Bd. 1 f.; sowie Verhey, Spirit, 142-46. Eine interne Aufstellung des Innenministeriums der bis zum 8. März 1916 verbotenen Tageszeitungen, BA R1501, 12276/ a, Bl. 144f, ergibt folgendes Bild:

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für die in der Form des Nationalismus kodierten Aussagen keine unüberwindliche Kommunikationsbarriere dar. Denn die mit Hilfe des Nationalismus verfassten Nachrichten konnten die relativ durchlässige Zensur leichter passieren als andere Botschaften und daher ein Element öffentlicher Kommunikation werden. Schließlich darfauch die faktische Selbstzensur vieler Zeitungen nicht übersehen werden, deren Redaktion, sei es aus Überzeugung, sei es aus Furcht vor staatlichen Vergeltungsmaßnahmen, die zu veröffentlichenden Nachrichten sorgfältig auswählte.57 Die Berichterstattung über den Kriegsaubruch stand deshalb nicht allein unter staatlicher Kontrolle, sondern auch unter dem Einfluss der bewusst wie unbewusst selektierenden Redakteure. Die individuelle Bewertung gerade extremer Situationen artikuliert sich meist im Rahmen bestehender Deutungsmuster, die nicht zuletzt durch die Zugehörigkeit zu bestimmten gesellschaftlichen Gruppen konstituiert werden. Dieses oft unreflektierte Wertesystem beeinflusst die Wahrnehmung und die Interpretation von Umwelterfahrungen in eine bestimmte Richtung, weshalb etwa die Erfahrung des Kriegsbeginns eher den Vorstellungen entspricht, die sich jemand von einer bestimmten Situation »macht«, als den tatsächlichen Ereignissen. Im Falle des »Augusterlebnisses« übertrugen die Berichterstatter der bürgerlichen Zeitungen ihre eigene Begeisterung oft distanzlos auf die Situation in den Arbeiterwohnvierteln, in denen sie - ohne dort gewesen zu sein - nur das wahrnahmen, was ihrer eigenen Stimmungslage entsprach und andere Eindrücke gar nicht oder nur höchst selektiv wiedergaben.58

Politische Ausrichtung: »konservativ« »freikonservativ« »nationalliberal« »Zentrum« »liberal« »freisinnig« »sozialdemokratisch« »parteilos« »polnisch« »antisemitisch« »revolutionär«/ »anarchistisch«/ »nationalistisch«

Anzahl:

4 1 5 9 3 1 23 9 12 1 21

Dauer des Verbots in Tagen:

20 4 20 35 34 2 149 156 158 5 andauernd verboten

57 Vgl. BA R1501 12276/a, Bl.215f, 247 (27.671.8. 1916) zum Verbot des »Berliner Tageblatts«; sowie zur polnischen Presse ebd., Bl. 293f. (25.8.1916) und die Erinnerungen von Oberstleutnant Nicolai, Nachrichtendienst; Rosenberger, Schreiben, 15-30. 58 Das gilt auch für die vielzitierten Stimmungsberichte des Berliner Polizeipräsidenten, wie etwa BA R1501 2398, Bl. 142 (5.9.1914): »Kriminalbeamte, die dienstlich viel in Arbeiterkreisen zu

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Als offensichtlichstes Indiz einer breiten Kriegsbegeisterung betrachteten schon die Zeitgenossen die gewaltigen Menschenmengen, die sich auf Straßen, öffentlichen Plätzen, Kaffeehäusern und Bahnhöfen in den großen Städten ansammelten. Fraglich ist nur, ob diese Menschenansammlungen, die in den letzten Juli- und in den ersten Augusttagen in den Innenstädten zusammenströmten, nicht eher von ihrem Informationsbedürfnis und von wachsender Anspannung angetrieben worden sind.39 Die »Frankfurter Zeitung« berichtete über die Menschenmengen vor ihrer Hauptgeschäftsstelle: »Noch während diese Zeilen geschrieben werden, drängt sich das Publikum vor dem Portal der Zeitung und kämpft mit wahrer Todesverachtung um jedes neue Blatt. [...] Noch bis in die tiefen Nachtstunden hinein sah man Gruppen erregt diskutierender junger Leute«.60 In Berlin habe, schrieb die »Kölnische Zeitung«, die Nachricht vom drohenden Kriegszustand die Bevölkerung »in eine ungeheure Erregung versetzt. Scharen von Menschen strömen in immer dichteren Massen aus dem Zentrum, aus dem Westen nach der Gegend der Linden, um dem Mittelpunkt der Ereignisse näher zu sein. Man riss sich die Extrablätter aus den Händen, die Zeitungsboten wurden förmlich verfolgt«.61 Denn auf der Straße erworbene Tageszeitungen und die zahllosen eilig veröffentlichten Extrablätter stellten die wichtigste Nachrichtenquelle dar. Zudem bildeten die Stadtzentren Orte der Kommunikation, wo man auch das Bedürfnis nach Informationen stillen konnte. Die Erforschung des »Augusterlebnisses« hat sich fast ausschließlich auf die urbanen Zentren, vornehmlich auf Berlin konzentriert. Denn nur die Städte boten ein Forum für spontane wie organisierte Zusammenkünfte großen Stils. Hier prallten Neugierige und Hysterische, Begeisterte und Verzweifelte, Befürworter und Gegner des deutschen Kriegseintritts aufeinander. Unter dem Einfluss der sich überstürzenden Meldungen und Gerüchte durchliefen die Menschen ein Wechselbad der Stimmungen. In Berlin, berichtete die »Kölnische Zeitung« bereits am 26. Juli nach der Ablehnung des österreichischen Ultimatums, herrsche »Kriegsstimmung«. In München wurde diese Nachricht mit »lebhafter Begeisterung aufgenommen. Tausende durchzogen die Straßen, sangen patriotische Lieder und stießen Hochrufe auf Österreich-Ungarn aus«.62 Doch wer jubelte in den letzten Julitagen? »Es waren Jünglinge, nach der tun haben, wollen es kaum glauben, dass es dieselben Leute sind, die noch vor kurzem in Protestversammlungen die Internationale hochleben ließen und jetzt patriotisch überschäumen«. Vgl. die Auswahl in Materna/Schreckenbach, Dokumente, bes. 5—14; sowie Fritsche, Bedingungen, 121ff.; Verhey, Spirit, 64-96; Geinitz, Kriegsfurcht, 74f.; Ullrich, Kriegsalltag, 10-12. 59 Das vermuten Kruse, Kriegsbegeisterung, 75f.; Geinitz, Kriegsfurcht, 69-73; Raithel, Wunder, 222-27 und Mai, Kaiserreich, 10-16. 60 FZ (3.M), 26.7.1914, 1f. Vgl. KLZ (2.M) 31.7.1914, 1. 61 KLZ(l.M), 1.8.1914, 1. 62 KLZ (SoA), 26.7.1914, 1.

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neuesten, allerneuesten Mode gekleidet«, polemisierte der »Vorwärts«, »deutschnationale Studenten und Handlungsgehilfen, Jungdeutschlandbündler und Lebejünglinge, die ihre Abenteuerlust, ihr Vergnügen an Provokationen, ihr chauvinistischer und ihr Bierrausch auf die Straße trieb. [...] Arbeiter sah man keine in der Menge. Auch wenig ältere Leute«.63 Die Straßen dominierten zunächst, das berichten die Zeitungen übereinstimmend, junge Männer aus dem mittleren und gehobenen Bürgertum. In Köln nannte man dieses Phänomen treffend »Karnevalskriegsrausch. [...] - das geht ja hoch her, bin auch dabei - welch grüne Bürschlein in Köln lassen sich's zweimal sagen, wenn's heißt ein wenig Radau und Mummenschanz auf der Strasse zu treiben«.64 Diesem öffentlichen Hurrapatriotismus standen die von der Sozialdemokratie organisierten Antikriegsversammlungen gegenüber. Angesichts der drohenden Kriegsgefahr rief die SPD ihre Anhänger zu Protestkundgebungen im ganzen Reichsgebiet auf Hunderte von Versammlungen und Demonstrationen fanden zwischen dem 26. und31.Juli statt, an denen sich insgesamt mindestens 750.000 Menschen beteiligten. Ihren Höhepunkt erreichte die Kundgebungswelle am Dienstag, dem 28. Juli, als in Berlin vermutlich weit über 100.000, in Dresden etwa 35.000 und in Hamburg etwa 30.000 Teilnehmer gezählt wurden.65 Unmissverständlich grenzte die Presse der Arbeiterbewegung die Stimmung der Arbeiter von »der bürgerlichen Kriegbegeisterung«66 ab, und betonte, dass nur sie das deutsche Volk repräsentierten. Auch die Sozialdemokratie beanspruchte einen, ja, den relevanten Teil der Nation zu verkörpern. Diese Berufung auf das »Volk« avancierte im Verlauf des Krieges zu einer immer schärferen Abgrenzungsstrategie der Linken: »Der absurde Schwindel, dass das deutsche Volk in seiner Mehrheit von Kriegsbegeisterung befallen sei, wurde am Dienstag von der Arbeiterschaft gründlichst zuschanden gemacht. Während bisher Unter den Linden etliche tausend alldeutscher Studenten und antisemitischer Handlungsgehilfen unter geschickter Ausnutzung der Staffage, die ihm die übrigen Tausende eines harmlos neugierigen Publikums abgaben, ›Volk‹ gemimt und einen tollen Hexensabbat aufgeführt hatten, trat am Dienstagabend wirklich einmal Volk auf die Bildfläche«.67 In der Tat entsprach die Stimmung der Arbeiterschaft keineswegs dem in den bürgerlichen Medien 63 VO, 26.7.1914, 2 64 Rheinische Zeitung, 28.7.1914, zit. n. Schmetzer, Meinung, 53. Vgl. ebd. 52-54; Raithel. Wunder, 228-237. 65 Vgl. LV, 31.7.1914,5f.;VO, 29.7.1914,2; 30.7.1914,3. Grundlegend dazu die ausführlichen Berechnungen bei Kruse, Krieg, 30-42 und zu Hamburg, Ullrich, Arbeiterbewegung I, 141. 66 LV, 29.7.1914, 1. 67 VO, 29.7.1914,1. Vgl. BT (M), 29.7.1914,3. »Die Kundgebungen«, schrieb die »Calwcrsche Korrespondenz«, zit n. Schmetzer, Meinung, 54, »die sich vom 25. auf den 26. Juli in allen deutschen Großstädten, vor allem in Berlin bemerkbar machten, dürfen nicht als ein Ausdruck der Stimmung des Volkes angesehen werden. Denn weder die Arbeiter noch die Bauern wurden von dieser Stimmung berührt«.

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entworfenen Bild einer umfassenden Kriegbegeisterung. Die Mehrheit der Arbeiter sah dem Geschehen mit Entsetzen und wachsender Ablehnung entgegen, mussten zahllose Männer und Frauen doch fürchten, mit dem Frieden auch den Arbeitsplatz oder den Ernährer zu verlieren. Angesichts der drohenden sozialen Not entfällt ein für die Kriegsbegeisterung häufig angeführtes Motiv: die Erfahrung der Langeweile, des Überdrusses und des Erlebnishungers in einer als inhaltsleer empfundenen Friedenswelt. Denn derartige Frustrationserscheinungen stellten eine rein bildungsbürgerliche Erfahrung dar. Unter unausgefüllter Muße konnten nur diejenigen leiden, denen dürftige soziale Verhältnisse und monotone Industriearbeit nicht die Zeit für dekadente Reflexionen nahmen. Ein Pfarrer aus dem Berliner Arbeiterviertel Moabit notierte nach Kriegsbeginn: »Die eigentliche Begeisterung- ich möchte sagen, die akademische Begeisterung, wie sie sich der Gebildete leisten kann, der nicht unmittelbare Nahrungssorgen hat, scheint mir doch zu fehlen. Das Volk denkt doch sehr real und die Not liegt schwer auf den Menschen«.68 Hinzu kam, dass außer dem unterschiedlichen sozialen Hintergrund, in der Arbeiterschaft alternative Nationsvorstellungen auf der Basis der Internationale bestanden, die eine aggressive Kriegsbegeisterung wenigstens erschwerten. Auch unmittelbar vor und nach der Bekanntgabe der Mobilmachung, am 31. Juli und am 1. August, produzierte die kollektive Anspannung emotional sich scharfwidersprechende Handlungsweisen und Äußerungen. Jubel und Entsetzen lagen dicht beieinander. Das lässt sich erneut am Beispiel Berlins am besten belegen. Auf der einen Seite formierten sich Versammlungen singender, begeisterter Bürger, die ihrem patriotischen Enthusiasmus vorzugsweise in der Nähe des Stadtschlosses Luft machten. Auf diese Versammlungen konzentrierte sich die Berichterstattung der bürgerlichen Presse. »Es mögen gestern abend vor dem Schloss zweihunderttausend Menschen gestanden haben«, berichtete das »Berliner Tageblatt« am 1. August. Als der Kaiser sich zeigte, wollten »die Hochrufe und Zustimmungsbekundungen der Menge [...] kein Ende nehmen«. Und vom Tag der Mobilmachung schrieb die rechtskonservative »RheinischWestfälische Zeitung«: »Ein Orkan nationaler Begeisterung fegte durch die Straßen«.69 Auf der anderen Seite stellten die ca. 40.000 bis 50.000 begeisterten Bürger, die Hochrufe skandierend am 1. August zum Stadtschloss zogen und dem Kaiser zujubelten, eher eine Minderheit dar, verglichen mit der An68 Vgl. Kruse, Krieg, 158-64 (Zit. 160); Boll, Massenbewegungen, 151ff.; Bieber, Gewerkschaften, 79-82; sowie Leed, Land, 58-72; Vondung, Propaganda, 26f. Zu dieser Differenz zwischen den Intellektuellen und der Bevölkerungsmehrheit vermerkte Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues, 14, ironisch und treffend: »Am vernünftigsten waren eigentlich die armen und einfachen Leute; sie hielten den Krieg gleich für ein Unglück, während die bessergestellten vor Freude nicht aus noch ein wussten, obschon gerade sie sich über die Folgen viel eher hätten klar werden können. Katczinsky behauptet, das käme von der Bildung, sie mache dämlich«. 69 BT (M), 1.8.1914, 5; RWZ, 2.8.1914, 1. Vgl. KLZ (l.M), 1.8.1914, 1; NPZ (M), 3.8.1914, 3.

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Spannung der meisten Menschen auf den Straßen Berlins. Wohlgemerkt waren es - an ihrer Kleidung erkennbare - Bürger, wie auch zeitgenössische Fotografien belegen, welche ihre Begeisterung nicht zu zügeln vermochten.7“ Demgegenüber berichteten die unterschiedlichsten Blätter vom großen Ernst der Menschen. »Es lag eine ernste und gewaltige Stimmung über der Stadt. Nichts war mehr von der lauten Trubelstimmung zu spüren, die [...] am letzten Sonntagabend [...] vornehmlich die Jugend Berlins taumelartig ergriffen hatte«.71 »Der Hurrapatriotismus ist verflogen«, hieß es im »Vorwärts«, »und das dumpfe Ahnen eines herannahenden, unabsehbaren, namenlosen Unheils lastet auf der großen Menge derer, die da der neuesten Ereignisse harren. Die Sechzehnjährigen sind fast gänzlich verschwunden und das Straßenleben wird beherrscht von Erwachsenen«.72 Die Mobilmachung schließlich empfanden viele als »Erlösung aus einer Spannung[...], die zu einer fast unerträglichen Qual geworden war«.73 Dieses Gefühl kann aber nicht unbedingt als Begeisterung bewertet werden, sondern stellte ebenso einen Ausdruck der Erleichterung dar. »Immer erregter wird die Stimmung, immer wilder die Gerüchte. [...] Unten, am Schlosse, fluten schwarze Ströme auf und nieder. [...] Die Spannung löste sich als bekannt wurde, die Mobilmachung sei angeordnet. Wenn auch der Beifall der Kriegslüsternen stark hervortrat, so konnte dem aufmerksamen Beobachter doch nicht entgehen, wie vielen mit der Bekanntmachung der letzte Strohhalm ihrer Hoffnungen entglitt und tiefernste Sorge aufs Antlitz trat«.74 Insgesamt überwog in den meisten Städten am 1. August eine ernste, aber gefasste und zuweilen erleichterte Grundstimmung.75 Eine einheitliche Gefühlslage herrschte nie, vielmehr scheinen die Menschenansammlungen ein Wechselbad sich widersprechender Emotionen durchlebt zu haben. Kriegsfurcht, ernste Entschlossenheit und Begeisterung bestanden nebeneinander. Dabei gab der scheinbar reibungslose Ablauf der deutschen Mobilmachung den Menschen in den ersten Augusttagen immer wieder die Gelegenheit, den disziplinierten Ausmarsch der Truppen zu bewundern. Diese mit Marschmusik und Fahnenschmuck bereicherten militärischen Demonstrationen beruhigten und begeisterten viele. Offenbar war das Erlebnis der Musik und der gemeinsame Gesang auf den Straßen in der angespannten Lage von besonderer Bedeutung und erleichterte die Menschen.76 Neben dem Ende der tagelangen 70 Verhey, Spirit, 58-71; Raithel, Wunder, 261-68; Kruse, Wendung, 115-18. Vgl. auch die Dokumente in Cartarius, Deutschland, 12-33; Johann, Innenansicht, 13-15. 71 BT(M), 1.8.1914, 5. 72 VO, 1.8.1914, 9. Entsprechend GE (A), 31.7.1914, 5; KLZ (l.M), 31.7.1914, 1. 73 KLZ (MI), 1.8.1914,1. 74 VO, 2.8.1914, 9. Vgl. Geinitz, Kriegsfurcht, 131-38. 75 Vgl. insges. Raithel, 264-68; Verhey, Spirit, 64-71; ferner Krumeich, L'entrée. 76 RWZ, 2.8.1914, 1; NPZ (M), 3.8.1914, 3; KLZ (SoA), 26.7.1914, 1. Vgl. Knoch, Kriegsverarbeitung, 154.

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Hochspannung und Ungewissheit ist die zeitweilig empfundene Erlösung und Freude in den Städten auch dadurch zu erklären, dass für viele Zeitgenossen ein Kriegsausbruch nicht etwas ausschließlich negatives bedeuten musste. Das Wissen um die Art und den Verlauf dieses strukturell neuen Krieges verstellt den Blick für die relative Normalität von Kriegen in der Situation von 1914. Bis zum Ersten Weltkrieg galten Kriege - zumal in großen Teilen des deutschen Bürgertums - als legitimes, weithin akzeptiertes Mittel zur Durchsetzung nationalstaatlicher Interessen.77 Dennoch erlebte die Mehrheit der städtischen Bevölkerung die Mobilmachung mit Entsetzen und Verzweiflung. Im Laufe der ersten Mobilmachungswoche spielten sich beim Abschied der Soldaten im Umfeld der Bahnhöfe schmerzliche Szenen ab. »Wer das miterlebt hat«, hieß es im »Berliner Tageblatt«, »dem ging es durch Mark und Bein. Es lässt sich nicht schildern, wie viel Tränen da flossen. [...] Und so gaben sich Männer und Frauen schrankenlos ihrem verzweifelten Schmerze hin«.78 Der siebzehnjährige Wilhelm Eildermann aus Bremen schrieb am 1. August in sein Tagebuch: »Der ganze Bahnhof voll von Menschen. Die katzenjämmerlichste Stimmung herrschte, die ich je erlebt habe. Mütter, Frauen und Bräute und die übrigen Angehörigen bringen die jungen Männer zum Zuge und weinen. Alle haben das Gefühl: es geht direkt zur Schlachtbank. [...] Einige haben ihre Angst in Alkohol ersäuft. Sie grölen Abschiedslieder, keine patriotischen oder kriegsbegeisterten Gesänge. Nicht die Spur!«79 Auf dem Lande schließlich, rief das Bekanntwerden der Mobilmachung erst recht eine fast allgemeine, tiefe Niedergeschlagenheit hervor. Zum einen bedrohte der Kriegsausbruch die wirtschaftliche Grundlage zahlloser Bauern, zum anderen boten die abgeschiedenen Dörfer und Höfe keine Foren für die Eigendynamik, die von den Menschenversammlungen und Truppenausmärschen in den Städten ausgehen konnte. Die »Münchner Neuesten Nachrichten« kontrastierten die aufgebrachte Stimmung in der bayrischen Metropole mit der auf dem Land: »Erst wenn man aus der Ruhe des Landlebens kommt, wird man diesen schroffen Gegensatz gewahr. Draußen herrscht tiefer Friede, weil man von diesen Vorbereitungen nichts wahr nimmt, die in der Stadt Tausende in Atem halten. Schwerer Kummer aber ist bei vielen unserer Bauernfamilien eingezogen, denn die Väter oft sehr kinderreicher Familien müssen fort, die Söhne, Pferde und Wagen werden von den Militärbehörden gefordert, und draußen steht die Ernte«.80 77 Vgl. Lemmermann, Kriegserziehung, bes. 29ff., 254ff; Düllfer, Dispositionen, 9-19; Domansky, Weltkrieg, 295f. 78 BT (M), 3.8.1914, 4. 79 Vgl. Kruse, Krieg, 54-61 (Zit. 59); Verhey, Spirit, 102-06; Ullrich, Kriegsalltag, 13f.; Schmetzer, Meinung, 55f. 80 MNN (M), 4.8.1914,3. Vgl. Ziemann, Front, 39-52; ders., Augusterlebnis, bes. 198-201; Geinitz, Kriegsfurcht, 133, 148-51.

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So wenig daher kriegerische Euphorie die Gefühlslage der Mehrheit der Bevölkerung kennzeichnete, ist den Stimmungsberichten der Zeitungen doch deren fiebernde Anspannung, Unsicherheit, Verzweiflung, ja, Panik zu entnehmen. Diese Anspannung zeigte sich unter anderem darin, dass man nun ringsum Gefahrenpotentiale ausmachte. Augenscheinlich stand der Feind nicht nur an den äußeren Grenzen, sondern hatte bereits das Innere Deutschlands infiltriert. Überaus sensibel zeigten sich die patriotischen Moralhüter bereits im August 1914 dem Verhalten der deutschen Frauen gegenüber. Immer wieder wurden ihre vermeintlichen sittlichen Verfehlungen zum Gegenstand der öffentlichen Missbilligung. Nicht nur die Straßenprostitution geriet als unpatriotisch ins Kreuzfeuer der Kritik. Besonders bei der Betreuung der Kriegsgefangenen hätten angeblich viele Frauen ihre sexuelle Begierde kaum zügeln können.81 Auf die Sexualisierung der Nation und die Nationalisierung der Sexualität ist noch zurückzukommen. Jedenfalls spiegelten diese Reaktionen eine tiefe männliche Verunsicherung bereits von Beginn des Krieges an. Die Furcht vor dem Verlust fest umrissener Grenzen, die Angst vor der Auflösung der »richtigen« Ordnung der Gesellschaft war ein wichtiger Aspekt der allgemeinen Panikstimmung. Der Nationalismus vieler Zeitgenossen verstärke diese Haltung, indem er eine polarisierte Wahrnehmung der Umwelt und eine Fixierung auf feste Grenzziehungen begünstigte, die von der Realität in Frage gestellt werden mussten. Das war vielleicht die entscheidende Wirkung der Nationalismen bei Kriegsausbruch: Die Verortung der tatsächlichen Bedrohung des Krieges und der Unsicherheit in den Tagen der Mobilmachung in einem nationalistischen Koordinatensystem, machte Panikreaktionen zusätzlich wahrscheinlich. Selbstredend hatten die durch die Mobilmachung in der Bevölkerung ausgelösten Bedrohungsängste nur mittelbar etwas mit nationalistischen Vorstellungen zu tun. Wilde Gerüchte über Spione und Sabotageakte charakterisierten die angespannte und bisweilen hysterische Atmosphäre der ersten Augusttage. Keine Geschichte schien absurd genug, um nicht geglaubt zu werden. Einmal sollten russische Spione als katholische Geistliche getarnt Bomben geworfen haben, ein anderes Mal als Krankenschwestern verkleidet gesichtet worden sein.82 »Wir sind rings von Spionen umgeben«, hieß es in einer durch Wolffs Telegraphisches Bureau (WTB) verbreiteten amtlichen Nachricht. »Trage jedermann dazu bei, ihre Umtriebe unschädlich zu machen. [...] Eine sogenannte ›Spionenfurcht‹ kennen wir nicht, wohl aber muss sich jeder seiner Pflicht gegen das Vaterland auch in dieser Hinsicht bewusst sein«. Und: »Jeder aus dem Volke ist heute berufen, für das Ganze Wacht zu halten, Schutz 81 »Kräftige Erlasse [...] mögen es verhindern, dass käufliche und [...] leichtsinnig unbewusste Weiblichkeit unsere Feinde ebenso behandelt, wie einstens sich Nubier und Neger bei Schaustellungen in unseren Lunaparks sich überfreundlichen Entgegenkommens solcher deutschen Frauen‹erfreuen durften«. FZ (2.M), 18.8.1914, 2. Vgl. Stöcker, Augusterlebnis, 73f. 82 GE (A), 4.8.1914, 5; RWZ (MI), 4.8.1914, 1.

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mann zu sein im Dienste des Vaterlandes«.83 Das ließen sich zahllose selbsternannte Ordnungshüter nicht zweimal sagen. Angst und Aggressivität verdichteten sich zu einer regelrechten Pogromstimmung. Nicht allein in Berlin wurden mit tatkräftiger Unterstützung zahlreicher Jugendlicher »förmliche Spionenjagden unternommen« und angebliche »Spionagezentralen« ausgehoben. Gerüchte über standrechtlich erschossene Agenten machten die Runde.84 Mit Hilfe der Jagd auf Spione konnte sowohl der unsichtbare Feind in den eigenen Reihen direkt bekämpft als auch ein persönlicher Beitrag jedes einzelnen zur Verteidigung der angegriffenen Nation geleistet werden.85 Wer schon nicht in der Lage war, Heldentaten im Felde zu vollbringen, der kämpfte wenigstens daheim heldenmütig gegen die »Spione«. Der August 1914 eröffnete die Gelegenheit, durch die Übererfüllung nationalistisch interpretierter Pflichten Gewalt gegen beinahe jedermann zu legitimieren.86 Über die reichsweite Verfolgungswelle entsetzt, veröffentlichte der Polizeidirektor von Stuttgart die Warnung: »Schutzleute! Die Einwohnerschaft fängt an verrückt zu werden. Die Straßen sind von alten Weibern beiderlei Geschlechts erfüllt, die sich eines unwürdigen Treibens befleißigen. Jeder sieht in seinen Nebenmenschen einen russischen oder französischen Spion und meint die Pflicht zu haben, ihn und den Schutzmann, der sich seiner annimmt, blutig zu schlagen«.87 Ein anschauliches Beispiel für den Umschlag von nationalistisch verstärkten Bedrohungsängsten in konkrete Panikreaktionen stellten die »Goldautos« dar. Alles begann mit einem Telegramm des Düsseldorfer Regierungspräsidiums an das Innenministerium am 3. August. Danach sollten bei Wolbeck achtzig französische Offiziere in preußischen Uniformen mit zwölf Autos die deutsche Grenze überschritten haben, um Gold nach Russland zu schaffen. Am nächsten Tag wurden schon fünfundzwanzig französische Wagen gen Osten fahrend gemeldet.88 Dieser dreiste Versuch des Feindes, die Kriegskasse seines russischen Verbündeten aufzufüllen, wurde durch WTB verbreitet und am 4. August in zahlreichen Zeitungen abgedruckt. Diese Nachricht löste im ganzen Reich eine Kettenreaktion aus. Überall meldeten Zeitungen das Erscheinen von »Goldautos«. Allerdings wechselten schon bald die Insassen. Mehrere Blätter berichtete etwa, die Goldautos seien jetzt mit Damen besetzt.89 Darauf machte die Zivilbevölkerung Deutschlands mobil. In Hunderten von Städten 83 FZ (3.M), 4.8.1914, 1; KLZ (MI), 5.8.1914, 1. Vgl. KLZ (MI), 4.8.1914, 1. 84 NPZ (A) 4.8.1914, 2. Vgl. Raithel, Wunder, 449f. 85 Vgl. Ulrich, Nerven, 165. 86 Vgl. Gay, Cultivation, 518-20. 87 VO, 10.8.1914, 1. 88 BA R1501 112452, Bl. 16f. (3.8.1914); GStA PK Rep. 77, Tit. 332bb/ 33, Bd. 1, Bl. 9f. (4.8.1914). 89 KLZ (MI), 4.8.1914, 1; NPZ (A), 4.8.1914, 2.

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und Dörfern wurde ein Patrouillendienst eingerichtet. Schützenvereine luden ihre Hinterlader und bezogen Posten, Bauern bewaffneten sich mit Jagdgewehren und Heugabeln und errichteten Straßenbarrikaden. Ein Korrespondent der »Münchner Neuesten Nachrichten« berichtete aus Oberbayern: »Am 3. August lief in Huglsing aus Rottenbuch die telephonische Mitteilung ein, dass ein Automobil mit verkleideten französischen Offizieren und einigen Damen unterwegs sei; es soll angehalten werden. Sofort trat die Feuerwehr in Bereitschaft. Beim Wirtshaus wurde die Straße mit quer gestellten Heuwagen abgesperrt und etliche Mann fassten Posto; selbstverständlich gesellte sich eine Schar Neugieriger dazu. Alles harrte stundenlang, aber - kein Automobil ließ sich blicken!«90 Die noch in den kleinsten Gemeinden des Reiches eilig eingerichteten Bürgerwehren kontrollierten tagelang Brücken, Überlandstraßen und Straßenkreuzungen. Leider blieb der Fahndungserfolg zunächst aus. Immerhin wusste das Zentrumsorgan »Germania« unter dem Aufruf »Achtet auf die Automobile, die Geld nach Russland schaffen!« zu vermelden: »Eines der Automobile, die von Frankreich Geld nach Russland schaffen sollen und die mit Damen besetzt sind, fuhrt die Nummer 123861«.91 Als Ursache dafür, warum man diese Goldautos noch nicht aufgebracht hatte, vermuteten einige Blätter: »Die Insassen der Automobile sollen das Geld jetzt Radfahrern übergeben haben, die Maurerkleidung tragen«.92 Vereinzelt regte sich ob solcher Informationen leise Skepsis. Die schwerindustrielle »Rheinisch-Westfälische Zeitung« bot ihren gesamten wirtschaftlichen Sachverstand auf und stellte eine Überschlagsrechnung an. Die vermuteten 80 Millionen Goldfranken wögen etwa 26.666 Kilogramm. Um diese Last zu transportieren, seien ca. 50 Automobile, aber doch mindestens 1066 Radfahrer notwendig. Der geäußerte Zweifel hinderte das Blatt aber nicht, die besagten Telegramme auf der Titelseite zu veröffentlichen.93 Von derartigen Meldungen aufgestachelt, schössen die Bürgerwehren auf jedes Auto, das sich blicken ließ. Überall tauchten nun Berichte über erfolgreich gestellte oder knapp entkommene Goldautos und erschossene Fahrer auf. Privatleute und Militärpatrouillen veranstalteten motorisierte Verfolgungsjagden im ganzen Reichsgebiet und wer mit dem Auto oder dem Fahrrad unterwegs war, dem ging es schlecht.94 Der Landrat Wolff des Kreises Schubin wurde, ebenso wie ein Auto mit Aristokratinnen bei Potsdam, für einen Goldautofahrer gehalten - und erschossen. Genauso erging es einer österreichischen Gräfin, die im Dienst des Roten Kreuzes unterwegs war und einem Rittmeister 90 MNN(M), 9.8.1914,9. 91 GE (A), 5.8.1914, 1. Entsprechend KLZ (MI), 5.8.1914, 1 92 GE (A), 5.8.1914, 1; RWZ (A), 5.8.1914, 1. 93 RWZ (A), 5.8.1914, 1. So auch FZ (l.M), 9.8.1914, 2. 94 Vgl. R43 2401/b, Bl. 59-61 (5.8.1914); LV, 7.8.1914, 5; KLZ (A), 8.8.1914, 2; FZ (l.M), 9.8.1914, 2; RWZ (A), 10.8.1914, 1; sowie Gerlach, Zeit, 36.

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der Reserve nebst Fahrer. Selbst in Westfalen, ansonsten temperamentvoller Ausbrüche eher unverdächtig, blieb man von dieser Hysterie nicht verschont. In Münster gelang es dem Präsidenten des Westfälischen Bauernvereins, mit vorgehaltenem Revolver einen Wagen mit fünf Insassen aufzubringen - in denen er zwei französische Generalstabsoffiziere mit drei Damen zu erkennen glaubte. Und die Tochter des Bielefelder Stadtverordneten Buddeberg geriet in eine Straßensperre des örtlichen Landwehrvereins und wurde im offenen Wagen erschossen.95 Angesichts des Massensterbens auf deutschen Straßen warnte die linkssozialdemokratische »Leipziger Volkszeitung«: »Die bürgerliche Presse ist von der Schuld nicht freizusprechen, dass sie durch falsche, sensationell aufgebauschte Nachrichten die Leidenschaften in [...] der Bevölkerung maßlos erregt [...] hat. [...] Diese widerlich übertriebene Spionagehetze [ist] ein böses Zeichen von der ›nationalen‹ Erziehung unsres Volkes«.96 Das Blatt lag mit seinem Verdacht richtig. Wahrscheinlich ist das Gerücht von den Goldtransporten von der Presseabteilung des Großen Generalstabs gezielt lanciert worden, um die Bevölkerung in eine kriegerische Stimmung zu versetzen.97 Augenscheinlich aber entglitt den Initiatoren der Fehlinformationen die Situation so vollständig, dass sie einen Vorgeschmack auf die Dynamik der Emotionen bekamen, die entstehen konnten, wenn man die Nation ins Spiel brachte. Die nationalistische Sprache verstärkte und aktivierte tiefgreifende Vorstellungen und Emotionen. Die emotionale Gestaltung des Nationalismus erleichterte seine Erfahrbarkeit und Durchsetzungsfähigkeit ganz erheblich.98 Von der zweiten Augustwoche ab, suchten die Behörden aber vergeblich die Geister, die sie gerufen hatten, los zu werden. Amtlich erklärte WTB, es habe überhaupt nie Goldautos gegeben. Daher erfordere das nationale Interesse nicht mehr die Verfolgung der Autos, sondern die Einstellung der Autojagden: »Es ist heller Wahnsinn, in unserem Lande feindliche Automobile zu suchen. [...] Möchte doch unser Volk endlich aufhören, seine eigenen Landeskinder in der grausigsten Weise hinzumorden [...] . Das Vaterland braucht jeden einzelnen Mann in dieser ernsten Stunde«.99 Umsonst. Die Häufigkeit der Aufrufe, mit denen gewarnt wurde, nicht mehr auf Autos zu schießen, illustriert die Ohnmacht der Regierung. Mindestens 28 Menschen, wahrscheinlich aber mehr,100 wurden in den ersten Augusttagen in 95 KLZ (A), 8.8.1914, 2; RWZ (A), 15.8.1914, 3; GE (A), 5.8.1914,3; VO, 10.8.1914, 1. 96 LV, 7.8.1914, 5. 97 So Binder, Kriegsberichterstatter, 5-9. Das vermutet auch Gerlach, Zeit, 36. Vgl. Geinitz, Kriegsfurcht, 166f; ders./Hinz, Augusterlebnis, 28-31, Raithel, Wunder, 450f. 98 Vgl. die Beiträge in François, Nation. 99 FZ (A), 15.8.1914,2; RWZ (A), 15.8.1914,3. Vgl. Die Anweisung Loebells an die Regierungspräsidenten R43 2401/b, Bl. 58 (8.8.1914), Bl. 57 (17.8.1914). 100 Zahlenangaben nach Binder, Kriegsberichterstatter, 6. Ziemann, Front, 53, Anm. 96, vermutet aufgrund seiner Zahlen für Oberbayern eine zu niedrige Schätzung.

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Deutschland als vermeintliche Goldautofahrer erschossen, Dutzende teilweise lebensgefährlich verletzt. Eine vorläufige Bilanz des »Augusterlebnisses« in Deutschland fällt widersprüchlich aus. Bei Kriegsausbruch 1914 bestanden Furcht und Begeisterung, Panik und Kriegsbereitschaft nebeneinander. Die verschiedenen Reaktionen schlossen sich nicht gegenseitig aus, sondern existierten gleichzeitig, zuweilen bedingten sie sich wechselseitig. Nicht eine angebliche »nationalistische« Kriegsbegeisterung ist daher erklärungsbedürftig, vielmehr die Bereitschaft der meisten Menschen, den Krieg als schwere, aber notwendige Bürde zu akzeptieren.101 Die Wirkung der allseitigen Berufungen auf die Nation war vieldeutig. Der Einfluss des Nationalismus bestand erstens darin, dass er aggressive Emotionen verstärkte oder hervorrief. Die Panikreaktionen und die Spionagehysterie entstanden wesentlich dadurch, dass die Menschen sich ihre Umwelt nationalistisch verzerrt aneigneten. Wer sich nationalistischer Deutungen bediente, tendierte zu einer verstärkten Wahrnehmung von Bedrohung und Konflikt. Zweitens ließen sich mittels des Nationalismus die unterschiedlichsten Verhaltensweisen legitimieren: Demonstrationen für und gegen den Krieg, die Meldung als Kriegsfreiwilliger ebenso wie die Jagd auf Spione. Und drittens: Die Bedeutung des Nationalismus im August 1914 lag nicht darin, dass das »Augusterlebnis« einen empirischen Test für seine Wirkungsmacht abgab und alle politischen Lager und gesellschaftlichen Gruppen unter dem Banner das Reichsnationalismus im Kampf vereint wurden, sondern darin, dass die komplexe Stimmung der ersten Augustwochen die Grundlage eines deutbaren nationalen Mythos schuf. Auf die unterschiedlichen Deutungen sollte es ankommen. b) Der Kriegsbeginn in Großbritannien. Spionagehysterie und »business as usual« Die Reaktion auf den Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Großbritannien stellt immer noch ein weitgehend unerforschtes Phänomen dar. Von wenigen Ansätzen abgesehen,1“2 existiert keine Studie, welche die Wirkung des Kriegsausbruchs an verschiedenen Orten und aufverschiedene Gruppen untersucht hätte. Die Ursachen dafür sind vielfältig. In einem Land ohne Wehrpflicht waren die unmittelbaren Auswirkungen der Mobilmachung weniger dramatisch und einschneidend als in anderen europäischen Staaten. Zudem galt und gilt der 101 Vgl. Winter, Nationalism, 357-59; Geinitz, Kriegsfurcht, 176-80. 102 Regionalstudien fehlen für England ebenso wie eine systematische Auswertung von Tageszeitungen und Versammlungen. Vgl. aber die Arbeit Zimmermanns aus dem Jahre 1928 (!), Presse, bes. 132ff, 204ff; Panayi, Enemy, bes. 45ff.; Robbins, Britain; Marwick, Deluge, 29-39; sowie in vergleichender Perspektive Ferguson, Pity, 174-211 und Farrar, Warriors, 428-36.

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Nationalismus in Großbritannien und mithin offenbar auch die Stimmungslage als wenig erklärungsbedürftig. Angesichts des desolaten Forschungsstandes überrascht die Sicherheit, mit der trotzdem immer wieder Aussagen über die euphorische Gemütslage der Briten getroffen werden. Auch für Großbritannien wird die Stimmung der in der Öffentlichkeit überrepräsentierten Journalisten, Gelehrten und Schriftsteller oft unzulässig auf die Gesamtbevölkerung übertragen. Tatsächlich ist es überaus fraglich, ob die Haltung schwärmender Eliten und konservativer Hardliner für die Bevölkerungsmehrheit repräsentativ ist: »England is already a different and a better place than it has been for years«, schrieb Milners Intimus F.S. Oliver. »I had not conceived it possible that a nation could so quickly be born again. The war even now has undone the evils of a generation«.103 Entsprechend begriff auch der konservative Oxforder Militärhistoriker Spencer Wilkinson den Krieg als einen erfolgreich absolvierten Test der britischen Nation: »Now we are to be shaken up, to realize that we are all of us only men and women, with one common bond between us - our country«.104 Die selbsternannten bildungsbürgerlichen Meinungsführer gingen von der Allgemeingültigkeit ihres spezifischen nationalistischen Urteils aus und vermeinten die Suspendierung jeder anderen Loyalität - voran die der Klasse - zugunsten der Nation zu entdecken. Der Korrespondent der konservativen »Times« etwa fand in der Haltung der Arbeiterschaft das, was er seinem Weltbild entsprechend finden musste, nämlich den Beweis »that the tie of nationality is still incomparably stronger than that of class, and that when it is invoked by national war the class war shrivels into an empty phrase«.105 Tatsächlich erscheint es aber als überaus fraglich, ob die Stimmung der Briten im August 1914 einen aussagekräftigen Test für die Wirkungsmacht eines alle politischen Lager und gesellschaftlichen Gruppen einenden Nationalismus abgeben kann. Untersucht man den Stellenwert nationalistischer Vorstellungen bei Kriegsausbruch, bedeutet »Begeisterung« nicht notwendig den Triumph und die Existenz von Panikreaktionen gerade nicht das Fehlen von Nationalismus. Auch für Großbritannien lassen sich anhand der überregionalen Tagespresse die vielfältigen Reaktionen auf den Kriegsausbruch wie Begeisterung und Kampfbereitschaft, Apathie und Hysterie analysieren. Als weitere wertvolle Quelle dient eine Reihe unmittelbar nach dem Krieg veröffentlichter Stadtchroniken, die oft eine Fülle von Stimmungsberichten aus ihrem jeweiligen Ort enthalten. Zunächst folgt hier jedoch erneut eine knappe Skizze der Bedingungen von Öffentlichkeit im Zeichen von Krieg und Zensur. Niall Ferguson hat den Ersten Weltkrieg mit Recht als »the first media war« bezeichnet.106 Nie zuvor hatten Tageszeitungen den Krieg zu einem alles über103 104 105 106

Oliver, Briefe vom 12.8. und 19.9.1914, Anvil, 36, 42. Vgl. Agnus, Patriot's, 105. Wilkinson, August, 50f. Vgl. Talbot, War, 6. TI, 10.8.1914,7. Ferguson, Pity, 212.

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lagernden Medienereignis gemacht, und nie zuvor diente die Presse selber in vergleichbarem Ausmaß gezielt als Waffe im Krieg. Doch zugleich unterlag sie weitreichenden Zensurmaßnahmen. Großbritannien kann als Musterbeispiel dieser Entwicklung gelten. Das am 8. August erlassene Notstandsgesetz, der »Defence of the Realm Act« (DORA), enthielt genaue Vorschriften für den Informationsfluss. Der Zweck war es, vor allem Nachrichten von potentiellem militärischen Wert geheim zu halten. Zudem errichtete die Regierung bereits am 7. August ein »Press Bureau«, dessen Aufgabe es wurde, Redaktionen und Zeitungen zu kontrollieren. Die Wirkung dieser Maßnahmen ist umstritten. Zwar veranschlagte die Regierung die Bedeutung der Zensur naturgemäß sehr hoch, und Lloyd George erklärte dem Herausgeber des »Manchester Guardians« Charles R Scott gegenüber: »If the people really knew, the war would be stopped tomorrow. But of course they can't know. The correspondents don't write and the censorship would not pass the truth«.107 Tatsächlich ist es aber eine der langlebigsten Legenden des Ersten Weltkriegs, dass er durch die Informationskontrolle der Massenmedien entschieden worden sei.108 Die Annahme einer umfassenden staatlichen Manipulation der Öffentlichkeit ist gerade für die Situation in England unzulänglich. Treffender erscheint die Einschätzung Norman Angells, der nach Kriegsende auf die entscheidende Bedeutung der Selbstzensur verwies und auf die Tatsache, dass es die Zeitungsverleger und die Öffentlichkeit selber waren, die den Nachrichtenfluss nach ihren Interessen gestalteten.109 Die Meinungsbildung vollzog sich innerhalb der Gesellschaft als Resultat eines vielschichtigen, wechselseitigen Kommunikationsprozesses, dessen wesentliche Informationskanäle sich direkter staatlicher Kontrolle entzogen. Insgesamt bestand auch innerhalb der Presse eine erstaunliche Vielfalt der Meinungen fort. Obwohl hauptsächlich irische und labournahe Zeitungen mit Repressalien und Verboten rechnen mussten, nahm im Laufe des Krieges die Möglichkeit zu schärfster Kritik eher noch zu. Der Leiter des »Press Bureaus«, Sir Edward Cook, resümierte jedenfalls rückblickend: »The British Press [...] was full of war news and still fuller of war views«.110 Die Meldungen von der dramatischen Eskalation der europäischen Krise erwischten die Briten Ende Juli auf dem falschen Fuß. Von zahllosen internen 107 Zit.n. Knightley, Casualty, 109. 108 Das verbreiteten jedenfalls nach dem Krieg Ludendorff, Kriegserinnerungen, 292-303 und Oberstleutnant Nicolai, Nachrichtendienst, 155-57. Vgl. zu diesem misslungenen Interpretationsbeispiel in der Literatur nur Gebele, Probleme, 20-45. Weit differenzierter hingegen Welch, Propaganda; Ferguson, Pity, 212-47; Hopkin, Censorship. 109 »The worst censorship imposed during the War [...] was not that imposed by the governments, but that imposed, first by certain interests, and also, quite as dangerously, by the public itself«. Angell, Press, 20. Vgl. zur Selbstzensur Cook, Press, 84 und zur relativen Machtlosigkeit der Regierung Hiley, Media, 177-80; Marwick, Deluge, 51f. 110 Cook, Press, 165.

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Konflikten abgesehen, beanspruchte die Situation in Irland die ganze Aufmerksamkeit der britischen Öffentlichkeit. Bis zum 31. Juli fehlten daher Kundgebungen in der Bevölkerung ebenso wie Stimmungsberichte in den Zeitungen. Angesichts des vorerst geringen Interesses an der europäischen Krise, konnte die »Times« am 1. August die Gelassenheit der Stimmung in London und das völlige Fehlen eines »unduly bellicose spirit« mit der Lage in anderen europäischen Hauptstädten kontrastieren.111 Das Labour-Blatt »Daily Citizen« spottete über diese Analyse der Krise, in der immer auch ein Element konservativer Selbststilisierung enthalten war: »But how can we possibly catch war fever when we do not know who our enemy is?«112 Das sollte sich ändern. Ab dem 2. August überstürzten sich die Meldungen der Zeitungen und der eilig gedruckten Extrablätter: »Things were different and anxious faces and subdued conversation were to be found«, schrieb die »Times«.113 Die Menschenmengen, die sich schon bald in den Stadtzentren, auf den großen Straßen und Plätzen und vornehmlich vor den Verkaufsständen der Zeitungen versammelten, können aber keinesfalls als Indiz einer wie auch immer gearteten Kriegsbegeisterung gewertet werden. Auch in Großbritannien trieb vor allem die Sucht nach neuen Informationen und die steigende Aufregung die Menschen in den warmen Sommertagen auf die Straße: »The effect of the rising excitement was to till the central streets with people who in normal times would be for a day by the sea«.114 Diese spannungsgeladene Stimmung charakterisierte die Lage in den meisten Städten und die sich überschlagenden Nachrichten heizten die Atmosphäre immer weiter auf.115 Allenfalls bei einer Minderheit zeigte sich dabei so etwas wie Kriegsbegeisterung. »No more than yesterday«, befand der »Manchester Guardian« am 4. August, »was there any real war fever. Young men adorned themselves with little Union Jacks [...] and there was a little cheering here and there«.116 Am Abend des 2. August versammelten sich auf die Meldung von der Mobilmachung der Marinereserve hin 6000 bis 7000 Menschen vor dem Buckingham Palast, huldigtem dem König und sangen die Nationalhymne. Nach Auffassung des konservativen »Daily Telegraph« handelte es sich um eine eindrucksvolle

111 TI, 1.8.1914, 10. Ein ähnliches Bild bot Lcicester. Vgl. Armitage, Leicester, 8. Vgl. insges. Zimmermann, Presse, 132-37. 112 DCT, 1.8.1914,4. 113 TI, 2.8.1914, 3f. Vgl. MG, 3.8.1914, 8. 114 MG, 4.8.1914,9. Vgl. TI, 4.8.1914,2. Die »Nation«, 15.8.1914,727, schilderte die Verfassung der Menschen als »State of exited bewilderment with hardly a trace of war fever in it«. 115 »Special Sunday editions of the local newspapers increased the tension and were bought up feverishly«, berichtete man aus Leeds, Scott, Leeds, 6. »Meanwhile, Briggate, Boar Lane, City Square filled with anxious questioners. People gathered in groups and discussed the Situation«. Entsprechend die Lage in Todmorden und Crieff Vgl. Lee, Todmorden, 2; Campbell, Crieff, 9. 116 MG, 4.8.1914,9.

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Kundgebung zahlreicher Bürger, »whose enthusiasm was unbounded«.“7 War die Schilderung der Stimmung dieser Menschenmenge einigermaßen repräsentativ? Der Korrespondent des Labour-Blattes »Daily Herald« bewertete die Szene jedenfalls anders: »The irritant poison ofwar spirit, subtly injected by the patriotic Press through the medium of its ›Special War Editions‹, was taking effect. ›Three cheers for the British Navy!‹ shouted a pallid young chin warrior, and a hundred straw hats were waved as his fellow-patriacs responded. [... ] The Windows of the palace opened and George, by the Grace of God, a noncombatant, [...] bowed to his intelligent subjects, as a puppet might bow, mechanically. ›Ri! Ri! Ri!‹ they shrieked, and again the national dirge was intoned. [...] Theirs the ›spontaneous demonstrations of enthusiastic loyalty‹, over which the very young man of the ›Times‹ and the other mob news sheets spread themselves. [...] Down in the East End, far from sight and sound of maffiking, mothers sat huddling their babes to their breasts. [...] In the homes of the Poor [...] was no jubilation«.118 Auch in Großbritannien handelte es sich meistens um junge Männer aus den middle-classes, die ihre Begeisterung nicht zu zügeln vermochten. Das zeigte sich im Rahmen der landesweiten Antikriegsdemonstrationen, welche die Labour Party für den 2. August anberaumt hatte. Von der zentralen Veranstaltung auf dem Londoner Trafalgar Square berichtete der liberale »Daily Chronicle«: »The strongest Opposition to the object of the meeting came from a number of young fellows - clerks, by their appearance - who shouted ›patriotic‹ songs«.119 Und der »Daily Herald« denunzierte das Häuflein der Gegendemonstranten als »lower middle-class youths«, die sich als Verteidiger des Empires gerierten.120 Tatsächlich erlebte Großbritannien in den ersten Augusttagen eine Welle von Antikriegsdemonstrationen, die meisten von der Arbeiterbewegung, einige aber auch auf liberale oder kirchliche Initiative hin organisiert. In Ipswich demonstrierten 4.000, in Rochdale 5.000, in Birmingham 2.500 und in Swansea 6.000 Arbeiter für die Aufrechterhaltung der englischen Neutralität.121 Die genannte zentrale Kundgebung auf dem Trafalgar Square am 2. August zählte trotz schlechten Wetters - wohl an die 20.000 Teilnehmer und stellte nach Angaben der Veranstalter die größte Demonstration dar, die an diesem Ort je statt117 DT, 3.8.1914, 7. Fast identisch TI, 3.8.1914, 6. Vgl. MG, 3.8.1914, 8. 118 HE, 4.8.1914,2. 119 DC, 3.8.1914, 6. 120 HE, 3.8.1914, lf. 121 Das Organ der Independent Labour Party (ILP) »Labour Leader« enthielt am 6.8.1914,4f., eine zweiseitige Übersicht über die Antikriegsdemonstrationen im Land. Außer den genannten, finden sich dort noch Berichte über zahlreiche weitere Protestversammlungen ohne genaue Angabe der Teilnehmerzahl. Darunter sind immerhin Industriezentren wie Newcastle, Hüll, Leicester und Manchester. Bei Manchester hielt auch die liberale »Neutrality League« eine Massenversammlung mit 2000 Menschen ab. Vgl. MG, 5.8.1914, 3. Vgl. zu weiteren Kundgebungen Armitage, Leicester, 9; Walbrook, Hove, 3; Lee, Todmorden, 2f.

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gefunden hatte. Die Menge repräsentierte offensichtlich den ärmeren Teil der Bevölkerung, vornehmlich Arbeiter und Arbeiterinnen aus dem East End. Einmütig verabschiedete man eine Resolution gegen einen möglichen britischen Kriegseintritt, und der namhafte Gewerkschaftsfunktionär Ben Tillet meinte in seiner Rede in Anspielung auf den Gesang der Gegendemonstranten: »We don't want to sing [...] ›God save the King‹ [...]. What we want to sing is ›God save the people‹«.122 Auch in England beanspruchte die Arbeiterbewegung, den gewichtigsten Teil der Nation zu vertreten. In der Labour-Presse wurde immer wieder betont, die Regierung könne den Krieg nicht gegen den Willen der Arbeiterschaft, die doch eigentlich »the people« repräsentierten, führen. Zu diesem Wunschdenken bestand Anlass. Denn viele Arbeiter mussten nicht nur den Krieg, sondern mit diesem auch den Verlust des Arbeitsplatzes und die drohende soziale Not fürchten. Am 3. August bot sich in London ein ähnliches Bild. Die vielleicht 60.000 Menschen,123 die in London zwischen dem Palast und dem Parlament, in Whitehall und auf dem Trafalgar Square auf die Straße gingen, durchlebten ein Wechselbad unterschiedlicher, oftmals sich widersprechender Emotionen. Wieder waren es an ihrer Kleidung erkennbare Bürger und Kleinbürger, »an extraordinary crowd of well-dressed people«, die vornehmlich vor dem Palast ihrer Begeisterung Luft machten.124 Einen überzeugten Pazifisten wie Bertrand Russel befremdete es, hier ein hohes Maß an Kriegsbereitschaft zu entdecken: »I discovered to my amazement that average men and women were delighted at the prospect ofwar«.125 Allerdings war selbst Russel nicht frei von bellizistischer Euphorie.126 Sicher ist jedenfalls, dass die allseitige Aufregung zunächst auch Unbeteiligte ergriff. Doch sollte die von großen Menschenansammlungen ausgehende emotionale Dynamik nicht unbedingt mit Kriegsbegeisterung gleichgesetzt werden. »When we emerged into Marylebone Road«, erinnerte sich der junge Bankangestellte E.C. Powell, »we found London in a State of hysteria. Α vast procession jammed the road from side to side, everyone waving flags and singing patriotic songs. [...] We were swept along [...] bitten by the same mass hysteria. [...] The whole road in front of the palace was chock-a-block with shouting demonstrators. Police was powerless to control the flood as people climbed the railings. [...] The King! The King! they yelled and chorused, and 122 HE, 3.8.1914, 1. Vgl. zur Kundgebung auf dem Trafalgarsquare DCT, 3.8.1914, 1; DT, 3.8.1914, 11; TI, 3.8.1914, 8; NS, 8.8. 1914, 546f. Gleichzeitig fanden noch Demonstrationen im Hyde Park und vor den Dock Gates statt. Vgl. zur Furcht der Arbeiter vor Verelendung Bush, Lines, 35-40. 123 DM, 4.8.1914, 4. Wahrscheinlich ist die Angabe übertrieben. Vgl. Ferguson, Pity, 189. 124 DT, 4.8.1914, 8. 125 Zit. n.Joll.Origins, 183f. 126 Über das Wechselbad seiner widerstreitenden Empfindungen entsetzt, bekannte Russel, zit. n. Carsten, War, 32, später: »I was myself tortured by patriotism. (...) I desired the defeat of Germany as ardently as any retired colonel«.

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then broke into the National Anthem«.127 Auf keiner Versammlung wurde bis zum 3. August explizit der Kriegseintritt gefordert. Die große Mehrheit der Menschen ließ jede Euphorie vermissen und diskutierte angespannt und süchtig nach Neuigkeiten die Lage. Die linksliberale »Nation« erfaßte die Atmosphäre in den englischen Großstädten wohl ganz richtig wenn sie resümierte: »There has been no crisis in which the public opinion of the English people has been so definitely opposed to war as it is at this moment«.128 Am 4. August schließlich erreichte die Aufregung ihren Höhepunkt. Vor Ablauf des britischen Ultimatums an Deutschland um 23 Uhr Ortszeit versammelten sich vor dem Buckingham Palast an die 10.000 und auf dem Trafalgar Square bis zu 15.000 Menschen.129 Hier standen sich zwei rivalisierende Demonstrantengruppen gegenüber: die eine für, die andere gegen die britische Intervention. Unmittelbar vor Ablauf der Frist legte sich eine lastende Stille über die Menge vor dem Parlament. Selbst die konservative »Times« räumte ein: »The cheering and singing which had marked the earlier hours of the evening died away as the hour approached [...] . Α profound silence fell upon the crowd just before midnight«.130 Mit dem letzten Schlag von Big Ben entlud sich die ungeheure Anspannung in minutenlangem Jubel und im Absingen der Nationalhymne. Dann aber zerstreuten sich die Ansammlungen in Windeseile in alle Richtungen, »and as they ran they cried aloud rather hysterically, ›War!‹ ›War!‹ ›War!‹ They were eager [...] to spread the dread news in their family circles«.131 Diese aufgeregten Reaktion blieb nicht allein auf London be­ schränkt, sondern kennzeichnete etwa auch die Stimmung in Dublin.132 Mit Kriegsbegeisterung hatte diese gereizte und oftmals aggressive Stimmung wenig zu tun. Insgesamt wurde der Kriegsausbruch in den meisten Städten weder mit sonderlicher Begeisterung noch mit maßloser Verzweifelung aufgenommen, vielmehr herrschte, wie die Sozialreformerin Beatrice Webb sich erinnerte, so etwas wie eine widerwillige Akzeptanz des Unvermeidlichen und »a good deal of quiet determination« vor.133 »From all over the country we receive reports denoting an entire absence of Jingoism«, bilanzierte der »Labour Leader« die 127 Zit. n. Reader, Duty's, 103. 128 NA, 1.8.1914, 653. »What seemed almost unanimous« charakterisierte der »Manchester Guardian« am 3.8.1914, 8, die Stimmung, »was that no one seemed to want war«. Vgl. ebd., 4.8.1914, 12; TI, 4.8.1914, 2, 4; HE, 5.8.1914, 5; sowie Zimmermann, Presse, 217-22. 129 DT, 5.8.1914, 8; MP, 5.8.1914, 9. 130 TI, 5.8.1914, 9. Entsprechend, MacDonagh, London, 8-10. 131 MacDonagh, London, 10. 132 Emmeline Pankhurst, Home Front, 13f., bemerkte rückblickend zur Atmosphäre in Dublin: »It was not a pleasant crowd, neither light-hearted, nor earnest with enthusiasm, but irritable and inclined to wrath. [...] Men, hideously intoxicated, shouting and cursing; women, stricken with grief, piteously weeping«. 133 Zit. n. Robbins, Summer, 184.

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Stimmung zwei Wochen nach Kriegsausbruch. »They may think it inevitable [...] but they have no mind for flag-waving and boastful shouting - they are dumb with the horror of the thing«.134 Dieses Bild boten auch die meisten Provinzstädte. In Croydon etwa gab es weder Jubel noch Flaggenparaden, kein öffentliches Absingen von Hymnen, sondern, wie ein Beobachter vermerkte, »a war without a cheer; it was too serious a matter«.135 Eine Ausnahme hiervon bildete die Verabschiedung der rasch einberufenen »Territoriais«, einer Art Einsatzreserve für Verteidigungszwecke. Dieses Ereignis bot in vielen Orten die Gelegenheit für ein prächtiges Spektakel mit Marschmusik und Fahnenschmuck. Von diesen militärischen Demonstrationen ging, zumal in Verbindung mit dem Erlebnis der Musik, eine faszinierende und begeisternde Wirkung aus.136 Fehlte die Musik, konnte das die ganze Situation ändern, wie beim Ausmarsch der »Territorials« aus Birmingham: »The march to the station was an extraordinary contrast to that of the preceding Sunday. The Band has become stretcher-bearers, and the lack of martial music alone served to accentuate the difference. The crowd was enormous; there was no doubt about its hearty goodwill; cheers were raised where friends or well-known men were recognised, but, on the whole, it appeared almost dazed by the shock of the calamity which had befallen. There was no ›a Berlin‹ about it«.137 Auch in Großbritannien spielten sich dabei vor den Kasernen und an den Bahnhöfen oftmals mitleiderregende Szenen ab. Ein Beobachter aus Northampton notierte am 5. August: »The pitiful realities ofwar were apparent outside the Barracks, where mothers, wives and sweethearts with red eyes bade farewell to men going out to a quarell not of their own seeking, to kill or be killed«.138 Auf dem Lande, wo derartige Manifestationen fehlten, scheint die große Mehrheit der Bevölkerung dem Kriegsausbruch eher mit Apathie und Gleichgültigkeit gegenübergestanden zu haben. Die notwendige Bedingungjeder »national« interpretierbaren Manifestation blieb der öffentliche Raum in der Stadt. Leider lässt der Mangel an Berichten zur Haltung der englischen Landbevölkerung bei Kriegsausbruch keine detaillierten Aussagen zu. Doch erscheint das Urteil in einem frustrierten Leserbrief an die »Times« als durchaus typisch: »The ignorance in rural districts as to what the war is about, and even where it is being fought, is amazing«. Da halfen auch alle Propagandaveranstaltungen wenig: »There were numbers within a radius of half a mile who did not trouble to come. Villagers read very little and not the right things«.139 Diese Tendenz, das Leben in den gewohnten 134 LL, 20.8.1914, 4. Vgl. DN, 8.8.1914, 4. 135 Moore, Croydon, 18. Entsprechend Walbrook, Hove, 1. 136 Vgl. Campbell, Crief, 9; Lee, Todmorden, 4; DeGroot, Blighty, 53. 137 Brazier/Sandford, Birmingham, 46. 138 Holloway, Northamptonshire, 4. Entsprechend Swindon's War, 14; Brazier/Sandford, Birmingham, 46. Vgl. auch DN, 8.8.1914,4. 139 TI, 31.8.1914,3.

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Bahnen verlaufen zu lassen, kennzeichnete gleichermaßen die Lage in den Städten. Solange wie möglich suchte man unter der Devise »business as usual« an seinen sozialen und wirtschaftlichen Gewohnheiten festzuhalten, mochte auf dem Kontinent auch Krieg herrschen. Ende August berichtete ein »Times« Korrespondent aus den Midlands: »The settled order of life in these islands has only been affected to a limited degree by the crisis. [...] Every attempt is being made to keep business as before«.140 Die Stimmung der ersten Augusttage scheint daher keinen besonders aussagekräftigen Indikator für die Breitenwirkung eines einheitlichen Nationalismus abzugeben. Die Wirkung nationalistischer Vorstellungen war komplex und oft dysfunktional. Doch in den folgenden Tagen und Wochen boten die außerordentlich große Anzahl von Kriegsfreiwilligen und die Jagd auf den inneren Feind im allgemeinen und auf Spione im besonderen ein eindeutiges Indiz dafür, dass das »business« der Briten in Zeiten des Krieges aufgehört hatte, »as usual« zu sein. Denn die jungen Männer, die in den ersten Augusttagen ihre Kriegsbereitschaft lautstark verkündet hatten, bekamen schon bald die Gelegenheit, ihren Patriotismus praktisch zu beweisen.141 In den ersten drei Kriegsmonaten meldeten sich etwa eine Million Freiwillige zur Armee, bis Anfang 1916 waren es beinahe 2,5 Millionen; die größte jemals aufgestellte Freiwilligenarmee eines Landes. Allerdings sind bei diesen absoluten Zahlen drei Faktoren zu bedenken. Erstens gab es in England keine Wehrpflicht, die viele der Kriegsbereiten automatisch hätte einbinden können. Zweitens bestanden auffällige klassenspezifische Unterschiede in der Zusammensetzung der Freiwilligen. Überproportional hoch war die Anzahl derjenigen, die aus den gesellschaftlichen Eliten stammten, etwa als Schüler und Ehemalige der public schools· und der alten Eliteuniversitäten, die oft klassenweise in die Armee eintraten.142 Zwar erreichte auch die Freiwilligenrate breiterer Bevölkerungsschichten, wenigstens für Facharbeiter, Angestellte und Selbständige, in den ersten Kriegsmonaten ein hohes Niveau. Doch blieb die Anzahl der nichtbürgerlichen Kriegsfreiwilligen, etwa der Industrie- und Landarbeiter, deutlich geringer.143 Drittens schließlich waren es nicht unbedingt aus dem Vorstellungs140 TI, 21.8.1914, 5. Vgl. Holloway, Northamptonshire, 3; Stone, Bristol, 332. Gegen diese liberale Praxis polemisierte die radikale Rechte zunächst noch erfolglos, doch ihre Stunde sollte kommen. Vgl. NR 64 (1914), 36; 489f. 141 So der Londoner Journalist Michael MacDonagh, London, 13. 142 Gerade in dieser Gruppe findet sich auch am ehesten ein nationalistischer Auserwähltheitsglaube, gepaart mit Abenteuerlust und der Deutung des Militärdienstes als »so wonderfully romantic and extraordinary«. Vgl. die Kriegsbriefsammlung Housman, War Letters, bes. 177ff, 189ff., Zit. 189. Vgl. Parker, Lie, passim; Wohl, Generation, 85ff; Playne, Society, 62-66; Rudy, War, 17-21; Stevenson, Society, 52f. 143 So hatten sich bis Anfang 1916 nur 29% der Industriearbeiter, aber 40% der Angestellten aus eigenem Antrieb verpflichtet. Vgl. die statistischen Angaben in Winter, Generation, bes. 12036; Haste, Home Fires, 50f.

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horizont der Nation stammende Motive, die jemanden zum Eintritt in die Armee veranlassten. Angesichts des hohen sozialen Identifikationsdrucks bestanden oft nur geringe Aussichten, sich dem Verhalten seiner Umwelt nicht anzupassen. Das galt gerade für die Aufstellung sog. »pals«-Bataillone durch Kommunen und Firmen. Lokale Traditionen und Loyalitätsverhältnisse artikulierten sich in der Organisation eigener Einheiten etwa für die Angestellten der Liverpooler Stadtverwaltung oder für die Beschäftigten der White Star-Reederei.144 Das zweite Moment, das die allgemeine Anspannung kennzeichnete und eine wesentliche Folge der nationalistisch verzerrten Wahrnehmung der Ereignisse darstellte, war die Spionagehysterie der ersten Kriegswochen. Auch in Großbritannien witterte man ringsum Gefahren, und begünstigten nationalistische Deutungen realhistorischer Krisen den Umschlag von Bedrohungsängsten in Panikreaktionen. Die umfangreiche Invasions- und Spionageliteratur der Vorkriegszeit trug nun reiche Früchte, da der Krieg mit einem Schlag die schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen schien. Der Feind trieb bereits soviel schien klar - im Innern sein Unwesen und bestand nicht allein aus deutschen Agenten. Die kursierenden Gerüchte über die sog. »war babies« offenbarten nicht nur eine ungeschminkte Frauenfeindlichkeit, sondern gaben bereits einen ersten Vorgeschmack aufdas Ausmaß der durch nationalistische Deutungen freisetzbaren Aggression. Zwar waren die Geschichten über die Scharen von Frauen, die sich in der Hoffnung auf sexuelle Kontakte überall vor den Kasernen herumtrieben, frei erfunden, und die Statistik für 1915 bot keinen Hinweis auf eine signifikante Zunahme unehelicher Geburten.145 Das hinderte die selbsternannten männlichen Moralhüter der Nation aber nicht daran, wochenlang die angeblichen sexuellen Verfehlungen vieler Frauen als Verrat an der Sache Britanniens zu verdammen. In der überreizten Atmosphäre nach Kriegsausbruch war das Gerede über die »war babies« nur eines unter vielen Gerüchten.146 Mit den Gerüchten kamen Panik und Hass, und auch Großbritannien wurde von einer wahren Flut eingebildeter Spione heimgesucht. Zahlreiche Berichte über ein aktives Netz von deutschen Agenten und deren Sabotageakte machten in den Zeitungen die Runde. »There are spies everywhere«147, hetzte der berüchtigte »John Bull«, und entdeckte in deutschen Kellnern und Chauffeuren im Königreich die Fünfte Kolonne des Kaisers. Angesichts der augenscheinlichen Notwendigkeit, den unsichtbaren Feind in den eigenen Reihen

144 Reader, Call, 107-11; Stevenson, Society, 50-52; Winter, Generation, 124. 145 Vgl. Leed, Land, 39-72; T. Wilson, Faces, 161 f. 146 Die Geschichte das eine Millionen russischer Soldaten - den Schnee noch auf den Stiefeln - auf dem Weg zur Westfront in Aberdeen gelandet seien, stellte noch eine der harmloseren dar. Vgl. MacDonagh, London, 21; A. Taylor, History, 18f. 147 JB, 24.10.1914, 4.

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dingfest zu machen, formierten sich im ganzen Land Einheiten notdürftig bewaffneter Hilfspolizisten. Allein im Großraum London bewachten innerhalb von drei Wochen etwa 20.000 Ordnungshüter Punkte von mutmaßlich strategischer Bedeutung.148 Diese Männer in meist fortgeschrittenem Alter erhielten so eine Gelegenheit, sich in Britanniens größter Krise zu bewähren. Unfähig ihren Beitrag im Felde zu leisten, vollbrachten sie wenigstens an der Heimatfront Heldentaten gegen »Spione«. Erste Erfolge ließen nicht lange auf sich warten. Zwar kursierten in Großbritannien keine Gerüchte über »Goldautos«, doch wer im August 1914 mit seinem Fahrzeug Englands Straßen befuhr, der begab sich in Lebensgefahr. Besonders Nachts stoppten die Hilfspolizisten vorbeifahrende Wagen mit einem Kugelhagel. Zahlreiche Personen kamen zu Schaden.149 In den frühen Morgenstunden des 28. Augusts wurde im großen Stil an verschiedenen Orten in Bedfordshire, Hertfordshire und Buckinghamshire nach mehreren mit deutschen Agenten besetzten Autos gefahndet, die zuvor angeblich einige Wachtposten aus dem fahrenden Wagen heraus beschossen hatten.150 Der »Daily Citizen« warnte vor der »spy-mania in England«, druckte aber gleichzeitig tagelang Berichte über Verhaftungen und erschossene Spione.151 Bis Mitte September erhielt allein die Londoner Polizei fast 9000 Anzeigen gegen verdächtige Deutsche im eigenen Land. Beinahe alle erwiesen sich als grundlos. Auf die Anfrage eines Parlamentariers im Unterhaus am 27. August, wie viele Spione man denn bis dato erschossen habe, entgegnete der Staatssekretär des Inneren Reginald McKenna, nicht ein einziger sei hingerichtet worden.152 Auch die Stimmung in Großbritannien bei Kriegsausbruch lässt sich nicht auf ein einheitliches Ergebnis reduzieren. Furcht, Ablehnung, Begeisterung und Kriegsbereitschaft bestanden gleichzeitig nebeneinander. Insgesamt aber fehlten aus den genannten Gründen mit dem Deutschen Reich vergleichbar häufige Manifestationen der Stimmung der Bevölkerung. Dabei spielten nationalistische Vorstellungen eine vielfältige Rolle. Ihre Wirkungsmacht lag aber nicht darin, dass sie die Mehrheit der Bevölkerung in eine kriegsbegeisterte Ekstase versetzten. Die Bedeutung des Nationalismus bei Kriegsausbruch bestand erstens darin, dass er Bedrohungsängste unkontrollierbar verstärkte. Die Panikreaktionen und die Spionagehysterie der Augustwochen entstanden nicht zuletzt dadurch, dass die Menschen ihre Umwelt mit Hilfe des Nationalismus 148 TI, 26.10.1914, 4. Vgl. T. Wilson, Faces, 176-79; DeGroot, Blighty, 159. 149 DC, 12.8.1914,3. 150 DT, 29.8.1914, 11; DM, 29.8.1914,4. Vgl. den Bericht des Innenministeriums, PRO HO 45 10484/ 103444/ 431 (2.9.1914), der die ganze Angelegenheit den durch Spionagegeschichten überstrapazierten Nerven der Wachposten zuschrieb, sowie T. Wilson, Faces, 171. 151 DCT, 5.8.1914, 8. Vgl. DT, 6.8.1914, 5. 152 HoC V/Bd. 66, 145 (27.8.1914). Vgl. HoC V/Bd. 66, 564f. (9.9.1914). Vgl. Panayi, Enemy, 153-162; French, Fever, 365f.

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deuteten. Noch einmal: Wer sich nationalistischer Deutungen bediente, tendierte zu einer verstärkten Wahrnehmung von Bedrohungen und Konflikten. Das hieß auch, dass die Appelle an die Nation immer wieder nicht intendierte Folgen zeitigten. Im weiteren Verlauf der Krieges mussten sich die Nationalisten stets auf Überraschungen gefasst machen. Zweitens ließ sich mittels des Nationalismus jedwedes Verhalten legitimieren, dass einigermaßen glaubhaft beanspruchen konnte, im »Interesse der Nation« zu liegen. Darunter fielen »patriotische« Kundgebungen ebenso, wie die Jagd auf den inneren Feind in allen seinen unendlichen Gestalten. Der Krieg eröffnete die Gelegenheit, durch die Übererfüllung nationalistisch gedeuteter Pflichten Gewalt gegen beinahe jedermann zu rechtfertigen. Drittens bildete auch in Großbritannien die Stimmung des August 1914 die Grundlage eines mächtigen und vieldeutigen nationalen Einheitsmythos. Die divergierenden Interessen und Vorstellungen von Labour, Liberalen und Konservativen wurden nicht von einem überwölbenden britischen Nationalismus assimiliert. Vielmehr hielten die verschiedenen politischen Lager an ihrer eigenen Konzeption der britischen Nation fest.

3. Konstruktion und Erlebnis der utopischen nationalen Gemeinschaft a) Der Kult der Gemeinschaft in Deutschland In dem Maße, in dem der Burgfrieden Risse bekam und die gesellschaftlichen Spannungen zunahmen, konnte die Utopie der harmonischen Volksgemeinschaft um so heller erstrahlen. Denn das realhistorische »Augusterlebnis« der ersten Kriegswochen mochte in seiner gesellschaftlichen Verbreitung begrenzt und in seiner zeitlichen Dauer sehr beschränkt sein - seine Folgen waren es nicht. Ungeachtet seiner eindeutigen Grenzen wirkte das »Augusterlebnis« vor allem deshalb, weil die Ereignisse eine verführerische Projektionsfläche boten: die der inneren Einheit der Nation. Die Vorstellung der nationalen Einheit versprach angesichts der krisenhaften Anspannungen der Vorkriegszeit einerseits und der Herausforderung, die der Weltkrieg andererseits darstellte, eine neue Sinnstiftung und Geborgenheit im Solidarverband der Nation. Der Glaube an die allgemeine nationale Solidarität bei Kriegsausbruch sollte wenigstens bis 1945 - und nicht nur dem protestantischen Bildungsbürgertum - als immer wieder aktualisierbares Modell einer aus dem Krieg geborenen harmonischen Gesellschaftsordnung dienen. 81 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1

Es waren im wesentlichen drei Phänomene, welche die Grundlage dieses Gemeinschaftskultes in Deutschland bildeten: erstens der Glaube, einen Verteidigungskrieg zu führen, zweitens - und damit eng verbunden - die Haltung der organisierten Arbeiterbewegung und drittens und vor allem die Tatsache, dass die »Nation« beinahe allen gesellschaftlichen Gruppen eine ideale Projektionsfläche für ihre Vorstellungen, Interessen und Hoffnungen bot. Das auslösende Moment des »Augusterlebnisses« und des Kultes der Gemeinschaft begründete die Annahme, einen Verteidigungskrieg zu führen. Die subjektiv meist ehrliche, objektiv schlicht falsche Überzeugung der Bevölkerung, Deutschland sei überfallen worden, stellte den kleinsten gemeinsamen Nenner dar, auf dem sich alle politischen Lager ungeachtet ihrer Differenzen zunächst trafen. Es war ein eindeutiger Erfolg der Politik der Regierung Bethmann Hollweg, die Öffentlichkeit davon überzeugt zu haben, dass das Reich das Opfer eines äußeren Aggressors geworden und deshalb zu verteidigen sei. Erst die Behauptung, über »die Verteidigung des Landes« zu entscheiden, die allein nach der programmatischen Tradition der Partei legitim schien, ermöglichte es etwa der Sozialdemokratie, »in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich«153 zu lassen. Dabei war die Grenze vom Bekenntnis zur Verteidigung des Nationalstaates und dessen gesellschaftlichen Errungenschaften zu territorialen Expansionsvorstellungen von Anfang an fließend.154 Das zweite, mit dem Glauben an den Verteidigungskrieg eng verbundene Moment für den Gemeinschaftskult stellte der »Burgfrieden«,155 die feierliche Bekundung innenpolitischer Einigkeit dar; exemplarisch vollzogen durch die Bewilligung der Kriegskredite durch die Sozialdemokratie am 4. August im Reichstag. »Als auch die Sozialdemokratie«, schwärmte der Historiker Hermann Oncken, »in ihrer Vertretung im Reichstage [...] sich rückhaltlos und mannhaft in Reih und Glied stellte, da kam über viele ein beseeligendes Gefühl: jetzt sind wir wahrhaft, jetzt sind wir endlich eine Nation«.156 Diese Reichstags153 So die berühmte Formulierung aus der Erklärung der SPD Fraktion am 4. August im Reichstag, Sten. Ber. RT, Bd. 306, 8f. Vgl. Pohl, Reichstagscrklarung, 758-75; insgcs. Groh, Integration, 667-72. 154 Das galt nicht nur für das konservative und das liberale politische Lager. Die sozialdemokratische Parteiführung, das hat Kruse, Krieg, 65-76, gezeigt, hat wohl schon im Zuge ihrer Entscheidungsfindung für die Bewilligung der Kriegskreditc Anfang August ihr Bekenntnis zur Landesverteidigung unabhängig von der Kriegsschuldfrage entwickelt, und damit auch nicht nur defensive Vorstellungen verbunden. Vgl. dagegen Groh, Integration, 720-22; Miller, Burgfrieden, 51-55, 68-74; und insges. Raithel, Wunder, 358-70; Stromberg, Redemption, 89f. 155 Der Begriff »Burgfriede« passte sich glänzend in die im Kaiserreich bevorzugte archaisierende Kriegsmetaphorik ein, tauchte aber im öffentlichen Sprachgebrauch erst nach der historischen Reichstagssitzung auf. Der früheste Beleg entstammt einem Artikel der konservativen »Kreuzzeitung« NPZ (M), 5.8.1914, 1: »Im Innern unsres Vaterlandes ist voller Burgfriede beschlossen, kein Sozialdemokrat, auch kein Pole [...] entzieht sich seiner vaterländischen Pflicht«. 156 Zit. n. Böhme, Aufrufe, 105. Vgl. Rojahn, Arbeiterbewegung, 57-71 und zur Reichstagssitzung neben Pohl, Reichstagserklärung, auch Huber, Verfassungsgeschichte, 22-38.

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sitzung war eine minutiös von der Reichsleitung in Absprache mit den Parteien für die eigene wie für die internationale Öffentlichkeit geplante Einheitsbekundung, die insbesondere die »nationale« Bekehrung der wichtigsten Konfliktpartei, der SPD, demonstrieren sollte. Diesen Überlegungen entsprach auch die Strategie Bethmann Hollwegs, der den Kaiser zu seiner vielzitierten Versicherung am 1. August auf dem Balkon des Stadtschlosses veranlasste: »Ich kenne in Meinem Volke keine Parteien mehr. Es gibt unter uns nur noch Deutsche«.157 Die freudige Verwunderung der bürgerlichen Öffentlichkeit über die Aufgabe der Oppositionshaltung durch die organisierte Arbeiterschaft bestimmte über Wochen die Leitartikel der regierungsnahen und liberalen Zeitungen. Zwar verwies man zuweilen auf Bedenken, vor allem innerhalb der Sozialdemokratie, verlieh damit aber dem Bekenntnis zur inneren Einheit, welches augenscheinlich alle Klassen, Konfessionen und Minderheiten geleistet hatten, eine um so größere Bedeutung: »Selbst unsere fremdstämmige Grenzbevölkerung hat es in den letzten Tagen nicht an Zeichen der Loyalität fehlen lassen. Mit Recht haben unsere [sie!] Sozialdemokraten gegen den unsinnigen Krieg Einspruch erhoben, aber auch sie haben erklärt, dass in einem uns aufgezwungenen Kriege gegen russische Barbarei die deutschen Arbeiter nicht zurückstehen werden. [...] Nicht nur Katholiken und Protestanten, auch unsere jüdischen Mitbürger folgen einmütig dem Ruf zu den Waffen«.158 Das linksliberale »Berliner Tageblatt« betonte ausdrücklich, dass man nun nicht mehr »von antinationalen Parteien und von der ›vaterlandslosen Sozialdemokratien reden dürfe, »weil wir alle unser Vaterland gleichmäßig lieben. Wie die Sozialdemokratie ihre Haltung begründete, ist gleichgültig«.159 Diese Schlussfolgerung war unrichtig. Genau auf die Begründung kam es an. Der dritte und entscheidende Kristallisationspunkt der Gemeinschaftseuphorie basierte auf den vielfältigen Vorstellungen und Interessen, die sich mit dem Reden von der »Nation« verbanden. Die Nation bot die am meisten versprechende Projektionsfläche für die Einheitshoffnungen und Wertvorstellungen beinahe aller gesellschaftlichen Gruppen. Denn die erstrebte Volksgemeinschaft war politisch deutungsoffen. Der Mythos der geeinten Nation wurde eigentlich erst wirkungsmächtig, weil dieser die verschiedensten Interessen artikulierte und gleichzeitig überwölbte. Da die Berufung auf die Nation sowohl ein attraktives Deutungsmuster für eine komplexe und bedrohliche Umwelt als auch eine erfolgversprechende politische Handlungsstrategie für konkurrierende Interessen darstellte, ließ sich der Anschluss an die Weltbilder und die politische Praxis der großen gesellschaftlichen Gruppen und Eliten 157 VO, 2.8.1914,3. Vgl. Raithel, Wunder, 278-85; Kruse, Krieg, 76-89; Miller, Burgfrieden, 55-68. 158 KLZ(2.M), 2.8.1914, 1. 159 BT (A), 5.8.1914,2.

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leicht sicherstellen. In allen politischen Lagern redete man viel von der Einheit und von der Erneuerung der Nation, von Volk oder Vaterland und verknüpfte große Hoffnungen damit. Deren grundsätzliche Unvereinbarkeit und Unerfüllbarkeit erkannten die Zeitgenossen aber nicht. Nicht nur das: Die semantische Konstruktion des Burgfriedens diente den nach wie vor verfeindeten politischen Lagern dazu, mittels ihrer nationalistischen Argumente ihren Einfluss im öffentlichen Raum auszubauen bzw. zu verteidigen. Die Stoßrichtung der nationalistischen Utopien war eindeutig innenpolitischer Natur - und das auf doppelte Weise: Mit dem deutschen Nationalstaat verteidigte man die bestehende Ordnung und stritt gleichzeitig für die gedachte Ordnung Nation, die je nach Interessenlage und politischem Standpunkt von potentiell jedem anders gefüllt werden konnte.160 Die »Nation« bildete eine dynamische Vorstellung, welche die größten Hoffnungen ebenso hervorrief, wie sie diese zu erfüllen und ganz praktisch zu erleben versprach. Diese verschiedenen Vorstellungen, Interessen und Erwartungen der wissenschaftlichen und regierenden Eliten, der unterschiedlichen politischen Lager und der Minderheiten sollen eingehender analysiert werden. Der mit dem Kriegsausbruch verbundenen Egalitätsvision verliehen die selbsternannten Meinungsführer der deutschen Nation, die Hochschullehrer, Pfarrer und Schriftsteller, ihren markantesten Ausdruck. Diese sog. »Ideen von 1914«161 stellen ein vielbeachtetes und weitgehend erforschtes Phänomen dar.162 Ihrem Selbstverständnis nach begriffen sich die deutschen Professoren aufgrund ihrer Bildung und ihrer politisch-sozialen Stellung im Kaiserreich als eine Art Geistesadel. Daher forderten sie als Wertelite eine besondere Anerkennung ihrer Ansichten, die für sie im automatischen Einklang mit dem Interesse der deutschen Nation lagen. Die ideologische Überhöhung und Sinndeutung der vermeintlichen Wandlung der deutschen Kriegsgesellschaft durch die professorate Elite ist in ihrer Bedeutung und Wirkung für nicht bildungsbürgerliche Schichten insgesamt weit überschätzt worden. Da diese Bildungsbürger sich trotz ihrer Begeisterung vom Krieg im Schützengraben fernhielten, verlagerten sie das Fronterlebnis auf ihren eigenen Schreibtisch. »Wir, die wir nicht in Euren Reihen mitkämpfen können«, rief der Ökonom Werner Sombart seinen jungen Helden‹ zu, »blicken mit Neid auf Euch, die Ihr Euer Hel160 Vgl. Verhey, Spirit, 156-85; Fries, Katharsis I, 161-64; Kruse, Kriegsbegeisterung, 83f. 161 Die populäre Formel geht entgegen einer verbreiteten Annahme nicht auf die gleichnamige Schrift Rudolf Kjellens zurück, sondern entstammt Johann Plenges, Krieg und die Volkswirtschaft, 174. 162 Vgl. zu diesem überforschten Feld nur Fries, Katharsis; Koester, Literatur; Schumacher, Echo; Jansen, Professoren, 109-42; Schwabe, Wissenschaft, 21-45; Lübbe, Philosophie, bes. 173— 231; Ringer, Gelehrten, 169-85 und passim; Pressel, Kriegspredigt, bes. 108-50; Rürup, Geist, 130; W. Mommsen, Geist, 407-21; H. Maier, Ideen, 525—42 und die Beiträge in W. Mommsen, Kultur.

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dentum mit Eurem Tode besiegeln dürft«.163 In diesem Sinne stellten die »Ideen von 1914« eine Art geistiger Ersatzbefriedigung dar. Als exemplarisch für diese nationalistische Selbstbegeisterung kann etwa die Haltung des Schriftstellers Hermann Bahr gelten: »Uns ist das deutsche Wesen erschienen«, frohlockte er in seinem oft nachgedruckten Artikel im »Berliner Tageblatt« am 14. August 1914. »Wir wissen jetzt zum erstenmal, wie wir wirklich sind. Das ist das unbeschreibliche Geschenk dieser großen Zeit. [...] Wir haben uns wieder, nun sind wir nichts als deutsch. [...] Alle deutschen Wunden schließen sich. Wir sind genesen. Gelobt sei dieser Krieg der uns am ersten Tag von allen deutschen Erbübeln erlöst hat!«164 Es war die Sprache des Nationalismus, die durch gebetsmühlenartige, öffentliche Wiederholung den Glauben an die Einheit der Deutschen sinnlich verstärkte. Die nationale Sprache kreierte durch spezifische Schlüssel- und Reizworte, durch affektgeladene Metaphern und Sentenzen grundlegende Gefühle, die eine solidaritätsstiftende Dynamik entfachten: »Wir leben«, bekannte Ernst Toller 1914, »in einem Rausch des Gefühls. Die Worte Deutschland, Vaterland, Krieg haben magische Kraft, wenn wir sie aussprechen, verflüchtigen sie sich nicht, sie schweben in der Luft, kreisen um uns selbst, entzünden sich und uns«.165 Solche beinahe beliebig zu vermehrende Belege verweisen darauf, dass es sich bei den »Ideen von 1914« um einen uneinheitliche Oberbegriff von Einheitsvorstellungen handelte, der gleichwohl nicht mit der Kriegspropaganda in Deutschland verwechselt werden sollte, sondern eine politische Sinnstiftung darstellte.166 Diese bildungsbürgerliche Ordnungsvorstellungen enthielten in einem wechselnden Mischungsverhältnis Altes und Neues, die Verklärung der bestehenden und den Entwurf einer neuen Ordnung. Dabei entwickelte man eine spezifische Vorstellung von »deutscher Modernität«. Die radikale Abkehr von westlich-liberalen Traditionen galt als zukunftsweisende Modernisierung des politischen Lebens, als Jungbrunnen der deutschen Nation. »In uns ist das 20. Jahrhundert«, verkündete der Volkswirtschaftler Johann Plenge, »wie der Krieg auch endet, wir sind das vorbildliche Volk. Unsere Ideen werden die Lebensziele der Menschheit bestimmen«.167 In religiösen Analogien war viel 163 Sombart, Händler, 145. Vgl. Lenger, Sombart, 65-76. 164 BT (A), 14.8.1914, 2. Vgl. zu Bahr: Koester, Literatur, 140-43. 165 Toller, Eine Jugend in Deutschland, 41. Vgl. Adams, Metaphern; Vester, Emotion; Fishman, Language, bes. 44-55; sowie Francois/ Siegristf/Vogel, Nation, 13-35. 166 Daraufverweist zurecht Fries, Katharsis I,208. Bedenkt man zudem, dass einer zeitgenössischen Schätzung zufolge allein im August 1914 1,5 Millionen (!) Kriegsgedichte in Deutschland entstanden sein sollen - d.h. 50 000 im Tagesdurchschnitt, so fallt es schwer, diese oft spontanen bürgerlichen Schöpfungen allein auf gezielte Propaganda zurückzuführen. Ungeachtet der Möglichkeit ihrer sekundären Instrumentalisierung als Propaganda, entsprangen die meisten der zahllosen Gedichte, Reden und Pamphlete wohl vor allem der Motivation, die Situation zu deuten und zu bewältigen. Vgl. Vondung, Propaganda, 11-26; Adams, Metaphern, 221-30; Lübbe, Philosophie, 13-25 u. Kapitel I.2. 167 Plenge, Krieg, 190.

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von »Wiedergeburt«, »Genesung« und »Erneuerung« Deutschlands die Rede. Doch obwohl die Verfasser der »Ideen von 1914« ihr Produkt mit dem Etikett einer »deutschen Modernität« versahen, blieb dieses Konzept ideologisch merkwürdig verschwommen und selten progressiv.168 Die »Ideen« enthielten oft eine antiliberale Spitze und eine ideologische Orientierung an reaktionären oder vorindustriellen Leitbildern, die zu Merkmalen nationaler Individualität verfeinert wurden.169 Den tatsächlichen Dreh- und Angelpunkt der »Ideen von 1914« bildete der deutsche Nationalstaat. Die deutsche Wissenschaft feierte nach den Worten des Theologen Ernst Troeltsch »den Bismarckschen Machtstaat als die Krone aller Entwicklungen und den Zielpunkt der Jahrtausende«.170 Das Deutsche Kaiserreich stellte für die Professoren das Ideal eines Staates und die Erfüllung deutscher Geschichte dar. Die Nachwirkung der sich am Modell Preußens orientierenden Staatsmetaphysik Hegels auf das Staatsdenken der Hochschullehrer kann kaum überschätzt werden. Hiernach galt der Staat als »höhere Individualität«, als über allen Einzelinteressen der Gesellschaft stehende, mit endgültiger Autorität begabte Entscheidungsinstanz. Von der beseelten Kollektivindividualität Nationalstaat sprach man, jenseits jeder zweckrationalen Staatsauffassung, in biomorphen Metaphern als von einem natürlichen ›Organismus‹. Seine tiefe Wunden‹ hatte erst der Krieg geheilt, zuvor drohte eine »allgemeine Reichsverdrossenheit« chronisch zu werden und »die einigende Wirkung des Nationalstaats [zu] versagen«.171 Repräsentativ für die Gesamtgesellschaft waren diese ambitionierten Ordnungsentwürfe der Wissenschaftler und Schriftsteller nicht. Doch entsprachen ihre gouvernementalen Vorstellungen von der deutschen Nation und dem Nationalstaat in weiten Teilen der Position der Regierung. Der Reichsleitung war bewusst, dass sich mit dem Glauben an das »Augusterlebnis« und dem Abschluss des »Burgfriedens« die einzigartige Chance bot, die verfeindeten gesellschaftlichen Kräfte, voran die SPD, in den Nationalstaat zu integrieren. Die kaiserliche Regierung suchte den »Burgfrieden«, die »Reduktion des Bismarckschen Staates zu seiner Idealform«,172 zu institutionalisieren und erhoffte sich vom Krieg die politische und soziale Befriedung der Gesellschaft. Die begrenzte Kooperation antagonistischer Gruppen schien dem bestehenden Nationalstaat und dessen regierenden Eliten die dringend ver168 Max Weber, Politik, 660, spottete 1916 über seine Kollegen: »Geistreiche Personen haben sich zusammengetan und die »Ideen von 1914‹ erfunden, aber niemand weiß, welches der Inhalt dieser ›Ideen‹ war«. 169 Vgl. Rürup, Geist, 14-18; sowie vom Brocke, Wissenschaft, 704—07; W. Mommsen, Geist, 412-18. 170 Troeltsch, Spektatorbriefe, 49. 171 PJB 158 (1914), 379; Oncken, zit. n. Böhme, Aufrufe, 104. Vgl. Faulenbach, Ideologie, 132-39, 178f; Pois, Meinecke, 12-25; Ringer, Gelehrten, 85-95. 172 G. Feldman, Armee, 40.

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misste Stabilität verliehen zu haben. Der Krieg eröffnete der Regierung die Möglichkeit, außer den »nationalen« und konfessionellen Minderheiten vor allem die Sozialdemokratie mit der bestehenden Ordnung zu versöhnen, wie der Staatssekretär des Innern Clemens v. Delbrück in einem Memorandum an Bethmann Hollweg betonte: »Wir würden es vor dem deutschen Vaterlande nicht verantworten können, wenn wir nicht den Versuch machten, als Preis des Krieges, eine Reform der Sozialdemokratie nach der nationalen und monarchischen Seite hin anzubahnen«.173 Insgesamt glaubte der preußische Innenminister Friedrich Wilhelm v. Loebell bereits von einer »festeren Verwurzelung des monarchischen Gedankens im Volke« ausgehen zu können, und die halbamtliche »Norddeutsche Allgemeine Zeitung« entdeckte die »erstaunliche Wandlung [...] der deutschef[n] Nation zu einem stahlharten Block«.174 Diese inflationäre Beschwörung nationaler Harmonie von offizieller Seite sollte nicht nur der Stabilisierung der bestehenden Ordnung dienen, sondern erschien auch zur Kriegführung unerlässlich. Denn in der extremen Situation ließ sich die Identifikation mit dem kämpfenden Nationalstaat nicht mehr in hinreichendem Maße durch die Behörden verordnen. Vielmehr war das Bewusstsein tendenziell aller unerlässlich, mit dem Staat, auch eine für jeden verteidigenswerte gedachte Ordnung - die Nation - zu schützen. Für die Reichsleitung stellten die Bekenntnisse zur deutschen Nation und der »Burgfrieden« die notwendigen Bedingungen zur Kriegführung dar.175 Allerdings machte sich die Regierung bereits zu Beginn klar, dass der geforderte »Burgfriede« nicht ohne Gegenleistungen zu haben war. Ein konservativer Kopf wie Loebell konstatierte im November 1914 konsterniert »ein ungeheures Selbstvertrauen aller Einzelnen« und eine »Zunahme demokratischer Gesinnung, die es bei Einzelforderungen nicht bewenden lässt«.176 Bereits Mitte September musste Delbrück dem Reichskanzler mitteilen: »Vertreter aller Parteien, mit Ausnahme der konservativen, sind bei mir gewesen, die einen schüchtern fragend, die anderen fordernd. Die Polen rechnen mit der Aufhebung des Enteignungsgesetzes, [...] das Zentrum erwartet den endlichen Fall des Jesuitengesetzes, die Sozialdemokraten erwarten Beseitigung der gegen sie bestehenden Ausnahmebestimmungen [...]; die Liberalen [...], dass nach dieser einhelligen patriotischen Erhebung des ganzen Volkes mit Ausnahmegesetzen 173 BA R43 2476, BI.105-08, Zit. 107, (13.9.1914). Vgl. auch das Memorandum Ebd., BI.155 (27.10.1914): »Es bietet sich die vielleicht letzte Gelegenheit, sie [die Arbeiterbewegung- SOM] nicht nur der Nation sondern dem Staate zu gewinnen«. 174 Loebells Stimmungsbericht zur Lage im November 1914, BA R43 2437/i, Bl.57-65, Zit. 58; NAZ(1.M) 23.8.1914, 1. 175 Vgl. die Dokumente vom Gcneralstab und den Ministerien in Deist, Militär, 193-200; sowie G. Feldman, Armee, 38-46, bes. 40; Mai, Ende, 31 ff.; Dülffer, Dispositionen 9f.; Robbins, War, 127. 176 BA R43 2437/i, Bl.59.

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nicht mehr regiert werden könne«.177 Gerade der Sozialdemokratie trauten konservative Regierungsbeamte zu, ihr Bekenntnis zu Nation und Staat gezielt zu instrumentalisieren, um von der Staatsgewalt immer weitere Zugeständnisse zu erpressen.178 In der Reichsleitung standen sich reaktionäre und reformerische Kräfte gegenüber. Während die erste Gruppe möglichst wenig an den vermeintlich bewährten Institutionen und Gesetzen des Kaiserreiches ändern wollte, hielt die zweite maßvolle Reformen zur Erhaltung des Bestehenden für unausweichlich: »Die Bedenken, die gegen eine breitere Heranziehung [des Volkes - SOM] geltend gemacht werden, hat es in diesem Krieg zu zerstreuen gewusst. Eine breitere Fundierung ist unvermeidlich und unbedenklich geworden. Sie wird indes ohne Umwälzung [...] das innere Wesen diese Staates intakt lassen müssen«.179 In diesem Zusammenhang erörterte man die Aufhebung von Ausnahmegesetzen gegen Polen, Sozialdemokraten und Jesuiten und dachte selbst über das brisante Thema der preußischen Wahlrechtsreform nach. Um aber die nur mühsam überdeckten innenpolitischen Konflikte nicht sogleich wieder aufbrechen zu lassen, verzichtete die Regierung Bethmann Hollweg auf energische Reformmaßnahmen. Statt dessen suchte der Reichskanzler mit seiner »Politik der Diagonalen« die Probleme, die er nicht glaubte lösen zu können, zu vermeiden.180 Damit beging er den grundsätzlichen Fehler, nicht mit einer klaren reformerischen Deutung der deutschen Nation und des deutschen Volkes notwendige machtpolitische Positionen im aufziehenden innenpolitischen Streit zu besetzen. Seine Umgebung hatte ihn schon früh gewarnt, die Dynamik dieser Begriffe und Vorstellungen zu vernachlässigen und diese ungedeutet den potentiellen innenpolitischen Gegnern zu überlassen: »Die Regierung [...] muss sich die Aufstellung der neuen Parole, unter der die innenpolitischen Kämpfe der nächsten Jahre sich abspielen werden, sichern [...] und unter der neuen Parole an das Volk [...] appellieren«.181 Während die kaiserliche Regierung zwischen konkurrierenden Nationsvorstellungen und zwischen den politischen Strömungen zu lavieren suchte, bezog man im Lager der Konservativen klare Positionen: Der »Burgfriede« und das »Augusterlebnis« waren für die »alte Rechte«, die Konservative Partei und die Agrarier reiner Selbstzweck, begriffen sie doch die verkündete innenpolitische Einigkeit und die offenbare emotionale Ergriffenheit der Bevölkerung als 177 BA R43 2476, B1.107 (13.9.1914). 178 So etwa der Regierungspräsident v. Falkenhausen BA R43' 1395/i, Bl.64f., (2.12.1914). Vgl. auch Westarp, Politik, 1. 179 BA R43 2476, Bl.152-55, (27.10.1914), Zit. 152. 180 »Wir müssen versuchen,« so Delbrück an den Kanzler »mit dieser hinhaltenden Politik möglichst weit zu kommen«, BA R43 2476, BI.108, (13.9.1914). Vgl. zur »Politik der Diagonalen« Bethmann Hollweg, Betrachtungen II, 170; sowie Farrar, Illusion, 132-47; Huber, Verfassungsgeschichte, 125-27. 181 BA R43 2476, B1.155 (27.10.1914).

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Konsolidierung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse. Die Konservativen verbanden mit ihren traditionellen Nationsvorstellungen die Hoffnung auf die Rückkehr Deutschlands zu einem vermeintlich idealen, vorindustriellen Zustand. Hatten in den Jahren vor dem Krieg »Zeichen sittlichen Niedergangs«, »zunehmende Religionslosigkeit und Gottentfremdung«, ja, der »Verfall unseres nationalen Lebens« um sich gegriffen, verschwanden mit dem Krieg »die Tage, wo Glaubenslosigkeit, Zweifel, Materialismus und sittliche Frivolität die Zukunft Deutschlands bedrohten«.182 Die kulturelle Vorkriegsdekadenz im allgemeinen und den verachteten politischen Pluralismus mit seinen offenen Interessengegensätzen im besonderen grenzte man von der alles überstrahlenden Gegenwart scharf ab. Demnach wies der Krieg dem deutschen Volk die Rückkehr zu traditionellen Werten, zu »höchste[m] Soldatenglück«, »zur strenge [n] Hingabe an die gebieterische Pflicht« und zur »unerschütterliche [n] Treue zum Herrscherhause.«183 Die Konservativen stilisierten ihre deutsche Nation als Verkörperung von monarchischer Autorität und Preußentum. Diese konventionellen Nationsvorstellungen teilte die radikale Rechte, namentlich der ADV nicht. Für die radikale Rechte war der Weltkrieg ein »Rassekrieg«. Um diese Achse ordneten sie ihr Nations- und Kriegsbild. In diesem Glaubenssystem bildete die »Rasse« die Grundeinheit der deutschen Nation und des geschichtlichen Lebens. Da dieses sich in der notwendigen Auseinandersetzung mit anderen Völkern vollzog, lag die letzte Ursache des Weltkrieges in den rassischen Unterschieden der Völker begründet, genauer in der perfiden Rachsucht der minderwertigen »Fremdrassen«, vor allem der Slawen, gegen die nordische »Edelrasse«.184 Da gerade die Alldeutschen es sich zugute hielten, auf die Notwendigkeit des »Rassekrieges« bereits seit Jahrzehnten hingewiesen zu haben, quittierten sie den Ausbruch des Weltkrieges mit unverhohlener Genugtuung. »Es ist eine Lust zu leben«, jubelte Heinrich Claß in einer Sondernummer der »Alldeutschen Blätter« auf eine Weise, die nicht einmal mehr formal dem behaupteten Verteidigungskrieg genügte, »die Stunde haben wir ersehnt«.'85 Nun schien sich bei Gelegenheit des Weltkrieges die Chance zu bieten, alldeutsche Konzepte in bisher unerreichbarem Ausmaß zu verwirklichen. Diese Auffassung war für die Kriegsbegeisterung der Aktivisten des ADV ausschlaggebender, als ihr Glaube an die einigende Wirkung des »Burgfriedens«. 182 NPZ(A), 12.8.1914, 1 f. Ähnlich etwa auch der konservative Heidelberger Theologe Hans v. Schubert, Weihe, 7. 183 NPZ (M), 3.8.1914, 1. Vgl. auch die autoritären Stereotypen bei Westarp, Politik, 26f.; sowie Peck, Radicals, 155-85; Retallack, Notables, 215-18. 184 ADB, 5.9.1914, 330: »Die wahre Ursache dieses Krieges ist die denkbar ursprünglichste, der allgemeine Rassenhass gegen den Germanen, die Rassenverschwörung«. Vgl. zum BegrifFdes »Rassekrieges« ADB 22.8.1914, 312f; Sontag, Wir Alldeutschen, 1154f. 185 ADB, 3.8.1914,285. Vgl. Sontag, Wir Alldeutschen, 1154, den Titel der »Wehr« 3, Heft 10, 1914; sowie Chickering, Alldeutschen, 20-32; Bräutigam, Stunde, 26-35.

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Die völkischen Nationalisten proklamierten 1914 ein »neues Nationalbewusstsein«, das sich auf der existentiellen Erfahrung des »gemeinsamen großen weltgeschichtlichen [...] Erlebnis«186 des Krieges gründete. Die Ideologie der radikalen Rechten erhob das gesamte »Volk« - im Sinne der »Volksnation« zum Subjekt der Nation und versprach - fiktiv oder nicht - politische und soziale Egalität durch den gemeinsamen Kampf in der »Volksgemeinschaft«. Diese Form der Berufung auf das »Volk« war unter den Herausforderungen der extremen gesellschaftlichen Belastungsprobe insofern ein innovatives Konzept, als dieses Ideal einer im Existenzkampf zusammengeschmiedeten, rassistisch determinierten »Volksgemeinschaft« seine verführerische Überzeugungskraft nicht allein im konservativen Lager entfalten sollte.187 Das bedeutete unter den Bedingungen des Weltkrieges nicht nur die permanente Konfrontation nach außen, sondern erforderte zur Aufrechterhaltung der Kohäsion der »Volksgemeinschaft« die ethnische Abgrenzung im Innern - sei es gegen nationale Minderheiten oder Juden.188 Bereits die Ausrufung der »Volksgemeinschaft« beruhte daher schon auf einem konflikthaften Moment und veranschaulichte die exklusive und spannungstreibende Dimension nationalistischer Inklusion. Mehr noch: Indem die neue Rechte das ethnisch definierte Volk zur Grundeinheit menschlichen Seins stilisierte, bedrohte sie die Grundlagen des Reichsnationalismus und gefährdete die Stabilität des Deutschen Kaiserreichs. Denn aus der dominierenden Bedeutung der Ethnie resultierte die zentrale ideologische Herausforderung an das Kaiserreich: das Axiom von der Unvollkommenheit des kleindeutschen Nationalstaates. Zwar barg die militante Berufung auf ein so verstandenes »Volk« für das Reich mit seinen »nationalen« Minderheiten im Innern und deutschsprachigen Bewohnern jenseits seiner Grenzen schon vor 1914 die Gefahr der Instabilität. Den entscheidenden Stoß aber sollten die Aktivisten des völkischen Nationalismus dem Reichsnationalismus aber erst im Ersten Weltkrieg versetzen. In der Hoffnung auf gewaltige Gebietserweiterung agitierten sie zunehmend offener für die Überwindung des kleindeutschen Nationalstaates zugunsten des ethnisch homogenen Einheitsstaates. Es ging - auf eine Formel gebracht - um die »Weiterentwicklung de[s] Nationalstaat[s] zum Rassenverbande«, um die »politische Zusammenfassung stamm- und artverwandter Völkerschaften unter einem Staatsganzen«.189 So 186 ADB, 1.1.1915,3. 187 Die »Volksgemeinschaft«, hieß es in den ADB 6.3.1915,94,93, »die grade jetzt in kriegerischem Bündnis sich bestätigt, will und muss weit mehr sein als ein Kulturverband. (... ] Sie will sich einer Einheit bewusst bleiben, die [...] sich erstreckt (...) auf die [...] Gleichheit des Blutes, der Rasse, der Sprache«. »Weil das Volk als das Dauernde dem Leben des Staates erst den Inhalt gibt, steht uns das Volk höher noch als der Staat«. Vgl. zur Verbreitung des rassistischen und völkischen Nationalismus etwa die RWZ, 2.8.1914, 1, und insges. Kapitel II.2. u. V. 188 Vgl. Kaschuba, Ethnozentrismus, 243-58; Eley, Konservative, 244f.; und bereits Plessner, Nation, 104f. 189 ADB 23.1.1915, 26; ADB 12.12.1914, 435. Vgl. Kptl. II.4.a. u. 5.a.

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forderte bereits die alldeutsche Kriegszielkonferenz vom 28. August 1914 die »Umbildung des Deutschen Reiches zum wahren Nationalstaat«190, die Deckungsgleichheit von Staat und Volk durch rücksichtslose Ausdehnung des Reiches. Die aggressive ethnische Integrationsstrategie sollte in Kombination mit dem Axiom vom »unvollendeten Nationalstaat« das Kaiserreich im Verlauf der Kriegszieldebatten in fundamentale innenpolitische Konflikte stürzen. Auch auf der gegenüberliegenden Seite des politischen Spektrums innerhalb der Sozialdemokratie war nun viel von »Volk« und »Nation« die Rede. Zwar brach hier der Widerstand gegen den Kriegseintritt nie ganz ab, doch erklärte selbst der noch links von der Parteimehrheit stehende »Vorwärts« seine »Sorge um die Existenz und ungehinderte Selbstbehauptung der deutschen Nation«.191 Im August 1914 überraschte nicht zuletzt die Sozialdemokraten die Intensität ihres Nationalismus, wenn man bedenkt, dass sie seit der Sozialistengesetzgebung unter Bismarck eine betont antinationale Haltung kultiviert hatten. Ihre revolutionäre Rhetorik hatte nur mühsam den revisionistischen Umschwung und den allmählichen Wandel zu einer systembejahenden und staatstragenden Partei verdeckt. Weder bewältigten die Sozialdemokraten theoretisch das Spannungsverhältnis zwischen national und international, noch waren sie sich immer ihres »linken« Nationalismus bewusst. Der »unbewusste Nationalisierungsprozess«192 der SPD schlug sich in ihrer doppelten Loyalität gegenüber Klasse und internationaler Arbeiterbewegung einerseits und dem Nationalstaat andererseits nieder. Dazu kamen noch die Wirkungen eines schleichenden Integrationsprozesses in das Kaiserreich. Auch aufgrund gewisser materieller Verbesserungen für die Arbeiterschaft - wie eine anhaltende Reallohnsteigerung und ein relativ fortschrittliches Sozialversicherungssystem - gewannen viele Sozialdemokraten die Überzeugung, im Kaiserreich wertvolle Errungenschaften zu besitzen, und fürchteten angesichts der vermeintlichen äußeren Bedrohung 1914 mehr zu verlieren als ihre Ketten.191 Welche Rolle in der SPD der Glaube an den Verteidigungskrieg, der Hass auf den Zarismus und die Angst vor staatlichen Repressionsmaßnahmen im Falle einer fortgesetzten Oppositionspolitik auch spielen mochte, der Abschluss des »Burgfriedens« ist doch im wesentlichen auf zwei sich gegenseitig verstärkende Motive zurückzuführen: auf den Drang nach Anerkennung und Aufwertung durch die Gesamtgesellschaft und auf die Übertragung eigener Vorstellungen und Werte auf die reichsdeutsche Nation. Die Diffamierung in der 190 Vgl. Peters, Verband, 34-36,193f, Zit. 193; Sontheimer, Denken, 124f., 246f; Dann, Nation, 217f. 191 VO, 25.8.1914, l.Vgl. die SMH 20 (1914), 1124-27. 192 Wehler, Sozialdemokratie, 214. 193 Vgl. Conze/Groh, Arbeiterbewegung, 114—26; Schröder, Arbeiterbewegung, 257-63; Verhey, Spirit, 156-66; Bieber, Gewerkschaften, 82-84; Kruse, Wendung, 117-21; Moses, Proletariat, 63-69; Maehl, Triumph, 25-41.

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wilhelminischen Gesellschaft als »vaterlandslose Gesellen« erzeugte außer Protest auch den »Widerlegungseifer«194 der Sozialdemokratie, sich von diesem scheinbaren Makel zu reinigen und endlich als Teil der reichsdeutschen Nation anerkannt zu werden. Der »Vorwärts«, bekräftigte: »Die Arbeiter stehen nicht außerhalb der Nation«.195 Auch wenn sich die Fraktion im Reichstag am 4. August des Kunstgriffes bediente, nicht die Verteidigung des Reiches, sondern die des »Vaterlandes« zu erklären, war die verkündete Differenz zwischen Staat und Nation angesichts des politischen und gesellschaftlichen Druckes zu subtil, um im Bewusstsein der Arbeiterschaft oder der übrigen Reichsbevölkerung haften zu bleiben. Der Revisionist Eduard David freute sich darüber, dass zum Abschluss der Reichstagssitzung zum ersten Mal nicht allein ein Hoch auf den Kaiser ausgebracht wurde, sondern »ein Hoch auf Volk und Vaterland, in das man auch als Sozialdemokrat einstimmen« konnte. Selbst der zurückhaltende »Vorwärts« schrieb: »Das erste Hoch auf Volk und Vaterland in jenem Hause, dem man die Inschrift hatte geben wollen: Dem deutschen Volke! Noch fehlt die Inschrift«.196 Solche Formulierungen zeigen, dass die Aufbruchstimmung innerhalb der SPD nicht nur aus dem Verwischen der Grenze zwischen Nation und Staat, sondern in erster Linie aus der Projektion ihrer gesellschaftlichen Hoffnungen und Vorstellungen in die vermeintlich erneuerte Nation resultierte.197 Wegen der historischen Vorbelastung der Begriffe »Nation« und »Volk« suchte die Parteimehrheit zum einen, sich energisch vom Nationalismus der Rechten und ihren lärmenden Demonstrationen in den Augusttagen abzugrenzen: »Tatsächlich ist Vaterlandsliebe etwas ganz anderes als das, was sich jetzt so geräuschvoll und abstoßend kundgibt«.198 Nicht nur das: Eduard Bernstein etwa unterstrich ausdrücklich sowohl die Vieldeutigkeit des »Patriotismus« als auch die grundsätzliche Vereinbarkeit von Nation und Internationale. »Der Patriotismus ist keine Schablone, die allem eine und dieselbe Gestalt gibt. Er kann sich verschiedenartig betätigen. [...] Darum verfalle man heute nicht in den Fehler, Festhalten an der Internationalität mit Mangel an Verständnis und Sinn für das Interesse der eigenen Nation zu verwechseln«.199 Wie viele in seiner Partei wollte er Klassenloyalität und nationale Loyalität nicht als Widerspruch sondern eher als notwendige Ergänzung begreifen.200 194 68-74. 195 196 197 198

Schröder, Arbeiterbewegung, 262. Vgl. Groh, Integration, 721-27; Miller, Burgfrieden, VO, 18.8.1914,2. David, Kriegstagebuch, 12 (4.8.1814); VO, 5.8.1914, 2. Grundlegend dazu Kruse, Krieg, 76-141 u. passim, ferner Spalding, Imperialism, 275ff. So selbst die linkssozialdemokratische »Leipziger Volkszeitung«, 4.8.1914, 5.

199 VO, 4.4.1915, 5. 200 »Was also der Klassenkampf kann und soll, ist, zu einer bestimmten besonderen Auffassung des Patriotismus erziehen. [...] Er steht nur im Gegensatz zum Patriotismus, der die Internationalität der Völkerinteressen, leugnet«, so Bernstein im VO, 19.3.1916, 1.

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Daher betonte man zum anderen in der SPD die strukturelle Ähnlichkeit von Nationalismus und Sozialismus. Im Gegensatz zu den Erwartungen der Reichsleitung und der Konservativen eröffneten diese vom traditionellen Fortschrittsoptimismus der Partei gekennzeichneten Vorstellungen von der deutschen Nation den Sozialdemokraten die Möglichkeit, vom Kriege eine baldige, demokratische, emanzipierende und sozialistische Wandlung des Reiches zu erwarten. An einer so verstandenen deutschen Nation wollte man nicht nur teilhaben, sondern begriffsich geradezu als deren reformerische Speerspitze.201 Die Frage war nur, ob die Arbeiterbewegung für ihren erklärten Eintritt in die Einheitsfront eindeutige Gegenleistungen fordern sollte. In der festen Überzeugung sozialdemokratischer Stärke kündigten einzelne Zeitungen der SPD den bürgerlichen Parteien offen an, die politische Rechnung bald vorzulegen. Diesen Eindruck wollten die Revisionisten zwar vermeiden, doch war ihnen klar, dass sich gerade durch das Bekenntnis der SPD zur Nation neue Handlungsspielräume geöffnet hatten, vor denen die preußischen Konservativen sich zu Recht fürchteten: »Nun haben wir die gemeinsame Basis zu einflussreichem Wirken während und nach dem Krieg gewonnen«, notierte David am 4. August, »und wir wollen uns nicht wieder ausschalten lassen«.202 In einer Besprechung mit Delbrück am 24. August hob David hervor, dass »die Hunderttausende von überzeugten Sozialdemokraten, die alles für das Vaterland hingegeben, auch eine Berücksichtigung ihrer Ideale und Wünsche« erwarteten und er betonte mehrfach die Notwendigkeit, das Kaiserreichs hin zu einer »nationalen Demokratie« weiterzuentwickeln.203 Doch bereits die politischen und wirtschaftlichen Veränderungen, die der Krieg erzeugte, verstärkten wenigstens für die Mehrheitssozialisten den Eindruck einer demokratischen und sozialistischen Umgestaltung des Kaiserreichs. Die ökonomischen Interventionsmaßnahmen des Staates und den Aufbau kriegswirtschaftlicher Organisationen interpretierten hier viele als Zeichen eines anbrechenden »Kriegssozialismus«: »Um in der Zeit der schwersten Prüfung der Nation bestehen zu können, musste der Sozialismus national, die Regierung der Nation aber auch sozialistisch empfinden und handeln lernen«.204 Im politischen Katholizismus schließlich begrüßte man den Kriegsausbruch mit unverhohlener Begeisterung und dem demonstrativen Bekenntnis zum Nationalstaat. »Deutschland, Deutschland über alles«, jubelte die »Germania«,

201 Vgl. Fendrich, Krieg, 15; Kruse, Krieg, 107-16; Rohe, Reichsbanner, 245-58. Unzutreffend dagegen Groh/Brandt, Gesellen, 162, die SPD habe durch den Burgfriedensschluss »der Führung des Reiches widerspruchslos die Definition der nationalen Interessen« überlassen. 202 David, Kriegstagebuch, 13. 203 BA R43 1395/i, Bl.20-23, Zit. 22; David, Kriegstagebuch, 22-25. 204 Fendrich, Krieg, 16. Vgl. SMH 20 (1914), 1128-33; sowie Kruse, Krieg, 116-24; Sigel, Gruppe, 110-18; Becker, Sozialismus, 65-69.

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»ein Hochgefühl patriotischer Begeisterung erfüllt jedes Deutschen Brust«.205 Die katholischen Eliten kleideten die Ereignisse in religiöse Metaphern, mit offenen Reminiszenzen an Papst Urbans Kreuzzugspredigten: »Zu einem Kreuzzug wollen wir ausziehen [...] Gott will es!«206 Die Motive hinter dieser Haltung waren denen der Sozialdemokraten ähnlich, mit denen man sich über Jahrzehnte hinweg die Pariastellung im Kaiserreich geteilt hatte: Die Sucht nach Anerkennung durch die Gesamtgesellschaft und die Projektion der eigenen Werte und Vorstellungen auf eine zunehmend mit dem reichsdeutschen Nationalstaat gleichgesetzte Nation. Auch nach dem Ende des Kulturkampfes hielten Viele im protestantischen Bildungsbürgertum an ihrem Glauben an die nationale Unzuverlässigkeit und den Ultramontanismus der Katholiken fest.207 Das katholische Anerkennungssyndrom kennzeichnete 1914 die Hoffnung, durch eifrige öffentliche Übererfüllung geglaubter patriotischer Normen endlich die gesellschaftliche Integration in das Kaiserreich zu erfahren. Wenn man 1914 von »innerer Einheit« des Volkes sprach, meinte man vor allem ein Ende des »Hader[s] der Konfessionen«208 und suchte so im Zeichen des Burgfriedens insgesamt eine Aufwertung der Position der Katholiken im Reich sicherzustellen: »Eine Besserung erwarten die Katholiken in Deutschland jetzt vor allem, wenn die Schützengrabenstimmung gegenüber Katholiken und katholischem Wesen anhält und in der Zukunft sich auswirkt«.209 Mit anderen Worten: Der Nationalismus der katholischen Eliten sollte ihnen auf doppelte Weise als ein Verfahren zur politischen und konfessionellen Emanzipation dienen. Zum einen übertrugen sie auf ihre deutsche Nation die eigenen politischen und kulturellen Vorstellungen. Zum anderen resultierte ihre Aufbruchstimmung daraus, dass sie schon in der realhistorischen reichsdeutschen Nation »eine großartige religiöse Erneuerung«210 zu entdecken vermeinten, und von der Regierung, als selbstverständliche Gegenleistung ihres Burgfriedenspostulats, das Ende nicht allein ihrer kirchenpolitischen Benachteiligung erhofften. Fragt man abschließend danach, welche Wirkungen die skizzierten nationalistischen Einheitsutopien und die geweckten großen Erwartungen hatten, ist zunächst auf eine Reihe tatsächlicher wie imaginärer Veränderungen der Kriegsgesellschaft zu verweisen. Für die Zeitgenossen standen »reale« und »vorgestellte« Momente in einer dynamischen, sich gegenseitig verstärkenden 205 GE(M), 2.8.1914, 11. Vgl. KV (A), 8.8.1914, 1. 206 Ebd. Vgl. Missala, Gott, bes. 126-30; Baadte, Universalismus, 89-94. 207 Noch im Herbst 1914, hieß es in den PJB 158 (1914), 385: »Der Protestantismus ist von seinem Ursprung her der eigentliche Träger des deutschen Nationalgcfuhls«. Vgl. H.W. Smith, Nationalism, passim. 208 KLZ (2.M), 2.8.1914, 1. Vgl. van Dülmen, Katholizismus, 347-76; Gründer, Nation, 7984. 209 So noch die KV (M), 3.8.1916, 1. 210 GE (A), 2.9.1914, 1. Vgl. KV (A), 8.8.1914, 1; Loth, Katholiken, 279f; K.-P. Müller, Politik, 78f.

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Wechselbeziehung. Gleich nach Kriegsausbruch initiierte die Regierung eine Reihe konkreter Maßnahmen, die, obwohl meist eher symbolische Akte, ihre Wirkung auf die politische Öffentlichkeit nicht verfehlten. Die Sozialdemokratie profitierte von der Aufhebung zahlreicher staatlicher Repressionsmaßnahmen. Sozialdemokratische Schriften bzw. der »Vorwärts« waren nun an Bahnhöfen und selbst in der Truppe erhältlich.211 Sozialdemokraten konnten seit Ende des Jahres 1914 in den Staatsdienst übernommen werden, wenn sie den Eid auf die bestehende Ordnung leisteten;212 einige wurden sogar Offiziere. Zudem zwang das preußische Innenministerium den »Reichsverband gegen die Sozialdemokratie«, seine verunglimpfende Arbeit ebenso einzustellen, wie es darauf achtete, dass auch antikatholische Organisationen den »Burgfrieden« einhielten.213 Selbst gegen einige der giftigsten Antisemiten gingen die Behörden zeitweilig vor und verboten beispielsweise den radikalantisemitischen »Hammer«.214 Mittelfristig endlich konnten die jeweiligen politischen Lager im sogenannten »Vaterländischen Hilfsdienstgesetz« oder in der Aufhebung des Jesuitengesetzes und des Sprachenparagraphen des Reichsvereinsgesetzes die Erfüllung gehegter Hoffnungen erblicken. Hinzu traten die imaginierten Wirkungen der Einheitsutopie. Das »Augusterlebnis« induzierte seine eigene Wirklichkeit, indem es einerseits durch eine nationalistisch verzerrte Wahrnehmung der Umwelt Bedrohungsängste und Panikreaktionen auslöste, andererseits aber für die verschiedensten gemeinschaftsstiftenden Vorstellungen und Hoffnungen deutungsoffen blieb. Gerade angesichts der krisenhaften Verwerfungen der Kriegs- und Vorkriegszeit schienen sich die anonymen zwischenmenschlichen Beziehungen und die Schranken von Klasse und Konfession in eine neue verheißungsvolle Gemeinschaft aufzulösen.215 Die nationalistische Einheitsutopie war als Erlebnis unmittelbar und anschaulich erfahrbar. Kurz, der Glaube an die Nation versprach jedem alles. Doch der Kult der Gemeinschaft eröffnete keine Perspektiven für einer Lösung der Probleme der deutschen Gesellschaft des Jahres 1914 - von den kommenden ganz zu schweigen. Die nationalistischen Einheitsutopien riefen weitgesteckte Erwartungen hervor, die von einem totalen Krieg enttäuscht werden mussten. Tatsächlich bedingten die Umwälzungen des Weltkrieges langfristig eine Verschärfung der politischen und sozialen Spannungen und den massiven Protest derjenigen, welche die empfindliche Verletzung des Gleichheitsanspruchs des Gemeinschaftskultes beklagten.216 Mehr noch: In dem Maße, in 211 BA R43 2437/c, Bl.246-48, (5.9.1914). 212 BA R43 1395/i, B1.44f. (28.11.1914). Vgl. Verhey, Spirit, 341-45. 213 Vgl. Raithel, Wunder, 295f.; K.-P. Müller, Politik, 79. 214 Vgl.BAR1501 112276/1, Bl.llf. (15.12.1914); ebd., 354f. (11.9.1916). Vgl. zum häufigen demonstrativen Bekenntnis von Juden zur Verteidigung des Reiches etwa BT (A), 14.8.1914,9. S. zur prekären Lage der Antifeministen nach Kriegsausbruch Planen, Antifeminismus, 177-79. 215 Vgl. Leed, Land, 42-47; Raithel, Wunder, 456-66. 216 Vgl. Kocka, Klassengesellschaft, 34-36; Chickering, Germany, 16f.

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dem die Nation - von wem auch immer - als Motor der gesellschaftlichen Einheit beschworen wurde, wirkte sie genau deshalb desintegrierend. Aufgrund der Unerfüllbarkeit der Einheitsutopie und ihres Absolutheitsanspruches konnte im Zeichen der dominanten Gemeinschaftsrhetorik tendenziell jeder Deutsche alle übrigen Zeitgenossen beschuldigen, die Erneuerung der »Nation« zu hintertreiben. »Mag der äußere Feind uns heute noch so gefährlich bedrohen«, orakelte die »Kreuzzeitung« nach Kriegsausbruch, »den weit gefährlicheren inneren Feind, der unser Volk zu verderben drohte, haben wir bereits überwunden«.217 Das Blatt irrte sich. Weniger die Auseinandersetzung um den äußeren, als vielmehr um den inneren Feind sollte allen Einheitsutopien ein sicheres Ende bereiten. b) Der Kult der Gemeinschaft in Großbritannien Mochte in Großbritannien die tatsächliche Breitenwirkung des »Augusterlebnisses« die des deutschen unterschreiten, standen doch seine Auswirkungen denen in Deutschland um nichts nach. Hier wie dort gab der Glaube an die Erfüllung der nationalen Einheitsutopie eine vieldeutige Projektionsfläche für die größten Hoffnungen und Erwartungen ab. Das galt um so mehr für Großbritannien, dessen innenpolitische Friktionen es 1914 an den Rande des Bürgerkrieges geführt hatten. Für viele Zeitgenossen verhinderte nur der Beginn des Weltkriegs den offenen Ausbruch eines britischen Bürgerkrieges: »England was trembling on the verge of revolution. Class hatred was growing, violence increasing. [...] Nothing, perhaps, save a general European war could have served to prevent the translation of violent speech into violent action«.218 Mit dem Ausbruch des Krieges aber glaubte man eine wunderbare Verwandlung der krisengeschüttelten Gesellschaft durch die einigende Macht des britischen Nationalismus zu erleben. Der Leitartikel der konservativen »Daily Mail« kann dafür als durchaus repräsentativ gelten: »Thank god we are one nation again! [...] Where yesterday the British people were disunited, to-day they stand as one man in defence of freedom and justice. Party divisions have disappeared. ›In Britain is one breath«. [...] We are renewing the most splendid visions of our past and realising them to-day«.219 Dabei war die semantische Häufung von »Britain« und »British Nation« kein Zufall. Nachlässige Behörden und Zeitungsredaktionen wurden durch Zuschriften von Bürgern und Lesern immer wieder ermahnt, statt »English« »British« zu verwenden.220 217 218 219 220

NPZ (A), 12.8.1914, lf. (Herv. im Orig.). Jane, Nations, 93. DM,8.8.1914,2. PRO HO 139/6/21 (172.9.1914); JB. 29.8.1914, 1.

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Dem Gemeinschaftskult um die »British Nation« verliehen auch in Großbritannien die Hochschullehrer und Schriftsteller ihren Ausdruck. Demnach hatte der Krieg die Briten über alle Differenzen hinweg geeint und erhoben. Die britischen Gelehrten variierten akribisch das Thema vom wiedergefundenen »paradise lost« durch die Wiedergeburt der Nation. Im Vergleich zum Engagement der deutschen Professoren bei Kriegsausbruch gab es aber zwei wesentliche Unterschiede: Zum einen beanspruchten die britischen Gelehrten nicht, als Vertreter und Verwalter der nationalen Interessen Großbritanniens zu gelten. Zum anderen stilisierten die britischen Wissenschaftler ihre Nation zwar als eine auserwählte, im Gegensatz zu den Verfassern der »Ideen von 1914« aber begründeten sie Englands Besonderheit gerade nicht mit einem ideologischem Anderssein, sondern mit der außerordentlich vorbildlichen Erfüllung allgemein verbindlicher Menschheitsideale. Zudem widmeten sich die Universitätsprofessoren in Großbritannien insgesamt nicht so eingehend wie ihre deutschen Kollegen der Kriegspublizistik.221 Doch fühlten auch sie sich durch die Kriegsereignisse in die Pflicht genommen, einer breiteren in- und ausländischen Öffentlichkeit die Ursachen für Großbritanniens Kriegseintritt darzulegen, den Sinn des Krieges zu deuten und die innenpolitische Geschlossenheit zu fordern.222 Die Sprache, mit der man sich der Einheitsutopie der Nation und dem Krieg im liberalen wie im konservativen Lager zu nähern suchte, war geprägt von Archaismen und Euphemismen. Zudem erfreute sich in England die Sprache des Sports, die Deutung des Kriegsgeschehens als sportliche Konkurrenz, ausgesprochener Beliebtheit.223 Die Wahrnehmung der zunehmend katastrophalen Umwelt von Front und »Heimatfront« mit Hilfe dieser zivilisierten Sprachform war Ausdruck einer Sucht nach Harmonie und dem Fortbestand verbindlicher Regeln.224 Die formalisierten Spracharchaismen schränkten von vornherein die Deutungsmöglichkeiten des Geschehens ein. Doch die semantische Domestizierung des totalen Krieges durch die nationalistische Sprache 221 Das ist sicherlich einer der Gründe fur das verglichen mit Deutschland relativ geringere Interesse der Forschung an der Rolle der britischen Intellektuellen im Krieg. Vgl. v.a. Wallace, War, passim; sowie Dockhorn, Einsatz, und in vergleichender Perspektive, Hoover, God, bes. 19-50; Stromberg, Redemption; Marsland, Cause, bes. 33-69; Dines, Poesie; Utz, Weltkrieg. 222 Auch in Großbritannien darf das Gelehrtenengagement nicht mit gelenkter Propaganda verwechselt werden. Vielmehr entsprach es einem verbreiteten Bedürfnis nicht allein der »uppermiddle-classes«, dem Krieg einen Sinn zu geben. Allein die »Times«, so Bogacz, Tyranny, 647, erhielt an jedem Tag im August 1914 wenigstens 100 Kriegsgedichte zugesandt. Vgl. Bourne, Britain, 204f. 223 Vgl. zum Vokabular des Sports: Fussel, Einfluss, 175-79; Reimann, Krieg, 145-50; Dines, Poesie. 157f, und insges. zur Sprache des konservativen britischen Nationalismus MacDonald, Language. 224 »They idealise everything«, klagte die »Nation«, 2.2.1918, 537, über die Kriegspoesie. »They blind themselves to reality by conjuring up a spiritual vision of what they would like to be true«. Vgl. Fussel, War, 18-29; Bogacz, Tyranny, passim.

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misslang langfristig ebenso, wie die auf die Nation gesetzten Einheitshoffnungen durch einen industriellen Krieg enttäuscht werden mussten. Die Unerfüllbarkeit und der Absolutheitsanspruch der nationalistischen Einheitsutopie sollten schließlich für eine Desillusionierung der Hoffnung auf eine konfliktfreie Gesellschaft sorgen. Es waren im wesentlichen drei Momente, auf die sich der britische Kult der Gemeinschaft gründete: erstens auf die Überzeugung, die territoriale Integrität Belgiens verteidigen zu müssen, zweitens auf den feierlichen, durchaus überraschenden Konfliktverzicht der verfeindeten politischen Lager und Gruppen und drittens, und vor allem, auf grundlegende Erwartungen, denen die »Nation« eine ideale Projektionsfläche bot. Die Verteidigung des wehrlosen Belgiens gegen den übermächtigen deutschen Aggressor bildete die notwendige Bedingung für Großbritanniens Kriegseintritt. Die Stimmung in der Bevölkerung, in den Eliten und sogar innerhalb der Regierung, war zunächst eindeutig gegen eine Intervention Großbritanniens gerichtet. »I suppose«, schrieb Asquith am 2. August, »a good three-quarters of our party in the H. of Commons are for absolute non-interference at any price. It will be a shocking thing if at such a moment we break up«.225 Der Premierminister musste fürchten, dass ein Nachgeben zugunsten der Kriegspartei im eigenen Kabinett - vertreten durch Außenminister Sir Edward Grey, Lordkanzler Richard Haidane und Winston Churchill -dieses und die Partei spalten würde. Die konservativen Parteiführer und ihre Presse jedoch drängten die Regierung, unter allen Umständen auf der Seite Frankreichs einzugreifen. Die Zeitungen im liberalen Lager stemmten sich entschieden gegen eine britische Intervention, die liberale Prinzipen verrate und im wesentlichen dem autokratischen Russland zugute komme. Erbittert denunzierte man hier die Haltung der konservativen Presse, namentlich von Northcliflfes »Times« und »Daily Mail«, als »unpatriotic squabbling« und warf ihnen ihre jahrelange, gezielte Instrumentalisierung des deutschen Feindbildes vor.226 Am 3. August aber drang die Nachricht vom deutschen Neutralitätsbruch nach London und veränderte die Lage von Grund auf Selbst die großen liberalen Tageszeitungen und einige Blätter der Arbeiterbewegung, die zuvor die Vorhut der Kriegsgegner gebildet hatten, schlossen seither eine britische Intervention nicht mehr vollständig aus.227 Neben moralischen Überzeugungen standen handfeste Interessen hinter der Mehrheitsentscheidung des Kabinetts, dem Deutschen Reich den Krieg zu erklären: sei es, die »balance of power« in Europa zu schützen, sei es, Deutschlands Hegemonie zu verhindern. Doch erst die Invasion Belgiens gestattete es sowohl der liberalen Regierung als auch der 225 Asquith, Letters, 146. 226 DC, 3.8.1914, 4. Vgl. MG, 3.8.1914, 6; DN, 1.8.1914, 2; sowie Koss, Street, 148ft. 227 Vgl. MG, 5.8.1914, 4; DN, 5.8. 1914, 4. Vgl. Zimmermann, Presse, 160-68, 204-17.

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liberalen Öffentlichkeit, den Kriegseintritt zu legitimieren. Gerade in Großbritannien, dessen Grenzen 1914 in keiner Weise bedroht werden konnten, bestand ein erhöhter Druck zur Legitimierung des Kriegseintrittes. Denn dieser war nicht mit einem wie auch immer konstruierten Verweis auf die Notwendigkeit eines Verteidigungskrieges zu rechtfertigen. Ganz im Gegensatz zum Burenkrieg und zu zahlreichen Kolonialkriegen befand man sich in der moralisch privilegierten Lage, sich selber nicht mehr als Aggressor, sondern als Beschützer der »small nations« zu sehen.228 Die zweite Ursache für die Entstehung des Gemeinschaftskultes in Großbritannien bildete die allseitige Erklärung innenpolitischer Einigkeit. Gerade vor dem Hintergrund der äußerst angespannten innenpolitischen Lage des Sommers 1914 kam der bekundete öffentliche Konfliktverzicht nicht zuletzt für die Zeitgenossen selbst überraschend. Der eigentliche politische Waffenstillstand bestand aus einem unscheinbaren Abkommen einiger Parteivertreter am 28. August, das besagte, für die Dauer des Krieges keine Wahlkämpfe um freiwerdende Parlamentssitze auszutragen.229 Doch bereits in den ersten Augusttagen stellte die Arbeiterbewegung die meisten der laufenden Streiks ein, und erklärte die militante WSPU, bald gefolgt von der NUWSS, ihren Kampf um die Gleichberechtigung der Frau zugunsten des Kampfes gegen den gemeinsamen äußeren Feind zu beenden. Vor allem aber die Haltung der irischen Nationalisten und ihres Bekenntnis zur Verteidigung beider Inseln löste überall große Genugtuung aus. Unter tosendem Beifall erklärte John Redmond im Unterhaus: »I say to the Government that they may to-morrow withdraw every one of their troops from Ireland. I say that the coast of Ireland will be defended from foreign invason by her armed sons, and for this purpose armed Nationalist Catholics in the South will be only too glad to join arms with the armed Protestant Ulstermen in the North«.230 Die Resonanz von Redmonds Rede war in allen politischen Lagern außerordentlich positiv und entsprach der Wirkung der sozialdemokratischen Reichstagserklärung in Deutschland. Die vermeintliche Lösung der Irlandfrage im Angesicht des Weltkrieges erschien als ein Wunder, das die britische Nation endlich geeint hatte. Das linksliberale Wochenblatt »Nation« feierte die »solution of the Irish national question« als »the Nation we have won« und der rechtspopulistische »John Bull« resümierte so knapp wie unzutreffend: »The »Irish question‹ is solved«.231 228 So erachtete der liberale »Daily Chronicle«, 5.8.1914, 4, Deutschlands Neutralitatsbruch als »a crime against [...] civilisation. [... ] Britain's part at any rate is clear and honourable - she fights to save this little country, [...] to uphold the observance of the most solemn European obligations«. Vgl. MG, 21.9.1914, 6 und zur Rolle Belgiens im Entscheidungsprozeß der Regierung Cassar, Asquith, 16-29; T. Wilson, Faces, 28-36; sowie Keiger, Britain's, 47-49; Wolffe, God, 233f, und dagegen Steiner, Britain, 215-41. 229 Hazlehurst, Politicians, 140f. 230 HoC V/Bd. 65, 1829 (3.8.1914). 231 NA, 19.9.1914, 852;JB, 26.9.1914, 12. Vgl. DN, 8.8.1914,4; sowie Green, Flag II,219-22.

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Die dritte und entscheidende Grundlage der Gemeinschaftseuphorie basierte auch in Großbritannien auf den unterschiedlichen Auffassungen und Erwartungen, die sich auf die »Nation« richten ließen. Die »Nation« bot eine vieldeutige Projektionsfläche für die Wertvorstellungen und Einheitshoffnungen von Liberalen und Konservativen, von Arbeitern und irischen Nationalisten. Das Reden von der »Nation« kreierte nicht nur die größten Hoffnungen, sondern versprach diese auch innerhalb der nationalen Gemeinschaft unmittelbar zu erfüllen und alltäglich zu erleben. Den Fluchtpunkt der nationalistischen Utopien bildete angesichts der traumatischen Krisenerfahrungen der Vorkriegszeit nicht die Frage der äußeren Neuordnung, nicht das Problem des deutschen Militarismus, sondern die Frage der inneren Neuordnung. Die grundsätzliche Unvereinbarkeit und Unerfüllbarkeit der verschiedenen Nationsvorstellungen und Einheitshoffnungen spielte zu diesem Zeitpunkt kaum eine Rolle und war den wenigsten bewusst. Von diesen mit Hilfe des Nationalismus formulierten unterschiedlichen Interessen und Vorstellungen der Regierung und der politischen Lager ist nun die Rede. Die vermeintliche semantische Eindeutigkeit der Begriffe »nation«, »country« und »unity« suggerierte auch in Großbritannien 1914 die Existenz lagerübergreifender Vorstellungen und Interessen. Tatsächlich verbanden die Regierung, die verschiedenen Parteien und Klassen aber oftmals Unvereinbares mit dem Begriff»nation«. Die Regierung Asquith suchte die Gelegenheit des Weltkrieges zu nutzen, um die verfeindeten politischen Gruppen, voran die irischen Nationalisten, in den Nationalstaat zu integrieren. Wenn Asquith die wiedergewonnene Einheit der Nation pries und die Hoffnung äußerte, der Krieg möge viele der offenen inneren Probleme lösen,232 galten diese Bemerkungen speziell der »Irlandfrage«. Das wahrhaft historische Home-Rule-Gesetz, gegen die zur Ohnmacht verurteilten Unionisten im Parlament Mitte September durchgepeitscht, bildete quasi die Gegenleistung der Regierung für die Loyalität der irischen Nationalisten.233 Wenn die Regierung die Einheit der Nation bemühte, meinte sie damit aber gleichermaßen die gerade noch gelungene Rettung des eigenen Kabinetts und die Verteidigung von Großbritanniens weltumspannender Machtposition. Mit unverhohlener Deutlichkeit hatte Außenminister Grey im Unterhaus nicht nur die »obligations of honour«, sondern als möglichen britischen Kriegsgrund auch die Notwendigkeit benannt, »to prevent the West of Europe opposite to us [...] falling under the domination of a single Power«. Greys Schlussfolgerungen, »if we are engaged in war, we shall suffer 232 Vgl. die Guildhallrede von Asquith in der TI, 5.9.1914, 10. 233 Sir Edward Carson tobte über den »act of unparalleled treachery« an den »national interests« und schloß ganz richtig: »They [die Regierung - SOM] are taking advantage of the situation created by the war [...] to inflict upon us this degradation and humiliation«. TI, 16.9.1914, 9. Vgl. zur Empörung im unionistischen Lager auch TI, 15.9.1914, 9f.

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but little more than we shall suffer even if we stand aside«,234 waren zwar illusionär, zeigten aber die Erwartungshaltung der Regierung. Unter der von Churchill verbreiteten Devise »business as usual« hoffte man die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse Großbritanniens so weit wie möglich zu erhalten, mochte in Europa auch Krieg herrschen. Für das liberale Lager, von den Linksliberalen ganz zu schweigen, bedeutete der Ausbruch des Krieges zunächst einen Alptraum. Viele Liberale lehnten einen Krieg nicht allein aus moralischen Gründen ab, sondern fürchteten zu Recht, dass dieser Krieg das Ende liberaler Prinzipien und Freiheiten im allgemeinen und das Ende von Freihandel und sozialen Reformen im besonderen nach sich ziehen werde. Von Anfang an unternahm die liberale Parteimaschine daher alles, um ihren Nationalismus nicht mit Konservatismus oder Militarismus gleichgesetzt zu sehen. Mit Hilfe eines Kunstgriffs unterstützten die meisten dennoch den Krieg:235 Die Mehrheit der liberalen Öffentlichkeit und Partei übertrug ihre spezifischen Wertvorstellungen auf die »Nation« und deutete damit den an sich moralisch verwerflichen Krieg gegen Deutschland um zu einem Krieg für liberale und fortschrittliche Grundprinzipien. Deutschlands Bruch der internationalen Verträge und vor allem dessen gefährlicher Militarismus erlaubten demnach nicht nur den bewaffneten Widerstand, sondern die Verteidigung von Freiheit und Moral erforderten ihn geradezu. Auch wenn man im Gegensatz zu den Nationsvorstellungen im konservativen Lager betonte, dass der »normal Briton [...] a man of peace«236 sei, tat das der Legitimität dieses Krieges keinen Abbruch. Im gerechten Kampf gegen die amoralische »Prussian military caste« kämpfe die Nation »not merely for her interests, but for her ideals, against a militarism arrogant, stupid, careless of human life and human liberty«.237 Dem Herausgeber des »Daily Chronicle«, Alfred G. Gardiner, erschien der Krieg daher als ein »moral effort«: »liberty, justice and progress are at stake in it. [...] The cause of Britain is the cause of all Britons«.238 Das, was alle Briten in diesem Krieg verbinde, seien nicht »race, [...] language, [...] religion, for none of these is common for the whole mass«, war nicht einmal der »assimilating effect of an identical form of government, for there is none«.119 Das, was die britische Nation eine, seien die liberalen Grundwerte 234 HoC V/Bd. 65, 1823f. Vgl. Cassar, Asquith, 31-66; Marwick, Deluge, 39-44. 235 Vgl. zur Haltung der Minderheit der liberalen Pazifisten Swartz, Union, 28-45; Robbins, Abolition, 27-47. 236 NS, 29.8.1914, 629. 237 Ebd. Vgl. zum »spirit of freedom and the authority of moral law« auch DN, 5.9.1914,4. In diesem Kontext publizierte H.G. Wells seine kleine Schrift »The war to end war«, die dieser idealistischen Kriegsdeutung exemplarisch Ausdruck verlieh und deren Titel zu einer geflügelten Phrase wurde. 238 DC, 5.8.1914,4. Vgl. zur Umwertung des Krieges durch die Liberalen T. Wilson, Downfall, bes. 28-35; Marsland, Cause, 55f, und zu Gardiner: Koss, Street, 150-53. 239 MG, 14.8.1914, 4.

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»Freedom«, »Liberty« und »Honour«. Diese liberale Utopie lief in den Worten von Schatzkanzler David Lloyd George auf die Entstehung eines »new Britain«, auf eine »new recognition amongst all classes« hinaus, getragen von einem »new patriotism, richer, nobler, more exalted than the old«.240 Die Häufung von »new« war kein Zufall. Die Nationsvorstellung der Liberalen gründete sich auf eine komplexe Vision der Erneuerung der britischen Nation, und das Fundament dieser Neubelebung bildeten ihre eigenen freiheitlichen Werte. Doch zur Erfüllung dieser Zukunft mussten zuvor die Leiden des Krieges ertragen werden. »Sacrifice« hieß der Preis der Erneuerung. Der Einfluss religiöser Vorstellungen war unverkennbar. Treffend hat man daher diese Kriegsdeutung als »Holy War of English Liberal Idealism« bezeichnet.241 Durch die großzügige Verwendung nationaler Symbole und Metaphern verlieh man dem Krieg nicht nur eine sakrale Aura, sondern verschmolz gleichzeitig weltliche und religiöse Pflichterfüllung. Denn wenn die Sache der britischen Nation gerecht war, wenn der Krieg den letzten Kampf zwischen Gut und Böse darstellte, dann war Britanniens Sache auch diejenige Gottes. Mit anderen Worten: Der britische »patriotism« stellte »a form of religion« dar.242 Den projizierten nationalen Wandel drückte man mit Hilfe traditioneller quasi-religiöser und moralischer Begriffe aus, die den liberalen Erwartungshorizont und die eingeschränkten Deutungsmöglichkeiten ihrer Produzenten verrieten.243 Für die Konservativen zog der Kriegsausbruch keinerlei moralische Skrupel nach sich. Vielmehr war ein Krieg gegen die bedrohliche Kontinentalmacht Deutschland zur Bewahrung der »balance of power« völlig legitim und letztlich erwünscht. So kostete nicht allein die radikale Rechte den Kriegsausbruch als Triumph ihrer jahrelangen Voraussicht aus. Voller Stolz pries man jetzt die »perfect unity of the British race«,244 in der namentlich die Konservativen immer wieder explizit die Dominions des Empires mit einschlossen. In zahllosen Kommentaren zelebrierte man nicht nur die innenpolitische Geschlossenheit, sondern auch das gemeinsame »national consciousness« »between the Mother Country and the daughter nations«.245 Zwar hatte die Vorkriegszeit, wie die rechtskonservative »Morning Post« wußte, schlimme Degenerationser-

240 MG, 21.9.1914, 6. Vgl. den Text der nicht nur von der liberalen Presse sehr positiv aufgenommenen und oft zitierten Queen's Hall Rede in TI, 21.9.1914, 12. 241 Irene Cooper Willis, zit. n. Bourne, Britain, 227. 242 Dearmer, Patriotism, 5. Vgl. zur religiösen Aufladung nicht allein des britischen Liberalnationalismus und zum sendungsideologischen Anspruch ebd., 4—15; Matheson, National, 26f; Benett, Mission, 15—17; sowie Fischelmayer, Konzeptionen, 330-37. 243 Vgl. beispielhaft die genannten Reden von Lloyd George und Asquith - der vom Krieg als »spiritual conflict« sprach (TI, 5.9.1914, 10, u. 21.9.1914, 12), DN, 8.8.1914, 4; sowie Hoover, God, 19-34; Wolffc, God, 233-36; Grainger, Patriotisms, 314-17. 244 DM,5.9.1914,4. 245 DM, 12.8.1914, 3; MP, 5.8.1914, 5. Vgl. TI, 3.8.1914, 7; DT, 3.8.1914, 6.

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scheinungen mit sich gebracht: »The love of ease, luxury, and pleasure seems to have increased, [...] the question of national defence was also disquieting«.246 Der Krieg aber, da waren sich die Konservativen ganz sicher, würde für die Nation und die Partei gleichermaßen große Handlungsspielräume erschließen: »We shall at the same time cultivate our own souls and the soul of the nation. War, we repeat, is not altogether an evil: it offers opportunity for devotion and self-sacrifice«.247 Zu Recht ging man im konservativen Lager davon aus, dass ein moderner Krieg den Torys die Chance eröffnen würde, in ungekanntem Ausmaß ihre eigenen Nationsvorstellungen im politischen Raum durchzusetzen und den Nationalstaat auf ihren eigenen illiberalen Weg der Modernisierung zu bringen. Im Zentrum dieser Nationsvorstellungen standen die liebgewonnenen Projekte der Vorkriegszeit aus dem Fundus der »National Efficiency«Politik: staatliche Interventionen und Protektionismus sowie die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. Von allen den Dingen, die »ihre« Nation den Konservativen jetzt zu verheißen schien, gewann der Aspekt der Wehrpflicht und des Kampfes an sich im totalen Krieg besondere Bedeutung. Wenn die konservativen Presse schrieb, »a new friendliness inspires the nation [...] we are all brothers in arms«,248 verriet bereits die Wortwahl, dass sie sich die Nation zum einen als eine männliche, zum anderen als eine vor allem im Kampf geschaffene Gemeinschaft vorstellten. Bereits den drohenden Kriegsausbruch kommentierte der »Daily Telegraph« in den Worten: »We believe that every Briton with the stuff of manhood in him will hear the news with relief«.249 In einem Leserbrief in der »Times« klagte Lord George Hamilton über »the feeling of impotence which we older man experience from our inability to do active physical work at this national crisis«.250 Die »Times« unterstrich die einzigartige Bedeutung des Krieges für den Zusammenhalt der Nation. Männer aus allen Schichten und Regionen bekämen erst durch den Militärdienst einen Sinn dafür, dass sie alle Briten seien: »All who have borne arms in this war will henceforth be knit together by a sympathy which no other common cause could have evoked«.251 Am rechten 246 MP, 6.8.1914, 6. 247 MP, 5.9.1914, 6. Vgl. insges. Ramsden, Age, 110-112; F. Coetzee, Nationalism, 366f.; Grainger, Patriotisms, 312f. 248 Ebd. 249 DT, 3.8.1914, 6. Jane Harrison, Fellow des Newnham College in Cambridge und eine der wenigen weiblichen Professoren, beobachtete mit einer gewissen inneren Distanz die nationalistische Begeisterung ihrer männlichen Kollegen über die scheinbare Reaktivierung konservativer Grundwerte einerseits und deren Kultivierung von Männlichkeit andererseits. Den vergangenen Frieden verwarfen britische Professoren - wenn auch im allgemeinen weniger dezidiert als die Verfasser der »Ideen von 1914« - in den Worten Harrisons, Peace, 10, als »a poor, emasculate and even effeminate business«. 250 TI, 31.8.1914, 4. Vgl. NR 64 (1914), 606f. 251 ΤΙ, 14.12.1914,9.

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Rand des konservativen Lagers ging man weiter und polemisierte gegen eine liberale Lieblingsvorstellung, gegen »the absurd talk about this being a war against Militarism«. Im Grunde genommen sei, was immer die Liberalen auch behaupten mochten, der »spirit of war [...] native to the British race«. Das Gerede der moralisierenden liberalen Öffentlichkeit und Regierung, »who are even now pretending that this is a war which will end war«, sei bestenfalls eine naive Selbsttäuschung, eher doch eine der britischen Nation drohende Gefahr: »War will never end as long as human nature continues to be human nature. And war with all its evils teaches us much good. It reminds us of the value of nationality which in peace is apt to be forgotten«.252 In der Art und Weise, in der man durch offenbaren oder latenten Ausschluss Andersdenkender die nationale Einheit begründete, konnte sich darum bereits der Stachel des Konfliktes verbergen. Die öffentliche semantische Einheit hielt die radikale Rechte von Anfang an nur selten ein und orientierte sich bei der Wahl ihrer Methoden im innenpolitischen Kampf am kompromisslosen »new style« der Vorkriegszeit, den sie sogar weiter verschärfte. Die Aktivisten der radikalen Rechten glaubten, es gebe keinen effektiveren Weg, den sinistren Aktivitäten des kaiserlichen Deutschlands zu begegnen und gleichzeitig den Sturz der liberalen Regierung zu bewirken. Mit der gleichen Intensität bekämpfte die radikale Rechte ihren äußeren und inneren Feind. Namhafte »Diehards« leitete dabei die Überzeugung, dass es der Nation vor allem an Führungskraft mangelte und sie zu den Anführern der Briten berufen seien. Auch die Suspendierung der innenpolitischen Konflikte im Zeichen des Krieges erachtete man für einen fatalen Fehler. Leo Maxse befand: »If we cannot participate in the universal slobber it is simply that we do not trust the Government any more than we did«.253 Die Haltung der organisierten Arbeiterbewegung zu Nation und Krieg blieb zwiespältig. Auf der einen Seite hatte man sich bis zuletzt gegen den Kriegseintritt gestemmt und sich abgegrenzt von denjenigen Politikern und Journalisten, »who may feel tempted to deck this horrible emergency in the rhetorical trappings of enthusiasm and patriotism«.254 Die Presse des linken Labour Flügels erklärte auch noch nach dem 4. August in Aufrufen an ihre Leser unverhohlen: »It is the war of the British RULING class [...] . IT IS THEIR WAR, NOT YOURS«.255 Selbst der relativ gemäßigte Vorsitzende der Labourfraktion im Unterhaus, Ramsay MacDonald, fand für das vermeintliche liberale Kriegsmotiv »honour« nur Spott, verweigerte den Kriegskrediten seine Zustimmung 252 MP, 20.10.1914, 6. 253 NR 64 (1914), 491. Vgl. ebd. 328, 341, 383f., 607-11, sowie zu den Invektiven gegen die Regierung: Gollin, Proconsul, 226-237; Scally, Origins, 252ff. 254 DCT, 1.8.1914, 4 (Leserbrief George B. Shaws). 255 LL, 6.8.1914, 1 (Herv. im Orig). Vgl. zur Opposition innerhalb von Labour Wanes, Class, 186f.

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und legte sein Amt nieder.256 Auf der anderen Seite aber verkündete auch die Mehrheit der Organe der Arbeiterbewegung, im wesentlichen durch die Lage Belgiens und durch die Furcht vor staatlichen Repressalien motiviert, ihre Bereitschaft, die Nation und den Nationalstaat im Krieg zu unterstützen: »While grave danger to our existence as a nation confront us, all of us must stand together in defence of our motherland«.257 Sicher bewegten taktische Motive die Parteileitung, voran den neuen Fraktionsvorsitzenden Arthur Henderson, einen innenpolitischen Waffenstillstand zu schließen. Denn auch in Großbritannien hoffte man die relative Isolation der Arbeiterbewegung im Nationalstaat zu beenden. Henderson und die Mehrheit der Parlamentarier und Gewerkschaftler erkannten richtig, dass die Partei von einer aktiven »patriotischen« Mitarbeit zugunsten des kriegführenden Nationalstaats weit eher profitieren werde als von einer fundamentalen pazifistischen Opposition.258 Doch Labours Haltung resultierte nicht allein aus der Überzeugung, durch eine im Krieg notwendige Pflege des eigenen »nationalen« Images potentielle Wählerschichten zu gewinnen. Vielmehr glaubte eine große Mehrheit daran, dass ihre Leistung für den Nationalstaat im Krieg ihnen die Chance eröffne, zum einen Teil der Nation zu werden, zum anderen den notwendigen Wandel dieser Nation nach ihren eigenen Nationsvorstellungen wesentlich mitzugestalten. So entdeckte etwa der »Daily Herald« im Zeichen eines »new spirit«, »that the workers are part of the nation. It extends to them a hand of comradeship. [...] There is something too precious in the new for us to be willing that it should be lost«. Und das war vor allem »the gigantic task of social reconstruction«.259 Wie in Deutschland machte man Ansätze zu einem vermeintlich sozialistischen Wandel des Nationalstaates aus: so etwa die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien, der Eisenbahn und die staatliche Kontrolle der Lebensmittelversorgung. Letztlich schienen diese Veränderungen auf etwas hinauszulaufen, »what may well be a revolution«.260 Neben diesen augenscheinlich schon greifbaren materiellen Zielen erhoffte man eine generelle Umgestaltung der Nation auf der Basis von sozialer Gerechtigkeit und Solidarität.261 Mit aller Deutlichkeit suchte die Labourpresse sich aber vom Nationalismus namentlich der Konservativen abzugrenzen und nahm oft die Unterscheidung 256 Vgl. HoC V/ Bd.65, 1829-31(3.8.1914); Leventhal, Henderson, 49-52; Swanz, Union, 18-21. 257 DCT, 5.8.1914, 4. 258 Vgl. Tanner, Change, 365-68, 381f; Home, Labour, 44-55; Leventhal, Henderson, 52f. Fraglich ist dagegen die Interpretation von Klepsch, Labour, 46f., der von einer unnötigen »SelbstentwafFnung« der Partei spricht. 259 HE, 11.8.1914, 3. 260 Ebd. 261 »In Britain we hope to see Labour, together with all those who really desire social redemption, so organised, so welded together in the bonds of brotherhood and love, that all class and craft distinctions will be swept away«. HE, 2.1.1915, 1.

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zwischen dem eigenen »true« und dem konservativen »false patriotism« vor: »If the good patriotism prevails - that is, a strong and right desire to defend our best English traditions - it will tend to obscure other vital questions, of which poverty is the greatest«.262 Die Behauptung, das Sozialismus und Internationalismus auf der einen und Patriotismus auf der anderen Seite unvereinbar seien, stimme somit nicht. Richtig verstanden ergänzten beide Weltbilder sich vielmehr. Zwar seien die ganzen rechten Pressekampagnen und deren »narrowminded Jingoism« in der Tat unerträglich, doch stellten diese nur den »false Patriotism« dar. Der »true Patriotism« dagegen »is a love of one's own country [...] which after all is very natural, and on the whole a sound and healthy thing«. Außerdem bilde das Nationsbekenntnis Labours eine notwendige Vorstufe zur Internationalen. Der Patriotismus der Arbeiter im Krieg »is pulling them together from one end of Britain to another, causing them to help each other in a thousand ways«. Daher bedeute »the institution of Patriotism« sogar einen »necessary step« »at the root of Internationalism«, der natürlich das eigentliche Ziel bleibe.263 Auch das demonstrative Bekenntnis der irischen Nationalisten zum britischen Nationalstaat entsprang einer Mischung aus tiefsitzenden Überzeugungen und taktischen Motiven. Zunächst hoffte man, die Pariastellung der Iren in der britischen Gesellschaft zu beseitigen sowie vor allem endlich Home Rule für Irland zu erreichen. Durch das Versprechen der irischen Nationalisten, Großbritannien in seiner großen Bewährungsprobe beizustehen, und durch die Überstellung der paramilitärischen Irish Volunteers an die britische Armee, bewies man - was immer die Unionisten auch behaupten mochten - seine nationale Zuverlässigkeit. Bereits am 3. August hatte John Redmond im Unterhaus erklärt: »It is too much to hope that out of this situation there may spring a result which will be good not merely for the Empire, but good for the future welfare and integrity of the Irish nation?«264 Redmond blieb fest entschlossen, als legitime Gegenleistung für die Beteiligung der irischen Nationalisten an den Kriegsanstrengungen von der Regierung die Erfüllung ihres Home Rule-Versprechens zu erwarten. Bereits im September passierte das Gesetz das Parlament, sollte aber, wie vereinbart, erst nach Kriegsende in Kraft treten. Im Bewusstsein seines historischen Triumphes glaubte Redmond, dass sich die jetzt vor Wut schnaubenden Unionisten mittelfristig auch einer Lösung des offen gehaltenen »Ulster Problems« nicht würden entziehen können, weil ein einzigartiger moralischer Druck von der gemeinsamen Partizipation aller Iren an den Kriegsanstrengungen ausgehe.265 Fern von taktischen Überlegungen aber blieb 262 HE, 4.9.1914, 5. 263 HE, 19.12.1914, 14. Vgl. insges. Tanner, 360-65; Berger, Labour, 18-35. 264 HoC V/ Bd. 65, 1829 (3.8.1914). 265 Nach einem Frontbesuch erklärte er öffentlich: »Let Irishmen come together in the trenches and spill their blood together and I say there is no power on earth that when they come

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die Parteiführung der Nationalisten davon überzeugt, dass der gemeinsam geführte Krieg nicht nur die Chance der Aussöhnung zwischen allen Iren eröffnete, sondern auch die Rolle Irlands als freie Nation innerhalb der Völkerfamilie des Britischen Empires festigen werde. Schließlich kämpften die Iren seit jeher für die Ideale von Freiheit, Ehre und Gerechtigkeit, für die Großbritannien jetzt streite. Bilanziert man die Wirkung der nationalistischen Einheitsutopien und der geweckten großen Erwartungen in Großbritannien, gilt auch hier, dass sich die tatsächlichen und die vermeintlichen Veränderungen der Kriegsgesellschaft auf vielfältige Weise verschränkten. Die geeinte Nation verhieß jedem Briten eine bessere Zukunft und schien gleichzeitig durch den Glauben an sie diese Wünsche wenigstens für den Moment zu erfüllen. Das galt besonders für die von der politischen Macht weitgehend Ausgeschlossenen oder sozial Minderprivilegierten: Die oppositionellen Konservativen witterten nicht nur ihre Chance, sich gegen die ungeliebten Liberalen im Krieg als eigentliche »national party« zu profilieren, sondern vermeinten auch durch die Wirkung des Nationalismus bereits die Wiederherstellung einer besseren Ordnung zu erleben.266 Die Labour Party entdeckte den sozialistischen Wandel des Nationalstaats und eine neue Solidarität zwischen den Klassen. Seit dem Mai 1915 konnte man sogar auf die Beteiligung an der Regierung verweisen. Die irischen Nationalisten hielten es sich zugute, dass ihr Bekenntnis zur britischen Nation ihnen die Verabschiedung des wahrhaft historischen Home-Rule-Gesetzes eingebracht hatte. Die Suffragetten schließlich profitierten von einer am 7. August 1914 erlassenen allgemeinen Amnestie für die von militanten Aktivistinnen verübten Straftaten. Zudem gerieten die Antifeministen durch die zahlreichen karitativen Aktivitäten der Frauenbewegung in eine moralisch prekäre Lage. Insgesamt konnten auch in Großbritannien die verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen gerade vor dem Hintergrund der innenpolitischen Eskalation des Sommers 1914 die Suspendierung politischer und sozialer, konfessioneller und kultureller Barrieren unmittelbar erleben und damit die temporäre, verführerische Realität der Einheitsverheißung in der Nation. Doch die tendenziell von jedem anders bestimmbare Nation sollte im Verlauf des Krieges zu einem immer größeren Herrschaftsproblem werden. Ihre Vieldeutigkeit und die Herstellung der nationalen Einheit auf der Grundlage konfliktträchtiger Exklusion beförderte die heraufziehende innenpolitische Polarisierung. Einer Illusihome can induce them to turn as enemies one upon another«. Zit. n. Boyce, Nationalism, 284. Vgl. insges. Kee, Flag II, 217-29; Tuathaigh, Ireland, 54f.; Boyce, Nationalism, 283-85. 266 Die »Times«, 11.12.1914, 5, etwa widmete der gefallenen Kriminalitätsrate breiten Raum und führte diese segensreiche Entwicklung auf den Patriotismus der »criminal classes« zurück: »The criminal [...] is a patriot«. Auch eine nun einsetzende allgemeine Rückbesinnung auf christliche Werte, war nicht nur den konservativen Gazetten reichlich Druckerschwärze wert. Vgl. Bogacz, Tyranny, 659f.

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on hing man in Großbritannien allerdings seltener nach als in Deutschland. Welche segensreichen Wirkungen der Nationalismus im Krieg auch nach sich ziehen mochte, von Anfang an gab es in England zahlreiche Stimmen, die von einer sehr langen Dauer der Feindseligkeiten ausgingen.267

4. Zweierlei Kriegsausbrüche Der Vielzahl der vor und nach dem August 1914 empfundenen Krisen entsprach in Deutschland und in Großbritannien die Vielzahl der in einer pluralistischen Öffentlichkeit widerstreitenden politischen Lager. Die rivalisierenden »rechten« und »linken«, gouvernementalen und oppositionellen Nationalismen waren Ausdruck dieser Konkurrenz von Interessen und Vorstellungen. Gleichzeitig untermauerten die politischen Akteure durch die Berufung auf die den Einzelinteressen vermeintlich übergeordnete »Nation« ihren öffentlichen Geltungsanspruch. Der Bezug auf die »Nation« stellte daher sowohl ein attraktives Deutungsmuster für eine komplexe und bedrohliche Umwelt als auch eine erfolgversprechende politische Handlungsstrategie der konkurrierenden politischen Lager dar. Besonders unter den Bedingungen des sich seit 1915 abzeichnenden totalen Krieges versprach allein die glaubhafte Berufung auf den »Willen des Volkes« eine hinreichende Herrschafts- und Interessenlegitimation. Das leistete der politische Mehrheiten suggerierende und legitimierende Bezug auf die »Nation« überzeugender noch als der Appell an Klasse oder Konfession. Nur ließ sich so der von der Mehrheit der politischen Akteure erhoffte gesellschaftliche Konsens, die »nationale Einheit«, kaum erreichen. Mit Hilfe des Nationalismus trennte man die Welt scharf in gut und böse und markierte politische Gruppen und Ziele, auf weiche die Aggression hingelenkt werden musste: Wer sich des Nationalismus als eines Kommunikationsmediums bediente, tendierte zu einer verstärkten Wahrnehmung gesellschaftlicher Konflikte. Die bipolar strukturierten nationalistischen Deutungsmuster fixierten stets die Differenzen. Bereits vor, besonders aber ab 1914 erlebten das wilhelminische Deutschland und das edwardianische England einen Kampf der konkurrierenden Nationalismen. Von den Wirkungen des »Augusterlebnisses«, mochte es auch realhistorisch dazu wenig Anlass bieten, versprachen sich die politischen Akteure die Erfüllung ihrer gesellschaftlichen Utopie. Zwar hat die neuere Forschung die von den Zeitgenossen und nachfolgenden Historikern zum »Augusterlebnis« ver267 Vgl. nur NA, 19.9.1914, 861; TI, 16.10.1914, 11; Moore, Croydon, 21; sowie Robbins, Summer, 181.

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klärte Reaktion auf den Kriegsausbruch, nach dem der Nationalismus die Menschen in Deutschland wie in Großbritannien in eine kriegsbegeisterte Ekstase versetzte, eindrucksvoll widerlegt und dagegen die Vielzahl unterschiedlicher und meist abwehrender Verhaltensweisen bei Kriegsausbruch hervorgehoben. Tatsächlich verstärkte die »nationale« Deutung der Mobilisierung die bestehenden Bedrohungsängste, wohingegen dem bürgerlichen Hurrapatriotismus nur eine geringe Reichweite beschieden war. Doch diesen mit allen übrigen Nationalismen gleichzusetzen und auch ihre Wirkung als elitäres Phänomen zu verstehen, ist unzulässig. Denn die entscheidende Frage lautet weder, wer im August 1914 jubelte, noch inwieweit das »Augusterlebnis« als idealtypisches Exempel für die Durchsetzungsmacht eines alle politischen Lager und gesellschaftlichen Gruppen vereinenden Nationalismus begriffen werden kann. Die Destruktion des »Augusterlebnisses« bleibt unbefriedigend, solange verkannt wird, dass die komplexe Stimmung der ersten Augustwochen die Verbreitung nationalistischer Deutungen begünstigte, welche die Anschlussfähigkeit der unterschiedlichsten Interessen und Vorstellungen der politischen Lager, aber auch der Regierung erlaubten. Die Wirkungsweise der Nationalismen lag genau darin, dass die »Illusion« der nationalen Einheit durch die Bedeutungszuschreibung der Zeitgenossen gleich einer »self-fulfilling-prophecy« »Wirklichkeit« erzeugte. Gerade vor dem Hintergrund der innen- und außenpolitischen Eskalation vor und im Sommer 1914 ließ sich die Suspendierung politischer und sozialer, konfessioneller und kultureller Barrieren unmittelbar erleben - und damit die temporäre, verführerische Realität der Einheitsverheißung in der Nation. Das kennzeichnete - ungeachtet der relativ geringeren Breitenwirkung des »Augusterlebnisses« in England - die vorherrschende Erwartungshaltung in beiden Kriegsgesellschaften. Aufgrund gleichartiger Herausforderungen und überaus ähnlicher nationalistischer Vorstellungen ist der unterschiedliche Verlauf der Entwicklung im Krieg vor allem durch den jeweiligen gesellschaftlichen und militärischen Kontext zu erklären. Die realhistorischen Ereignisse vom Sommer 1914 boten eine faszinierende Projektionsfläche: die der inneren Einheit der souveränen Nation. Die uneinheitlichen Einheitsvorstellungen blieben inhaltlich deutungsoffen und versprachen tendenziell jedem politischen Akteur alles. Die Stoßrichtung der nationalistischen Utopien war vor allem innenpolitischer Natur - und das auf eine doppelte Weise: Mit dem deutschen oder dem britischen Nationalstaat verteidigte man die bestehende Ordnung und stritt gleichzeitig für die »gedachte Ordnung« der Nation, die je nach Interessenlage und politischem Standpunkt potentiell von jedem anders gestaltet werden konnte. Für die Regierungen in Berlin und London waren das Bekenntnis zur Nation und der bekundete öffentliche Konfliktverzicht notwendige Bedingungen zur Kriegführung. Mittelfristig ergab sich nur das Problem, welche politischen Gegenleistungen für den geforderten »Burgfrieden« zu erbringen waren. 109 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1

Die Deutungsoffenheit der Nation und die Herstellung der nationalen Einheit auf der Grundlage konfliktträchtiger Exklusion begünstigte von Beginn an die heraufziehende innenpolitische Polarisierung. Der innenpolitische Kampf um die Grenzen des Nationalstaates und um die inhaltliche Bestimmung der Nation entfachte im weiteren Kriegsverlauf die giftigsten politischen Emotionen. Dennoch verband sich mit dem Einsatz des Nationalismus als politischer Waffe stets auch die Hoffnung auf eine ausgleichende Überwölbung der Interessengegensätze. Der ungebrochene Fortbestand dieser Zuversicht entbehrte insofern nicht einer gewissen Ironie, als es ganz wesentlich der Kampf um die Bestimmung dessen war, was denn als »national« gelten sollte, der die innenpolitischen Konflikte beförderte. In dem Maße, in dem Nationalismus von wem auch immer - als Motor gesellschaftlicher Einheit beschworen wurde, wirkte er genau deshalb desintegrierend. Die nationale Gemeinschaftsutopie war in einem totalen Krieg unerfüllbar. Die Einheit der nationalen Sprache, die allseitige Verwendung der gleichen nationalistischen Schlüsselbegriffe (»Volk« oder »Nation«, »people« oder »country«) suggerierte einen weder vorhandenen noch erreichbaren gesellschaftlichen Konsens über die inhaltliche Bestimmung der Nation. Die gemeinsame nationale Sprache wurde in beiden Ländern zu einer Quelle zahlloser Missverständnisse.

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II. Das Fremde und das Eigene. Die Grenzen der Nation »Ich habe nichts gegen Fremde. Einige meiner besten Freunde sind Fremde. Aber diese Fremden da sind nicht von hier«. Methusalix

Jede Nation wird durch Grenzziehungen konstituiert. Das wesentliche Charakteristikum nationalistischer Vorstellungen ist die Handhabung einer herrschaftskonstituierenden Unterscheidung. Bezeichnet man etwas Bestimmtes, wird etwas anderes ausgeschlossen oder abgewertet. Die vom Nationalismus geleistete bipolare Wahrnehmung der Welt operiert mit einer scharfen Trennung von Innen und Außen und mit der »Erfindung« einer die Herrschaftsverhältnisse neu konstruierenden Relation. Die Wahrnehmung der Umwelt mit Hilfe des Nationalismus ist nicht nur das Ergebnis einer gesetzten Differenz, sondern die Herstellung der nationalen Kohäsion bedarf des konflikthaften Momentes der Ausgrenzung. Die Abwertung des Fremden ist im Nationalismus damit von vornherein angelegt. Dieses Denken in Gegensätzen ist fixiert auf den Feind, den man als Zerrbild des Selbstbildes stilisiert und ohne den man sich selber nur schwer erfassen kann. Die Bedeutungszuschreibung und die Auseinandersetzung um das geltende Feindbild ist daher auch eine Definition der Grenzen der eigenen Nation. Wo die Trennlinien zwischen dem Innerem und dem Äußerem der Nation aber gezogen werden, bleibt unbestimmt und von den jeweiligen Akteuren und ihrem Kontext abhängig. Die die Nation konstituierenden Grenzziehungen variieren abhängig von Akteur, Ort und Zeit; sie veranschaulichen daher, dass die Nation und ihre Feinde nicht abschließend definiert, sondern in einem politischen Prozess immer neu ausgehandelt werden. Weil in modernen Gesellschaften das Grundproblem besteht, die Gesamtheit derer zu bestimmen, auf die sich die Nationsbzw, die Staatsangehörigkeit legitim beziehen soll, kann mit Hilfe des Nationalismus und der Berufung auf das Recht zur nationalen Selbstbestimmung dieses normative Vakuum geschlossen werden. Der Erste Weltkrieg veränderte die Formen der nationalistischen Grenzziehungen in Deutschland und in Großbritannien. Die Qualität der Feindschaft und die Art und Reichweite nationalistisch motivierter Ausgrenzung wandelte sich grundlegend unter dem Einfluss des totalen Krieges. Zwar bestand und besteht auch im Frieden generell die Notwendigkeit, die zur »Nati111 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1

on« Zugehörigen und Nichtzugehörigen legitim zu bestimmen. Doch in einem totalen Krieg kam dieser Bestimmung ein ungleich höherer Stellenwert zu. Von der Festsetzung der nationalistischen Grenzziehungen und der Bekämpfung des Feindes schien vor dem Hintergrund der fundamentalen militärischen Bedrohung der Bestand der Nationalstaaten abzuhängen. Nur mit Hilfe der Berufung auf die Nation, die einen dem totalen Krieg entsprechenden absoluten Deutungs- und Legitimationsanspruch erlaubte, war eine weitreichende Neudefinition des Fremden und des Eigenen möglich. In einem ausgebildeten Nationalstaat, der im Krieg stand, konnte man sich nur schwer der Berufung auf die Nation entziehen. Die neue Rolle des Nationalismus bestand darin, durch die Behauptung von »natürlicher« und notwendiger Fremdheit den Grenzen eine fundamentale und vermeintlich unveränderbare Eigenschaft zu verleihen. Die augenfälligste Methode für diese neue Qualität der Feindschaft war ihre Ethnisierung und Biologisierung. Die Belastungen und Umwälzungen des Ersten Weltkriegs begünstigten eine gemessen an der gesellschaftlichen Verbreitung bis dahin weder quantitativ noch qualitativ erreichte Biologisierung, Kriminalisierung und Pathologisierung des Gegners in Deutschland wie in Großbritannien. Die vorgestellte Ordnung der Nation und die realisierte des Nationalstaates sind seit dem 18. Jahrhundert fast überall strukturell mit Kriegen verbunden. Doch wenn man in der Nationalismusforschung zu Recht auf die konstitutive Rolle von Kriegführung und Feindschaft bei der Formation der Nationen und Nationalstaaten verwiesen hat, wird doch oft die politisch destabilisierende und gesellschaftlich dysfunktionale Rolle derselben Prozesse verkannt. Kriege sind mindestens so oft der »Totengräber« wie der »Vater« der Nation. Dieser Befund trifft zumal auf die Wirkungen der Nationalismen im Ersten Weltkrieg zu. Die Interpretation der militärisch-weltanschaulichen Auseinandersetzung durch nationalistische Deutungsmuster schuf auch innenpolitisch eine neue Qualität von Feindschaft. Der totale Antagonismus wurde auf diese Weise im Inneren reproduziert. Mit anderen Worten: Beinahe folgenreicher noch als die Benennung des Eigenen wurde für die Wirkung der Nationalismen die Bestimmung des Fremden. Der Nationalismus wird hier, wie vorn erörtert, als ein Relationsphänomen begriffen. Das bedeutet, dass er nicht für sich genommen, sondern nur durch die Beziehungen zu anderen Faktoren und nur innerhalb von bestimmten Kontexten analysiert werden kann. Im folgenden wird anhand von vier vergleichenden Fallbeispielen verschiedener nationalistischer Grenzziehungen zu zeigen versucht, auf weiche Art und Weise die politischen Akteure das Verhältnis zwischen dem Fremden und dem Eigenen im Ersten Weltkrieg neu bestimmten. Zunächst geht es um das Problem, den jeweiligen »Hauptfeind« der Nation legitim zu benennen. Dabei steht die nationalistische Dialektik von Inklusion und Exklusion im Mittelpunkt des Interesses. Die Herstellung des 112 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1

nationalen Zusammenhaltes setzt die Ausgrenzung der wie auch immer definierten »Feinde der Nation« voraus. Weil aber die »Einheit der Nation« gegen den äußeren Feind nur durch die Bezeichnung von Unterschieden möglich ist und diese nicht wertneutral sein können, spaltet die Feindschaft stets auch die eigene Gesellschaft. Denn die Differenzierungskriterien für nationale Grenzen enthielten politische, soziale und kulturelle Werte, die zumal unter den ungeheuren Belastungen des Weltkrieges umstritten blieben, und die konkurrierende Interessengruppen unter anderem mit Hilfe nationalistischer Deutungen durchzusetzen suchten. Nach der Diskussion der Bedeutung und der Folgen der Ethnisierung der Nationsvorstellungen im zweiten Abschnitt, geht es im dritten um alte und neue Formen der Ausgrenzung nationaler Minderheiten. Die Rolle der polnischen wie der irischen Minderheit bildeten vielleicht das komplizierteste Problem der deutschen und der britischen Gesellschaft, weil deren Fälle ursächlich mit den Grenzen und dem Selbstverständnis der Nationalstaaten verzahnt waren. Der letzte Abschnitt handelt von den divergierenden Vorstellungen zur außenpolitischen Neuordnung. Hier wird zu zeigen sein, wie sich im Zuge der innenpolitischen Auseinandersetzung über die Ziele des Krieges durch die Berufung auf die Nation ein neues inneres Konfliktpotential eröffnete. Am Ende veränderte das als ein Mittel der Kriegführung eingesetzte nationalistische Reden und Handeln die Gründe, aus denen man erklärte, den Krieg zu führen.

1. Grenzziehungen in Deutschland und in Großbritannien a) Wer ist der »Hauptfeind«? Die Anglo- und die Russophobie in Deutschland Ohne Feindschaft lassen sich in der modernen Welt weder Nationen noch Kriege legitimieren. Die Untersuchung von Feindbildern stellt daher ein zentrales Element sowohl der Nationalismus- als auch der Weltkriegsforschung dar.1 Angesichts der inneren Krisen und der Herausforderungen des Weltkriegs herrschte im Untersuchungszeitraum in beiden Ländern eine Hochkonjunktur der Feindbilder, deren gemeinschaftsstiftende Wirkung unbestritten erscheint. Wenn der Nationalismus überhaupt etwas leistete, verband er ganz offenbar die Menschen gegen die gefährliche Bedrohung von außen. Doch obwohl in beinahe jedem Handbuch zum Ersten Weltkrieg und in ungezählten 1 Vgl. Jeismann, Vaterland; Colley, Britons; Stibbe, Anglophobia; Richter, Nation, 104-11; Imhof, Nationalismus, 327-57.

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zeitgenössischen Leitartikeln und Pamphleten ein umfassendes Zusammengehörigkeitsgefühl aller Deutschen gegen den äußeren Feind behauptet wird, ist diese Interpretation des Nationalismus als reine Integrationsideologie tatsächlich sehr fraglich. Denn so sehr der politische Zusammenhalt sich auch in einer lager- und klassenübergreifenden Solidarität gegen den äußeren Feind vollzog, blieb das Feindbild umstritten, und unterschiedliche politische Lager konzentrierten ihre Abneigung auf unterschiedliche Aspekte des Feindbildes, ja, auf verschiedene Feinde. Da unter den Rahmenbedingungen des »Burgfriedens« die nach wie vor weiter bestehenden massiven Interessengegensätze am leichtesten mit Hilfe der nationalistischen Einheitsrhetorik ausgetragen werden konnten, avancierten äußere Feindbilder oft zu Symbolen innerer Konflikte. Vor allem Großbritannien und Russland stellten die Hauptmetaphern für die innenpolitische Feindschaft der politischen Lager im Kaiserreich dar. Großbritannien symbolisierte den Hass der Konservativen auf den rapiden gesellschaftlichen Wandel, Russland die Abscheu von Sozialdemokraten und Liberalen vor autokratischer Herrschaft. Die Übertragung gesellschaftlicher Konflikte auf äußere Feinde übersetzte komplizierte Sachverhalte in bekannte Kategorien und in eine verständliche Sprache.2 Mit Hilfe der nach dem Kriegsausbruch zur Verfügung stehenden Denkfigur vom Kampf auf Leben und Tod gegen den äußeren Feind wurden aber die alten Spannungen der Vorkriegszeit nicht nur reproduziert, sondern durch die Übertragung der nationalistischen Feindtypisierung auf den innenpolitischen Gegner noch entscheidend verstärkt. Der Feindschaftsdiskurs, der Kampf um politische Macht anhand konkurrierender Feindbilder, stellte somit eine immer wieder aktualisierbare Quelle von Konflikten dar, durch den man tendenziell jeden innenpolitischen Gegner als Verräter und Feind in den eigenen Reihen aus der Nation ausgrenzen konnte. Es greift folglich zu kurz, das Gefahrenpotential der Nationalismen nur darin zu sehen, dass sie die Feindschaft zwischen den Staaten und Völkern kreieren und perpetuieren. Ebenso relevant ist die vom Nationalismus ausgehende Dynamik der innenpolitischen Spaltung. Der Nationalismus grenzt nach innen ebenso scharf ab wie nach außen. Das soll zunächst anhand der Debatte über Deutschlands »Hauptfeind« und darauf anhand der Rolle der Feindschaft in Großbritannien verdeutlicht werden. An äußeren Feinden mangelte es dem Deutschen Reich nicht. Auf die Kriegserklärung von Russland und Frankreich folgte die von Großbritannien, später von Japan und Italien. Trotz dieser Überfülle an Gegnern schien für die selbsternannten bildungsbürgerlichen Meinungsführer von Anfang an klar zu sein, wer der »Hauptfeind« Deutschlands war: England. Gerade da man sich den Briten vor Ausbruch des Weltkrieges am relativ nächsten geglaubt hatte, 2 Vgl. zum Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität Flohr, Feindbilder, 114-17

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schlug die enttäuschte Hassliebe zu England nun in blanken Hass um. Entsetzt und betäubt, wie er selbst einräumte, wetterte der Zoologe Ernst Haeckel, England habe mit der Kriegserklärung an Deutschland »die Blutschuld des größten Verbrechens auf sich geladen, welches jemals die Menschheit erlebt hat«.3 Öffentlich gestanden namhafte Gelehrte ein, wahren Hass nicht gegen Frankreich oder Russland, sondern allein gegen England zu hegen.4 Vor allem die Verfasser der »Ideen von 1914« überhöhten den deutsch-englischen Gegensatz ins Prinzipielle, eine Neigung, die sie bei keinem anderen der deutschen Gegner so hemmungslos umsetzten.5 Denn die Ursache für Englands offenbar planmäßige Einkreisungs- und Kriegspolitik glaubten auch weite Teile der bürgerlichen Presse letztlich in seinem sinistrem, unwandelbarem Nationalcharakter entdecken zu können, der einer Verständigung mit Deutschland prinzipiell im Wege stehe.6 Da die zivilisatorischen Leistungen der Briten schwerlich bestritten werden konnten, bot sich zur Erklärung der Kriegsursache die Reduzierung ihres Verhaltens auf einen »natürlichen« Nationalcharakter an. Eine direkte Folge dieses nationalistischen Mechanismus war, sich der Semantik des Verrats zu bedienen. Der unablässig strapazierte Topos vom »perfiden Albion« verwischte glaubhaft die Grenze zwischen dem Vertrauten und ehemals Zugehörigem und dem inzwischen Fremden und Feindlichen.7 So bestand auch kein Zweifel hinsichtlich des Motivs, das diesen Feind gegen die »stammverwandte« deutsche Nation trieb: Neid. In unzähligen Wendungen variierten die Presse und die Professoren akribisch das Thema von »Hass und Neid schmähsüchtiger Geschäftskonkurrenz«.8 Das »perfide Albion« ertrage demnach den Aufstieg und die Leistungen des neuen Deutschen Reiches nicht mehr und suche sich aus reiner Profitgier seinen Rivalen vom Hals zu schaffen. Die eigentliche Kriegsursache sei »der Neid des hochmütigen, alternden Weltreiches auf jugendfrisch vorwärtsstrebende Kraft«.9 Der Neid des Engländers wurzele 3 Haeckel, Blutschuld, 66. 4 Expliziter Hass etwa bei O. Meyer, Schuld, 5; Keller, England, 3f.; sowie Sombart, Händler, passim. Vgl. Schenk, Rivalität. 5 Hans Delbrück etwa, PJB 158 (1914), 113, bescheinigte den Franzosen in scharfer Abgrenzung von den Engländern noch »als die am meisten Gleichwertigen und Gleichberechtigten« in den Augen der Deutschen dazustehen. Zu diesem Standard-Topos vgl. Roethe, Wir Deutschen, 24f.; Haeckel, Blutschuld, 63-65; Daenell, Kriege, 11f.; Keller, England, 4; O. Meyer, Schuld, 5; Wilamowitz, Krieges Anfang, 7; und insges. Schwabe, Wissenschaft, 31, 290; Jansen, Professoren, 122-25; Fälschle, Rivalität, 118-24. 6 Vgl. zum brit. Nationalcharakter etwa KLZ (MI), 29.9.1914, 1; ADB, 5.9.1914,326f; RWZ (M), 16.4.1915, 1; sowie Reimann, Krieg, 171-76; Dibelius, England, 6f.; McClelland, Historians, 207. 7 Vgl. Imhof, Nationalismus, 339. 8 Troeltsch, Deutscher Glaube, 7. Vgl. Raithel, Wunder, 335f. 9 Roethe, Wir Deutschen, 25. Vgl. zu diesem Leitmotiv u.a. KLZ (MI), 29.9.1914, 1; BT (A), 2.11.1914, l f; RWZ (M), 16.4.1915, 1; Daenell, Kriege, 10-15; Wilamowitz, Krieges Anfang, 7f; Dibelius, England, 3f; Wundt, in: IMW 9 (1914/15), 124-26; Hintze, Weltherrschaftspläne, 7; sowie Hoover, God, 57ff.

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wiederum in seinem krämerhaften Nationalcharakter, der nur nach Nützlichkeit und kommerziellem Gewinn strebe. Auch wenn die meisten nicht so weit gingen wie der Nationalökonom Werner Sombart, der in seiner gleichnamigen Schrift den englisch-deutschen Krieg auf das Ringen der Archetypen »Händler und Helden« reduzierte, zog sich doch der Topos vom Fundamentalkonflikt durch die Kommentare der bürgerlichen Presse.10 Den Krieg gegen England stilisierte man immer wieder als Kampf auf Leben und Tod, der nicht in einem Interessenausgleich auf dem Verhandlungswege, sondern nur durch die Vernichtung eines der Kombattanten beendet werden könne. Nationalistische Deutungsmuster begünstigten kompromisslose Urteile im Stile des »entweder-oder«: »Darum steht der Bruderkampfjetzt unausweichlich zwischen uns und England. Und Friede kann nicht sein, bis ein Volk die Todeswunde empfangen hat. - Wir aber wollen und müssen kämpfen bis wir siegen oder untergehen. Das ist das bitterste an diesem Kampf, dass wir von Lebensnot gezwungen, Blutsgenossen austilgen müssen«.11 Die Konzentration des nationalen Hasses auf England kennzeichnete in erster Linie die Stimmung im konservativen Lager, auch wenn Teile der SPD dem Krieg gegen Großbritannien eine antikapitalistische Stoßrichtung verliehen und sich besonders über die sozialen Folgen der englischen Seeblockade empörten.12 In Gestalt des englischen Feindbildes externalisierten die Konservativen ihre Abscheu vor den Auswirkungen des sozialen Wandels und vor allem vor der Industrialisierung. England verkörperte die ökonomische Modernisierung, weshalb man seine Politik als »krämerhaft« diffamierte.13 In München etwa entstand noch 1916 ein von der neuen Rechten dominierter »Volksausschuss für die rasche Niederkämpfung Englands« mit über 20.000 Mitgliedern. Ihm gehörten Reichs- und Landtagsabgeordnete, Unternehmer, aber auch kleinere Beamte und Selbständige an. In seinen Anzeigenkampagnen warnte der Verband eindringlich vor den Gefahren, die von einem unbesiegten England drohten. Der amerikanische Botschafter in Deutschland james W Gerard, zeigte sich bestürzt über die alltägliche Verbreitung der Phrase »Gott strafe England!« An Front und Heimatfront erfreute sich diese Formel als Gruß und der Gegengruß »Er strafe es!« großer Beliebtheit. In dieser Atmosphäre schrieb 10 Vgl. Sombart, Händler, 66ff. und passim; NPZ (A), 13.4.1915, 1; E. Meyer, England, 23; Oncken, Abrechnung, 17f. 11 ADB, 5.9.1914, 327. Vgl. KLZ (A), 30.10.1914, 11; RWZ (M), 4.11.1914, 1; ADB, 13.2.1915, 49. Vgl. Stibbe, Anglophobia, 72-79, 172-77. 12 Der »Vorwärts«, 24.11.1914, 2, kam zum »Ergebnis, das die Arbeiter und Arbeiterinnen in großem Maße von einem leidenschaftliche Hasse gegen England frei sind«. Entsprechend urteilen etwa Groh/Brandt, Gesellen, 164f. Vgl. aber SMH 21 (1915), 789-97; Kruse, Krieg, 127f; Raithel, Wunder, 337-39. 13 Vgl. Kehr, Englandhass, bes. 152-57; Lücke, Vatcrlandspartei, 193-95; Welch, Propaganda, 58-64, und den offenen Hass bei Westarp, Politik, 31.

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Ernst Lissauer seinen berüchtigten »Hassgesang gegen England«, das mit Abstand am weitesten verbreitete Gedicht des Ersten Weltkriegs.14 Die unbedingte Frontstellung gegen alles Englische wurde durch die nationalistische Sprache nicht nur symbolisiert, sondern mitverursacht. Die im Englanddiskurs der bürgerlichen Öffentlichkeit verwendeten Kollektivsymbole spezifizierten den nationalen Charakter des Feindes und konstituierten in Abgrenzung davon die eigene nationale Identität. Beliebte Analogien waren etwa, England mit dem Wasser, Deutschland mit dem Lande und den Krieg mit Naturereignissen (Gewitter, Sturm, Flut) zu assoziieren. Sobald aber der deutschenglische Gegensatz und der Krieg den Charakter gleichsam natürlicher Phänomene erhielten, war es bestenfalls sinnlos, eher verwerflich, deren Notwendigkeit zu bezweifeln. Indem die englische Nation durchgehend mit Antitypen zu den eigenen Symbolen belegt wurde, erhöhte das die Wahrscheinlichkeit, den Krieg als die Auseinandersetzung zweier unvereinbarer nationaler Prinzipien zu deuten, so dass kaum Raum für legitime Differenzen blieb: »Wir hassen in den Engländern das unserem innersten und höchsten Wesen feindliche Prinzip«.15 Die wichtigsten Kontraste bildeten britische Äußerlichkeit gegenüber deutscher Innerlichkeit, Krämer kontra Krieger, Masse gegen Organismus. Diese Dichotomisierung verschärfte sich bis hin zur Personifizierung des englischen Feindes mit den Mächten der Finsternis. »Dort ist der eigentlich treibende böse Geist, der diesen Krieg emporgerufen hat aus der Hölle, der Geist des Neides und der Geist der Heuchelei«.16 Doch so unbestritten der Englandhass ein Leitmotiv öffentlicher Debatten war und blieb, stand ihm doch mit Russland ein mächtiges konkurrierendes Feindbild gegenüber. Die in der Literatur verbreitete Auffassung, wonach sich noch im Laufe des Augusts 1914 eine Verschiebung »von der Russlandfeindschaft zum Englandhass«17 vollzogen habe, hält einer kritischen Überprüfung kaum stand. Zwar meinte Loebell in seinem Stimmungsbericht an Bethmann Hollweg, schon Ende September zu entdecken, »wie der heiße Hass 14 Vgl. zum bayerischen Volksausschuss Stibbc, Anglophobia; 148-57; Kestler, Auslandsaufklärung, 268; Vogt, Radikalisierung, 205; sowie Gerard, Years, 220-32, und zu Lissauer: Zweig, Welt, 272-75; sowie Farrar, Illusion, 103-5. 15 Werner Sombart im BT (A), 2.11.1914, 2. 16 Wilamowitz, Krieges Anfang, 7. Anschauliche Gegenüberstellungen von Nationalstereotypcn etwa bei Sombart, Händler, 16; Dibelius, England, 16f. Vgl. zur Sprache Gerhard/Link, Kollektivsymbolik, 20-39; Olt, Krieg, 119-29; Jansen, Professoren, 127-31; Vondung, Weltgericht, 66f, 78f; ders., Apokalypse, 189-207. 17 Jahr, Krämervolk, 121. Vgl. Stibbe, Anglophobia, 12-22. Entsprechend urteilt Ullrich, Arbeiterbewegung, 163, die sozialdemokratische Presse in Hamburg habe »distanzlos die neue regicrungsamtliche Sprachregelung, wonach England zum ›Hauptfeind‹ erklärt wurde« übernommen. Vgl. Boll, Massenbewegungen, 161. Diese Arbeiten laufen Gefahr, der regierungsamtlichen Sprachregelung vom einheitlichen englischen Hauptfeind aufzusitzen. Differenzierter hingegen Raithel, Wunder, 327-45.

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der Nation, der anfangs Russland galt, sich Zug um Zug umgeschaltet hat gegen England«.18 Doch ist dieses Urteil unter den genannten Vorbehalt gegen offizielle Stimmungsberichte zu stellen, zumal Loebell selber präzisierte, dass die Verlagerung der politischen Auseinandersetzung gegen England »fast die gesamte bürgerliche (!) Presse« erfasst habe.19 Selbstredend glaubte auch Werner Sombart im »Berliner Tageblatt«, dass sich »bei neun Zehntel aller, [...] die deutsch empfinden [...] eine Übereinstimmung in der gefühlsmäßigen Bewertung unserer Feinde« ergeben werde. »Darin kann sich niemand täuschen, dass das ganze deutsche Volk vom letzten Droschkenkutscher bis zum obersten Reichsbeamten von einem einmütigen, flammenden Hasse gegen England erfüllt ist. Wir empfinden England als den Feind.« Doch bereits die Redaktion des »Berliner Tageblattes« widersprach ihm energisch und versah seinen Artikel mit einem Zusatz, in dem es hieß: »In der Schwächung Russlands sehen wir für unser Teil das notwendige Endziel des Krieges«.20 Schon unmittelbar nach Kriegsausbruch, und dann wieder verstärkt seit der Jahreswende 1914/15, galt Russland in Teilen der bürgerlichen, vor allem aber in der sozialdemokratischen und linksliberalen Öffentlichkeit als Urheber des Krieges und als Deutschlands gefährlichster Feind. Die Russlandfeindschaft in Deutschland stammte aus drei sich überlagernden Motiven: Aus einer antiautokratischen Perspektive im sozialdemokratischen und linksliberalen, aus einer religiösen im katholischen sowie aus einer rassistischen im konservativen Lager. Vor allem für die Presse der Arbeiterbewegung, aber auch für viele Liberale war ausschlaggebend, dass der Krieg gegen Russland geführt wurde, dessen zaristisches Regime gerade die SPD als letzte Bastion der Reaktion und der Autokratie verachtete. »Als der Krieg ausbrach«, schrieb der »Vorwärts«, »hieß die Losung: Kampf gegen den Zarismus. Diese Losung war es, die den Krieg auch solchen unvermeidlich erscheinen ließ, die Gegner des Krieges sind«.21 Tatsächlich begründete Hugo Haase im Auftrag der sozialdemokratischen Fraktion im Reichstag am 4. August 1914 ihre Haltung mit der Notwendigkeit, Deutschland gegen den »russischen Despotismus« zu verteidigen.22 In einer internen Sitzung der Fraktion am 29. November erklärte Eduard Bernstein unter der Zustimmung seiner Genossen: »Der Kampf gilt allen unseren Angreifern, aber doch in der Hauptsache Russland. [...] Wir müssen Garantien von der Regierung verlangen, dass der Verteidigungskampf des deutschen Vol18 BA R43 2437/c, B1.164 (30.9.1914). 19 Ebd., Bl. 166. Vgl. Nicolai, Nachrichtendienst, 154: »In der ersten Begeisterung war nichts von England zu hören«. 20 BT (A), 2.11.1914, 1 (Herv. i. Ong). Vgl. den Spott über Sombarts Buch in FZ (l.M), 11.4.1915, l f. 21 VO, 25.8.1914, 1. Entsprechend das linkshberale BT (A), 12.4.1915, 1, und selbst die nationalliberale KLZ (MI), 26.8.1914, 2. Vgl. zur Verbreitung der Russlandfeindschaft, Kestler, Auslandsaufklärung, 184-208; Matthias, Sozialdemokratie, 3-9. 22 Vgl. Sten. Ber. RT, Bd. 306, 9.

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kes in der Hauptsache auf die Besiegung Russlands gerichtet ist«.23 Denn die Arbeiterbewegung müsse, wie Bernstein in der Artikelserie »Abrechnung mit Russland« im »Vorwärts« schrieb, einen friedlichen Ausgleich mit den westlichen Nationen suchen. Das in der Sozialdemokratie verankerte Nationskonzept begünstigte seine Forderung, den Krieg als demokratischen Befreiungskampf nach dem Vorbild der französischen Revolutionsarmeen, gestützt auf die »Volkssympathien«, zu führen: »Ein demokratisches Deutschland würde den Krieg nach Osten revolutionär führen. Es würde die von Russland unterdrückten Nationen zum Widerstand gegen dieses aufrufen«.24 Zwar galt dieser Freiheitskrieg zunächst der Rettung der unterdrückten Völker Osteuropas, doch sollte diese Vorstellung noch weitreichende innenpolitische Auswirkungen nach sich ziehen. Auch große Teile des politischen Katholizismus erblicken in Russland die zentrale Bedrohung ihrer religiösen und politischen Freiheit. »Dem Katholizismus in ganz Westeuropa tritt sein gefährlichster Feind entgegen als der gewalttätige Russe«, hieß es in einem Memorandum deutscher Katholiken am 2. September 1914, »der seit Jahrhunderten die polnischen Katholiken mit den brutalen Mitteln der Gewalt von der Kirche gerissen hat«.25 Im konservativen Lager machte man zwar aus seiner dominierenden Englandfeindschaft nie ein Hehl, empörte sich aber gleichwohl über den Zaren, der »die halbasiatischen Horden der Kosaken über die deutsche Grenze« hetze.26 Die rassistische und biologistische Diffamierung des russischen Gegners kennzeichnete vor allem die Debatte in der radikalen Rechten, die ihrem Postulat des »Rassekrieges« gemäß den Krieg gegen Russland zum Entscheidungskampf der »Germanen« gegen die »Slaven« stilisierte.27 Im Deutschen Kaiserreich bestanden mithin wenigstens zwei gegensätzliche Feindbilder. Damit fehlte in Deutschland nicht nur für die zahllosen verachteten Aspekte der feindlichen Nationen ein bündelnder Oberbegriff28 Es fehlte ein einheitlicher Feind. »Die Volksstimmung litt«, urteilte der Leiter der Presseabteilung im Generalstab, Oberstleutnant Walther Nicolai, rückblickend, »schon ehe sie sich in der Hand des Feindes und in der gewissenloser Parteimänner dazu verstieg, den Feind im eigenen Land zu suchen, von Kriegsanfang an unter der Unklarheit, welches der Feind Deutschlands sei«.29 In der politi23 BAR43 1395/i, Bl.50. (Geheimprotokoll von Polizeipräsident v.Jagow an den Reichskanzler). 24 VO, 28.8.1914,3. Vgl. zur Vorstellung von einem demokratischen Deutschland als Befreier der unterdrückten Nationen VO, 25.8.1914, 1; sowie Bernsteins Artikel im VO.26.8.1914, l;VO, 27.8.1914,3. 25 GE(A), 2.9.1914, 1. Vgl. KV (A), 3.8.1914, 1; KV (M), 19.8.1914, 1. 26 RWZ, 2.8.1914, 1. Vgl. auch Kapitel II.2.a. 27 Vgl. bes. ADB, 1.8.1914, 277f; ADB, 24.12.1914, 457f. 28 Diese Interpretation von Jeismann, Vaterland, 334, greift zu kurz. 29 Nicolai, Nachrichtendienst, 154.

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schen Öffentlichkeit konnte im Laufe des Krieges kein Konsens darüber verloren gehen, wen man denn nun als »Hauptfeind« zu betrachten habe30, weil es streng genommen nie einen gab. Ebenso unzutreffend ist daher Aribert Reimanns Vermutung, im sozialdemokratischen, katholischen und liberalen Lager habe man sukzessive die konservative Englandfeindschaft übernommen und durch die Adaption von Feindbildern innenpolitische Einigkeit erreicht.31 Auch wenn die katholische oder die sozialdemokratische Presse hin und wieder auf die Englandfeindschaft rekurrierte, stiftete das noch lange kein Einvernehmen über die Grenzen der deutschen Nation oder über die Richtlinien der inneren und äußeren Politik. Tatsächlich traf eher das Gegenteil zu. Die äußeren Feindbilder desintegrierten die Kriegsgesellschaft ebenso sehr, wie sie diese einten. Eben weil die »Einheit der Nation« gegen den äußeren Feind nur durch die Bezeichnung von Unterschieden möglich war und diese nicht wertneutral sein konnten, spaltete die Feindschaft. Zu diesem strukturellen Moment traten die durch den Weltkrieg ausgelösten politischen Verwerfungen. In dem Maße, in dem der Krieg die innenpolitischen Konfliktlinien der Vorkriegszeit ungeachtet aller nationalistischen Einheitshoffnungen massiv verschärfte, wurde mit Hilfe der äußeren Feindbilder der Burgfriede zerstört. Der Kampf um den äußeren »Hauptfeind« avancierte zu einem innenpolitischen Stellvertreterkrieg. »Der tiefe Gegensatz im deutschen Volke, der sich schon bald nach Ausbruch des Krieges bemerklich machte«, schrieb der Herausgeber der »Preußischen Jahrbücher«, der Berliner Historiker Hans Delbrück, 1916, »zeigt sich gegenwärtig in der Form einer Diskussion, wer von unseren Gegnern als der schlimmste, als der Hauptfeind anzusehen sei«.32 Bereits seit dem August 1914 hatten Sozialdemokraten und Linksliberale nicht zuletzt aus taktischen Motiven immer wieder gegen die regierungsamtliche und konservative Presse den Primat der Russlandfeindschaft betont, weil »man durch den Hinzutritt Englands zu den kriegführenden Ententemächten den Hass künstlich gegen England geschürt« habe.33 Gerade die Sozialdemokratie fürchtete die Instrumentalisierung der Englandfeindschaft durch reaktionäre Kreise, zumal »die freiheitlich organisierten und geleiteten Staaten das eigentliche Ziel des Kampfes seien«.34 Auch namhafte Vertreter der Linksliberalen, voran Theodor Wolffs 30 So Raithel, Wunder, 345. 31 Reimann, Krieg, bes. 170-73. 32 PJB 166 (1916), 163. Entsprechend, Westarp, Politik, 27: »Eine der Folgen des Unterschiedes zwischen den grundsätzlichen Auffassungen war, dass in der öffentlichen Erörterung die Frage einen breiten Raum einnahm, wer der Hauptfeind sei, England oder Russland«. Vgl. Sieferle, Gegensatz, 141 f. 33 Bernstein in der Sitzung der SPD Fraktion am 29.11.1914, BA R43 1395/i, B1.49. Vgl. Raithel, Wunder, 332. 34 Eduard David im Gespräch mit Clemens v. Delbrück am 24.8.1914, BA R43 1395/i, Β1.21. Vgl. David, Kriegstagebuch, 23. Entsprechend der VO, 25.8.1914, 1; VO, 6.11.1914, 7. I nnen-

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»Berliner Tageblatt«, werteten von Anfang an die Russlandfeindschaft gezielt gegen die Englandfeindschaft auf.35 Selbst in der konservativen Partei war es Anfang September 1914 kurzzeitig zum offenen Streit um den »Hauptfeind« gekommen, als der baltendeutsche Historiker Theodor Schiemann im Leitartikel der »Kreuz-Zeitung« die Möglichkeit einer »Verständigung mit England« ansprach.36 Graf Kuno Westarp sorgte fortan dafür, dass Schiemann nie wieder Artikel für das Parteiorgan der konservativen Partei verfasste. Im April 1915 kam es dann zum offenen Konflikt. Theodor Wolff unterstellte in seinem Leitartikel vom 12. April »konservativen Kreisen« die Absicht, »die etwas akademische Frage, wer [...] der ›Hauptfeind‹ unter unseren Feinden sei«, für ihre Interessen zu missbrauchen. »Der Gedanke, dass es für uns irgendeine Gefahr gebe, die größer sein könne als die russische, verträgt eine nüchterne Prüfung nicht«.37 Dahinter stand die hier noch unausgesprochene Überzeugung, dass die Rechten die verbreitete Russophobie ab- und die Anglophobie aufwerteten, nicht allein, um die demokratischen Errungenschaften Englands zu diffamieren, sondern vor allem, um so die Liberalen und die Sozialdemokraten in Deutschland zu treffen. Fortan kontrastierte die Presse der Arbeiterbewegung die unterstellten taktischen Motive der Konservativen mit dem eigenen, selbstredend im Interesse des »Volkes« stehenden Handeln. »Wider den Zarismus!«, assistierte der »Vorwärts« am nächsten Tag, »das war das Wort, das das ganze Volk zusammenschweißte. Stände am Ende des Krieges ein Bündnis mit dem Zarismus, so müsste ein Riss durch unser Volk gehen«.38 Und einige Tage später druckte das sozialdemokratische Parteiorgan einen Artikel des »Hamburger Echos« nach, in dem es hieß: »Das ist überhaupt das Kennzeichen des Volkswillens, dass der Zarismus getroffen werden muss«.39 Dadurch dass die Sozialdemokratie ihre Russlandfeindschaft mit dem Willen des Volkes legitimierte, grenzte sie implizit den politischen Gegner und seine Position aus der deutschen Nation aus. Die preußischen Konservativen erschienen daher als vermeintliche Verbündete Russlands, ebenso reaktionär und letztlich undeutsch wie diese. Da man zudem die Russlandfeindschaft zum eigentlich einigenden Band des deutschen Volkes erhob, war es ein Leichtes, den auf den Primat der Englandfeindschaft beharrenden Konservativen Verrat an der minister Locbell konnte in dieser Haltung nur »plumpe parteipolitische Propaganda der sozialdemokratischen Presse für einen gleichsam sozialdemokratischen Rachekrieg wider den Zarismus« erkennen. BA R43 2437/c B1.165 (30.9.1914). 35 Das veranlasste Loebell in seinem Stimmungsbericht vom 3.11.1914 zu einer antisemitisch garnierten Spitze, indem er »namhaften Berliner Juden« unterstellte, »im Hinblick auf die Lage der russischen Juden eine antirussische Strömung [zu] erwecken [...], die der allgemeinen deutschen antienglischen begegnen soll«. BA R43 2437/d, B1.13. 36 NPZ (M), 2.9.1914, 1. Vgl. Westarp, Politik, 34f. 37 BT(A), 12.4.1915, 1. 38 VO, 13.4.1915, 1f. 39 VO, 18.4.1915,5.

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Einheitsverheißung der Nation vorzuwerfen. Diese Auffassung brachte später der sozialdemokratische Abgeordnete Heinrich Ströbel, im Preußischen Abgeordnetenhaus [PAH] auf den Punkt: »Es ist nur zu gut bekannt, [...] dass die Konservativen auch in Zukunft besonders innige, freundnachbarschaftliche Beziehungen zum Zarismus unterhalten möchten, dass sie einen Sonderfrieden mit Russland anstreben. Und mit welchen Hinterabsichten? Um sich desto schroffer von den freiheitlichen Weststaaten abzuwenden, [...] um mittels einer reaktionären heiligen Allianz auch die reaktionären Zustände PreußenDeutschlands konservieren zu können«.40 Die Presse des konservativen Lagers nahm den Fehdehandschuh auf Selbstredend betonte die »Kreuz-Zeitung« weiterhin die Notwendigkeit des deutschenglischen Gegensatzes. Vor allem aber erkannte sie die Brisanz der gegnerischen Vorwürfe richtig, wenn sie vor der »Hineintragung solcher innerpolitischer Gesichtspunkte« in die Debatte über den Hauptfeind warnte.41 GrafWestarp sah, »dass die demokratische und sozialdemokratische Presse den deutschen Absolutismus und Militarismus, das deutsche Junkertum und die deutsche Reaktion in unliebsamen Gegensatz zu der vorbildlichen westlichangelsächsischen Lebens- und Staatsform« stellte, und beeilte sich in seinem Leitartikel am 18. April den Glauben an jede Vorliebe der Konservativen für Russland zu zerstreuen. Es sei vollkommen unzutreffend, »dass wir in reaktionären Gelüsten vorzeitigen Friedensverhandlungen oder einen schwächlichen Frieden mit Russland das Wort redeten, weil wir in einem Freundschaftsverhältnis mit dem absolutistischen Russland eine Gegenwehr gegen den Einfluss der demokratischen Westmächte auf unsre innenpolitischen Verhältnisse erblickten«.42 Offenbar barg der implizite Vorwurf gegen die Konservativen, die kämpfende Nation zu verraten, eine solche Sprengkraft, dass Westarp zum einen konzidierte, dass es eigentlich keine Rangordnung zwischen Russland, England oder Frankreich gebe. Zum anderen berief auch er sich auf »unser Volk« und namentlich auf die Stimmung »bei unsern Kriegern«, um die Verbreitung und Berechtigung der Englandfeindschaft zu legitimieren.43 Vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung um den »Hauptfeind« scheinen die Feindbilder die deutsche Kriegsgesellschaft ebenso gespalten wie integriert zu haben. Immerhin verhalfen sie den konkurrierenden Parteien und Gruppen dazu, sich voneinander abzugrenzen und ihre jeweiligen Interessen zu artikulieren. Das stärkte zwar ihren Zusammenhalt, doch innerhalb der Gesamtgesellschaft vergrößerte der Kampf um den »richtigen« Feind die bestehenden Verwerfungen zwischen den politischen Lagern. Der Begriff des »Hauptfeindes« bildete fortab eine immer wieder aktualisierbare Metapher im 40 41 42 43

Stcn. Ber. PAH, 2409 (20.11.1916). NPZ(A), 13.4.1915, 1. Westarp. Politik, 28; NPZ (M), 18.4.1915, 1. Ebd. Vgl. zur konservativen Gegenwehr auch ADB, 3.10.1914, 350-54.

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innenpolitischen Kampf.44 Der »Hauptfeind« stellte eine nicht beliebig, aber immer wieder anders zu interpretierende Projektion dar, deren Spitze zunehmend nicht auf den außen-, sondern auf den innenpolitischen Gegner zielte. Bereits im Mai 1915 veröffentlichte Karl Liebknecht einen Aufruf der »Gruppe Internationale« unter dem Titel: »Der Hauptfeind steht im eigenen Land!« Darin warf er den herrschenden Eliten erbittert vor, einen militaristischen Angriffskrieg auf Kosten der ausgebeuteten Bevölkerung zu führen. Inzwischen aber seien die »schillernden Seifenblasen der Demagogie« und »die Narrenträume des August verflogen«. Nun sei klar: »Der Hauptfeind des deutschen Volkes steht in Deutschland!« Liebknecht glaubte sich »eins mit dem deutschen Volk« im Kampf gegen die politische Unterdrückung zu wissen und forderte »alles für das deutsche Volk«.45 Auch und gerade die radikale Linke legitimierte ihre Haltung mit dem Willen des Volkes und benötigte für den uneingelösten Verheißungscharakter ihrer sozialistischen Nationsvorstellung das Feindbild der kaiserlichen Regierung und der alten Eliten als Kontrastfolie. Von der nationalistisch motivierten Feindschaft gingen gleichzeitig stabilisierende und spannungstreibende Wirkungen aus. In Anbetracht der sich massiv verschärfenden politischen, sozialen und ökonomischen Konflikte avancierte der »Hauptfeind« zu einer Chiffre im innenpolitischen Stellvertreterkrieg. Unter dem Vorzeichen des Burgfriedens bildete die nationalistische Sprache eine der wenigen Möglichkeiten, die schwelenden Interessengegensätze legitim auszutragen. Durch den Hass auf den Feind der Nation war daher der Gegner in den eigenen Reihen am ehesten zu treffen. Gleichzeitig fixierte sich jedes politische Lager auch auf einen äußeren Negativpart, um damit die Bedeutung seiner jeweiligen Werte innerhalb der Nation deutlich zu machen. Wenn es dabei gelang, die Negativeigenschaften des äußeren Feindes auf den inneren Gegner zu übertragen, konnte potentiell jedermann - streikende Arbeiter und Kriegsgewinnler, »nationale« Minderheiten und Annexionisten - aus der Nation ausgegrenzt werden. Diese Identifikation war nicht beliebig vorzunehmen, sie musste plausibel und anschlussfähig an bestehende Vorstellungen sein, um in einer Mischung aus Taktik und Überzeugung die Umwelt zu ordnen.46 Der entdeckte Feind in den eigenen Reihen avancierte dann zum gefährlichsten aller Feinde.

44 Vgl. BZ, 16.4.1915, 3; PJB 166 (1916), 163-67. 45 Vgl. Liebknechts Flugschrift zusammen mit einem Bericht Loebells an Bethmann über deren Verbreitung in BA R43 1395/j, Bl.97-99 (24.6.1915). 46 Vgl. O. Müller, Gemeinschaft; Hahn, Konstruktion, 140-42; Flohr, Feindbilder, 50-55.

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b) Ein idealer Feind? Zur Rolle des deutschen Feindbildes in Großbritannien Am 7. Mai 1915 sank die »Lusitania« nach der Torpedierung durch das deutsche Tauchboot U 20 vor der irischen Küste. Für 1195 Männer, Frauen und Kinder -192 Amerikaner unter ihnen - kam jede Hilfe zu spät. Vom nächsten Morgen ab beherrschte die Nachricht von der Versenkung des Passagierschiffes die Schlagzeilen der fassungslosen Presse. Zeitungen der unterschiedlichsten politischen Richtungen empörten sich nicht allein über das ungekannte menschliche Ausmaß der Katastrophe. »To attempt in cold blood such a massacre of noncombatants«, sei ein beispielloses Verbrechen, das Deutschland an die Seite der ruchlosesten Gestalten der Geschichte stelle.47 Ebenso war klar, dass mit der Versenkung dieses großen Passagierschiffes ein neues Zeitalter der Kriegführung eröffnet worden war. Die Kommentatoren der britischen Presse zeigten sich entsetzt über das Ende des von ihnen bisher praktizierten Unterschiedes zwischen Kombattanten und Zivilisten: »The Germans have persistently refused to recognise our distinction between combatants and non-combatants«.48 Vor dem Hintergrund der aus dem 18. und 19. Jahrhundert tradierten Vorstellungen über die legitimen Grenzen der Kriegführung erklärte sich die moralische Entrüstung der Briten, in deren Augen die Deutschen offenbar zu allem fähig schienen. Als unmittelbarer Reflex auf die Nachricht von der Torpedierung der »Lusitania« brachen im ganzen Land deutschfeindliche Unruhen aus. Die gereizte Berichterstattung der Presse und ihre aggressive Sprache hatten einen direkten Einfluss auf die Stimmung der Bevölkerung. Da es den meisten Briten verwehrt blieb, ihre aufgestauten Emotionen an deutschen Soldaten auszulassen, mussten die etwa 60.000 in Großbritannien lebenden Deutschen die schlimmsten Pogrome in der britischen Geschichte des 20. Jahrhunderts über sich ergehen lassen. Der erklärte und praktizierte Hass gegen diesen Feind ermöglichte nicht nur eine risikofreie Aggressionsabfuhr, sondern versprach auch, als eine Art nationales Bekenntnis eine gewisse gesellschaftliche Anerkennung. Zwar war es bereits im August und im Oktober 1914 vereinzelt zu Ausschreitungen vor allem gegen deutsche Geschäftsleute und ihre Läden gekommen, doch übertrafen die landesweit ausbrechenden Unruhen vom Mai 1915 alles bisher da gewesene. Schon am 8. Mai kam es in Vororten von Liverpool zu Ausbrüchen von Gewalt gegen deutsche Lebensmittelhändler und Metzger. In den folgenden vier Tagen wurden allein in Liverpool 200 Geschäfte geplündert und gebrandschatzt. Die Regierung sah sich nach drei Tagen 47 DC, 8.5.1915, 6. Vgl. TI, 8.5.1915, 9; DM, 8.5.1915, 4. 48 MG, 14.5.1915,6. Vgl. zur allmählichen Aufhebung dieser Trennlinie im Denken der englischen Eliten im weiteren Verlaufe des Krieges Kuropka, Image, 180-89, und passim.

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gezwungen, Truppen einzusetzen, um wieder Herr der Lage zu werden. Am 11. Mai begannen die Unruhen in London. Über 250 Menschen wurden innerhalb der nächsten zehn Tage zum Teil schwer verletzt, vereinzelt kam es gar zu Schusswechseln. Die aufgebrachte Menge zerstörte, plünderte und brandschatzte vor allem im East End und in Camden Town mindestens 380 Geschäfte. Dabei nahm man es bei der Feindbestimmung nicht immer sehr genau. Auch zahlreiche Skandinavier, Italiener und Russen kamen bei den Ausschreitungen zu Schaden.49 In gewisser Hinsicht stellte Deutschland den idealen Feind für Großbritannien dar. Denn die Art und Weise, in der Deutschland den Krieg führte, ermöglichte das Entstehen und das Fortbestehen eines mächtigen deutschen Feindbildes in England. Bereits die Verletzung der belgischen Neutralität hatte vorerst die letzten Lücken in der innenpolitischen Abwehrfront geschlossen. Seither baute Deutschland in der moralischen Perspektive der britischen Öffentlichkeit sein unmoralisches Image immer weiter aus, sei es in Form der Behandlung der belgischen und französischen Zivilbevölkerung, sei es durch die Angriffe der Zeppeline auf britische Zivilisten oder durch den unbeschränkten U-Boot-Krieg. Die Verbreitung und die Intensität des deutschen Feindbildes resultierte daraus, dass Deutschlands tatsächliche Völkerrechtsverletzungen immer wieder den Anschluss an die britischen Vorstellungen von Deutschland gewährleisteten. Damit wurde die Kriegführung des Kaiserreichs Großbritanniens größte innenpolitische Hilfe im Kampf gegen Deutschland und in der Konstruktion des deutschen Feindbildes.50 Angesichts der innenpolitischen Krisen und der Herausforderung des Weltkrieges kam auch in Großbritannien der Feindschaft eine wesentliche Bedeutung zu. Für die Nationalismen in Großbritannien galt ebenfalls, dass sie auf der Handhabung einer bipolaren Unterscheidung basierten, welche die Abwertung des Fremden notwendig zur Folge hatte. Britisch sein bedeutete, wenigstens für das konservative Lager nach dem Untergang der »Lusitania«, den bedingungslosen Hass auf Deutschland, der tendenziell keine Differenzierung mehr zuließ. Die rechtskonservative »Morning Post« schäumte etwa: »There is no longer any room for doubt even in the minds of the most pacific. And he who at this time does not hate Germany is incapable of hating evil and cruelty, and has no right to call himself either Englishman or a Christian«.51 Angesichts des ausgiebig ausgekosteten Deutschlandhasses äußerte der linksliberale »New Statesman« den Verdacht, dass die britische Öffentlichkeit bewusst und unbewusst alles daran setze, sich dieses Feindbild wo nötig zu erfin49 Vgl. etwa TI 13.5.1915, 9f., sowie v.a. Panayi, Enemy, 223-53; Yarrow, Hostility, 97-112; Haste, Home Fires, 114-127. 50 Vgl. Ο. Müller, Enemy; Bourne, Britain, 21 Of.; Verhey, Perspektive, 360-76; sowie Kramer/ Home, Atrocities, 1-33. 51 MP, 11.5.1915,6.

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den, um eine Kontrastfolie zum Selbstbild zu erhalten: »It seems to be one of the deepest instincts of nations to get an enemy- honestly, if they can, but to get him anyway - and to hate him with all their might. [...] If one's enemy does not commit atrocities, one has to invent them for him in order to hate him as he requires to be hated«.52 Die singuläre Bedeutung des deutschen Feindes illustrierte auch die Tatsache, dass es in Großbritannien im Unterschied zu Deutschland nicht zu einer Diskussion über den außenpolitischen »Hauptfeind« kam. Österreich-Ungarn, von der Türkei ganz zu schweigen, betrachtete man nicht als adäquate Gegner.53 Es hat daher auf den ersten Blick den Anschein, als ob in Großbritannien das Feindbild des amoralischen Hunnen alle Grundvoraussetzungen für die Herstellung der innenpolitischen Geschlossenheit der zuvor verfeindeten gesellschaftlichen Gruppen bot. Das Kaiserreich und den deutschen Nationalcharakter kennzeichneten nach der Auffassung der britische Presse und zahlreicher Gelehrter einige wenige klar bestimmbare Negativeigenschaften. Das Wesen dieses Deutschlandbildes war die Vereinfachung. Die komplizierte realhistorische Situation reduzierten die Redakteure und Professoren auf simple nationale Stereotypen von gut und böse und zeigten sich geradezu besessen von Legalität und Moral.54 Von den zahlreichen Defiziten, welche die Briten bei den Deutschen entdeckten, wog keiner schwerer als deren amoralische Staatsvergottung: »The State«, hieß es bei J . Mark Baldwin, »is not a device for governing, or for reaching any other national end: it is the nation itself. The State is the full national will, the expression of the nation in executive, judical, and military terms«.55 Hand in Hand mit diesem Phänomen ging das, was die Kommentatoren als »Prussianism« bezeichneten: »It means force as opposed to freedom; authority over against law. While such a principle is found everywhere, it is in Germany that it has been reduced to a system, and become the basis of a political creed«.56 Dieses preußisch-deutsche Konzept der Ein- und Unterordnung des einzelnen unter den verabsolutierten und militarisierten Staat bedeute in jeder Hinsicht das Gegenteil der individualistischen britischen Lebensauffassung und sei nur durch die Besonderheiten der historischen Entwicklung in Deutschland zu erklären. Die Revolte Deutschlands gegen das Naturrecht, gegen die Aufklärung und die Errungenschaften des Westens stelle nur den jüngsten Tiefpunkt seines historischen Irrweges dar. In vulgarisierter Form kündigten diese »Analysen« deut52 NS, 10.10.1914, 7f. 53 »We all know«, hieß es im »Manchester Guardian«, 12.5.1915, 6, »that Austria's part is secondary, and that Germany is the soul of one of the most astonishing fights ever put up by a nation«. 54 Haste, Home Fires, 78-81; Marquis, Words, 487-89; Wallace, War, 62f; Messerschmidt, Deutschland, 79. 55 Baldwin, Super-State, 7f. 56 So der Oxforder Theologe William Β. Sclbic, Nationalism, 5.

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scher Fehlentwicklungen spätere Debatten über den »deutschen Sonderweg« an und waren zugleich ein Spiegelbild zeitgenössischer Diskurse in Deutschland.57 Insgesamt bot nicht nur das deutsche Staatswesen, sondern auch die Geistesverfassung sämtlicher Deutscher Anlass zur Sorge. »The pure German«, wetterte der Altphilologe Norman Murray, »is an absolute failure by himself.« Im pathologischen deutschen Nationalcharakter zeige sich außer einem destruktiven Element und »shear delight in slaughter«, Eigensucht und Untertanengeist.58 Vollends hätten die zu spät zur nationalen Einheit gekommenen Deutschen Englands Erfolge als Weltmacht verwirrt. Das Motiv für ihren grenzenlosen Hass läge daher auf der Hand: Neid. »Jealousy and envy originated in their own diseased brains«.59 Der deutsch-britische Fundamentalkonflikt resultierte mithin wenigstens für die Presse und die Professoren des konservativen Lagers letztlich aus dem gleichzeitig krankhaften und hochaggressiven Nationalcharakter aller Deutschen. »The German foe«, polemisierte die »Daily Mail« nach dem Untergang der »Lusitania«, »is a [...] homicidal maniac, [...] a wild and cunning beast«60 Sobald man die Deutschen aber aus der menschlichen Gemeinschaft verbannte, war es jedenfalls semantisch nur ein kleiner Schritt, auch ihre physische Vernichtung zu fordern. Allerdings ging kaum jemand so weit wie der berüchtigte Horatio Bottomley im »John Bull«: »Too long have we tolerated the beast. He has no place in the human family - to say nothing of the Anglo-Saxon branch of it. [...] To-day we are God's instrument in ridding the earth of a monster who is a blasphemy upon the Creator of mankind«.61 Sicher schien aber, dass es in diesem Kampf - was immer weltfremde Liberale auch behaupten mochten - nicht mehr um hehre Ideale gehe, sondern nur noch um die nackte Existenz der britischen Nation: »The doctrine that we are fighting merely for something extraneous has long gone down the wind. We are fighting for nothing short of our national existence«.62 Das Ausmaß der englischen Deutschlandfeindschaft wurde durch die nationalistische Sprache sowohl verstärkt als auch mit verursacht. In einem vielschichtigen Mischungsverhältnis spiegelte die nationalistische Sprache der britischen Presse den bestehenden englisch-deutschen Interessenkonflikt wider, sie bedingte zugleich seine Wahrnehmung als die eines Kampfes auf Leben und 57 Vgl. Wallace, War, 48-52; Hoover, God, 21-29; Dockhom, Wissenschaft, 50-54, und zu den Verirrungcn des deutschen Nationalcharaktcrs zudem Germany and the German People; Germany and the Prussian Spirit. 58 N. Murray, War, 60, 52. Vgl. Marrin, Crusade, 92-109. 59 Ebd., 48. Vgl. zum Motiv des neidischen deutschen Parvenüs Cromer, Germania, 6f.; Fletcher, Germans II, 20f. 60 DM,8.5.1915,4. 61 JB. 15.5.1915, 7. Vgl. JB, 10.7.1915, 7. 62 MP, 11.5.1915,6. »This is afightto afinish,and one or other Power must be destroyed«, NR 64 (1914), 325. Vgl. NR 64 (1914), 492; TI, 1.2.1915, 10.

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Tod. Das sich so formierende Feindbild legitimierte und strukturierte den Krieg gegen Deutschland. Die fundamentale Dichotomisierungdes Konfliktes zeigte sich in England unter anderem in der Verwendung von Metaphern der Reinigung und der Krankheit. »We shall have cleansed Europe and the world of a venomous pest«, prognostizierte die »Daily Mail«.63 Der »Daily Telegraph« titelte im Zuge der Internierungswelle im Oktober 1914: »Whole Areas Freed«, oder »The City cleared«.64 Selbst der liberale »Daily Chronicle« befand nach dem Untergang der »Lusitania«: »A more drastic surgery will be needed for the cancer of German militarism«.65 Indem man den deutschen Feind in die Nähe von Ungeziefer und tödlichen Krankheiten versetzte, machte das seine Beseitigung zur einer gleichsam natürlichen und notwendigen Folge. Angesichts der schweren deutschfeindlichen Ausschreitungen 1914 und 1915 beklagte die englische Arbeiterpresse die der nationalistischen Sprache innewohnenden Dynamik von Macht, die die Gewaltakte wesentlich befördert habe: »In every word which each of us speaks about the Germans, we are making or combating this cruel and cowardly passion. [...] The lying tales of atrocities, the baseless legends of spies, are driving this country into excesses«.66 Obwohl die integrative Funktion des deutschen Feindbildes auf der Hand zu liegen scheint, löst sich bei näherer Betrachtung das vermeintlich geschlossene Feindbild auf. Ungeachtet, ja, wegen der sich verschärfenden politischen, sozialen und ökonomischen Konflikte, hielten die verfeindeten Lager in Großbritannien unbeirrt und lediglich durch die nationalistische Einheitssemantik überdeckt an ihren jeweiligen tradierten Feindbildern und Werten der Vorkriegszeit fest. Aufgrund des nationalistischen Einheitspostulats vollzog sich der Kampf um die Durchsetzung konkurrierender Interessen anhand des legitimen deutschen Feindbildes. Bereits die Forderung nach unbedingter innerer Einheit gegen den Feind implizierte dabei die Ausgrenzung des Gegners aus der Nation. Unter dem Eindruck der Versenkung der »Lusitania« forderte der »Observer«, »absolute unity of soul and purpose throughout the nation. [...] Everyone who fails to suppress his personal prejudices in this crisis is a dangerous enemy to his country«.67 Doch mit der undifferenzierten Übertragung der Negativeigenschaften des deutschen auf den inneren Feind war es nicht allein getan. Tatsächlich konnte der gleiche deutsche Feind von den politischen Akteuren gegensätzlich gedeutet und instrumentalisiert werden. Was Liberale und Konservative an Deutschland verachteten, unterschied sich sehr. Gerade weil die Differenzierungskriterien gegen den äußeren Feind von den 63 DM, 8.5.1915, 4. Vgl. JB, 22.5.1915, 6; JB, 10.7.1915, 7. 64 DT, 24.10.1914, 6. 65 DC, 8.5.1915, 6. 66 HE, 24.10.1914, 7. Vgl. insges. zur Rolle der politischen Sprache in England Reimanii, Krieg, bes. 158-222; Verhcy, Perspektive, 373-76. 67 OB, 9.5.1915, 10.

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bestehenden gesellschaftlichen Wertvorstellungen abhingen, konnte die Grenze zwischen Feind und innenpolitischem Gegner fließend verlaufen. Und so bekämpfte man in den jeweils unterschiedlichen Aspekten des deutschen oft den innenpolitischen Feind. Von der Handhabung der Feindschaft ging darum nicht nur eine integrierende Wirkung aus, da das deutsche Feindbild selber bestehende Konflikte verschärfen konnte. Die mehrdeutige, häufig destabilisierende Rolle des deutschen Feindbildes in Großbritannien zeigte sich von Beginn an, als die Spionagefurcht allmählich in Fremdenfeindlichkeit gegen die in England lebenden Deutschen umschlug. Hatte zunächst noch Einigkeit in der Überzeugung bestanden, den Spielraum möglicher deutscher Spione und den sinistren Einfluss einer ominösen »Hidden Hand«,68 rigoros zu beschneiden, nutzte die Presse des konservativen Lagers schon bald die Feindschaft gegen Deutschland, um gegen die liberale Regierung im allgemeinen und gegen liberale Gesellschaftsprinzipien im besonderen vorzugehen. So konnte man hoffen, eigene Interessen durchzusetzen und gleichzeitig seinen Patriotismus unter Beweisstellen.“69Bereits nach Kriegausbruch, vor allem aber nach der Versenkung der »Lusitania« witterten konservative Politiker und Journalisten Morgenluft und forderten die Regierung auf, die in England lebenden Deutschen als Fünfte Kolonne des Kaisers zu internieren. »In view of our present and prospective relations, [...] the best place for Germans is Germany or - a concentration camp«.70 In einem totalen Krieg könne ihre potentielle Gefährlichkeit nicht ausgeschlossen werden. Für Feindifferenzierungen ließ der konservative Nationalismus wenig Raum. »At a time like this, there can be no neutrals in Great Britain. Everyone who is not for us is against us«, führte der konservative Parteivorsitzende Andrew Bonar Law im Unterhaus aus.71 Sein Kollege Sir Arthur Markham assistierte: »Is it not reasonable to believe that for this purpose the German Government have had German spies naturalised in this country?«72 Mit der Ausnahme von wenigen rechtsradikalen Boulevardblättern bedauerte man im konservativen Lager zwar die deutschfeindlichen Ausschreitungen, stellte aber gleichzeitig klar, dass dafür letztlich die Regierung die Verantwortung trage. »We have no sympathy whatever with the violent attacks [...], but [...] the instinct of ›the man in the street‹ is far sounder, in our judgment, than the instinct of officialdom. Every German [...] now in Great Britain is a potential menace to our security and ought as once to be deprived of the chance of doing us harm«.73 Selbst die 68 Vgl. etwa das Pamphlet der »British Empire Union« in PRO HO 45/10756/267450/622 (4.1.1917), und zum BegrifFund zur Bedeutung Panayi, Hidden Hand, 253-72. 69 Vgl. ΤΙ, 2.9.1914, 5; sowie French, Fever, 367; Panayi, Enemy, 154; ders., Union, 113-28. 70 NR 64 (1914), 517. 71 HoCV/Bd. 71,1845(13.5.1915). 72 Ebd., 1872. 73 So die DM, bereits am 19.10.1914, 4, entsprechend aber DM, 11.5.1915, 4 und Sir Henry Daziel und Lord Charles Beresford im HoC V/ Bd. 71, 1607-1612 (11.5.1915).

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renommierte »Times« verstieg sich angesichts der laufenden Unruhen dazu, die Internierung der Deutschen zur notwendigen Bedingung für die innere Sicherheit zu erklären und malte das Gespenst eines drohenden Bürgerkrieges an die Wand: »If they [the Germans - SOM] are not dealt with, the day may come when those scenes of violence will recur until we find our own troops called upon to shoot down our own citizens. Considerations of internal peace make it necessary for the Government to take decisive action«.74 Am äußersten rechten Rand des Spektrums spitzte die »National Review« diese Position zu: »The Public could stand neither the Government nor the Germans any longer, and [...] the people took the law into their own hands«.75 In der rechtsradikalen Presse begriff man sich als Gralshüter der britischen Nation und eigentlichen Sachwalter der Interessen der Bevölkerung. Den übergeordneten Willen der »nation« oder der »people« kontrastierte sie mit der eigennützigen Politik der Regierung. Die Berufung auf den Willen der Nation verlieh ihrer Polemik die eigentliche Legitimationsgrundlage. »I am ignoring the Government. This is a nation's job. I do not trust the Government«.76 Während Liberale und Labouranhänger stets auf die hohe Assimilationskraft der britischen Staatsbürgerschaft vertraut hatten und sich nicht zuletzt deshalb gegen eine Internierung der naturalisierten Deutschen wandten, machten konservative Politiker und Journalisten zusehends weniger den Unterschied zwischen eingebürgerten und nicht eingebürgerten Deutschen. Für den »Daily Telegraph« etwa stellte die Einbürgerung von Deutschen nicht nur eine Farce, sondern eine Unmöglichkeit dar. Die Angehörigen der »German race who are living in this country, including large numbers who have [...] assumed the cloak of British nationality. No one supposes [...] that a man of alien birth and upbringing changes his mental constitution when he purchases the privileges of our citizenship«.77 Northcliffes »Daily Mail« hatte diese Haltung schon im Oktober 1914 auf den Punkt gebracht: »The naturalisation form is just a scrap of paper. Once a German always a German«, und damit brilliant und bösartig auf Bethmann Hollwegs Interpretation der belgischen Neutralität angespielt.78 Die Formulierung vom »scrap of paper« war in England bald zum diskursiven Allgemeingut geworden. Dem »John Bull« gelang es - wie in den meisten Debatten, an denen er sich beteiligte - auch dieses Mal, den absoluten Tiefpunkt zu setzen. Das ganze liberale Gerede von der Einbürgerung sei sinnlos und gefährlich: »The fact remains that they are Germans, and a German can no more 74 TI, 13.5.1915,9. 75 NR 65 (1915), 558. 76 JB, 15.5.1915, 7. Vgl. auch HoCV/Bd. 71, 1612(11.5.1915). 77 DT, 12.5.1915, 8. Außerdem bleibe ein in England eingebürgerter Deutsche nach dem Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 weiterhin ein Untertan des Kaisers. Vgl. zu dieser Befürchtung HoC VI Bd. 71, 1845 (13.5.1915); MP, 17.5.1915, 6; JB, 22.5.1915, 6. 78 DM,21.10.1914,5.

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change his nature than a leopard can change its spots. The German is, by nature, bloody, base and brutal. [...] You cannot naturalise an unnatural beast. [...] But you can exterminate it«.79 Mit der fundamentalen und zuweilen rassistischen Ausgrenzung aller Menschen deutscher Herkunft brach man in der radikalen Rechten mit einem wesentlichen Element des tradierten britischen Nationsverständnisses. Die natürlich gegebene Fremdheit des Deutschen war selbst durch die vorbildlichen britischen Institutionen nicht mehr zu überwinden. »In short, Germany is the nigger of Europe, and must be treated as a lower type of mankind«.80 Auch in Großbritannien nahm die Gleichsetzung von nationaler mit »natürlicher«, ja, zunehmend biologistisch definierter Ungleichheit ein zuvor unerreichtes Ausmaß an. In Großbritannien vollzog sich mit der zunehmend offenen Ethnisierung nationalistischer Vorstellungen im Ersten Weltkrieg eine nachholende Entwicklung zur Situation im Kaiserreich. Bereits die Wortwahl in der konservativen und selbst in Teilen der liberalen Presse dokumentierte, dass es häufig die nationalistische Sprache selber war, welche die Entstehung neuer Grenzziehungen gegen die in England lebenden Deutschen begünstigte. Wenn etwa die »Daily Mail« schrieb: »We appeal to the Government to intern at once all Germans, naturalised and unnaturalised«, verbannte sie damit britische Staatsbürger aus der Nation.81 »Leeds is now practically free from Germans, [...] except, of course, those who are naturalised«.82 Selbst der liberale »Daily Chronicle«, der sich gegen eine generelle Internierung aller Deutschen explizit und vehement aussprach, grenzte implizit legale britische Staatsbürger aus der Nation aus, wenn er von diesen als »naturalised aliens« sprach.83 Aufgrund des massiven Drucks der Konservativen und der Straße gab die Regierung schließlich teilweise nach. Asquith erklärte am 13. Mai unter der Zustimmung der Opposition im Unterhaus den Beginn einer neuen Internierungspolitik. Fortab sollten alle nicht naturalisierten deutschen Männer im wehrfähigen Alter zu ihrer eigenen und zu Britanniens Sicherheit interniert, alle übrigen Männer sowie Frauen und Kinder nach Deutschland ausgewiesen werden. Die übrigen »naturalised aliens, who are in law British subjects«, müsse man wie jeden anderen Staatsbürger behandeln.84 Diese Maßnahmen traten sofort in Kraft. Aus Furcht vor weiteren Repressalien stellten sich viele Deutschen freiwillig den Behörden. Bis Ende November wurden 32.400 Männer interniert und beinahe 10.000 Männer, Frauen und Kinder deportiert.85 79 80 81 82 83 84 85

JB, 22.5.1915, 7, 6 (Herv. i. Orig). JB, 10.7.1915,7. DM, 13.5.1915,4. MP, 23.10.1914, 3. Vgl. MP, 13.5.1915, 6. DC, 14.5.1915, 6. Vgl. DN, 18.5.1915, 4; Asquith im HoC V/ Bd. 71, 1875 (13.5.1915). HoC V/Bd. 71, 1841f., 1875f. (13.5.1915). Vgl. TI, 15.5.1915, 9; sowie Bird, Control, 45-129; Panayi, Enemy, 76-82.

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Die liberale Regierung hatte in der Internierungsfrage nachgegeben, die liberale und labournahe Öffentlichkeit tat es nicht. Ihr differenzierteres Deutschlandfeindbild unterschied sich strukturell vom dem relativ geschlossenen der Konservativen. Von vornherein betonte man, dass es ungeachtet der verbrecherischen deutschen Kriegführung darauf ankomme, zwischen dem deutschen Staat und den Deutschen zu unterscheiden. Gegen das konservative Postulat eines angeblich unveränderbaren deutschen Nationalcharakters unterstrich das Labourblatt »Herald«: »The accident of birth and residence should not make men criminals, in the eyes of their fellow men and women«.86 Zum gleichen Ergebnis kam der »Manchester Guardian«87 und folgte damit der offiziellen Lesart liberaler Kriegsrhetorik. Bereits am 19. September 1914 hatte Lloyd George erklärt, Großbritannien kämpfe gegen den deutschen Militarismus, nicht gegen das deutsche Volk.88 Noch weiter war sein Parteifreund Willoughby Dickinson unmittelbar nach Kriegsausbruch im Unterhaus gegangen: »We are fighting that military caste, and not the people of Germany. The people of Germany have nothing to do with this war«.89 Da Deutschland bis 1914 für das liberale Lager immer auch ein Entwicklungsmodell abgegeben hatte, bediente man sich nun, um sich dessen Verbrechen zu erklären, des Kunstgriffes eines »Zwei-Deutschland-Bildes«. Demnach bestand die deutsche Bevölkerung aus zwei Sektionen: den Denkern, Wissenschaftlern und Künstlern auf der einen und einer brutalen, aggressiven Militärkaste auf der anderen Seite. »History, then - for English eyes, at least - seems to present two Germanies, one of which has conquered and enslaved the other«.90 Wegen ihres militaristisch-autokratischen Deutschlandfeindbildes erschien der liberalen Öffentlichkeit die konservative Hetzkampagne gegen die Deutschen in England als ein Akt unbritisch-preußischen Verhaltens. Zu Recht erkannte man, dass die Pressekampagne des innenpolitischen Gegners nicht allein moralischer Entrüstung entsprang, sondern ihm zur gezielten Instrumentalisierung des deutschen Feindes gegen die liberale britische Gesellschaft diente.91 Es sei die Jingopresse, die in der undifferenzierten Bekämpfung alles 86 HE, 15.5.1915,3. 87 »We must strive to dojustice to individuals and refuse to frame an indictment against a whole nation«, MG, 14.5.1915,6. 88 Vgl. ΤΙ, 21.9.1914, 12. 89 HoC V/Bd. 65,2090(6.8.1914). 90 British and German Ideals, 73. Entsprechend HE, 14.8.1914,3; HE, 18.9.1914,3. Die kon­ servative Presse widersprach dieser Deutung freilich entschieden: »Many tell us«, führte die »Times«, 15.9.1914,9, aus, »that we are not at war with the German people, but with the Kaiser and the Prussian Corps of Officers. [... ] To-day, in the light of fuller knowledge, we know we arc at war with every German«. Vgl. Cromer, Germania, 44; Why We are at War, 14f., 122; sowie Wallace, War, 24-37; Hollenberg, Interesse, 176-78; Kuropka, Militarismus, 105-20; Wendt, Einleitung, 34f.; Messerschmidt, Deutschland, 93f. 91 Vgl. DN, 13.5.1915, 4; ΝΑ, 22.5.1915, 242; HE, 24.10.1914, 7.

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Deutschen sich gefährlich dem preußischen Feind annähere: »Last week's anti alien riots made it only too clear that there are journalists of a Prussian ferocity in this country who exercise an evil influence over the mob«.92 Erbittert warf man den Konservativen vor, dass sie durch ihren maßlosen antideutschen Hass diejenigen nationalen Ideale verrieten, für die Britannien kämpfe: »Our nation prides itself on its traditions of sportmanlike chivalry and common-sense humanity«. Und: »Now the preservation of this spirit ought to be regarded as an obligation of patriotism upon every man and woman«.93 Den Skandal bilde die konservative Forderung, eingebürgerte Briten deutscher Herkunft wie deutsche Staatsbürger zu behandeln. Damit erniedrigten diese Demagogen »deliberately [...] the nation's signature« und die Staatsbürgerschaft tatsächlich zu genau dem »scrap of paper«, für dessen Garantie die britische Nation kämpfe.94 In der Auseinandersetzung um das deutsche Feindbild stritt man immer auch um die Grenzen der britischen Nation. Der Disput über die Internierungsfrage stellte nur das Vorspiel zu einem fundamentalen innenpolitischen Konflikt dar. Denn im Zuge der antideutschen Hassstimmung hielten konservative Blätter die Zeit für gekommen, eines ihrer favorisierten Gesellschaftsprojekte der Vorkriegszeit zu verwirklichen: die allgemeine Wehrpflicht. Deutschland mache es vor, wie man eine ganze Gesellschaft in eine schlagkräftige Militärmaschine verwandle, und Großbritannien müsse in seinem Überlebenskampf dieses Modell kopieren und sich von seiner liberalen »business as usual« Kriegführung verabschieden.95 Für die Liberalen und für Labour aber hob gerade die Forderung nach der Einführung der Wehrpflicht, der Bruch mit einer vorbildlichen freiheitlichen Praxis, den Unterschied zwischen dem preußischen Geist in Deutschland und dem in England zusehends auf »The Prussian spirit is not confined to Prussia. It is everywhere«.96 Und angesichts der sich rigoros verschärfenden sozialen Spannungen entdeckte man gerade in der Arbeiterbewegung den eigentlichen Feind immer öfter im eigenen Land: »We have no hesitation in declaring that the real enemies of the British people are here in our midst«. Die Monopolisten und Kriegsgewinnler seien »a far great danger to the nation than the Kaiser and all his militarists put together«.97 Auch für Großbritannien gilt daher, dass von dem scheinbar idealen und außenpolitisch unbestrittenen Feind Deutschland gleichzeitig integrierende und desintegrierende Wirkungen ausgehen konnten. Das deutsche Feindbild verstärkte die Kohäsion innerhalb der politischen Lager, polarisierte aber oft die britische Gesamtgesellschaft. Für die Ausgrenzung des innenpolitischen Geg92 93 94 95 96 97

NS, 22.5.1915, 146. DC, 22.10.1914, 4; NA, 22.5.1915, 242. Vgl. NS, 10.10.1914, 8. DC, 22.10.14, 4. Entsprechend, DN, 13.5.1915, 4. Vgl. MP, 11.5.1915, 6; OB, 9.5.1915, 10, und insges. Kapitel III.2. DN, 4.9.1914, 4. HE, 23.1.1915,9.

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ners waren, wie das englische Beispiel zeigt, nicht einmal konkurrierende Feindbilder wie in Deutschland notwendig. Ein einheitliches deutsches Feindbild existierte nie. Vielmehr löste ein und derselbe Feind bei den konkurrierenden politischen Lagern die unterschiedlichsten Bedeutungszuschreibungen aus. Für die Konservativen war der deutsche Feind ein Mittel, um sowohl die liberale Regierung als auch ihre gesamte Kriegführung in Misskredit zu bringen, ohne doch als unpatriotisch erscheinen zu müssen. Dabei ging gerade von ihrer ethnisch begründeten Feindvorstellung eine verführerische, quasi wissenschaftliche Scheinlogik aus, die ein neues Erklärungsmodell für Englands Probleme abgab. Für die Gegner der Konservativen aber stellten sich die rechten innenpolitischen Reorganisationsvorstellungen als genauso gefährlich dar wie der preußische Militarismus selber. Kurzum: Wer sich der bipolaren Form der »Nation« bediente, erhielt nicht nur ein mächtiges Instrument zur Durchsetzung seiner Interessen, sondern tendierte auch zu einer polarisierten Wahrnehmung der Umwelt. Der Kampf um die Grenze und den Feind der Nation barg stets ein desintegrierendes Potential.

2. Nationalismus, Rassismus und Sexismus Nationalismus entsteht und besteht nie isoliert. Dass heißt erstens, dass er seine Wirkungsmacht erst durch die Beziehungen zu anderen Faktoren und nur in konkreten Situationen entfaltet. Den Nationalismus als Relationsphänomen zu begreifen, heißt zum zweiten, dass er in der Lage ist, potentiell jeden Lebensbereich, den öffentlichen wie den privaten, zu durchdringen und zu politisieren. Der Versuch seine Inhalte an sich zu bestimmen, muss daher ein notwendig vergebliches Unterfangen bleiben. Zwei der wichtigsten Ideologien, mit denen sich der Nationalismus bevorzugt verknüpft, sind der Rassismus bzw. der Antisemitismus und der Sexismus. Der Rassismus setzt biologistische und kulturelle, der Sexismus biologisch-sexuelle Merkmale absolut. Diese Formen der Kategorisierung verbindet zum einen die Annahme, es gebe innerhalb der Menschheit naturgegebene, universelle und unveränderbare Unterteilungen. Zum anderen besitzen diese Kategorien ein beträchtliches klassen- und geschlechter-, konfessionen- und lagerübergreifendes Potential. Gemeinsam ist ihnen, dass sie durch - oftmals pseudowissenschaftlich untermauerte - Praktiken der Ein- und Ausgrenzung Bedeutung konstruieren. Gerade die strukturelle Affinität von Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus und Sexismus verdeutlicht unter den Belastungen des Ersten Weltkrieges, dass sich die Grenzen zwischen inneren und äußeren Feinden stets überschneiden. Nicht nur das: Da der Rassismus und der Sexismus wie der Nationalismus mit Hilfe einer bipolaren Unterscheidung Herrschaft konstituierten und legitimierten, vollzo134 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1

gen sich politische Prozesse oft im Zuge von Diskursen über die »richtige« Ordnung der Ethnien und der Geschlechter. Die Konstruktion und die Bedeutungszuschreibungvon Ethnien und die Geschlechterkategorien halfen, die neue Erfahrung des Weltkrieges und die damit verbundenen Herausforderungen und Bedrohungsängste in einem bekannten, jedermann zur Verfügung stehenden Koordinatensystem zu verorten.98 Vor allem interessiert hier, wie Rassismus, Antisemitismus und Sexismus im Rahmen politischer Auseinandersetzungen als Verfahren dienten, Interessen und Vorstellungen zu legitimieren und durchzusetzen. Zunächst ist vom Verhältnis von Nationalismus und Rassismus und anschließend vom Antisemitismus die Rede, bevor im dritten Abschnitt Überlegungen zur Verknüpfung von Nationalismus und Sexismus erfolgen. a) »Ganz minderwertige Rassen«: Die Empörung in Deutschland über schwarze Kolonialtruppen In Deutschland ging im Ersten Weltkrieg auch die Angst vor der »rassischen« Bedrohung um. Bereits unmittelbar nach Kriegsausbruch entrüstete sich die öffentliche Meinung in Deutschland - wie schon 1870/71 - über die Praxis der militärischen Gegner, auf den Kriegsschauplätzen farbige Truppen aus den Kolonien einzusetzen. Im Falle Englands erblickte man darin den erneuten Beweis des Krämergeistes, der statt der eigenen Jugend gedungene Söldner auf die Schlachtfelder schicke.“ Vor allem aber beschuldigten deutsche Professoren und Redakteure die Briten, auf diese Weise die europäische Kultur und die »weiße Rasse« zu verraten. »England schämt sich nicht«, erregte sich etwa der renommierte Althistoriker Eduard Meyer, »alle fremden Rassen, gelbe, braune und schwarze Horden bis zu den rohesten Negern hinab, gegen Deutschland loszulassen«.100 Zahlreiche Professoren überboten sich gegenseitig in ihrer Empörung, wie die Briten es nur wagen könnten, »Kosaken und halbvertierte Mongolen der asiatischen Steppe«101, ein »zusammengeschachertes Rassengewimmel von Klopffechtern aus Asien, Afrika, Australien und Amerika« und »gelbe und rote Barbaren und alle tierähnlichen Horden wider ein stamm- und religionsverwandtes Volk« zu hetzen.102 98 Vgl. Miles, Rassismus, bes. 116-20; Balibar/Wallerstein, Rasse, 49-69; Scott, History, bes. 26-30; Kent, Peace, 9f., insges. Geuien, Wahlverwandtschaften, passim. 99 Vgl. Dibelius, England, 4-7; Oncken, Abrechnung, 18f.; Hintze, Weltherrschaftspläne, 8f. 100 E. Meyer, England, 196. 101 Germanus, Britannien, 28. 102 Borkowsky, Krieg 1, 85; Brausewetter, zit. n. Presset, Kriegspredigt, 129. Vgl. Stibbe, Anglophobia, 38-44.

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Mit ihrer Aufregung über den Einsatz von Kolonialtruppen trafen die deutschen Gelehrten ausnahmsweise die Stimmung in weiten Teilen der politischen Öffentlichkeit. Die Zeitungen der unterschiedlichsten politischen Lager waren sich einig in der Verurteilung der farbigen Hilfstruppen. Auch hier konzentrierten sich die Vorwürfe zunächst darauf, dass Großbritannien im Bunde mit den »Schlitzaugen« und der »Nigger-Soldateska« (gemeint waren Japaner und Afrikaner) eine angebliche Gemeinschaft der »weißen Rasse« zerstört habe.103 Die nationalliberale »Kölnische Zeitung« warnte vor der »gelbe[n] Gefahr, die auf Europa anstürmt«, und resümierte: »Bisher war in Europa trotz des gegenseitigen Hasses der Staaten untereinander die Rassengemeinschaft etwas, woran man nicht rührte: England hat sie durchbrochen, hat sie in Asien durch Japan, in Afrika durch Schwarze [...] durchbrechen lassen«.104 Besonders unter Nationalliberalen und im konservativen Lager erfreute sich der Topos des durch England verschuldeten »Kampffes] aller anderen Rassen gegen die weiße Rasse« und die damit verbundene Polemik gegen den »Verräter der eigenen Rasse« besonderer Verbreitung.105 Doch auch die liberale »B.Z. am Mittag« stimmte in den Chor derer ein, die Großbritanniens Kriegsführung als »Rassenverrat [...] gegen die stammverwandten Deutschen« betrachteten.106 Für das renommierte linksliberale »Berliner Tageblatt« lag eine bittere Ironie in der Tatsache, dass »Halb und ganz Wilde namens der bedrohten westlichen Kultur« von den Alliierten ins Feld geführt würden.107 Im gleichen Tenor berichteten die Zeitungen des politischen Katholizismus,108 und selbst innerhalb der sozialdemokratischen Presse schwadronierte man vereinzelt über die Gefahr, die der »weißen Rasse« drohte.109 Ein Gewerkschaftsblatt diffamierte die farbigen Soldaten in den Reihen der alliierten Armeen gar als »halbwilde, verschleppte Indier (!), Turkos, Zuaven, Neger u.a. Geschmeiß«.““ In enger Verbindung mit dem Topos vom »Rasseverrat« standen Beschwerden über die vermeintliche barbarische Kriegführung der Kolonialtruppen. Damit bot sich nicht nur erneut die Chance, die eigene zivilisatorische Überlegenheit zu demonstrieren, sondern auch die Gelegenheit, der englischen und französischen Gräuelpropaganda zu begegnen. Angesichts der von alliierter Seite gegen die deutsche Partisanenkriegführung in Belgien erhobenen Vorwürfe schien es ein Leichtes, den Briten und Franzosen mit dem Verweis auf 103 KLZ (MI), 13.10.1914, 2; KLZ (MI) 22.1.1915, 1. 104 KLZ (MI), 13.10.1914, 2; KLZ (MI), 29.9.1914, 1. 105 Schütze, Blutschuld, 22; Germanus, Britannien, 34. Vgl. Bücher, Sache, 13; sowie vom Brocke, Wissenschaft, 657. 106 BZ, 24.8.1914,3. 107 BT (A), 18.3.1915, 2. Vgl. den Hass der »Frankfurter Zeitung« (A), 12.3.1915, 1, auf »Senegalneger und Menschenfresser«. 108 Vgl. KV (M), 4.12.1914, 1; GE (M), 8.11.1914, 2. 109 LV, 9.11.1914, 9f. 110 Zit. n. Kruse, Krieg, 92.

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das angeblich bestialische Verhalten ihrer farbigen Soldaten moralisch zu begegnen. Mehr oder minder unbeholfen spielte man dabei in inoffiziellen und in offiziellen Schriften gleichermaßen auf die rassistischen Vorstellungen von Deutschen und Neutralen an und bezweifelte generell, dass Menschen anderer Hautfarbe in der Lage seien, einen Krieg auf »zivilisierte« Weise zu führen. In Anbetracht des ungekannten Ausmaßes menschlichen Elends, das der Weltkrieg bereits hervorgerufen hatte, enthielt diese Vorstellung eine unfreiwillige Ironie, die den »Preußischen Jahrbüchern« nicht ganz entging: »Hat doch der gegenwärtige Krieg wohl bei allen beteiligten Heeren schon zu Genüge bewiesen, wie schwer es ist, auch bei europäischen Truppen Ausschreitungen [...] vollständig zu verhindern. Was soll man da von Wilden erwarten?«111 Zahllose Berichte über die Gewalttätigkeiten der Hilfstruppen fanden sich in den deutschen Zeitungen und Zeitschriften. Durchgehend war von vergifteten Messern und dem Abschneiden von Ohren und Köpfen die Rede. Besonders betont wurde die Neigung von Schwarzen, sich an weißen Frauen zu vergreifen: »Immer und immer wieder kommt bei dem Neger die grobsinnige, viehische Lüsternheit zum Vorschein«.“2 Die rassistischen Bedrohungsängste verbanden sich im Bild des schwarzen Soldaten seit Kriegsausbruch immer häufiger mit sexuellen Befürchtungen, da man sich »die« Afrikaner seit jeher potenter und viriler als die Europäer vorstellte.“3 Am 30. Juli 1915 veröffentlichte das Auswärtige Amt eine detaillierte Dokumentation über diese angeblichen Ausschreitungen der farbigen Truppen und ließ keinen Zweifel daran, dass für diese Vergehen letztlich die Heeresleitungen Englands und Frankreichs die Verantwortung trügen.114 Nicht allein für die »Germania« hatte das schon lange zuvor festgestanden: »Ein Neger von (!) Senegal kann keinen Hass gegen Deutschland hegen. Er ist ein armer Mensch, ebenso schwarz in seinem Kopfe wie von außen«.115 Die öffentliche Konstruktion des rassistischen Feindbildes vollzog sich in einem Denken und Reden in Antinomien. Die Redakteure und Professoren kontrastierten die eigene und selbstredend unbedingt überlegene deutsche Kultur mit der Barbarei und Wildheit der Hilfstruppen. Rücksichtslos bediente man sich, wenn von den farbigen Soldaten die Rede war, Analogien zum Tierreich. Die »Germania« berichtete unter der Überschrift »Die braune Horde auf Flanders Fluren« von den »leichte[n] affenartige[n] Reiter[n] aus Bengalen. Das Zeichen des Krieges, des Tötens, steht immer unverkennbar und wild auf 111 PJ 161 (1915), 78. Vgl. Stiehl, Feinde, 31. 112 Schütze, Blutschuld, 36. Vgl. etwa KV (M), 4.12.1914, 1; GE (A), 30.11.1914,2; PJB 161 (1915), 71-81; Auswärtiges Amt, Verwendung, 1f., 31f. 113 Vgl. Lebzelter, Schmach, 37-58; Mosse, Geschichte, 211. 114 Vgl. Auswärtiges Amt, Verwendung, 1; Marten, Barbaren 3; sowie insges. Kestler, Auslandsaufklärung, 294-304; Read, Propaganda, 137-39. 115 GE(A), 30.11.1914, 2.

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ihrem Antlitz; dafür sprechen entweder die hundescharfen Zähne oder ihre Züge, die mehr Beutetieren ähneln, oder ihre schnellen, bestialischen Bewegungen. Es ist eben eine andere Menschheit«.116 Charakteristisch für das öffentliche Reden über die Kolonialtruppen war mithin eine dualistische Perspektive, in der farbige Soldaten als Angehörige einer minderwertigen oder halbtierischen Rasse konsequent aus der deutschen Menschheit ausgegrenzt wurden. Mit Hilfe einer wörtlich zu nehmenden Schwarz-Weiß-Malerei und eines vulgarisierten Darwinismus ließ sich die Grenze zum afrikanischen oder asiatischen Feind fundamental und geradezu »wissenschaftlich« ziehen. Durch diese unverrückbare Zuschreibung des Feindes legte man indirekt auch Kriterien fest, die der Selbstbeschreibung und der eigenen Aufwertung durch die Abwertung des Anderen dienten. In den ethnisch definierten Nationalismus floss somit gleichzeitig ein großer Anteil der bürgerlichen »Normalmoral« (Rainer Lepsius) des Deutschen Kaiserreiches ein.“7 Indem die Deutschen afrikanische oder asiatische Soldaten als »schwarz« oder »halbtierisch« bezeichneten und sie letztlich so aus der Menschheit ausgrenzten, stellten sie sich selber gleichzeitig als »weiß« und »zivilisiert« dar.“8 Von dem rassistischen Hass auf ihre Kolonialtruppen wurden auch die Engländer und die Franzosen selber nicht immer ausgenommen. Vereinzelt sprachen Deutsche den Engländern ab, weiterhin zu den »rassereineren Germanen« zu gehören.“9 »Ein Zeichen des tiefen Rassenverfalls bei unseren Feinden und besonders bei den Engländern, aber auch bei den Franzosen ist es, dass sie sich nicht scheuen, außer dem Rassengemengsel, das sie am eigenen Körper darstellen, auch noch alle möglichen anderen ganz minderwertigen Rassen, wie Basutos, Senegalneger, mongolische Japaner, Inder [...] uns auf europäischem Boden als Kämpfer gegenüberzustellen«.120 Als verräterische Indizien für die ethnische Degeneration der Engländer galten zwei Dinge: Erstens ihre Verantwortung für den Einsatz farbiger Soldaten und zweitens der sich allmähliche verflüchtigende Unterschied zwischen den Kolonialvölkern und den Kolonialherren. In der »Germania« hieß es, nachdem ausführlich die Rolle der afrikanischen Soldaten bei der Verbreitung von Krankheitserregern in England erörtert worden war: »Dass aber die Farbigen so sehr abfärben können, muss zu denken geben, und jedenfalls scheinen die Engländer sich mehr dazu zu eignen, dem schlechten Einfluss ihrer farbigen Brüder zu unterliegen, als die letzteren auf englisch zu veredeln«.121 Genüsslich kommentierten deutsche Zeitungen eine 116 GE(M), 8.11.1914,2. 117 Vgl. Lepsius, Nationalismus, 58f.; Mosse, Geschichte, 109. 118 Vgl. Miles, Rassismus, 53-55; Steins, Bild, 96-111; Lebzelter; Schmach, 50f. 119 von Lichtenberg, Völker-Chaos, 132. Vgl. Kimmel, Methoden, 117-26; Stibbe, Anglophobia, 52-59. 120 Ebd., 135f. 121 GE(M), 21.10.1916, 2.

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angebliche Zunahme intimer Kontakte zwischen jungen Engländerinnen bzw. Französinnen und den afrikanischen Soldaten, und auch von einem signifikanten Anstieg des Drogenkonsums wusste man zu berichten.122 Immer wieder verwischte die deutsche Presse die Grenze zwischen den europäischen und den »farbige[n] Engländer[n]«.123 Selbst der Korrespondent des »Berliner Tageblatts« spottete bei der Inspektion eines Kriegsgefangenenlagers, dass dort untergebrachte »Neger, ›auch Landsleute‹ der Engländer« seien.124 Doch die Stilisierung der Briten zu einer nichteuropäischen Rasse stieß letztlich auf unüberwindbare Hindernisse. Da weder die zivilisatorischen Leistungen der Westalliierten noch deren Zugehörigkeit zur »weißen Rasse« mit überzeugenden Gründen bestritten werden konnten, haftete diesen Versuchen, die prinzipielle deutsche Überlegenheit durch die biologistische Ausgrenzung der Engländer zu demonstrieren, der Charakter einer Verlegenheitstat an. Welche in der Retrospektive grotesk anmutenden Stilblüten die rassistische Perspektive treiben konnte, demonstrierte eine sogenannte »rassenpolitische Betrachtung« über die Franzosen und die Deutschen in den »Alldeutschen Blättern«. Dort stand zu lesen, der gegenwärtige Konflikt stelle nur den letzten Akt in einem uralten Antagonismus zwischen der »mittelländischen Rasse« - das waren die Franzosen - und den »Ariern« - also den Deutschen - dar. Diese unerbittlich aufeinanderprallenden Gegensätze hießen nur »politisch Frankreich und Deutschland, rassengeschichtlich aber Afrika und Europa«. Der erstaunte Leser erfuhr, dass die Franzosen - rassisch betrachtet - Afrikaner seien. Denn obwohl ihre eigentlich negroide Erscheinung durch das fränkische Element ihrer adligen Elite lange verdeckt worden sei, erweise ihr brutales, barbarisches Verhalten seit dem Ausbruch des Weltkrieges vollends die wahre Abstammung der Franzosen: »Frankreich und Deutschland! Afrika und Europa! Schon siebentausend Jahre lang ringen sie wider einander. [...] Denn Friede wird erst werden, wenn die rassenbewussten Afrikaner vom europäischen Boden verschwunden sind. [...] Die Zeit der Afrikaner ist vorüber!«125 Der Diskurs über farbige Kolonialtruppen war ein markantes Indiz für die Ausweitung einer qualitativ neuen Form der Ausgrenzung im Deutschland des Ersten Weltkriegs. Nicht allein innerhalb der radikalen Rechten und im konservativen Lager, sondern bis weit in das katholische und liberale Lager hinein, ja, selbst in Teilen der Arbeiterbewegung, stellte man sich den bedrohlichen Feind als rassisch »minderwertig« vor. Die Hasstiraden gegen die schwarzen Soldaten und gegen die Alliierten als »Verräter der eigenen Rasse« demonstrieren, wie weit ein biologistischer Nationalismus schon zum integralen ideologischen Be122 123 124 125

Vgl. Ebd., KLZ (A), 31.5.1915, 2; GE (M), 10.8.1916, 2. Stiehl, Feinde, 19. BT (M), 7.11.1914, 3. Vgl. GE (A), 25.8.1914, 4: »Ein frecher englischer Nigger«. ADB, 29.10.1914, 375-79, Zit. 378.

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standteil breiter Bevölkerungsschichten geworden war.126 Die durch farbige Kolonialtruppen verstärkten Bedrohungsängste konkretisierten langlebige Entwicklungen und Vorstellungen und verhalfen im Ersten Weltkrieg rassistisch-biologistischen Deutungsmustern zu einem breiten Durchbruch. Die offene Ethnisierung des Nationalismus zeigte, dass man sich zunehmend biologistischer Denkschemata bediente, um sich von den Westalliierten und von ihrer angeblichen Politik der ethnischen Kontaminierung Europas zu unterscheiden. Das Konzept eines auch biologistisch idealisierten deutschen Volkes bildete die Quintessenz aus der Gegenüberstellung eines zum Verteidiger des »weißen« Europas stilisierten Deutschlands und des degenerierten »Westens« im allgemeinen und des britischem Antityps im besonderen.'27 Diese durch die Bedingungen des Ersten Weltkrieges wesentlich verbreitete Perspektive des Rassismus bildete dann infolge der deutschen Niederlage von 1918 eine immer wieder aktualisierbare Vorstellung und wirkte auf das Weltbild des NS-Staates direkt ein.128 b) Deutsche und britische Juden. Zum Stellenwert des politischen Antisemitismus im Ersten Weltkrieg Der Nationalismus ist für den modernen Antisemitismus konstitutiv. Das Judenbild entsteht als Zerrbild der eigenen nationalen Gruppe. Die enge Beziehung besteht darin, dass beide Deutungsmuster mit Hilfe ähnlich dichotomer und das Fremde tendenziell abwertender Kategorien die politische Umwelt ordnen. Beide konstruierten eine fundamentale politische und kulturelle Ungleichheit, die unter den Bedingungen der extremen Feindfixierung im Ersten Weltkrieg nur noch schwer oder gar nicht aufzuheben war. Eine zusätzliche exklusive Dimension erhielt diese Form der Ausgrenzung durch die allmähliche Biologisicrung nationalistischer und antisemitischer Vorstellungen. Erst die Verbreitung biologistischer Nationsvorstellungen bereitete einer neuen Form antisemitischer Ausgrenzungsstrategien den Boden, mit deren Hilfe man pseudowissenschaftlich untermauert auch assimilierte Juden stigmatisieren und letztlich jeden politischen Gegner aus der »Volksgemeinschaft« verbannen konnte. Damit veranschaulicht gerade das Verhältnis von Nationalismus und Antisemitismus, in welchem Ausmaß die Grenzziehung zwischen äußeren und inneren Feinden stets konvergierte.129 126 Vgl. Reimann, Krieg, 210-22. 127 Vgl. Ebd., 227f; Troeltsch, Deutscher Geist, 56, 82; Sombart, Händler, 55. 128 Vgl. zur Wirkungsgeschichte nur Lebzelter, Schmach, 51-58; Mosse, Geschichte, 222f; Geiss, Geschichte, 261 ff. 129 Vgl. Holz, Antisemitismus, passim; Kimmel, Methoden, passimjeismann, Feind, 173-90.

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Nur eine knappe Generationsspanne trennt den Ersten Weltkrieg von der industrialisierten Vernichtung der Juden im Nationalsozialismus. Eine Geschichte des Nationalismus im Ersten Weltkrieg kommt daher nicht umhin, ein sowohl historisches als auch politisch-moralisches Minenfeld zu betreten und den Stellenwert des politischen Antisemitismus und das Verhältnis von Nationalismus und Antisemitismus zu vermessen. Obwohl gerade beim Vergleich des politischen Antisemitismus die Gefahr besteht, die britische Entwicklung zu idealisieren,130 stellt sich vor allem für Deutschland die Frage, inwieweit der Antisemitismus im Ersten Weltkrieg in die Vorgeschichte des nationalsozialistischen Antisemitismus einzuordnen ist. Sahen sich die deutschen, aber auch die britischen Juden, wie oft angenommen wird, einem durch die Bedingungen des Krieges verstärkten und radikalisierten Antisemitismus ausgesetzt?131 Begünstigte die Ausnahmesituation des Krieges eine neue Qualität antisemitischer Feindschaft? Verbreitete sich der Antisemitismus tatsächlich signifikant in weiten Kreisen der politischen Öffentlichkeit und der Regierung über die traditionelle Gruppe der rechtsradikalen Antisemiten der Vorkriegszeit hinaus? Der politische Antisemitismus erfreute sich am Vorabend des Krieges weder in Deutschland noch in Großbritannien eines besonderen Zulaufes. Der kontinuierliche Niedergang der antisemitischen Splitterparteien bis zu den Reichstagswahlen von 1912 schien auch in Deutschland für eine weitgehend erfolgreiche Integration der Juden in die Gesamtgesellschaft zu sprechen.132 Der radikalen Rechten war dieser Prozess bereits zu weit fortgeschritten. In Deutschland und in Großbritannien verbreitete sich, tatkräftig unterstützt von den Agitationsverbänden und Zeitungen der äußersten Rechten, ein biologistischer Nationalismus, der die politische und soziale Umwelt mit Hilfe rassistischer Kategorien ordnete. Integraler Bestandteil des Weltbildes eines Heinrich Claß oder Leo Maxse war der Glaube, dass die Menschheit in »natürliche« Rassen geschieden sei und dass die Juden eine allumfassende Gefahr für die ethnische Homogenität der deutschen wie der britischen Nation bildeten. Dieser neue Rassenantisemitismus gründete sich nicht mehr allein auf eine religiös-kulturelle, sondern auf eine biologistische Ausgrenzung der Juden und errichtete damit eine schwer durchringbare - weil vorgeblich wissenschaftliche Barriere gegen ihre Assimilation. Mit Hilfe der Denkfigur der »reinen Rasse« konnten auch gesellschaftlich integrierte Juden, ja, gerade die Angehörigen der Wirtschafts- und Bildungselite als Feinde stigmatisiert werden. Denn einem »natürlich minderwertigen« Juden waren die Errungenschaften der deutschen 130 Diese Tendenz kennzeichnet etwa W. Mosses Einleitung in Brenner, Two Nations, 1-13. 131 So Sieg, Intellektuelle, 174-194; Picht, Vaterland, 738; Berding, Antisemitismus, 165ff. Vgl. Schwabe, Politik, 255ff. 132 Vgl. Levy, Downfall, passim; van Rahden, Juden; passim; Friedländer, Veränderungen, 29f.; Holmes, Anti-Semitism, 104-10; D. Feldman, Englishmen, bes. 353ff.

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und der britischen Zivilisation weder durch Taufe noch durch Sozialisation näher zu bringen.133 Der Kriegsausbruch versprach zunächst, den Trend zur Assimilation der deutschen und der britischen Juden zu verstärken. Denn führende jüdische Repräsentanten in beiden Ländern begriffen den Krieg als Chance, sich als gute Patrioten und Staatsbürger zu bewähren. Diese Hoffnung auf gesellschaftliche Gleichberechtigung und Anerkennung durch das Bekenntnis zur kämpfenden Nation teilten sie mit anderen Minderheiten, mit Sozialdemokraten, Katholiken und Iren.134 Das Kriterium der nationalen Leistung versprach demnach das Kriterium der Ethnizität zu relativieren. Die nationalistische Einheitsvorstellung von einer »Volksgemeinschaft« war von Anfang an mehr als eine rein rhetorisch-ideologische Neuorientierung. Preußen ermöglichte es Juden nun, zum Offizier befördert zu werden. Allein im Jahre 1915 wurden in Deutschland mehr jüdische Männer eingebürgert als im ganzen Vorkriegsjahrzehnt. Zahlreiche jüdische Wirtschaftsexperten, Walther Rathenau ist nur das bekannteste Beispiel, stiegen in leitende Positionen zur Organisation der Kriegswirtschaft auf Giftige Antisemiten vom Schlage eines Houston Stewart Chamberlain erklärten öffentlich ihre Bewunderung für die Leistung der Juden, und antisemitische Hetzblätter, die das nationale Einheitsgebot des Burgfriedens verletzten, mussten mit ihrem Verbot durch die Zensur rechnen. Die Berufung der Juden auf die »Nation« und ihre Bereitschaft, für den kriegführenden Nationalstaat Leben und Besitz einzusetzen, ließ bekennende Antisemiten in der Öffentlichkeit Gefahr laufen, gegen die geltende Einheitsrhetorik zu verstoßen. Der Nationalismus deutscher und britischer Juden erschwerte ihren Gegnern daher ihr Handwerk.135 Doch die Belastungen des totalen Krieges gaben dem Antisemitismus neue Nahrung. Mit der dramatischen Verschlechterung der ökonomischen, militärischen und politischen Lage beider Kriegsgesellschaften zogen sich deutsche und britische Juden immer wieder den Hass von Teilen der Bevölkerung zu, die sie für ihre Notlage verantwortlich machten. Das Zerrbild des jüdischen Kriegsgewinnlers aktualisierte das traditionelle antisemitische Image des jüdi133 Vgl. Chickering, Men, 230ff; Berding, Antisemitismus, 140-51; Lebzclter, Anti-Semitism, 88-93; Bauerkämper, Rechte, 76-81. 134 Vgl. BT (A), 14.8.1914, 9; KLZ (2.M), 2.8.1914, 1; sowie Sieg, Intellektuelle, 53-87; C. Hoffmann, Integration, 92-95; Picht, Vaterland, 736-38. 135 »Wenn etwas erhebend ist in diesem Kriege«, hieß es in einem Beschwcrdcschreiben an den Kanzler gegen antisemitische Propaganda, »dann ist es die Einmütigkeit (...) mit der alle Parteien und alle Confessionen [...] unverzagt Gut und Blut opfern für das Vaterland«. Jede antisemitische Verleumdung ist daher »eine so infame, niederträchtige und ehrlose Verleumdung aller der Tapferen, die draussen ihr Blut vergießen und ihr Leben für das Vaterland lassen«. BA R1501 112276/1, B1.12 (15.12.1914). Vgl. ebd., B1.354f. (11.9.1916); sowie Zechlin, Politik, 92-94; Kimmel, Methoden, 82-87; Gosewinkel, Einbürgern, 330f; Schwabe, Politik, 258. Vgl. zur Zensur in Deutschland Kapitel I., Anm. 55f.

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schen Wucherers.136 In Großbritannien ereigneten sich 1915 und 1917 vor allem in London und Leeds ausgedehnte antisemitische Ausschreitungen, an denen sich einige Tausend Menschen beteiligten. Verängstigte jüdische Ladenbesitzer meist osteuropäischer Herkunft stellten ihre Einbürgerungspapiere in die Schaufenster.137 Denn in Großbritannien propagierte die radikale Rechte eine spezifische Form des Antisemitismus, die sich wesentlich aus dem Topos speiste, dass in England lebende deutsche Juden für die Misere verantwortlich seien. Im Urteil eines Leo Maxse oder Arnold White bildeten die Begriffe »German« und »Jew« austauschbare Feindbestimmungen. »The victory of Germany is for some mysterious reason a desideratum of almost the entire Jewish race«.138 Diese Denkfigur demonstrierte nicht nur die Abhängigkeit des Antisemitismus vom Nationalismus, sondern veranschaulichte auch, wie sich äußere und innere Bedrohungsvorstellungen zu einem einzigen überwölbenden Feindbild verdichten konnten. Maxse war einer der entschiedensten Befürworter einer rigorosen Internierungspolitik, die auf Deutsche und ihre vermeintlichen jüdischen »Artgenossen« gleichermaßen zielte: »It is the case of now or never with the British people. Either we shall remain what this generation has been, namely hewers of wood and drawers of water to German Jews, or we shall make a mighty concerted effort to emancipate the nation from this fell and foul influence«.139 Eine große Bedeutung kam dem Antisemitismus als Waffe in innenpolitischen Auseinandersetzungen zu. Auch diese Tatsache verdeutlicht seine strukturelle Affinität zum Nationalismus. Im Streit um Kriegsziele und Partizipationsforderungen enthielten die Angriffe der radikalen Rechten gegen die Linke und ihre Presse nicht selten antisemitische Spitzen. Die gesellschaftliche Rolle der deutschen und der britischen Juden band man so an die zentralen Kriegsfragen. Versuche, einen Verhandlungsfrieden oder innenpolitische Reformen zu erreichen, diffamierte man als »Judenfrieden« und gesellschaftliche »Zersetzung«.140 Kraftvollen Nationalisten standen undeutsche und unbritische »Flaumacher« unter jüdischem Einfluss entgegen. Nur die wenigsten innenpolitischen Gegner der radikalen Rechten waren tatsächlich jüdischen 136 Vgl. GE (M), 23.5.1918, 2: »Brotfrage und Judenfrage«; DM, 25.8.1916, 4. 137 Vgl. Holmes, Anti-Semitism, 128-31. 138 NR 64 (1914), 47. Vgl. NR 64 (1914), 236; Holmes, Anti-Semitism, 122-25. 139 NR 64 (1914), 517. Vgl. zu der Vorstellung einer deutsch-jüdischen Verschwörung auch NR 64 (1914), 161, und zur Verknüpfung der deutschfeindlichen mit der antisemitischen Kampagne Lebzelter, Anti-Semitism, 88-105; Panayi, German, 245—47. 140 »Es ist auch nicht zu verkennen«, befand im Krisenjahr 1918 Obcrstlautnant Max Bauer [ Deist, Militär, 1214], »dass [...] die Verbreitungjüdischer Denkungsweise (denn diese beherrscht tatsächlich die Sozialdemokratie und die Kreise des Berliner Tageblattes, der Frankfurter Zeitung usw.) zersetzend wirken«. Vgl. NPZ (A), 29.1.1918,3; u. Kimmel, Methoden, 126-45; Jochmann, Ausbreitung, 432f; Friedländcr, Veränderungen, 43f.; Berding, Antisemitismus, 174-77; C. Hoffmann, Integration, 97f.

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Glaubens. Der rechtskonservativen Opposition gegen die Regierungen Asquith und Bethmann Hollweg diente der Antisemitismus als ein Verfahren, ihre Interessen und Ziele gegen die herrschende Politik zu formulieren und zu legitimieren. Demnach war selbst die Regierung vom jüdischen Gift infiziert und musste als verlängerter Arm jüdischer Interessen zum Wohle der Nation beseitigt werden: »In the Asquith Cabinet« und »in Parliament where the friends of our enemies have at every crisis demonstrated their power, in German Jewish newsagencies, German Jewish Journals, German Jewish financial houses«.141 In der Perspektive eines biologistischen Nationalismus fixierte und konstruierte man gerade in der Innenpolitik unversöhnliche Gegensätze und unaufhebbare Konfliktlinien. Die antisemitische Feindbestimmung der radikalen Rechten oszillierte beinahe beliebig zwischen Juden und Nichtjuden, zwischen Arbeiterbewegung und Regierung. So erleichterte der Antisemitismus die Bekämpfung der zu »jüdischen Feinden« gemachten innenpolitischen Gegner. Wer als »Jude« galt und wer nicht, das beanspruchte die extreme Rechte auch schon im Ersten Weltkrieg zu bestimmen. Der Antisemitismus im Ersten Weltkrieg war weder eine spezifisch deutsche noch eine hier mit besonderer Radikalität propagierte Angelegenheit. Für einen Vorfall aber scheint dieser Befund nicht zu gelten. Als eine der markantesten Zäsuren in der Geschichte des Antisemitismus in Deutschland vor 1933 gilt die sog. »Judenzählung«.142 Am 11. Oktober 1916 erging vom preußischen Kriegsminister AdolfWild v. Hohenborn ein Erlass, wonach alle militärischen Dienststellen ein Verzeichnis der vom Dienst mit der Waffe im Heer freigestellten Juden anzufertigen hätten. Diese Anordnung stellte nichts weniger als eine bis dahin unbekannte Form der Diskriminierung der jüdischen Deutschen durch staatliche Stellen dar. Schlimmer noch wurde die Affäre dadurch, dass die Ergebnisse der Erhebung nie offiziell veröffentlicht wurden und daher den wildesten Spekulationen Nahrung boten. Auch wenn sich die Vorgeschichte des Erlasses nicht mehr befriedigend rekonstruieren lässt, besteht offenbar ein Zusammenhang zwischen dem Zustandekommen der »Judenzählung« und der antisemitischen Kampagne der radikalen Rechten.143 Das preußische Kriegsministerium war monatelang mit zahlreichen Beschwerden über vermeintliche jüdische »Drückeberger« konfrontiert worden. Unter den preußischen Militärs, die vor dem Krieg die Beförderung von Juden zu Offizieren nach Kräften behindert hatten, fiel dieser Antisemitismus auf fruchtbaren Boden. Doch auch im politischen Katholizismus rekurrierte man auf ein traditionell jüdisches Feindbild. Denn am 19. Oktober beantragte Matthias Erzberger für die 141 NR 64 (1914), 43f. Vgl. C. Hoffmann, Integration, 95-97; Schwabe, Politik, 259-62; Bauerkämper, Rechte, 82f., 130f 142 Vgl. Angrcss, Militär, passim; Sieg, Intellektuelle, 87-96; Nipperdey, Geschichte I, 412f; van Rahden, Juden, 317f. 143 Vgl. Aiigress, Militär, bes. 79-83, 97; Zechlin, Politik, 528-33; Picht, Vaterland, 746f.

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Zentrumsfraktion im Hauptausschuss des Reichstages, das Parlament über die konfessionelle Zusammensetzung aller Mitarbeiter in den Kriegsgesellschaften zu unterrichten.144 Die breite Öffentlichkeit erfuhr erst am 3. November 1916 durch eine Debatte im Reichstag vom Erlass das Kriegsministeriums. Doch besondere Aufmerksamkeit, von der Empörung der jüdischen Organisationen abgesehen, erregte weder die Aussprache im Parlament noch die Reaktion in der Presse.145 Denn das Augenmerk der politischen Akteure richtete sich Anfang November fast ausschließlich auf die drängende Ernährungslage, die Frage der Kriegsziele und die Ausrufung des polnischen Königreiches. Vor beinahe leeren Bänken verteidigte Oberst Ernst v. Wrisberg für das Kriegsministerium den Erlass vom 11. Oktober: »Diese Verfügung hat nur den Zweck gehabt, statistisches Material zu sammeln, und Vorwürfe, die gegen die Juden erhoben worden sind, diesseits prüfen zu können. Antisemitische Absichten sind durch diese Verfügung selbstverständlich in keiner Weise verfolgt worden«.146 Die SPD und die FVP nahmen den Militärs diese Behauptung nicht ab. Ihre Redner brandmarkten die Anordnung als einen unpatriotischen und gefährlichen Bruch des Burgfriedens. Aus der Perspektive des Nationalismus der Linken bedeutete die »Judenzählung« eine die innere Einheit und damit die Kriegführung der Nation belastende Bürde. Da die Anforderungen des Krieges, so der Abgeordnete Ludwig Haas, es »dringend notwendig [machen], dass wir in diesem schweren Kampfe alle Volkskräfte einheitlich und geschlossen zusammenfassen, [...] ertragen [...] wir [...] es [...]. nicht, dass man das deutsche Volk mit aller Kraft auseinanderreißen und gegenseitig verhetzen will«.147 Auf der gleichen Linie argumentierten etwa die »Frankfurter Zeitung« und führende Vertreter der deutschen Juden: »Die Zählung der Juden ist nichts als eine Kränkung für Tausende, die ihre Pflicht redlich getan haben, und die genau so begeistert wie die Tausende von Nichtjuden sich dem Vaterland zur Verfügung gestellt haben«.148 Dem Bekenntnis zur kriegführenden Nation und der Warnung vor der Gefährdung der inneren Einheit der »Volksgemeinschaft« war öffentlich nicht zu widersprechen. Keine der latent oder offen antisemitischen Parteien, weder das Zentrum noch die Konservativen, meldete sich in der Reichstagsdebatte zu Wort, um den 144 Im Gegensatz zum Kriegsministerium gab das Innenministerium den Antisemiten nicht nach, und führte eine Erhebung ohne das Kriterium der Konfession durch. Vgl. Jochmann, Ausbreitung, 424f; Angress, Militär, 83; Berding, Antisemitismus, 173; sowie insges. Blaschke, Katholizismus, passim. 145 Von den hier untersuchten Zeitungen war die »Judenzählung« nur der FZ, dem BT und dem VO eine meist recht kurze, ablehnende Erwähnung wert. Unrichtig dagegen Angress, Militär, 84, Anm. 83. 146 Sten. Ber. RT, Bd. 308, 2038 (3.11.1916). Vgl. BT (M), 4.11.1916,3f. 147 Ebd. 2051 f. Vgl. ebd., 2048-53; Zechlin, Politik, 533f. 148 FZ (2.M), 4.11.1916, 1. Vgl. VO, 4.11.1916, 2; sowie die Denkschrift des Hamburger Bankiers Max Warburg, in Angress, Militär, 106-110; Picht, Vaterland, 748f

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Erlass des Kriegsministeriums zu verteidigen. Der Nationalismus der Gegner der »Judenzählung« und der deutschen Juden eröffnete ihnen Rede- und Handlungsspielräume, die er den Antisemiten verschloss. Auch der Regierung Bethmann Hollweg war die Angelegenheit peinlich. In den Augen der Reichsleitung drohte die »Judenzählung« beträchtlichen Schaden ohne greifbaren Nutzen anzurichten und stellte daher eine überflüssige Belastung der ohnehin schon gespannten innenpolitischen Lage dar. Von der für die Kriegführung dysfunktionalen Wirkung des Erlasses berichteten einige Regierungsstellen an die Reichskanzlei. Nicht nur der Burgfriede würde untergraben, sondern auch die Spendenfreudigkeit der deutschen Juden drohe bei der kommenden Kriegsanleihe nachzulassen.149 Um den innenpolitischen Schaden zu begrenzen, ging die Reichskanzlei gegenüber dem Kriegsministerium vorsichtig auf Distanz, und Bethmann Hollweg »beklag[t]e aufrichtig die nach den Ausführungen der Eingabe in israelitischen Kreisen entstandene Verstimmung über die Sonderuntersuchung, der israelitische Militärpersonen [...] unterworfen worden sind«.150 Inzwischen ruderte auch der neue Kriegsminister Hermann v. Stein zurück und gab - wenn auch nicht öffentlich - eine indirekte Ehrenerklärung für die ihre nationale Pflicht erfüllenden jüdischen Soldaten ab. Als im Verlauf des Jahres 1917 weitere Beschwerden über die Benachteiligung von Juden durch einzelne Militärstellen einliefen, reagierte Stein sofort, und ordnete persönlich ein Ende derartiger Vorfälle an: »Nachdem kaum die üblen Folgen der sogenannten Judenzählung überwunden sind, müssen jene Maßnahmen von neuem Unruhe und Missstimmung hervorrufen«.151 Scheut man die Pointierung nicht, dann stellte die »Judenzählung« einen »Betriebsunfall« dar, der mehr über den traditionellen Antisemitismus der preußischen Militäreliten als über die Entstehung eines neuen Radikalantisemitismus verrät. Die Zählung bedeutete zunächst einen politischen Misserfolg für die Antisemiten in Deutschland, erlaubten ihnen die geltenden Regeln der nationalen Einheitsrhetorik doch nicht, diese Maßnahme öffentlich zu verteidigen. Den gerade in der zweiten Kriegshälfte vorhandenen antisemitischen Ressentiments und Argumcntationsformcln in der deutschen Innenpolitik widerstanden nicht nur Sozialdemokraten und Liberale, sondern im Regelfall auch die Mitglieder der Reichsleitung. Außenpolitisch fällt die Bilanz dunkler aus. Im Zuge der Kriegszieldebatte verbanden sich Polenfeindschaft und Antisemitismus unentwirrbar mit der Vorstellung einer ethnisch homogenen deutschen Abstammungsgemeinschaft. Die deutsche Expansionspolitik in Osteuropa beförderte eine Ethnisierung deutscher Nationsvorstellungen, die im Umkehrschluss vor allem auf die Juden in Polen zurückwirkte. Hatte Heinrich Claß schon 1914 in seiner berüchtigten Kriegszielschrift eine »völkische Feld149 Vgl. Angress, Militär, 86f., 120f., 127; Zechlin, Politik, 535-38; Schwabe, Politik, 260f. 150 Zit. n. Angress, Militär, 118. 151 Ebd., 127. Vgl. ebd., 86-88; Zechlin, Politik, 536-41.

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bercinigung«152 und die zwangsweise Aussiedlung von als »minderwertig« verachteten Polen undjuden aus dem zu »germanisierenden« Osten angeregt, griffen im Verlauf des Krieges auch zahlreiche Regierungsvertreter diese Ideen auf. Innenminister Loebell etwa sprach sich gegenüber dem Kanzler dafür aus, »die Polen undjuden [...] fernab der Grenze zu verschieben, [...] damit [man] [...] in den Grenzstrichen einen möglichst großen Prozentsatz deutscher Einwohner« erhalte.153 Doch im Ersten Weltkrieg kam die gewaltige Umsiedlungsaktion zu Lasten der osteuropäischen Juden über erste Entwürfe nie hinaus. Den ehrgeizigen Umsiedlungsplänen stand aufder anderen Seite das Bemühen der Mehrheit der leitenden Beamten der preußischen Administration entgegen, auch die Einwohner der Ostgebiete nach dem Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz zu behandeln. »Bei allen diesen Maßnahmen ist die Heranziehung der Juden nicht zu vergessen«, denn es komme an auf »die Besserung des Loses der Bauern und Arbeiter und vor allem die unbedingte Gleichstellung aller in Polen vertretenen Bekenntnisse«.154 Der Befund fällt daher zwiespältig aus: Auf der einen Seite relativiert die zurückhaltende bis ablehnende Aufnahme der verschiedenen antisemitischen Vorstöße auch für Deutschland die Bedeutung des Ersten Weltkrieges in der Geschichte des Antisemitismus. Eine signifikante gesellschaftliche Ausweitung oder Abnahme fand nicht statt, doch wer vor 1914 offen oder latent Antisemit war, ließ von seiner Judenfeindschaft auch im Krieg nicht ab. Weder die enge Verbindung des Antisemitismus mit nationalistischen Argumentations- und Deutungsmustern noch deren zunehmende Biologisierung verursachten eine beträchtliche Ausweitung oder Radikalisierung des politischen Antisemitismus. Bedenkt man den hohen Stellenwert der gegen die öffentliche Diskriminierung der deutschen und der britischen Juden wirkenden politischen Kräfte, geht die Gleichung, nach der eine zunehmende Biologisierung des Antisemitismus seiner Radikalisierung gleichkommt, nicht auf Zwar begünstigte die Amalgamierung nationalistischer und antisemitischer Vorstellungen in beiden Ländern die innenpolitische Feindfixierung. Doch ist es unzulässig, von der Verbreitung des Antisemitismus als innenpolitischem Kampfmittel direkt auf eine neue Quantität und Qualität der Judenfeindschaft im Ersten Weltkrieg zu schließen. Die in diesen Auseinandersetzung zu nationalen Feinden markierten »Juden« waren im Regelfall nicht jüdischen Glaubens, sondern mit Hilfe des 152 Claß, Denkschrift, 45. 153 GStPK Rep. 77, Tit. 1884, Nr. 1, Bl. 6f. (1.2.1916),(Hervor. i. Orig.!). Entsprechend sprach sich der Regierungspräsident von Frankfurt/Oder Friedrich v. Schwerin für eine »Umsiedlung‹ großer Volksmengen« aus. Denn die »Juden im Grenzgebiete [...] einfach in bisheriger Weise auf die Bevölkerung loszulassen, halte ich für ausgeschlossen«. BA R43 2442/k, Bl.l82f. (25.3.1915). Vgl. BA R43 2443, B1.246; sowie Geiss, Grenzstreifen, passim; F. Fischer, Griff, 19395, u. hier Kapitel II.4.a. 154 BA R43 2476, BI.20 (27.8.1914). Vgl. Zechlin, Politik, 159-63,278-84; Schwabe, Politik, 266.

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Antisemitismus und Nationalismus beinahe beliebig bestimmte innenpolitische Gegner. Ein eindeutiges Urteil wird zudem durch die Tatsache erschwert, dass der Nationalismus nicht nur die Ausgrenzung von deutschen und britischen Juden aus der nationalen Gemeinschaft erlaubte, sondern dass das Bekenntnis der Juden zur kriegführenden Nation im Zeichen des »Burgfriedens« auch ihre öffentliche Diffamierung hemmte. Auf der anderen Seite der Bilanz aber steht unstrittig, dass eine signifikante gesellschaftliche Ausbreitung des Antisemitismus in Deutschland als Ergebnis des staatlichen Zusammenbruchs nach 1918 eintrat. Bereits im Ersten Weltkrieg war dazu der Keim in Gestalt einer Denkfigur angelegt, welche die »rassisch minderwertige« Bedrohung in den eigenen Reihen fixierte. Doch erfolgte eine erfolgreiche Umdefmition »des Juden« zur »Gegenrasse« der Deutschen erst als Folge der traumatischen Auswirkungen des Ersten Weltkriegs. Ohne Niederlage, Revolution, Hyperinflation und »Großer Depression« wäre der Erfolg des Radikalantisemitismus der Zwischenkriegszeit kaum vorstellbar. Denn im Ansatz vollzog sich dieser Prozess, gerade was die Bedeutung eines biologistischen Antisemitismus anging, nach 1918 auch in Großbritannien. Die politische Durchsetzungsfähigkeit eines biologistischen Antisemitismus und Nationalismus erklärt daher für sich genommen die dramatische Fehlentwicklung im Verhältnis von Juden und anderen Deutschen in der Weimarer Republik nicht. c) Im Intimbereich der britischen Nation: Der Fall des Mr Pemberton Billing An der Jahreswende 1917/18 gab der Kriegsverlauf Großbritannien reichlich Anlass zur Sorge. Die bescheidenen Geländegewinne der Passchendaele-Offensive standen in keinem Verhältnis zu den fürchterlichen Verlusten der Briten. Im März 1918 brachte der deutsche Großangriff in Frankreich die britische Armee an den Rand der Katastrophe. Die äußerst angespannte innenpolitische Atmosphäre kennzeichnete eine allgegenwärtige Krisenrhetorik. Die drohende militärische Niederlage begünstigte eine dichotome, feindfixierte Wahrnehmung der Umwelt und bereitete einer extrem nationalistisch verzerrten Deutung des öffentlichen wie des privaten Lebens Bahn. Der kuriose Prozess des Mr Pemberton Billing machte klar, dass in einem totalen Krieg potentiell alles eine »nationale« Angelegenheit und nichts mehr unpolitisch war. Am 26. Januar 1918 veröffentlichte der unabhängige Hinterbänkler Noel Pemberton Billing in der von ihm herausgegebenen rechtsradikalen Zeitschrift »Imperialist« einen Artikel unter der Schlagzeile: »The Forty-Seven Thousand«. Die Erwähnung der »First 47.000« war eine Parodie auf Ian Hays »The First Hundred Thousand«, einer patriotischen, kommerziell sehr erfolgreichen 148 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1

Eloge auf Kitcheners Armee aus dem Jahre 1915. Der Artikel enthielt eine ungeheure Anschuldigung: Auf 47.000 beziffere sich die Anzahl der sexuell Perversen innerhalb der englischen Elite, deren Namen und deren widerliche Praktiken dem deutschen Geheimdienst in einem schwarzen Buch detailliert vorlägen. Diese Liste werde von den Deutschen genutzt, um die englische Elite zu erpressen und halte sie so davon ab, den Krieg für Britannien zu gewinnen: »There exist in the Cabinet Noir of a certain German Prince a book compiled by the Secret Service from reports of German Agents who have infested this country for the past 20 years. [...] There are the names of 47.000 English men and women [...] Privy Councillors, wives of Cabinet Ministers, even Cabinet Ministers themselves, diplomats, poets, bankers, editors [...] preventing from putting their strength into the war by corruption and blackmail and fear of exposure. [...] Wives of men in supreme position were entangled. In Lesbian ecstasy the most sacred secrets of State were betrayed. The sexual pecularities of members of the peerage were used as a leverage to open fruitful fields for espionage«.155 Trotz vier Jahren antideutschen Hasses und sich überschlagender Spionagegerüchte rief Billings gezielte Provokation zunächst, für ihn enttäuschend, gar keine Reaktion hervor. Als aber im Februar ein Theater eine geschlossene Aufführung von Oscar Wildes Skandalstück »Salome« mit der berühmten Tänzerin Maud Allan in der Titelrolle ankündigte, witterte Billing seine Chance, doch noch einen handfesten Eklat zu provozieren. Am 16. Februar 1918 hieß es in seiner, inzwischen in »Vigilante« umgetauften Zeitschrift unter der Überschrift »The Cult of the Clitoris«: »To be a member of Maud Allan's private performance in Oscar Wilde's Salome one has to apply to a Miss Valetta, of 9, Duke Street, Adelphi, WC. If Scotland Yard were to seize the list of these members I have no doubt they would secure the names of several of the first 47.000«.156 Wohl niemals zuvor hatte in England eine Zeitung eine derart offen obszöne Schlagzeile benutzt. Maud Allan fühlte sich aufgrund der Überschrift als Lesbierin bezeichnet und verklagte Billing. Für die damalige Öffentlichkeit, die in bezug auf sexuelle Freiheit noch in viktorianischer Prüderie verharrte, bedeutete diese dramatische Enthüllung eine Sensation. Eine Tänzerin, ein exzentrischer Abgeordneter, eine moralisch angeblich angeschlagene englische Elite und der deutsche Geheimdienst spielten die Hauptrollen in einem Drama, in dem es im Zeichen des totalen Krieges um nichts weniger als um »our very national existence« zu gehen schien.157 Der Skandal war fast perfekt. 155 Zit. n. Hoare, Stand, 1.Extreme Blätter wie der JB, 15.6.1918,6, assistierten Billing: »The enemy had taken advantage of this knowledge of the moral perversion and the sexual degeneracy of men and women whose names are in that Black Book, to blackmail the offenders - to force them by fear of exposure to work the will of the foe, or, alternatively, that those recorded degenerates were afraid to act with honest energy and patriotic strength in the task of defeating Germany«. 156 Ebd., 91. 157 Billing zit. n. Hynes, War, 227.

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Die delikaten Enthüllungen Pemberton Billings trafen einen offenen Nerv, indem sie die Furcht vor intimen Abgründen mit gesellschaftlicher Kritik an der englischen Elite und dem Hass auf die Deutschen verschmolzen. Geschickt spielte Billing auf verbreitete Degenerationsängste im allgemeinen und die Sorge vor einer militärischen und sexuellen Bedrohung im besonderen an.158 Seit Beginn des Krieges erregte sich die britische Öffentlichkeit über die rapide in der Armee ansteigenden Geschlechtskrankheiten einerseits und die vereinzelt bekannt gewordenen Fälle von Homosexualität andererseits.159 Als verführerisches Erklärungsmodell für diese Vorfälle bot sich wie immer der deutsche Feind und dessen »Hidden Hand« im eigenen Land an. Die Logik schien einfach und klar: Da sexuelle Perversion selbstredend unbritisch und fremdartig war160 und die meisten Deutschen nach allem Hörensagen ohnehin abnorm veranlagt waren, standen offenbar auch die moralisch verirrten Briten unter deutschem Einfluss. Im öffentlichen Diskurs mischten sich die antideutsche Gräuelpropaganda und Geschichten über Vergewaltigungen und Verstümmelungen namentlich belgischer Frauen mit Berichten über die Verbreitung der Homosexualität in Deutschland und verdichteten sich zu einer gleichzeitig das Unmännliche und das Hinterhältige des Deutschen betonenden Vorstellung.161 Die Diffamierung des Feindes als unmännlich und sexuell abnorm stellte eine traditionelle aber gleichwohl stets attraktive Praxis dar. Dass die radikale Rechte sich die britische Nation als eine männliche dachte, zeigte bereits die Wortwahl. Billing etwa warnte vor deutschen Versuchen »the stamina of British sailors« zu unterminieren, und der »John Bull« polemisierte gegen »unnatural women« und »feminine vampires«.162 Schriftsteller wie Arnold White zogen die Parallele zwischen der deutschen sexuellen Degeneration und ihrem sinisterem Einfluss auf den moralischen Zustand Britanniens: »The tendency in Germany is to abolish civilisation as we know it, to substitute Sodom or Gomorrah for the new Jerusalem, and to infect clean nations with Hunnish erotomania«.163 Billing hatte viele dieser Vorstellungen und Ängste gebündelt, konkrete Vorwürfe erhoben und Namen genannt. Deutsche Agenten stünden selbst in der Hauptstadt bereit, Großbritannien durch die gezielte Verbreitung sexueller Ausschweifungen und namentlich der Homosexualität in seinem Intimbereich zu schwächen.164 158 Vgl. Solloway, Degenerates, bes. 147-58; Winter, People, 10-18. 159 Vgl. DeGroot, Blighty, 231-36; Hoare, Stand, 27-29. 160 »These perversions of sexual passion have no home in the healthy mind of England. [...] It is abhorrent to the nature of this nation«, MP, 6.6.1918, 4. 161 Vgl. Marrin, Crusade, 184f; Hoare, Stand, 27. 162 Ebd., 58; JB, 22.6.1918, 6. 163 Zit. n. Panayi, Enemy, 177. Entsprechend JB, 15.6.1918, 7: »Ask yourselves whether the virus of sexual degeneracy has not polluted our blood«. 164 »Agents of the Kaiser were stationed at such places as Marble Arch and Hyde Park Corner«, (»Imperialist«, 26.1.1918), zit. n. Hoare, Stand, 58.

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Erst der wenig glückliche Kriegsverlauf im Frühling 1918 verlieh diesen aberwitzigen Anschuldigungen eine gewisse Glaubwürdigkeit. Mit Hilfe der Vorstellung von der deutschen »Hidden Hand« im eigenen Land bot sich endlich eine überzeugende Erklärung für den bislang ausbleibenden Erfolg im Krieg gegen das Deutsche Reich an. Die Presse der radikalen Rechten machte die ominöse »Hidden Hand« für die vermeintlich ineffektive britische Seeblockade und für die ungenügende ökonomische Mobilisierung verantwortlich.“165 Zu allem Überfluss gelang der deutschen Armee im Zuge der MärzOffensive ein beinahe vollständiger Durchbruch durch die britischen Linien, der Großbritannien zeitweilig an den Rand der Niederlage zu bringen schien. Nur vor diesem Hintergrund wird einigermaßen verständlich, dass Billings völlig frei erfundene Verschwörungstheorien überhaupt ernsthaft diskutiert wurden. Die Lage war ernst und drohte durch die intime Schwächung Britanniens hoffnungslos zu werden: »All the horrors of shells and gas and pestilence introduced by the Germans in their open warfare would have but a fraction of the effect in exterminating the manhood of Britain as the plan by which they have already destroyed the first 47.000«.166 Der Prozess begann am 29. Mai und dauerte bis zum 4. Juni. Billings theatralische Fähigkeiten und die Tatsache, dass mehrere Beteiligte dem Theater oder der Halbwelt nahe standen, trugen dazu bei, die Verhandlung in eine bizarre Farce zu verwandeln. Billing übernahm seine eigene Verteidigung, weigerte sich, irgendwelche Anweisungen des sichtlich überforderten Richters Charles Darling zu befolgen, berief Zeugen, wie es ihm beliebte, und verhielt sich generell eher wie der Staatsanwalt und nicht wie der Beklagte. Nachdem er am ersten Verhandlungstag Maud Allan über Wildes moralisch verwerfliche »Salome« befragt hatte, erklärte er am zweiten Tag, nun Beweise für dessen zersetzende Wirkung zu erbringen. Billing schlug die Brücke zwischen dem Skandalstück und dem schwarzen Buch, indem er erklärte, viele der ominösen 47.000 seien Anhänger von Wilde. Als Kronzeugin berief Billing Mrs Eileen Villiers-Stuart - seine Geliebte. Diese gab zu Protokoll, das Buch unter Zeugen in einem Hotel in Ripley gesehen zu haben. Als Richter Darling versuchte, die endlose Debatte über das dubiose Buch mit der Begründung zu beenden, es gebe für dessen Existenz nicht den geringsten Beweis, verlor Billing die Beherrschung. Mit sich überschlagender Stimme redete er auf Mrs Villiers-Stuart ein, die gleichfalls zurückschrie: Billing: »Is Justice Darling's name in the book?« Villiers-Stuart: »It is«. Darling: »Just a moment«. 165 JB, 15.6.1918,6. 166 »Imperialist«, 26.1.1918, zit. n. Hoare, Stand, 58. 151 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1

Villiers-Stuart: »It can be produced.« Darling: »It can be produced?« Villiers-Stuart: [...] Mr Justice Darling, we have got to win this war, and while you sit there, we will never win it. My men are fighting«.167 Billing: Is Mrs Asquith's name in the book?« Villiers-Stuart: »It is.« Billing: »Is Mr Asquith's name in the book?« Villiers-Stuart: »It is.« Billing: »Is Lord Haldane's name in the book?« Villiers-Stuart: »It is«.168

Von einem ungeheuren Tumult im Gerichtssaal fortgetragen, ließ Billing die Liste der prominenten abnorm veranlagten Verräter immer weiter vermehren. In einem Stil, der einem Schauprozess Senator McCarthys würdig gewesen wäre, unterhielt er das staunende Publikum mit zahlreichen delikaten Einzelheiten. Billings zweiter Zeuge, der offenbar an leichter geistiger Verwirrung leidende Captain Harold Spencer, beglückte die Anwesenden mit einer endlosen Spionage- und Verschwörungsgeschichte und erklärte, das Buch im Besitz des Königs von Albanien, eines deutschen Prinzen, gesehen zu haben.169 Am 4. Juni sprach die Jury Billing in allen Anklagepunkten frei. Der Gerichtssaal spendete stehende Ovationen, und Hunderte Menschen jubelten Billing beim Verlassen des Old Bailey zu.170 Billing hatte in dem nicht nur für die Geschworenen undurchsichtigen und unappetitlichen Prozess geschickt die Rolle des patriotischen Saubermannes gespielt, der sein Land gegen eine Verschwörung moralisch verkommener innerer und äußerer Feinde rein zu halten suchte. Während er den Triumph auskostete, ein ungeheures öffentliches Aufsehen erregt und so seine Ideen nunmehr landesweit verbreitet zu haben, waren die Reaktionen auf den Ausgang des Prozesses für ihn wenig erfreulich. Nur der notorische »John Bull« sprang Billing bei, und selbst die »Morning Post« ging vorsichtig aufDistanz.171Die große Mehrheit in der Presse aller politischen Lager zeigte sich bestürzt über »a maze of wild and irrelevant charges against anybody and everybody, supported by witnesses whose evidence suggested the madhouse or the comic opera stage«.172 Gerade die liberale Presse betonte, dass die gegenwärtige politische Atmosphäre eine tödliche Gefahr für 167 Im Falle der Bigamistin Villiers-Stuart war der Plural korrekt. 168 Gerichtsprotokoll zit.n. Hoare, Stand, 120. Vgl. TI, 31.5.1918. 4. 169 Vgl. Hoare, Stand, 122-31; Panayi, Enemy, 176-79. 170 ΤΙ, 5.6.1918, 4. 171 Es sei nunmehr erwiesen, hieß es im »John Bull«, 22.6.1918, 6, »that the Germans have been behind these social and sexual depravities. There is evidence full and sufficient to convict the enemy of a settled scheme to undermine our moral by these habits«. Vgl. aber MP, 6.6.1918,4; NR 70 (1918), 558-560. Aufschlußreich ist ein Vergleich mit Clemenccaus Kampagne gegen die »Defätisten« in Frankreich 1917. Dazu Slater, Defeatists, passim. 172 DN, 5.6.1918, 4. Vgl. ΤΙ, 5.6.1918, 7; DT, 6.6.1918, 6.

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Großbritannien darstelle, für die aber weniger deutsche Agenten, als vielmehr die eigene rechte Skandalpresse verantwortlich zeichne: »The atmosphere of poisened suspicion [...] is fraught with the utmost danger to the unity, the sanity, and indeed the very existence of the nation at war. We entirely agree; but who began it? Not Mr. Billing, but the Yellow section of our Press, which for some time used him among its tools«.173 Im sichtlich irritierten Kabinett, das die ganze Angelegenheit ja nicht zuletzt betraf, überlegte man vergeblich, wie man in Zukunft derartige Anschuldigungen unterbinden könne.174 Während die deutsche Offensive in Frankreich weitere Fortschritte machte, hatte sich die britische Öffentlichkeit tagelang mit einem offenbar dringlicheren Problem auseinandergesetzt. Spottend und staunend kommentierte der »New Statesman«: »A great battle is raging; armies are bleeding and dying; Paris is at stake; and for a week the interest of the british public has been almost entirely centred upon a trial for criminal libel«.175 Der in Frankreich kämpfende junge Dichter Siegfried Sasson war sich nach dem Billing-Prozess nicht mehr so sicher, wo die Grenze zwischen dem Wahnsinn der Front und dem der Heimatfront verlief Nach einem verlustreichen Rückzugsgefecht seiner Einheit notierte er in sein Tagebuch: »The papers are full of this foul ›Billing Case‹. Makes one glad to be away from ›normal conditions‹. And the Germans are on the Marne and claim 4500 more prisoners. The world is stark staring mad«.176 Der Fall des Mr Pemberton Billing demonstrierte die dynamische Beziehung zwischen Nationalismus und Sexismus - hier vor allem verstanden als die Wahrnehmung und Beurteilung der Umwelt mit Hilfe der Kategorie Geschlecht. Nationalismus und Sexismus beruhen auf ähnlichen fundamentalen Formen der Inklusion und Exklusion. Beide gesellschaftliche Bedeutungszuschreibungen erscheinen deshalb so plausibel, weil sie eine vermeintlich gegebene und »natürliche« Form der Aus- und Eingrenzung behaupten können. Selbstredend interessiert man sich nicht nur in Zeiten des totalen Krieges für das Sexualleben von Spitzenpolitikern. Doch stellte die sexualisierte Sprache für die Zeitgenossen ein Verfahren dar, mittels dessen sie sich den schwer fassbaren Weltkrieg in geradezu körperlichen Formen vorstellen und an eigene Bedrohungsängste unmittelbar anknüpfen konnten. Im öffentlichen Reden über den deutschen Feind und die eigene Sexualmoral verstärkten sich beide Diskurse gegenseitig, bis zu einem Punkt, an dem nicht mehr klar war, ob von dem abnorm veranlagten deutschen Feind oder von den deutschfreundlichen Perversen in den eigenen Reihen die größere Gefahr drohe. Die politischen Akteure formulierten ihre Interessen, ihre Ziele und ihre Ängste in einer Sprache, die das Sexuelle nationalisierte und das Nationale sexualisierte. Das Reden 173 174 175 176

DC, 6.6.1918,2. PRO Cab 23/6/150 (=WC 425) (4.6.1918). NS, 8.6.1918, 183. Zit.n. Hynes,War,232.

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und das Denken in diesen das Intime und das Politische im Nationalismus verschmelzenden Kategorien hatte die unerhörten Entgleisungen des Mr Pemberton Billing erst ermöglicht.177

3. Nationale Minderheiten a) Die Grenzen der »Germanisierung«. Die Polenpolitik im Deutschen Reich Die Existenz »nationaler Minderheiten« war für das Kaiserreich und das Vereinigte Königreich lange vor dem Ersten Weltkrieg zu einem Herrschaftsproblem geworden. Sieht man von Österreich-Ungarn ab, sah sich kein europäischer Nationalstaat einer vergleichbaren Herausforderung ausgesetzt, wie es die »Polen-« und die »Irlandfrage« darstellten. Die Rolle der polnischen wie der irischen Minderheit bildete vielleicht das komplizierteste Problem der deutschen bzw. der britischen Gesellschaft, weil es ursächlich mit den Grenzen und dem Selbstverständnis der Nationalstaaten verzahnt war und daher keine eindeutige Lösung zuließ. Das galt zumal unter den Bedingungen des totalen Krieges, der die »Polen-« wie die Irlandfrage« entscheidend aufwertete. Der auf beiden Kriegsgesellschaften lastende Homogenitätsdruck verschärfte einerseits das Ausmaß und die Verbreitung ethnischer Ausgrenzungsstrategien, die letztlich für den Bestand des deutschen und britischen Nationalstaates zur Gefahr werden konnten. Auf der anderen Seite aber erzwangen der industrialisierte Krieg und die Aufstellung von Massenheeren die Teilhabe tendenziell der gesamten Bevölkerung an den Kriegsanstrengungen - mithin auch der polnischen und irischen Minderheit. Diese durch den Krieg bis zu dem Punkt der innenpolitischen Unlösbarkeit zugespitzte Ambivalenz und die Durchsetzungsfähigkeit neuer Nationalstaatskonzepte, gilt es hier herauszuarbeiten. Als Folge des Ersten Weltkriegs erfuhren beide Problemkomplexe weitreichende Veränderungen, die in die Gründung der polnischen und der irischen Republik mündeten.178 Daher ist ein deutsch-britischer Vergleich der Nationalitätenpolitik im Ersten Weltkrieg aufschlussreich. Ungeachtet weitreichender struktureller Parallelen in der Behandlung beider Minderheiten - beispielsweise hinsichtlich der Verknüpfung von Selbstbestimmungsrechten mit der Wehrpflicht oder der Rolle des Antikatholizismus - werfen bezeichnende Unterschiede ein scharfes Licht auf die Herrschaftssysteme beider Länder. Bevor der nächste Abschnitt 177 Vgl. Kent, Peace, 39f.; Scott, History, 26-39; Walby, Woman, 94f. 178 Vgl. dazu die Beiträge in Dunn, Europe.

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sich der Rolle der britischen Irlandpolitik zuwendet, soll hier zunächst die Bedeutung der Polenpolitik im Deutschen Kaiserreich untersucht werden. Als Folge der deutschen Reichsgründung gelangten mehrere »nationale Minderheiten« gegen ihren erklärten Willen unter die Herrschaft des neuen Nationalstaates. Vor Franzosen und Dänen bildeten die Polen die größte dieser Bevölkerungsgruppen. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs war immerhin jeder zehnte Preuße Pole (ca. 3.7 Millionen).179 Dem Deutschen Kaiserreich haftete daher seit seiner Gründung, wie seine Kritiker besonders auf der Rechten nicht müde wurden zu betonen, das Stigma vom »unvollendeten Nationalstaat« an. Im kleindeutschen Nationalstaat lebten bei weitem nicht alle Deutschsprachigen, dafür aber große fremdsprachige Minderheiten, die sich nicht als Deutsche begriffen.180 Als Ergebnis dieser Ausgangssituation glaubte die Reichsleitung weniger der Assimilationskraft des noch neuen Nationalstaats als vielmehr staatlichen Zwangsmaßnahmen vertrauen zu können. In den regierenden Eliten, seit den 1890er Jahren massiv gedrängt und unterstützt von rechtsradikalen Agitationsverbänden - wie dem ADV und dem »Deutschen Ostmarkenverein« (DOV), die das Verhältnis zur polnischen Minorität zu einem rassistischen Kampf der »Germanen« gegen die »Slaven« stilisierten -, setzte sich zunehmend das Ideal eines ethnisch homogenen Nationalstaates durch.181 Doch ausgerechnet das völkische Nationalstaatskonzept und die nach 1886 einsetzende massive antipolnische Gesetzgebung stellten den Fortbestand des transnationalen preußischen Staates in Frage. Diese Pointe entging den preußischen Konservativen, die den Erhalt des von ihnen idealisierten preußischen Staatswesens mit einer rigorosen Zwangsassimilation der polnischen Minderheit für völlig vereinbar hielten, ja, oft davon abhängig machten.182 Tatsächlich aber provozierte die verschärfte »Germanisierungspolitik« vormals unbekannte Resistenzkräfte in der unterdrückten Minderheit. Der staatliche Nationalismus verstärkte den selbstbewussten Nationalismus der nationalstaatliche Selbstbestimmung anstrebenden preußischen Polen ganz entscheidend. Deutsche Nationalisten standen so gegen polnische. In gewisser Hinsicht entstand die »nationale Minderheit« der Polen erst durch den Antagonismus von staatlichen Repressalien einerseits und polnischen Gegenreaktionen andererseits. Denn die antipolnische Gesetzgebung erkannte bereits durch ihr Bestehen die Existenz einer nationalen Minderheit an.183 Das »Ansiedlungsgesetz« von 1886 ermöglichte es der Regierung, polnische Güter - und besonders die des Adels - mit Steuergeldern anzukaufen und sie an siedlungswillige Deutsche zu übertragen. Im Jahre 1908 verschärfte ein Ent179 180 181 182 183

Wehler, Gesellschaftsgeschichtc III, 961. Vgl. Nipperdey, Geschichte II, 279-81. Vgl. Schieder, Kaiserreich, 27f.; 48-52. Vgl. Hagen, Germans, 166ff.; Tims, Germanizing, 266-70; Eley, Politics, 340f. Vgl. Booms, Partei, 116-19; Wehler, Polenpolitik, 186f. Darauf verweist zu Recht Schieder, Kaiserreich, 42. Vgl. Wehler, Polenpolitik, 184-86.

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eignungsgesetz diese Maßnahme. Damit war auch auf der Gesetzesebene der ideologischen »Kampf um den Boden« eröffnet. Die Tatsache, dass die preußische Ansiedlungskommission zunehmend Schwierigkeiten hatte, deutsche Siedler zu gewinnen, enthüllte den zwanghaften Versuch der Polenpolitik, das zu verwirklichen, was nicht der Zusammensetzung der Bevölkerung entsprach.184 Allgemeine Empörung löste 1908 eine Bestimmung im sonst liberalen Reichsvereinsgesetz aus. Sein sogenannter »Sprachenparagraph« legte für öffentliche Versammlungen den Gebrauch der deutschen Sprache fest. Obwohl formaljuristisch die preußischen Polen nicht explizit diskriminiert wurden, bestand kein Zweifel daran, gegen welche nichtdeutsche Bevölkerungsgruppe sich das Gesetz richtete. Schließlich ging es nicht um ein abstraktes Verbot, in bestimmten öffentlichen Situationen polnisch zu sprechen, sondern um einen nationalistisch verschärften politischen Konflikt, in dem die jeweils verwendete Sprache eine politische Haltung signalisierte. Als Folge des Sprachenparagraphen blieben den Polen zur politischen Organisation ihrer Interessen nur noch die Presse und die Kanzel übrig. Das Engagement des Klerus aber stieß auf giftige antikatholische Invektiven der deutschen Bevölkerungsmehrheit. Insgesamt kennzeichnete das durch die staatliche Polenpolitik erheblich belastete deutsch-polnische Verhältnis vor 1914 nicht nur die alltägliche Benachteiligung der Minorität, sondern auch die eklatante regierungsamtliche Verletzung des rechtsstaatlichen Gleichheitsprinzips.185 Der Erste Weltkrieg setzte die polnische Frage wieder auf die Tagesordnung der internationalen Politik.186 Die Fronten zwischen den Kriegsparteien Deutschland und Österreich-Ungarn auf der einen und Russland auf der anderen Seite - liefen im Osten fast überall durch polnisches Gebiet. Ein polnischer Aufstand, bisher ein Alptraum für alle drei Kaiserreiche, wurde nun mit einem Schlag zu einer unter militärischen Gesichtspunkten wünschbaren Option.187 So bemühten sich bereits unmittelbar nach Kriegsausbruch beide Seiten darum, die Polen im eigenen wie im feindlichen Lager für sich zu gewinnen. Einem deutschen Aufruf an die Bevölkerung des russischen Kongresspolens am 7. August 1914 folgte am 14. August ein Manifest des russischen Oberbefehlshabers, des Großfürsten Nikolaus, das die Insurgierung der preußischen Polen zu erreichen suchte. Zwar stellte die russische Proklamation den Polen nur weitgehende Autonomie innerhalb des eigenen Reiches in Aussicht, dafür aber implizit die Wiedervereinigung aller drei polnischen Teilgebiete in den Gren184 Vgl. Broszat, Polenpolitik, 116-31; Nippcrdey, Geschichte II, 270-81. 185 In der rechtlichen Diskriminierung der Polen bestand, bei allen Ähnlichkeiten, ein wichtiger Unterschied zur Lage der Iren. Vgl. Glück, Sprachenpolitik, 131-37, 340-47; Wehler, Sozialdemokratie, 181-99; ders., Polenpolitik, 191-98. 186 »Nicht politische Spekulation, sondern die Tatsache des Krieges hat die polnische Frage aufgerollt«, Bethmann Hollweg, Betrachtungen II, 195. 187 Grundlegend zu Deutschland F. Fischer, Griff, 155-68.

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zen von 1772. Zu diesem weitreichenden Schritt waren Berlin und Wien im Verlauf des gesamten Krieges, wegen der strukturellen Einbindung Polens in das preußische bzw. das österreichisch-ungarische Herrschaftssystem und wegen der generellen Unmöglichkeit der Mittelmächte, über das polnische Territorium ihres Verbündeten zu verfügen, weder willens noch fähig. Zudem förderte die preußische Ostmarkenpolitik, die selbst manche Repressalien in Russisch-Polen in den Schatten stellte, nicht gerade die Begeisterung der Polen für die deutsche Sache.188 Der für Russland äußerst ungünstige Kriegsverlauf entzog jedoch der russischen Polenproklamation schon bald jede Grundlage. Nachdem sich der russische Angriff auf Ostpreußen bereits durch die Niederlage in der Schlacht von Tannenberg im August 1914 erledigt hatte, verlor das Zarenreich durch die deutsch-österreichische Sommeroffensive 1915 ganz Russisch-Polen. Da seither weite Gebiete im Osten von den Mittelmächten kontrolliert wurden, musste die Reichsleitung über deren Zukunft eine Entscheidung fällen. Eben diese suchte Bethmann Hollweg - wie bei allen Problemen, welche die Struktur des Kaiserreiches bedrohten - zu vermeiden. Im Falle Polens sollte der Reichskanzler wenigstens aus seiner Sicht Recht behalten. Rückblickend räumte er ein, nach seiner Auffassung »wäre es richtig gewesen, das Problem für alle Dauer des Krieges in der Schwebe zu lassen«.189 Dieser Überzeugung, dass es für das Kaiserreich überhaupt keine zufriedenstellende Lösung der polnischen Frage gäbe, verlieh er bereits in einer Denkschrift im Oktober 1915 Ausdruck: »Für die polnische Frage gibt es keine ideale Lösung. Wir werden uns mit der wenigst ungünstigen begnügen müssen. In mancher Hinsicht wäre gewiss die Fortdauer des jetzigen Zustandes am besten gewesen«.190 Denn die Wiederherstellung eines polnischen Staates stand für die Regierung in fundamentalem Gegensatz zu den preußisch-deutschen Staatsinteressen, weil ein souveränes Polen der jahrzehntelangen antipolnischen Politik in den eigenen Ostgebieten widersprach und unkalkulierbare Risiken für das Verhalten der polnischen Minderheit nach sich ziehen würde.191 Nach den militärischen Siegen aber existierte die Option, den bestehenden Zustand zu erhalten, nicht mehr.192 Am 5. April 1916 erklärte Bethmann Hollweg im Reichstag: »Unsere und Österreich-Ungarns Absicht ist es nicht gewesen, die polnische Frage aufzurollen. Das Schicksal der Schlachten hat sie aufgerollt. Deutschland und ÖsterreichUngarn müssen und werden sie lösen. [...] Den Status quo ante kennt nach so 188 Vgl. BZ, 6.8.1914, 3; VO, 15.8.1914, 2; sowie Conze, Nation, 47; Geiss, Grenzstreifen, 23f.; Broszat, Polenpolitik, 133-35. 189 Betrachtungen II, 195. 190 GStPK Rep. 77, Tit. 883 A, Nr. 26, Bl. 2 (25.10.1915). Vgl. Basler, Annexionspolitik, 131. 191 Vgl. Wilkiewicz, Flugschriften, 334. 192 »Irgendeine Stellung zum Polentum mussten wir nehmen, nachdem wir 1915 das ganze Land okkupiert hatten«, Bethmann Hollweg, Betrachtungen II, 196.

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ungeheuren Geschehnissen die Geschichte nicht«.193 Denn trotz des Unwillens, das Problem Polen neu anzugehen, stand für die kaiserliche Regierung doch außer Frage, dass der Krieg Deutschland erhebliche territoriale Gewinne auf Kosten Russlands einbringen müsse. Die ambivalente deutsche Polenpolitik im Ersten Weltkrieg kennzeichnete von Anfang an der Widerspruch, sich ein Großreich im Osten einzuverleiben, dabei aber einen Zuwachs an fremdsprachigen Minderheiten auszuschließen. Die Reichsleitung lavierte bei der Neuregelung der Zukunft Polens im wesentlichen zwischen vier sich teilweise oder vollständig ausschließenden Optionen: Bis in den Herbst 1916 hinein erwog man erstens die Möglichkeit, mit Russland einen Separatfrieden zu schließen. Da sich eine vollständige Niederlage des Zarenreiches noch nicht abzeichnete, sprach - gerade angesichts der Offensiven der Alliierten in Frankreich - vieles dafür, mit Russland zu einer Verständigung zu gelangen. Das bedeutete aber, auf weitreichende Annexionen im Osten, mithin auch auf Kongresspolen, zu verzichten. Ungeachtet recht erfolgreicher Geheimverhandlungen mit Russland in Stockholm im Oktober 1916, glaubte sich die Reichsleitung schließlich stark genug, mit der Proklamation des Königreichs Polen am 5. November 1916 einen anderen Weg beschreiten zu können.194 Eine weitere Option lag darin, dem österreichischen Drängen nachzugeben und Polen ganz oder teilweise der Donaumonarchie zu überlassen. Bis zum Ende des Krieges bildete Polen den ständigen Zankapfel zwischen Berlin und Wien. Da eine eigene schlüssige Konzeption fehlte, schien der Kanzler zunächst sogar bereit, Polen - gegen eine entsprechende territoriale Kompensation in Litauen und Kurland - an Österreich-Ungarn zu abzutreten, und sei es nur, um dem Reich die befürchteten innenpolitischen Folgen einer Neuregelung der polnischen Verhältnisse zu ersparen.195 In endlosen und ergebnislosen Verhandlungen mit dem österreichischen Außenminister Stephan v. Burian erörterte man zudem das Für und Wider einer Teilung Polens auf der Grundlage der bestehenden Okkupationsgebiete.196 Die preußische Bürokratie, die Konservativen und die Nationalliberalen im Parlament sowie weite Teile der Öffentlichkeit befürworteten drittens eine direkte Annexion Russisch-Kongresspolens durch das Kaiserreich: zum einen, um ein um dieses Gebiet geschwächtes Russland auf Dauer in Schach zu hal193 Sten. Ber. RT, Bd. 307, 852. Vgl. zur Aufnahme der Rede BT (M), 6.4.1916, 1. 194 Innenminister Locbell widersprach dem Plan eines Königreichs Polen noch in der Sitzung des preußischen Staatsministcriums vom 19. August 1916 (»Auch diese Lösung sei immerhin ein Übel«.) und befürwortete stattdessen die Möglichkeit, eine Einigung mit Russland weiter auszuloten. GStPK Rep. 90 a, Β III, 2 b, Nr. 6, Bd. 165, Bl. 196f. (Zit. 196). Vgl. Steglich/Wintcrhagcr, Polcnproklamation, 115-18; F. Fischer, Griff, 290-94. 195 GStPK Rep. 77, Tit. 883 A, Nr. 26, Bl. 2f. (25.10.1915). Vgl. Broszat, Polenpolitik, 140. 196 Vgl. Conze, Nation, 138-51; F. Fischer, Griff, 294-306.

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ten, zum anderen, um neue Kolonisationsgebiete in Osteuropa aus bevölkerungspolitischen und wirtschaftlichen Gründen zu gewinnen. Vor diesem Schritt aber scheute die Reichsleitung aus innenpolitischen Erwägungen zurück. »Eine Aufnahme von 12 Millionen fremdstämmiger und fremdsprachiger Bevölkerung«, so Bethmann Hollweg, »würde uns vor unlösbare innerpolitische Aufgaben stellen, eine Gefahr für unser Volkstum bilden«.197 Und in seinem Schreiben vom 11. September 1915 an den Chef der 2. Obersten Heeresleitung (OHL), Generaloberst Erich v. Falkenhayn, unterstrich der Reichskanzler: »Jeder nennenswerte Zuwachs an polnischer und jüdischer Bevölkerung bedeutet für uns einen nationalen Schaden«.198 Damit war der Grund für das endlose Lavieren der Regierung noch einmal deutlich umrissen. Jede außenpolitische Neuregelung der polnischen Frage im allgemeinen und jede Annexion polnischen Gebietes durch das Reich im besonderen würde das Problem der polnischen Minderheit verschärfen und damit die fragile Struktur Preußens weiter belasten. Die Furcht vor einem Anwachsen der polnischen Minderheit wurde zusätzlich dadurch gesteigert, dass man im Zuge dieses Diskurses in Deutschland die Bevölkerung Osteuropas als »minderwertige«, biologische Bedrohung des zunehmend als ethnisch homogen begriffenen Deutschen Reiches betrachtete. Von Beginn des Krieges an wurde die Regierung mit einer wahren Flut von Denkschriften überschüttet, welche die territoriale Expansion bei Erhaltung der völkischen »Reinheit« des Kaiserreiches forderten.199 Diese Haltung kennzeichnete nicht allein die Politik der radikalen Rechten. Bereits am 2. September 1914 gab der Zentrumspolitiker Mattias Erzberger in einem Memorandum an den Reichskanzler zu bedenken, dass die notwendigen und wünschenswerten Gebietserwerbungen »zu einer wesentlichen Veränderung der gesamten Struktur des heutigen deutschen Reiches führen« könnten.200 In einer ebenfalls an Bethmann gerichteten Eingabe verlangte der Direktor der Landwirtschaftlichen Hochschule Hohenheim in Württemberg, Prof. Friedrich Waterstradt, zwar Siedlungsland im Osten, stilisierte aber gleichzeitig den Krieg zum »Rassenkampf« und warnte vor der Eingliederung »nicht volksangehörig[er]« Menschen ins Reichsgebiet.201 Im Oktober 1914 schrieb Fürst Hermann v. Hatzfeld dem Kanzler mit Blick auf die Erfahrungen in Elsass-Lothringen: »Eine Einverleibung Polens in Deutschland, in welcher Form es auch sei, erachte ich als Unglück. Die Schaffung des ›Reichslandes‹ 197 GStPK Rep. 77, Tit. 883 A, Nr. 26, Bl. 2 (25.10.1915). 198 Zit.n. Geiss, Grenzstreifen, 95, Anm. 302. Vgl. entsprechend die Denkschrift Arthur v. Gwinners, des Direktors der Deutschen Bank, vom Sommer 1915, in BA R43 2443, B1.243. 199 Vgl. etwa die bezeichnende Sprache in den MNN (M), 6.4.1916, 1, die betonten, dass in Osteuropa »jetzt die staatliche Zucht der Mittelmächte etwas Ordnung geschaffen und physische und moralische Sauberkeit verbreitet hat«. Ausführlich dazu, Reimann, Krieg, 210-22. 200 BA R43 2476, Bl.25-36, Zit. 31. 201 BA R43 2442/j, Bl.37-52, Zit. 46 (10.9.1914).

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Elsass-Lothringen hat gezeigt, dass ein ähnliches Gebilde in Zukunft vermieden werden muss. [...] Die Bevölkerung in Polen ist mehr oder weniger minderwertig, zudem eher russisch als deutsch gesinnt«.202 Wie diese beinahe beliebig zu vermehrenden Belege verdeutlichen, war die Furcht vor der Gefährdung einer als ethnisch homogen konzipierten deutschen Reichsnation zu Beginn des Ersten Weltkriegs zum allgemeinen Diskursgut geworden. Im Reden über die Form der Gebietserweiterung im Osten waren Polenfeindschaft und Antisemitismus unentwirrbar mit der Vorstellung einer biologistisch definierten deutschen Abstammungsgemeinschaft verbunden. Zugespitzt formuliert: Der Krieg und die deutsche Expansionspolitik beförderten die Ethnisierung deutscher Nationsvorstellungen. Bereits das Eintreten für umfangreiche deutsche Gebietserweiterungen in Kongresspolen begünstigte die Wahrnehmung des deutschen Volkes als einer ethnisch homogenen Abstammungsgemeinschaft, weil so noch am ehesten die Aussicht zu bestehen schien, verbindliche Grenzen der deutschen Nation festzulegen und die »natürliche« Überlegenheit der Deutschen pseudowissenschaftlich zu begründen. Bereits in seiner Ende August 1914 verfassten Denkschrift verwies Heinrich Claß auf die Gefahr, »den Charakter des Deutschen Reiches als Nationalstaat [zu] mindern«, da unter ethnischen Gesichtspunkten die Einverleibung des in Osteuropa lebenden »buntesten Gemisch[s]«, »die rassische Grundlage des deutschen Volkes ernstlich bedrohen würde«.203 Vielmehr komme es - so die »Alldeutschen Blätter« - darauf an, die günstige Gelegenheit des Krieges im völkischen Sinne zu nutzen. Um »das Deutsche Reich in seinem Charakter als Nationalstaat nicht nur rein zu erhalten, sondern diese (heute nur verhältnismäßige) Reinheit sogar [...] zu steigern«, müsse man die »Weiterentwicklung de[s] Nationalstaate[s] zum Rassenverbande« tunlichst anstreben.204 Genau aus diesem Grunde schied für Claß auch die einfache Annexion von Kongresspolen aus, weil »dieser Zuwachs eine beträchtliche Verstärkung der bereits vorhandenen slawischen Bevölkerung bedeuten« würde und somit einen »weitausholenden Schritt auf dem Wege der Entwicklung zum Nationalitätenstaat« darstelle.205 Doch ausgerechnet diejenigen, welche für die unbedingte Angliederung weiter polnischer Gebiete an das Deutsche Reich agitierten, gefährdeten damit den Bestand des kleindeutschen Nationalstaates, da die Reichsnation von 1871 niemals die Deckungsgleichheit von Staat und Volk ermöglichen 202 BA R43 2476, BI.164-66 (20.10.1914). Vgl. dagegen die offensive Denkschrift Gwinners, BA R43 2443, Bl.230-48. Vgl. zu weiteren Eingaben bes. Geiss, Grenzstreifen, 47-70, und Wilkiewiez, Flugschriften, passim; sowie Conze, Nation, 154f 203 Claß, Denkschrift, 43. Dementsprechend forderten die ADB, 14.11.1914, 397f, als Grundlage des »Nationalstaates [...] ein einiges und innerlich homogenes Volk«, und warnten eindringlich davor, »fremde Volksteile (...) in den Reichskörper aufzunehmen«. 204 ADB, 12.12.1914, 435; ADB, 23.1.1915, 26. 205 ADB, 20.5.1916, 187. Vgl. RWZ (A), 11.11.1916, 1.

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konnte. Die Forderung nach Vollendung des »unvollendeten Nationalstaates« im Sinne eines ethnisch homogenen Einheitsstaates untergrub die bestehende Ordnung.206 Die vierte Option, für die sich die Reichsleitung schließlich entschied, kam einer versuchten Quadratur des Kreises gleich, indem sie zwei sich theoretisch ausschließende Positionen zu vereinen suchte: Gleichzeitig sollte durch die Annexion eines »Grenzstreifens« die territoriale Machtgrundlage des Kaiserreiches in Osteuropa erweitert werden und aus der Konkursmasse von RussischKongresspolen ein polnischer Staat unter deutscher Kontrolle entstehen. Diese Lösung versprach innenpolitisch die Schaffung eines deutschen Siedlungsgebietes und die Eindämmung der Ansprüche der eigenen Polen, außenpolitisch durch die Entstehung eines polnischen Pufferstaates das russische Bedrohungspotential in Zukunft zu minimieren. Um den innenpolitischen Ansprüchen der als »minderwertig« verachteten preußischen Polen und somit weiteren Nationalitätenkonflikten zu begegnen, sollte der Grenzstreifen dazu dienen, die eigenen Polen von denen Kongresspolens zu isolieren. Dazu sollte er nach einer großen »Austauschsiedlung« nur »frei von Menschen« erworben werden. Die endlosen halböffentlichen und öffentlichen Debatten über diese Form der Gebietserweiterung in Polen demonstrierten den Triumph der völkischen Nationalstaatskonzepte im kriegsgeschüttelten Kaiserreich. Noch bevor die Reichsleitung verschiedene Konzepte der Vertreibungspolitik diskutierte, hatte Heinrich Claß in seiner August-Denkschrift »eine Art völkische Feldbereinigung«207 als Lösungsmöglichkeit für die schwelenden Nationalitätenkonflikte ins Spiel gebracht. Demnach versprach nur die Schaffung ethnisch »reiner« Nationalstaaten, auf dem »Weg friedlichen Austausches [...] der fremden bzw. eigenen Stammesangehörigen, [...] dem Übel des Nationalitätenhaders« energisch zu begegnen.208 Friedrich Waterstradt griff in seinen Überlegungen die alldeutschen Vorstellungen auf: »Wir werden.. die zu erobernden Grenzgebiete im Osten und im Westen [...]frei von Menschen dem Deutschen Volk als Siedlungsknd zur Verfügung stellen müssen«.209 Diese Vision einer völkischen Siedlungs- und Lebensraumideologie in einem zu germanisierenden Osten durchzog auch die sogenannte Intellektuelleneingabe, die 1347 Männer aus dem öffentlichen Leben - darunter 352 Professoren - dank der rührigen Werbearbeit des Berliner Theologen Reinhold Seeberg und des Historikers Dietrich 206 Vgl. auch unten Kapitel II.4. 207 Claß, Denkschrift, 45. 208 Ebd. Vgl. zum alldeutschen Konzept, das Land »frei von Menschen« zu annektieren ebd., 30, 34; ADB, 14.11.1914, 378; 12.12.1914, 433-35; sowie verschiedene Eingaben des DOV in GStPK Rep. 77., Tit. 863 A 1, Bl. 168-71,247-51 (Oktober 1915), u. bes. Bl. 256f. (Januar 1917). 209 BA R43 2442/j, B1.43 (10.9.1914), (Hervorh. i. Orig.). Vgl. BA R43 2476, Bl.129-32 (21.9.1914).

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Schäfer unterzeichneten. Das dem Reichskanzler am 8. Juli 1915 übergebene Schreiben verlangte, dass »längs der östlichen Grenze Posens und Schlesiens, sowie der südlichen Grenze Ostpreußens« ein »möglichst eigentumsfreier, deutscher Besiedlung zugänglicher Grenzgürtel geschaffen werden« müsse.210 Konkreter wurden Vertreter der Schwerindustrie, die unter Führung des Krupp-Direktors Alfred Hugenberg der Regierung durch den kommandierenden General in Münster, Egon v. Gayl, detaillierte Pläne zum polnischen »Schutzstreifen« unterbreiteten. Und auch Hugenberg schlug in Anlehnung an alldeutsche Pläne die Aussiedlung der polnischen Staatsangehörigen des Deutschen Reiches vor: »Durch Umsiedlung- sozusagen eine völkische Flurbereinigung - zwischen dem polnischen Schutzstaat [...] einerseits und dem Deutschen Reich andererseits sind die Reibungsflächen möglichst zu beseitigen, die bisher zwischen Polen und Deutschen bestanden«.2“ Offen ließ man hier, ob man die Umsiedlung auf friedlichem Wege oder durch Gewalt herbeiführen wollte. In noch schärferem Tonfall forderte Arthur v. Gwinner »die Auswanderung dieser [gemeint waren Juden und Polen - SOM] wenig erwünschten Elemente«.212 Spätestens seit 1916 schließlich ließ sich die als »Umsiedlung« oder »Austauschsiedlung« beschönigte Vertreibung der Polen und die Reorganisation der Bevölkerung des Kaiserreiches nach ethnischen Kriterien auch in den deutschen Parlamenten in aller Öffentlichkeit vertreten.213 Die Eingabe der Professoren und die Parlamentsdebatten veranschaulichen, dass derartige Äußerungen v/eder einflusslose Einzelmeinungen darstellten, noch auf den äußersten rechten Rand des politischen Spektrums beschränkt blieben. Es war Bethmann Hollweg selber, der dafür sorgte, dass das Grenzstreifenprojekt einschließlich der antipolnischen Vertreibungspolitik auf höchster Ebene diskutiert wurde. Durch den Unterstaatssekretär in der Reichskanzlei, Arnold v. Wahnschaffe, bestellte der Kanzler beim Regierungspräsidenten von Frankfurt/Oder, dem erklärten Annexionisten Friedrich v. Schwerin, ein Memorandum, welches ihm genaue Vorschläge zur Lösung der polnischen Frage und des Grenzstreifens unterbreiten sollte. Eine erste ausführliche Denkschrift lag im März 1915 vor. Auf 38 maschinenschriftlichen Seiten behandelte Schwerins deutsch-völkischer Entwurf der polnischen Zukunft terri210 Der Text der Intellektuellencingabe u.a. in BA R43 2442/1, Bl.239-46, Zit. 42. Vgl. Schwabe, Wissenschaft, 70-74; Geiss, Grenzstreifen, 52-54. 211 Hugenbergs Vortrag findet sich u.a. in BA R43 2442/1, Bl.229-31, Zit. 230 (12.3.1915). Vgl. dazu Gayls Schreiben an den Reichskanzler, BA R43 2442/1, Bl.215-18 (23.6.1915); sowie Geiss, Grenzstreifen, 56f. 212 BA R43 2443, B1.246. Vgl. BA R43 2442/1, Anl. 15. 213 »Ich meine, es wäre richtiger gewesen« bedauerte Fürst zu Salm-Hostmar im Preußischen Herrenhaus (PHH), »wenn wir die durch die Kriegsereignisse gebotene günstige Gelegenheit genutzt hätten, eine Umsiedlung vorzunehmen. Wir haben Kongrcsspolcn siegreich erobert, [... ] um dort polnisch sprechende Preußen [sie!] anzusiedeln«. Sten. Ber. PHH, Bd. 130, 10.4.1918, 937. Vgl. Sten. Ber. RT, Bd. 307, 880 (6.4.1916).

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toriale und bevölkerungspolitische, wirtschaftliche und rechtliche Fragen. Auch Schwerin ließ wenig Zweifel daran, dass der deutsche Nationalstaat ein expansiver und vor allem ein ethnisch bereinigter zu sein habe, um überhaupt einer zu bleiben. »Der gegenwärtige Krieg bietet die Möglichkeit«, so Schwerin, »vielleicht zum letzten Male in der Weltgeschichte, dass Deutschland seine kolonisatorische Mission nach dem Osten in entschiedener Weise wieder aufnimmt. [... ] An den Gedanken einer ›Umsiedlung‹ großer Volksmassen heißt es sich rechtzeitig zu gewöhnen. [...] Will er [»der Pole« - SOM] sich polnischnational betätigen, so steht ihm die Auswanderung in den Schutzstaat frei. Der allmählich ganz sich germanisierende Streifen zwischen den altpreußischen Gebieten und den Neu-Polen [...] lenkt die Blicke der Polen nach Osten und Südosten hin«.214 Eine eindeutige Beurteilung durch Bethmann Hollweg ist nicht überliefert. Innenminister Loebell aber versah die Denkschrift mit zustimmenden Marginalien und sprach sich im folgenden wiederholt gegenüber dem Kanzler dafür aus, »die Polen und Juden [...] fernab der Grenze zu verschieben, [...] damit [man] [...] in den Grenzstrichen einen möglichst großen Prozentsatz deutscher Einwohner« erhalte.215 Auch der preußische Finanzminister August Lentze warnte vor dem »schon jetzt bedrohliche[n] Problem der Slawisierung des [deutschen] Ostens«, und regte an, »für alle die preußischen Polen, [...] die in das neue polnische Gemeinwesen übersiedeln wollen«, »sehr günstige Umsiedlungsbedingungen« zu schaffen. [...] Soweit sie nicht abziehen, wird man auf sie später in nationaler Beziehung nicht die mindeste Rücksicht mehr zu nehmen brauchen«.216 Sogar hochrangige Kabinettsmitglieder stellten dabei implizit das Prinzip des kleindeutschen Nationalstaates in Frage. Denn die etwa von Loebell und Lentze angestrebte Umgestaltung Preußen-Deutschlands nach dem Nationalitätenprinzip stand im direkten Widerspruch zur bestehenden preußischen Staatsauffassung, indem sie nun die preußischen Polen - legale Staatsangehörige - aus der Nation ausgrenzten. Schließlich hatte Preußen immer auch nicht-deutsche Bevölkerungsgruppen umfasst. Dass selbst erzkonservative Köpfe wie der Innen- und der Finanzminister das Kaiserreich jetzt tendenziell als eine homogene deutsche Einheit dachten, demonstrierte schlagend die durch den Annexionskrieg verstärkte Durchsetzungsfähigkeit völkischer Nationalstaatskonzepte. Wenigstens scheint der Kanzler die Brisanz dieser für den bestehenden Nationalstaat bedrohlichen Vorstellungen erkannt zu 214 BA R43 2442/k, Bl. 170-90, (25.3.1915), Zit. 176, 182, 189. Vgl. ausführlich Geiss, Grenzstreifen, 78-90, F. Fischer, Griff, 347ff.; Lemke, Allianz, 143-48. 215 GStPK Rep. 77, Tit. 1884, Nr. 1, Bl. 6f. (1.2.1916) (Hervor, i. Orig.!). 216 GStPK Rep 77, Tit. 1884, Nr. 6, Bl. 300f. (16.1.1916). Die Aussiedlungsdebatte wurde letztlich erst durch die Revolution beendet. Vgl. das Memorandum Ludendorffs GStPK Rep. 77, Tit. 1884, Nr. 4, Bl. 1f. (22.11.1917), dazu ebd., Bl. 4f. (7.12.1917, Drews), Bl. 16f. (15.1.1918, Hergt).

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haben. Auch wenn Bethmann danach trachtete, sich in der polnischen Frage alle Optionen so lange wie möglich offen zu halten, ließ er seine Minister Anfang 1916 wissen, dass die Aussiedlung der »Polen preußischer Staatsangehörigkeit« [sie!] nicht zur Debatte stehe.217 Die Diskussion über den polnischen Grenzstreifen verstummte bezeichnenderweise auch nach der Proklamation des Königreichs Polen am 5. November 1916 nicht. Bis zuletzt hielt die Regierung die Festlegung der Grenzen Polens sowohl gegenüber Russland als auch gegenüber dem zu annektierenden deutschen Grenzstreifen bewusst offen. Einig waren sich die Mittelmächte nur darin, keinen Teil ihres bisherigen von Polen bewohnten Staatsgebiets an das neue Königreich abzutreten. Kein deutscher Politiker von Einfluss, keine Partei und keine Interessengruppe vertrat während des Krieges jemals den Plan, als Preis für eine tatsächliche Loyalität der Polen diesen territoriale Zugeständnisse etwa in Posen oder Westpreußen zu machen.218 Und auch das mit großem Pomp ausgerufene polnische Königreich erfüllte nicht einmal formal die Kriterien eines souveränen Staates.219 Doch war das nur ein Grund für die verhaltene Aufnahme der Polenmanifestes. Zwar verkündete die deutsch-österreichische Proklamation stolz, dass die beiden Kaiser aus den »der russischen Herrschaft entrissenen polnischen Gebieten [...] einen selbständigen Staat mit erblicher Monarchie und konstitutioneller Verfassung« bilden wollten. Drei Sätze später aber findet sich der eigentliche Beweggrund für die vermeintlich großzügige Erklärung der Mittelmächte: »In einer eigenen Armee sollen die ruhmvollen Überlieferungen des polnischen Heeres früherer Zeiten in dem großen Kriege der Gegenwart fortleben«.220 Die direkte Verknüpfung der polnischen Unabhängigkeit mit der Werbung um polnische Soldaten stellte nicht allein eine erstaunliche und zudem öffentliche Ungeschicklichkeit, sondern einen schwerwiegenden Fehler dar. In jedem Falle verriet sie, dass die Militärs, in Deutschland namentlich Erich Ludendorff und die neue 3. OHL, die treibenden Kräfte hinter der Proklamation bildeten, da sie nach den verlustreichen Materialschlachten des Sommers dringend neue Rekruten benötigten. Die Errichtung des Königreichs Polen bedeutet den ersten einschneidenden Eingriff der 3. OHL in die politische Leitung des Kaiserreiches.221 Die Argumente, mit denen die Regierung Bethmann Hollweg den Militärs das Feld überließ, werfen ein scharfes Schlaglicht auf die politische Kultur und die Machtverhältnisse des Deutschen Reiches. Selbst der Kanzler stellte seine bekannten innen- und außenpolitischen Bedenken angesichts der militärischen Gründe hintan: 217 Ebd., Bl. 308(24.1.1916). 218 Vgl. Geiss, Grenzstreifen, 26f. 219 »Der neue polnische Staat«, betonte der preußische Justizministcr, »solleja kein vollkommen selbständiges, sondern ein von uns abhängiges Gebilde mit eigener Verwaltung und eigener Spitze werden«, GStPK Rep. 90a, Β III, 2b, Nr.6, Bd. 165, Bl. 215 (21.9.1916). 220 Vgl. den Text etwa in KLZ (l.M), 5.11.1916; GE (A), 6.11.1916, 2. 221 Conze, Nation, 198. Vgl. aber bereits zu Falkenhayns Forderungen Ullrich, Frage, 361.

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»Wenn diese es erfordern, müssen die politischen dagegen zurücktreten«.222 Letztlich kennzeichnete das permanente Nachgeben des Kanzlers gegenüber dem Primat der Militärs die Schwäche der politischen Führung vor 1914 und während des Krieges.223 Entsprechend schloss sich im Kabinett Loebell Bethmanns Auffassung an, »die militärische Situation in den Vordergrund« zu stellen. »Wenn die Aushebung der polnischen Soldaten ausschlaggebend für den Ausgang des Krieges sei, so könne man allerdings dem geplanten Vorgehen nicht entgegentreten«.224 Immerhin rechneten Regierung und Militärs mit bis zu einer Million möglicher polnischer Soldaten.225 Doch war der Zweck der Polenproklamation zu durchsichtig und die deutsche Gegenleistung zu gering, um den gewünschten Erfolg zu zeitigen. Führende polnische Politiker vertraten gegenüber dem deutschen Generalgouverneur die Auffassung, dass nur eine polnische Regierung polnisches Blut fordern dürfe. Bis zum April 1917 konnten daher nur 4700 Freiwillige angeworben werden.226 Die Polen fürchteten die Deutschen - besonders wenn sie Geschenke brachten. Das Echo auf die Polenproklamation in der deutschen Öffentlichkeit blieb verhalten bis ablehnend. Der Sozialdemokratie und den Linksliberalen gingen die Beschlüsse nicht weit genug, Konservativen und Nationalliberalen dagegen zu weit. Grundsätzlich begrüßte die Mehrheit der Sozialdemokratie die Errichtung eines polnischen Staates. Das Eintreten für die Befreiung der Polen stellte eine alte, durch die Russophobie der Partei verstärkte sozialdemokratische Überzeugung dar. Gerade nach Kriegsausbruch ließ sich die Wiederherstellung eines polnischen Staates auf Kosten Russlands leicht fordern, da dieser nicht mehr notwendig den Bestand des auch von der SPD garantierten deutschen Nationalstaates gefährden musste. Um es noch einmal zu betonen: Eine Aufgabe nennenswerter Gebiete im Osten des Reiches kam für keine Partei in Frage. Allerdings kritisierte man in aller Schärfe, dass das neue Polen weit davon entfernt sei, ein souveräner und demokratischer Staat zu sein.227 Die Sozialdemo222 Zit. n. Conze, Nation, 212. Vgl. ebd., 203-16. 223 Auch wenn der rechtfertigende Charakter von Bethmanns Betrachtungen II, 157, nach dem deutschen Zusammenbruch nicht zu verkennen ist, verdeutlichen sie doch das Problem der militärisch-zivilen Beziehung im Kaiserreich: »Wie bei der Einleitung des Krieges die politischen Maßnahmen nach den Bedürfnissen des für unabänderlich erklärten Feldzugsplanes zu gestalten waren, so haben auch im Kriege nur die militärischen Gesichtspunkte technischer Möglichkeit und strategischer Wirkung die großen Operationen ausschlaggebend bestimmt. [...) Überhaupt ist während meiner ganzen Amtstätigkeit keine Art von Kriegsrat abgehalten worden, bei dem sich die Politik in das militärische Für und Wider eingemischt hätte [sie!]«. Vgl. zur Entstellung Clausewitzscher Paradigmata Wehler, Krieg, 89-116. 224 GStPK Rep. 90a, Β III, 2b, Nr.6, Bd. 165, Bl. 212 (21.9.1916). 225 Vgl. ebd., Bl. 214, Kriegsminister Adolf Wild v. Hohenborn. 226 Vgl. Steglich/Winterhager, Polenproklamation, 109; insgesamt zur zurückhaltenden Aufnahme in Polen Conze, Nation, 226-33; Basler, Annexionspolitik, 159-70; Lemke, Allianz, 362f 227 Der »Vorwärts« ernannte zu einem vornehmen deutschen Kriegsziel bereits am 13.8.1914, 2, »Polens (...) Befreiung vom Joch des Zarismus und die volle nationale Selbstbestimmung«. Vgl.

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kraten waren sich mit den Linksliberalen und dem Zentrum darin einig, dass es innenpolitisch nun darum gehe, die verfassungsrechtliche Benachteiligung der preußischen Polen zu beenden. Eine Fortsetzung der antipolnischen Politik komme schon deshalb nicht mehr in Frage, weil Polen und Deutsche die gleiche Leistung zur Verteidigung des angegriffenen Nationalstaates erbrächten. Wer aber dem deutschen Nationalstaat gegenüber - so lautete die beherrschende Denkfigur - seine Pflichten besonders im Krieg erfülle, den dürfe dieser Staat auch nicht weiter rechtlich benachteiligen. Aus der Perspektive linker Nationalisten musste die gemeinsame Leistung für die kämpfende Nation der staatlichen Diskriminierung ein Ende bereiten. »Die preußischen Polen, die ja in diesem Kriege ihre vaterländische Pflicht in vollstem Maße erfüllt haben, [...] können [...] verlangen, dass mit ihren staatsbürgerlichen Pflichten auch ihre staatsbürgerlichen Rechte in besseren Einklang gebracht werden«.228 Eine besondere Ausstrahlung entfaltete die Vorstellung, dass durch den gemeinsamen Kampf von Deutschen und Polen eine neue Interessengemeinschaft, eine wahrhaft nationale Eintracht geschaffen worden sei. Der Kampf der Polen für Deutschlands Sache hatte diese demnach gleichzeitig emanzipiert und in die Kriegsgemeinschaft integriert. »Der Krieg hat Deutsche und Polen aufeinander angewiesen«, befand die liberale »Frankfurter Zeitung«, und die katholische »Germania« schwärmte: »Das deutsche Schwert hat [...] Polen befreit - die Oberschlesier wiederum haben ihr Blut für Deutschlands Größe im Osten und Westen freudig vergossen«.229 Außerdem hoben die linksliberale und die Presse des politischen Katholizismus immer wieder hervor, dass die bisherige preußische Polenpolitik in hohem Maße für den polnischen Nationalitätenkonflikt verantwortlich sei.230 Indessen wurden im katholischen Lager auch Stimmen laut, die vor einer Verschärfung des Nationalitätenkonfliktes innerhalb des Deutschen Reiches warnten. »Das neue Polen ist nur möglich, wenn dagegen die preußischen Polen auf ihre weitergehenden Wünsche verzichten, völlig loyale Preußen bleiben«.231 Mit dieser Befürchtung begründeten die Nationalliberalen und die Konservativen ihre oft kompromisslose AblehVO, 15.8.1914, 2, und die relativ wohlwollende Aufnahme der Proklamation VO, 6.11.1916, 1. Eduard Bernstein nannte im BT (A), 7.11.1916,1. Polens Wiederherstellung »eine alte Forderung der Demokratie«. Vgl. dagegen die schroffe Ablehnung der LV, 6.11.1916, 1, sowie Wehler, Sozialdemokratie, 183f. 228 FZ (A), 21.11.1916,1. Entsprechend auch die KV (M), 6.11.1916,1;PJB 169 (1916), 521. Vgl. BT (M), 6.11.1916, l f. 229 FZ (A), 6.11.1916,1;GE(A),7.11.1916,1. »Das gemeinsam für gemeinsame Ziele vergossene Blut ist der beste Kitt der Völker«, GE(A), 6.11.1916,1. Entsprechend MNN (M), 6.11.1916, 1; und selbst Loebell in Sten. Ber. PAH, 2392 (20.11.1916). 230 GE (A), 7.11.1916, 1; FZ (A), 21.11.1916, 1. Vgl. auch die Rede des Abgeordneten der FVP, Hermann Pachnicke, in Sten. Ber. PAH, 2394-96 (20.11.1916); sowie Max Weber, Politik, 197-203. 231 KV (M), 6.11.1916, 1. Vgl. GE (A), 6.11.1916, 1; Wilkiewicz, Flugschriften, 339.

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nung. Vor nichts sorgte man sich hier mehr als vor einer sogenannten »polnischen Irredenta«, also davor, dass die preußischen Polen einen Anschluss an den neuen Staat anstreben würden. »Die beiden konservativen und die nationalliberale Partei« betonten daher in einem gemeinsamen Manifest, »die Unverletzlichkeit der preußischen Landesgrenzen und den vollen Schutz des Deutschtums als Richtlinie festzuhalten«.232 Damit war nichts anderes als die Fortsetzung der antipolnischen Gesetzgebung gemeint. Der massive Widerstand auf der Rechten basierte auf der aus ihrer Sicht richtigen Erkenntnis, dass eine außenpolitische Neuregelung der polnischen Frage langfristig die bestehende Struktur Preußens gefährden müsse. So gab es eine Übereinstimmung ausgerechnet von Konservativen und Nationalliberalen darin, den »Charakter des Reiches als Nationalstaat« nicht zu gefährden; schließlich habe es »niemals reine Nationalstaaten gegeben und wird sie nach diesem Kriege noch weniger geben«.233 Oft waren es die selben Blätter, die sich mit der Forderung nach einem ethnisch homogenen deutschen Nationalstaat hervorgetan hatten, und die nunmehr feststellten, »reine« Nationalstaaten seien ein Ding der Unmöglichkeit. Zum offenen Schlagabtausch zwischen den verfeindeten politischen Lagern kam es im Preußischen Abgeordnetenhaus am 20. November 1916, als Konservative und Nationalliberale einen Antrag auf Wahrung des deutschen Charakters der »Ostmarken«, also auf Beibehaltung der Polenpolitik, einbrachten. Die erbitterte Schärfe der Auseinandersetzungen resultierte daraus, dass man anhand der polnischen Frage letztlich über Deutschlands Zukunft stritt, mithin auch über eine Reform Preußens, welche die Rechte konsequent ablehnte. Daher setzten die Konservativen die undemokratische regierungsamtliche Polenproklamation mit der demokratischen Bewegung in Beziehung-bedenkt man die Folgen, nicht zu Unrecht. »Die von verschiedenen Seiten schon jetzt erhobene Forderung« schrieb die »Kreuzzeitung«, »dass im Verfolg der Wiederaufrichtung des Königreichs Polen die preußische Polenpolitik [...] einem gründlichen Wandel unterworfen werde, zeigt, in wie hohem Maße jener Schritt unserer auswärtigen Politik Lebensfragen des preußischen Staates berührt«.234 Eine zur »Lebensfrage« Preußens stilisierte Polenpolitik aber konnte aus der Sicht der konservativen Nationalisten - erst recht unter dem Druck des Ersten Weltkriegs - keine Revision erfahren. Setzten Linke und Liberale durch die Erfahrung des gemeinsamen Kampfes auf die Überwindung nationalistisch 232 KLZ (MI), 21.11.1916, 1. Vgl. KLZ (A), 21.11.1916, 1; KLZ (2.M) 16.1.1917, 1; NPZ, (M), 6.11.1916, 1; ADB, 20.5.1916, 186. 233 RWZ (A), 11.11.1916, 1; KLZ (A), 21.11.1916, 1. So selbst Hans Delbrück in PJB 169 (1916), 516f. 234 NPZ (A), 8.11.1916, 1. Vgl. zur Debatte im PAH: NPZ (A), 21.11.1916, 1; KLZ (MI), 21.11.1916, 1; BT (A), 21.11.1916, 2f.; KV (A), 21.11.1916, 1; sowie Conze, Nation, 236-38; Lemke, Allianz, 370-72.

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legitimierter Ungleichheit, begünstigte das Weltbild der Rechten die Zementierung nationaler Grenzziehungen. Für die Mehrheit der Konservativen und der Nationalliberalen bedurfte Preußen so notwendig wie unausgesprochen des polnischen Territoriums wie der polnischen Gegnerschaft. Bereits die Sprache der Konservativen verriet ihren Widerwillen gegenüber einer Revision der preußischen Polenpolitik. Die Rechte weigerte sich, die Polen als Nation auch nur semantisch anzuerkennen und nannte sie statt dessen »polnisch sprechende Preußen«.235 Dieser Begriff hatte schon lange den heftigen Widerspruch der Polen und der deutschen Linken hervorgerufen, die ausdrücklich von der polnischen Nation redeten.236 So erklärte auch der polnische Abgeordnete Styezynski im Preußischen Abgeordnetenhaus erbost: »Wenn die Antragsteller von den polnisch sprechenden Preußen statt von den preußischen Polen reden, so sprechen sie uns damit jede besondere Nationalität ab«.237 Während der polnische Abgeordnete vergleichsweise verhalten gegen die Antragsteller protestierte, ging Heinrich Ströbel für die Sozialdemokratie mit einer Härte gegen die Polenpolitik der Regierung und der Konservativen ins Gericht, die klar machte, dass die Zeit des Burgfriedens endgültig vorbei war. »Sie möchten eben [...] Ihre zwangsmäßige Germanisierungspolitik, in den preußischen, sprachlich gemischten Landesteilen fortsetzen. [...] Das heißt: die Polen sollen fürderhin nicht mehr behelligt werden, wenn sie aufhören sich als Polen zu fühlen. [...] Gerade Sie, die auf einem nationalen Standpunkt stehen, können unmöglich einem anderen Volksteil das Ansinnen stellen, dass er auf sein Nationalgefühl verzichtet«.238 Kein Wunder also, dass sich die Rechte nun vor einem verschärften Nationalitätenkonflikt zu fürchten habe.239 Schlimmer noch aber sei, so Ströbel, dass das neue polnische Gebilde letztlich nur den Krieg gegen ein nunmehr erbittertes Russland verlängere. »Soll um des sogenannten unabhängigen Polens willen, das Sie aus irrigen Erwägungen [...] als Schutzwall gegen Osten betrachten, noch eine zweite Million deutscher Soldaten in Massengrüften vermodern?«240 Unter großer Unruhe des Hauses gipfelte Ströbels Rede in dem Vorwurf, die Polenpolitik der Regierung und der Rechten verrate nicht allein die Polen, sondern namentlich die Lebensinteressen des deutschen Volkes. Diejenigen, die das deutsche Volk bedrohten »durch ihre ganze polnische Politik, durch das Polenmanifest und durch den Antrag, den sie 235 »Wir können und dürfen im preußischen Staat eine polnische Nation nicht anerkennen«, befand noch der konservative Abgeordnete Körte in Sten. Ber. PHH, Bd. 130, 10.4.1918, 949. 236 Vgl. BT (Mo), 6.11.1916, 1; GE (A), 6.11.1916, 1; FZ (2.M), 21.11.1916, 1; PJB 169 (1916), 521. Vgl. aber selbst KV (A), 21.11.1916, 1, für die es »Deutsche polnischer Sprache und deutscher Sprache« gab. 237 Sten. Ber. PAH, 2399 (20.11.1916). 238 Sten. Ber. PAH, 2414 (20.11.1916). 239 »Sie befürchten von der Schaffung eines auch nur dem Namen nach unabhängigen Polens eine polnische Irredenta, und mit Recht«, Ebd., 2418. 240 Ebd., 2419.

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hier eingebracht haben, werden vom Volke zur Verantwortung gezogen werden, von denen wird das Volk einmal erkennen, [...] dass sie die größten und schlimmsten Schädlinge des deutschen Volkes und der Menschheit überhaupt gewesen sind«.241 Die Sitzung endete im Tumult. Ströbels Inanspruchnahme des Volkes, konterten seine Gegner mit dem Zuruf: »Volksverräter!« Die Berufung auf das deutsche Volk verschärfte noch immer jeden Konflikt. Doch hatte die Regierung Bethmann Hollweg bereits seit 1915 erwogen, ob nicht eine entgegenkommendere Polenpolitik in jeder - und besonders in militärischer - Hinsicht für das Deutsche Reich gewinnbringender wäre. Schließlich erkannte der Kanzler, dass die Kriegführung des Kaiserreiches von einer Entspannung dieses dringlichen innenpolitischen Problems profitieren würde. Bethmann schrieb Loebell am 15. Juli 1915, man möge prüfen, »auf diejenigen Maßnahmen zu verzichten, [...] die, ohne das Deutschtum zu schützen und zu fördern, von den Polen als ungerechte und unnötige Drangsalierung empfunden werden müssen«.242 Während der gesamten Kriegsdauer beschworen wohlwollende polnische Vertreter die Regierung, den Augenblick zu nutzen und die Ausnahmegesetzgebung, besonders den Sprachenparagraphen und das Enteignungsgesetz, zu kassieren.243 Selbst Loebells Referent für Ostfragen, der Geheime Oberregierungsrat Conze, griff ein zentrales Argument linker Regierungskritiker auf, wenn er in einem Memorandum betonte, dass nach dem Eintreten der Polen für Deutschlands Sache im Krieg diese nicht mehr von Staatswegen diskriminiert werden dürften: »Das Verhalten der inländischen Polen während der Kriegszeit [...] wird, [...] eine Revision der preußischen Polenpolitik [...] zur Folge haben müssen; denn es wird nicht angehen einem Volksteil gegenüber, dessen Angehörige zu Tausenden ihr Leben auf den Schlachtfeldern für Deutschlands Macht und Bestehen eingesetzt haben, nach dem Friedensschluss im öffentlichen Leben noch weiterhin« zu benachteiligen.244 Allerdings widersprachen beinahe alle übrigen Minister und Oberpräsidenten Bethmanns Auffassung, nicht zuletzt mit dem Argument, von besonderen Verdiensten der Polen während der Kriegszeit könne keine Rede sein.245 Nach langen Auseinandersetzungen zwischen dem Kanzler und dem Staatsapparat einigte man sich immerhin auf die Abschaffung des Sprachenparagraphen, des Enteignungsgesetzes und auf Erleichterung des katholischen Religionsunterrichts in polnischer Sprache. Zwar wurde im April 1917 die Abschaffung des zum Symbol gewordenen Sprachenparagraphen von weiten Teilen der deutschen Öffent241 Ebd., 2420. Vgl. ebd., 2420-22. 242 GStPK Rep. 77, Tit. 1884, Nr. 4, Bd. 1, Bl. 10. 243 Vgl. etwa das Schreiben des polnischen Verlegers Wiktor Kulerski, das Erzberger an Loebell mit einer Empfehlung versandte, GStPK Rep. 77, Tit. 1884, Nr. 7, Bl. 18-22 (9.3.1917). Vgl. Lemke, Allianz, 62f. 244 GStPK Rep. 77, Tit. 1884, Nr. 6, Bl. 13 (10.9.1915). 245 Vgl. das Schreiben des Oberpräsidenten der Provinz Ost-Preußen, v. Jagow, GStPK Rep. 77, Tit. 1884, Nr. 6, Bl. 104f. (22.9.1915).

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lichkeit begrüßt, doch war die partielle Revision der antipolnischen Politik zu halbherzig, um einen Neuanfang in den deutsch-polnischen Beziehungen markieren zu können.246 Die deutsche Polenpolitik im Ersten Weltkrieg enthüllte gleichermaßen die sich durch die Belastungen des Krieges zunehmend wandelnden Vorstellungen von der deutschen Nation und die sich nur wenig verändernden Herrschaftsverhältnisse in Deutschland. Nur gebürtigen Deutschen glaubte eine Mehrheit der politischen Akteure im Kaiserreich vor dem Hintergrund der militärischen Herausforderung vertrauen zu können. So konzipierte man den kleindeutschen Nationalstaat zunehmend als ethnisch homogene und fremdsprachige Minderheiten rigide ausgrenzende Gemeinschaft, setzte gleichzeitig aber auf enorme Gebietserweiterungen in Osteuropa und auf die aktive Beteiligung der polnischen Minderheit an den Kriegsanstrengungen. Eine Neuorientierung in den deutsch-polnischen Beziehungen konnte daher weder innen- noch außenpolitisch gelingen. Obwohl selbst der Kanzler indirekt einräumen musste, dass die bisherige antipolnische Politik gescheitert sei, und klar war, dass nach den Leistungen der Polen für den angegriffenen deutschen Nationalstaat ihre verfassungsrechtliche Diskriminierung schwerlich fortgesetzt geschweige denn legitimiert werden konnte, blieb die polnische Frage für die Regierung letztlich unlösbar, weil grundlegende Reformen und territoriale Konzessionen die Struktur Preußens verändert hätten. Dazu war das Establishment nicht bereit. Trotz zahlreicher Gemeinsamkeiten mit der britischen Irlandpolitik kontrastiert im Vergleich die größere Flexibilität und das nachlassende Herrschaftsinteresse der britischen Eliten deutlich mit der äußerst geringen Bereitschaft in Deutschland, den preußischen Polen ein höheres Maß an Selbstbestimmung zu gewähren. Dabei ging ironischerweise die größte Bedrohung des kleindeutschen Nationalstaates nicht vom polnischen, sondern vom deutsch-völkischen Nationalismus aus. Doch stellten nicht allein die Vertreter der neuen Rechten durch ihr Ideal der ethnischen Homogenität den Bestand des kleindeutschen Nationalstaates fundamental in Frage. Gerade die Vertreibungspolitik der kaiserlichen Regierungseliten auf der Grundlage einer nationalen Reinheitsvorstellung bedrohte das Prinzip des Nationalstaates von 1871. Um den angestrebten militärischen Sieg zu erreichen, der die bestehende nationale Ordnung festigen sollte, setzten die Verantwortlichen bewusst oder unbewusst eben diese aufs Spiel. Die Krise des Nationalstaates zeigte sich in der untrennbar verknüpften offiziellen Annexions- und »Germanisierungspolitik«. Die deutsche Lebensraumideologie und besonders das aggressiv vertretene Konzept einer »völkischen Flurbereinigung« kündigten auf einer ideologischen und semantischen Ebene 246 Vgl. die positiven Reaktionen in VO, 20.4.1917, 1f.; FZ (A), 20.4.1917, 1; dagegen NPZ (M), 22.4.1917, 1; sowie Basler, Annexionspolitik. 116f.

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das an, was 20 Jahre später der nationalsozialistische Angriffskrieg in Osteuropa in die Tat umsetzte. Der Hauptunterschied der kaiserlichen Ostpolitik zu der des Nationalsozialismus lag weniger auf der ideologischen Ebene als vielmehr im Fehlen systematischer Gewalt. Obwohl man im kaiserlichen Deutschland trotz aller ideologischen und semantischen Radikalität in der Frage der »Germanisierung« am Ende vor dem Mittel der Gewalt zurückschreckte, bildeten die deutsche Polenpolitik und der antipolnische Diskurs im Ersten Weltkrieg ein wichtiges Bindeglied zwischen der Ausnahmegesetzgebung des Kaiserreiches und der gewaltsam verwirklichten Lebensraumpolitik des »Dritten Reiches«.247 b) »Bloody Monday«: Die britische Irlandpolitik nach dem Osteraufstand Am Ostermontag, den 24. April 1916, besetzten einige hundert Rebellen strategisch wichtige Positionen in Dublin und riefen die Republik Irland aus. Die radikale Splitterorganisation der »Irish Republican Brotherhood« (IRB) hatte von der Reichsleitung Unterstützung erfahren, die beabsichtigte, durch eine Erhebung in Irland das Vereinigte Königreich an seiner empfindlichsten Stelle zu treffen. Doch unzureichend vorbereitet und schlecht bewaffnet war die Rebellion zum Scheitern verurteilt. Dennoch gelang es erst durch den massiven Einsatz regulärer Truppen mit schwerer Artillerie die Zentren des Widerstandes in Dublin zu zerschlagen. In einer Woche schwerer Kämpfe kamen 64 Rebellen, 134 Soldaten und wenigstens 220 Zivilisten ums Leben. Das Zentrum der irischen Hauptstadt lag wie die britische Irlandpolitik in Trümmern.248 Der Osteraufstand blieb in Europa die einzige »nationale« Erhebung während des Ersten Weltkriegs. Die Rebellion war das Werk einer radikalen Minderheit unter den irischen Nationalisten. Kennzeichnend für die Haltung der IRB, wie für die sich als Folge des Osteraufstandes allmählich formierende Sinn Fein (»wir selber«), war der Glaube an eine kulturell verklärte und katholisch überhöhte keltische Nation, der sich in einer antiparlamentarischen und gewaltbereiten Politik niederschlug. Sinn Fein bildete 1916 allenfalls in der Wahrnehmung der britischen Öffentlichkeit eine homogene nationale Bewegung und sollte ihren Aufstieg wesentlich den Fehlern der Irlandpolitik der britischen Regierung nach dem Osteraufstand verdanken. In der kulturnationalistischen Ideologie der Sinn Fein stellten die Nation, die Abstammung und der 247 Vgl. Geiss, Grenzstreifen, 148f; Wehler, Polenpolitik, 194; Schieder, Kaiserreich, 48. 248 Zum Hergang des Osteraufstandes Kee, Flag II, 234-76; Gundelach, Unabhängigkeitsbewegung, 141-263; die Beiträge in O. Edwards, 1916, und zur Rolle Deutschlands zudem Kluge, Irland, 108-55; Doerrics, Mission, 578-625.

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katholische Glaube der Iren eine untrennbare Einheit zur Abwehr der staatsnationalen Anglisierung durch die Briten dar, die idealtypisch das Kriterium einer sezessionistischen Bewegung erfüllt.249 Im Unterschied aber zu den nach dem Ersten Weltkrieg erfolgreichen Nationalbewegungen in Osteuropa, welche ihre Nationalstaaten aus der Konkursmasse der vier besiegten Kaiserreiche schufen, versuchten die irischen Rebellen eine Abspaltung ausgerechnet von dem einzigen siegreichen Großreich.250 Die Verurteilung der Aufständischen in der konsternierten britischen Öffentlichkeit war einhellig. Die konservative Presse konnte naturgemäß überhaupt keinen Grund für den Gewaltakt erkennen. »For this revolt there was not the slightest scrap ofjustification. There was no nation to deliver; for Ireland is free«.251 Für den »John Bull« war alles - wie stets - das Werk von »Germhun [sie!] plotters«, die »wherever found, [...] should be set against a wall and shot, as wise men shoot rabid dogs«.252 Auch für die liberale Presse stellten die - von ihnen zu Unrecht unter der Sinn Fein Bewegung subsumierten Rebellen »a little gang of traitors at home« dar.253 Die IPP unter John Redmond schließlich hatten an der öffentlichen Verdammung der Erhebung ein besonderes Interesse.254 Denn das Kalkül der konstitutionellen irischen Nationalisten war es stets gewesen, durch ihre Vertretung in Westminster Home Rule für Irland zu erreichen. Durch den Ausbruch des Krieges hatte sich ihnen zudem die Gelegenheit geboten, gemäß ihrer nationalistischen Überzeugung und Strategie die Einheit aller Iren, ob Nationalisten oder Unionisten, im gemeinsamen Kampf gegen den äußeren Feind zu beschwören. Mehr noch: Durch die aktive Freiwilligenwerbung der IPP in Irland und den aktiven Dienst von schließlich 150.000 Iren in der britischen Armee ließ sich ihr Anspruch moralisch unerschütterbar untermauern, dass nach Kampf und Tod für die britische Nation diese Irland nicht mehr als Bedrohung betrachten könne und folglich Home Rule gewähren müsse.255 Zunächst erwies sich diese Haltung, der liberalen Regierung zu vertrauen und die übergeordnete Einheit aller Völker des britischen Empires zu betonen, als ausgesprochen erfolgreich. Die HomeRule-Vorlage war -wenn auch bis Kriegsende suspendiert - im September 1914 249 Schieder, Typologie, 70f. Vgl. Gellner, Nations, 100; Boyce, Britons, 248f. 250 Vgl. insges. Boyce, Nationalism, 295-314; Großmann, Nationalbewcgungen, 211-26; Gundelach, Unabhängigkeitsbewegung, 60-85; MacMillan, State, 124-42; Fitzpatrick, Geography, 113-44. 251 DT, 2.5.1916, 8. Vgl.TI, 29.4.1916, 9f.; MP, 5.7.1916. 6. 252 JB, 6.5.1916, 12. 253 DN, 1.5.1916, 4. Vgl. DC, 2.5.1916, 4; sowie Lawlor, Britain, 11. 254 Vgl. die Erklärung Redmonds im HoC V/ Bd. 82,36f. (3.5.1916). 255 Noch am 24.7.1916 verlieh Redmond im Unterhaus seiner Hoffnung Ausdruck, dass die Unionisten nach dem Krieg einsehen würden, »that their fear were to a large extent groundless, and that, having fought and bled side by side in this War with our countrymen of the South and West, they would be willing [... ] to join in a common government of their country«, HoC V/ Bd. 84,1430.

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Gesetz geworden. Gleichzeitig hatte der Kriegsausbruch die Unionisten paralysiert, die nun nicht mehr mit einem Bürgerkrieg in Ulster drohen konnten. Das Bekenntnis zur kämpfenden britischen Nation hatte den Nationalisten Handlungsspielräume eröffnet, die es den Unionisten verschloss.256 Das Dilemma der konstitutionellen Nationalisten aber lag darin, dass angesichts der Belastungen des Krieges ihre probritische Politik Erfolge, mittelfristig also die Umsetzung von Home Rule erbringen musste, um für die Iren attraktiv zu bleiben, denen Sinn Fein einen schnelleren und vollständigeren Weg zur Freiheit in Gestalt einer eigenen Republik verhieß. Viele Iren konnten zudem immer weniger einen Unterschied zwischen der Politik und dem Nationalismus Redmonds - der wie Asquith den gemeinsamen Kampf der Völker des Empire beschwor - und dem der Briten entdecken.257 Der Osteraufstand wurde gleichzeitig zur Katastrophe für den konstitutionellen irischen Nationalismus wie für den Bestand des britischen Nationalstaates. Zwischen Mai 1916 und Mai 1917 erfolgten letztlich irreversible Weichenstellungen, die 1921 in die Teilung Irlands und damit in die Auflösung des britischen Staates von 1801 mündeten. Diese Entwicklung nahm ihren Anfang nicht durch die gewaltsamen Erhebung einiger hundert irischer Radikalnationalisten, sondern war eine Folge der unnachsichtigen Behandlung der Aufständischen durch die Regierung. Was den Aufständischen misslang, erfolgte als Reflex auf die Hinrichtung einiger ihrer Rädelsführer: ein antibritischer Solidarisierungseffekt und die wirkungsmächtige Verklärung der Rebellen zu Märtyrern. Denn im Anschluss an die Tradition des irischen Nationalismus bot es sich geradezu an, ihren Tod als von Briten herbeigeführtes Martyrium im Dienste der Freiheit Irlands zu deuten. Die feinen Unterschiede im Nationalismus der Iren und der Briten begünstigten vollständig unterschiedliche Wahrnehmungen der Situation, weil beide Kommunikationsgemeinschaften den gleichen Sachverhalt verschiedenen Kontexten zuordneten. Was für die Iren ein gnadenloses Verbrechen entsprechend den schlimmsten Auswüchsen jahrhunderterlanger Fremdherrschaft darstellte, bedeutete für die Briten angesichts des offenen Hochverrats in Zeiten des Krieges eine eher milde Reaktion. Tatsächlich ließ General Sir John Maxwell, dem die Regierung einstweilen die Exekutivgewalt übertragen hatte, in den ersten Maitagen lediglich 15 Aufständische hinrichten; worauf allerdings noch Anfang August die aufsehenerregende Exekution Sir Roger Casements erfolgte. Die Hinrichtung der Rebellen bedeutete de jure kein Verbrechen, erwies sich aber, schlimmer noch, als politischer Fehler. Eben davor hatten Sprecher der IPP, aber auch Stimmen aus der liberalen und labournahen Presse gewarnt. Unmittelbar nach dem Aufstand mahnten etwa die »Socialist Review« und der »Daily Chronicle« eindringlich, 256 Vgl. Ö Tuathaigh, Ireland, 54f.; Stubbs, Unionists, 871; Boyce, Nationalism, 283-85. 257 Vgl. Kcc, Flag II, 217-33; Dunn/Hennesey, Ireland, 182-85.

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das Leben der gefangenen Rebellen zu schonen und sie wie Kriegsgefangene zu behandeln, und sei es nur, um nicht viel gefährlichere Märtyrer aus ihnen zu machen.258 Doch Ende Juli stellte die »Daily News« erbittert fest, »that the Maxwell regime has made Sinn Feiners by the thousands and the ten thousands«.259 Diese Entwicklung blieb selbst General Maxwell nicht verborgen. Bereits Ende Juni musste er an Premierminister Asquith schreiben: »From one cause or another a revulsion of feeling set in - one of sympathy for the rebels. Irish M.P.'s, the press, priests, and public bodies have, by their actions, increased this feeling, with the result that the executed leaders have become martyrs and the rank and file ›patriots‹«.260 In weiten Teilen der britischen und der internationalen Öffentlichkeit erschien die Behandlung der irischen Rebellen, überhaupt Irlands als grausame Travestie der britischen Politik, die doch beanspruchte, den Krieg zur Befreiung der »small nations« zu führen. Die Lage Irlands bedurfte daher einer grundlegenden Revision. Seit dem Frühsommer 1916 suchte die britische Regierung angesichts des wachsenden öffentlichen Drucks wieder verstärkt die Irlandfrage zu lösen - oder doch wenigstens Zeit zu gewinnen. Ausgerechnet den republikanischen und nicht den konstitutionellen irischen Nationalisten gelang es daher als Folge der Erhebung indirekt, das seit Kriegsausbruch suspendierte Problem Irland wieder auf die politische Tagesordnung zu setzen.261 Für die wiedererwachte Handlungsbereitschaft der britischen Regierung in der Irlandfrage gab es einen entscheidenden Grund: den Krieg. Der Primat der Kriegführung stand unausgesprochen hinter allen Konzepten, welche die Regierung zur Lösung der Irlandfrage initiierte. Im Vordergrund blieb stets Asquiths Wille, den Krieg gegen Deutschland unter allen Umständen zu gewinnen.262 Entsprechend handelte seit dem Dezember 1916 auch sein Nachfolger David Lloyd Georges. Alles, was die Kriegführung behinderte, galt es daher aus dem Weg zu räumen. Irland hatte in diesem Zusammenhang bereits bis 1914 einen gefährlichen Störfaktor gebildet. Die Auseinandersetzung zwischen Gegnern und Befürwortern der Home Rule für Irland hatte ja nicht nur die britische Öffentlichkeit und das Parteiensystem 258 SR 13 (1916), 205f.; DC, 2.5.1916, 4. Vgl. auch die spektakuläre Empörung von Redmonds Stellvertreter John Dillon im HoC V7 Bd. 82,935-51 (11.5.1916): »If you were not so dense and stupid, as some of you English people are, you could have had these men fighting for you. [...] It is not murderers who are being executed: it is insurgents who have fought a clean fight, however misguided, and it would have been a damned good thing for you ifyour soldiers were able to put up as good a fight as did these men in Dublin«. 259 DN, 25.7.1916,4. Vgl. Kce.Flaglll, 1-9;Gundclach, Unabhängigkeitsbewegung,264-75; Boycc, Britons, 244. 260 PRO CAB 37/150/18 (24.6.1916). 261 Dieser Sachverhalt war bereits den Verantwortlichen klar. »The fact that the rebellion has brought Home Rule once again on the political platform«, schrieb General Maxwell an Asquith PRO CAB 37/150/18 (24.6.1916), »induces them [the Irish - SOM] to think, with some reason, that rebellion pays better than constitutional methods«. 262 Cassar, Asquith, 184f. Vgl. Gundelach, Unabhängigkeitsbewegung, 276f

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tief gespalten, sondern auch das Land an den Rand des Bürgerkriegs getrieben. In zahlreiche innen- und außenpolitische Probleme, denen sich die 1915 gebildete Koalitionsregierung aus Liberalen und Konservativen zu stellen hatte, spielte die Irlandfrage hinein. Jedes Mal konnten die alten Konflikte der Vorkriegszeit wieder aufbrechen und die wahrscheinlich kriegsentscheidende Einheit der Koalitionsregierung gefährden. Mit Ausbruch des Krieges drohte daher der ungelöste Konfliktherd Irland noch bedrohlicher als im Frieden zu werden, weil stets die Gefahr bestand, dass die Irlandfrage die britischen Kriegsanstrengungen behinderte.263 Da die neue Form der Kriegführung ungekannte Eingriffe des Staates in alle gesellschaftlichen Bereiche erzwang, erhöhte sich mit der rigorosen Staatsintervention auch der Legitimationsbedarf der Regierung dramatisch.264 Die beispiellosen Kriegmaßnahmen der Regierung setzten sie, trotz einer unerreichbaren Mehrheit im Unterhaus, in der Öffentlichkeit und im Parlament ununterbrochener Kritik aus, so dass die regierenden Eliten ein vitales Interesse besaßen, mit der Lösung der Irlandfrage von einem Problem befreit zu werden, das die fragile innenpolitische Handlungsfähigkeit gefährlich bedrohte.265 Zum Primat der Kriegführung und des gestiegenen Legitimationsbedarfs der Regierung traten als weitere Antriebskräfte zur Revision der Irlandpolitik drei Faktoren: Erstens behinderte die bestehende relative Unfreiheit der Iren deren Rekrutierung für die britische Armee. Da Irland von der 1916 eingeführten Wehrpflicht zunächst ausgeschlossen bleiben sollte,266 kam es darauf an, die Anzahl der Freiwilligen zu erhöhen. Außerdem band Irlands unruhige Lage Truppen, die an der Front dringend benötigt wurden. Zweitens stellte Irland eine empfindliche Belastung in den möglicherweise kriegsentscheidenden Beziehungen zu den bis zum April 1917 noch neutralen USA dar. Aufgrund der Agitation einer einflussreichen irisch-amerikanischen Gemeinde hatte sich das anglo-amerikanische Verhältnis rapide verschlechtert, da man auch hier die Hinrichtung der irischen Rebellen als skandalös empfand.267 Drittens - und mit den internationalen Beziehungen Großbritanniens eng verbunden - blieb Irland eine ideologische Bürde für die britische Kriegführung. Jedem inneren und äußeren Kritiker der Regierungspolitik stand mit dem Verweis auf die Lage 263 »In the Irish queston we are dealing not with a domestic issue«, unterstrich der »Observer«, 17.12.1916, 8, »but with one of the most urgent of all war questions«. 264 Vgl. v.a. Helle, Ulster, 343-49; sowie McMillan, State, 143ff. 265 Die konservative Presse spottete offen über die Regierung, die ihrer Meinung nach den eigenen Fortbestand ungerechtfertigt mit dem der Nation gleichsetzte. Den Osteraufstand kommentierte die DM, 27.4.1916, 4: »Never did a Government make a more disgracefully inept exhibition of itself. [...] The fact is that they were too busy averting the »national disaster of their possible removal from office to be able to attend to anything else«. Vgl. MP, 6.7.1916, 6; NR 67 (1916), 846. 266 Vgl. Kapitel III.2.b. 267 Ausführlich dazu. Hartley, Question, bes. 50-150.

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Irlands ein bestechendes Argument zur Verfügung, das den britischen Anspruch entkräftete, den Krieg zur Befreiung der »small nations« zu führen. Irische Nationalisten, britische Linksliberale und Labouranhänger ließen keinen Zweifel daran, dass die moralisierenden Briten von Polen zu schweigen hätten, wenn sie nicht bereit seien, über Irland zu reden. Die britische Irlandpolitik kann in dem entscheidenden Jahr nach dem Osteraufstand in drei Phasen gegliedert werden. Die erste umfasst Lloyd Georges Vermittlungsversuch zwischen den irischen Nationalisten und den Ulster Unionisten zwischen Mai und Juli 1916, die zweite wird durch die Desillusionierung und die Erbitterung der IPP, etwa zwischen Oktober 1916 und März 1917, gekennzeichnet, und eine dritte Periode beginnt mit der Eröffnung der Irish Convention, einer Allparteienkonferenz im Mai 1917. Dabei prägten die Irlandverhandlungen - damals wie heute - nicht nur fortgesetzte Fehler der Regierungseliten, sondern auch ein rapide nachlassendes britisches Herrschaftsinteresse in Irland. Ein Vergleich der Behandlung Irlands und Polens drängt sich hier auf. Die beiden »kleinen Nationen« waren so eng mit der Struktur ihrer jeweiligen Nationalstaaten verbunden, dass eine Neuregelung ihres Status das Herrschaftsgefüge in Großbritannien bzw. in PreußenDeutschlands nachhaltig verändern musste. Es geht daher auch um die Frage, ob das durch die Belastungen des Weltkriegs gleichermaßen verschärfte Problem Irland sich für Großbritannien als vergleichbar strukturell unlösbar erweisen sollte wie der Fall Polen für Preußen. Nachdem er sich selber ein Bild von der Lage in Irland gemacht hatte, beschwor Asquith in einem internen Memorandum den heldenhaften Tod aller Iren für die gemeinsame Sache. Dieser eröffne eine neue Lösungsperspektive dergestalt, dass Home Rule für das ganze Land mit Ausnahme Ulsters sofort in Kraft zu setzen sei. Auf die Zustimmung der Nationalisten zu dieser befristeten Teilung meinte Asquith hoffen zu dürfen.268 In einer knappen Erklärung im Parlament am 25. Mai legitimierte der Premierminister seinen Vorstoß mit eben dieser Denkfigur vom gemeinsamen Opfertod aller Iren: »We have now a unique opportunity for a new departure for the settlement of outstanding problems. [...] One great reason that has led to that opinion both there [in Irland - SOM ] and here is our experience in the War. Irishmen of all creeds and classes, north, south [...] have shed, they are shedding to-day, their blood [...] in the trenches«.269 Angesichts dieses gemeinsamen Erlebens und Sterbens sei das Ende der inneren Kämpfe geboten. Offenbar konnten sich auch die Verantwortlichen von der Vorstellung des alle einenden Bandes der Kriegserfahrung nie ganz frei machen. Diese Vorstellung bewegte nicht nur Konservative, son268 »I am by no means sure that the Nationalists [...] would not now be disposed to prefer the total exclusion (for the time at any rate [sic!]) of Ulster«, PRO CAB 37/148/18 (21.5.1916). 269 HoCV/Bd. 82,2310(25.5.1916).

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dem auch Liberale und Labour.27“ Die Beschwörung der Einheit der Nation legitimierte nicht nur politisches Handeln, sie faszinierte - oft ungeachtet besseren Wissens - immer wieder. Die Lehren des Krieges müssten den Maßstab für eine Umgestaltung der Friedensgesellschaft liefern. Vor dem Hintergrund der internen und externen Dauerkrise und der zahllosen Kriegsopfer verhieß die Einheitsvision noch am Ende des zweiten Kriegsjahres Hoffnung auf eine bessere Zukunft.271 Mit der Lösung der Irlandfrage beauftragte Asquith Rüstungsminister David Lloyd George. Diese Wahl illustrierte die Dringlichkeit des Problems für die Koalition und gab dem ehrgeizigen Lloyd George eine erneute Chance, sich zu profilieren - oder zu scheitern.272 Denn es war keine Lösung für einen Konflikt abzusehen, der sich in Friedenszeiten bereits zum wiederholten Male als so gut wie ausweglos erwiesen hatte. Lloyd George verhandelte zwischen dem 23. Mai und dem 8. Juni 1916 mit dem Vorsitzenden der irischen Nationalisten, Redmond, und dem der Ulster Unionisten, Carson. Die Verhandlungspartner verständigten sich zu allgemeiner Überraschung auf den Vorschlag der Regierung. Demnach sollte der Home Rule Act von 1914 sofort mit zwei Modifikationen in Kraft treten. Erstens blieben die sechs Grafschaften Ulsters von dem Gesetz für die Dauer des Krieges ausgeschlossen, und zweitens hielt man an der Anzahl der irischen Parlamentarier in Westminster unverändert fest. Da Lloyd George aber Carson gegenüber angedeutet hatte, dass Ulster auch nach Kriegsende nicht gegen dessen Willen unter die Regierung des Home Rule-Parlamentes gelangen werde, Redmond jedoch genau davon ausging, drohte die Frage, ob Ulster befristet oder dauerhaft ausgeschlossen bleiben sollte, zur Sollbruchstelle des Abkommens zu werden. Damit zeichnete sich bereits hier nicht nur Irlands nachmalige Teilung, sondern auch der Bürgerkrieg ab.273 Zunächst gelang es Redmond und Carson mit Mühe, ihre Anhänger von der Notwendigkeit dieses Kompromisses zu überzeugen. Auch eine Mehrheit innerhalb der englischen Unionisten, voran Parteiführer Andrew Bonar Law und sein Vorgänger Arthur Balfour, sah angesichts der Lage in Flandern und in Ir270 »Thank God, Ulsterman and Nationalist forgot their lesser patriotism in the greater patriotism, and to-day men [...] mingling their courage and their blood on the fields of Flanders«, JB, 20.5.1916, 6. Fast gleichlautend DC, 26.5.1916, 5; HE, 29.4.1916, 1. 271 Für die liberale »Daily News«, 8.7.1916,4, versprach der Einsatz für die Nation eine soziale Grunderneuerung der Gesellschaft: »Millions of men, the flower of the nation, are in these days offering their lives on the altar of patriotism. [... ] The ideal of the Nation must be brought from the trenches into our public life. (...) The Nation First [...] is the master key that will open all locks. [...] It will abolish the grotesque anomalies of the land [...] . It will make the slum a shame[...] .Above all, the Nation First is the only ideal that will reconcile Capital and Labour«. 272 Lloyd George rettete zwar nicht Irland, aber Irland rettete Lloyd George. Seine neue Mission verhinderte, dass er Kriegsminister Lord Kitchener nach Russland begleitete - und mit ihm auf der »Hampshire« unterging. Vgl. McDowell, Convention, 48f. und zu Asquiths durchaus taktischen Motiven für die Wahl Lloyd Georges McEwen, Party, 116f. 273 Vgl. zu den Bedingungen der Übereinkunft HoC V/ Bd. 84, 57-62 (10.7.1916), sowie

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land keine Alternative. Für einige Wochen schien der Durchbruch in der historischen Home-Rule-Frage geschafft. Doch eine große Minderheit in der konservativen Partei und Presse meinte auch jetzt, nicht nachgeben zu dürfen. Rechtskonservative wie Walter Long und Lord Robert Cecil und zahlreiche Großgrundbesitzer und Hinterbänkler kritisierten das Abkommen. Ihre Argumente waren die alten, neu aber war die durch die Kriegslage verschärfte Verratsrhetorik. Der Nationalismus der Konservativen verschränkte ihre antiirischen und antideutschen Bedrohungsängste auf politischer, kultureller und konfessioneller Ebene. Eben wegen des Krieges dürfe die Regierung keine innenpolitisch kontroversen Themen entscheiden274 und schon gar nicht dem bewaffneten Druck der Rebellen nachgeben. »Any man or nation who makes a concession through fear will have to make more concessions [...] until in the end he or it loses all. And shall England [...] be moved, to surrender to a pack of Irish rebels by the fear of Germany?« Unbegreiflich schien der »Morning Post« das Verhalten der konservativen Parteiführung nach der Rebellion: »That was the moment chosen by Unionist ›leaders‹ to surrender«.275 »Surrender« war der unter Unionisten bis heute hochemotional besetzte Begriff, mittels dessen sie ihrer hilflosen Wut Ausdruck verliehen. Gleichzeitig ersannen sie - dem nachmaligen Dolchstoßmythos im besiegten Kaiserreich vergleichbar - das Bild eines körperlich verletzten, verratenen und vergewaltigten unionistischen Irland. Loyale Iren, »who are now dying for their country [...] feel themselves hit in the back as well as in the breast«.276 Die affektiv aufgeladene Körpersprache der Home-Rule-Gegner demonstrierte erneut die mit Hilfe ihres Nationalismus erfolgte Verknüpfung der politischen und emotionalen Dimension des Problems. Die radikale Rechte fürchtete nicht allein um ihre Interessen in Irland und um den Bestand des Empires, sondern auch die Herrschaft der kulturell und konfessionell verachteten Iren.277 Die »Morning Post« bezeichnete Irland immer wieder als »country of Hottentots«. Die Kriegslage schließlich verschärfte das Irlandproblem im Urteil der Rechtskonservativen entscheidend, denn »the question is not a political but a military question. [...] For the proposal, in plain words, is to intrust the government of Ireland in time of war to representatives of a people a proportion of whom are openly seditious and who are in league with Germany«.278 Home Rule in Irland McDowell, Convention, 49-56; Kee, Flag III, 9-12; Turner, Politics, 91-94; Boyce, Question, 9799. 274 So auch Cecil in seinem internen Memorandum PRO CAB 37/151/37 (17.7.1916). 275 MP, 5.7.1916, 6; 7.7.1916, 6. Vgl. MP, 26.5.1916, 6; HoC V/ Bd. 84, 2156f. (31.7.1916) und die Polemik der NR 67 (1916), 842, gegen die »Sinn Fein Press of London«. 276 MP, 7.7.1916, 6. »Whether the surrender was a Sinn Fein rape or a Radical seduction we need not pause to inquire«, MP, 8.7.1916, 6. 277 »The Protestants amongst us fear the pretensions of the Roman Church«. HoC V7 Bd. 84, 2214 (31.7.1916). Vgl. McMillan, State, 145f; Buckland, Carson, 79f. 278 MP, 6.7.1916, 6. Entsprechend NR 67 (1916), 844-46.

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unterstütze daher nicht, wie die Regierungsmehrheit behauptete, Großbritanniens Kriegsführung, sondern gefährde diese.279 Der feindfixierte, streng dichotome Nationalismus der Vertreter des rechten Flügels des konservativen Lagers erlaubte ihnen kaum, das Irlandproblem anders als im Anschluss an ihre bestehenden antiirischen Deutungsmuster wahrzunehmen. Die Frage der Grenzen und der Ausgestaltung des britischen Nationalstaates polarisierte im Krieg wie im Frieden. Im Gegensatz zur Vorkriegszeit spaltete die Irlandfrage nun aber nicht mehr die Liberalen, sondern verursachte einen tiefen Riß innerhalb der Unionisten. Hatte die Forderung nach Aufrechterhaltung der Union bis 1914 die Klammer des konservativen Lagers gebildet und die britische Gesellschaft gespalten, war es jetzt wegen der Regierungsbeteiligung der konservativen Partei umgekehrt. Den Unionisten drohte, wie die Kritiker des Abkommens nicht müde wurden zu betonen, mit der Zustimmung zum Home Rule-Kompromiss — im übertragenen wie im wörtlichen Sinne - der Verlust der Grundlage ihrer Partei.280 Der schleichende Wandel in der Beurteilung der Irlandfrage durch die Konservativen resultierte aus ihrer Regierungsbeteiligung und nicht zuletzt aus der militärischen Leistung der Iren im Krieg. Beides begünstigte die allmähliche Anerkennung der Iren als eigene Nation, mithin Zugeständnisse in der Frage der innenpolitischen Selbstbestimmung Irlands.281 Aufgrund der Kriegserfahrung und der Regierungsverantwortung befürwortete eine Mehrheit im konservativen Lager den genannten Plan mit der für die Partei erstaunlichen Einsicht, dass letztlich nur Home Rule und ein partnerschaftlicher Ausgleich in Irland die Einheit der Union erhalten werde.282 Das von der radikalen Rechten ins Feld geführte Argument der militärischen Instabilität in Irland konterte sie mit dem Verweis darauf, dass die Außen- und Sicherheitspolitik ohnehin unter britischer Kontrolle verbleibe.283 Angesichts dieser eindeutigen Sachlage und der nationalen Bedrohung Britanniens müsse die radikale Minderheit sich dem Willen der Nation fügen: »There must be a settlement, and those who resist it, whoever they may be, will have eventually to bow to the will of the nation«.284 Deutlich 279 »The Home Rule Government [...] might easily paralyse our efforts in the war«, befand auch Robert Cecil PRO CAB 37/150/21 (26.6.1916). 280 »The Unionist Party is, in fact, dead; the cause for which it existed has been surrendered«, MP, 12.7.1916, 6. Vgl. Stubbs, Unionists, 875-82; Boyce, Politics, 98f. 281 Vgl. Balfours Memorandum PRO CAB 37/150/17 (24.6.1916). Selbst Cecil räumte ein: »The attempt has not been fruitless; (...) the Unionist leaders are definitely pledged to the principle that Home Rule in some form or another cannot be withheld from the southern and western parts of Ireland«, PRO CAB 37/151/37 (17.7.1916). Vgl. Mansergh, Party, 88f; Boyce, Nationalism, 286. 282 Vgl. OB, 28.5.1916, 8. 283 Vgl. OB, 2.7.1916, 8. 284 DT, 26.7.1916, 8. »The thanks of the nation are due«, hieß es im DT, 6.7.1916, 8, »to those Unionist Ministers (...) who have steadily subordinated their (...) natural predilections during the

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schärfer noch wurde Garvins »Observer«, der die Gegner des Abkommens im eigenen Lager mit einer nationalen Verratsrhetorik bedachte, die Konservative sonst ihren liberalen und labournahen Opponenten zukommen ließen: »Those who may vote against the Irish compromise will [be] [...] profoundly injurious to the cause of the Empire and the Allies. [...] Some Unionist statesmen and politicians - urged no doubt by powerful and anxious interests [...] - so obsessed by pre-war ideas, so wanting in the sense of present realities [...], are working, in spite of themselves, for the moral triumph of the Sinn Feiners and are playing Germany's game«.285 Die liberale und die Labour-Presse zeigte sich über die Bewegung im konservativen Lager in diesem grundlegenden Problem britischer Politik sehr erfreut. »Except in the ›Morning Post‹ the Irish question is never discussed nowadays in the English Press in terms of the old party shibboleths«.286 Da selbst die konservative Presse die Gegner des Home Rule-Kompromisses in den eigenen Reihen tendenziell aus der britischen Nation ausgrenzte, war aus den Lagern der innenpolitischen Gegner erst Recht keine Gnade zu erhoffen: Die radikale Rechte stelle eine gefährliche Bedrohung der britischen Nation und der britischen Kriegführung dar. »There is a small and very noisy minority of Unionist members and peers who are prepared to present Ireland to the world as a second Poland in the name of Imperial unity«.287 Da man Irland der Weltöffentlichkeit aber nicht als »Western Poland«präsentieren dürfe, und Irland drohe, weiterhin »a satire on our claim that we are fighting to-day the battle of small nationalities«288 zu bleiben, gebe es nur eine Lösung: Irland müsse die Regierungsform erhalten, die es wünscht, mithin das Selbstbestimmungsrecht erhalten. Da man eine Nation nicht gegen ihren Willen regieren könne und dürfe, folge aus dieser Erkenntnis sowohl die »recognition of her status as an equal nation with ourselves« als auch die Notwendigkeit einer grundlegenden Neuregelung: »The best means of satisfying them [the Irish people - SOM] is to.. allow them to decide their own future«.289 Und: »The Irish people want Ireland for the Irish«.290 Gebe man Irland dieses Maß an innenpolitischer Freiheit, erledige sich auch das Problem einer eventuellen militärischen Bedrohung: »Home Rule

Irish crisis to the infmitley greater question of their duty to King and country in a war«. Vgl. ΤΙ, 11.7.1916,7. 285 OB, 2.7.1916, 8. 286 NS, 21.10.1916, 50. 287 DN, 8.7.1916,4. »Their efforts should have thecordeal support of Germany. The frank­ furter Zeitung‹ labours with a zeal not unworthy of the iMorning Posti to prove that the settlement proposed cannot succeed«, DN, 19.7.1916, 4. 288 NA, 8.7.1916, 425; DN, 11.7.1916,4. 289 Womit ausdrücklich ein Dominionstatus innerhalb des Empires gemeint war, HE, 29.4.1916, 1; 1.7.1916, 15. Vgl. DC, 27.5.1916, 4. 290 HE, 29.7.1916, 1.

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[...] is a complete solution of the problem of Irish disaffection. There would be no Irish rebellion against an Irish Government«.291 Das Home Rule-Abkommen scheiterte, als die konservativen Hardliner im Kabinett den Premierminister zu einer Entscheidung zwangen. Die Bombe platze am 11. Juli, als Lord Lansdowne in einer gehässigen antiirischen Rede wie selbstverständlich im Oberhaus erklärte, dass Ulster auf Dauer von Home Rule ausgeschlossen bleibe.292 Statt auf diese kalkulierte Provokation eines Regierungsmitglieds mit dessen Entlassung zu reagieren und die Übereinkunft weiter zu tragen, war Asquith nicht bereit, das Auseinanderfallen der Koalition, zumal nach Beginn der verlustreichen Somme-Ofrensive, zu riskieren. Der Preis, den Asquith für den Fortbestand der Koalition entrichtete, war sein Zugeständnis, dass Home Rule auf Ulster nicht automatisch nach Kriegsende Anwendung finde, sondern nur mit seiner Einwilligung ausgeweitet werde die einstweilige Teilung Irlands also permanent sei. Diese Bedingung konnte der bereits unter massiven Druck geratene Redmond niemals akzeptieren, und das Scheitern der Vorlage hielt die konservative Partei und damit die Regierung zusammen. Unter dem Primat der alles überlagernden Kriegführung stellte selbst die Irlandfrage gegenüber der Handlungsfähigkeit der Koalition ein nachgeordnetes Problem dar. Anders gesagt: Die »nationalen« Probleme Irlands hatten trotz aller Interdependenz hinter denen Großbritanniens zurückzustehen. Bereits am 27. Juni hatte Asquith an den König geschrieben, dass das drohende Ende der Koalition »not only a national calamity, but a national crime« bedeuten würde.293 Mit der Bekanntgabe der Entscheidung, dass die Gesetzesvorlage den Wünschen der Unionisten entsprechend abgeändert werden würde, war das Abkommen tot, Redmond öffentlich blamiert und die Stellung der konstitutionellen Nationalisten in Irland nachhaltig erschüttert. Als Redmond im Unterhaus diese Illoyalität erbittert monierte, räumte Asquith indirekt ein, den Unionisten aus Gründen der Koalitionsräson nachgegeben zu haben.294 Es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, dass die Konservativen sich in dieser Debatte auf das Selbstbestimmungsrecht eines Volkes beriefen und so die Argumentation der Home Rule-Befürworter geschickt umdrehten: Wenn man Irland wegen der gemeinsamen Kriegserfahrung und der Anerkennung seines Selbstbestimmungsrechtes Home Rule gewähre, könne man Ulster, auf das die

291 NS, 27.5.1916, 172. Vgl. NA, 17.6.1916, 337; DC, 8.7.1916, 4. 292 HoLV/Bd. 22, 645-52(11.7.1916). 293 PRO CAB 37/150/23 (27.6.1916). »What does Home Rule or anything else matter? The War swallows up everything«, kommentierte Carson das Ende der Verhandlungen, HoC V/ Bd. 84, 1445 (21.7.1916). Vgl. McDowell, Convention, 57-64; Stubbs, Unionists, 879-84; Gundelach, Unabhängigkeitsbewegung, 279-86; Cassar, Asquith, 185; Boyce, Question, 56. 294 HoC V/ Bd. 84, 1427-34, und 1468f. (24.7.1916). Vgl. Edwards, Achievement, 214f.

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gleichen Bedingungen zuträfen, dazu nicht zwingen.295 Die öffentliche Empörung über das Scheitern der Verhandlungen wurde durch solche sophistischen Kunstgriffe nicht besänftigt. Der »Daily Herald« klagte die Verletzung des Volkswillens, des letztlich gültigen Bezugsrahmens an: »The reactionaries, led by Lord Lansdowne, are determined to use the war as a means for defeating the will of the British and Irish people«.296 Scharf verwies die »Daily News« auf die gezielte Demontage des Abkommens durch die Hardliner, die sich damit als ebenso unpatriotisch wie für die Kriegführung gefährlich gezeigt hätten. Ihre Obstruktion sei schlicht »the crime which has been committed against the nation in this time of extreme peril. [...] It has been committed by men who makes the loudest professions of patriotism«.297 Selbst Northcliffes »Daily Mail« beklagte Lansdownes unzeitgemäßen und unverantwortlichen Widerstand: »Lord Lansdowne and his friends are living in the seventeenth century, and there is no prospect of ever bringing their antiquated ideas up to date. It is preposterous that these people, who represent nobody but themselves, should be allowed any longer to stand between Ireland and a measure of self-government«.298 Nach dem Scheitern der Verhandlungen setzte die Regierung das bestehende Herrschaftssystem - immer noch unter Kriegsrecht - fort und ernannte den Unionisten Henry E. Duke zum neuen Irlandminister. Die für Großbritannien im Weltkrieg kämpfenden irischen Nationalisten schienen wieder von England verraten worden zu sein.299 Mit der Enttäuschung in Irland nahm der Druck auf die IPP weiter zu, die allmählich zwischen der Regierungskoalition und der erstarkenden Sinn Fein-Bewegung zerrieben wurde. Die Sinn Fein-Bewegung verdrängte die Nationalisten bis 1918 nicht einfach, sie ersetzte sie institutionell wie ideologisch und wurde zum Synonym für den neuen irischen Nationalismus. Sinn Fein verkörperte eine breite Koalition aus Republikanern und enttäuschten Home Rule-Anhängern, die nach dem Scheitern der Irlandverhandlungen massiven Zulauf erhielt, und von Februar 1917 ab in Irland eine Nachwahl nach der anderen zum Unterhaus gegen die IPP entschied. Redmonds Bekenntnis zur britischen Nation und zur britischen Kriegführung diskreditierte mittelfristig, als der Erfolg ausblieb, die Home Rule-Politik insgesamt. Hatte Home Rule in Irland stets für die Freiheit und das Selbstbestimmungsrecht der irischen Nation gestanden, galt sie nun bestenfalls als 295 »How could anybody say«, führte Carson aus, »that the forces of this country would ever be used (...) for coercing the men and the people [of Ulster - SOM] who had made these sacrifices?« Ebd., 1446. 296 HE, 29.7.1916, 1. 297 DN, 25.7.1916, 4. Vgl. MG, 22.7.1916, 6. 298 DM, 26.7.1916, 4. Vgl. Boyce, Opinion, 583-85. 299 »The contract was broken«, beklagte Thomas O'Connor im HoC V/ Bd. 91, 440 (7.3.1917), »England was ever the perfidious England known of old«.

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leere Worthülse, ja, sogar als Betrug und Erfüllungspolitik des britischen Imperialismus. Sinn Fein bekämpfte eine so begriffene Home Rule-Politik und das dahinter stehende pluralistische Nationsverständnis vom Vereinigten Königreich. Sinn Fein definierte im Gegensatz zur IPP die irische Nation als kulturelle und revolutionäre Entität und vor allem in fundamentaler Abgrenzung von der britischen. Zu einer dynamischen Herausforderung des britischen Nationalstaates und der IPP wurde Sinn Fein auch dadurch, dass die Bewegung ihre Vorstellung von Irland als einzigartiger Kulturnation mit der Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker verband. Demnach reflektiere nicht mehr das Parlament in Westminster, sondern nur noch die eigenen Vertreter den Willen des irischen Volkes.300 Von der britischen Politik desillusioniert und in Irland in die Defensive gedrängt, suchte die IPP erneut in die Offensive zu gehen, um durch öffentlichen Druck die Regierung doch noch zum Einlenken zu bewegen. Den Höhepunkt der Auseinandersetzung markierten zwei Unterhausdebatten im Oktober 1916 und im März 1917. Am 18. Oktober 1916 brachte Redmond einen Tadelsantrag gegen die Koalitionsregierung zur Abstimmung ein, in dem er unterstrich, dass das Kriegsrecht in Irland im Widerspruch zu den Prinzipien stehe, für welche die Alliierten Krieg führten. »So long as the Irish people feel that England, fighting for the small nationalities of Europe, is maintaining by martial law a State Unionist Government against the will of the people in Ireland, so long no real improvement can be hoped for«.301 Bezeichnenderweise berief sich nun auch Redmond zur Legitimation seiner Ansprüche nicht mehr auf die britische Völkergemeinschaft, sondern allein auf den Willen des irischen Volkes: »Trust the Irish people once and for all, by putting the Home Rule Act into operation«.3“2 Sein Parteifreund Thomas Ε O'Connor erklärte, dass in Irland eine Form des angeblich so verachteten preußischen Militarismus bestehe und skizzierte dann die drohende Blamage, mit der die britischen Vertreter auf einer möglichen Friedenskonferenz dem deutschen Kanzler gegenüber treten müssten: »What will Bethmann Hollweg say? ›You demand the liberation of small nations! There is a country called Ireland. [...] Have you liberated that small nation ofyour own?*«303 Aufdie Übertragung des deutschen Feindbildes auf die eigene Irlandpolitik ließ sich Henry Duke naturgemäß nicht ein und beschied im Namen der Regierung den Iren bündig, dass sie, statt weitere Forderungen bezüglich ihrer Selbstbestimmung zu stellen, zunächst einmal einen größeren Beitrag zur Verteidigung Großbritanniens leisten sollten.3“4 Obwohl Red300 Vgl. Boyce, Nationalism, 287-89, 313-18; ders., Britons, 245-49; McMillan, State, 15154; Lawlor, Britain, 14f.; Turner, Politics, 176f. 301 HoC V/ Bd. 86, 581-94, Zit. 593 (18.10.1916). 302 Ebd., 594. 303 Ebd., 617-20, Zit. 619. 304 Ebd., 594-600. Entsprechend TI, 19.10.1916, 12.

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monds Antrag mit 106 zu 303 Stimmen erwartungsgemäß scheiterte, wurde das Abstimmungsergebnis zu einem Achtungserfolg für die IPP und demonstrierte erneut das stets in der Irlandpolitik liegende Spaltpotential. Dieses Mal traf es die Liberalen; sie hatten sich der Herausforderung zu stellen, in Übereinstimmung mit ihrer Parteiführung oder mit ihren Überzeugungen zu stimmen. Wenigstens 40 Hinterbänkler der liberalen Partei waren nicht mehr bereit, die Verletzung fundamentaler liberaler Prinzipien aus Gründen der Koalitionsräson unwidersprochen hinzunehmen.305 Die Unterhausdebatte am 7. März 1917 zog einen Schlussstrich unter die jahrzehntelangen Versuche, dem irischen Problem durch Home Rule zu begegnen und machte das Scheitern der konstitutionellen Nationalisten sinnfällig. Eindringlich mahnten die Parlamentarier der IPP, das Vertrauen, welches die Iren Großbritannien gerade im Krieg entgegengebracht hätten, durch Vertrauen gegenüber Irland zu vergelten.306 Die irischen Unionisten blieben davon ungerührt. Die Rebellion habe deutlich gemacht, dass Vertrauen unangebracht sei. »Under no circumstances will Ulster Unionists ever consent to come under a Home Rule Parliament. We are asked to trust our Nationalist fellow countrymen. [...] Do the events of the past twelve months in Ireland justify them in expecting that we should be more ready to come under Home Rule to-day than we were before the War? [...] We prefer to trust the Brirish people and the Imperial Parliament«.307 Außerdem zeigten die unterschiedlichen Rekrutierungszahlen im Norden und Süden, »that there are really two Irelands«. Ein wahrhaft patriotisches und ein taktierendes, »which makes its offers of service dependent upon the receipt of political advantages«.308 Die Entgegnung durch Premierminister Lloyd George, der nun erstmals in aller Öffentlichkeit die Position der Unionisten verteidigte, beraubte die IPP ihrer letzten Illusionen. Sein argumentativer Kunstgriff bestand in der Übertragung des Selbstbestimmungsrechtes auf die unionistische Minderheit in Irland. Sicher habe Irland grundsätzlich ein Recht auf nationale Selbstbestimmung, aber eben deshalb dürfte man das auch den Unionisten in Ulster nicht absprechen. Die Einwohner Ulsters unterschieden sich grundsätzlich von denen des übrigen Irland, sie seien, so Lloyd George, »alien in blood, in religious faith, in traditions, in outlook«.309 Mit dem pluralistischen Nationsverständnis der liberalen Partei oder der IPP hatte das nur noch wenig zu tun. Die Teile Irlands, welche Home Rule begehrten, fuhr der Premierminister fort, könnten diese erhalten. »We are prepared to extend self-government to the country that asks for it. We are not 305 III.2.a. 306 307 308 309

Vgl. die Abstimmung in Ebd., 692-96, dazu McEwen, Party, 121-31. Vgl. unten Kapitel HoC V/ Bd. 91, 425-48 (7.3.1917). Sir John Lonsdale, Ebd., 450f. Ebd.,452f. Ebd., 459.

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prepared to extend it to a country that does not ask for it«.310 Deshalb stimme auch die immer wiederholte Analogie mit Polen nicht, weil Großbritannien eben nicht ein Volk gegen dessen Willen beherrschen wolle. Home Rule in Ulster aber, und damit lag er auf der Linie der konservativen Partei, »would be government against the will of the people«.3“ Damit war klar, dass die Nationalisten entweder Home Rule um den Preis der Teilung Irlands oder gar nichts erhalten würden. Ulster blieb unnachgiebig, und Lloyd George wollte aus Koalitionsräson keinen Druck auf Ulster ausüben. Angesichts der fortgeschrittenen Erosion seiner Partei war Redmond aber zu weiteren Zugeständnissen nicht in der Lage. Argumentativ hatte er zudem Lloyd George nichts entgegenzusetzen, der sein politisches Handeln ebenfalls mit der Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Iren legitimierte. Vergeblich hatte Redmond gehofft, Ulster nicht durch Zwang, sondern durch das gemeinsame Kriegserlebnis vom guten Willen der Nationalisten zu überzeugen. Während konservative Parlamentarier die Situation auskosteten, die Vertreter der IPP für die Probleme, die sie ihnen jahrzehntelang bereitet hatten, ausgiebig zu demütigen, resümierte Redmond - getäuscht und maßlos erbittert - sein gescheitertes Lebenswerk: »Any British statesman who [...] once again teaches the Irish people the lesson that any National leader who, [...] endeavours to combine local and Imperial patriotism, endeavours to combine loyalty to Ireland's rights with loyalty to the Empire, [...] is certain to be let down and betrayed [...], is guilty of treason, not merely to the liberties of Ireland, but to the unity, strength, and best interests of the Empire«.312 Darauf tat die IPP das, was Sinn Fein schon lange gefordert hatte. Angeführt von Redmond verließ die Partei demonstrativ das Unterhaus. In der britischen Öffentlichkeit war klar, dass die verhängnisvolle Unterhaussitzung eine Zäsur in der Irlandpolitik markierte. Die Blockadepolitik der Ulster Unionisten, prophezeite der »Manchester Guardian« weitsichtig, werde Irland in einen Status von »perpetual unrest, passing at times into violence and anarchy« versetzen.313 Die IPP veröffentlichte am folgenden Tag eine Erklärung, in der sie eindringlich an die USA appellierte, Druck auf die Regierung in London auszuüben, weil diese die kämpfende britische Völkergemeinschaft 310 Ebd., 465. 311 Ebd., 459. Vgl. zur Verteidigung des Vergleichs Polen-Irland nur DN 9.3.1917, 4; HE, 10.3.1917, 1; 20.11.1917, 2f. 312 Ebd., 479f. Redmonds prophetische Warnung, welche Folge die Preisgabe der konstitutionellen Nationalisten haben werde, verhallte wirkungslos: »If by your action to-day [...] the constitutional movement disappears; I beg the Prime Minister to take note that he will find himself face to face with a revolutionary movement«. Ebd., 478. Vgl. zur Bedeutung dieser Debatte, Gundelach, Unabhängigkeitsbewegung, 298-302; Turner, Politics, 179f; McDowell, Convention, 70f. 313 MG, 8.3.1917,4.

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verrate: »The Government is doing all that it can to aid the work of Germany«.314 Unterstützung erhielt die IPP von den Liberalen und von Labour. Tatsächlich entspreche das Ende der Home Rule-Politik »a victory in the field to the enemy«.315 Die Polenanalogie stimme leider insofern, als die Unionisten Irland auf die gleiche Weise zu regieren trachteten »by which the Germans claim to govern Belgium«. Nicht einmal um Großbritanniens Kriegsanstrengungen zu erleichtern, seien diese selbsternannten Superpatrioten zu Zugeständnissen bereit. »Not even to win the war [...] are the Unionist prepared to abandon any of their hostility to the satisfaction of the demand of Ireland for the right of selfgovernment«.316 Hatten die Verhandlungen über den Status von Irland bis zum Frühjahr 1917 für Blätter vom Schlage der »Morning Post« gezeigt, dass die Irlandfrage notwendig unlösbar bleibe,317 erhöhte sich mit dem Kriegseintritt der USA der moralische Druck auf die britische Regierung - den die Dominions des Empires verstärkten - das Irlandproblem endlich zu lösen. Für die Kritiker der britischen Irlandpolitik stand fest, dass ein Durchbruch in London und nicht in Irland erfolgen müsse. Es gebe keine Verständigung in Irland »while the English question in Ireland (often nicknamed the ›Irish question‹) remained«.318 Beinahe wichtiger noch als das Problem selber zu lösen, war es für die Regierung daher, einen Lösungsversuch zu unternehmen, der ihre Kritiker im In- und Außland besänftigen und ihr damit Zeit verschaffen würde.319 Lloyd Georges Vorstoß stellte eine meisterliche Improvisation dar. In einem Brief an Redmond unterstrich er die Bedeutung der »unity which is essential to the supreme necessity of winning the war« und bot an, den Home Rule Act von 1914 sofort - die sechs Grafschaften Ulsters ausgenommen - in Kraft zu setzen. Alternativ sollten die Iren unter sich eine Lösung in Form einer »convention of Irishmen of all parties for the purpose of producing a scheme of Irish self-government« ausarbeiten.32“ Redmond weigerte sich, länger über Home Rule zu verhandeln, erklärte sich aber zur Teilnahme an einer irischen Allparteienkonferenz bereit. Zwar sagten, freilich mit der Ausnahme Sinn Feins, auch die übrigen irischen Parteien ihre Teilnahme zu, doch erschöpften sich ihre Gemeinsamkeiten im wesentlichen darin, unvereinbare Standpunkte auszutauschen. Das aber entsprach durchaus der Absicht der Regierung, der es vor allem darauf ankam, Irland den Iren zu überlassen und sich aus den Verhandlungen der Iren mög314 Abgedruckt u.a. in MG, 9.3.1917, 4. 315 DN, 8.3.1917, 4. »Extreme Unionism as regards Ireland is not only treason to the Empire, but treachery to the Allied cause«, NA, 15.12.1917,375. 316 DN, 9.3.1917, 4; LL, 15.3.1917, 1. Vgl. HE, 10.3.1917, 1; HE, 17.3.1917, 9. 317 MP, 18.5.1917,4. 318 HE, 20.11.1917, 2. 319 Vgl. Stubbs, Unionists, 884-86; A. Taylor, History, 83. 320 PRO CAB 23/2/173 (=WC 140) (16.5.1917). Vgl. Turner, Politics, 181-85; McDowell, Convention, 76f.

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lichst herauszuhalten. Auf diese Weise bekam sie die Hände für die dringlicheren Probleme der Kriegführung frei. Außerdem konnte nur eine weitgehende Nichteinmischung ihre Irlandpolitik im In- und Ausland glaubhaft legitimieren. Für koalitionsnahe Zeitungen wie die »Daily Mail« war das irische Problem, soweit es jedenfalls Großbritannien betraf, damit gelöst: »So far as Great Britain is concerned, the last obstacle, to a settlement of the Irish question is removed. It is now solely and wholly in the hands of the Irish themselves«.321 Die »Convention« setzte sich aus 101 moderaten Vertretern der irischen Parteien zusammen, die seit dem Juli 1917 in Dublin meist um Details stritten. Die einzige Annäherung erfolgte zwischen den Unionisten aus dem Süden Irlands und der IPP, die beide um ihre Zukunft bangten und sich beide vor Sinn Fein fürchteten. Bis zu ihrem formalen Ende im April 1918 kam die Allparteienkonferenz voran, aber nicht eigentlich weiter. John Redmond blieb es erspart, auch noch das Scheitern der »Convention« erleben zu müssen. Am 6.März 1918 war der Anführer der irischen Nationalisten in London gestorben.322 Die britische Irlandpolitik schien 1918 weitgehend dort zu verharren, wo sie 1914 angekommen war: Der Home-Rule-Act blieb suspendiert, Ulster hielt an seiner Blockadepolitik fest, eine Fortsetzung der Gewalt schien unvermeidlich, und die Frage der Grenzen und der Ausgestaltung des britischen Nationalstaats in Irland spaltete auch im Krieg die englische Parteienlandschaft in wechselnden Konstellationen immer wieder. Doch der Abbau kolonialer Elemente in der britischen Herrschaft über Irland kontrastierte scharf mit der deutschen Polenpolitik. Zwar lastete auch auf den politischen Akteuren in England ein mit der Lage in Deutschland vergleichbarer hoher Homogenitätsdruck, da der Krieg die Durchsetzung verschärfter nationalistischer Ausgrenzungsstrategien gegen jedwede Minderheiten begünstigte und zudem in beiden Ländern Teile des konservativen Lagers jede politische Neuorientierung nach Kräften behinderten. Gleichzeitig bedurften beide Kriegsgesellschaften der aktiven Teilhabe ihrer »nationalen Minderheiten« an den Kriegsanstrengungen. Großbritannien scheiterte am Ende in Irland wie das Kaiserreich in Polen, kam aber der Lösung der ambivalenten Situation näher. Einschneidende Veränderungen zeichneten sich durch die allmähliche Umdefinition der britischen Nation und des britischen Nationalstaats im und auch durch die Folgen des Ersten Weltkriegs ab. Das wichtigste Indiz für diesen Wandel war die - trotz aller Einheitsbekundungen - faktische Anerkennung des Rechts auf Selbstbestimmung für die mehrheitlich nationalistischen Gebiete im Süden des Landes durch alle britischen Parteien, inklusive einer großen Mehrheit im konservativen Lager. Dagegen stand nicht einmal für die Unabhängige Sozialdemokrati321 DM, 22.5.1917,4. Vgl. DC, 21.5.1917,2, und die Reaktionen auf Lloyd Georges Initiative im HoCV/Bd. 93, 1995-2022 (21.5.1917). 322 Vgl. zur Zusammensetzung und dem Verlauf der »Convention«, bes. McDowell, Convention, 78-184; sowie Turner, Politics, 242-48; 278-84; Stubbs, Unionists, 884-88.

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sche Partei [USPD] die Preisgabe der polnisch besiedelten Gebiete des Deutschen Reiches zu Debatte. Der zunächst semantisch-ideologische und dann auch politische Ausschluss der Iren aus dem britischen Staatsverband von 1801 veränderte nicht nur diesen, sondern auch das nun reduzierte und konzentrierte Verständnis von der britischen Nation. Auch der Nationalismus der britischen Liberalen bedingte eine Wahrnehmung der Iren als gleichzeitig zugehörig und fremd. Dafür stand exemplarisch ihre ausschließende und einschließende Elemente umfassende Home Rule-Politik. Die schleichende Ethnisierung der Vorstellungen von der britischen wie der irischen Nation erleichterten die Ausgrenzung der Iren aus der Union. Die neuen und alten Grenzen zwischen Iren und Briten begründete man kulturell und rassistisch und minderte so ihre Durchlässigkeit. Im grundsätzlichen Unterschied zur Polenpolitik des Kaiserreiches beeinflusste aber dieses Homogenitätskonzept der britischen Nation in keinem vergleichbaren Maß die Politik der britischen Regierungseliten oder die Vorstellungen der politischen Lager. Im Gegensatz zur kaiserlichen Polenpolitik gelang in Großbritannien immerhin im Ansatz die Lösung der Irlandfrage - und das aus drei Gründen: Erstens begünstigte die in der politischen Öffentlichkeit allgegenwärtige - im anschließenden Abschnitt näher zu untersuchende - Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker einen Ausgleich in der britischen Irlandpolitik. Zweitens verhinderte das Fehlen einer expansiven Kriegspolitik, dass Irland das Schicksal Polens widerfuhr. Drittens bestand innerhalb der parlamentarischen Demokratie die besondere Notwendigkeit, auch hinter der Irlandpolitik lagerübergreifende und legitime politische Mehrheiten zu versammeln. In Großbritannien setzte sich zwar die Überzeugung durch, Irland zu teilen, nicht aber, es einer völkischen »Austauschsiedlung« zu unterwerfen. Kurzum: Die Bereitschaft, die Iren sich selber zu überlassen und das nachlassende Herrschaftsinteresse der britischen Eliten in Irland war auch eine Folge des durch den Krieg erhöhten Legitimitätsdrucks, dem sich die Koalitionsregierung innerhalb des parlamentarischen Systems ausgesetzt sah, und die sich daher mit der Lösung der Irlandfrage eines gefährlichen Problems zu entledigen suchte.323 Der Erste Weltkrieg veränderte das Verständnis von der britischen Nation.

323 Vgl. Helle, Ulster, 341-51; Dunn/Hcnnesy, Ireland, 190-94; Turner, Politics, 284f.

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4. Kriegszielpolitik und Selbstbestimmungsrecht a) Der Drang nach Osten. Der Kampf um die Kriegsziele im Deutschen Reich Das neuartige Vernichtungspotential des Ersten Weltkriegs steht nicht allein in militärischer Hinsicht außer Frage. Vor 1914 wurden Kriege - von wenigen bezeichnenden Ausnahmen wie dem amerikanischen Bürgerkrieg oder einigen Kolonialkriegen abgesehen - nicht allein durch das beschränkte wirtschaftliche und militärtechnische Potential der Staaten, sondern auch durch die fehlende psychische und physische Partizipation der Gesamtbevölkerung begrenzt.324 Der Erste Weltkrieg begann als ein großer konventioneller Krieg, entwickelte sich aber seit 1915/16 zum totalen Krieg. Die Industrialisierung der Kriegführung, die Militarisierung der Gesellschaft und der Abbau traditioneller politischer und sozialer Barrieren führten zu einer bis dahin ungekannten Relativierung der klassischen Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten. Die Folge dieser umfassenden gesellschaftlichen Mobilisierung und der Entgrenzung von Gewalt war, dass die Kriegsanstrengungen der sich als »Nation« verstehenden Bevölkerung geradezu unausweichlich zu einer Moralisierung und Totalisierung des Krieges führten, da der »Nation«, mit der man sich selber identifizierte, tendenziell keine Beschränkungen auferlegt wurden.325 Dieser Transformation der Gesellschaft durch den Krieg entsprach eine Veränderung der Kriegsziele. In einem totalen Krieg kam es nicht mehr allein darauf an, den Gegner zu besiegen, sondern den Feind zu vernichten. Die Interpretation der militärisch-weltanschaulichen Auseinandersetzung durch nationalistische Deutungen beförderte gleichzeitig auch innenpolitisch eine neue Qualität von Feindschaft. Der totale militärische Antagonismus wurde so im Innern reproduziert. Hier interessiert weniger, wie in Folge der nationalistischen Vorstellungen und Legitimationsstrategien sich die Kriegführung des Ersten Weltkriegs verschärfte, vielmehr wie die innenpolitische Auseinandersetzung über den Krieg mit Hilfe konkurrierender Nationalismen neue innere Konfliktpotentiale schuf und schließlich auch die Kriegsziele veränderte. Die Kriegszielpolitik bildete das wahrscheinlich beherrschende Thema in Deutschland und in Großbritannien und polarisierte beide Gesellschaften wie allenfalls noch die Wahlrechtsfrage.326 Tatsächlich waren die Kriegsziele - die Frage der 324 Vgl. zum begrenzten Kabinettskrieg Fuller, Conduct, 15-25; Wehler, Krieg, bes. 94f. 325 Vgl. Hillgruber, Ort, passim; Fuller, Conduct, 26-41; Howard, War, 25-29. 326 »Die Rückwirkung des Streits über die Kriegsziele«, urteilte Gerhard Ritter, zit. n. Hildebrand, Reich, 324, »der sehr bald einsetzte und in jahrelanger Fortsetzung sich immer mehr

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zu stellenden territorialen, militärischen und finanziellen Forderungen - nicht nur nach außen gerichtet. Die Formulierung der Kriegsziele gegen äußere Gegner reflektierte immer auch die innenpolitischen Nationsvorstellungen, Machtverhältnisse und Interessenkämpfe. Von Beginn an verschränkte die Kriegszieldiskussion daher die Probleme der Innen- und Außenpolitik. In den beiden folgenden Abschnitten geht es einerseits darum zu zeigen, wie mit den Kriegszielforderungen Innenpolitik betrieben wurde. Nicht nur, aber besonders in Deutschland zielte man in der Kriegszieldebatte nicht allein auf den äußeren Gegner, sondern nutzte die Propagierung von Kriegszielen als innenpolitische Machtprobe. Andererseits soll anhand der Debatte über das »Selbstbestimmungsrecht der Völker« veranschaulicht werden, wie durch nationalistische Legitimationsmuster dem Streit um die Kriegsziele eine neue politisch-moralische Dynamik verliehen wurde. Unter den Bedingungen des »Burgfriedens« blieb in Deutschland die öffentliche Erörterung der Kriegsziele bis zum November 1916 untersagt. Die Reichsleitung hatte richtig erkannt, dass jede öffentliche Debatte über dieses Thema die bestehenden inneren Konflikte weiter verschärfen würde: »Parteipolitische, materielle und ideelle Gegensätze der verschiedenen Art werden [...] durch nichts so stark geschürt, wie durch die Erörterung der Kriegsziele«.327 Aber je mehr die Aussichten auf einen vollständigen Sieg mit der Zeit dahinschwanden, desto stärker wurde die Neigung im konservativen Lager und besonders bei der radikalen Rechten, die Bevölkerung durch weitgespannte Siegeshoffnungen und ehrgeizige Kriegsziele zu motivieren. Doch die übertriebene Erwartung einer glorreichen nationalen Zukunft entwickelte eine Eigendynamik, die der Regierung die innenpolitische Kontrolle stückweise entzog. Je mehr die Regierung die nationalistische Stimmungsmache zuließ, desto weniger konnte sie diese kontrollieren. Denn die Forderung nach umfassenden Annexionen drohte das Verhältnis des Reiches zum gegnerischen wie zum neutralen Ausland weiter zu belasten und vor allem die fragile Einheit des Burgfriedens aufzubrechen, da die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften offiziell nur bereit waren, einen Verteidigungskrieg zu unterstützen. Bethmann Hollweg beabsichtigte auch in der Kriegszielfrage den Problemen vermittelnd zu begegnen, die er nicht zu lösen vermochte. Zwar blieben die Kriegsziele immer auch von der jeweiligen militärischen und außenpolitischen Situation abhängig, zugleich aber suchte der Kanzler mit Hilfe der Kriegsziele immer auch eine innenpolitische Kompromissformel zu finden. Ohne sich je festzulevergiftete, auf das deutsche Volk war in jedem Sinn ein Unglück«. Wie Gerhard Ritter selber wußte, traf das auch noch auf die bösartigen Auseinandersetzung innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft über die Kriegszielpolitik des Deutschen Kaiserciches im Zuge der Fischer-Kontroverse zu. 327 Besprechung im Kriegspresseamt, BA R1501 112328, Bd. 1, B1.51 (3.9.1915).

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gen, stellte er der Rechten und der Industrie Annexionen in Aussicht, der Sozialdemokratie aber begrenzte politische und soziale Reformen. Die lavierende Politik der Kanzlers und der Versuch, die Frage der Kriegsziele mit den innenpolitischen Reformen zu verknüpfen, hatten zur Folge, das hier wenig zustande kam.328 Die Kriegszielfrage beschäftigte alle Parteien und Gruppen, besaß aber für zwei politische Lager weltanschauliche Bedeutung: für die Sozialdemokratie einerseits und für das konservative Lager andererseits. Die Industrie und besonders die radikale Rechte suchten trotz des Burgfriedens noch im August 1914 ihre alte Zielvorstellung einer nationalen Blockbildung gegen ihre äußeren und inneren Feinde zu verwirklichen. Als Mittel dazu wählten sie die Erörterung der Kriegsziele, wovon sie sich eine siegesfreudige Begeisterung der deutschen Nation versprachen.329 Die um den ADV und die großen Wirtschaftsverbände rapide erstarkende Kriegszielbewegung verfolgte mit der Propagierung der territorial wie ökonomisch maßlosen Ziele eine außen- und eine innenpolitische Absicht. Außenpolitisch stellte für sie der Weltkrieg die langersehnte Gelegenheit dar, um mit einem Schlage durch weitreichende Gebietserwerbungen in Europa und darüber hinaus die Weltstellung des bislang vermeintlich benachteiligten Deutschen Reiches in alle Zukunft zu sichern. Auch wenn die Stoßrichtung der deutschen Expansion ein Gegenstand heftiger Dispute zwischen Politikern, Militärs, gutachtenden Professoren und Agitationsund Interessenverbänden blieb, die zudem von der jeweiligen militärischen Lage abhängig waren und kein geschlossenes Konzept ergaben, optierte doch eine wachsende Mehrheit in der Kriegszielbewegung für ein Modell des Sowohl als Auch: koloniale und kontinentale Expansion, mit einem Schwerpunkt auf der Ausdehnung nach Osteuropa. Kaum ein Kriegsziel schien zu weit bemessen oder zu absurd zu sein, um nicht in den Plan der neuen deutschen »Weltmacht« zu passen.33“ Außerdem sollten durchschlagende Expansionserfolge die wilhelminischen Herrschaftsverhältnisse gegen Ansprüche der auf politische Reformen drängenden Arbeiterbewegung legitimieren und stabilisieren.331 328 Vgl. VO, 30.3.1917. 1; und bereits Rosenberg, Entstehung, 99f, 132f; sowie Farrar, Illusion, 132-47; G. Feldman, Armee, 122-24; Stegmann, Erben, 458-64; F. Fischer, Griff, 198. 329 Vgl. Claß, Strom, 318f.; Guratzsch, Macht, 127-32; Kruck, Verband, 72-76; Peck, Radicals, 160-63. 330 Claß, Denkschrift, 55. »Wir werden dabei auf einen Schlag nachholen, was wir bei der Teilung der Erde versäumt haben«, Claß, Denkschrift, 54. Vgl. F. Fischer, Griff 184-222; G. Ritter, Staatskunst III, 15-54; Janßen, Macht, passim. 331 Diese geradezu idealtypisch sozialimperialistische Auffassung vertrat Alfred Hugenberg, zit. n. G. Feldmann, Armee, 122, bereits am 7. November 1914 vor dem »Unterausschuß des Kriegsausschusses der deutschen Industrie«. Angesichts der durch den Krieg bedrohlich wachsenden Ansprüchen der Arbeiter, sei es »deshalb gut um inneren Schwierigkeiten vorzubeugen, die Aufmerksamkeit des Volkes abzulenken und Phantasie Spielraum zu geben in bezug auf die Erwei-

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Die Zensurbestimmungen umging die Kriegszielbewegung, indem sie die Regierung und den Reichstag direkt mit zahllosen Petitionen und Eingaben überschwemmte. Die genannten Denkschriften von Claß, Erzberger, Waterstradt oder Gwinner332 stellten bei aller Bedeutung nur ein bescheidenes Vorspiel zu einer Agitation ungekannten Ausmaßes dar. Am 10. März 1915 ging die Kriegszielbewegung in die innenpolitische Offensive über. Die führenden Wirtschaftsverbände reichten ihre von Hugenberg und Claß ausgearbeitete Denkschrift zur Kriegszielfrage, verbunden mit einer Petition zur Freigabe der öffentlichen Kriegszieldiskussion beim Reichstag ein. Auf dieser Grundlage kam am 20. Mai die bis dahin bedeutendste Kriegsziel-Kundgebung zustande, welche die sechs führenden wirtschaftlichen Interessenverbände trugen.333 Auf der gleichen Linie lag die »Intellektuelleneingabe« vom 20. Juni 1915, die nicht weniger als 1347 Unterschriften namhafter Hochschullehrer und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens trug. Bei beiden Aktionen wirkte der ADV koordinierend im Hintergrund mit. Der sich gegen den rücksichtslosen Annexionismus nach Westen richtenden und insgesamt etwas gemäßigteren »Gegeneingabe« der liberaleren Berliner Professoren Hans Delbrück und Adolf v. Harnack, die der Politik des Reichskanzlers nahe standen war mit 141 Unterschriften dagegen nur ein spärlicher Erfolg beschieden.334 Die Reichstagssitzung am 9. Dezember 1915 zeigte in aller Offenheit die Verbreitung des Annexionswillens im Deutschen Reich. Die SPD brachte eine Interpellation ein, mit der sie den Reichskanzler zu einer befriedigenden Erklärung in der Kriegszielfrage zu veranlassen suchte. In zwei geheimen Vorbesprechungen der bürgerlichen Fraktionen mit dem Kanzler einigten sich alle Parteien von rechts bis links, einschließlich der FVP auf eine gemeinsame Erklärung.335 Der Vorsitzende des Zentrums Peter Spahn, der die Stellungnahme verlas, beschied die SPD knapp damit, dass ein Friedensvertrag selbstverständlich die »erforderlichen Gebietserwerbungen« zu erbringen habe.336 Für die überwältigende terungdcr deutschen Gebiete«. Entsprechend auch die Argumentation in der Denkschrift Schwerins, BA R43 2442/k, B1.189 (25.3.1915). Vgl. W. Mommsen, Bürgerstolz, 618-30; Wehler, Kaiserreich, 207-11; Stegmann, Erben, 453-455; Guratzsch, Macht, 124f. 332 Vgl. Kapitel II.4.a. 333 Die Verbände waren der Centralverband deutscher Industrieller, der Bund der Industriellen, der Bund der Landwirte, der Deutsche Bauembund, der Reichsdeutsche Mittelstandsverband und die Christlichen Deutschen Bauernvcrcine. Vgl. BA R43 2442/k, Bl. 102-04 (10.3.1915); Claß, Strom, 394f.; F. Fischer, Griff, 199-204; Kruck, Verband, 76f; Peck, Radicals, 170. 334 Vgl. den Text der Professoreneingaben in BA R43 2442/1, Bl.239-46, und in Böhme, Aufrufe, 125-37. Vgl. Schwabe, Wissenschaft, 69-74; ders., Ursprung, 122-38; Moses, Pan-Germanism, 45-60. 335 BA R43 2398/e, Bl.22-30 (29.11.1915); Ebd., Bl. 80-84 (2.12.1915). 336 Sten. Ber. RT, Bd. 306,437 (9.12.1915). Vgl. F. Fischer, Griff, 214f; Huber, Verfassungsgeschichte, 233f

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Mehrheit des Reichstages ging es nicht um das »ob«, sondern nur um die Art und das Ausmaß der durchzuführenden Annexionen. Die Vielzahl der Petitionen unterschiedlicher politischer Richtung und die Breite der Kriegszielmehrheit im Reichstag demonstrierten, dass die Kriegszielbewegung keine auf das konservative Lager beschränkte Gruppe darstellte, auch wenn die radikale Rechte ihren Kern bildete. Die FVP oder die liberaleren Professoren um Delbrück etwa waren keine Antiannexionisten, sondern nur vorsichtiger in der Form und zurückhaltender bei ihren Kriegszielforderungen in Westeuropa. Bis 1916 bestand ein breiter Konsens über die prinzipielle Notwendigkeit von Annexionen, der von der radikalen Rechten inoffiziell selbst bis auf den rechten Flügel der SPD reichte. Die Stoßrichtung für das Kriegszielprogramm der radikalen Rechten stand fest. Es ging darum, »den Osten deutsch zu machen«.337 Ausgehend von der Überzeugung, dass die Industrialisierung - obwohl machtpolitisch erwünscht - und die Landflucht die »Rasse« und die Kampfkraft des Deutschtums zersetzten, propagierte man als Heilmittel das sozialromantische Ideal eines Osteuropa besiedelnden deutschen Bauernvolkes. Die Verklärung der mittelalterlichen Vergangenheit zur deutschen Zukunft verschränkte sich hier mit kalkulierter Großmachtpolitik. Die »Intellektuelleneingabe« etwa verlangte, »Land, das uns gesunde Bauern, diesen Jungbrunnen einer Volks- und Staatskraft, bringt. [...] Land das den Geburtenrückgang wehrt, [...] solches Land für unsere leibliche, sittliche und geistige Gesundheit ist nur im Osten zu finden. [...] Wir wollen mit unseren Forderungen dem deutschen Geiste den gesunden Körper verschaffen. Jene von uns verlangte Erweiterungen des nationalen Körpers wird ihm nicht schaden«.338 Konkreter wurden die »Alldeutschen Blätter«. Die Konkursmasse des Zarenreiches galt als Beute des siegreichen deutschen Soldaten. Schließlich sei klar, »dass der Soldat wieder Beute machen müsse. Jeder Krieg ist ja ein Kampfeines gesunden gegen ein krankhaftes, von der Natur zum Niedergange bestimmtes Volk«.339 Auf diese Weise werde man »Bauern ansetzen, indem wir Millionen und Abermillionen in deutschem, von fremdrassiger Bevölkerung freiem Neuland auskömmliche Arbeits- und Lebensmöglichkeit sichern«.340 Dass dieses ehrgeizige Kolonisierungsprojekt durch eine rücksichtslose Vertreibungspolitik der einheimi337 Claß, Denkschrift, 54. Russland sollte dazu »im wesentlichen in die Grenzen vor Peters des Großen Zeit zurückgeworfen werden«. Ebd., 38. Öffentlich forderten das die ADB, 2.12.1916, 469. 338 BA R43 2442/1, B1.241,245 (20.6.1915). Entsprechend auch der Tonfall in der Denkschrift Schwerins BA R43 2442/k, BI.172 (25.3.1915). 339 ADB, 17.10.1914, 372. Vgl. auch die Forderung nach Siedlungsland durch Graf Westarp, Sten Ber. RT, Bd. 309, 2408 (27.2.1917). 340 ADB, 23.1.1915, 27. Vgl. BA R43 2442/1, Anl. 15 (23.6.1915); ADB, 2.12.1916, 466-69; Claß, Denkschrift, 15f.

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sehen Bevölkerung bewerkstelligt werden sollte, ist bereits eingehend erörtert worden.341 Die Wunschvorstellungen der Nationalliberalen unterschieden sich, was die deutsche Landnahme und Massenbesiedlung im Osten anbelangte, nur graduell von denen der Alldeutschen und der Konservativen. Ihr diffuses Autarkiekonzept machten sie für großdeutsche Siedlungsphantasien empfänglich. Bereits am 26. November 1914 warnte die »Kölnische Zeitung« vor einem »vorzeitige[n] Friedensgerede«, da »kein deutscher Diplomat und kein deutscher Soldat daran denkt, einen faulen Frieden zu machen«.342 Die Warnung vor einem »faulen Frieden« wurde zum Schlagwort der Kriegszielbewegung. Der politische Katholizismus begriff den Krieg von Beginn an als eine Bewährungsprobe, um sich endgültig vom antinationalen Stigma zu befreien. Zeitungen wie Carl Bachems »Kölnische Volkszeitung« ließen sich an nationalistischer Schärfe kaum übertreffen, und selbst die gemäßigtere »Germania« beglückte ihre Leser im Frühling 1917 mit einer mehrteiligen Artikelserie, in der sie von den »Siedlungsaussichten für Katholiken« im einzudeutschenden Osten schwärmte. Eben weil die Katholiken sich als Verteidiger der deutschen Nation bewährt hätten, stünde auch ihnen Siedlungsland zu: »Hier dürfen wir deutsche Katholiken ohne weiteres erwarten, dass deutsche katholische Ansiedler dafür ebenso in Betracht kommen wie protestantische, dass ihre politische Zuverlässigkeit nicht geringer eingeschätzt wird, als die ihrer protestantischen Mitbürger. Die Kriegszeit hat ja selbst für den letzten und hartnäckigsten Zweifler unsere Vaterlandstreue, unsern Opfermut [...] erwiesen«.343 Auch die linksliberale, der FVP nahestehende »Frankfurter Zeitung« stellte klar, dass es »der deutsche Sieg« sei, der den Frieden brächte; und es gehöre »kein Überpatriotismus dazu, ihn zu verlangen« - ebenso wie »Entschädigungen, Machtzuwachs, Landerwerb«.344 Selbst innerhalb der Sozialdemokratie schloss man deutsche Annexionen allenfalls offiziell aus. In den ersten beiden Kriegsjahren bestand eine gewisse Passivität gegenüber den extremen Forderungen der Kriegszielbewegung. Zwar brachte Philipp Scheidemann die Haltung der SPD in der Kriegszielfrage im Reichstag auf die geläufige Formel: »Was französisch ist, soll französisch bleiben, was belgisch ist, soll belgisch bleiben, und was deutsch ist, soll deutsch bleiben«.345 Doch es war für den »Scheidemann-Frie341 Vgl. Kapitel II.4.a. 342 KLZ (2.M) 26.11.1914, 1. Auch die SPD werde sich schließlich der Notwendigkeit im Osten zu annektieren beugen: »Die Führer der Sozialdemokratie mögen reden, locken und zetern so viel sie wollen. Ihre Völker werden ihnen nicht mehr folgen, wenn sie sich um die russischen Speckseiten betrogen sehen«, KLZ (A), 2.1.1918, 1. Vgl. Thieme, Liberalismus, 54-83. 343 GE (A), 20.3.1917, 2. Vgl. GE (A), 16.7.1917, 1f.; Loth, Katholiken, 285-89; Heinen, Zentrumspresse, passim. 344 FZ (A), 4.5.1917, 1. Vgl. die Forderung der BZ, 16.5.1917, 2, nach »politische(r| und wirtschaftliche[r] Weltmachtstellung«. 345 Sten. Ber. RT, Bd. 308, 1707 (11.10.1916).

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den« bezeichnend, dass er den Status quo nur im Westen anerkannte. Im Osten war man keinesfalls prinzipiell Gebietserweiterungen gegenüber abgeneigt,346 und der rechte Parteiflügel erklärte gar, dass Annexionen im Osten im Interesse der Arbeiterbewegung lägen, da die Partei nicht nur mit Hindenburg, sondern auch mit dem historischen Fortschritt gegen das reaktionäre Russland marschiere. Die Reichsleitung jedenfalls wusste bis zur russischen Februarrevolution 1917, wie sie das offizielle antiannexionistische Bekenntnis der SPD zu beurteilen hatte: »Im übrigen steht nach vertraulichen Mitteilungen fest«, schrieb Polizeipräsident v. Jagow an Bethmann über die Haltung der Partei, »dass gegen jede Annexion nur die Unbedingt-Oppositionellen kämpfen. Der rechte Flügel der Fraktion ist Gebietserweiterungen in Flandern und Polen nicht abgeneigt. Er wird keinen offenen Widerstand leisten und mit sich reden lassen«.347 Allein die äußerste Linke erklärte, »keine Kriegsziele« territorialer Art zu haben.348 Die Auswirkungen der Februarrevolution veränderten 1917 die politische Situation und mit ihr auch die Kriegszieldebatte grundlegend. Die von den russischen Arbeiter- und Soldatenräten ausgegebene Formel vom baldigen Frieden »ohne Annexionen und Kontributionen« fiel auch im Kaiserreich unter der kriegsmüden Bevölkerung auf fruchtbaren Boden. Die SPD, von links durch die Gründung der USPD weiter unter Druck geraten, vollzog daraufhin eine Kurskorrektur hin zu einem eindeutig antiannexionistischen Friedensziel und erhob am 19. April die russische Parole zum Parteiprogramm. Nicht nur das: Das Ende des verhassten Zarenreiches führte innerhalb der Partei zu einer weitgehenden Umwertung Russlands und der sozialdemokratischen Ostpolitik. Das wilhelminische Herrschaftssystem wirkte nun alles andere als zukunftsweisend im Vergleich mit den Errungenschaften der revolutionären russischen Arbeiterklasse. Annexionen auf Kosten Russlands kamen fortab wieder einem Verrat an der internationalen Klassensolidarität nahe. Der Kampf um die Kriegsziele war damit auch für die Arbeiterbewegung in Deutschland das geworden, was er für die Rechte bereits von Beginn des Krieges an gewesen war: eine Frage der Weltanschauung. Diese Neubewertung der Kriegszielfrage brachte ein neues Konfliktmoment in die deutsche Innenpolitik, auch weil die bürgerliche Kriegszielmehrheit sich auflöste. Der Kampf um die Grenzen des deutschen Nationalstaates war stets auch ein Kampf um die innere Ausgestaltung der deutschen Nation. Die Kriegszieldebatte entwickelte sich zu einer 346 Der VO, 27.2.1918, 1, bedauerte zwar die harten Bedingungen des deutsch-russischen Friedens, meinte aber, es sei »nicht die einzige Aufgabe der deutschen Arbeiterschaft im Kriege [...] Annexionen zu verhindern, die von deutscher Seite verübt wurden«. Sie habe auch die Aufgabe »Annexionen auf Kosten Deutschlands zu verhindern«. 347 BA R43 1395/j, B1.153 (18.8.1915); Vgl. Miller, Burgfrieden, 192-233; Sigel, Gruppe, 144-47. 348 NZ 35 (1917), 277.

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fundamentalen innenpolitischen Machtprobe der politischen Lager, in der es immer weniger um die Abrechnung mit dem äußeren Feind ging.349 Im konservativen Lager bestand die Überzeugung, dass die Politik der Reichsleitung nicht mit den militärischen Erfolgen mithalte. Ihrem viel zitierten Topos zufolge drohte »abermals die Feder der Diplomaten [zu] verderben, was das Schwert siegreich gewonnen«.350 Jeder Friede müsse der gewaltigen Zahl der Opfer Rechnung tragen, das verlange das deutsche Volk. »In diesem Kriege, in welchem das deutsche Volk übermenschliche Opfer an Gut und Blut bringt, in diesem Krieg hat das Volk ein Recht erworben durch sein Gut und durch sein Blut mitzusprechen über die Friedensbedingungen. [...] Wie hinter dem Kriege, als tragende Macht, der Volkswille steht [...], so müssen auch hinter dem Frieden [...] Volkswille und Volks kraft stehen«.351 Die Propagierung von expansiven Kriegszielen entsprach für die Rechte dem Willen des Volkes und stellte daher ein integrierendes Element in der deutschen Politik dar. Schließlich werde die Bevölkerung nur dann die Belastungen des Krieges dauerhaft ertragen, wenn man ihr als Lohn greifbare Annexionsziele vor Augen halte.352 Für die Sozialdemokratie und für eine wachsende Mehrheit im liberalen und im katholischen Lager bedeuteten Annexionen aber zunehmend ein desintegrierendes Moment in der deutschen Innenpolitik. Und das aus dem gleichen Grund: der »Wille des Volkes« verlange einen sofortigen Frieden - und zwar der Wille des »wirklichen Volkes«.353 Die Vieldeutigkeit dieser Glaubens- und Legitimationsformel erwies sich erneut im Zuge der einsetzenden heftigen innenpolitischen Kämpfe. Am 15. Mai brachten sowohl die konservative als auch die sozialdemokratische Fraktion Kriegszielinterpellationen in den Reichstag ein, um den Reichskanzler - aus jeweils entgegengesetzter Perspektive - zu einer Stellungnahme zu den russischen Friedensbedingungen aufzufordern. Auf dem Höhepunkt der Debatte rief Scheidemann seinen empörten Gegnern zu: »Würde die deutsche Regierung, statt durch den gleichen Verzicht den Krieg zu beenden, ihn um Eroberungsziele fortsetzen wollen, dann, meine Herren [...] haben Sie die Revoluti349 »Ein Teil der linkslibcralen und sozialdemokratischen Presse behandelt die revolutionären Vorgänge in Russland in Zusammenhang mit deutschen innerpolitischen Zuständen und wiederholt dabei immer dringlicher die bekannten politischen Forderungen. Die [...] Linksparteien suchen die russische Revolution für ihre Zwecke auszubeuten und steigern dadurch die politische Begehrlichkeit«, schrieb der preußische Kriegsminister Hermann v. Stein dem Kanzler, BA R43 2439, BI.87 (26.3.1917). Vgl. Ludcndorff, Kriegserinncrungcn, 355; F. Fischer, Griff, 426-430; A. Mayer, Origins, 108-11; W. Mommsen, Bürgerstolz, 748f.; Huber, Verfassungsgeschichte, 256f. 350 BA R43 2442/1, B1.239 (20.6.1915). 351 So eine Aufforderung der Wirtschaftsverbände zur Freigabe der Kriegszieldiskussion, BA R43 2442/k, Bl.322f, 326. (23.4.1915) (Herv. i. Orig.). Vgl. NPZ (A), 28.2.1917, 1; RWZ (MI), 15.5.1917, 1, und die Übernahme dieser Argumentation durch die Behörden BA R1501 112328, BI.278 (26.11.1916). 352 Vgl. GrafWesurp, Sten. Ber. RT, Bd. 309, 2406f; Schwabe, Wissenschaft, 125-30. 353 BZ. 16.5.1917, 2; BT, 8.10.1917, 1.

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on im Lande«.154 Diese verkappte Revolutionsdrohung resultierte aus dem wachsenden Machtbewusstsein der SPD und der Linksparteien, welche die Unruhe innerhalb der Arbeiterbewegung auf ihre Ziele hin zu lenken trachteten. Mit dem Verweis auf eine mögliche Revolution imitierte Scheidemann letztlich den Stil der radikalen Rechten. Diese hatte schon lange vor revolutionären Entladungen gewarnt, da die Enttäuschung über das Ausbleiben eines hinreichenden Siegespreises den inneren Frieden in Frage stellen werde. Dahinter verbarg sich nichts anderes als die Drohung mit einem Staatsstreich von rechts.355 Mit anderen Worten: Die radikale Rechte und - mit gewissen Einschränkungen - auch weite Teile der Arbeiterbewegung visierten mit Hilfe der Kriegszieldebatte eine grundlegende Umgestaltung der politischen Struktur des Kaiserreiches an. Beide Lager legitimierten ihren Vorstoß mit dem »Willen des deutschen Volkes«, für den sie jeweils eine Art von Alleinvertretungsanspruch forderten. Das verdeutlichte das fortgesetzte Reden über das »wahre« Volk. Dieser Exklusivanspruch auf die deutsche Nation legitimierte aber nicht nur die eigenen Vorstellungen, sondern machte es wahrscheinlich - da der »Wille der Nation« nur als ein einheitlicher zu denken war -, die Position des innenpolitischen Gegners als antinational wahrzunehmen und diesen aus der Nation auszugrenzen. Bereits die Behauptung nationaler Einheit polarisierte. In der besagten Reichstagsdebatte konterte Eduard David die reflexartig einsetzenden Beschimpfungen der SPD als antinational mit den Worten: »Meine Herren, wenn sie dann in Ihrer Presse jetzt wieder tagtäglich mit dem alten Unterschiede zwischen den nationalen Teilen des Volkes und den vaterlandslosen Teilen kommen, wenn Sie für sich jetzt wieder in Ihrer Presse erklären, dass nur Sie national fühlen und dass Sie andere Millionen, die nicht nach ihrer annexionistischen Pfeife tanzen und ihre reaktionäre innere Politik billigen, als nicht national bezeichnen, so ist das eine so bodenlose Unverschämtheit mitten in diesem Weltkriege, wo unsere Feldgrauen draußen tagtäglich ihr Leben für das Wohl unseres Landes einsetzen«.356 Tatsächlich verhalte es sich eher umgekehrt: Die Frage der Kriegsziele habe erwiesen, wer die wahren Sachwalter der Inte354 Sten. Ber. RT, Bd. 310, 3395 (15.5.1917). Vgl. die Argumentation der FVP, BT (M), 7.10.1917,3. 355 Freiherr v. Gebsattel, stellvertretender Vorsitzender des ADV, drohte in einem Schreiben an den Reichskanzler Anfang Mai 1915 unverhohlen mit der Möglichkeit einer Revolution bei Nichterfüllung der Forderungen der Kriegsziclbewegung: »Mein Gewissen gebietet mir, vor solch einem Verzicht zu warnen - es wäre der verhängnisvollste politische Fehler, der gemacht werden könnte, und seine nächste politische Folge wäre die Revolution. [...] Es wird keinen Halt geben und das nach solchen Leistungen enttäuschte Volk wird sich erheben. Die Monarchie wird gefährdet, ja gestürzt werden; damit wird das Schicksal unseres Volkes besiegelt sein«, zit. n. Claß, Strom, 406 (Herv. i. Orig.). Vgl. F. Fischer, Griff, 428-30; Schwabe, Haltung, 616f; ders., Ursprung, 124f; Peters, Verband, 188. 356 Sten. Ber. RT, Bd. 310, 3414 (15.5.1917). Vgl. David, Kriegstagebuch, 227.

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ressen der deutschen Nation seien. »Ein nationaler Frieden, ein Frieden, der unsere nationalen Interessen wirklich sichert und dauernd die freiheitliche und kulturelle und politische Entwicklung unseres Volkes gewährleistet, ist nur auf dem Wege zu erreichen, auf den wir hinweisen«. Deshalb »sagen wir, dass ihre Politik eine antinationale, eine gemeinschädliche Politik im schlimmsten Sinne des Wortes ist. [...] Ihre Politik ist es, die die Einigkeit des deutschen Volkes gefährdet«.357 Auch der Nationalismus der Sozialdemokraten begünstigte ein alternativloses Denken in Kategorien des »entweder-oder«. Selbstredend war man im konservativen Lager nicht bereit, einen Führungsanspruch der SPD ausgerechnet in »nationalen Fragen« hinzunehmen und suchte eifrig die Vorstellung der »vaterlandslosen« SPD wiederzubeleben und die Grenze zum Kriegsgegner zu verwischen. »Die deutsche Sozialdemokratie«, schäumte die rechts-konservative »Rheinisch-Westfälische Zeitung«, gebe »sich seit Monaten den Anschein, als regierte sie das deutsche Reich«. Doch handele es sich bei ihrer Formel vom annexionslosen Frieden um »staatsgefährliche Propaganda«, weil die Linke »den Feinden, die uns zu vernichten drohen, die Hand zum Gruße reicht«.358 Die Kooperation der SPD, der FVP und des Zentrums in den miteinander verbundenen Grundfragen der Kriegsziele und der inneren Reformen wurde durch die Friedensresolution des Reichstages am 19. Juli 1917 sinnfällig und veränderte die Blockbildung im Deutschen Kaiserreich. Die sich nun dramatisch polarisierende innere Auseinandersetzung kennzeichnete der erzwungene Rücktritt Bethmann Hollwegs und die Gründung der »Deutschen Vaterlandspartei« [DVLP] am 2. September.359 Gegen die ideologische und institutionelle Herausforderung durch die Linksparteien, die aus ihrer Sicht eine Art Wiederauflage des Burgfriedens - diesmal aber ohne die Rechte - in Angriff nahmen, suchte das konservative Lager einigermaßen mühsam seinen Anspruch zu verteidigen, dennoch das deutsche Volk zu repräsentieren. Die Gründung der DVLP sollte der Öffentlichkeit suggerieren, dass das deutsche Volk ohne Unterschied der Parteirichtung nur einen siegreichen Frieden schließen werde. Zugleich beanspruchte die Neugründung, in bester konservativer Tradition über den Parteien zu stehen und alle inneren Streitfragen für die Dauer des Krieges ruhen zu lassen.360 Diese Ideologie der nationalistischen Überparteilichkeit, die nur handfeste Interessenpolitik zu legitimieren suchte, rief den entschiedenen Protest von Sozialdemokraten und Liberalen hervor. 357 Ebd.,3413,3414.Vgl.VO, 15.5.1917, 1f.;FZ(A), 19.7.1917, 1;A.Mayer, Origins, 118-21. 358 RWZ (MI), 15.5.1917, 1. Entsprechend ADB, 5.5.1917, 2()lf. 359 Vgl. F. Fischer, Griff, 518-29; G. Ritter, Staatskunst III, 536-87; Miller, Burgfriede, 31220; Hagenlücke, Vaterlandspartci, 143-64. 360 Die Partei habe, so der Abgeordnete Albrecht v. Graefe, Sten. Ber. RT, Bd. 310, 3788 (6.10.1917), »ausdrücklich nur das eine Ziel [...], alle Deutschen zu sammeln allein für die Verteidigung des Vaterlandes!« Vgl. Hagenlücke, Vaterlandspartci, 216-28; Guratzsch, Macht, 351.

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Bereits der konservative Anspruch, das deutsche Volk zu repräsentieren, stellte für sie einen Skandal dar: Es sei unerträglich, wenn sich »eine Partei in Deutschland an[maßt], [...] dass bei ihr allein die Interessen des Vaterlandes in sicherer Hut sind«.361 Hans Delbrück kritisierte den Widerspruch, der zwischen beanspruchter Überparteilichkeit und tatsächlicher Kriegszielagitation lag, und erkannte scharf, welchen innenpolitischen Sprengstoff ein Alleinvertretungsanspruch auf die deutsche Nation barg: »Man erklärt Einheit und Frieden im Volke anzustreben, gleichzeitig aber sät man Zwietracht, indem man anders denkende beschuldigt, weniger vaterländisch gesinnt zu sein, was sich dann in der gesinnungsmäßigen Presse zu ›Verbrechern‹ und ›Landesverrätern‹ steigert«.362 Und die SPD nutzte ihren Würzburger Parteitag im Oktober 1917 zu einer Generalabrechnung, indem sie klarstellte, wer aus ihrer Sicht das deutsche Volk bedrohe: »Die sogenannte Vaterlandspartei behauptet eine Volksbewegung zu sein. (Lachen.) [...] Eine wirkliche Volksbewegung kann man nur darin erkennen, gegen wen sie sich richtet. Diese Tirpitz-Kappsche Volksbewegung richtet sich gegen das Volk selbst«.363 Die Kriegszieldebatte trat mit der Auseinandersetzung über das »Selbstbestimmungsrecht der Völker« und die Friedensverhandlungen von BrestLitovsk an der Jahreswende 1917/18 in die letzte Phase ein. Die Berufung auf das »Selbstbestimmungsrecht der Völker« setzte das Kaiserreich gleichzeitig einer außen- und einer innenpolitischen Herausforderung aus. Bereits bei Kriegsausbruch hatte Premierminister Asquith das Recht der »kleinen Nationen« auf ihre Freiheit proklamiert. Damit war zunächst nur die Souveränität der bestehenden Nationalstaaten gemeint. Bethmann Hollweg hatte diese Vorstöße stets mit dem ironischen Verweis auf die fehlenden Freiheitsrechte der unterworfenen Völker des britischen Empires zurückgewiesen.364 Infolge der beiden russischen Revolutionen aber ging von der Vorstellung, dass jede Nationalität unabhängig von bestehenden staatlichen Bindungen das Recht habe, über ihre eigenen Geschicke zu entscheiden, eine ungeheure Dynamik aus. Gerade nach den entsetzlichen Opfern der gesamten Bevölkerung aller kriegführenden Staaten war diese neue Legitimationsfiktion allen älteren Ordnungsmodellen weit überlegen. Mit Hilfe des Selbstbestimmungsrechts - und seit dem Ersten Weltkrieg nur noch mit Hilfe des Selbstbestimmungsrechts ließen sich neue zwischenstaatliche Grenzen legitimieren. Diese Formel er361 Sten. Ber. RT, Bd. 310,3714 (6.10.1917). 362 PJB 170 (1917), 154. Vgl. A. Mayer, Origins, 377 363 Protokoll, 325. Vgl. VO, 28.12.1917, 1. 364 »Der englische Kolonialminister will, dass in Durchführung des Nationalitätenprinzips Elsaß an Frankreich fällt, Polen aber der Nationalität zurückerstattet werde, der es zugehört. [...] Es wird auch ganz interessant sein, von England einmal zu hören, was nach dem Nationalitätenprinzip zum Beispiel aus Indien und Ägypten werden soll«, Sten. Ber. RT, Bd. 306, 435 (9.12.1915). Vgl. MNN (A), 2.2.1918, 1.

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laubte es zum ersten Mal, Kriegsziele zu fordern, die durch ihr universales Prinzip tendenziell in den Öffentlichkeiten aller kriegführenden Staaten mehrheitsfähig waren. Gezielt instrumentalisierten Lloyd George und der amerikanische Präsident Woodrow Wilson ganz so wie Lenin im Januar 1918 das Selbstbestimmungsrecht, um einen ideologischen Angriff auf die Mittelmächte zu unternehmen, und erzielten einen großen Erfolg, weil ihr Vorstoß mit dem der Linksparteien in Deutschland zusammenfiel.365 Die Bedeutung dieses Prinzips für die deutsche Innenpolitik bestand darin, dass die SPD entsprechend den Grundsätzen der Internationale - nun jede Annexion mit dem Verweis auf das »Selbstbestimmungsrecht der Völker« ablehnte366 und damit die Regierung und die Annexionisten im Zuge der Auswirkungen der russischen Revolutionen unter massiven öffentlichen Legitimationsdruck setzte. Allerdings hielt die Parteimehrheit an der strikten territorialen Integrität des Reiches fest und war - im Gegensatz zur USPD - nicht bereit, das Prinzip uneingeschränkt etwa auf Elsass-Lothringen anzuwenden.367 Zudem zweifelten Kritiker des rechten Parteiflügels, ob sich das Selbstbestimmungsrecht konsequent umsetzen lasse. Die Vorzüge des Prinzips seien überaus fraglich, »zumal im Osten, wo die kleinen Nationen ineinandergeschachtelt leben, ist eine befriedigende Lösung des Nationalitätenproblems durch den Separatismus überhaupt nicht zu erzielen«.368 Entscheidend aber war, dass die neue Formel die unterschiedlichsten Vorstellungen, Interessen, Wünsche und Befürchtungen bündelte und gleichzeitig artikulierte. Für die Linksparteien konstituierte erst das demokratische Selbstbestimmungsrecht die auf dem freiheitlichen Willen mündiger Individuen beruhende Nation. Damit erhob man das Prinzip zum Garanten für die Freiheit Deutschlands und der ganzen Welt.369 Die Konservativen lehnten es genau deshalb ab, da es ihrer ständisch-monarchischen Staatsauffassung diametral zuwiderlief. Dieser innovativen Legitimationsformel gegenüber erwiesen sich zunächst nicht nur die Konservativen als reichlich hilflos, hatten sie doch keine weltbeglückende Mission, sondern nur reine Machtpolitik anzubieten.37“ Die Kriegszielbewegung sah deshalb »in Gestalt dieses Schlagworts eine neue 365 »Unter den vielen Schlagworten, unter deren Wucht unsere Gegner uns geistig zu begraben suchen«, befand Alfred Weber, PJB 171 (1918), 60, »spielt das Selbstbcstimmungsrccht der Völker [...] vielleicht die (...) wesentliche Rolle«. Vgl. Kapitel II.4.b, sowie A. Mayer, Origins, 313— 93; Sharp, Genie, passim; Soutou, Kriegsziele, 43-45. 366 Sten. Ber. RT, Bd. 306, 431 (9.12.1915). Vgl. Ebd., 21 (2.12.1914); Miller, Burgfriede, 194f. 367 Vgl. Sten. Ber. RT, Bd. 310,3591 (19.7.1917); NZ35 (1917), 145-53; Matthias, Sozialdemokratie, 18f; Miller, Burgfriede, 234f. 368 SM 24 (1918), 157. Vgl. Sigel, Gruppe, 143f. 369 Vgl. Sten. Ber. RT, Bd. 310, 3404ff. (15.5.1917); BT (M), 3.2.1918, 1. 370 »Keiner [Formel] gegenüber sind wir hilfloser gewesen, vor keiner haben wir uns so gefürchtet«, PJB 171 (1918), 60. Vgl. Westarp, Politik, 576f; NPZ (M), 24.3.1918, 2, u. bereits KLZ (MI), 6.4.1916, 1.

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Gefahr über unserem Vaterlande heraufziehen«.171 Schließlich versuchten Deutschlands Feinde, mit Hilfe des Selbstbestimmungsrechts die notwendige deutsche Landnahme im Osten zu verhindern.372 Vor allem aber: Die Übernahme der alliierten Propagandaformel durch die Linksparteien verwischte für die Rechte erneut den Unterschied zwischen äußeren und inneren Reichsfeinden. Die deutsch-russischen Verhandlungen über einen Friedensvertrag in BrestLitowsk erwiesen um die Jahreswende 1917/18, dass sich mit Hilfe des Selbstbestimmungsrechtes ganz entgegengesetzte politische Ziele verfolgen ließen. Die russische Delegation suchte - die Weltrevolution fest im Blick - auf der Grundlage dieses Prinzips, Deutschland weiter unter Druck zu setzen und verlangte das Selbstbestimmungsrecht für alle Nationalitäten sowie die sofortige Räumung der besetzten Gebiete. Dem deutschen Verhandlungsleiter, Staatssekretär Richard v. Kühlmann, gelang es aber in geschickter Anpassung an das sich wandelnde politische Klima, die Formel zur Hauptwaffe des deutschen Annexionismus im Osten umzuschmieden.373 Um durch die taktische Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht vor allem Polen, die Ukraine und die baltischen Länder dem deutschen Machtbereich hinzuzufügen, hatte sich die Reichsleitung rechtzeitig »frisierte« (so Bethmanns Anweisung vom 7. Mai 1917) Erklärungen deutschfreundlicher Vertretungskörperschaften von Kurland und Litauen besorgt.374 Die Bolschewiki weigerten sich, diese Farce anzuerkennen und bestanden weiterhin auf einer freien Volksabstimmung nach der Räumung der besetzten Gebiete. Doch für die Mittelmächte kam ein Frieden auf der Basis des Status quo ante selbstredend nicht in Frage. »Blech! Gibt es nicht! Unannehmbar! Wir sind die Sieger, und wir werden den Teilen befehlen«, lauteten dazu die Bemerkungen des wütenden deutschen Kaisers.375 Nach der Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen am 8. Januar 1918 lieferten sich Kühlmann und Trotzkij wochenlang Rededuelle über die Interpretation des Selbstbestimmungsrechts. Beide Parteien suchten ihre Position, da die Verhandlungen auf Druck der Bolschewiki öffentlich geführt wurden, vor dem Urteil der Weltöffentlichkeit zu legitimieren. Für die linkssozialdemokratische »Leipziger Volkszeitung« stand fest, dass »in der [...] Auslegung des Begriffs Selbstbestimmungsrecht der Völker Herr von Kühlmann [...] mit 371 ADB, 15.12.1917, 493-95. Vgl. auch KV (A), 10.7.1917, 1. 372 Vgl. GStPK Rep. 77. Tit. 1884. Nr. 1, Bl. 282 (3.10.1917); BA R43 2447/a, B1.197f. (4.1.1918) 373 Bereits am 31. März 1917 hatte sich General Max Hoffmann Gedanken über eine zeitgemäße Legitimationsgrundlage der deutschen Eroberungspolitik gemacht: »Es wäre eine Formel denkbar, nach der Deutschland auf Annexionen verzichtet, Russland aber in Anerkennung des Grundsatzes von der Freiheit der kleinen Nationen die jetzt von uns besetzten Länder aus seinem Staatsverband entläßt, damit Deutschland ihre künftige politische Gestaltung regelt«, zit. n. F. Fischer, Griff 603. 374 Vgl. F. Fischer, Griff, 602-13; G. Ritter, Staatskunst IV, 90-109; Mai, Kaiserreich, 132-36. 375 Zit. n. Hahlweg, Diktatfrieden, 36.

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der obersten Heeresleitung vollkommen einig ist. Für sie ist die Entscheidung über das Geschick der besetzten Gebiete bereits gefallen [...] Diese Auslegung des Begriffs Selbstbcstimmungsrecht der Völker hat mit Demokratie nichts zu tun. Sie ist lediglich die Benutzung dieses Begriffs zum Zwecke der Herbeiführung verhüllter Annexionen«.376 Nach dem Abbruch der ergebnislosen Verhandlungen durch Trotzkij am 10. Februar nahm die deutsche Seite am 18. Februar ihren Vormarsch in Russland wieder auf. Um die Herrschaft der Bolschewiki durch einen verzweifelten Schritt zu retten, setzte Lenin gegen Trotzkij durch, den Friedensvertrag am 3. März 1918 zu unterzeichnen.177 Russland verlor durch den Diktatfrieden von Brest-Litowsk Polen, Finnland, das Baltikum und vor allem die Ukraine und sah sich damit auf das vorpetrinische Kernland zurückgeworfen. Alle Gebiete fielen in mehr oder weniger direkter Form in den Herrschaftsbereich des Deutschen Kaiserreiches. Außenpolitisch führte die Maßlosigkeit des Diktatfriedens von Brest-Litowsk zu einer Verhärtung der Position der Alliierten378 und kündigte langfristig eine dunkle deutsche Zukunft für den Osten Europas an. Zwar stand die nachmalige nationalsozialistische Terrorherrschaft in keinem direkten Verhältnis zu der wilhelminischen Expansionspolitik. Doch hatte sich der Krieg als Mittel großdeutscher »Landnahme« auf Kosten einer »minderwertigen« slawischen Bevölkerung offenbar bewährt. Hitlers Generation hatte die ungeheure gewaltsame Ostexpansion miterlebt. Für kurze Zeit war ein alldeutsches Großreich bereits im Ersten Weltkrieg Wirklichkeit und konnte fortab bis in den Zweiten Weltkrieg einen verführerischen Bezugspunkt zur Umsetzung deutscher Weltmacht bilden.379 Innenpolitisch ahnten nur wenige Kritiker, dass die neue deutsche Ordnung »den Keim zu endlosem Hader im Osten in sich trage«.380 Selbst dem Zentrum und der FVP genügte die Sclbstbestimmungsklauscl des Vertrags, um dem Frieden zuzustimmen. Außerdem brauche man, so das linksliberale »Berliner Tageblatt«, »die Forderung der Demokratie nicht restlos auf Länder anzuwenden, in denen infolge der zaristischen Barbarei ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung aus Analphabeten besteht«.381 Die SPD protestierte zwar gegen den »Gewaltfrieden«, enthielt sich aber bei der Ratifizierung des Vertrages am 22. März der Stimme, mit der Begründung, dass so immerhin der Friede im 376 LV, 18.1.1918, 1. 377 Vgl. zum I Icrgang der Verhandlungen im einzelnen Steglich, Friedenspolitik, 300-406; F. Fischer, Griff, 627-68; A. Mayer, Origins, 267-312; Baumgart, Ostpolitik, 13-28; Milatz, Friede, passim. 378 So hellsichtig bereits Eduard David, Sten. Ber. RT, Bd. 311, 4432 (18.3.1918). 379 Vgl. v.a. Liulcvicius, War, passim, sowie Iiillgrubcr, Ort, 239; Hildebrand, Reich, 372; Wehler, Kaiserreich, 209f. 380 BT (A), 28.2.1918, 1. 381 BT (M), 17.3.1918, 2. Vgl. GE (M), 16.3.1918, 5; Stcn. Ber. RT, Bd. 311, 4217 (27.2.1918), 4430 (18.3.1918) sowie F. Fischer, Griff, 668-71; Meinen, Zentrumspressc, 172-93.

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Osten gesichert würde.382 Im konservativen Lager und namentlich in der radikalen Rechten kostete man den vollständigen Sieg aus: »Also voller Sieg im Osten vom Weißmecr bis zum Schwarzmeer! Das darf doch wirklich unsere Herzen hoch schlagen lassen«.183 Die DVLP brannte darauf, das lange projektierte deutsche Kolonisierungswerk nun in Angriff nehmen zu können und hoffte nach dem »Siegfrieden« verstärkt auf eine »nationale« Umgestaltung der inneren Verhältnisse. Doch traf diese Umgestaltung schneller und anders als geplant ein. Infolge der Kriegszicldebatte war - wie Bethmann Hollweg zu Recht befürchtet hatte - der ohnehin fragile Burgfrieden restlos aufgekündigt worden. Die Kriegszielbewegung strebte außenpolitisch eine Art von dauerhaftem Kriegszustand an, der auf die Innenpolitik des Deutschen Reiches zurückwirkte. Denn die Kriegszieldebatte entwickelte sich zu einer Machtprobe, in der mit Hilfe nationalistischer Legitimationsformeln handfeste Innenpolitik betrieben wurde. Diese durch die Nationalismen verstärkte negative Dialektik von Außen- und Innenpolitik beklagte die halboffizielle »Norddeutsche Allgemeine«: Im Rahmen des Kriegszielstreits bestehe die Tendenz, »allzu sehr die inneren Fragen auf Kosten der viel nötigeren außenpolitischen Erstarkung vorzuschieben und damit selbst unbewusst den einheitlichen nach außen gerichteten Volkswillen zu zersplittern«.384 Gleichzeitig verschärften sich die bestehenden Interessengegensätze durch die Berufung auf das jeweils exklusiv beanspruchte deutsche Volk. Durch die Anwendung dieser Denkfigur und Machttechnik fiel es leicht, den inneren Gegner einer Verratssemantik auszusetzen. Mit seltener Deutlichkeit erkannte die Presseabteilung beim Oberkommando in den Marken, dass das Resultat nationalistischen Redens oft nicht die beanspruchten Ergebnisse erbrachte und von niemandem hinreichend gesteuert werden konnte: »Je länger der jetzige Zustand sich ungehindert weiter entwickelt, um so tiefer wird die Kluft zwischen ganzen Bevölkerungsteilen, um so mehr wachsen Parteihader und Zwietracht. [...] Die an sich so wertvollen und aussichtsreichen Versuche, jetzt zum Endkampf hin die allgemeine Volksstimmung noch einmal empor zu reißen [...] müssen misslingen, solange große und ganz besonders tief national empfindende Teile der Bevölkerung sich immer wieder dazu verleiten lassen, ihren Ingrimm und ihre Kampfentschlossenheit statt gegen die Feinde in erster Linie gegen oder für die eigene Regierung einzusetzen. [...] So notwendig es daher ist, dass im gegenwärtigen Zeitpunkt [...] der nationale furor teutonicus als Gegengewicht gegen die internationalen Bestrebungen [...] der Linken entfacht wird, um so mehr muss bald Vorsorge getroffen werden, dass dieser gleiche furor teutonicus statt gegen die 382 Sten. Bcr. KT, Bd. 311, 4431 (18.3.1918). Vgl. VO, 27.2.1918, 1, 23.3.1918, l f. 383 ADB, 16.3.1918, 86. Vgl. Sten. Ber. RT, Bd. 311, 4486f. (19.3.1918). 384 NA (M), 30.1.1918, 1.

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inneren und äußeren Feinde des Reichs sich letzten Endes dauernd gegen die eigene Regierung und ihre Anhänger richtet«.385 b) »A Fight for Small Nations?« Die Auseinandersetzung um die Kriegsziele und das Selbstbestimmungsrccht in Großbritannien Deutschlands Überfall auf das neutrale Belgien hatte die britische Regierung in eine moralisch privilegierte Position versetzt. Statt wie noch im Burenkriegvor der Weltöffentlichkeit als Aggressor dazustehen, ließ sich die britische Kriegserklärung 1914 mit der Verteidigung des hilflosen Belgiens - und der »small nations« im allgemeinen - rechtfertigen. Deutschlands Gewaltakt erforderte Großbritanniens moralisch gebotene Intervention in Europa zur Verteidigung des Völkerrechts und der Freiheit. In seinen großen Kriegszielreden von September bis November 1914 sprach Asquith jeder »small nation« das Recht auf Unversehrtheit und Freiheit zu.386 Der bald zum geflügelten Wort avancierende Begriff »small nations« bedeutete im damaligen Sprachgebrauch sowohl Nationalstaat als auch Nationalität. Der britische Premierminister jedenfalls bezeichnete damit die etablierten Nationalstaaten in Europa wie etwa Belgien. Keinesfalls war ursprünglich an ein Selbstbestimmungsrecht für die nach Unabhängigkeit strebenden Nationalitäten gedacht - nicht zuletzt, weil dieses die bestehende Ordnung notwendig revolutionierende Konzept eine elementare Bedrohung für die britische Herrschaft in Irland oder Indien dargestellt hätte.387 Von der Berufung auf das Recht der »small nations« sollte aber im Zuge der russischen Revolution und des amerikanischen Kriegseintritts noch eine anfangs nicht intendierte Dynamik ausgehen. Das vornehmste Kriegsziel der britischen Regierung lag in der Verteidigung des Status quo. Im größten Weltreich aller Zeiten, mochte es seinen Zenit auch überschritten haben, ging die Sonne auch 1914 noch nicht unter. Genau das sollte die britische Intervention gegen deutsche Ansprüche auf einen Platz an der Sonne garantieren. Den Verantwortlichen in Westminster war klar, dass zur Erhaltung der für den Fortbestand des Britischen Empires notwendigen »balance of power« in Europa das Kaiserreich als aggressiver Machtfaktor in seine Schranken verwiesen werden musste. Das zentrale Ziel war und blieb die Schwächung Deutschlands. Den Erwerb weiterer Gebiete strebte man allenfalls am Rande an. So blieb die Befreiung Belgiens im besonderen und die der vieldeutigen »small nations« im allgemeinen bis 1917 das einzige positive

385 BA R43 2439/a, Β1.13f., 16. (9.5.1917). 386 Vgl. etwa TI , 26.9.1914, 9f; sowie Lloyd Georges Qucenshallrede Tl, 21.9.1914, 12. 387 Vgl. Calder, Britain, 14-17, 214f.; Sharp, Genie, 16; Hillcbrandt, Typen, 57.

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Kriegsziel Englands.388 Die Regierung sorgte sich zu Recht, dass eine genauere Bestimmung ihrer Kriegszielc über den kleinsten gemeinsamen Nenner hinaus den mühsam auf der Basis des moralisch gebotenen Verteidigungskrieges erreichten gesellschaftlichen Konsens gefährden werde. Außerdem drohte eine Festlegung in der Kriegszielfrage, langwierige Auseinandersetzungen mit Frankreich und Russland nach sich zu ziehen, da das Bündnis eigentlich nur durch den gemeinsamen deutschen Feind zusammengehalten wurde.389 Weil die Regierung und die politischen Parteien bis 1917 hinsichtlich des defensiven Charakters des Konfliktes weithin übereinstimmten und es gelang, die britische Kriegführung als notwendig für die traditionellen Interessen des Empires und gleichzeitig als humanitäre Mission darzustellen, unterblieben ausgedehnte Kriegszieldebatten. Britanniens fest umrissene Grenzen und sein bereits vorhandenes Weltreich boten einem auf Expansion und Kompensation zielenden Nationalismus wenig Nahrung. »From the standpoint of national interests«, betonte ein Memorandum konservativer Kabinettsmitglieder im April 1917, »the British Empire, if it has less to gain than some, has, in the long run, more to lose than any«.390 Im grundsätzlichen Unterschied zum Deutschen Kaiserreich erachtete die überwiegende Mehrheit der politischen Akteure Annexionen für die Sicherheit Großbritanniens nicht nur als irrelevant, sondern als kontraproduktiv.391 Obwohl daher in Großbritannien keine umfassende Kriegszielbewegung entstand, suchte doch die radikale Rechte eine grundlegende Umorientierung der britischen Kriegszielpolitik zu erreichen und forderte die Zerschlagung des Deutschen Reiches. »The true expression of the spirit of the nation, as we understand it, is: Victory in the war - and after«.392 Nur ein vollständiger Sieg Großbritanniens entspreche - so die hier herrschende Auffassung - der ungeheuren Anzahl der Opfer und der Rolle der britischen Weltmacht. Die selbsternannten Vorreiter britischer Interessen - die gerne, wenn von der »Nation« die Rede war, sakralisierte Analogien bemühten - erachteten Konzessionen an Deutschland als »an act of national apostasy, which [...] we should regard as

388 »The complete rcstauration of Belgian independence [...] is a matter closely affecting the security of the British Isles. [...] The settlement of the Alsace-Lorraine, Polish, and AustroI lungarian questions [... | concerns our Allies more than ourselves«, PRO CAB 21/77/45 (28.4.1917). Vgl. PRO CAB 17/160 (7.8.1916). 389 Noch im Mai 1918 warnte der liberale Abgeordnete C A . McCurdy im HOC V/ Bd. 106, 601 (16.5.1918): »We do not want to discuss our aims in terms of territory. (...) It is unstatcsmanlike to [...] reiterate a multiplicity of territorial issues, which inevitably divide«. Vgl. v.a. Rothwcll, War, 18-21, 282f.; sowie Fest, War, 286f, 302; Gebele, Probleme, 5f. 390 PRO CAB 21/77/45 (28.4.1917). Federführend waren die pazifistischer Neigungen völlig unverdächtigen Lord George Curzon, Robert Cecil, Austen Chamberlain und Walter Long. 391 Vgl. French, Strategy, passim; Stevenson, First, 106-13; Rothwcll, War, 282.

392 NR 69 (1917), 245.

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blasphemy upon the living God, and a sacrilege upon the souls of the silent dead«.393 Bereits im September 1914 forderte der »John Bull« »the partition of Germany into scperate States« und eine jährliche Kontribution an Großbritannien in der absurden Höhe von 50 Millionen Pfund, mit der man alle sozialen Probleme zu lösen und die Arbeiterbewegung zu pazifizieren trachtete.394 Auch wenn Artikel von Horatio Bottomley stets mit Vorbehalt zu beurteilen sind, zogen sich diese oder ähnliche Kriegszielforderungen auch durch die übrigen Blätter der radikalen Rechten. Als absolutes Minimum erachtete etwa die »National Review« im November 1915 außer der Befreiung und Entschädigung Belgiens (inzwischen mit £ 500.000.000 veranschlagt) die Abtrennung von Elsass-Lothringen und der polnischen Gebiete, die Übergabe der deutschen Flotte und die Besetzung Berlins bis zur Durchsetzung aller britischen Ansprüche. Darüber hinaus aber liege, um Deutschlands Seemacht endgültig zu brechen, auch die dauernde britische Annektierung eines Küstenstreifens etwa von Bremen bis Kiel im Interesse Großbritanniens.395 Wie in Deutschland glaubten die Propagandisten expansiver Kriegsziele, dass ihre Aktion ein gesellschaftlich integrierendes Element bildete. Im Unterschied zu Deutschland aber gelang es der radikalen Rechten in Großbritannien nicht, ihre relative politische Isolation zu überwinden und auf der Basis ihres expansiven Nationalismus eine lagerübergreifende Kriegszielbewegung zu formieren. Außerhalb der radikalen Rechten interessierte man sich nur wenig für die territoriale Erweiterung der britischen Einflusssphäre in Europa. Bezeichnend für diesen Misserfolg war die Gründung der »National Party« im Oktober 1917 - die fast gleichzeitig mit der nicht nur dem Namen nach verwandten »Vaterlandspartei« erfolgte. Wie die DVLP forderte auch die »National Party« eine Intensivierung der Kriegsanstrengungen durch die Zusammenfassung aller gesellschaftlichen Kräfte. Die Zielvorstellung, die ihr Vorsitzender, Brigadcgeneral Henry Page Croft propagierte, bestand - im Anschluss an die »National Efficiency«-Ideologie der Vorkriegszeit - in einer harmonisierenden und modernisierenden Umorganisation der britischen Gesellschaft auf der Grundlage der Kriegserfahrungen. Ein vollständiger Sieg über Deutschland stellte demnach die notwendige Bedingung für die Fortsetzung der britischen Schützengrabengemeinschaft in Friedenszeiten dar. Im Unterschied zur DVLP aber kam die

393 J B , 3.4.1915, 7. Vgl. NR 68 (1916), 202, aber auch TL 12.10.1917, 7; PRO CAB 24/3“ ( = GT 3145) (29.12.1917) - und in der unerreichten Formulierung Rudyard Kiplings: »Whc stands if freedom fall? Who dies if England live?« U.a. im DT, 2.9.1914, 6. 394 »Fifty million pounds a year to be liberated for the relief of poverty, unemployment and sickness. Tliat is were the workers come in; that is why it is a People's war!« JB, 19.9.1914, 5 (Hcrv. i Orig.). 395 NR 66 (1915), 358-61 ; N R 65 (July 1915), 709-18. Vgl. MP, 26.12. 1917, 4;JB, 17.4.1915 7.

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»National Party«-weder institutionell noch politisch oder personell - über den Rang einer rechtskonservativen Splitterpartei hinaus.396 Da die Kriegszielforderungen der radikalen Rechten immer auch die angeblich schwächliche britische Gesellschaft ins Visier nahmen, erfüllte sich ihre Hoffnung auf eine integrierende Wirkung ihres Handelns nicht. Vielmehr riefen ihre Versuche, mit Hilfe der Kriegszielpolitik eine Umgestaltung der liberalen britischen Institutionen vorzunehmen, von Beginn an den entschlossenen Protest einer rasch wachsenden Minderheit hervor. Die oppositionelle »Union of Democratic Control« [UDC], die desillusionierte Linksliberale bei Kriegsausbruch ins Leben gerufen hatten und die für einen Verhandlungsfrieden und die öffentliche Kontrolle der Außenpolitik eintrat, wuchs von 5.000 (1914) auf 750.000 (1918) Mitglieder. Dieser Mitgliederschub resultierte wesentlich aus der Erosion der Liberalen Partei, deren Anhänger - von der Kriegspolitik der Koalitionsregierung enttäuscht - sich der UDC und langfristig der erstarkenden Labour Party zuwandten. Viele Linke waren zunehmend weniger bereit, die von der radikalen Rechten konsequent propagierte und von der Regierung im Ansatz verwirklichte autoritäre Veränderung Großbritanniens zur Erringung eines »total victory« hinzunehmen.397 Die russische Februarrevolution, vor allem aber die Oktoberrevolution setzten 1917 in Großbritannien die Kriegszieldebatte zum ersten Mal seit 1914 wieder auf die innenpolitische Tagesordnung. Die wachsende Kriegsmüdigkeit trug eine landesweite Streikwelle im Frühling und begünstigte die sukzessive Übernahme der russischen Friedensparolen in der bis dahin weitgehend burgfnedlichen Arbeiterbewegung. Im Unterhaus warnte R.L. Outhwaite, es gebe »virtually a revolutionary feeling« in der englischen Arbeiterschaft.398 Dem zunehmenden inneren gesellschaftlichen Druck entsprach die militärische Krise. Weder die Somme- noch die Passchcndaele Offensive hatten nennenswerte Resultate erbracht, aber einen ungekannten Blutzoll gefordert. Die militärische Pattsituation ließ nicht nur in der breiten Bevölkerung und in allen politischen Lagern bis hin zu führenden Konservativen, sondern auch innerhalb der Regierung massive Zweifel aufkommen, ob ein vollständiger Sieg über das Kaiserreich erreichbar oder zu diesem Preis überhaupt noch wünschbar sei. Die verbreitete Desillusionierung über die bisherige Kriegspolitik brachte ein offener Brief Lord Lansdownes, ehemaliger konservativer Staatssekretär des Äußeren und Sympathien mit der Arbeiterbewegung gänzlich unverdächtig, auf den Punkt. »Can we afford«, fragte Lansdowne im »Daily Telegraph« am 29. No396 Vgl. NU 69 (1917), 242-50; sowie Rubinstein, Croft, passim; Wrigley, Excess, passim; Bauerkämper, Rechte, 113-18; Turner, Politics, 239f. 397 Vgl. Swartz, Union, bes. 130-69; Gebele, Probleme, 93-102; sowie Kapitel III.2.a. 398 HoC: V/ Bd. 96, 1545 (26.7.1917). Vgl. Klepsch, Labour, 150-86; A. Mayer, Origins, 17079; Rothwell, War, 96-99.

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vember 1917 im Hinblick auf die bis dato 1.1 Millionen gefallenen und verwundeten Briten, »to go on paying the same sort of price for the same sort of gains ?«399 Im Laufe des Jahres 1917 brachte daher die Neubewertung der Kriegszielfrage in Großbritannien ein neues Konfliktmoment in die britische Innenpolitik. Da es unter dem Eindruck der russischen Revolutionen klar war, dass es bei der Kriegszieldebatte nicht nur um die äußere Neuordnung, sondern immer auch um die innere Ausgestaltung der britischen Nation ging, entwickelte sie sich auch in Großbritannien zu einer innenpolitischen Machtprobe. Die doppelte Herausforderung durch die organisierte Arbeiterbewegung in Russland und in England setzte die Regierung Lloyd George unter einen neuen Legitimationszwang. Die Frage war, ob angesichts einer möglichen revolutionären Situation das Festhalten an dem bisherigen Konzept des »total victory« den inneren Spannungen noch werde begegnen können, oder ob vielmehr eine Neuformulierung und eine neue Legitimationsgrundlage der britischen Kriegszielpolitik für die Erhaltung der Loyalität der Arbeiterbewegung notwendig war.400 Die britische Regierung entschied sich schließlich für die letztere Option und suchte mit der Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker an die Befreiungsideologie der »small nations« anzuknüpfen, ihre Kriegsziele auf die neue Legitimationsgrundlagc der Volkssouveränität zu stellen und so den Forderungen aus Petrograd, Washington und Leeds zu begegnen. Die Debatte über das »Selbstbestimmungsrecht der Völker« im Ersten Weltkrieg kennzeichnete in allen kriegführenden Staaten eine unentwirrbare Mischung aus Taktik und Idealismus. Auf der einen Seite versuchten die Kombattanten sich immer wieder des Selbstbestimmungsrechts als Sprengstoff gegen den innenpolitischen Zusammenhalt des militärischen Gegners zu bedienen. Daher betrieben sie verbal oder aktiv die Insurrektion der sich als nationale Minderheiten verstehenden Gruppen in Österreich-Ungarn, Polen oder Irland. Das galt auch für die britische Regierung, die davon überzeugt war, dass das Prinzip eine mächtige Waffe gegen die Mittelmächte darstellte. Auf der anderen Seite aber vertrat die Arbeiterbewegung in den kriegführenden Ländern, besonders die Bolschewiki in Russland - und mit größeren Einschränkungen auch die Regierungen in Washington und London - die Auffassung, dass der Krieg die alte Staatenordnung obsolet gemacht habe: Angesichts der Partizipation breitester Bevölkerungsschichten müssten diese das Recht erhalten, über ihr Schicksal selbst zu bestimmen. Auch die britischen Regierungseliten unterstrichen in öffentlichen Debatten wie in internen Besprechungen 399 DT, 29.11.1917, 6. Vgl. Rothwell, War, 143-46; Turner, Politics, 194-208; Guinn, Strategy, 234f. 400 Vgl. Guinn, Strategy, 242; Rothwell, War, 20.

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die unveräußerlichen Freiheitsrechte jeder Nation, ja, letztlich jeder europäischen Nationalität.401 Das Neue dieses sich aus verschiedenen sozialistischen und liberalen Quellen speisenden Konzeptes bestand in der Verknüpfung zweier Vorstellungen; der grundsätzlichen demokratischen Legitimationsbedürftigkeit aller staatlichen Gewalt mit dem Nationalitätenprinzip. Als Folge der kriegsbedingten gesellschaftlichen Verwerfungen in Europa ging von dieser Vorstellung, dass jede sich als Nation verstehende Gruppe, mithin jede Nationalität - unabhängig von der bestehenden staatlichen Zugehörigkeit - das Recht habe, über ihre eigenen Geschicke zu entscheiden, eine neue Dynamik aus. In Anbetracht der furchtbaren Opfer der gesamten Bevölkerung aller kriegführenden Staaten war diese neue Legitimationsfiktion allen älteren Ordnungsmodellen weit überlegen. So verschmolzen im Diskurs über das Selbstbestimmungsrecht die Problemkreise des Nationalitätenprinzips und der Volkssouveränität.402 Die linksliberalen und sozialistischen Verfechter eines derart aufgeladenen Selbstbestimmungsrechts in England versprachen sich von der Umsetzung dieses Prinzips einen dauerhaften Frieden, insgesamt auch eine politische und soziale Aufwertung der breiten Bevölkerung. Die UDC forderte von Beginn des Krieges an, dass in Zukunft kein Gebiet ohne die Zustimmung der Bevölkerung unter die Herrschaft eines anderen Staates gelangen dürfe.403 Liberale und Linke machten als Hauptursache des Kriegsausbruchs die Unterdrückung der Nationalitäten in Europa aus und folgerten im Umkehrschluss - getreu liberalnationaler Tradition, welche die freie Wahl zum entscheidenden Kriterium der Nation erhob-, dass eine konsequente Umsetzung des Nationalitätenprinzips dem Frieden und Fortschritt der Welt dienen werde. Bereits im September 1914 sprach sich der »Labour Leader« für das universelle »right of national self-government« aus: »The frontiers of nations should be determined, not by military conquest, but by natural devisions of race, religion, language and custom. [...] We cannot hope that the peace will be enduring unless the natural boundaries of nations arc maintained«.404 Im Glauben an vermeintlich »natürliche Grenzen« forderte auch der »New Statesmen« im Interesse von Frieden und Freiheit die Neuorganisation Europas auf ethnisch homogener Grundlage: »Europe is not likely to be tranquil until [...] the frontiers of states coincide, as 401 Vgl. PRO CAB 24/37/240 ( = GT 3180) (3.1.1918); sowie Rothwell, War, 74f., 288f.; W. Mommscn, Entstehung, 456; Mögenburg, 1 laltung, 64-70. 402 Vgl. Rabl, Selbstbestimmungsrecht, 55-63; Sharp, Genie, 10-18; Soutou, Kriegsziele, 43f. 403 Vgl. Swartz, Union, 41-43; Calder, Britain, 17-19; Gebelc, Probleme, 94f. 404 LL, 24.9.1914, 1. »No peace can be satisfactory« hieß es selbst in einem Kabinettsmemorandum, »unless it promises to be durable, and an essential condition of such a peace is that it should give full scope to national aspirations as far as practicable. The principle of nationality should therefore be one of the governing factors in the consideration of tcrritoral arrangements after the war«, PRO CAB 17/160 (7.8.1916).

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nearly as may be, with the areas inhabited by homogeneous peoples. [... ] National liberty throughout Europe is as necessary as constitutional liberty, if the causes of conflict are to be removed and the peoples to be at rest«.405 Mit anderen Worten: Linke und Liberale begriffen wie die Rechte den Krieg als günstige Gelegenheit, die Grenzen Europas nach ihrer demokratischen Zielvorstellung neu zu gestalten. Die Linke suchte mit Hilfe der Kombination von Nationalitätenprinzip und Selbstbestimmungsrecht nicht nur die Veränderung der territorialen, sondern letztlich auch der innenpolitischen Gegebenheiten in Europa, aber auch in Großbritannien selbst zu legitimieren. Nur relativ wenige Kritiker verwiesen weitsichtig auf die Widersprüche, die sich zwischen dem Selbstbestimmungsrecht und dem Nationalitätenprinzip eröffneten, und stellten klar, dass sich die Ansprüche der einzelnen Nationalitäten nicht nur oft gegenseitig ausschlossen, sondern dass gerade das Ideal einer ethnisch homogenen Nation dem zukünftigen Frieden wenig förderlich sein werde.406 Die europäische Geschichte nach 1918 belehrte dann auch die letzten Idealisten über die grausamen Schattenseiten des Nationalitätenprinzips. Zum ersten offenen parlamentarischen Schlagabtausch in der Kriegszielfrage kam es in einer Unterhausdebatte am 16. Mai 1917 zwischen einigen oppositionellen Linksliberalen und Labouranhängern auf der einen und der großen Mehrheit der Koalitionsanhänger auf der anderen Seite. Philipp Snowden, ein führender Repräsentant der UDC, forderte für die Regierungskritiker einen Frieden auf der Grundlage der russischen Friedensformel ohne Annexionen und Kontributionen.407 Um die inhaltliche Bestimmung dieser Formel und ihr Verhältnis zum Selbstbestimmungsrecht entbrannte ein lebhafter Streit, der deutlich machte, dass auch in Großbritannien die Grenzen zwischen Außen- und Innenpolitik in der Kriegszieldebatte verschwammen. Snowden verwies erstens auf die weltweite demokratische Forderung nach einem Frieden ohne machtbesessene Gebietserweiterungen und zweitens auf die notwendige Grundbedingung einer zukünftigen Friedensordnung: »To redraw the map 405 NS, 2.6.1917, 2(K). Vgl. HE, 4.8.1917,6f. »Those who believe in this principle«, befand der liberale I listoriker Ramsay Muir, »believe that wherever there exist devided nations which long for unity, or subject nations which aspire to be freed from alien control, [... ] it is [... ] to the advantage of civilization and humanity at large that these aspirations should be satisfied. [... | The satisfaction of national aspirations is essential as a safeguard against war«, Muir, Principle, 3,5. 406 »The nationalities of Eastern Europe are inextricably intermingled, and it is sheer madness to sacrifice the remnant of the patriotic youth of Great Britain in a crusade for ›satisfying‹ their contradictory and impracticable claims«, MG, 19.6.1917, 3. Deutlicher noch wurde Arthur Baitour: »If the enemy be completely beaten the problem of re-arranging his territories according to the Principle of Nationality or the »Principle of Self-determination‹ seems simple enough. U n fortunately it is not so [...] because these principles do not completely harmonise with each other«. PRO CAB 24/70 ( = GT 6353) (18.10.1918). Vgl. Sharp, Genie, 18-27; Gebele, Probleme, 125f., 237f. 407 I IOC V/ Bd. 93, 1625-33 (16.5.1917).

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of Europe and to make race and governmental area co-terminus«.408 Diese Veränderung der territorialen Grenzen müsse und werde einhergehen mit der Umgestaltung der politischen Ordnung, da es in Zukunft nur noch eine Instanz gebe, vor der Politik sich legitimieren könne: dem Willen des Volkes. »The war aims [...] - the maintenance of civilisation and the triumph of democracyare going to be realised in the only way in which these ideals and aims can be realised, that is by the peoples of the different countries«.409 Die Behauptung linker Politiker, das Volk - »the people« - verweigere Annexionen, konterte Lord Robert Cecil für die Regierung ebenfalls mit dem Verweis auf den Willen des Volkes. Das Selbstbestimmungsrccht der Völker verlange wie etwa im Falle Elsass-Lothringens und Polens die Veränderung illegitimer Grenzen. Das dürfe keinesfalls mit Annexionen verwechselt werden. »It is one thing to be against conquest which without reason and against the will of the population transfers territory from one souvereignty to another«.410 An dieser Stelle unterbrach John Devlin für die irischen Nationalisten Cecils Ausführungen und erinnerte mit dem Verweis auf Irland daran, welch eine zweischneidige Sache die Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht blieb und dass das Prinzip immer leicht zur Waffe der Opposition werden konnte: »Will that principle apply to Ireland?« Worauf Cecil scharf entgegnete: »There is no purpose of transferring Ireland to another sovereignty. I sometimes wish there was«.411 Tatsächlich unterschied die britische Regierung bei der Anwendung des Selbstbestimmungsrechtes säuberlich zwischen Freundstaaten bzw. europäischen Staaten auf der einen und Feindstaaten bzw. Kolonien auf der anderen Seite. Die Regierungseliten gedachten aus der Perspektive ihres immer auch ethnisch diffamierenden Nationalismus das Selbstbestimmungsrecht nicht auf die eigenen Kolonien anzuwenden, da das absehbare Folgen für das Britische Empire nach sich gezogen hätte. Ein Kabinettsmemorandum hielt dazu fest: »This principle can, of course, only be applied to European countries. Therefore, in dealing with our war aims we should have to make a distinction between [...] a) European nationalities who arc capable of determining their own Government on a democratic basis, 'b) The more primitive nations of Africa which have never enjoyed any semblance of civilised self-government«.412 Auf diesen Widerspruch, dessen Aufhebung unweigerlich das Ende des Britischen 408 Ebd., 1636. 409 Ebd., 1626. Vgl. ebd. 1635: »It will be a peoples peace. (...] This war is not going to be settled in the secret chambers of diplomacy; it is going to be settled by the democracies of the different countries«. 410 Ebd., 1672. Vgl. I IoC V/ Bd. 96, 1507f., 1524f. (26.7.1917). Entsprechend TI, 12.10.1917, 7f. 411 Ebd. Vgl. A. Mayer, Origins, 179-81; KIepsch, Labour, 167f. 412 PRO FO 371/3010/106114 (25./28.5.1917). Entsprechend PROCAB 23/5/13 (=WC 313) (3.1.1918), wo explizit Befürchtungen über die Zukunft Indiens und Ägyptens laut werden. Vgl selbst HE, 4.8.1917, 6.

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Empires ankündigte, verwiesen die linksliberale Presse und die der Arbeiterbewegung: »We must apply to our own Empire the principle of self-determination which we desire to see applied to other Empires«.413 Die Begriffe Selbstbestimmung, Demokratie und Frieden ließen sich aus unterschiedlicher nationalistischer Perspektive gegensätzlich verstehen. Die rechtskonservative »Morning Post« hob hervor: »We have never been able to understand these long words: they seem to meant different things to different people«.414 Bereits die Debatte über diese Ziele musste aus der Sicht konservativer Nationalisten bestenfalls als sophistisch, schlimmstenfalls als antinational erscheinen. In Anbetracht der verschärften demokratischen Forderungen der Linken, der es gelang, die Frage der außenpolitischen Neuordnung mit dem Problem der inneren Reformen zu verschmelzen, identifizierten Konservative und einige Militärs nicht nur diese Prinzipien, sondern Linksliberale und Labouranhänger selber als Feinde der Nation. Feldmarschall Douglas Haig unterstrich die Notwendigkeit eines Siegfriedens gerade im Interesse der Arbeiterbewegung: »The chief people to suffer would be the socialists who are trying to rule us all the time when the right-minded of the Nation are so engaged on the country's battles that they [the socialists - SOM] are left free to work mischief«.415 Deutlicher noch bediente sich der »Daily Sketch« der Verratsrhetorik gegen die in Zeiten der höchsten Not der britischen Nation als antinational diffamierte Linke. Jedes Friedensgerede und jeder Zweifel an Britanniens gerechter Sache käme einem Hochverrat gleich. Verboten werden sollten »any anti-patriotic meetings in the United Kingdom for the period of the war. [...] to talk of peace now is treason, to question the justice of our cause is treason«.416 Für Feindifferenzierungen ließ das bipolare Ordnungsmuster Nationalismus in einem totalen Krieg wenig Raum. Abweichende Haltungen ließen sich so leicht diffamieren. Entsprechend polemisierte der »John Bull« salbungsvoll gegen die Fünfte Kolonne Deutschlands in England: »Cursed are the Peace-Mongers, for theirs is the Kingdom of Prussia«.417 Im Anschluss an die Unterhausdebatte vom Mai 1917 drohte die »Morning Post« Snowdcn und Macdonald unverhohlen, sie seien antinationale und deutschfreundliche »traitors who are nearer the traitors' end than perhaps they imagine«.418 Die linksliberalen und labournahen Kritiker eines britischen »total victory« weigerten sich, den Vorwurf zu akzeptieren, ihre Friedenspolitik sei antinational. »Which best serves the interests of the nation?«, fragte der »Labour 413 HE, 12.1.1918, 7. Vgl. NS, 2.6.1917, 201; sowie Rabl, Selbstbestimmungsrecht, 87f.; Klepsch, Labour, 283. 414 MP, 1.8.1917,6. 415 Haig an Robertson 13.8.1917, zit. n. Rothwell, War, 98. Vgl. Klepsch, Labour, 302. 416 »Daily Sketch«, 30.11.1915, zit. n. Swartz, Union, 111. 417 JB, 3.4.1915, 6. 418 MP,18.5.1917,4.Vgl. HoC: V/Bd. 93, 1637f.( 16.5.1917); insges. Swartz, Union, 105-29.

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Leader« seine Leser. »If our national existence is to be secured solely by the sword, we cannot lay down the sword at the end of the war«. Nicht die Advokaten eines Völkerfriedens, die Befürworter einer Siegfriedenspolitik seien es, »which permanently threatens the existence of the Nation«.419 Gemäß seinem humanitären und sozialreformcrischen Nationsideal unterstrich man selbst in derILP,dass die Arbeiterbewegung der eigentliche Verteidiger der Interessen der britischen Nation sei: »Nationality must not be made an end in itself, but a contribution to Internationality and Humanity. The spirit of nationality must be used to elevate the nation from within. [...] The I.L.P is essentially patriotic and truly nationalistic. The party that through the war has refused to acquiesce in British nationality being made wholly an end for military and reactionary purposes«.420 Der »Herald« wandte sich scharf gegen diejenigen, »who are inspired by as extravagant dreams of conquest as the most imperialist Germans«.421 Die Politik äußerer Annexion und innerer Unfreiheit und nicht die Friedens- und Freiheitsforderungen der Arbeiterbewegung gefährdeten die Sache der Nation: »Our rulers so passionately love militarism, capitalist exploitation, and oppression, that they cannot endure to abstain from them even when they know that their action is weakening what they themselves uphold as the national cause«.422 Die Arbeiterbewegung unterstellte den herrschenden KJassen, die rigorose Kriegszielpolitik auch zur Unterdrückung der Freiheitsrechte im eigenen Land zu betreiben. Geschickt knüpften die Labourjouinalisten an das traditionelle Ideal des »Free-Born-Englishman« an: »Our rulers have failed us in every direction. We must [...] organise so as to restore to the British people the rights and liberties of which they have been robbed by Lord Milner and his colleagues in the War Cabinet. We must win back the full right of free combination, freedom of speech and press, freedom of conscience, and, above all, freedom to discuss the aims and objects of the war«.423 Dieser großen reformerischen Aufgabe könne nur Labour als eigentlicher Repräsentant des Volkes gerecht werden. Selbstbewusst legitimierte die erstarkende Arbeiterpartei so ihren Anspruch auf Beteiligung an der Regierung. »It is not a sectional question. It is a national question. It is a question of saving the nation. Only Labour can do it. [...] It is prepared, intends, to take control. It means to have a Labour Government in this country, and to have it soon«.424 Die selbstbewusste Herausforderung der Regierung und ihrer Kriegszielpolitik durch die Arbeiterbewegung erreichte ihren Höhepunkt mit dem »Memorandum on War Aims«, welches die Labourpartei gemeinsam mit den Ge419 420 421 422 423 424

LL, 12.6.1915, 1. LL, 1.7.1915,8. HE, 26.5.1917, 9. HE, 15.12.1917, 9 (Herv. i. Orig.). Vgl. HE, 2.2.1918, 7. HE, 26.5.1917, 9. HE, 2.2.1918,7. Vgl. HE, 15.12.1917,9; 12.1.1918,6.

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werkschaften mit Zweidrittelmehrheit am 28. Dezember 1917 beschloss. Die Erklärung forderte in Anlehnung an Präsident Wilson, dass in Zukunft die Völker ihre Verfassung und Grenzen bestimmen sollten, nicht umgekehrt. Diese projektierte Neuordnung der Welt und Britanniens auf der Basis von Freiheit und Selbstbestimmung machte jedem die Ablehnung schwer, der nicht als Imperialist, Militarist oder Chauvinist gelten wollte.425 Da inzwischen auch die Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk begonnen hatten, war der Regierung klar, das angesichts dieser doppelten Herausforderung eine dynamische Anpassung der britischen Kriegsziele erfolgen musste, um die für die Kriegführung notwendige Loyalität der Arbeiterbewegung nicht noch weiter zu verlieren. Im Kampf um politische Deutungsmacht kam es darauf an, den konkurrierenden Kriegszielentwürfen von Labour und der UDC innovativ zu begegnen. Das Kabinett Lloyd George setzte daher bei der Neuformulierung der britischen Kriegsziele auf eine eigene Interpretation des populären Selbstbestimmungsrechtes um die moderate Linke zu pazifizieren. Dabei suchte die Regierung klarzustellen, dass ihre neue Weltordnung nahtlos an den Freiheitskampf im Interesse der »small nations« anschloss. »Such a declaration would not mean an alteration of what have always been British war aims. Rather, it would be a reassertation of the principles of freedom and the rights of small nations«.426 Doch gerade die Wirkungen der jahrelangen Berufung auf die Freiheit und das Selbstbestimmungsrecht der kleinen Nationen belehrten die Rcgierungseliten über die nicht intendierten Folgen nationalistischen Redens. Denn die Herausforderung durch die Linke, welche die Regierung hinsichtlich des stets gegen Britanniens Feinde propagierten Selbstbestimmungsrechtes beim nationalen Wort nahm, hatte die Regierung zu einem großen Teil selbst zu verantworten. Lloyd Georges Kriegszielredc suchte einem Problem zu begegnen, das die eigenen nationalistischen Argumentationsmuster mit geschaffen hatten. Das als ein Mittel der Kriegführung eingesetzte nationalistische Reden und Handeln trug dazu bei, letztlich die Gründe selber, für die man erklärte, den Krieg zu führen, zu verändern.427 Das Ziel der sorgfältig in Absprache mit einer Delegation der Labour Partei und führenden Liberalen ausgearbeiteten Kriegszielrede des Premierministers war es, auf die angespannte Lage in Großbritannien stabilisierend einzuwirken und gleichzeitig eine ideologische Offensive gegen den deutschen Feind zu eröffnen. Es komme darauf an, so Lloyd George am 3. Januar 1918 im Kabinett, den allseitigen Friedensforderungen offensiv zu begegnen: »We ought to take advantage of it to issue such a declaration of our own war aims as would 425 Vgl. den Text in W. Motnmscn, Entstehung, 463-68; sowie Klepsch, Labour, 277-80; A. Mayer, Origins, 317-22; Rabl, Sclbstbestimmungsrecht, 76. 426 So bereits PRO FO 371/3010/106114 (25./28.5.1917). Vgl. Swartz, Union, 195-97; Rothwell, War, 147-51. 427 Vgl. Calder, Britain, 106f.; 218f.

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maintain our own public opinion, and, if possible, lower that of the enemy«.428 In seiner Rede, die Lloyd George - vor allem wohl weil das Parlament nicht tagte429 - auf dem Gewerkschaftskongress in London am S.Januar hielt, forderte er im formalen Einklang mit den Prinzipien der Arbeiterbewegung und in Vorwegnahme von Präsident Wilsons 14-Punkte-Programm vom 8. Januar die Neuordnung Europas auf der Basis der nationalen Selbstbestimmung, der Enteignung der deutschen Kolonien und - falls möglich - einer demokratisch legitimierten Regierung für Deutschland. Der »Guardian« brachte diese Quintessenz britischer Kriegszielpolitik auf die treffende Formel: »No annexiations but national self-determination«.430 Die Ansprache stellte eine Meisterleistung dar, der vor allem deshalb in allen politischen Lagern - mit Ausnahme der radikalen Rechten und Linken431 - großer Erfolg beschieden war, weil jede Gruppe aus ihr herauslesen konnte, war ihr wichtig war.432 Die Vieldeutigkeit nationalistischer Rede- und Denkformeln erlaubte ihren Anschluss an die bestehenden Weltbilder. Außerdem hatte Lloyd George, wie die »Daily Mail« unterstrich, geschickt tradierte britische Interessen gemäß der politischen Situation modifiziert: »The Prime Minister indeed adopted whole-heartedly the most ultramodern phrases of the Bolsheviks and showed that they are only new ways of expressing the meaning and intention of Great Britain and the Empire«.433 Am Ende des Ersten Weltkriegs war es schwer geworden, die Politik der britischen Regierung anders als mit dem Willen der Regierten zu legitimieren. Lenin, Labour und Wilson hatten entscheidend zu einer Neuformulierung der britischen Kriegsziclpolitik beigetragen, die letztlich auch die staatliche Herrschaft im eigenen Land auf die neue Legitimationsgrundlage der »nationalen Selbstbestimmung« stellte. Lloyd George beschwor für die moralisch-demokratische Neuordnung der Welt »government with the consent of the governed«, weil die britische Arbeiterbewegung nur unter diesen Bedingungen bereit war, den Krieg fortzusetzen.434 Die ideologische Flexibilität und partielle Demokratisierung von Kriegsbild und Nationsvorstellung in Großbritannien kontrastierte scharf mit dem von der Kriegszielbewegung in Deutschland propagierten außen- und innenpolitischen Dauerkriegszustand. Die Bedeutung einer neuen, verbindenden Legitimationsgrundlage und die Interdependenz 428 PRO CAB 23/5/10 (=WC 312) (3.1.1918). Vgl. W. Mommsen, Entstehung, bes. 458-60; Kuropka, Image, 208-11; Fest, War, 304f; Klepsch, Labour, 280f. 429 Vgl. zu den Vorbehalten im Kabinett, die organisierte Arbeiterbewegung durch die Wahl des Ortes der Kriegszielrede noch weiter aufzuwerten PRO CAB 23/5/12 (=WC313) (3.1.1918). 430 MG, 12.1.1918,4. Vgl. Rothwell, War, 149-53; Turner, Politics, 268-71; Gebele, Probleme, 157f. 431 Vgl. NR 70 (1918), 649f.;LL, 10.1.1918, 1. 432 Vgl. DC, 7.1.1918,4; DT, 7.1.1918, 6; verhaltener HE, 12.1.1918, 6; sowie W. Mommsen, Entstehung, 461 f.; Kuropka, Image, 210-12. Gebele, Probleme, 213-17. 433 DM,7.1.1918,2. 434 Vgl. MG, 12.1.1918, 4; A. Mayer, Origins, 323-29, 368-70; Rothwell, War, 288f.

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von Außen- und Innenpolitik in der Kriegszielpolitik erkannte scharfsichtig James L. Garvin in seinem »Observer«: »Without a reassurance of national unity on some such basis there would have been certain trouble. [...] We must have unity - unity definitely founded on new conditions - unity between Ministers and Opposition - above all unity between the Government and Labour. Without that there could be no hope either for peace-purposes or war-purposes«.435 Mit Hilfe der dynamischen Formel vom »Selbstbestimmungsrecht der Völker« gelang der Opposition in Großbritannien die politische Aufwertung der Regierten durch die Berufung auf ihre Leistung im totalen Krieg. Dieser Teilerfolg der Arbeiterbewegung und der Linksliberalen wurde auch dadurch ermöglicht, dass im Gegensatz zu Deutschland eine mächtige rechtskonservative Kriegszielbewegung fehlte. So unterblieb bei der Formulierung der Kriegsziele in Großbritannien eine mit der Lage in Deutschland vergleichbare innenpolitischen Machtprobe.

5. Alte und neue Grenzen In den kriegführenden Nationalstaaten des Ersten Weltkriegs bestimmte man aufs Neue das Verhältnis vom Eigenen zum Fremden. Die politischen Akteure konstituierten die deutsche wie die britische Nation durch den Ausschluss und die Bekämpfung von Feinden. Auf der Grundlage der Bestimmung und Begründung der Ausgrenzung legte man indirekt auch die Kriterien fest, die der Selbstbeschrcibung und der eigenen Aufwertung durch die Abwertung des Anderen dienten. Selbstredend galt das im Prinzip auch vor 1914 und nach 1918. Doch kennzeichneten drei Tendenzen die neue Qualität und Quantität nationalistisch motivierter und legitimierter Feindschaft im Ersten Weltkrieg. 1. Eine extreme Feindfixierung charakterisierte den politischen Diskurs in Deutschland und in Großbritannien. Die Feindschaft und die Feinde ließen sich nicht beliebig, aber doch, abhängig von den Akteuren und vom politischen Kontext, immer wieder anders bestimmen. Da keine gesellschaftliche Instanz über ein nationales Deutungsmonopol verfügte, entsprach die Menge der Nationsentwürfe der Anzahl der Feindbilder. Die Verschärfung und die Aufwertung nationalistisch begründeter Grenzen war nicht allein die Folge der ungekannten militärischen Bedrohung. Die Gefahr erschien auch deshalb so akut, weil man den Feind überall in den Reihen der eigenen Kricgsgesellschaft entdeckte. Nur wenige Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens wurden von dieser ubiquitären Nationalisierung und Feindbestimmung nicht politi435 OB, 6.1.1918, 6.

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siert. Das sich so formierende Feindbild strukturierte und legitimierte die Kriegführung, die für den Zusammenhalt der Gemeinschaft aus der Perspektive der Nationalisten existentiell notwendig erschien. Besonders augenfällig wurde die innenpolitische Dimension der extremen Feindfixierung im Zuge der Kriegszieldebatten. Der Streit um die Ziele des Krieges - mithin um die inhaltliche Bestimmung der Nation - entwickelte sich zu einer handfesten Machtprobe der politischen Lager. Vor allem aber die Auseinandersetzung über die nationalen Minderheiten demonstrierte in Deutschland und in Großbritannien, dass weite Teile der konservativen Öffentlichkeit der polnischen bzw. der irischen Gegnerschaft so notwendig wie unausgesprochen zur Aufrechterhaltung ihrer Nationsvorstellung bedurften. Eine zur »Lebensfrage« der eigenen Nation stilisierte Polen- und Irlandpolitik konnte daher aus der Perspektive der konservativen Nationalisten in beiden Ländern unter dem Druck des Ersten Weltkriegs nur schwerlich eine Revision erfahren. 2. Nur durch die Berufung auf den »Willen der Nation« ließen sich Interessen und Vorstellungen in einem totalen Krieg erfolgversprechend rechtfertigen. Unter den Vorzeichen des Burgfriedens bildeten die Nationalismen eine der wenigen Möglichkeiten, die schwelenden Interessengegensätze legitim auszutragen. Durch den Hass auf den Feind der Nation war der Gegner in den eigenen Reihen am ehesten zu treffen, wenn es glaubhaft gelang, die Grenze zwischen dem äußeren und inneren Feind zu verwischen. Die politischen Parteien und Regierungen legitimierten ihre Haltung mit dem »Willen der Nation«, für den sie jeweils eine Art Alleinvcrtretungsanspruch behaupteten. Dieser Exklusivanspruch auf die »wahre« Nation rechtfertigte aber nicht nur die eigenen Vorstellungen, sondern machte es wahrscheinlich - da der »Wille der Nation« nur als ein einheitlicher zu denken war -, die Position des innenpolitischen Gegners als antinational wahrzunehmen und diesen aus der Nation auszugrenzen. Der Feindschaftsdiskurs, der Kampf um politische Macht anhand konkurrierender Feindbilder, stellte eine immer wieder anders zu interpretierende Projektion dar, deren Spitze zunehmend nicht nur auf den außen-, sondern auf den innenpolitischen Gegner zielte. Es ist daher unzureichend, das Gefahrenpotential des Nationalismus allein darin zu sehen, dass er die Feindschaft zwischen den Nationalstaaten ins Leben ruft und verstärkt. Ebenso relevant ist die vom Nationalismus ausgehende Dynamik der inneren gesellschaftlichen Polarisierung. Der kompromisslose Bezug auf spezifische Nationsvorstellungcn im Ersten Weltkrieg war weder dem Zusammenhalt der Gesamtnation noch dem des eigenen Nationalstaates förderlich. Gerade weil der Krieg den konkurrierenden Nationsentwürfen reichlich Nahrung bot, gefährdete er den Bestand der kriegführenden Nationalstaaten. 3. Das markanteste Indiz für die neue Qualität nationalistisch motivierter Feindschaft bildete die offene bzw. die schleichende Ethnisierung der Nationsvorstellungen in Deutschland und in Großbritannien. Dem Druck des totalen 217 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1

Krieges entsprechend ließ sich auf diese Weise die Grenze zwischen dem Fremden und dem Eigenen fundamental ziehen, weil gleichsam »natürlich« und »wissenschaftlich« begründet. Die zunehmende Ethnisierung der Konzepte von der deutschen und der britischen Nation erleichterte die Ausgrenzung dei Polen und der Iren aus dem jeweiligen Nationalstaat. Wie die Diskurse etwa über Kolonialtruppen und nationale Minderheiten zeigten, konnte man die aus der Nation Ausgegrenzten letztlich sogar aus der Menschheit verbannen. Ir Deutschland stellte man sich nicht allein im konservativen, sondern bis weit in das katholische und liberale Lager hinein, den bedrohlichen Feind als rassisch »minderwertig« vor. Die Hasstiraden gegen die schwarzen Soldaten, aber auch gegen die Briten als »Verräter der eigenen Rasse« demonstrierten, wie weit ein biologistischer Nationalismus schon zum ideologischen Bestandteil breiten Bevölkerungsschichten geworden war. Insgesamt begünstigte der Erste Weltkrieg das Vordringen von ethnischen ja, biologistischen Nationsvorstellungen. Unter den Belastungen des totaler Krieges glaubte man eher denjenigen Bürgern vertrauen zu können, die durch das vermeintlich unabänderliche Faktum der Abstammung an den Staat gebun den waren. Der Homogenitätsdruck des Krieges beförderte das Konzept eine »reinen«, geschlossenen Gesellschaft, mithin implizit auch die rassistisch« Ausgrenzung von Menschen ausländischer oder fremdartiger Herkunft. Ir Deutschland verstärkte zudem die rigorose Expansionspolitik die Ethnisierung der Nationsvorstellungen. Bereits das Eintreten für umfangreiche deutsch« Gebietserweiterungen in Kongresspolen erleichterte es den Annexionisten, da deutsche Volk als eine ethnisch homogene Abstammungsgemeinschaft wahr zunehmen. Denn so schien noch am ehesten die Aussicht zu bestehen, ver bindliche Grenzen der deutschen Nation festzulegen und die »natürliche Überlegenheit der Deutschen pseudowissenschaftlich zu begründen. Von deutsch-völkischen Nationalismus ging dabei die größte Bedrohung für di‹ bestehende staatliche Ordnung aus. Ausgerechnet die Vertreibungspolitik de kaiserlichen Regierungsehten auf der Grundlage einer nationalen Rcinheits Vorstellung bedrohte den Nationalstaat von 1871. Doch auch die giftigste ethnische Ausgrenzungsstrategie erklärt losgelös vom konkreten gesellschaftspolitischen Kontext wenig: Nur innerhalb be stimmter Konstellationen sind nationalistische Deutungen in der Lage, politi sehe Entwicklungen zu verstärken oder zu retardieren. Der im ausgebildete parlamentarischen System Großbritanniens bestehende höhere Legitimations druck und die Notwendigkeit, politische Mehrheiten hinter der Rcgierungs politik zu versammeln, begünstigten selbst die Lösung des britischen Irland problems. So hatten die sich durch die Folgen des Krieges zunehmen« verändernden Nationsvorstellungen in Deutschland und in Großbritanniei unterschiedliche Auswirkungen auf die Behandlung der polnischen und de irischen Minderheit. Die britischen Nationalisten nahmen die Iren gleichzeiti 218 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1

als zugehörig und fremd wahr, die deutschen Nationalisten sahen in den Polen ausschließlich Fremde. Im grundsätzlichen Unterschied zur Polenpolitik des Kaiserreiches beeinflusste in Großbritannien das ethnisch motivierte Homogenitätskonzept der Nation in keinem vergleichbaren Maß die Politik der britischen Regierungseliten oder die Vorstellungen der politischen Lager. In Großbritannien setzte sich die Überzeugung durch, Irland zu teilen, nicht aber, es einer völkischen »Austauschsiedlung« zu unterwerfen. Der Abbau kolonialer Elemente in der britischen Herrschaft über Irland und die Bereitschaft, die Iren sich selber zu überlassen, unterschied sich deutlich von der deutschen Polenpolitik. Die faktische Anerkennung des irischen Rechts auf Selbstbestimmung -quer durch alle Parteien hindurch -war auch eine Folge der Rückwirkung der eigenen nationalistischen Kriegsideologie auf die britische Innenpolitik. Die gegen die Mittelmächte erhobene ideologisch-politische Herausforderung des Selbstbcstimmungsrechtes der Völker veränderte, von den Regierungseliten unbeabsichtigt, die britischen Nationsvorstellungen, wie auch die Gründe, aus denen man erklärtermaßen den Krieg führte. Von der Annahme, dass jede sich als Nation verstehende Gruppe, das Recht habe, über ihr eigenes Geschick zu entscheiden, ging eine neue Dynamik mit internationaler Werbewirksamkeit aus, die der ungeschminkten deutschen Expansionspolitik fehlte.

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III. Kritik in der Krise. Der Widerstand gegen die Staatsintervention im totalen Krieg

»Democracy is more vindictive than Cabinets. The wars of peoples will be more terrible than those of kings«. Winston S. Churchill

Bis zum August 1914 war es für einen gesetzestreuen Briten möglich, vom Postboten und der Schulpflicht abgesehen, kaum etwas von der Existenz des Staates zu bemerken. Er konnte, wie AJ.P Taylor pointiert festgestellt hat,1 beliebig und ohne Registrierung seinen Wohnsitz wählen, ebenso frei reisen und benötigte dafür nicht einmal einen Pass. Die große individuelle und institutionelle Freiheit in Großbritannien war auch dadurch gekennzeichnet, dass im Gegensatz zu zahlreichen europäischen Ländern der Staat seine Bürger nicht zum Wehrdienst zwang. Die Einkommensteuer blieb auf einem niedrigen Niveau, und nur allmählich zeichnete sich eine sachte Staatsintervention etwa im Bereich der Sozial- und Gesundheitspolitik ab. Der Erste Weltkrieg schuf in England und in Deutschland eine neue Situation. Auch wenn in Deutschland kein vergleichbares Maß an personeller Freiheit bestanden hatte, öffnete der Erste Weltkrieg in beiden Ländern eine neue Dimension der Staatsintervention und der Kontrolle der individuellen Lebensführung, die selbst nach Kriegsende nicht mehr verschwinden sollten. Der Staat benötigte und erzwang mittelfristig die aktive Teilnahme seiner Bürger an den Kriegsanstrengungen. Ihre Freizügigkeit wurde erheblich eingeschränkt, die Arbeitsbedingungen an der Heimatfront und der Militärdienst an der Front scharf reglementiert. Die Veränderung der bestehenden Gesellschaftsordnung resultierte aus den nach innen gewandten Rückwirkungen einer neuen Kriegführung. Die moderne industrielle Kriegführung erforderte die durchgreifende Umorganisation der Gesellschaft durch den Staat unter dem Primat der kriegswirtschaftlichen Funktionalität. In dem Maße, in dem die materiellen Rüstungsanstrengungen und der Unterhalt eines Massenheeres zur zentralen Aufgabe der Gesellschaft wurden, berührte diese Entwicklung immer stärker die bestehenden Herrschaftsverhältnisse, weil sie die Kontrolle über Menschen und Material neu regelte. Daher verlagerten sich politische Auseinandersetzungen zunehmend auf den Kampf um die Kontrolle dieses Prozesses.2 Die vielfältige staatliche 1 A. Taylor, History, If. 2 Vgl. Μ. (ieyer, Rüstungspolitik, 102-08; sowie (i.D. Feldman, Armee, 148ff.; Mai, Kaiserreich, 91-96; (i.D. Feldman, Streiks, 283f.

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Intervention - besonders die Ausweitung der Rüstungsproduktion und der Abbau zahlreicher individueller und institutioneller Freiheiten - rief langfristig den entschlossenen Widerstand der Bevölkerung und der rivalisierenden politischen Lager hervor. Protestdemonstrationen und Streiks richteten sich nicht mehr allein gegen die privaten Unternehmer, sondern gegen den intervenierenden Staat, dem die politische Verantwortung für die materielle Not, die Beschränkung der Freizügigkeit und die zahllosen alltäglichen Schwierigkeiten angelastet wurden.3 Da aber der Staat unter den Bedingungen des totalen Krieges auf die Mobilisierung und die Loyalität seiner Bevölkerung angewiesen blieb, konnten sozioökonomische Spannungen eine empfindliche militärische Schwächung nach sich ziehen. Eine erfolgreiche Kriegführung setzte daher eine entsprechende innere Konfliktregelung, etwa in Gestalt politischer Reformen und der Erfüllung von Partizipationsansprüchen Unterprivilegierter voraus.4 Drei Tendenzen kennzeichneten die Verstaatlichung der Kriegsproduktion: erstens, der Versuch der Regierungen in Berlin und London, die Gesellschaft unter dem Primat ihrer kriegswirtschaftlichen Funktionalität umzuorganisieren. Das begünstigte, zweitens, die oppositionelle Selbstorganisation verschiedener Gruppen und politischer Lager, allen voran der Arbeiterbewegung, gegen den kriegführenden Staat. Als dritte Tendenz ergab sich damit eine neue Politisierung der sozioökonomischen und der inneren Konflikte insgesamt. Eine zentrale Rolle sowohl bei der Legitimation der staatlichen Zwangsmaßnahmen als auch beim Widerstand gegen diese kam nationalistischen Deutungsmustern zu. Die massiven staatlichen Eingriffe in die bestehende Ordnung ließen sich nur mit der Berufung auf die durch den Krieg in ihrer Existenz bedrohte Nation und mit der Notwendigkeit, den angegriffenen Nationalstaat zu verteidigen, rechtfertigen. Gleichzeitig aber begünstigte die kriegswirtschaftlich bedingte und auch semantisch wie ideologisch vollzogene Aufwertung gesellschaftlich Minderprivilegierter, dass sie unter Berufung auf ihre Zugehörigkeit zur Nation und ihre kriegsrelevante Leistung beanspruchen konnten, sich staatlichen Eingriffen zu widersetzen. Mehr noch: Oppositionelle Gruppen konnten die staatliche Herrschaft in dem Maße problematisch machen, in dem es ihnen unter dem Druck der Kriegslage gelang, selber das nationale Gemeinwohl zu definieren. Die fundamentale Politisierung der Gesellschaft tat schließlich ein übriges, um nationalistisch überformten Argumentationsmustern, Vorstellungen und Interessenrechtfertigungen ein fruchtbares Feld zu eröffnen und ihrerseits den gesellschaftlichen Spaltungsprozess weiter zu verstärken. Die Auseinandersetzung um die Rolle der Staatsintervention wird zunächst im 3 Vgl. G.D. Feldman, Streiks, 272-77; Kocka, Klassengesellschaft, 131-33; Boll, Spontaneität, 344f. 4 Vgl. Kocka, Klassengesellschaft, 122f; M. Geyer, Rüstungspolitik, 108-16.

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Arbeitsleben anhand der großen politischen Streikwellen in Deutschland und Großbritannien untersucht, worauf der zweite Abschnitt das Problem der militärischen Mobilisierung am Beispiel des Kampfes um die Einführung der Wehrpflicht in Großbritannien behandelt.

1. Die Grenzen der Arbeiterloyalität a) »Wir sind das Volk«: Das Hilfsdienstgesetz und die Streikwellen in Deutschland Die Vorstellung von einem kurzen Krieg war angesichts der militärischen Pattsituation im Herbst 1914 zerstoben. Hatten die Generalstäbe in allen europäischen Ländern einen kurzen Krieg auch deshalb erwartet, weil man einen längeren Stillstand des Wirtschaftslebens für undenkbar hielt, ermöglichte gerade die kriegswirtschaftliche Organisation der Volkswirtschaft eine lange Kriegsdauer. In Deutschland offenbarten die gewaltigen Verluste bei Verdun und an der Somme 1916 endgültig die Grenzen einer improvisierten und lediglich die knappen Ressourcen verwaltenden Kriegswirtschaft. Das Dilemma, vor dem die Reichsleitung stand, bestand darin, dass »der angestrebte Sieg, der den inneren Status quo garantieren sollte, [...] mehr und mehr die sehr grundsätzliche Änderung dieses Status quo« voraussetzte.5 Das Unvereinbare zu vereinbaren sollte die am 29. August 1916 unter Hindenburg und Ludendorff neu berufene 3. OHL bewerkstelligen. Sie setzte auf eine enorme Steigerung der Kriegsproduktion einerseits und auf die gezielte staatliche Organisation des Arbeitslebens andererseits. Die Ziele des »bis zur Utopie ehrgeizigen«6 HindenburgProgramms sahen eine Erhöhung der Produktion im Bereich von Material und Munition binnen weniger Monate vor, ein Ziel, das sich auch langfristig kaum verwirklichen ließ. Um diese gewaltige Produktionssteigerung bewerkstelligen zu können, entwarf man in der neuen OHL, nicht zuletzt unter dem Druck der Schwerindustrie, eine Gesetzcsvorlage, die für die »Heimatfront« eine vollständige Mobilisierung aller männlichen und weiblichen Arbeitskräfte durch militärische Zwangsmaßnahmen zu erreichen suchte. Weil dieser Schritt aber die Grundrechte der Arbeiterschaft empfindlich berührte, fühlten sich die Vertreter der Gewerkschaften und der MSPD dazu berechtigt, Gegenleistungen zu fordern. Dabei war die Ausweitung der Staatsintervention und der Arbeits5 Kocka, Klassengesellschaft, 123. 6 Herzfeld, Weltkrieg, 262. Vgl. (i.D. Feldman, Armee, 134-48; M. Geyer, Rüstungspolitik,

102-06.

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pflicht an sich gerade in den Reihen der organisierten Arbeiterbewegung weithin unumstritten. Nur stellte man sich hier die staatliche Umgestaltung der Privatwirtschaft auf andere Weise vor. Die Verhandlungen um das »Gesetz über den Vaterländischen Hilfsdienst« (HDG) von 1916 bilden eines der wenigen Beispiele dafür, dass die organisierte Arbeiterbewegung ihre Zustimmung für eine wesentliche Kriegsmaßnahme von weitreichenden politischen und sozialen Gegenleistungen abhängig machte. Im Hauptausschuss der Reichstages gelang es den Sozialdemokraten, unter dem Protest der Konservativen die Regierungsvorlage entscheidend zu verändern und Forderungen durchzusetzen, die sich im Frieden nicht hatten realisieren lassen. So unterwarf das HDG auf der einen Seite jeden männlichen Deutschen zwischen dem 17. und dem 60. Lebensjahr der Hilfsdienstpflicht: Demnach konnte er zwangsweise zur Arbeit herangezogen und aus seinem bisherigen Arbeitsverhältnis in rüstungswichtige Betriebe überwiesen werden. Zudem konnten Dienstverpflichtete ihre Beschäftigung nur mit Zustimmung des Arbeitgebers kündigen. Verstöße gegen das Gesetz wurden empfindlich - gegebenenfalls auch mit Gefängnis bestraft. Damit schränkte der Staat auf der einen Seite die individuelle Freizügigkeit ein und hob bestehende Rechte auf Unter dem Druck des totalen Krieges kriminalisierte der Staat in Analogie zum Militär abweichendes Verhalten auch im Arbeitsleben.7 Auf der anderen Seite aber garantierte das HDG gleichzeitig, bei einer Mindestzahl von fünfzig Beschäftigten, ständige Arbeiterausschüsse, die Vorläufer der modernen Betriebsräte. Zudem konnten die Arbeiter bei Lohn- und Arbeitsfragen an paritätisch besetzte Schlichtungsausschüsse appellieren.8 Die Reichstagsdebatte über das HDG vom 29. November bis 2. Dezember 1916 war von seltener Einmütigkeit geprägt. Unter dem Beifall von rechts und links erklärte Bethmann Hollweg, dass angesichts der beispiellosen Opfer, welche die Verteidigung der Vaterlandes gefordert hätte, sich auch an der Heimatfront niemand seiner nationalen Dienstpflicht entziehen dürfe.9 Ernsthafter Widerstand gegen die Gesetzesvorlage kam nur von einer überraschenden Koalition aus Vertretern der reaktionären DKP und der Minderheitssozialisten, die um die neuerliche Beschneidung der Arbeiterrechte fürchteten. Das Presseecho spiegelte diese Stimmungslage wider. Die »Kreuzzeitung« unterdrückte ihren Widerwillen mühsam, die »Leipziger Volkszeitung« gar nicht: Das Gesetz stelle eine unzumutbare Verschlechterung der Arbeitsverhältnisse dar und könne »durch den rührenden Hinweis auf die Leiden unserer feldgrauen Volksgenossen, auf die Hilfe, die wir ihnen schuldig sind, nicht gerechtfertigt wer7 Vgl. M. Geyer, Rüstungspolitik, 110. 8 Vgl. zu den Bestimmungen des HDG bes. (i.D. Feldman, Armee, 169-206; Mai. Kriegswirtschaft, 167-217; Huber, Verfassuntisgeschichte, 101-09. 9 Sten. Her. RT, Bd. 308, 2156 (29.11.1916). Vgl. Ebd. 2155-94 (29.11.1916. 2290-2327 (2.12.1916).

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den«.10 Die große Mehrheit der gemäßigt linken und liberalen Blätter dagegen, begrüßten das HDG als historischen »Siegestag der Gewerkschaften«, ja, als Erfolg der sozialdemokratischen Partei insgesamt.11 Tatsächlich markierte das HDG einen entscheidenden Schritt hin zur Anerkennung der Gewerkschaften. Da sich auch die 3. OHL keinen Bürgerkrieg im Weltkrieg leisten konnte, musste die neue Dimension der Staatsintervention und der damit verbundene erweiterte Zwang durch politische und soziale Gegenleistungen für die Betroffenen akzeptabel gemacht werden. Gegenüber dem Bundesrat brachte der Chef des Kriegsamtes, Generalleutnant Wilhelm Gröner, die neue Schlüsselstellung der Arbeiterschaft im Vorfeld der Verhandlungen über das HDG klar zum Ausdruck: »Gegen die Arbeiter können wir diesen Krieg überhaupt nicht gewinnen. Innerpolitische Bedenken müssten daher zurücktreten, und wir müssten alle politischen Ansichten lediglich auf den Gedanken einstellen, wie der Krieg zu einem siegreichen Ende zu bringen sei«.12 Allem Anschein nach versprach das aktive Bekenntnis zum kriegführenden Nationalstaat der Arbeiterbewegung einen Partizipationsgewinn, der durch eine oppositionelle Haltung nicht zu erreichen war. Doch der partielle politische und soziale Erfolg der Arbeiterbewegung bei den Verhandlungen um das HDG stand in keinem Verhältnis zu den massiven ökonomischen und sozialen Belastungen, die der weitere Kriegsverlauf mit sich brachte. Die gesellschaftlichen Spannungen wurden durch drei Faktoren entscheidend verschärft, die sich bis 1917 ineinander verschränkten: Erstens erreichten die materielle Not und die katastrophale Ernährungslage seit dem Winter 1916/17 ein für die überproportional hart getroffenen Arbeiterklassen unerträgliches Ausmaß. Da nur die Kosten des Krieges, nicht aber die Gewinne sozialisiert wurden, hatte die wachsende materielle Not eine gesellschaftliche Ungleichheit enthüllende Wirkung. Die ungleiche Verteilung knapper Güter wirkte innerhalb der breiten Bevölkerung aufreizender als die Knappheit der Güter selber.13 Zweitens lösten die faktische Verschärfung der ökonomischen und sozialen Klassenunterschiede bei weitgehender Beibehaltung der politischen vor allem innerhalb der Arbeiterschaft große Empörung über die verletzten Gleichheitsansprüche und über die Travestie des nationalen Einheitsversprechens von 1914 aus.14 Die Hoffnung, die auch viele Arbeiter 1914 auf eine gleichberechtigte Teilhabe an der deutschen Volksgemeinschaft gehegt 10 LV, 4.12.1916, 1. Vgl. NPZ (A), 5.12.1916, 4. 11 VO, 2.12.1916,2. Vgl. BT (A), 1.12.1916, 1. 12 Dcist, Militär, 513 (9.11.1916). Entsprechend das BT (M), 26.11.1916, lt. Vgl. insgcs.G.D. Feldman, Armee, bes. 176f, 204-06; Mai, Kriegswirtschaft, 197-208; ders., Kaiserreich, 98-102. 13 Vgl. Kocka, Klassengesellschaft, 33-35; Boll, Massenbewegungen, 193-206; ders., Konversion, 278f. 14 Vgl. zur Erosion der offiziellen nationalen Rhetorik innerhalb der Leipziger Arbeitcrbewcgunii; McKibbin, Leipzig, 235-51.

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hatten, war durch die Zunahme der Klassenspannungen und die Realität des modernen Krieges enttäuscht worden. Besonders die geringen Fortschritte in der Frage der Abschaffung des undemokratischen Dreiklassenwahlrechts in Preußen wurden spätestens ab dem Frühjahr 1917 zum verhassten Symbol für die Reformunwilligkeit und -Unfähigkeit des Kaiserreichs.15 Drittens schließlich gaben in Russland die Februarrevolution und die sozialistische Oktoberrevolution ein Leitbild für die Friedenssehnsüchte der Arbeiterschaft ab. Zwar strebte die Mehrheit der Arbeiterschaft für Deutschland keine Imitation der russischen Räteherrschaft an, sondern eine parlamentarische Republik. Doch eröffnete die erfolgreiche Revolution eine Perspektive, dem staatlichen Gewaltapparat zu trotzen. Das Mittel dazu bestand in der Selbstorganisation der Arbeiter gegen den alle Lebensbereiche durchdringenden und reglementierenden Zwangsstaat. Vor allem die großflächige Niederlegung der Arbeit bildete ihre schärfste Waffe gegen den kriegführenden Staat. Streiks stellten im Ersten Weltkrieg aufgrund ihrer ökonomischen und militärischen Bedeutung ein Politikum erster Ordnung im In- und Ausland dar. In Deutschland wie in Großbritannien begriffen die Zeitgenossen das Auftauchen oder das Ausbleiben von Streiks als ein wesentliches Indiz für die Durchhaltefähigkeit des eigenen wie des feindlichen Landes. Kennzeichnend für die neue Politisierung der durch den langen Krieg zermürbten Bevölkerung wurde die Tatsache, dass die Grenze zwischen ernährungs- und betriebsbedingten Streiks auf der einen und politische Forderungen erhebenden Streiks auf der anderen allmählich verschwand. Da der kriegführende Staat für die Nahrungsmittelsorgen die Verantwortung trug, richteten sich auch Ernährungsstreiks latent gegen den Krieg und den Staat.16 Wegen seiner ausgreifenden Interventionsund Zwangsmaßnahmen machte man den Staat tendenziell für alle Aspekte der Misere verantwortlich und forderte durch den Streik seine Autorität heraus. Nach dem Ausbruch des Weltkriegs ging die Anzahl der Streiks zunächst deutlich zurück.17 Die Ursachen dafür lagen darin, dass zahlreiche männliche Arbeiter eingezogen wurden, der Staat gegen Streikende äußerst repressiv vorging, den Lohnforderungen der Arbeiter oft entsprochen wurde und nicht zuletzt im Bekenntnis der organisierten Arbeiterbewegung zum Burgfrieden. Doch als Folge der genannten Entwicklung vollzog sich eine allmähliche Radikalisierung der Arbeiterschaft. Dieser Prozess war nicht nur durch die Abspaltung der USPD von der SPD gekennzeichnet, sondern vor allem durch die Entstehung neuer Organisationsstrukturen »von unten«. Da die Gewerkschaften ihre unlängst gewonnene Aufwertung nicht gefährden und dazu benutzen wollten, der Regierung und den Arbeitgebern Konzessionen abzurin15 Vgl. Kapitel IV. 1. 16 Vgl. Davis, Home, passim; Boll, Spontaneität, 344-57; Hieber, Gewerkschaften, 442. 17 Soweit die unzuverlässigen Statistiken für die Kriegsjahre erkennen lassen, von etwa 2100 (1913) auf 137 bzw. 240 in den Jahren 1915 und 1916. Kocka, Klassengesellschaft, 51f

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gen, taten die Gewerkschaftsfunktionäre in der Regel ihr Bestes, um in Zusammenarbeit mit den Behörden die Streiks nach Kräften unter Kontrolle zu bringen. Die Position der Gewerkschaften wurde dadurch bei organisierten, aber auch bei unorganisierten Arbeitern erschüttert. Besonders die unter dem Einfluss des linken Flügels der USPD stehenden »Revolutionären Obleute« in den Metallbetrieben initiierten in Gegnerschaft zu den Gewerkschaften radikale Aktionen und politische Streiks.18 Im April 1917 kam es in Deutschland zur ersten großen politischen Streikwelle. Aus Anlass der Herabsetzung der Brotration legten am 16. April in Berlin, Leipzig, Magdeburg, Kiel und in anderen großen Städten spontan einige Hunderttausend ihre Arbeit nieder. Allein in Berlin beteiligten sich 217.000 Arbeiter und hielten in der Stadt eine Großdemonstration ab. Besonders in Leipzig wurden von Anfang an nicht nur Forderungen nach einer Verbesserung der Ernährungslage und der Kohleversorgung laut. Die Streikenden verlangten vielmehr auch einen Frieden ohne Annexionen, die Aufhebung des Belagerungszustandes und der Zensur, die Beseitigung des Hilfsdienstgesetzes und das allgemeine und gleiche Wahlrecht in allen Bundesstaaten.19 Nach der Erfüllung einiger ökonomischer Forderungen, der Gegenaktion der Gewerkschaftsfunktionäre und massiver Sanktionen der Militärbehörden, die von Haftstrafen bis zur Abkommandierung zur Front reichten, war der Streik bis zum 23. April beendet.20 Zwar war das Streikrecht der Arbeitnehmer selbst unter dem HDG nicht aufgehoben, doch als rechtlich statthaft galt allenfalls ein Protest, der auf die Verbesserung der Lohn- und Arbeitsbedingungen zielte.21 Der Aprilstreik aber war ein politischer Streik, der sich letztlich nicht gegen die Arbeitgeber, sondern gegen den Staat und seine Zwangspolitik richtete und diesen seinerseits zur Intervention zwang. Da der Streik die für den Kriegsverlauf entscheidende Rüstungs- und Matcrialproduktion gefährdete, verwundert es nicht, dass nicht nur die Staatsmacht, sondern auch eine breite Koalition von rechts außen bis zur liberalen Mitte den Ausstand verdammte. Selbst die »Frankfurter Zeitung« stellte fest: »Wir befinden uns in einem Verteidigungskrieg beinahe gegen die ganze Welt. [...] Das ist nun wahrhaftig nicht die Zeit zu Experimenten und Demonstrationen, die unsere Rüstung schädigen können«.22 Schärfer noch verurteilte die katholische »Germania« den Streik und betonte, dass kein Motiv in 18 Vgl. Winkler, Obleute, passim; Bieber, Gewerkschaften, 445-55; Kocka, Klassengesellschaft, 52f, und zur Rolle der hochpolitisierten Rüstungsarbeiter: Boll, Konversion, 281-88. 19 Vgl. Miller, Burgfriede, 290-98; G.D. Feldman, Armee, 270-75; Ullrich, Arbeiterbewegung, 366-71. 20 Vgl. G.P. Feldman, Armee, 271f; Boll, Massenbewegungen, 249f; Huber, Verfassungsgeschichte, 112f 21 Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte, 113-15. 22 FZ (A), 27.4.1917, 2.

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Kriegszeiten einen Ausstand rechtfertige, der nur dem Feind nutze. DemStreik zugrunde liege die »gemeingefährliche Ausbeutung einer gewissen in der Arbeiterschaft vorhandenen Missstimmung über unvermeidliche Schwierigkeiten bei der Nahrungsmittelverteilung durch unverantwortliche Agitatoren zu politischen Zwecken, die [...] nur zum Nutzen unserer Feinde ausschlagen kann«.23 Damit war das zentrale »nationale« Argument ausgesprochen, mit der den streikenden Arbeitern die Legitimationsgrundlage ihres Handelns abgesprochen wurde: Ein Streik in Kriegszeiten bedeute Landesverrat. Da ein Streik »eine unsühnbare Schuld am Heer und besonders an dem Mann im Schützengraben, der dafür bluten muss, darstellt«, laufe er »auf krassesten Landesverrat hinaus. [...] Das deutsche Volk [...] steht jedenfalls nicht hinter Männern, die gleichgültig zuschauen können, wie kostbares deutsches Blut maßlos in Strömen vergossen wird«.24 Wie später in der Dolchstoßdebatte beurteilte man bereits während des Ersten Weltkriegs Streiks als Stoß in den Rücken des kämpfenden Volkes. »Nie würde das deutsche Volk es jenen Arbeitern vergessen haben«, mahnte die »Kölnische Zeitung«, »dass sie ihm in der Zeit seiner schwersten Not in den Rücken gefallen sind«.25 Weiter noch ging Bethmann Hollweg in einem offenen Brief, in dem er Streikende aus der deutschen »Volksgemeinschaft« ausgrenzte. »Wer unseren tapferen Kriegern in diesem heiligen Kampfe ehrlos und treulos in den Rücken fällt, der stellt sich außerhalb der Volksgemeinschaft, und soll von der ganzen Schärfe des Gesetzes getroffen werden«.26 Gerne griff man in der offiziellen nationalistischen Rhetorik auf Archaismen und Euphemismen (»Krieger«, »heiliger Kampf«) zurück, um »richtiges« nationales Verhalten über abweichendes zu erheben. Im Krieg der »Volksgemeinschaft« war für die Austragung legitimer ökonomischer und politischer Differenzen im Arbeitsleben kein Platz. Indem man die Heimatfront semantisch, ideologisch, aber auch institutionell in die Nähe der militärischen Front verlegte, unterstellte man jedem Zivilisten wenigstens implizit militärischer Disziplin, die keine legitime Alternative zum staatlichen Gehorsam zuließ. Selbst in der liberalen »Frankfurter Zeitung« stand anlässlich des Streiks zu lesen: »Diejenigen aber, die anders denken, werden das ganze Volk gegen sich haben!«27 Die fundamentale Ausgrenzung Oppositioneller aus der »Volksgemeinschaft« mit Hilfe eines bipolaren nationalistischen Ordnungssystems legte den Verdacht nahe, dass Streikende mit dem äußeren Feind im Bunde stünden. Zahlreiche Blätter vermuteten offen, dass »die bewussten oder unbewussten Helfer unserer Feinde« von »englischen Schweinehunden bestochen worden sein« 23 24 25 26 27

GE (M), 27.4.1917, 1 (Herv. i. Orig.)ΝΑ (2.Μ), 20.4.1917, 1; GE (M), 27.4.1917. 1. Entsprechend KLZ (2.M), 29.4.1917, 1f. KLZ (A), 21.4.1917, 1. ΝΑ (2.Μ), 26.4.1917, 1. FZ (A), 27.4.1917, 2.

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mussten.28 Wie sehr der Appell an die Einheit der Nation und die gebetsmühlenartige Wiederholung, in einem Kampf um das Dasein des deutschen Volkes zu stehen, die Verschmelzung des äußeren mit dem inneren Feind bewirkte, zeigte exemplarisch der Aufruf Generalleutnant Groeners an die streikenden Rüstungsarbeiter. In allen reichsweit erscheinenden Zeitungen stand zu lesen: »Ihr werdet erkennen, wo unsere schlimmsten Feinde stecken. Nicht draußen bei Arras, an der Aisne und in der Champagne[...] . Nicht drüben in London. [...] Die schlimmsten Feinde stecken mitten unter uns - das sind die Kleinmütigen und die noch viel Schlimmeren, die zum Streik hetzen. Diese müssen gebrandmarkt werden vordem ganzen Volke, diese Verräter am Vaterlande und am Heere«.29 Zwar koppelte General Groener seinen Angriff auf streikende Arbeiter mit einer Attacke gegen die Kriegsgewinnler und diejenigen im Unternehmerlager, welche die Rechte der Arbeiter einzuschränken suchten. Und auch die »Münchner Neusten Nachrichten« verurteilten Spekulanten und Profiteure: Derjenige, der »durch Preistreibereien den minderbemittelten Klassen das Nötigste unerschwinglich teuer macht, versündigt sich ebenso an der Nation wie der feiernde Rüstungsarbeiter«.30 Doch nur eine linksliberale und linksstehende Minderheit brachte den Streikenden ein weitergehendes Verständnis entgegen. Dabei hatte sie sichtlich Probleme, das Verhalten der Arbeiter gegen den Vorwurf des nationalen Verrates zu verteidigen. Das »Berliner Tageblatt« titelte: »Sie sind und werden keine Landesverräter« und suchte in Übereinstimmung mit den politischen Forderungen der Streikenden in einer scharfsinnigen Analyse nachzuweisen, dass man gerade im Krieg nicht zwischen berechtigten wirtschaftlichen und unberechtigten politischen Demonstrationen unterscheiden könne: »Auch im bedrohten Deutschland gibt es keine wirtschaftliche Volksbewegung, die nicht zugleich politisch wäre. [...] Die Ernährungsschwierigkeiten, soweit sie auf der höchst ungleichmäßigen Verteilung beruhen, [...] sind nämlich in ganz hervorragendem Maße zugleich Verfassungsfragen«.31 Für die linke Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft verwies Georg Ledebour im Reichstag den Verdacht, streikende Arbeiter stünden im Sold der Feinde, ins Reich der Legende.32 Und der »Vorwärts« billigte einerseits die Motive der Streikenden, suchte aber andererseits einigermaßen mühsam gegen die Vorwürfe von rechts nachzuweisen, dass die Arbeiter »die Notwendigkeit der Landesverteidigung« nicht verkannten.33 Diesen tradierten antinationalen Vorwürfen und den daraus resultierenden Legitimationsschwierigkeiten ihres 28 G E ( M ) , 27.4.1917, 1; AHB, 5.5.1917, 209. 29 NA (2.M), 27.4.1917, 1 (Herv. i. Orig.). Entsprechend u.a. M N N (M), 27.4.1917, 1; FZ (A), 27.4.1917, 1. Vgl. G.O. Feldman, Armee, 276f. 30 M N N (M), 27.4.1917, 1. 31 BT (M), 28.4.1917, 1. 32 Sten. Ber. RT. Bd. 309, 2940f. (24.4.1917). 33 VO, 17.4.1917,2.

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Handelns stellte sich die Arbeiterbewegung bis zum Jahre 1918 nicht mehr. Die Handlungsspielräume von Massenbewegungen hatten sich unter der Anspannung des letzten Kriegsjahrcs und nach der russischen Revolution erhöht, da nur ihre Vertreter und nicht kleine Eliten glaubhaft beanspruchen konnten, die »Nation« zu verkörpern. Der Januarstreik 1918 wurde aus Widerwillen gegen anhaltende staatliche Repressionen zum stärksten Ausdruck der Systemkritik und zur »Generalprobe für die Novemberrevolution«.34 Die ungebrochene staatliche Unterdrückung und die Enttäuschung über die ausbleibende innere Demokratisierung, die wachsende materielle Not und Friedenssehnsucht ließen auch innerhalb der unorganisierten Arbeiter oft die Erkenntnis reifen, dass eine Besserung ihrer materiellen Bedingungen von der Durchsetzung ihrer politischen Forderungen abhing.35 Als die Nachricht von dem erfolgreichen Massenstreik in Osterreich im Januar 1918 nach Deutschland drang, fassten die Berliner Revolutionären Obleute den Entschluss, auch hier den Arbeitskampf zu wagen. Auf Antrag ihres Anführers Richard Müller beschlossen die Vertreter aller Großbetriebe, den Streik am 28. Januar zu beginnen. An diesem Tag legten allein in Berlin wenigstens 200.000 Menschen ihre Arbeit nieder. Damit war das Signal für die umfangreichste Streikwelle in Deutschland im Ersten Weltkrieg gegeben. In den nächsten Tagen folgten Ausstände in Hamburg, Kiel, Köln, Bielefeld, Breslau, Leipzig, Nürnberg, München und in beinahe allen Industriezentren des Reiches. Obwohl die Behörden ein Interesse daran hatten, möglichst niedrige Zahlen vorzulegen, kann von 300.000 Streikenden in Berlin, 200.000 im rheinisch-westfälischen Industriegebiet, 30.000 in Hamburg und etwa einer Million im ganzen Reich ausgegangen werden.36 Die Berliner Delegiertenversammlung der Arbeiter stellte am 28. Januar sieben Forderungen auf, die im wesentlichen bereits im April 1917 in Leipzig erhoben worden waren und sich wiederum direkt gegen die Regierung richteten. Die Streikenden verlangten einen Frieden ohne Annexionen, die Aufhebung des Belagerungszustandes und der Zensur, die Beseitigung des Hilfsdienstgesetzes und die Reform des Wahlrechts in Preußen. Um eine möglichst breite Basis zu mobilisieren, nahm die Streikleitung auch eine Nahrungsmittelforderung in ihr Programm auf, ließ diese aber erst an dritter Stelle folgen.37 Nach Aufforde34 Rosenberg, Entstehung, 181. 35 Über diesen Zusammenhang machte sich auch die Regierung keine Illusionen. Vgl. HA R1501 112476 Bl. 188-91 (13.2.1918); NA, 3.2.1918, 1f. 36 Offiziell ging man für Berlin von 180.000 Teilnehmern aus. Vgl. GStPK Rep. 90a, Β III, 2 b, Nr. 6, Bd. 167, Bl. 39 (4.2.1918). Vgl. die Zahlen bei Rosenberg, Entstehung, 184-87; Huber Verfassungsgeschichte, 435; Miller, Burgfriede, 374f, und zu Hamburg, Ullrich, Arbeiterbewe­ gung, 517-32, zum Ruhrgebiet, Engelmann, Januarstreik, 95-104, und zu Bayern, Boldt, Januar­ streik, 5-42; Ay, Entstehung, 196-201. 37 Vgl. die Forderungen u.a. in BZ, 29.1.1918, 2; sowie Boll, Konversion, 283f; Huber Verfassungsgeschichte, 436; Husung, Arbeiterschaft, 641.

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rung durch den Berliner Arbeiterrat entschloss sich die USPD, aber auch die SPD, Vertreter in die Streikleitung zu entsenden. Obwohl die SPD Streiks in Kriegszeiten prinzipiell ablehnte, kam die Anerkennung der Unvermeidbarkeit des Streiks einer verhüllten Billigung gleich. Um die Machtprobe mit der Regierung nicht ganz ohne die SPD stattfinden zu lassen und dadurch weiter an politischem Gewicht zugunsten radikaler Strömungen zu verlieren, war dieser Schritt für die SPD unvermeidlich geworden.38 Denn die gleichzeitige Neutralitätserklärung der Gewerkschaften bedeutete ihr Eingeständnis, dass sie den Einfluss auf weite Teile der Arbeiterbewegung verloren hatten.39 Die Bemühungen der SPD, den Konflikt zu entschärfen, honorierten die Machthaber überhaupt nicht. Vielmehr intervenierte das Militär noch einmal mit eiserner Faust. Die Behörden weigerten sich unter Druck der OHL, mit den Streikenden überhaupt zu verhandeln. Am 29. Januar wurde der »Vorwärts« für drei Tage verboten, und die OHL riet der übrigen Presse nachdrücklich, den Streik zu verurteilen.40 Am 31. Januar verhängten die Militärs den verschärften Belagerungszustand über Berlin. Die Arbeiterversammlungen wurden verboten, zahlreiche Munitionsfabriken und kriegswichtige Betriebe unter militärische Aufsicht gestellt. Die meisten Revolutionären Obleute und über 40.000 Streikteilnehmer wurden unverzüglich mit dem Vermerk »B 18« (Berlin 1918) zur Armee einberufen, rund zweihundert ins Gefängnis geworfen. Am 4. Februar 1918 brach der Streik zusammen.41 Mit dem Vorwurf gegen die Arbeiter, durch ihren Streik Landesverrat betrieben zu haben, legitimierte die Regierung ihr rigoroses Eingreifen. Da ein Streik in Kriegszeiten die Existenz des Staates bedrohe, wähnten sich die Verantwortlichen juristisch, politisch und moralisch auf der gerechten, »nationalen« Seite. »Es sei Tatsache«, informierte Innenminister Bill Drews seine Kabinettskollegen, »dass ein Streik in militärisch wichtigen Betrieben auch dann Landesverrat darstelle, wenn er nicht mit der Absicht unternommen sei, dem Feinde Vorschub zu leisten. Deshalb liege ein Verbrechen vor, und darüber könne 38 Her Regierung war durchaus klar, warum die SPD in die Streikleitung eingetreten war: »Für die Mehrheit der Sozialdemokratie [kam] der Glaube [hinzu], die Streikbewegung würde alsbald einen allgemeinen Umfang annehmen und auf so große Teile der Arbeiterschaft übergreifen, dass Gefahr für die Mehrheit im Verzuge war, die Führung der Arbeiterschaft vollends an die Minderheit zu verlieren«, HA R1501 112476 B1.191 (13.2.1918). Entsprechend unterrichtete Innenminister Hill Drews seine Kabincttskollcgcn GStPK Rep. 90a, Β I I I , 2 b, Nr. 6, Bd. 167, Bl. 39f. (4.2.1918). 39 Vgl. Rosenberg, Entstehung, 186f; Bieber, Gewerkschaften, 451-53; Huber, Verfassungs­ geschichte, 437-39 40 Aus der Pressebesprechung der Oberzcnsurstellc verlautete: »Die Oberste Heeresleitung fordert von der gesamten Presse, auch der linksstehenden, in diesem [d.h. in ihrem - S O M ) Sinne den Streik zu brandmarken und zu verurteilen«, BA R1501 112328, B1.445 (4.2.1918). 41 Vgl. G.D. Feldman, Armee, 360-64; Huber, Verfassungsgeschichte, 439—45; Bieber, Ge­ werkschaften, 454.

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nicht verhandelt werden«.42 Nach der Judikatur des Reichsgerichts handele es sich um versuchten Landesverrat, mithin um ein Verbrechen im Sinne des Reichsstrafgesetzbuches, was auch Oberstleutnant Bauer in einer unterstützenden Stellungnahme der OHL versicherte.43 Indem die Reichslcitung Streiks mit Hochverrat gleichsetzte, erhielt sie eine unmittelbar einleuchtende und augenscheinlich so unwiderlegbare Möglichkeit, den politischen Gegner zu erfassen und fundamental auszugrenzen, dass auch die Mehrheit der konservativen und katholischen Presse diese Beurteilung teilte. Außerdem fügte sich diese Denkfigur nahtlos in das tradierte und durch die Erfahrung der Burgfriedenspolitik nur dünn übertünchte Bild der »vaterlandslosen« Arbeiterbewegung ein. Die »Kreuzzeitung« etwa fand ihr altes sozialdemokratisches Feindbild bestätigt und unterstrich den »hochverräterischen Charakter« und »durchaus revolutionären Akt« des Streiks.44 Alle seien »Verbrecher am Vaterlande und am Leben unserer draußen stehenden Söhne [...], [welche] jetzt mit frechem Lächeln herausfordernd durch die Straßen bummeln«.45 Auch die Christlichen Gewerkschaften verurteilten das »verantwortungslose und verbrecherische Treiben gegen unsere Kameraden und Volksgenossen an der Front, gegen unser Vaterland«, und die »Kölnische Volkszeitung« griff auf die gängige Metapher vom Dolchstoß zurück und polemisierte gegen den »Dolchstoß in den Rücken unserer Kämpfer[...]. Es ist also tatsächlich Landesverrat, wessen sich die Streikführer und die bewusst ihnen Folgenden zu schulden kommen lassen«.46 Körperbilder stellten traditionell ein verbreitetes Deutungsmuster für die Selbst- und die Fremdwahrnehmung einer sich als Nation begreifenden Gesellschaft dar. Die Körpermetapher vom hinterrücks erdolchten Heer und dem mit diesem gleichgesetzten deutschen Volk half, den komplexen Sachverhalt in bekannte Kategorien zu übersetzen. Das Bild bündelte konkrete Assoziationen und Ängste und veranschaulichte so für jedermann nachvollziehbar, welcher elementaren und gleichsam persönlichen Bedrohung sich die Nation im Krieg ausgesetzt sah.47 Die Kriminalisierung und die Pathologisierung des politischen Gegners mit Hilfe der nationalistischen Sprache stellte zwar kein Novum dar, erreichte aber in der Endphase des Ersten Weltkriegs angesichts der dramatischen Verschärfung der gesellschaftlichen Spannungen eine neue Dimension im rechten politischen Spektrum. Zahlreiche Zeitungen aus dem konservativen, katholi42 GStPK Rep. 90a, Β I I I , 2 b, Nr. 6, Bd. 167, Bl. 40 (4.2.1918). Vgl. auch NA, 3.2.1918, 1f. 43 Deist, Militär, 1194t. (21.2.1918). 44 NPZ (A), 29.1.1918, 1. 45 Ebd., 3. 46 RWZ (Ml), 29.1.1918, 1; KV (MI), 29.1.1918, 1. Vgl. zur Dolchstoßmctapher auch KLZ (1.M), 6.2.1918. 1; GE (M), 31.1.1918, 1; sowie Verhey, Spirit, 219-23. 47 Vgl. Baxmann, Körper, 353-65; Goltcnnann, Körper, passim.

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schen und rechtsliberalcn Lager kontrastierten das »Verbrechen« des Ausstandes und die »verbrecherische« Tat der Streikenden mit dem Vertrauen auf den »gesunden Sinn der deutschen Arbeiter«, als deren Sachwalter man sich begriff.48 Obwohl sich der »bolschewistische Bazillus in Deutschland« ausgebreitet habe, ändere das wenig am insgesamt »gesunden Sinn der Massen«.49 Schließlich konnte das deutsche Volk in seiner Gesamtheit nie fehlen. Die Kriminalisierung und Biologisierung der Feindschaft erleichterte nicht nur die Bestimmung von Recht und Unrecht, sondern begünstigte auch eine kompromisslose -weil »natürliche«, »legitime« und »notwendige« -Ausgrenzung des politischen Gegners. Indem man Kriminalität und Krankheit - in den Worten der »Rheinisch-Westfälischen Zeitung« »Verrat und Wahn« - ineinander verschränkte und als Ursache des Verhaltens der Streikenden ausmachte, setzte man den politischen Gegner mit dem nationalen Übel gleich, das die Volksgemeinschaft befallen hatte.50 Mit den Auffassungen von Kranken und Wahnsinnigen aber brauchte man sich nicht weiter auseinander zu setzen, sondern musste vielmehr die Betroffenen entweder heilen oder »unschädlich« machen.51 Obwohl fast automatisch allerorten die Vermutung laut wurde, dass bei der Entstehung des Streiks »die Agenten der Feinde« ihre Hände im Spiel gehabt haben mussten,52 war doch für die Rechte der Ausstand nur der erneute Beweis dafür, dass der gefährlichste Feind des deutschen Volkes nicht in London oder Petersburg, sondern im Wedding stand. Die Beratungen über den Reichshaushalt nutzte Heydebrand Ende Februar zu einer Generalabrechnung mit der Arbeiterbewegung und der SPD und charakterisierte den Streik als »Landesverrat, angestiftet und beeinflusst von auswärtigen Agenten und leider getragen zum Teil von dem Einfluss der deutschen Sozialdemokratie«.53 Unter der Schlagzeile »Die Schuld der Sozialdemokratie« führte die »Rheinisch-Westfälische Zeitung« aus: »Der alte Abgrund, der anscheinend infolge der Ereignisse des Krieges überbrückt schien, tut sich wieder auf«.54 Durch den Streik sah sich die Rechte nachdrücklich in ihrer Auffassung bestätigt, dass die organisierte Arbeiterbewegung im allgemeinen und ihr radikaler Flügel im besonderen einen Fremdkörper in der durch den Krieg zusammengeschweißten Volksgemeinschaft bildeten. Die Bedingungen des totalen Krieges auf der einen Seite und die nationalistische Vergemeinschaftungsrhetorik auf der anderen duldeten keine Abweichung. »Schwere Schuld trifft [...] alle diejenigen, die eine frühere Regierung daran gehindert haben, die Unabhängige Sozialdemokratie als 48 49 50 51 52 53 54

KV (MI), 23.4.1917, 1; GE (M), 31.1.1918, 1. KV (MI), 29.1.1918, 1; GE (M), 1.2.1918, 2. R W Z ( M ) , 2.2.1918, 1. Vgl. NPZ (A), 29.1.1918, 1, und selbst FZ (A), 27.4.1917, 2. RWZ(A), 31.1.1918, 1. KLZ(A), 1.2.1918, l . V g l . G E ( M ) , 1.2.1918, 2; RWZ (M), 2.2.1918, 1. Sten. Ber. RT, Bd. 311, 4175 (26.2.1918). RWZ (A), 31.1.1918, 1.

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außerhalb der Volksgemeinschaft stehend zu behandeln und rechtzeitig unschädlich zu machen«.55 In der Logik dieses dichotomen Denkschemas und der geschilderten Krankheits- und Kriminalitätsrhetorik lag es, dass die Ausgrenzung dieser »volksfeindlichen« Elemente nicht rigoros genug erfolgen konnte. Daher sollte »die Regierung sich durch Drohungen nicht einschüchtern [...], sondern vielmehr gegebenenfalls bereit [sein], der Gewalt die Gewalt entgegenzusetzen«.56 Dass diese Haltung im konservativen Lager auch taktisch motiviert war, um mit Hilfe der antinationalen Diffamierung der SPD die neue Reichstagsmehrheit wieder aufzubrechen, wertete die Bedeutung der antisozialistischen Phobie nur zusätzlich auf.57 Die politische Linke stellte sich mit einem neuen Selbstbewusstsein den antinationalen Vorwürfen ihrer Gegner. Im Bewusstsein der durch die Anforderungen der Kriegswirtschaft gewachsenen Bedeutung der Arbeiterbewegung und unter dem Eindruck der Oktober-Revolution in Russland widersprachen die Vertreter der MSPD wie der USPD, aber auch die Linksliberalen dem konservativen nationalen Alleinvertretungsanspruch und dem Gerede vom Landesverrat der Arbeiter. Zwar ging man öffentlich selten so weit wie Hugo Haase, der für die USPD im Reichstag den »politische[n] Streik [...] [als] eine Waffe« verteidigte, »die sich das Proletariat nicht entwinden lassen kann, [...] [um] die Gräuel des Krieges zu beseitigen«.58 Doch auch diejenigen, die den Streik an sich nicht begrüßten, verwiesen wie der »Vorwärts« die Behauptung vom Dolchstoß und vom Landesverrat der Streikenden in das Reich der konservativen Legenden: »Nach dieser Legendenbildung soll die Sozialdemokratie die gegenwärtige Bewegung inszeniert haben, um dem auswärtigen Gegnern zu Hilfe zu kommen und dem Eigenen Land in den Rücken zu fallen. Nur politische Trottel können dergleichen glauben«.59 »Es ist eine schamlose Lüge«, so Scheidemann im Reichstag, »dass die Arbeiter mit diesem Streike landesverräterische Absichten verbunden hätten«.60 Das schließe schon die große Anzahl der Streikenden und ihre Leistungen und Opfer aus. Vielmehr versündigten sich diejenigen am Vaterland, die im Krieg solche Lügen aufstellten: »Wie dumm, wie furchtbar kurzsichtig ist auch das Gerede vom Landesverrat im Hinblick auf die Wirkungen im Auslande. Glauben Sie, die Engländer und Franzosen werden schneller zum Frieden geneigt sein, wenn Sie ihnen weismachen wollten, dass in Berlin eine halbe Millionen Landesverräter lebten?«61 Schon mit der Berufung auf die reine Anzahl der Streikenden wurde ein unter den Bedingungen des totalen Krieges entscheidendes Argument ins Spiel 55 56 57 58 59 60 61

Ebd. R W Z ( M ) , 2.2.1918, 1. So treffend die FZ (A), 1.2.1918, 1. Sten. Ber. KT, Bd. 311, 4215 (27.2.1918). VO. 3.2.1918. 1. Vd. auch VO. 29.1.1918. 1: LV. 31.1.1918. 1; BT (M). 30.1.1918, 1f. Sten. Ber. RT. Bd. 311. 4165 (26.2.1918) Ebd. Vgl. Sten. Ber. RT, Bd. 311, 4216 (27.2.1918).

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gebracht, das zeigte, wie virtuos auch die Politiker und Journalisten der Linken die Denkfiguren und die Sprache des Nationalen inzwischen beherrschten. Im Bewusstsein ihrer gewachsenen Bedeutung, meinten die Vertreter der Arbeiterbewegung, mehr noch als die Konservativen, im Namen des Volkes argumentieren zu können. Das versprach ihre oppositionelle Politik auf eine sichere Legitimationsgrundlage zu stellen. Redete die Linke vom deutschen Volk und Vaterland, berief sie sich auf »das wirkliche Volk«, nicht auf das »Deutschland [...] der Vaterlandspartei und der Eroberungspresse [...] . Gemeint ist das neue, freie Deutschland, das Deutschland politischer und bürgerlicher Gleichheit und Gerechtigkeit. Für diese Deutschland haben seitdem Hunderttausende geblutet«62 Daraus folgte, dass in einem von einem Volksheer geführten Volkskrieg zum Wohle der Volksgemeinschaft die größte und die meisten Kriegslasten tragende Volksgruppe schwerlich das deutsche Volk verraten haben konnte. Gegen die Vorwürfe der Rechten, aber auch gegen die der äußersten Linken gewandt, betonte der »Vorwärts«: »Die Sozialdemokratie treibt weder ›Landesverrat‹ noch ›Arbeiterverrat‹. Denn die Arbeiter und das Land gehören zusammen, und man kann nicht das Land verraten, ohne die Arbeiter mitzuverraten: man kann aber auch nicht die Arbeiter verraten, ohne das Land mitzuuerraten. Denn wenn sich das Land nach außen verteidigen soll, dann dürfen sich seine Arbeiter nicht ›verraten‹ fühlen«.63 Kurzum: Mit dem Anspruch der Linken, dass die Arbeiterschaft mit dem Land und dem »wirklichen« Volk identisch sei, entzog sie der antinationalen Verratssemantik ihrer Gegner nicht nur die logische Grundlage. Indem die Anführer der Arbeiterbewegung die Klassensprache nicht aufgaben, sondern mit der nationalistischen Rhetorik verschränkten, gelang es ihnen, ihre Interessen als gleichzeitig spezifisch und repräsentativ zu legitimieren. Die Kategorien »Klasse« und »Volk/ Nation« widersprachen sich in diesem Denken nicht nur nicht mehr, sondern ergänzten sich. Aus der beanspruchten Deckungsgleichheit von Arbeiterschaft und Volk leitete man auch die Gleichheit der Interessen ab. Daher sei der Streik, so das »Hamburger Echo«, »nicht aus vaterlandsloser Gesinnung heraus entstanden, sondern aus einem ungebrochenen, festen und treuen Willen, das durchzusetzen, was im Interesse der Mehrheit des deutschen Volkes liegt«.64 Das »Berliner Tageblatt« assistierte und benannte die eigentliche Ursache des Streiks: Der Arbeiterschaft komme es darauf an, eine »nicht von den Elementen der Deutschen Vaterlandspartei und alldeutsch-militaristischen Strömungen immer 62 BT (M), 30.1.1918, 1; VO, 2.2.1918, 2. 63 VO, 3.2.1918, 1 (Hcrv. i. Orig.). 64 »Hamburger Echo«, 30.1.1918, zit. n. Ullrich, Arbeiterbewegung, 534. »Je entschiedener sich die Öffentlichkeit«, meinte auch der »Vorwärts«, 29.1.1918, 1, »gleichviel wie sie zum Streik selbst steht, für die gerechten Forderungen, die ihm zugrunde liegen, einsetzt, einen desto besseren Dienst wird sie damit der Volksgcsamthcit erweisen«.

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wieder beeinflusste Politik zu erhalten, die Verwirklichung des gleichen Wahlrechts herbeizuführen, eine durchgreifende Verbesserung der Volksernährung zu erlangen und den Zwang zu mindern, der nicht nur freiere Regungen und Bekenntnisse niederhält, sondern auf dem allgemeinen Leben ruht. Damit ist nur ausgesprochen, was die weit überwiegende Mehrheit des deutschen Volkes fordert« 65 Als Konsequenz aus diesem bipolaren nationalistischen Denken folgte, dass die Politik der Konservativen, besonders die der radikalen Rechten und am Ende auch die der kaiserlichen Regierung, nicht dem Willen des deutschen Volkes entsprach. Nationalistische Deutungen kamen stets einem Nullsummenspiel gleich. Legitimierten sie die Position der einen Seite, delegitimierten sie die der anderen. Für die Auseinandersetzung um die Rolle des Massenstreiks hieß das, dass sich die Schuldfrage und die des Landesverrates umkehrten. »Die Eroberungspolitiker, die Vaterlandspartei, ihre [...] Behauptung, dass sie im Namen des deutschen Volkes sprechen, ihre unverhüllten Forderungen nach Annexionen [...], das ists, was man die Wurzel dieses Streiks nennen muss«.66 Zur Ausgrenzung des politischen Gegners aus der - auch von links beanspruchten - Volksgemeinschaft griff selbst die Arbeiterpresse zuweilen auf biologistische und pathologisierende Metaphern zurück. »Der gesunde Instinkt [...] der Arbeitermassen« kontrastiere scharf mit dem der »Schädlinge« des deutschen Volkes.67 Vor dem Hintergrund des Massenstreiks, des Kriegszielstreites und der Auseinandersetzung um die Wahlrechtsreform stand die Regierung im letzten Kriegsjahr den sich dramatisch verschärfenden gesellschaftlichen Spannungen und dem Kampf der politischen Lager zunehmend hilfloser gegenüber. Die Berufung auf das einigende Band von Volk und Nation, die 1914 verfangen zu haben schien, gelang 1918 nicht mehr. Vielmehr mussten die Verantwortlichen erleben, dass die politischen Lager ihre Interessenkonflikte mit Hilfe der Appelle an die Nation austrugen. Die relative Deutungshoheit über »Volk« und »Nation« hatten die Regierungseliten verloren. Im Rahmen der Streikdebatte im Reichstag klagte Vizekanzler Friedrich v. Payer: »Hier von rechts, wie dort von links glaubt man, dadurch seiner Politik Kraft geben zu können, dass man denjenigen, die anderer Meinung sind, den guten Glauben und die Vaterlandsliebe abspricht und so ihre Gründe zu entwerten sucht«.68 Und der Staatssekretär des Innern Max Wallraf erkannte klar, dass die dichotome und diffamierende Struktur nationalistischen Denkens die schwelenden politischen Konflikte weiter radikalisierte: »Wir würden uns hier im Hause und draußen im Lande 65 BT (M), 30.1.1918, 2. Entsprechend urteilte die FZ (A), 1.2.1918, 1: »Nicht etwa nur die Streikenden«, sondern »die Volksmasscn«, seien durch die genannten ökonomischen und politischen Belastungen aufgebracht. Vgl. FZ (A), 5.2.1918, 1; Sten. Ber. RT, Bd. 311,4165 (26.2.1918). 66 LV, 31.1.1918, 1. Vgl. M N N (A), 26.1.1918, 1. 67 VO, 29.1.1918, 1; 3.2.1918, 1. 68 Sten. Ber. RT, Bd. 311, 4146 (25.2.1918).

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besser vertragen, wenn wir uns nicht immer mit Schlagworten wie Annexionsund I lungerfrieden befehden wollten, Worte [...] unter denen jeder sich etwas anderes denkt, die nichts klären, die nur verbittern«/19 Gerade weil nun tendenziell jeder an den Bezugsrahmen der Nation appellieren konnte und dieser eine weder ideologisch noch semantisch herzustellende Einigkeit suggerierte, waren die Nationalismen einer kompromissorientierten Konfliktlösung wenig förderlich. Je mehr der Staat intervenierte, desto anfälliger wurde er für Kritik. Begreift man das Problem der ausgreifenden Staatsintervention als ein Resultat der Anforderungen des industrialisierten Krieges, löst sich der Widerspruch auf, dass der Erste Weltkrieg einen Höhepunkt der staatlichen Lenkung der Wirtschaft und der Kontrolle der Gesellschaft markierte, gleichzeitig aber einen weitgehenden Autoritätsverlust des Staates auslöste.70 Die politischen Massenstreiks waren sowohl ein Indiz als auch eine Ursache des staatlichen Erosionsprozesses. Die Selbstorganisation der dem staatlichen Gewaltapparat Unterworfenen legte, obwohl viele Streiks misslangen, langfristig die Grundlagen für die Revolution von 1918. Je mehr der Staat unter den Bedingungen des totalen Krieges auf die aktive Teilnahme breiter Bevölkerungsschichten, insbesondere auf die der Industriearbeiterschaft an den Kriegsanstrengungen angewiesen war, desto größer wurde ihre Chance, die eigenen Interessen zu vertreten und die Ziele, ja, zunehmend den Bestand der staatlichen Herrschaft in Frage zu stellen. Wie die kaiserliche Regierung, die alten Eliten und die Vertreter der übrigen politischen Lagerwaren die Repräsentanten der organisierten Arbeiterbewegung in der Lage, ihre Interessen erfolgversprechend mit der Berufung auf den Willen der Nation und auf politische Mehrheiten im deutschen Volk zu legitimieren. Aus den Erfordernissen der modernen Kriegführung resultierte sogar, dass Massenbewegungen ungleich glaubhafter beanspruchen konnten, die Nation zu verkörpern. Die so entstehende neue Politisierung sozialer und ökonomischer Konflikte demonstrierte nicht nur das dysfunktionale Potential des Nationalismus, sondern veranschaulichte auch ein zentrales Ordnungsproblem der unter Legitimationszwang geratenen Staaten. Denn für den Erhalt der staatlichen Ordnung wurde die Bewahrung der Privilegien der alten Eliten genauso zum Problem wie der neue politische Partizipationsanspuch der selbstbewussten Akteure aus den gesellschaftlichen Unterschichten. Die durch konkurrierende Akteure unterschiedlich definierbaren Nationalismen begünstigten die Polarisierung der Gesamtgesellschaft.

69 Sten. Ber. RT, Bd. 311, 4175 (26.2.1918). 70 Vgl. Mai, Kriegswirtschaft, bes. 424-35; Kocka, Klassengesellschaft, 120-37.

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3) Kooperation und Konflikt. Der Munition of War Act und die Streiks in Großbritannien Bereits im Frühling 1915 offenbarten sich der Regierung in Großbritannien die Frenzen der konventionellen Kriegführung. Hatte Churchill noch zu KriegsDeginn zur Beruhigung der Londoner City die Devise »business as usual« verbreitet, war nun klar, dass das Geschäft dieses Krieges sich nicht weiter »as usual« erledigen ließ. Mit einer improvisierten Kriegführung und der Beibehaltung der Laisser-faire-Wirtschaft war kein militärischer Erfolg zu erzielen. Mit dem Ausbleiben des erhofften raschen Sieges über Deutschland schien es unvermeidlich, dass die Grundlagen der bestehenden Kriegführung geändert wurden. Wie in Deutschland bestand das Kardinalproblem der Regierung darin, das volkswirtschaftliche Potential an Menschen, Ressourcen und Kapital effizient zu mobilisieren und den rapide wachsenden Ansprüchen der Industrie und der Armee gleichermaßen gerecht zu werden. Der sich abzeichnende Wandel hin zu einer gezielten staatlichen Interventionspolitik vollzog sich als allmähliche erfolgende Anpassung an die Notwendigkeiten des industrialisierten Krieges, als ad hoc-Antwort auf die Herausforderung der sich verschärfenden Abnutzungs- und Materialschlachten, weniger als Folge eines antiliberalen ideologischen Wertewandels oder eines übergreifenden Planes.71 Nach der Bildung der Koalitionsregierung aus Liberalen und Konservativen im Mai 1915, die nicht zuletzt durch eine gezielte Indiskretion der »Times« über die Ineffizienz der Rüstungsproduktion (des sogenannten »shells scandal«) zustande gekommen war, diskutierte man im Kabinett die Frage, inwieweit Großbritannien seine menschlichen und materiellen Ressourcen mobilisieren konnte, um den Krieg zu gewinnen, ohne durch eine Überbeanspruchung seiner Mittel den Frieden zu verlieren.72 Ein erstes Ergebnis war die Bildung des »Ministry of Munitions« unter Lloyd George und der »Munition of War Act« [MWA] vom Juli 1915. Früher als in Deutschland zog die Führung in England die Konsequenzen aus den Erfordernissen des modernen Krieges. Produktionsengpässe auf der einen Seite und erste Unruhen besonders im Clyde Distrikt auf der anderen hatten die staatlichen Behörden und die Gewerkschaften bereits im März 1915 zur Kooperation gezwungen. Sic fand ihren Niederschlag im »Treasury Agreement«, das eine Delegation von Gewerkschaftlern unter Arthur Henderson mit Lloyd George ausgehandelt hatte. Die Vereinbarung hatte rein freiwilligen Charakter und sah vor, dass die Gewerkschaften auf eine Reihe tradierter Privilegien etwa für Facharbeiter und besonders auf das Streikrecht verzichteten, wenn die Regierung im Gegenzug die 71 Vgl. Wendt, War, 124-31; Bourne, Britain, 191-95; Husung, Arbeiter, 629f, insges. Freeden, Liberalism, 18-44. 72 Vgl. French, Strategy, 116-35; Adams/Poirier, Conscription, 107-10.

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Gewinne der Unternehmer beschnitt und die Versorgung mit den täglichen Bedarfsgütern kontrollierte. Zur Aufrechterhaltung bzw. Herstellung einer reibungslosen Rüstungsproduktion erachtete die Regierung Verhandlungen mit den Gewerkschaften, nicht etwa mit den Unternehmern, für dringend geboten. Bezeichnend für die neue Rolle der Gewerkschaften schien Lloyd George, dass bei den Unterhandlungen, die in einem Saal des Finanzministeriums stattfanden, der von einem prächtigen Thron Queen Annes beherrscht wurde, der Anblick einiger »stalwart artisans leaning against and sitting on the steps of the throne of the dead queen, and on equal terms negotiating conditions with the Government of the day upon a question vitally affecting the conduct of a great war. Queen Anne was indeed dead«.73 Die anhaltende Arbeitskräfte- und Munitionsknappheit ließ die Regierung dann aber einen alternativen Weg beschreiten und das Arbeitsleben und die Rüstungsproduktion durch ein Gesetz kontrollieren. Anfang Juni unterstrich Lloyd George als neuer Rüstungsminister mehrfach öffentlich die Notwendigkeit einer staatlichen Aufsicht über den Produktionsprozess, um eine erhebliche Steigerung von Rüstungsgütern zu erreichen. Charakteristisch für die sich anbahnende strikte Kontrolle und die partielle Militarisierung des Arbeitslebens war die weitreichende Übertragung der Sprache des Krieges auf die britische Zivilgesellschaft. Arbeiter wurden nun gerne als »industrial soldiers«, die Aufstockung von Belegschaften wurde als »raising of battalions« bezeichnet. Und wenn der »Daily Chronicle« von »voluntary industrial soldiers of the State« sprach, kennzeichnete er damit treffend die der Vereinbarung zugrundeliegende Mischung aus Zwang und Kooperation.74 Die Mehrheit der Gewerkschaftsvertreter zeigte sich den von Lloyd George vorgebrachten Argumenten gegenüber aufgeschlossen, nach denen für die Dauer des Krieges ungelernte Kräfte eingestellt und häufige Arbeitsplatzwechsel und Streiks verhindert werden müssten. Weniger kooperativ verhielten sich dagegen die Bergarbeiter, mit deren Delegation Lloyd George vom 24. Juni an verhandelte. Der Präsident der Bergleute, Robert Smillie, protestierte gegen die geplanten staatlichen Zwangsmaßnahmen und erklärte bündig: »We object to being under this Bill because of its compulsory nature«.75 Daraufhin appellierte Lloyd George geschickt an den erwiesenen Patriotismus der Arbeiter, unterstrich ihre Bedeutung für die Landesverteidigung und stellte gleichzeitig Konzessionen in Aussicht: »You will agree with me that a strike now would be unthinkable. [...] It is our country and we all go under together. We must really, therefore, do our best to pull together on order to save this land from a very great disaster. The miners are so important to us that we could not possibly face any conflict with them. 73 Lloyd George, War Memoirs I, 177. Vgl. Wrigley, Lloyd George, 91-109; Adams, Arms, 7982; DeGroot, Blighty, 113f. 74 DG, 24.6.1915, 6. Vgl. Wrigley, Lloyd George, 116f; Waites, Class, 62f. 75 PRO MUN 5/48/300/6 (24.6.1915).

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Therefore I appeal to you to show in the field of labour here the patriotism which your gallant brethren have shown on the field of battle. [...] If you do not like that which is in the Bill, then let us have something else«.76 Für den Moment jedenfalls verfing die taktisch kluge und emotional bewegende Gleichsetzung von Front und Heimatfront. Semantisch war dem Appell an die im Kampf geeinte nationale Gemeinschaft nicht zu widersprechen. Nachdem auch Smillie für die Bergleute deren Bereitschaft erklärte, im Interesse der Landesverteidigung auf einige Grundrechte der Arbeiter zu verzichten, ohne das Abkommen jedoch zu unterzeichnen, war der Weg für den MWA frei. Bei den Beratungen im Parlament folgte -von »Prussianism«-Zwischenrufen einiger Labour Abgeordneten abgesehen - kein nennenswerter Widerstand gegen die Vorlage.77 Der MWA übertrug der Regierung das Recht, die Kontrolle über kriegswichtige Betriebe direkt auszuüben. Die staatliche Zwangsschlichtung industrieller Konflikte wurde obligatorisch. Ferner schränkte das Gesetz den Wechsel des Arbeitsplatzes ein und begünstigte den Großeinsatz ungelernter Arbeitskräfte zu Lasten der Facharbeiter (die so genannte »dilution«). Allerdings versprach die Vorlage auch, die Gewinne der Unternehmer empfindlich zu beschneiden. Damit war nur der Beginn einer massiven Staatsintervention markiert. Bis zum Ende des Krieges kontrollierte der Staat neunzig Prozent der Importe und die Produktion von Nahrungsmitteln, Kohle und Rüstungsgütern. Im Jahre 1918 war der Staat selber zum Großunternehmer geworden, dem über 250 Fabriken und Minen gehörten und der 20.000 weitere Betriebe überwachte. Beinahe 3,5 Millionen Arbeiter in der Metall- und Chemieindustrie unterstanden direkt dem Munitionsministerium. Strenge Gesetze gegen Streiks und zahllose Beschränkungen regelten das Arbeitsleben und die Freizügigkeit der Arbeiter.78 Obwohl der britische Staat insgesamt härtere Beschränkungen der Arbeitsfreiheit erließ als der deutsche und ebenso wie dieser die Arbeitsniederlegung kriminalisierte, markierte der MWA gleichzeitig - wie das ΗDG - auch einen Teilerfolg der Arbeiterbewegung. Das Gesetz erzwang erstmalig die offizielle Anerkennung der Gewerkschaften und ihrer Organisationen in den Betrieben durch die Arbeitgeber. Die Bedingungen der modernen Kriegführung versetzte die Arbeiterbewegung in eine ökonomische und politische Schlüsselstellung, die sie bald - ebenso wie die nationale Rhetorik - virtuos beherrschte, in der Erkenntnis, dass eine begrenzte Kooperation größere Erfolge versprach als eine reine Konfliktstrategie.79 76 Ebd. Vgl. Klepsch, Labour, 84f. 77 Vgl. HoC V/ Bd. 72, 1197-1247 (23.6.1915), 1511-96 (28.6.1915); sowie Adams, Arms, 8289; Wriglcy, Lloyd George, 120f.; T. Wilson, Faces, 226f 78 Die Zahlen nach Hinton, First, 29; DeGroot, Blighty, 121. 79 Vgl. aus der Vielzahl der unterschiedlichen Bewertungen des MWA: Hinton, First, 32t“.; ders.. Labour, 98; Hardach, First, 188f.; Waites, Class, 31f; DcGroot, Blighty, 109-14.

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Die linksliberale Presse und die Mehrheit der Labourblätter begrüßte denn auch die Ergebnisse des MWA sowohl als einen Erfolg der Arbeiterbewegung als auch als einen Sieg der um ihre Freiheit kämpfenden britischen Nation. Allerdings hielt man im Unterschied zu der Bewertung des HDG in Deutschland am absoluten Ausnahmecharakter der Staatsregulierung fest, die kein Modell für eine Konfliktregulierung in Friedenszeiten abgeben konnte. »The men are no longer the servants of private employers, but of the nation«, befand die »Daily News«. »Let the working man see himself as a part of the fighting machine of the nation«.80 Deutlicher noch wurde der »Daily Chronicle«, der die exzeptionelle Bedeutung der Arbeiterschaft in die Formel faßte: »The workingclasses are the State. You cannot differentiate between them«.81 Daher komme es, so der »Guardian«, in einem Freiheitskrieg wie diesem auch auf deren freiwillige Kooperation an: »It is [...] the superiority of the English way. [...] We are fighting for the union of law and liberty under which the acts of Government must win the willing consent of those whom they primarily affect«.82 Eine Minderheit auf dem linken Labourflügel um die ILP aber begriff die erweiterte Staatsintervention von Anfang an als eine mit nichts zu legitimierende Bedrohung ihrer institutionellen und personalen Rechte. Der MWA bedeute nicht die gleichberechtigte Integration der Arbeiterschaft in die britische Nation, sondern eine »tyranny of the Servile State«, der »as tyrannical as Prussianism [...] practically autocratic powers to ›discipline‹ Labour« beanspruche.83 Besonders verabscheuungswürdig sei die »nationale« Pose der Regierung, mit der sie vorgebe, zum Wohle der Gemeinschaft zu handeln, in Wirklichkeit aber nur die Krise des Krieges ausnutze: »The dire national peril is being used to frighten the country into submitting to the surrender of its liberties. [...] The pretence of a ›National‹ Government actuated only by patriotic motives, by which the country is being deluded, must be exposed«.84 Bereits hier zeichnete sich ab, dass die weitreichende Kontrolle des Arbeitslebens durch die Regierung wirtschaftliche Konflikte neu politisieren werde. Da die etablierten Kanäle zur Regelung ökonomischer Auseinandersetzungen kaum noch zur Verfügung standen und man gerade in Großbritannien den neuen Einfluss der Staatsmacht - wie besonders die Wehrpflichtdebatte zeigen sollte - als problematisch empfand, zog die wachsende Politisierung notwendig eine Verschärfung der industriellen Konflikte nach sich.85

80 DN. 24.6.1915. 6. Vel. bereits HE, 13.3.1915. 9; sowie Husune. Arbeiterschaft, 638.

81 PC, 24,6.1915, 8. 82 MG, 22.3.1915, 6.

83 LL, 8.7.1915,7. Vgl. aber auch HE, 26.6.1915, 5: »The Munitions Bill was really a Workers's Slavery Bill«. 84 Ebd. 85 Vgl. Burgess, Political, 300f; Cronin, Industrial, 111.

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Obwohl der Krieg aufgrund des Mangels an Arbeitskräften, und der materiellen und immateriellen Belastungen mittelfristig ideale Bedingungen für Streiks schuf, nahm die Anzahl der Ausstände zunächst wie in Deutschland signifikant ab.86 Die hohe Anzahl der Kriegsfreiwilligen, die repressive Gesetzgebung und die entgegenkommende Haltung der Behörden bei Lohnfragen begünstigten diese Entwicklung. Von 1915 an aber verstärkten drei einander überlagernde Tendenzen die gesellschaftlichen Spannungen. Erstens führten die kriegsbedingte Inflation, hohe Lebensmittelpreise und -knappheit zu einem rapiden Rückgang des Lebensstandards, auch wenn die wachsende materielle Not nie dieselbe Dimension wie in Deutschland erreichte. Die soziale Not der Arbeiter enthüllte gleichzeitig den verschärften Klassencharakter der britischen Gesellschaft und rief Entrüstung über die Kriegsgewinne und den materiellen Reichtum hervor. Zweitens, und damit eng verbunden, folgte der Verschärfung der materiellen Ungleichheit die Empörung über den verletzten Gleichheitsanspruch der Arbeiterbewegung und über die Travestie der nationalen Einheitsverheißung von 1914. Die Berufung auf die britische Nation und der Glaube an sie hatten die sozialen und politischen Lebensbedingungen nicht nur nicht verbessert, sondern schienen oft nur noch der staatlichen und privatwirtschaftlichen Ausbeutung der Arbeiterklasse zu dienen. Erbittert forderten die Arbeitervertreter angesichts von Rekordgewinnen der Unternehmer »equal sacrifices« und die »conscription of wealth«. Mit besonderem Argwohn beobachtete Labour die nie verwirklichten Pläne der Regierung, die Arbeiterschaft nach dem Vorbild der Armee unter eine militärische Dienstpflicht zu stellen.87 Drittens wurden von 1917 ab diese Faktoren noch durch die Auswirkungen der Revolution in Russland, die wachsende Friedenssehnsucht und die Partizipationsbestrebungen der Arbeiterschaft verstärkt. Der sich auch in der britischen Arbeiterbewegung abzeichnende Linksruck führte wiederum zu einer verschärften Auseinandersetzung mit dem die Rechte der Arbeiter beschneidenden Interventionsstaat.88 Die Tinte unter dem MWA war noch nicht ganz getrocknet, als es am 15. Juli 1915 zum ersten großen Streik seit Kriegsausbruch kam. In Südwales legten 200.000 Bergarbeiter die Arbeit nieder, nachdem wegen der unnachgiebigen Haltung der Arbeitgeber nur in diesem Bezirk die Verhandlungen über die notwendig gewordene Lohnerhöhung gescheitert waren. Die politische Bedeutung des eigentlich ökonomischen Disputes lag auf der Hand, zumal auch 86 Gingen 1912 durch Streiks 41 Millionen Arbeitstage verloren, waren es 1914 noch 10 Millionen (beinahe alle bis zum August), 1915 3 Millionen, 1916 2,5 Millionen und 1917 und 1918 wieder 5,5 bzw. 6 Millionen. Angaben n. T. Wilson, Faces, 221. 87 Vgl. Klepsch, Labour, 170f; Τ. Wilson, Faces, 222; Burgess, Political, 313; Cronin, I n­ dustrial, 112f. 88 Vgl. zur Radikalisierung der »British Socialist Party« (BSP) und zur Entmachtung ihrer »nationalen« Leitung Kendall, Revolutionary, 94-104.

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der Ruf nach Aufhebung der staatlichen Zwangsmaßnahmen erklang. Da auf die Kohleförderung der walisischen Gruben schon wegen des Bedarfes der Royal Navy nicht verzichtet werden konnte, stellte die Regierung den Bezirk unter MWA-Recht, wodurch der Streik für illegal erklärt wurde. Doch bereits die Anzahl der Streikenden machte der Regierung die Wirkungsgrenze staatlicher Zwangsmaßnahmen und damit die Reichweite des MWA klar. Fortab stand das Ausmaß der staatlichen Unterdrückung eines Streiks in umgekehrt proportionalem Verhältnis zur Menge seiner Teilnehmer. Da auch die Gewerkschaften die Regierung vor der Anwendung von Zwang warnten, entschied diese sich, den offenen Konflikt diesmal zu vermeiden. Asquith sandte den Waliser Lloyd George zu Verhandlungen nach Wales, die mit einem beinahe vollständigen Erfolg der Bergleute endeten. Langfristig sollten die Konzessionen der Regierung sowohl das Selbstbewusstsein als auch die Militanz der Arbeiterbewegung stärken.89 Da der Streik die kriegsnotwendige Kohleproduktion bedrohte, wurde er nicht nur von der Regierung und der konservativen Presse, sondern bis hinein ins liberale Lager scharf verurteilt. Wie selbstverständlich bot sich dabei der Rückgriff auf die unmittelbar einleuchtende nationalistische Gefahren- und Verratsrhetorik an. Selbst der liberale »Daily Chronicle« meinte, dass die berechtigten Forderungen der Streikenden angesichts der Kriegslage nicht wirklich zählten: »The real issue [...] is that the nation is fighting for its life in a war which at least 95 per cent of the people have approved; that in the present situation, both as regards our fighting forces and as regards our production of munitions, large strikes of any kind are a war danger«.90 Vielmehr nutzten die Bergleute, erklärte vor allem die rechte Presse, skrupellos die Notlage der Nation, um ihre Sonderinteressen zu verwirklichen. »It is an unblushing attempt to take advantage by the most unscrupulous means of the nation's difficulties«.91 Wie man die Fakten auch drehe und wende, der Streik komme einem doppelten nationalen Verrat gleich: an den eigenen Leuten und an der Gesamtnation: »An act of treachery to those very comrades who have in their thousands left work in the pits to fight in the trenches« und einem »shameful betrayal of the country to its enemies«.92 Eine große Koalition von den Liberalen bis hin zu den Rechtsradikalen war sich darin einig, dass sie selber und nicht die Arbeiter den Willen der Nation repräsentierten. Daraus folgte, dass die Arbeiter sich in »direct opposition to the nation« als ein »anti-national movement« stellten.93 Durch diese fundamentale Ausgrenzung entzog man dem Streik nicht nur jede Legitimationsgrundlage. Weil der Streik nur dem Feind der Nation nütze, ver89 90 91 92 93

Vgl. Wrigley, Lloyd George, 110-28; T. Wilson, Faces, 223-28; Burgess, Political, 307f. DC, 19.7.1915, 6. Vgl. MP, 17.7.1915, 6. MP, 14.7.1915, 6. Vgl. MP, 17.7.1915, 6; DT, 16.7.1915, 8. Ebd.; P N , 16.7.1915,4. DC, 14.7.1915, 6; MP, 14.7.1915, 6. Vgl. MP, 17.7.1915, 6; JB, 24.7.1915, 7.

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schwamm in diesem nationalen Denken auch die Grenze zwischen seinen Verursachern und dem deutschen Feind, zwischen der äußeren militärischen und der inneren sozialistischen Bedrohung. »We cannot afford to be more lenient to traitors of our own household than to the enemy at the gate!«94 Dem entsprach, dass die Konservativen nun allerorten den Einfluss von »German agents« oder von »pro-German propaganda carried on in some districts by the Independent Labour party« entdeckten.95 Für Feinddifferenzierung und für Feindifferenzierung ließ der Nationalismus wenig Raum. Wer nicht für Britannien eintrat, war sein Feind. Die nationalistische Sprache wies schon durch die Übernahme von militärischen, körperlichen und juristischen Metaphern und Ordnungsmustern den Streikenden ihren Platz außerhalb der britischen Nation zu Die Bildung von militärischen Analogien, die Gleichsetzung von Front und Heimatfront, die wenigstens die konservative Presse herbeizusehnen schien, lag bei der Bewertung des Streiks auf der Hand. Abweichendes Verhalten wurde auch im Zivilleben glaubhaft delegitimiert. Jeder müsse dort seine Pflicht erfüllen, wo die Nation ihn brauche. »These men's national duty is in the mines«, die Arbeitsverweigerung sei daher »perfectly frank mutiny« oder gar »an act of war [...] against the State«.96 Mit Fahnenflüchtigen aber, stellten selbst die »Daily News« fest, könne man nicht verhandeln: »They will have no terms but unconditional surrender by the State«.97 Eng verwandt mit der militärischen Analogie und ebenso weit verbreitet wie in Deutschland war die Vorstellung, dass der Streik einem Dolchstoß in den Rücken von Armee und Nation gleichkomme. »They are prepared to stab the nation of which they are a part in the back, while it is fighting for its very existence«.98 Die Körpermetapher vom hinterrücks erdolchten Heer und der mit diesem gleichgesetzten britischen Nation reduzierte den komplexen Sachverhalt eines Streikes im Krieg auf eine für jeden nachvollziehbare und ebenso elementare wie persönliche Bedrohung. Schließlich stellte auch in Großbritannien die Kriminalisierung der Streikenden eine logische Folge ihrer rigorosen semantischen Ausgrenzung und Diffamierung dar. Die Waliser Bergarbeiter »[are] committing a crime against the nation«.99 Diese Anklage wurde nicht nur durch die eindeutige Rechtslage begünstigt. Die Kriminalisierung des politischen Gegners erleichterte in einer unüberschaubaren 94 MP, 14.7.1915,6. »It is a blow struck for the Kaiser against the nation of which these men are members«, DN, 16.7.1915, 4. Und: »Every man who uses the word »strike« now is a friend of the Kaiser's and a foe to Britain«, so bereits JB, 27.3.1915, 8. 95 TI, 16.7.1915, 9; DT, 16.7.1915, 8. 96 DC, 14.7.1915, 6; DC, 16.7.1915, 6; MP, 14.7.1915, 6. Vgl. MP, 17.7.1915, 6; sowie Wattes, Class, 71ff. 97 DN, 16.7.1915, 4. Die MP, 14.7.1915, 6, mahnte vor dem Streik nicht zu »kapitulieren«. 98 DN, 16.7.1915, 4. »The 200.000 South Wales Miners are in an enterprise which obviously stabs the Navy and the Army in the back«, DC, 17.7.1915, 6. Vgl. DC, 16.7.1915, 6. 99 DC, 16.7.1915, 6. Vgl. MP, 14.7.1915, 6; JB, 27.3.1915, 8.

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Situation die Bestimmung von Recht und Unrecht und erlaubte gleichzeitig seine kompromisslose - weil gleichsam »legitime« und »notwendige« - Ausgrenzung aus der nationalen Gemeinschaft. Zudem brauchte man sich mit der Auffassung von Kriminellen nicht weiter auseinander zu setzen, sondern konnte direkt zu deren Bestrafung übergehen. Besonders die konservative Presse ersann allerlei Ordnungsentwürfe und Strafmaßnahmen, mit denen die Arbeiterbewegung diszipliniert werden sollte. Die »Morning Post« rief nach einem »Dictator«, der rigoros Ordnung schaffen müsse, und die »Times« griff das beliebte konservative »National Efficiency«Projekt der Vorkriegszeit wieder auf und verlangte eine weitere Ausweitung der staatlichen Kontrolle unter dem Motto »substituting control for bargain«.100 Gleichzeitig müssten auch die Arbeiter einer militärischen Dienstpflicht unterstellt werden. »We could mobilize an industrial army subject to discipline as our soldiers are«.101 Verweigerten sich die Arbeiter dieser Disziplinierung, führte der »John Bull« auf einer intellektuell tiefer liegenden Ebene aus, müssten diese »be conscripted, put under military control and made to work at soldiers pay; and any of them who remain out must be arrested, treated as deserters and punished according to martial law«.102 Dass selbst die renommierte »Times« dieses Niveau noch unterbieten konnte, demonstrierte das Blatt in einem Artikel, in dem es die natürliche Streitlust der Waliser Bergarbeiter beklagte. Vielleicht werde ja die direkte Konfrontation mit dem deutschen Feind ihr Gemüt beruhigen: »The war is too remote to satisfy their fighting instincts. If a German cruiser anchored off Penarth Head and dropped a few long-range shells into Pontypridd they would stop all this nonsense«.103 Die Labourpresse und einige linksliberale Zeitungen und Politiker widerstanden dem Druck der geschlossenen »nationalen« Abwehrfront gegen die Streikenden. Mit Hilfe ähnlicher, aber umgewerteter nationalistischer Deutungs- und Argumentationsmuster bestritt man hier die Auseinandersetzung gegen den politischen Gegner. Gestützt auf ein neues Selbstbewusstsein, das 1915 in der deutschen Arbeiterschaft noch nicht zu finden war, verteidigte etwa der »Labour Leader« gegen geltende Gesetze das Streikrecht und betonte gleichzeitig die Bedeutung der Bergarbeiter für die Kriegführung: »The willing co-operation of the miner is essential to the Government. It will not secure that co-operation by harsh measures. We could export every coalowner to the Antarctic to-morrow and be no poorer, but every miner is valuable to the State«.104 Schon daher könnten die Bergleute nicht zur Arbeit gezwungen werden. Vor allem aber bedeute die Anwendung staatlicher Gewalt, so der »New 100 101 102 103 104

MP, 15.7.1915, 6; ΤΙ, 17.7.1915, 8. ΤΙ, 17.7.1915,8. JB, 24.7.1915, 7. ΤΙ, 16.9.1915,9. LL, 15.7.1915,7.

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Statesman«, der die offizielle Ideologie des populären britischen Befreiungskrieges geschickt auf die innenpolitische Lage übertrug, hier eine absurde Ironie »of the claim that the whole British nation is fighting this war. If that claim is well founded - as we convinced it is - then coercion is unnecessary«.105 Auch der linksliberale Abgeordnete Llewellyn Williams verteidigte im Parlament anläßlich der parallel verlaufenden Wehrpflichtdebatte die Freiheit der Arbeiter und des Volkes als Wesenszug des britischen Nationalcharakters: »The South Wales district was proclaimed. Yet events showed that you cannot dragoon the people of this country. Their traditions and whole instincts are against it«.11* Da die Arbeiter nur dem Wesen ihres freiheitlichen britischen Nationalcharakters entsprechend gehandelt hätten, musste die wahre Ursache der Misere woanders gesucht werden. Die Arbeiterpresse fand sie zunächst in der rigiden Interventionspolitik der Regierung, die ihr als unbritisch und »preußisch« erschien. Was in Deutschland im Zeichen des HDG oft als Ideal gegolten hatte, waren zahlreiche britische Arbeitervertreter von Anfang an nicht bereit zu tolerieren. »The war we were waging for liberty was rapid fastening the shackles of servitude upon the people. Their liberties were being threatened in every direction. [...] The Cabinet was assuming more and more the role of dictatorship. It's last step towards ›Prussianism‹ was the Munition Act«.107 Vor allem aber - und hier lag noch ein Unterschied zu den Streiks in Deutschland - lastete man zunächst den Unternehmern, weniger dem Staat, die Schuld am Arbeitskonflikt an. Schon im Vorfeld des Bergarbeiterstreiks befand die linksliberale »Nation«: »The South Wales owners [...] have broken of negotiations, not the men; it is they who are jeopardizing the safety of the Fleet. [...] If a strike occurs, the term ›traitor‹ will have to be used by the Harmsworth press against the owners, not against the men«.108 In selbstbewusster Umkehr der nationalistischen Verratssemantik der konservativen Presse - ironisch tituliert als »British Prussianism«109 - wies die Labourpresse nach dem Ausbruch des Streiks den Unternehmern die Alleinschuld zu. Der große Erfolg des Arbeitskampfcs und das staatliche Eingreifen zu ihren Gunsten bestätigte sie nachträglich in dieser Auffassung. »Mr. Lloyd George«, so der »Herald«, »was wiser than those pressmen and politicians who urged him to be firm. He knew [...] that the real culprits, the real Pro-Germans, were the coalowners, who for the sake of miserable 4½d. per ton did not scruple to risk the whole well-being of the nation«.110 Wer der kämpfenden Nation durch materielle Ausbeutung in den Rücken falle, das war auch hier das Argument, der müsse als ihr Feind behandelt werden. 105 106 107 108 109 110

NS, 24.7.1915, 365. HoC V/ Bd. 73, 2415 (28.7.1915). LL, 22.7.1915, 6. NA, 19.6.1915,383. LL, 22.7.1915, 4. HE, 24.7.1915, 2.

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»The enemies in our midst are the exploiters, the coalowncrs, who at this moment are plundering the municipalities and private people«.111 Bereits das von den Vertretern der Arbeiterbewegung abgelegte Bekenntnis zum Gemeinwohl der Nation erschwerte ihre Bekämpfung auf einer semantischen Ebene. Vor allem aber konnte die von ihnen geschickt geforderte Notwendigkeit der nationalen Einheit für Arbeitgeber und Konservative zu einem Legitimationsproblem werden: »The country needs unity; it can only secure it by clearing out the exploiters«.112 Denn wenn es die Profitgier der Unternehmer war, welche die kriegswichtige Einheit der Nation gefährdete, bedeutete in diesem Kontext schon die Forderung nach der Einheit der Nation die Ausgrenzung aller derjenigen - mithin der Unternehmer, welche die Gleichheit und das Wohl der Gemeinschaft bedrohten. Von dort aus war es nur ein kleiner Schritt, im Interesse der kriegführenden Nation eine Idealvorstellung von Labour zu verwirklichen und die staatliche Enteignung der so inkompetenten wie antinationalen Unternehmer zu verlangen: »The coal-owners have demonstrated their incapacity. [...] Having failed it is for the Government to dismiss them and replace them by men, who will think first all of what is good for the nation. [...] The workers are asking for a straight, clean deal; the mines are the property of the nation. Let the nation resume its ownership and control«.113 Die kriegsbedingte Verschärfung der gesellschaftlichen Spannungen und die Polarisierung der politischen Lager verstärkte innerhalb der Arbeiterbewegung zwar ihr Klassen- und Konfliktbewusscsein. Zur Beschreibung der Arbeitskämpfe spielte die Klassensprache nach wie vor eine zentrale Rolle. Gleichzeitig aber verband sich die Klassensprache mit der nationalistischen Rhetorik. Da sich Sozialismus und Nationalismus auf ähnliche Vorstellungen eines übergeordneten Gemeinwohls bezogen, erleichterte das die Übernahme nationalistischer Kategorien durch sozialistische Politiker und Journalisten. Der »Herald« etwa kontrastierte die Leistungen der Arbeiterklasse für die nationale Gemeinschaft mit dem Egoismus der Arbeitgeber: »If some people in this united nation of ours engaged in a life and death struggle are [...] traitors, it is not the workmen. [...] To-day, as always, the plain worker is only willing to fulfil his obligation to the spirit and to the letter. It is the master class that is helping Germany by their action«.114 Den Nationalismus erachteten die meisten Arbeitervertreter nicht als Widerspruch, sondern als notwendige Ergänzung ihres Klassenbe111 HE, 17.7.1915, 3. »Who arc the traitors? The men who strike out for themselves or the masters who force them to do it?«, rief Llewellyn Williams aus im HoC V/ Bd. 73,2415 (28.7.1915). Vgl. HE, 27.3.1915, 9, und selbst DM, 17.7.1915,4. 112 HE, 17.7.1915,3. Vgl. HE,24.7.1915,1, und bereits ΝΑ, 5.6.1915,309, die vor einer durch Arbeitskonflikte heraufbeschworenen »grave danger to national unity« warnte. 113 HE, 17.7.1915, 3. Vgl. LL, 22.7.1915, 4; MG, 17.7.1915, 8; NS, 17.7.1915, 338f; sowie Thorpe, History, 42. 1 14 HE, 27.3.1915, 9. Vgl. Croniii, I ndustrial, 112f; Hinton, Labour, 102.

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wusstseins. In einer vielschichtigen Mischung aus Überzeugung und Taktik erschloss ihnen die Verbindung von Klasse und Nation eine schlagkräftige Rhetorik, um die Arbeitgeber, die Konservativen oder die Regierung zu bekämpfen. Durch die Verschränkung bzw. durch die Gleichsetzung der Arbeiterklasse mit »nation« und »people« gelanges auch, dem antinationalen Verratsvorwurf gegen die Streikenden zu begegnen. Waren Arbeiterklasse und Nation identisch, konnte schwerlich ein antinationaler Verrat vorliegen. Vielmehr hatten die Arbeiter die Pflicht, so der »Labour Leader«, auch für die Rechte ihrer Kameraden an der Front zu streiken. Die Antwort auf »the charge of lack of patriotism brought against the strikes« laute: »The miners realised that if they submitted to this treatment they would be sacrificed not for their brothers in the trenches, but for their capitalist masters: they realised, too, that if they struck they were in the long run fighting for their brothers in the trenches and in addition fighting for the soul of the nation«.115 Bis zum Jahre 1917 hatten sich sowohl die Kriegslage als auch die Stimmung im Arbeitsleben drastisch verschlechtert. Als die Regierung sich gegen den Rat der Labourmitglieder im Kabinett Ende März 1917 aufgrund des anhaltenden hohen Bedarfs an Rekruten entschloss, das sogenannten »Trade Card Scheme« aufzuheben, das die Metallarbeitergewerkschaften autorisierte, die militärische Unabkömmlichkeit ihrer Facharbeiter auf bestimmten Arbeitsplätzen zu bescheinigen, kam es zum offenen Konflikt. Angesichts der bereits geltenden allgemeinen Wehrpflicht und der unverhohlenen Forderung nach einer »industrial conscription« durch die Konservativen und die Arbeitgeber nährte diese Maßnahme bei Labour die Befürchtung, dass durch gezielte Einberufung der Arbeitnehmer ein neues Disziplinierungsmittel drohte. Gegen den Willen der Gewerkschaftsführung brachen daraufhin Ende April 1917 in der Metallindustrie die ersten wilden Streiks aus. Da der oppositionelle Handlungsspielraum der Gewerkschaften wie in Deutschland durch ihr Bekenntnis zu den Kriegsanstrengungen beschränkt war, organisierte die Basis selber den Widerstand. Die sog. »shop stewards« in den Betrieben bildeten die treibende Kraft der Protestbewegung. Zwar waren deren Ziele auch ökonomischer, oft berufsständischer Natur, und nur eine Minderheit der »shop stewards« verlangte eine sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft. Doch die Stoßrichtung des Streiks zielte eindeutig gegen die Zwangsmaßnahmen des Staates und die Politik der Regierung.116 Das gleichzeitig noch über die Friedens-, die Irland- und die Wahl rechts frage gestritten wurde, gab dem Ausstand zusätzliche politische Sprengkraft. 115 LL, 22.7.1915, 6, 4. Vgl. Waites, Class, 180f, I93ff, und zu den Grundlagen, Finn, Chartism. 116 Vgl. Hinton, First, bes. 52-55, 103-39; Klepsch, Labour, 170-78; Wriglcy, Lloyd George, 184-91.

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Bis Mitte Mai weitete sich der Streik in der Metallindustrie zur größten Protestbewegung des ganzen Krieges aus. Über 200.000 Metaller, vornehmlich in der Rüstungsindustrie, legten in den Streikzentren Manchester, Sheffield, Coventry, Rotherham und London teilweise bis zu drei Wochen die Arbeit nieder. Die Regierung reagierte ungewohnt unnachgiebig, verweigerte zunächst jede Verhandlung mit den »shop stewards« und ließ am 18. Mai acht Streikführer verhaften. Doch über die in England bestehenden Möglichkeiten zur staatlichen Gewaltanwendung unter Kriegsbedingungen machte sich das Kabinett keine Illusionen. Unter der Bedingung, dass die Streikführer als Teil einer offiziellen Gewerkschaftsdelegation auftraten, nahm die Regierung am 19. Mai Verhandlungen auf, die am 21. Mai den Streik beendeten. Das Ergebnis war ein Kompromiss, der eher zugunsten der Regierung ausfiel: Auf der einen Seite blieb es bei der Aufhebung des »Trade Card Schemes«, und die verhafteten Streikführer mussten sich vor ihrer Freilassung zum Arbeitsfrieden verpflichten. Auf der anderen Seite machte die Regierung eine Reihe von Konzessionen, etwa bei der Ausdehnung der »dilution« auf die Privatwirtschaft.117 Im Gegensatz zum großen Bergarbeiterstreik von 1915 fiel die Kritik in der Öffentlichkeit diesmal zu Lasten der Regierung aus. Nur das konservative Lager hielt weithin geschlossen an der Verurteilung der Streikenden fest. Die Vorwürfe waren meist die bekannten. Der »Daily Telegraph« etwa erkannte durchaus die Beschwerden der Arbeiter an, verurteilte aber einen »strike in circumstances which make the laying down of tools an act of treachery to one's comrades«.118 Der Kardinalfehler der Regierung, der zu dieser »national danger« geführt habe, sei es gewesen, der organisierten Arbeiterbewegung überhaupt solchen Einfluss gewährt zu haben.119 Von den führenden liberalen Zeitungen stimmte nur der »Daily Chronicle« in die konservative Anklage gegen die Arbeiter ein, tat das aber mit ungewöhnlicher Schärfe: »There has been more than one unpatriotic strike during the war, but none so unpatriotic as this«. Auch die Wiederaufnahme der Arbeit würde die durch den Streik Gefallenen nicht wieder lebendig machen: »They cannot save the lives of those thousands of British soldiers, who arc certainly doomed to death and wounds by the action of the strike leaders as if they had pointed a machine-gun at them and turned the handle«.120

117 In der Bewertung des Ausgangs der Protestbewegung waren sich die Behörden nicht einig ob »unrest paralysed by patriotism - or [...] patriotism paralysed by unrest« vorliege, PRO LAB 2/ 254/ML2440/37/1917 (29.8.1917). Vgl. Hinton, First, 196-212; Klepsch, Labour, 178-86; Wrigley, Lloyd George, 191-204; Kendall, Revolutionary, 158f; McLean, Legend, 92f; Weinberger, Keeping, 132f. 118 DT, 14.5.1917,6. 119 NR 70 (1918), 706-12, Zit. 709. 120 DC, 21.5.1917, 2. Vgl. DC 15.5.1917,2.

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Eine weitere ebenso effektvolle wie falsche Anklage aus dem Bestand der antinationalen Argumentationskeulen brachten Blätter wie die »Daily Mail« oder die »Morning Post« vor: Die Mehrheit der Arbeiter sei patriotisch und der Streik nur das Werk einer »secret organisation of shop stewards«, »covertly working in the background some hidden influence«.121 Wer hinter dieser Geheimorganisation stand - hier ließ sich nahtlos an die Spionagehysterie von 1914 anknüpfen - war klar: deutsche Agenten, oder - da unterschied man nicht so genau - ein deutschfreundliches »anti-war movement, [...] a sinister campaign which has been worked both openly and secretly to force an end of the war and the victory of Germany«.122 Dieser Artikel stellte keine Einzelmeinung dar. Auch die Regierung setzte eine Kommission ein, die ebenso verzweifelt wie vergeblich nach deutschen Agenten innerhalb der Arbeiterbewegung fahndete.123 Jedenfalls hatten die gesellschaftlichen Spannungen und die sich überlagernden politischen Problemfelder im Frühling 1917 derart an Schärfe gewonnen, dass man aufgrund des Streiks allerorten »the subtle and heady influence of revolution [...] in the air« und »the conditions of industrial revolt« ausmachte.124 Auch im Diskurs über die Streiks zeigte sich die Biologisierung der britischen Nationsvorstellungen und die Ausgrenzung des politischen Gegners aufgrund vermeintlich kranker oder erblicher Anlagen. Der »Telegraph« stellte schlicht fest:»Industrial unrest is proverbially infectious« und warnte vor dem Befall anderer Bezirke »to which the infection has spread«.125 Die Pathologisierungdes Streiks und der Streikenden erlaubte das gesellschaftliche Fehlverhalten der Arbeiter geradezu »natürlichen« und unabänderlichen Symptomen zuzuschreiben. Die Liberalen und Labour und selbst einige Stimmen aus dem konservativen Lager zeigten viel Verständnis für die politischen Motive der Streikenden und nahmen den Streik zum Anlass zu einer Generalabrechnung mit der Innenpolitik der Regierung. Selbst der konservative »Observer« warnte vor weiterem staatlichen Zwang, sprach sich für Verhandlungen mit den Arbeitern aus und mahnte die Regierung dabei - ein für ein konservatives Blatt in Deutschland kaum vorstellbarer Vorgang - zur Beachtung der demokratischen Spielregeln: »Some Ministers and officials [...]. have forgotten that if you want to lead a democracy you must use the methods of democracy. [... ] Let the Government [...] making real the spirit of partnership and co-operation in the war. Let the 121 DM, 14.5.1917, 4; DM, 17.5.1917, 4. 122 MP, 14.5.1917,6. 123 »Although no trace ot its working has yet been discovered«, berichtete das Arbcitsministerium einige Monate später an das Kabinett, PRO CAB 24/37/294 ( = GT 3196) (2.1.1918). »the object of German activities in other countries has been consistently directed to breaking the »union sacréc‹ and turning the different classes against each other, to producing revolution and anarchy if possible«. Vgl. Weinberger, Keeping, 141. 124 MP, 16.5.1917, 6; DC, 21.5.1917, 2. 125 DT, 14.5.1917, 6. Vgl. TI, 16.5.1917. 7.

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Minister of Munitions get into touch with the workmen themselves, let him discuss with them their experience of the MunitionActs«.126Verweigere sich die Regierung durch die Imitation preußischer Unterdrückung weiter ausgleichenden Verhandlungen, schrieb die »Daily News« am 19. Mai, sei vom Ausgang des Streiks eine ähnliche Katastrophe wie in Irland zu erwarten: »The results cannot be worse than the imitation of Prussianism which is goading Labour into desperation, and Ireland into sullen rebellion«.127 Auch die »Nation« beklagte als Ursache des Streikes den Ausbau der zwanghaften staatlichen und letztlich unbritischen Kontrolle: »Some nations [...] act best under the stimulus of discipline, and others under the stimulus of freedom. To substitute the first for the second in the midst of a great war, in which the Government depends on the support of the mass of the nation [...] is a hazardous process, as the nation is now learning its cost«.128 Labour ging im Unterhaus sogar so weit, der Regierung vorzuwerfen, durch ihre Repressionspolitik das Land an den Rande der Revolution zu treiben: »The Government is creating extremists all the time. [...] What you are now doing by coercive laws, by repressive laws, by the penal side of your Munition Acts [...] is to [...] bring the country to the very verge of revolution«.129 Linksliberalc und Labour waren sich einig, dass die repressive Innenpolitik der Regierung die Grundlagen der bestehenden Ordnung gefährde und entwarfen eine alternative Legitimationsgrundlage der Politik: den Willen des »people«. Die »Daily News« kritisierten unter der Schlagzeile »Trust the People« zwar die Tatsache des Streiks, warnten aber vor den »serious tendencies which are imperilling the cause of democracy at this time« und zielten damit auf die auswuchernden staatlichen Zwangsmaßnahmen und -kontrollen: »We refer to the policy of secrecy, suppression [...] lack of trust in the people which has become the besetting sin of the Government«.130 »The English people« ließen sich eben nicht auf Dauer ihrer angeborenen Grundrechte berauben. Welche politische Sprengkraft die Denkfigur von der Volkssouveränität im Zeichen der Russischen Revolution hatte, demonstrierte der ebenso selbstbewusste wie aggressive Tenor des »Heraids«, der andeutete, dass die Revolutionsängste im konservativen Lager keinesfall jeder Grundlage entbehrten: »All the social and industrial evils from which we are suffering to-day are the results of the circumstances attending the great war, and if we would put an end to them we must imitate our Russian comrades. [...] Let the Government know that the people of this country are in favour of the same conditions of peace as those put forward by our friends in Russia [...] a people's peace, based on the will of 126 127 12S 129 130

OB, 20.5.1917, 6. Vgl. LL, 17.5.1917, 1. DN, 19.5.1917,2. NA, 19.5.1917, 158. HoCV/Bd. 93, 1395f. (14.5.1917). W l . NA, 19.5.1917, 159. DN. 16.5.1917,2.

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civilians and soldiers acting together«.131 In einer taktisch klugen Mischung aus verschleierter Revolutionsdrohung und offenem Reformangebot stilisierten die Vertreter der Arbeiterbewegung Labour zum einzigen Repräsentanten des wahren britischen Volkswillens. Auf Labour, hieß es in einer pseudoreligiösen Sprache im »Herald«, laste jetzt die Verantwortung seiner ebenso nationalen wie internationalen Mission: »The great giant Labour must rouse itself wake up, and save the world. [...] The British people by their exertions shall save themselves, and by their example save civilisation. [... ] It is our bounden duty as democrats to make a change«.132 Der Maistreik markierte noch nicht den Höhepunkt der Protestbewegung. Im Juni 1917 suchte die Linke die bestehende Unruhe zu nutzen und rief unter der Führung der ILP und der BSP eine Konferenz der Arbeiterbewegung in Leeds zusammen. Die dort beschlossenen Resolutionen forderten unter anderem einen Grundrechtekatalog von der Regierung und zum Schrecken der bürgerlichen Presse die Einrichtung von Arbeiter- und Soldatenräten nach russischem Vorbild. Bis zum Winter 1917/18 schien sich in Großbritannien wie in Deutschland angesichts der weiter erstarkenden Protestorganisation in den Betrieben, der in die Opposition schwenkenden Labour-Partei und der Oktoberrevolution in Russland eine revolutionäre Massenbewegung anzubahnen. Die Artikelserie der »Times« »The Ferment of Revolution«, die Ende September 1917 den offenen Schlagabtausch mit dem »Revolutionary Labour Movement« suchte, reflektierte die innenpolitischen, durch die allseitige Verwendung nationalistischer Deutungen entscheidend verstärkten Bedrohungsängste im konservativen Lager: »The central fact is that behind the meaningless and stupid term ›labour unrest‹ lies a conscious revolutionary movement which aims at the complete overthrow of the existing economic and social order«.133 Schon die Tatsache, dass sich der Autor »purely patriotic« Motive bescheinigte, begünstigte seine Wahrnehmung des Konfliktes als einer »national danger«.134 Denn indem er die Bevölkerung Großbritanniens scharf in zwei Nationen - in die »Individualist Nation« (die bürgerlichen Guten) und die »Labour Nation« (die sozialistischen Bösen) - teilte, folgte aus der Logik der nationalistischen Dichotomie die Abwertung der letzteren und eine erhöhte Sensibilisierung für gesellschaftliche Konflikte.135 Verlief die nationale Trennlinie erst einmal mitten durch die im Überlebcnskampf stehende britische Gesellschaft, gewann in der 131 HE, 19.5.1917, 8. Vgl. SR 15 (1918), 317f. 132 HE, 26.5.1917, 9. Vgl. HE, 19.5.1917,7. 133 TI, 25.9.1917, 9. Vgl. zu den offiziellen Befürchtungen vor Labour das Memorandum »Labour in Revolt« PRO CAB 24/24/161-63 ( = GT 1849) (16.8.1917), u. insges. Hinton, First, 235-74; ders., Labour, 107f.; Τ. Wilson, Faces, 653-55. 134 Ebd. 135 »The people of Great Britain are [... | somewhat sharply divided into two parts or nations of almost equal size«, TI, 26.9.1917, 4.

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Entscheidungsphase des Weltkrieges die Bekämpfung des inneren Feindes die gleiche Dringlichkeit wie die Vernichtung des äußeren. Unter der Überschrift »The Enemy Within« hieß die alternativlose Schlussfolgerung: »Just as there are certain objects for which the nation will fight a foreign foe, so there are others for which it will fight a foe within its own borders; and as soon as it realizes that the revolutionary movement aims at its existence, it will fight that movement«.136 Wie im Kaiserreich entsprach der wachsenden Unruhe innerhalb der Arbeiterbewegung ein schleichender Autoritätsverlust des Staates.137 Die Regierung erkannte bei der Bekämpfung der Streiks deutlich die Grenzen staatlichen Zwanges und fürchtete, der wachsenden Protestbewegung nicht mehr Herr werden zu können. An das Kabinett gehende Warnungen vor »Attempts to destroy National Unity« demonstrierten eher die Hilflosigkeit der Behörden. Resigniert hielt ein Kabinettsmemorandum die Erkenntnis fest, dass der Staat schon lange die nationalistische Deutungshoheit verloren hatte. Appelle an den Patriotismus bei streikenden Arbeiter fruchteten nichts mehr und würden nur als Schwäche ausgelegt. Die Waffe des Nationalismus war durch überhäufigen Gebrauch stumpf geworden und wurde auch von der Arbeiterbewegung erfolgreich eingesetzt: »Appeals to the ›patriotism‹ of the men have always broken down, and will break down again. Such appeals are looked upon as the first and clearest sign of coming surrender«.138 Kurz, die Regierungseliten und die Konservativen hielten der Arbeiterbewegung zwar ihre geschlosseneren Nationsvorstellungen entgegen, glaubhaft aber ließ sich der Anspruch einer Massenbewegung, die Nation zu verkörpern, in einer derart politisierten Situation kaum delegitimieren. Am Ende gab es keine Revolution. Bereits mit Beginn der deutschen Frühlingsoffensive 1918 ging die Anzahl der Streiks rapide zurück. Die Ursachen dafür und für die relativ zum Deutschen Reich geringere Delcgitimation des britischen Staates bei einer vergleichbaren Interventions- und Zwangspolitik sind nicht nur im für Großbritannien günstigen Kricgsverlauf zu suchen. Erstens gestatte die sozioökonomische Lage Großbritanniens der Regierung während der gesamten Kriegsdauer einen weit größeren politischen Spielraum. Englische Arbeiter litten weit weniger als Deutsche unter Hunger und Inflation. Zweitens nutzte die Regierung diesen Handlungsspielraum, indem sie bei den auftretenden Arbeitskonflikten - oft von ihrer eigenen nationalen Einheitsrethorik und der Notwendigkeit zur Kooperation überzeugt - der Situati136 TI, 28.9.1917, 6. Vgl. die erboste Gegenpolemik im HE, 6.10.1917, 8f: »Northcliffc Declares Civil War On Labour«. 137 »The munitions Acts have been made a dead letter by a scries of strikes |...] . Before these threats Government authoriy has completely (...) collapsed«, CAB 24/24/162 ( = GT 1849) (16.8.1917). Vgl. Turner, Politics, 387f. 138 CAB 24/24/163 ( = GT 1849) (16.8.1917). Vgl. CAB 24/37/294 ( = GT 3196) (2.1.1918).

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on flexibel Rechnung trug und weit seltener zu politischen Repressionen schritt. Vielmehr suchten die Verantwortlichen, aufkommenden Streiks durch materielle Konzessionen zu begegnen, seltener durch die Drohung mit der militärischen Einberufung wie in Deutschland. Drittens entsprach die Regierung den Partizipationswünschen der Arbeiterbewegung, etwa in Gestalt der Wahlrechtsreform von 1918.139 Den Arbeitern gelang es, ihren politischen Partizipationsanspruch wie in Deutschland mit Hilfe nationalistischer und klassenspezifischer Denk- und Argumentationsmuster offensiv zu artikulieren und aufgrund ihrer kriegswirtschaftlichen Unentbehrlichkeit glaubhaft zu legitimieren. Auch in Großbritannien wurden die konkurrierenden politischen Akteure dank der von ihnen definierbaren Nationalismen und des so unterwanderten staatlichen Kontrollmonopols zu einem Herrschaftsproblem der Regierung. Doch die geringere Schärfe sozialökonomischer Verteilungskonflikte und die flexiblere Politik der Regierung bewirkten, dass die »Fundamentalpolitisierung« der britischen Gesellschaft, mithin auch der polarisierende Wirkungsspielraum des Nationalismus, nicht dasselbe Ausmaß wie in Deutschland erreichte.

2. Der Preis der Freiheit? Die Wehrpflichtdebatten in Großbritannien a) Die Einführung der Wehrpflicht 1915/16 Die Auseinandersetzung um die Einführung der Wehrpflicht bildete in Großbritannien 1915 das zentrale innenpolitische Konfliktmoment, da das Thema mehrere Problemfelder tangierte. Die Wehrpflichtdebatte verschmolz die Frage der Kriegführung mit der inneren Neuordnung und stand daher im Fokus konkurrierender Interessen, Werte und Vorstellungen. Die zwischen den politischen Lagern äußerst kontrovers diskutierte Frage lautete, inwieweit man dem Staat das Recht übertragen solle oder dürfe, seine männlichen Bürger zum Kriegsdienst zu verpflichten. Die Emotionalität der Auseinandersetzung resultierte daraus, dass die Einführung der Wehrpflicht letztlich eine Glaubensfrage darstellte, welche die Grundlagen sowohl des liberalen als auch des konservativen Verständnisses der britischen Staatsbürgerschaft berührte. Damit kam die »Nation« ins Spiel. Die verfeindeten politischen Lager beriefen sich auf ihre jeweiligen spezifischen Nationsentwürfe als Wertmaßstab und als Legitima139 Vgl. Whiteside, Concession, 107-22; Waites, Class, 31 f., u. ferner Boll, Arbeitskämpfc, 626ff., sowie hier Kapitel IV.2.

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tionsgrundlage politischen Handelns. Sollte weiterhin - wie die Liberalen meinten - die Freiheit der individuellen Entscheidung, oder - so die Konservativen - der obligatorische Dienst für die Nation die Leitlinie der Rekrutierungspolitik und des britischen Selbstvcrständnisses bilden? Und vor allem: Wie viel institutionelle und individuelle Freiheit würde das liberale England opfern müssen, um mit Hilfe der staatlichen Organisation seiner materiellen und menschlichen Ressourcen den Krieg zu gewinnen? Denn in dem sich abzeichnenden Abnutzungskrieg kam der effizienten Organisation des Menschenpotcntials eine entscheidende strategische Bedeutung zu. Schon bald nach dem Kriegsausbruch wurde klar, dass die neue Intensität der Kriegführung nicht nur ungekannte Mengen an Rüstungsmaterial, sondern auch den Einsatz von Massenheeren - eine revolutionäre Neuerung für die traditionell antiinterventionistische Seemacht Großbritannien - erforderte. Die Schärfe des Kampfes um die Einführung der Wehrpflicht 1915/16 reflektierte in gewisser Hinsicht auch innenpolitisch die Wandlung vom konventionellen, unter dem Vorzeichen des »business as usual« geführten hin zum totalen Krieg. Von der traditionellen Wertschätzung der Royal Navy profitierte die zu Recht als ineffizient betrachtete britische Armee vor 1914 nicht. Seit Cromwell bestand eine verbreitete gesellschaftliche Feindschaft gegen jede Art militärischer Organisation im allgemeinen und gegen ein stehendes Heer im besonderen.140 Diese Einstellung behinderte auch den Erfolg der NSL im edwardianischen England, die vor 1914 vergeblich für die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht agitierte. Dieses aussichtslos verfolgte Hauptziel der NSL stand bezeichnenderweise in Deutschland jenseits jeder Kontroverse. Trotz - unter dem Eindruck von Wettrüsten und Invasionsfurcht - wachsender Mitgliederzahlen (1913: 96.000) war die überwiegende Mehrheit der Briten nicht bereit, die Prämisse der NSL zu akzeptieren, nach der die degenerierte Zivilgesellschaft auf der Grundlage der »National Efficiency«-Idcologie erneuert werden müsse und ausgerechnet die Armee das geeignete Instrument zu sein habe.141 Statt die Gesellschaft zu militarisieren, bestand man weiterhin darauf, den Einfluss militärischer Vorstellungen zu domestizieren und hielt an liberalen Werten und individueller Freiheit fest. Die beiden großen Parteien lehnten die Einführung der Wehrpflicht ab: die Liberalen aus Prinzip, die Konservativen, die dem Militärdienst nicht abgeneigt waren, um nicht durch ihr Eintreten für ein derart unpopuläres Konzeptjedc Chance der Partei auf eine Regierungs140 Als der spätere britische GencralstabschefWilliam Robertson im Alter von 19 Jahren seine Eltern informierte, dass er beabsichtige in die Armee einzutreten, gab ihm seine Mutter zur Antwort: »I would rather bury you than see you in a red coat«, zit. n. T. Wilson, Faces, 13. Vgl. zur grundsätzlichen Militärfeindschaft der bürgerlichen Gesellschaft in Großbritannien bis zum Ersten Weltkrieg Harries-Jenkins, Army, 1-11, 274-81; Summers, Militarism, bes. 107-12; T. Wilson, Faces. 13-15; Travers, Killing, 38-42. 141 Vgl. zur NSL: Allison, Service, passim; Adams, Roberts, 57-69; Summers, Militarism, 1 Π ­ ­8; Baucrkämpcr. Rechte, 63-68, zu den Mitgliederzahlen Coetzee/Coctzee, Rethinking, 522.

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Übernahme zunichte zu machen.142 Die Agitation der radikalen Rechten erwies sich letztlich als kontraproduktiv, weil sie die Aversion gegen die Wehrpflicht, die fortab als eine sinistre Maßnahme galt, verstärkte und die britische Regierung sich im Ersten Weltkrieg mit dieser Bürde auseinander zu setzen hatte.143 Der Kriegsausbruch veränderte die Einstellung der politischen Lager zur Wehrpflicht zunächst nicht. Der unerwartete und unbekannte Zustrom an Freiwilligen in die britische Armee ließ - zumal unter den Bedingungen der beschworenen innenpolitischen Einheit - auch die Befürworter der Wehrpflicht verstummen.144 Wenn es ein eindeutiges Indiz für die anfängliche Popularität des Krieges in der englischen Bevölkerung gab, lag es in der großen Anzahl von Kriegsfreiwilligen. In den ersten drei Kriegsmonaten meldete sich etwa eine Million freiwillig zur Armee, davon allein 463.000 im September. Auch wenn die Zahl der aus eigenem Antrieb Rekrutierten bereits Ende September rapide abnahm, hatten sich bis zur Einführung der Wehrpflicht im Januar 1916 2.466.719 Briten in der größten Freiwilligenarmee der Geschichte verpflichtet. In Manchester etwa stürmten ungeduldige Freiwillige das Rathaus und verlangten eine schnellere Rekrutierung. Im ersten Kriegsmonat meldeten sich hier 20.000 Männer, und allein Manchester stellte fünfzehn Bataillone auf145 Bei diesen absoluten Ziffern ist einerseits daran zu erinnern, dass in England keine Wehrpflicht bestand, die viele der Kriegsbereiten automatisch hätte einbinden können, und andererseits auf schichtenspezifische Unterschiede hinzuweisen. Überproportional hoch war die Anzahl der Kriegsfreiwilligen, die aus den gesellschaftlichen Eliten stammten, Schüler und Ehemalige der public schools und der alten Eliteuniversitäten traten oft klassenweise in die Armee ein.146 Im Unterschied zu den Heeren des Kontinents stellte die neue britische Armee eine von Bürgern organisierte Bürgerarmee dar. Den die durch fehlenden Vorkehrungen und die neuen Bedingungen eines Massenheeres geschaffenen Problemen suchten zivile, dezentral und isoliert operierende Organisationen zu begegnen, die nur bedingt durch staatliche Stellen wie das »Parliamentary Recruting Committee« (PRC) Unterstützung erfuhren. Diese weithin staatlich unabhängige Koordination der Rekrutierung vor allem durch Angehörige der upper middle classes begriff das liberale Lager als Ausdruck einer freiheitlichen, individuellen und daher typisch britischen Form der Kriegführung. Die Liberalen hofften, mit Hilfe der »Busincss-as-usual«-Doktrin in der Krieg142 143 144 145 untary, 146 21.

Vgl. Allison, National Service, 139-59; Adams/Poirier, Conscription, 39-48. So Lloyd George, War Memoirs I, 428. Vizl. etwa OB, 30.8.1914, 6, sowie lordan, Politics, 7; Rae, Conscience, 7. Vgl. Reader, Call, 102-11; Winter, War, 25-37; ders., Generation, 124; Osborne, Vol75-81; Stevenson, Society, 50-52. Vgl. Parker, Lie, passim; Wohl, Generation, 85ff; Playne, Society, 62-66; Rudy, War. 17-

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führung und der Truppcnrekruticrung den freiheitlichen Charakter des Landes zu bewahren. Der »Guardian« gab dieser liberalen Umdeutung der Kriegführung zu einer freiwilligen Bürgerpflicht emphatisch Ausdruck und nannte die Entstehung der »new Army« »the intensely un-Prussian spectacle of free England freely taking up arms«.147 Der Freiwilligenansturm auf die britische Armee war der Regierung hochwillkommen. Der neue Kriegsminister Lord Horatio Kitchener informierte seine ungläubigen Kabinettskollegen bereits am 7. August 1914, dass eine militärische Auseinandersetzung neuen Typus bevorstehe, die gegen alle Erwartungen mindestens drei Jahre dauern werde. Vor allem werde der Krieg ungeheure Mengen an Blut und Geld kosten und nicht auf See, sondern nur in Frankreich und Belgien zu gewinnen sein. Für diese gewaltigen Schlachten müsse Großbritannien jetzt beginnen, seine 100.000 Mann zählende Eingreiftruppe erstmals in seiner Geschichte zu einem Massenheer aufzurüsten. Bald prangte Kitcheners markantes Profil auf zahllosen Anzeigen und Plakaten und rief Britanniens Männer unter der Schlagzeile: »Your King and Country Need You« zu den Waffen.148 Als der erste Ansturm auf die Rekrutierungsbüros Ende September 1914 rapide nachließ, hing die weitere Aushebung der »new army« zunehmend von der Leistung der privaten und halbamtlichen Rekrutierungsorganisationen ab. Diese ließen im Verbund mit Parteien, Verbänden, Pfadfindergruppen und selbsternannten Anwerbern in den folgenden 16 Monaten weniges unversucht, um der Armee neue Rekruten zuzuführen. Allein das PRC veröffentlichte 54 Millionen Plakate und Pamphlete und organisierte 12.000 Veranstaltungen.149 Besonderes Aufsehen und scharfen Protest unter Liberalen und Labouranhängern erregte die Praxis einiger bürgerlicher Frauen, jedem Mann, den sie nicht in Uniform antrafen, eine weiße Feder auszuhändigen. Dieser Druck auf die jungen Männer machte nicht nur für jedermann die hohe Bedeutung militärischer Männlichkeitsvorstcllungen im Krieg augenfällig, sondern band auch die Staatsbürgerpflicht jedes Mannes direkt an den Wehrdienst für die angegriffene Nation. Diese enge Verknüpfung von Wehrpflicht und Staatsbürgerrecht stellte seit der Amerikanischen und Französischen Revolution eine immer wieder aktualisierbare Denkfigur dar.150 So begriff auch der »Observer« »the principle of universal service as the fundamental condition of male citizenship«.151 Wollte man nicht als unmännlicher Feigling oder antinationaler 147 MG, 14.8.1914, 4. Vgl. Osborne, Voluntary, bes. 10-41; Douglas, Enlistment, 565-76; Parker, Lie, 33; Gullace, Women, 62-69. 148 Vgl. Reader, Call, 105-07; Adams/Poirier, Conscription, 55f. 149 Vgl. Douglas, Enlistment, 568-71; Reader, Call, 112-18. 150 Vgl. Frevert, Nation, passim, und insges. Kapitel IV. 151 OB, 30.8.1914, 6. Der Kriegsdienst stelle, so die TI, 20.9.1915, 9, »the first duty of a citizen« dar. »No man is worthy to claim citizenship of any Empire or nation who is not prepared to fight lor it when it is attacked«.

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Deutschlandfreund gelten, fiel es schwer, sich nicht zu verpflichten. Die Entscheidung, den Kriegsdienst nicht zu leisten, hielten zunehmend nicht nur Konservative und federverteilende Damen mit den Pflichten loyaler männlicher Bürger für unvereinbar.152 Der hohe soziale Identifikationsdruck, der auf einem jungen Briten lastete und in tendenziell allen Lebensbereichen spürbar wurde - in seinem Beruf, in seinem sozialen und regionalem Umfeld und in dem Appell an seine Männlichkeit - wirft deshalb nicht so sehr die Frage auf, warum sich jemand meldete, sondern welche Chancen bestanden, das nicht zu tun. Die Motive, die jemandem zum Eintritt in die Armee veranlassten, stammten daher nicht unbedingt aus dem Bereich nationalistischer Vorstellungen. Die durch den unorganisierten Charakter der verschiedenen Rekruticrungsmaßnahmen ausgelöste Unordnung bei der Aufstellung der »new army« begünstigte die gezielte staatliche Kontrolle des Menschenpotentials - und mittelfristig die Einführung der Wehrpflicht.153 Vor allem aber zeichnete sich immer deutlicher ab, dass das System der Freiwilligenarmee einen Anachronismus darstellte, der den Anforderungen eines totalen Krieges zunehmend weniger genügte. Nicht nur aus politisch-moralischen, sondern besonders aus ökonomisch-finanziellen Gründen hatte die Regierung Asquith zunächst den Abzug der Arbeitskräfte aus den Fabriken in das sich formierende Heer als kontraproduktiv erachtet. Großbritannien sollte seine Kriegführung wie im 18. und 19. Jahrhundert auf seine Seemacht und vor allem auf seine Wirtschafts- und Finanzkraft stützen. Auch die Liberale- und die Labourpresse hielten daran fest, dass der entscheidende Beitrag des Landes in seiner Finanz- und Wirtschaftskraft, nicht aber in seiner Truppenstärke zu liegen habe.154 Als jedoch die Hoffnungen auf einen raschen Sieg über Deutschland zerstoben, wurde immer mehr Verantwortlichen klar, dass die Grundlagen der bestehenden Kriegführung geändert werden mussten. Die militärische Lage für Großbritannien verschlechterte sich nach der Schlacht von Loos akut. Sie brachte Verluste, die man durch das Freiwilligensystem kaum noch ersetzen konnte. Hatten bei Kriegsbeginn viel zu viele potentielle Rekruten bereitgestanden, mangelte es nun an ihnen. Da außerdem Facharbeiter gerade in der Rüstungsindustrie und im Bergbau fehlten, ließ sich der Mangel an Rekruten nicht unkontrolliert auf Kosten der Industrie beheben. Im Kabinett sorgte man sich, wie die Ansprüche der Militärs und der Industrie gleichermaßen befriedigt werden konnten.155 152 Vgl. Gullacc, Women, bes. 151-83; Osborne, Voluntary-, 95f.; Reader, Call, 119f Pie linksliberale »Nation«, 17.7.1915, 508, sprach in diesem Zusammenhang von »moral compulsion«: »Moral compulsion means the raising of a free army, which has been educated to give the best of its manhood to a cause which deserves its sacrifices«. 153 Vgl. Osborne, Voluntary, 21 ff; French, Rise, 20-22. 154 »To win this war«, meinte der LL, 28.10.1915, 7, »Britain requires money, munitions, and men, and rigidly in the order stated. We must have the money to maintain our civil population and subside our Allies, to produce our munitions and equip our troops«. Vgl. Labour Party, Conference 1916, 97f; DC. 8.9.1915, 6; ON, 30.12.1915. 4.

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Eine Gruppe um Finanzminister Reginald McKenna befürwortete die Fortsetzung des bestellenden Systems auf der Grundlage einer Freiwilligenarmee und einer La isser-faire-Wirtschaft. Lloyd George sprach sich dagegen für eine gezielte staatliche Intervention und den gleichzeitig zu erfolgenden Ausbau einer gewaltigen britischen Streitmacht aus, da ohne sie die Entente den Krieg verlieren werde.136 Im Laufe des Jahres 1915 erwies sich die strategische Ausgangsannahme als falsch, nach der das ökonomische und Finanzielle Potential Großbritanniens in Kombination mit den Armeen Frankreichs und Russlands Deutschland zu schlagen imstande sei. Niemand hatte mit Materialschlachten von diesen Ausmaßen gerechnet.137 Klar war nun, dass Großbritanniens Sieg wesentlich von der Koordinierung seiner wirtschaftlichen und militärischen Leistungskraft abhing. Eben das versprach die Wehrpflicht zu leisten. Die Einführung der Wehrpflicht bedeutete nach Meinung ihrer Befürworter im konservativen Lager daher nicht notwendig - wenn auch dann faktisch - die Entstehung einer größeren Armee, erlaubte aber eine bedarfsgerechtere Verteilung des Menschenpotentials zwischen den Militärs und der Industrie. Die »Times« meinte, alles komme auf eine effiziente Organisation der Ressourcen an. In dieser Hinsicht hieße von Deutschland lernen siegen lernen: »The most effective argument hitherto brought against National Service is the economic argument that England [...] has industrial, commercial, and financial duties to render to the common cause which prevent her from developing her whole military strength. The answer is that the principle of universal liability to military service is the only rational basis upon which we can organize and coordinate, without waste and dissipation, our whole effort both military and economic. [...] Surely the achievements of Germany have at least taught us that«.158 Nach der Bildung der großen Koalition im Mai 1915 witterte man im konservativen Lager die Chance, die Gelegenheit des Krieges zu nutzen, um dem verhassten »liberalen England« das überfällige Ende zu bereiten. Günstigere Bedingungen für die Umgestaltung der liberalen Gesellschaftsordnung als in 155 »If we arc to aim at having 3.000.000 men with the colours«, führte ein Kabinettsmemorandum, PRO CAB 37/129/24 (8.6.1915) aus, »it is essential to consider whether we can afford economically to withdraw more (or perhaps even so many) from industry. Our value in the Quadruple Alliance for the successful prosecution of a prolonged war depends more on our finances and our credit than even on our splendid troops«. Vgl. Grieves, Politics, 3-5. 156 Vgl. Scott, Diaries, 134 (3.9.1915), sowie French, Strategy, 120f; Adams/Poirier, Conscription, 107-10; Rae, Conscience, 2f. 157 Vgl. French, Rise, 7-31; ders.. Strategy, 116-35. 158 TI, 18.8.1915,7. Die MP, 16.8.1915,6, assistierte: »The voluntary system (...] takes men at random from necessary and unnecessary occupations, thereby disorganising the country. (...) It is inefficient because it depends on chance, and gives the War Office no reasonable means of calculating the available ressources in men«. Vgl. DM, 6.7.1915,4; HoC V/ Bd. 73, 123f (5.7.1915); HoC: V/ Bd. 73, 2417f. (28.7.1915), sowie Grieves, Politics, 16f.

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dem sich abzeichnenden totalen Krieg waren kaum zu erwarten. Da vor allem aber die Regierung Asquith sich als unfähig erwiesen hatte, den Krieg zu gewinnen, fühlten zahlreiche Konservative sich doppelt in die Pflicht genommen, außer der bestehenden liberalen Gesellschaftsordnung auch der liberalen Kriegführung den Kampf anzusagen. Um das Ziel einer effizienteren, militärisch mobilisierten und staatlich kontrollierten Gesellschaft zu erreichen, stellte die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht sowohl ein Mittel als auch einen Zweck dar.159 Eine zentrale Rolle bei der Wehrpflichtkampagne der Konservativen kam ihrem Nationalismus zu: Einerseits ließ sich ihre Agitation nur mit der »nationalen Notwendigkeit« in Zeiten höchster Gefahr legitimieren, andererseits begünstigte dieser Nationalismus ihre antagonistische Wahrnehmung der innenpolitischen Auseinandersetzung. Angesichts des totalen Krieges blieb so kaum noch Raum für legitime innenpolitische Differenzen, da jeder Gegner der Wehrpflicht eine potentielle Bedrohung der um ihre nackte Existenz kämpfenden britischen Nation darstellte.l60 Taktische Motive wie aufrichtiggeglaubte nationale Vorstellungen verschränkten sich unentwirrbar. Die Tatsache, dass die politischen Akteure sich über die Instrumentalisierbarkeit des Nationalismus im klaren waren, verstärkte nur noch seine Wirkung. Wer sich die Umwelt durch nationalistische Deutungen aneignete, der nahm sie bald nicht anders als eine auf diese Weise bereits gegebene war. An die Spitze der Agitation gegen das bestehende Freiwilligensystem setzte sich nicht die durch die Verpflichtungen der Koalitionsregierung gezähmte konservative Parteiführung, sondern die Northcliffe-Presse im Verein mit der radikalen Rechten. Die Aufwertung der Presse in den politischen Auseinandersetzungen der Kriegszeit zeigte sich erneut in der konservativen Wehrpflichtkampagne. Eine Mehrheit war für die Wehrpflicht in der Regierung und im Parlament nicht in Sicht. Daher kam es darauf an, eine Mehrheit in der britischen Öffentlichkeit hinter dem Vorstoß mit Hilfe nationalistischer Argumente zu konstruieren und diese als Ausdruck des Willens der britischen Nation darzustellen. Seit dem Frühjahr 1915 zeichnete sich eine konzertierte Aktion zwischen Northcliffe und Milner ab. Milner übernahm im Juli den seit dem Tod Lord Roberts 1914 verwaisten Vorsitz der NSL. Fortab nahm die NSL ihre seit Kriegsausbruch suspendierte Wehrpflichtkampagne mit neuem Elan wieder auf Lord Northcliffe versicherte Milner immer wieder privat und öffentlich der Unterstützung der »Times« und der »Daily Mail«, und auch andere konservative Blätter verlangten immer offener eine neue Politik in der Kriegführung. 161 159 Vgl. Scally, Origins, 263f.; Adams/Poirier, Conscription, 64. 160 »Our worst and most formidable foes arc dwelling in our own tents«, J B, 8.1.1916, 11. 161 Vgl. Collin, Proconsul, 250f„ 274-80; Adams/Poiner, Conscription, 84-89; Jordan, Politics, 168f.

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Die Argumente der Befürworter der Wehrpflicht, die sich oft weit von der bekannten militärischen und ökonomischen Begründung entfernten, zeigten, welche Emotionen die Debatte auslöste. Zunächst suchten die Wortführer der Kampagne klarzustellen, dass ihrer Handlung keine sinistren Motive zugrunde lägen, ja, dass die Wehrpflicht vielmehr von der Nation selber gewünscht werde. Wenn die souveräne Gemeinschaft sich für die Abschaffung des Freiwilligensystems entscheide, gelte alles liberale Gerede von staatlichem Zwang und Unterdrückung nicht mehr.162 Scharf kontrastierte die »Daily Mail« den Willen der Nation mit dem der inkompetenten Regierung: »The nation for which they [die Regierung - SOM] pretend to speak is thinking not of votes but of victory«.163 Die konservativen Redner und Leitartikler betonten unablässig, dass die Einführung der Wehrpflicht über Sieg und Niederlage im Krieg und damit letztlich über den Fortbestand oder das Ende des Empires entscheide. Das streng dichotome nationalistische Denken von Sieg oder Vernichtung übertrug bereits durch diese Zuspitzung die außenpolitische Frontstellung auf die Innenpolitik. In dem Manifest der NSL, mit der sie die neue Phase ihrer Kampagne einleitete und das die rechte Presse beinahe geschlossen abdruckte, hieß es dazu: »The existence of the British Empire depends upon the success in this war, and it becomes increasingly evident that to obtain success we must put forward our whole strength by establishing universal and compulsory service«.164 Deutlicher noch wurde die »Morning Post«, die mahnte, dass es nur noch um die nackte Existenz Britanniens gehe: »The youth of this country must either be prepared to fight for their liberties or be slaves. [...] The nation itself must be organised as a military body. There is no help for it. The doctrine that we are fighting merely for something extraneous has long gone down the wind. We are fighting for nothing short of our national existence«.Uo Genau diese nationale Gefahr entzöge auch der liberalen Wertschätzung persönlicher Freiheit die Grundlage. In Zeiten höchster Bedrohung habe jeder Staat das Recht, seine Bürger zum Kriegsdienst zu zwingen. »We are not in love with any invasions of the liberties of the subject. But they arc better than an invasion of England, and better is this disciplined compulsion from within than compulsion applied by the Teuton from without«.166 Kurz, die Interessen des Kollektivs rangierten vor den Interessen des einzelnen. »National Liberty«, so der »Observer«, stehe über »individual Liberty«.167 Die Schärfe der Auseinandersetzung um die Wehrpflicht demonstrierte nicht nur die kompromisslose konservative Gegenüberstellung von Sieg oder 162 Vgl. TI, 20.8.1915, 9; MP, 28.12.1915, 6. 163 DM, 6.7.1915, 4 (Herv. i. Orig.). Vgl. OB, 2.1.1916. 10. 164 TI, 20.8.1915, 7. Vgl. MP, 16.8.1915, 6. 165 MP, 11.5.1915, 6. Vgl. TI, 12.1.1916, 9: »Nothing matters but to win the war, and [...] nothing will matter hereafter if we lose it. |...] It means that our all is at stake«. 166 MP, 28.12.1915, 6. 167 OB, 12.9.1915, 8. Vgl. HoCV/Bd. 73, 142f. (5.7.1915).

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Vernichtung. Ebenso deutlich veranschaulichte die konservative Polemik gegen den sogenannten »slacker« oder »shirker« eine neue fundamentalistische Qualität rechter Feindschaft. Hatte bereits seit Kriegsausbruch ein hoher sozialer und ideologischer Druck auf jedem jungen Briten gelegen, für die Sache der Nation zu kämpfen, machte sich die rechte Presse seit dem Frühjahr 1915 daran, potentiell jeden männlichen Zivilisten als »Drückeberger« zu diffamieren. Der hysterische Hass konservativer Journalisten - auch jenseits des demagogischen »John Bull« und der reißerischen »Daily Mail« - fixierte sich auf den »shirker«, den sie - oft in einer an biologistischen Metaphern reichen Sprache als Parasit aus der Nation ausschlossen. »Voluntary service«, so die »Daily Mail«, »takes the spiritual pick of the nation, places them in the firing line, and sacrifices them there that the coward and shirker may live at ease«.168 Selbst der »Observer«, sonst rechtsradikaler Polemik wenig verdächtig, hetzte unter der Schlagzeile »Our Real Enemy«: »In a free society at war no fit man of fighting age has the right to be a parasite upon the blood of his fellows. When democracy is at war the shirker who, after eighteen month dares still to nourish his selfish prudence and advantage upon the sacrifice of the community is a vampire on the State«.169 Die neue Qualität dieser Feindschaft bestand darin, dass sie ein nach konservativen Maßstäben abweichendes gesellschaftliches Verhalten kriminalisierte und pathologisierte. Zudem kennzeichnete ein ungekannte Aggression die nationalistisch formulierten und motivierten Invektiven. Für Alternativen ließ dieses Reden und Denken wenig Raum. Tatsächliche oder imaginäre Kriegsdienstverweigerer traf diese totale Feindschaft ebenso wie die politischen Gegner der Wehrpflicht. Nach der Abstimmung über das Wehrpflichtgesetz etwa diffamierte die »Times« die unterlegene linkshberale Minderheit als »a handful of inveterate cranks«.170 Die militärische Bedrohung durch den ungünstigen Kriegsverlauf auf der einen Seite und das alternativlos kategorisierende Weltbild des Nationalismus auf der anderen begünstigten eine Feindschaft, die abweichende politische Überzeugungen und Verhaltensformen als illegal stigmatisierte. Langfristig rief die konservative Pressekampagne - wie Lord Milner schon früh richtig befürchtete - mehr öffentlichen Widerstand hervor, als sie den Interessen der Wehrpflichtanhänger nützte.171 Anstatt ihre Kontrahenten zu überzeugen, sahen sich die Advokaten der Wehrpflicht mit einer wachsenden öffentlichen Gegnerschaft konfrontiert. Denn auch die Gegner der Wehrpflicht beriefen sich auf den Willen der britischen Nation als letzte Legitimationsinstanz und drehten den Konservativen das nationale Wort im Munde 168 169 170 171

DM, 6.7.1915, 4. Vgl. T. Kennedy, Opinion, bes. 108-110; ders., Hound, passim. OH, 9.1.1916, 10. Vgl. OB, 12.9.1915, 8; MP, 11.5.1915,6. ΤΙ, 12.1.1916,9. Vgl. Gollm, Proconsul, 278f; Koss, Fleet, 178.

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herum. Die von vielen Konservativen erhoffte »nationale Bekehrung« der Liberalen und Labours fand nicht statt. Vielmehr begünstigten ihre umgewerteten liberalen und linken Nationsvorstellungen den Widerstand gegen die Wehrpflicht. Im Sommer 1915 widersetzten sich drei Gruppen ihrer Einführung: die Mehrheit der Liberalen Partei und der liberalen Öffentlichkeit als Einflussreichster Faktor, die organisierte Arbeiterbewegung und diverse religiöse und pazifistische Vereinigungen. Angesichts der konservativen Wehrpflichtkampagne sahen sich die Liberalen - quasi in Umkehrung der etablierten politischen Stoßrichtung - in die Rolle des Verteidigers eines traditionellen britischen Selbstvcrständnisses versetzt. Denn im liberalen Lager bestand eine ticfverwurzelte, prinzipielle Feindschaft gegen jede Art von militärischer Verpflichtung. Von Stolz auf die britische Zivilgesellschaft und die Freiwilligenarmee erfüllt, erachteten die Liberalen die zwangsweise Rekrutierung als unvereinbar mit dem britischen Nationalcharakter. »Free service is one of the proud traditions of this country. No one will deny that it harmonises with the bold, free character of the British people«.172 Die »Nation« rückte die Freiheit in den Mittelpunkt des britischen Wertekanons: »Law, Nationality, Liberty, have been our three watchwords. Liberty, indeed, has been something more than a watchword. It is our political soul«.173 Im Parlament paraphrasierte Llewellyn Williams die berühmten Zeilen Rudyard Kiplings, um klarzustellen, dass England weniger durch den Ausgang des Krieges, als vielmehr mit der Verteidigung seiner Freiheit stehe oder falle: »At the beginning of the War Rudyard Kipling asked in a line which has become famous ›Who dies if England lives?‹ [...] I should like to ask the converse question. ›Who lives if England dies?‹ [...] England that has carried freedom to every corner of the world; England that has been a pattern to free institutions everywhere. Are we in order to bring this war to a successful conclusion, to lose all that England stands for?«.174 In den Augen der Liberalen hatte der Staat nur das Recht, seine Bürger um die Ableistung des Militärdienstes zu ersuchen, nicht sie zu zwingen, da Zwang im Widerspruch zu den Prinzipien der Freiheit und Demokratie stehe, für die man ja überhaupt Krieg führe. »Democratic Freedom«, so die »Daily News«, »as we understand it in this country cannot co-exist with a settled policy of conscription«.175 Die Wertschätzung des freien, individuellen Entschlusses zu kämpfen war so hoch, dass man sich fragte, welchen moralischen aber auch welchen militärischen Wert ein Wehrpflichtiger überhaupt haben kön172 DC, 20.8.1915, 4. Vgl. DN, 30.12.1915,4., sowie Cassar, Asquith, 148f; Rao, Conscience, 5. 173 NA, 9.1.1915, 460. 174 Hoc V/ Bd. 73, 122 (5.7.1915). 175 DN, 30.12.1915, 4. Vgl. »The working nation is dying, paying, toiling, suffering, to see the war through. Why? Because in the main this nation believes that the struggle is for liberty against military tyranny«, NA, 2.10.1915, 5.

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ne.176 Das Freiwilligensystem gründete sich demnach im Gegensatz zur Wehrpflicht auf einen moralischen Akt der freien Überzeugung des einzelnen. Eindringlich warnten die Liberalen davor, den »spiritual factor« im Krieg zu ignorieren, denn dieser, so die »Nation«, »has governed our intervention in it, and will, we hope, ensure our victory«.177 Kurz, das Ende der Freiwilligenarmee bedeute »to knock the bottom out of our moral case against Germany«.178 England müsse sich auch im Falle der nun als Allheilmittel propagierten Wehrpflicht davor hüten, Deutschland mit seinen eigenen Mitteln schlagen zu wollen. »England is not Prussia, thank God. Freedom, which to us is the breath of life, is a word unknown in the Prussian vocabulary. We shall beat down the enemy by acting in harmony with our own traditions, not by copying those of Germany. It is not necessary in order to win this war that we should lose our own souls«.179 Auch als das Freiwilligensystem immer weniger in der Lage war, den wachsenden militärischen und wirtschaftlichen Anforderungen des Landes zu genügen, hielt eine Mehrheit der Liberalen bis zum Januar 1916- und eine linksliberale Minderheit darüber hinaus - aus Überzeugung an ihm fest.180 Auch wenn viele Linksliberale auf theoretischer Ebene einräumten, dass ein totaler Krieg am effizientesten mit Hilfe einer Wehrpflichtigenarmee geführt werden könne, waren sie doch eher bereit, die Konsequenzen einer ungenügenden Organisation der Kriegführung zu akzeptieren, als weitere staatliche Intervention und den anhaltenden Abbau der liberalen Gesellschaftsordnung hinzunehmen. »It is the essence of this country's case«, befand die »Daily News«, »that she was not so organised and that any Power which is is a menace to her neighbours«.181 Außerdem: Wo werde die staatliche Beschneidung individueller Freiheit im angeblichen Interesse der bedrohten Nation halt machen, fragte George Bernard Shaw in einer satirischen Abrechnung mit den Befürwortern der Wehrpflicht. Wenn man schon dem Staat das Recht übertrage, seine Bürger 176 »Will the forced man fight with the same enthusiasm as the free man?« DC, 20.8.1915, 4. Vgl. Gullace, Women, 95f. 177 Ν A, 9.1.1915, 460. »Let us continue our voluntary system«, so der Labour Abgeordnete James Hcnry Thomas im HoC V/ Bd. 73, 2405 (28.7.1915), »let us realise that the spirit which animates our gallant soldiers and sailors is the feeling that they are free man«. Vgl. Gullace. Women, 98-104. 178 NA, 2.10.1915, 5. 179 DC, 8.9.1915, 6. 180 Nur vereinzelt erklärten liberale Zeitungen und Politiker schon vorher, wie der Lloyd George nahestehende »Manchester Guardian«, 8.9.1915, 6, im militärischen Notfall selbst die Wehrpflicht zu akzeptieren um das Schlimmste - einen deutschen Sieg - zu verhindern. »But we should accept this evil [...] for the sake of averting something infinitely worse«. Vgl. DN, 15.7.1915, 4; HoC V/ Bd. 73, 66 (5.7.1915), und insges. zu den Belastungen des Liberalismus im Krieg: Τ. Wilson. Downfall, 23-101; Freeden, Liberalism, 18-44. 181 DN, 15.7.1915,4. Vgl. Scott, Dianes, 134 (3.9.1915); T. Wilson, Downfall, 32-35;Jordan, Politics. 155f; Gardiner. Fleet, 178-80.

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zum »Wohle der Nation« in die Armee zu zwingen, warum dann nicht auch zur Polygamie? »I have an open mind on the subject; for if enough of the interests of the nation were at stake we should clearly have to resort to Conscription; just as we should have to resort to compulsory marriage, and even compulsory polygamy, if our population were reduced by war [...] and our women refused to replenish it voluntary - say, on the ground that it did not seem worth while to breed men as food for cannon«.182 Die ideologische Verknüpfung des Freiwilligcnsystems mit dem Nationalismus der Liberalen - und darum mit ihren Gesellschaftsvorstellungen, Werten und Emotionen - erklärt ihre kompromisslose Ablehnung der Wehrpflicht und die Schärfe der antikonservativen Gegenpolemik. Die Verortung der konservativen Wehrpflichtkampagne im nationalistischen Koordinatensystem der Liberalen förderte ihren Verdacht, dass hinter dem propagierten Wohl der Nation nur eine verwerfliche Machtgier der Rechten stehe, die den Liberalen - aber letztlich auch dem Land schaden werde. »Most conscriptionists«, urteilte der »New Statesman«, »cannot be sincere in their advocacy, because they really look not on conscription as an expedient for winning the war, but on the war as an expedient for getting conscription«.181 Mit Hilfe der Wehrpflicht suchten die Konservativen das Land unter ein Zwangssystem zu stellen, welches auf Dauer das Ende der englischen Freiheit besiegeln würde.184 Die Aufgabe der Liberalen müsse es daher sein, gegen die doppelte konservative Herausforderung zu kämpfen: »Against the principle of conscription, and against the unscrupulous and unpatriotic intriguing by which its advocates have been trying to push it«.185 Es könne nicht länger hingenommen werden, dass ausgerechnet diejenigen, welche andauernd die Einheit und das Wohl der Nation bemühten, deren im Krieg lebenswichtige Einheit faktisch untergrüben. »Everybody pays liphomage to mational unity‹: but in face of the reckless blows dealt constantly at it by some conscriptionists one cannot help wondering if they have troubled to think what it involves«.186 Gerade die selbsternannten Superpatrioten im konservativen Lager spalteten mit ihrer Agitation die britische Nation und gefährdeten dadurch letztlich die Kriegführung des Landes. »The conscriptionists do not mind wrecking Ministries or creating a national schism in war-time, if only they can catch what they think the golden opportunity for wire-pulling and 182 1)N, 5.1.1916, 4. Entsprechend auch die Parodie in der SR 13 (1916), 361-63 über einen drohenden »Compulsory Marriage Hill« im Jahre 1920. 183 NS, 21.8.1915, 460. Vgl. auch die Polemik von Snowden gegen die NSL, Milner und Northcliffe in HoC V/ Bd. 73, 109f. (5.7.1915). 184 Die Wehrpflicht, so die »Daily News«, 4.1.1916,4, »has been promoted by those who seek compulsion, not as an incident of the war, but as a permanent condition of English life«. Vgl. DN, 5.1.1916, 4. 185 DC, 6.7.1915, 8. 186 P C , 18.10.1915, 6. Vgl. HoC V/Bd. 73, 121 (5.7.1915).

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panic-driving the country into their trap«.187 Die größte Bedrohung der britischen Nation und ihrer Siegeschancen gehe daher aus von letztlich so unpatriotischen wie unbritischen Männern vom Schlage eines »Lord Milner, son of a German, and the most German mind in the Empire«.188 Auch im Kampf um die Wehrpflicht ließen die Liberalen wenig Zweifel daran, dass der gefährlichste Feind der kämpfenden Nation im konservativen Lager stehe. »They are the enemies not of Germany, but of the sacred cause to which this nation is committed«.189 Jenseits des liberalen Lagers stellten die Labour Partei und die Gewerkschaften die wichtigsten Gegner der Wehrpflicht dar. Der Gewerkschaftskongress, der im September 1915 in Bristol tagte und drei Millionen Mitglieder repräsentierte, bezog lautstark gegen die Wehrpflichtkampagne Position. Vereinzelt drohten labournahe Zeitungen mehr oder weniger unverhohlen sogar mit der Möglichkeit einer Revolution: »Are our rulers so sure it [Conscription - SOM ] will not cause a revolution now?«190 Angesichts des seit Kriegsbeginn rapide gewachsenen Einflusses der Arbeiterbewegung war klar, dass die Einführung der Wehrpflicht nicht gegen ihren geschlossenen Widerstand erfolgen konnte.191 Im Gegensatz zu vielen Liberalen entsprang der Protest innerhalb der Arbeiterbewegung nicht der Furcht vor einem Ende der Laisser-faire-Produktion und staatlicher Organisation. Selbst der »Labour Leader« stellte fest: »We are in favour of national service in the truest sense, organisation is necessary for national service«.192 Statt weiterhin einen britischen Sieg durch die Opfer der Arbeiter zu erwarten, hänge der erfolgreiche Ausgang des Krieges von einem vollständigen staatlichen Zugriff auf das Großkapital und die Produktionsmittel ab. »Conscript wealth, and the Conscription of life will be unnecessary«.193 Die Anhänger von Labour bewegte die tiefsitzende Sorge, dass die Wehrpflicht dafür missbraucht werden würde, die Arbeiter und ihre Organisationen ihrer in jahrelangen Kämpfen und Streiks erworbenen Rechte zu berauben. Auf der seit Kriegsausbruch ersten Konferenz der Labour-Partei im Januar 1916 brachte ein Delegierter das auf die Formel: »You cannot have forced military 187 DC, 6.7.1915, 8. »They [die Konservativen - SOM] make light of the tremendous surrender of national strength involved in throwing aside the existing national unity, and dividing the country into two parts«, NA, 2.10.1915, 6. Vgl. ΝΑ, 9.1.1915, 460; NS, 11.9.1915, 534. 188 Ν A, 2.10.1915, St. 189 DN, 30.12.1915, 4. 190 HE, 1.1.1916, 9. Vgl. NS, 11.9.1915, 534. Der Herausgeber des »Guardian« Charles P. Scott, Diaries, 168, schrieb Donar Law noch am 6. Januar 1916: »If the attempt is made to enforce military service on angry men there will be bloodshed at home as well as abroad and very grave labour troubles besides«. 191 Vgl. Jordan, Politics, 149f.; Adams/Poirier, Conscription, 114-16; Rae, Conscience. 9-12. 192 LL, 15.7.1915, 6. Vgl. HoC V/Bd. 73, 139f (5.7.1915). 193 LL, 6.1.1916, 1. Vgl. LL, 21.10.1915, 6; Labour Party, Conference 1916, 97f.

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service without at any rate running the risk of forced industrial service«.194 Deutlicher noch warnte der »Herald«: »If anyone tells us we are to have military conscription without industrial, we reply that it is a lie. [...] Once your man is a conscript what is to prevent the Government from setting him [...] in the trenches or the factory, just as it pleases? What is to prevent it from breaking the power of the strike for good and all?«195 Auch das Argument der Konservativen, dass die Wehrpflicht allemal einem deutschen Sieg vorzuziehen sei, verfing nach dem Urteil der Arbeiterpresse nicht: Der Wehrpflicht und den Motiven ihrer konservativen Anhänger nachzugeben kam für sie einem britischen Zusammenbruch gleich. Mit Hilfe ihres Nationalismus widersprachen sie der konservativen Bestimmung von Sieg und Niederlage nicht nur, sondern definierten selber neu, was eine britische Niederlage ausmachte. »Would you prefer defeat to Conscription?« parodierte der »Labour Leader« die Attitüde seiner Gegner. »Our answer is this: Conscription is defeat. It represents the triumph of Germanism, of the very militarism we set out to destroy«.196 Die Schärfe der Polemik gegen die Einführung der Wehrpflicht resultierte wesentlich daraus, dass die Zwangsrekrutierung für Labour einer fundamentalen Bedrohung aller eigenen Rechte und Werte gleichkam. Diese Tendenz verstärkte ihr »linker« Nationalismus, dessen streng antagonistische Ordnung die konservative Wehrpflichtkampagne in Opposition zu den eigenen - selbstredend urbritischen -Gesellschaftsvorstellungen und Bedrohungsängsten setzte. Das Ergebnis war eine nicht nur semantische Aufhebung der Grenze zwischen dem konservativen und dem deutschen Feind, die es erschwerte, die Wehrpflichtkampagne anders denn als unbritische Verschwörung zu begreifen. Die Agitation der Konservativen erschien daher nur als skrupelloser Versuch der Instrumentalisierung der »nation's difficulties to force into our lives an alien principle«.197 Auch Labour vollzog mit Hilfe ihres Nationalismus nicht nur die fundamentalistische Ausgrenzung des politischen Gegners aus der britischen Nation, sondern auch seine Pathologisierung, wenn die Parteipresse etwa vor den »lunatic antipatriots« im konservativen Lager warnte.198 »Surely the term ›pro-German‹ is applicable to these men, who would sacrifice their country's safety to secure class dominaton. [...] There exists no treachery more odious, [... ] than that which, in the cloak of patriotism, seeks class-interests and privilige even to the undoing of the nation and the victory of Germany«.199 Daher war 194 Labour Party, Conference 1916, 97. 195 I IE, 25.9.1915, 9. Vgl. HE, 29.5.1915, 9; 24.7.1915, 9; LL, 6.1.1916, 1. 196 LL, 21.10.1915, 6. (Herv. i. Orig.). »From what could conscription save the country?«, fragte auch der »Herald«, 25.9.1915,9. »Conscription itself is the very thing from which the country has to be saved«. (Herv. i. Orig.). Vgl. DC, 27.3.1915, 2. 197 LL, 28.10.1915, 7. Auch die »Socialist Review« 12 (1915), 618, warnte vor »the consequent injuring and weakening of the organic life of the British nation«. 198 HE, 29.5.1915, 9. 199 LL, 28.10.1915, 7. Vgl. HE, 24.7.1915, 9; SR 12 (1915), 406.

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auch für die »Socialist Review« klar, dass der gefährlichste Feind Britanniens im eigenen Land stand: »The danger, in fact, lies less in Prussian militarism from without than from a panicky Prussianism from within«.200 Im Sommer 1915 sah sich die Koalitionsregierung daher mit dem politischen Druck zweier unversöhnlicher Positionen konfrontiert: Die Konservativen verlangten im Interesse der nationalen Sicherheit die sofortige Einführung der Wehrpflicht, die Gegner dieses Prinzips (Liberale und Labour) verteidigten das Recht eines jeden, über die Leistung des Kriegsdienstes für sein Land frei zu entscheiden, als Ausdruck des britischen Nationalcharakters. Diese Auseinandersetzung fügte Asquith' vorhandenen Sorgen - den Krieg zu gewinnen und die Koalition, sein eigenes Amt und die Einheit der Partei zu erhalten - noch ein weiteres akutes Problem hinzu. Dieses bedurfte um so dringlicher einer Lösung, weil es die übrigen Konfliktfelder überwölbte. Der Premierminister lehnte persönlich die Wehrpflicht ab und war sich sicher, in diesem Punkt die Stimmung in seiner Partei und die der Mehrheit der britischen Öffentlichkeit zu repräsentieren.201 Weit mehr als um den weiteren Abbau liberaler Freiheiten sorgte sich Asquith um den Fortbestand eines tragfähigen politischen Grundkonsenses, ohne den nicht nur die Fortsetzung des Krieges unmöglich schien. Seine gebetsmühlenartige Beschwörung der »nationalen Einheit« in der Wehrpflichtfrage war viel mehr als eine rein rhetorische oder taktische Maßnahme. Seinem konservativen Kabinettskollegen Arthur Balfour schrieb Asquith in Überschätzung des zu erwartenden Widerstandes in der Arbeiterbewegung: »Any attempt [...] to establish compulsion, either military or industrial, wd. encounter the practically united & passionately vehement opposition of organised labour. [...] It wd. mean revolt, if not revolution«.202 Auch Balfour betonte in einem Kabinettsmemorandum die eminent politische Sprengkraft der Wehrpflichtfragc und den Wert nationaler Einheit: »This question, however, though in appearance purely technical, has also a political side. National unity is a great military asset. [...] At the worst we might have a riotous and rebellious proletariat fighting at home for the freedom which they now believe we are fighting for abroad. [...] If any large number of our people are driven, by our action, into this attitude, our capacity for prolonged and effectice offensive is over; and [...] we shall have betrayed the cause and the power of our Allies«.203 Als aber im Frühherbst 1915 die Anzahl der Freiwilligen weiter zurückging und die Grenzen des bestehenden Rekrutierungssystems sowie das Ausmaß der militärischen Niederlage in Flandern unübersehbar geworden waren, beschloss Asquith, die Einführung der Wehrpflicht selbst um den Preis einer Krise inncr2(H) SR 12(1915), 618. 201 Vgl. T. Wilson, Downfall, 37; Cassar, Asquith, 169. 202 Asquith an Balfour, 18.9.1915, zit. n. Adams/Poirier, Conscription, 117. Vgl. Asquith Rede im HoC V/ Bd. 75, 521 f. (2.11.1915), sowie Jordan, Politics, 93f., 146. 203 PRO CAB 37/133/7 (22.8.1915).

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halb der liberalen Partei nicht mehr grundsätzlich auszuschließen. Doch um diesen Bruch mit der britischen Tradition zu vollziehen, ließ sich die bittere Medizin der Wehrpflicht nach Auffassung des Premierministers nur in kleinen Dosen verabreichen.2“4 Angesichts des zu erwartenden massiven Widerstandes kam es dem Kabinett darauf an, den Ernst der Lage und die Grenzen des Freiwilligensystems öffentlich zu demonstrieren, um dann gegebenenfalls eine Mehrheit in Parlament und Öffentlichkeit für diese unpopuläre Maßnahme zu finden.205 Zunächst aber sollte eine letzte große Rekrutierungskampagne über die Beibehaltung des Freiwilligensystems entscheiden. Im Oktober 1915 beauftrage Asquith ausgerechnet den Earl of Derby, einen rechtskonservativen Tory und Mitglied der NSL, mit der Organisation der Rekrutierungskampagne, die den letzten Test des Freiwilligensystems abgeben sollte. Bereits diese Wahl wirft die Frage auf, inwieweit das Scheitern des »Derby Scheine« von vornherein einkalkuliert war. Zudem ließ sich die Vorgabe von 35.000 Rekruten pro Woche in einer von ihrer industriellen Produktion abhängigen Gesellschaft - zumal nach 16 Monaten Krieg - nicht erfüllen. Doch das zu erwartende Scheitern der Kampagne versprach eine Mehrheit in Parlament und Öffentlichkeit für eine danach unvermeidbar gewordene Wehrpflicht.206 Vom 11. Oktober ab appellierte Derby an alle Männer im Alter zwischen 18 und 41 Jahren, sich direkt zur Armee zu verpflichten oder sich in einer von 46 Gruppen - Nummer 1 bis 23 für Ledige und 24 bis 46 für Verheiratete - für den Fall der Einführung der Wehrpflicht registrieren zu lassen. Lange Schlangen vor den Rekrutierungsbüros zeigten den sichtbaren Erfolg des erneuten »moral pressure« an.207 Der Rekrutierung hilfreich war sicher auch die Verbindung von Freiwilligkeit und Drohung. Ungeniert hatte der Premierminister sich die konservative Forderung zu eigen gemacht, dass alle verfügbaren Ledigen vor den Verheirateten eingezogen werden sollten.208 Im Unterhaus erklärte er am 2. November feierlich, vor den Verheirateten zunächst alle Ledigen, wenn nötig unter Zwang, zu rekrutieren.209 Zwar rief Asquith' Ehrenwort den wütenden Protest zahlreicher Linksliberaler und Labouranhänger hervor, die ihm das 204 Vgl. Scott, Dianes, 132 (3.9.1915); Koss, Asquith, 416-20; Cassar. Asquith, 152-54, 169, und zur Entwicklung der Frciwilligenrckruticrung, Reader, Call, 102. 205 »Only if you show the country that conscription is an immediate necessity forced upon it by an unexampled occasion, will old controversies be allowed to sleep and old prejudices be forgotten«, PRO CAB 37/133/7 (22.8.1915). Und Asquith erklärte im HoC V/ Bd. 75, 522 (2.11.1915), die Wehrpflicht nicht ohne »something in the nature of general consent« einzuführen. 206 Vgl. Adams/Poiricr, Conscription, 118-22; Rae, Conscience, 15-18; Jordan, Politics, 178f., 199f.;Grieves, Politics, 22f. 207 1)T, 16.10.1915, 8. Vgl. Rae, Conscience, 18f. und zu den Freiwilligenzahlcn unter den Bedingungen des »Derby Scheme«: Winter, War, 38-40. 208 Vgl. zu dieser konservativen Kernforderung: DM, 6.7.1915, 4; MP, 16.8.1915, 6; HoC V/ Bd. 73, 2407f. (28.7.1915), sowie T. Wilson, Downfall, 74. 209 HoC V/ Bd. 75, 524 (2.11.1915). Vgl. Adams/Poiricr, Conscription, 129-32; Rae. Conscience, 19.

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Recht absprachen, so über britische Bürger zu verfügen.210 Doch erlaubte dieses kalkulierte Versprechen zur Beruhigung der liberalen Partei, die bevorstehende Gesetzesvorlage nicht nur als militärische Notwendigkeit, sondern auch als Erfüllung eines gegebenen Wortes darzustellen. Noch vor dem offiziellen Ende des »Derby Scheme« am 12. Dezember war, entgegen der allgemeinen Erwartung, das Schicksal des Freiwilligensystems besiegelt. Doch als die endgültige Entscheidung innerhalb des Kabinetts bevorstand, erwies sich auch dort erneut die politische Sprengkraft der Wehrpflichtfrage. Noch bevor Derby das Kabinett am 1. Januar 1916 mit den endgültigen Zahlen konfrontierte, die besagten, dass 316.464 Unverheiratete ohne besondere Verpflichtungen sich nicht hatten registrieren lassen und die Kampagne gescheitert sei, stand die Zukunft der Regierung Asquith auf des Messers Schneide. Bis zum 29. Dezember 1915 hatten fünf führende liberale Minister ihre Demission angekündigt. Nur unter Aufbietung aller seiner Autorität und durch die Ausübung massiven Druckes gelang es Asquith, seine Minister, bis auf den Staatssekretär des Innern, Sir John Simon, von ihrem Rücktritt abzuhalten. So konnte er zwar die Regierung retten, doch Simons Rücktritt, der betonte, diesen Bruch mit den liberalen Prinzipien nicht mitverantworten zu können, verlagerte die Gefahr aus dem Kabinett in das Parlament.211 Am S.Januar 1916 war das Unterhaus bis auf den letzten Platz gefüllt. Der Gesetzesvorschlag der Regierung sah die Einberufung aller unverheirateten Männer zwischen 18 und 41 Jahren vor. Die Einwohner Irlands, die Arbeiter in kriegswichtigen Betrieben und militärisch Untaugliche blieben von dem Gesetz ausgenommen. Um dem erwarteten liberalen Widerstand nach dem Rücktritt Simons zu begegnen, war kurzfristig auch die Verweigerung des Kriegsdienstes aus Gewissensgründen in die Vorlage aufgenommen worden. Die im Vergleich zu allen anderen kriegführenden Staaten beispiellose und großzügige Regelung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung sollte die weitgehende Übereinstimmung liberaler Werte mit der zu beschließenden Wehrpflicht demonstrieren.212 In seiner bewusst jeden offensiven Tonfall vermeidenden Rede umging Asquith sorgfältig den Begriff »conscription«. Gleichzeitig suchte er. auf der einen Seite den Konservativen zu demonstrieren, dass das Gesetz eine effektive Maßnahme zur Aufstellung einer Wehrpflichtigenarmee darstellte, und auf der anderen Seite die Liberalen davon zu überzeugen, dass kein Umsturz der bestehenden Gesellschaftsordnung, sondern nur die Erfüllung seines 210 »Mr. Asquith has no more right«, schimpfte G.B. Shaw, DIM, 5.1.1916, 4, »to of Ter the uncnlistcd married men of England my liberty to refuse military service than he has to offer them my hat«. Noch gebe es in England »limits which distinguish a British Premier from a Russian Tsar« Vgl. dagegen DM, 28.12.1915, 4. 211 Vgl. Cassar, Asquith, 158-62; Rae, Conscience, 20-27. 212 Vgl. Rae, Conscience, 34f, 41-51; T. Kennedy, Hound, 283f. u. passim, sowie Kapitel IV.2.a. 270 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1

Versprechens der Vorlage zugrunde liege.213 Auch die übrigen Befürworter der Wehrpflicht schlossen sich diesem Argumentationsmuster an. Weder stelle der Gesetzesentwurf einen historischen Bruch dar, noch sei der Krieg ohne ihn zu gewinnen. Und welcher patriotische Brite, fragte der konservative Abgeordnete Sir Arthur Griffith-Boscawen, könne das verantworten? Nationalistische Argumente erlaubten eine dichotome Reduktion des komplexen Problems auf Sieg oder Niederlage und erschwerten es, die Zustimmung zu verweigern, wenn man diese Prämissen akzeptierte. »This Bill is really in the nature of a very modest measure, and I cannot understand how any patriotic Englishman, who really wishes that the war shall be brought to a successful conclusion, can refuse to vote for its First Reading. That is the sole test. Do you want to win the War, or do you not? [...] If this War is to be carried on this Bill is necessary, and it is up to its opponents to show how the men can be got without it«.214 Die trotz des großen Drucks standhaften Wehrpflichtgegner aus der liberalen Partei verweigerten sich dieser nationalistischen Argumentationskeule. Die Alternative von Sieg oder Niederlage stelle sich eben so nicht, denn für wahre Patrioten bedeute bereits die Übernahme deutscher Methoden einen Sieg des Feindes. »I [...] care more for defending personal liberties than for any other subject whatever«, unterstrich Sir William Byles. »I'am anxious as anyone here that we should win the War, but I put it to the House that if we surrender our liberties, if we Germanise our institutions, will it be worth winning? We are fighting [...] just to prevent the horrors of Conscription from being fastened on our country, just to destroy German militarism. And it seems to me that by this Bill we shall be doing both«.215 Sir John Simon, der in seiner emotionsgeladenen Rede vergeblich das Parlament davon zu überzeugen versuchte, dass mit dem Gesetz ein historischer Umsturz drohte, fragte seine Kollegen weitsichtig: »Does anybody really suppose that once the principle of compulsion is conceded you are going to stop here?«216 Doch die Isolation der Wehrpflichtgegner im Parlament und besonders die Haltung der paralysierten liberalen Partei erleichterten der Koalitionsregierung ihr Gesetzesvorhaben. Viele im liberalen Lagerwaren inzwischen bereit, sogar die Wehrpflicht zu akzeptieren, wenn ohne sie ein Sieg unmöglich schien. Auf schwankende Abgeordnete war massiver Druck ausgeübt worden. Vor allem aber fürchtete die Mehrheit innerhalb der Fraktion zu Recht, durch ihre Ablehnung die Regierung Asquith zu Fall zu bringen und eine reine Toryregierung ins Amt zu heben. Nur eine kleine linksliberale Minderheit erklärte offen, dass

213 HoC V/ Bd. 77, 949-62 (5.1.1916). Vgl. Rae, Conscience, 32-36; Jordan, Politics, 228f. 214 Ebd., 992, 991.

215 Ebd.,987f. 216 Ebd., 976. Vgl. Cassar, Asquith, 163; Jordan, Politics, 229.

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ihr angesichts von Asquith' beispiellosem Nachgeben auch der Sturz der Regierung wenig ausmache.217 Mit 403 Ja-Stimmen, 105 Nein-Stimmen und etwa 150 Enthaltungen passierte das erste Wehrpflichtgesetz in der englischen Geschichte seine erste Lesung. Der Triumph der Koalitionsregierung wird noch deutlicher, wenn man die Nein-Stimmen näher betrachtet, da alle 60 Abgeordneten der IPP, aber nur 34 Liberale und 11 der Labour-Partei gegen das Gesetz votierten.218 Weiterer Widerstand gegen das Wehrpflichtgesetz war nur noch durch die Arbeiterbewegung zu erwarten. Eine eilig nach London auf den 6. Januar einberufene Konferenz der Labour-Partei und der Gewerkschaften stimmte mit großer Mehrheit gegen die Einführung der Wehrpflicht und zog ihre drei Minister aus dem Kabinett ab. Doch obwohl die Parteipresse erneut Revolutionsdrohungen ausgab,219 kehrten die Labourminister in die Regierung zurück, als Asquith ihnen und der Partei versicherte, dass die Betriebe unter keinen Umständen unter militärische Kontrolle gestellt würden.220 Das Gesetz trat am 27. Januar 1916 in Kraft, gefolgt von der allgemeinen Wehrpflicht im Juni 1916. Für die unterschiedliche Auffassung von Staat und Nation ist es bezeichnend, dass die Frage der Wehrpflicht und alle in England daran gebundenen Probleme, Vorstellungen und Emotionen sich nie in Deutschland stellten. Während in England die drohende Wehrpflicht 18 Monate lang die Gesellschaft und die politischen Lager vollständig polarisierte, stand die Beibehaltung dieser Maßnahme in Deutschland jenseits jeder Kontroverse. Weder waren die Auffassungen von der Nation in Deutschland mit vergleichbaren liberalen Werten und Freiheitsvorstellungen verbunden, noch wurde die Organisationsmacht des Staates je so grundsätzlich in Frage gestellt wie in Großbritannien. Dagegen kennzeichnete hier ein tiefer Antagonismus die lange unversöhnlich erstarrten Positionen der politischen Lager in der Wehrpflichtfrage. Die Verknüpfung der Wehrpflicht mit den konkurrierenden Nationsvorstellungen eröffnete einen erbitterten Kampf um Interessen und Werte, der legitime politische Differenzen kaum zuließ. Um diesen Antagonismus zu entschärfen, enthielt das britische Wehrpflichtgesetz die weltweit einmalige Möglichkeit, den Kriegsdienst aus Gewissensgründen zu verweigern und suchte auch dadurch den für viele 217 »I would sooner sec a Tory Government in Power«, behauptete der linksliberale Abgeordnete Llewellyn Williams, »than the Government we have here -I would sooner accept, if accept one must, a Bill of this sort from a Tory Government that believes in compulsory service, than I would accept it at the hands of Gentlemen who profess their unbounded devotion to the voluntary principle while cutting its throat«. Ebd., 1035. Vgl. Τ. Wilson, Downfall, 82-84; Koss, Fleet, 186f. 218 Ebd., 1251-56. Vgl. Adams/Poirier, Conscription. 139-41; Jordan, Politics, 230f; Rae, Conscience, 37. 219 »We warn the Government that if it persists in this foolish attempt to impose military servitude upon the people of this country it will meet with resistance which may easily develop into revolution«, LL, 13.1.1916, 1. 220 Vgl. Jordan, Politics, 231-46; Rae, Conscience, 38f; T. Kennedy, Hound, 77f.

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Liberale so wichtigen Sachverhalt zu demonstrieren, dass die Wehrpflicht und die Beibehaltung liberaler Prinzipien sich nicht vollständig ausschlossen. Doch trug diese partielle ideologische Umwertung der Wehrpflicht durch die Liberalen selber - und damit das Zugeständnis, dass ein Sieg über Deutschland letztlich der Beibehaltung traditioneller Prinzipien vorzuziehen sei - mittelfristig auch zum Niedergang der liberalen Partei und des politischen Liberalismus bei. Die Akzeptanz der Wehrpflicht durch die Liberalen wurde ironischerweise durch ihren eigenen Nationalismus mit begünstigt. Er erleichterte zunächst den Widerstand gegen die Wehrpflicht, bereitete gleichzeitig aber auch einer alternativloscn, bedrohungsfixierten Wahrnehmung der Kriegslage den Boden. Zwar übernahm das liberale Lager die konservative Wertschätzung der Wehrpflicht nicht unreflektiert oder gab seine eigenen Nations- und Wertvorstellungen auf Doch das fortgesetzte Reden über die »nationale« Gefahr des Krieges im Verein mit der tatsächlich angespannten militärische Lage polarisierte auch die Wahrnehmung vieler Liberaler. Der Glaube einen Kampf um die nackte Existenz des Landes zu führen, erleichterte die Suspendierung bestehender Ordnungsvorstellungen. Im Winter 1915/16 trug die Mehrheit der britischen Liberalen der tatsächlichen und vermeintlichen Eigendynamik des Kricgsverlaufs Rechnung und erklärte widerstrebend ihre Bereitschaft, die Gesellschaft für den totalen Krieg zu mobilisieren. Das dazu notwendige Mittel der Wehrpflicht stellte für die Konservativen bereits eine ersehnte Etappe auf dem Weg der effizienten Umgestaltung und Militarisierung der britischen Zivilgesellschaft dar. Zugespitzt formuliert: Die Bedingungen des Krieges und der Nationalismus der Konservativen und derjenige der Liberalen leisteten der Einführung der Wehrpflicht Vorschub. Doch der konservative Sieg blieb nicht ungetrübt. Den Verlauf der Wahlrechtsdebattc sollte eine unintendierte Spätfolge der Wehrpflichtkampagne und des konservativen Nationalismus bestimmen. b) Der Kampf um die Wehrpflicht für Irland 1918 Die deutsche »Michael«-Offensive begann am 21. März 1918. In einem letzten Versuch, den Krieg auch im Westen zu entscheiden, bevor die sukzessive eintreffenden amerikanischen Truppen das Kräfteverhältnis endgültig zuungunsten der Mittelmächte veränderten, setzte Ludendorff alles auf eine Karte. Auf einer Front von 70 Kilometern gelang den deutschen Truppen zwischen den britischen und französischen Armeen der Durchbruch. Nach jahrelangen Stellungskämpfcn an einen Bewegungskrieg nicht mehr gewöhnt, fielen die britischen Truppen in Unordnung zurück. Die fünfte und die dritte britische Armee lösten sich unter enormen Verlusten beinahe auf. Bereits nach wenigen 273 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1

Tagen waren die Deutschen 70 Kilometer weit vorgestoßen und bedrohten erneut Paris. Eine Reaktion der Alliierten bestand in der Einrichtung eines gemeinsamen Oberkommandos unter General Foch, eine weitere darin, die entstandenen Verluste so schnell wie möglich aufzufüllen. Das Kabinett in London beschloss daher die nochmalige Ausweitung der Wehrpflicht in Großbritannien auf ein Höchstalter von fünfzig und ein Mindestalter von siebzehn Jahren. Unter diesen Umständen wurde der Druck, die Wehrpflicht auf das bis dahin ausgenommene Irland auszudehnen, überwältigend. Angesichts einer bis an ihre Grenzen strapazierten Kriegswirtschaft schien allein Irland ein größeres ungenutztes Potential an Menschen bereitzuhalten. Allerdings versprach die Einführung der Wehrpflicht in Irland auch die Eröffnung ungeahnter Konflikte. Hatten bereits die Irland- und die Wehrpflichtfrage für sich genommen den britischen Nationalstaat grundlegend polarisiert, was war dann erst von der Verschmelzung beider Problemkomplexe zu erwarten? Die eilig einberufenen Beratungen im Kabinett standen ganz im Zeichen der militärischen Krise. Churchill unterstrich unverhohlen, dass eine reine »battlefield decision« anstehe und man »good fighting material from Ireland« bekommen müsse.221 Die Regierung hoffte, wenigstens 150.000 Mann in Irland und zusätzliche 555.000 im übrigen Großbritannien zu rekrutieren. »Such numbers«, meinte Lloyd George, »were based on the assumption that the situation was thoroughly bad, and that the nation was bound to make a supreme effort«.222 Die angespannte Kriegswirtschaft in England könne nicht weiter belastet werden, während die jungen Iren sich nicht nur um ihre Pflichten drückten, sondern auch die Bürde Großbritanniens zusätzlich erschwerten.223 Eingedenk seiner »Imperial associations« müsse Irland nun wie jedes Mitglied der britischen Völkerfamilic seinen Beitrag zur militärischen Verteidigung des Empires leisten.224 Vor dem Hintergrund der beinahe aussichtslos festgefahrenen HomeRule-Politik und der erstarkenden Sinn Fein-Bewegung war aber vielen Verantwortlichen von Anfang an klar, dass die Einführung der Wehrpflicht in Irland auf den geschlossenen Widerstand der Bevölkerung aller politischen Richtungen treffen werde. Der militärische Wert zwangsverpflichteter Iren kam daher in den Augen des Irlandministers Henry Edward Duke dem rekrutierter Deutscher gleich. »It would be impossible to extend the Military Service 221 PRO CAB 23/6/18 ( = WC 385) (6.4.1918). 222 PRO CAB 23/5/193 ( = W C 375) (28.3.1918). 223 In seinen mit einer antikatholischen Spitze garnierten Ausführungen, PRO CAB 23/6/16 (=WC 385) (6.4.1918), hielt Lloyd George fest: »I do not believe it possible in this country to tear industry about, [...] to take fathers of 45 and upwards from their homes to fight the battles of a Catholic nationality on the Continent without deep resentment at the spectacle of sturdy young Catholics in Ireland spending their time in increasing the difficulties of this country by drilling and by compelling us to keep troops in Ireland«. Vgl. auch seine Argumentation im HoC V/ Bd. 104, 1361(9.4.1918). 224 Ebd.

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Act to Ireland in such a way as to help the war. [...] It would unite all Catholics and Nationalists against us. [...J We might almost as well recruit Germans«.225 Obwohl auch Lloyd George von der Einführung der Wehrpflicht in Irland »trouble, perhaps bloodshed« erwartete, hielt er diese Maßnahme, zusammen mit der Mehrheit seiner Kabinettskollegen, für militärisch geboten.226 Um die Chancen für die Durchsetzung der Wehrpflicht zu verbessern, strebte die Regierung in den Worten Balfours »the effect of a bargain« an«.227 Irland sollte die Zumutung der Wehrpflicht durch die gleichzeitige Einführung von Home Rule versüßt werden.228 Wie die Reichsleitung 1916 in Polen suchte auch die Staatsmacht in Großbritannien durch einen sehr durchsichtigen Handel, Rekruten gegen die Gewährung von politischen Freiheiten zu erlangen. Innerhalb des Londoner Kabinetts aber gingen die Ansichten weit auseinander zwischen denen, die notgedrungen die Home-Rule-Politik unterstützten, um die Wehrpflicht zu bekommen, und denen, welche die Einführung der Wehrpflicht akzeptierten, um Home Rule zu erhalten. Labourminister George Nicoll Barnes betonte auf der Linie seiner Partei: »Why not put both in one basket? I am voting for conscription because I am thereby hoping to get Home Rule«. Während ihm sein konservativer Kabinettskollege Lord Robert Cecil entgegenhielt: »If I vote for Home Rule it is because I hope thereby to get conscription«.229 Für die konservativen Regierungsmitglieder blieb Home Rule auch 1918 eine kaum annehmbare Zumutung. Doch nur eine Minderheit innerhalb der konservativen Partei war angesichts der militärischen Lage bereit, durch eine strikte Verweigerungshaltung die Handlungsfähigkeit der Regierung und damit letztlich die Kriegführung zu gefährden.230 Da die Konservativen die Einführung der Wehrpflicht als notwendige Bedingung für den Fortbestand des britischen Reiches im totalen Krieg propagiert hatten, fiel es ihnen wegen ihrer nationalistischen Rhetorik schwer, eine Maßnahme abzulehnen, die ihrer eigenen Argumentation nach die um ihre Existenz kämpfende britische Nation entscheidend zu stärken versprach. Das konservative Reden über 225 PRO CAB 23/5/194 ( = W C 375) (28.3.1918). Vgl. Adams/Poiricr, Conscription, 232f. 226 PRO CAB 23/6/16 ( = W C 385) (6.4.1918). Vgl. zum Prozeß der Entscheidungsfindung: Ward, Lloyd George, 109-13; Gundclach, Unabliängigkcitsbewcgung, 366-77; Boyce, Opinion, 586f 227 PRO CAB 23/5/194 ( = W C 375) (28.3.1918). 228 »We propose«, fasste der Premierminister die Diskussion zusammen, »to bring in simultaneously our Home Rule Bill, put it through Parliament, and then immediately apply the Military Service Act«, PRO CAB 23/6/17 ( = W C 385) (6.4.1918). Vgl. zu den Motiven Lloyd Georges: Scott, Dianes, 342f. (21.4.1918). 229 PRO CAB 23/6/18 ( = W C 385) (6.4.1918). Vgl. Stubbs, Unionists, 890. 230 Der Widerstand im konservativen Lager gegen die Verknüpfung von Wehrpflicht und Home Rule ging vor allem von den Ulster Unionists aus, für die dieses Abkommen, wie Sir Edward Carson im HoC V/ Bd. 104, 1444 f. (9.4.1918) betonte, auf eine reine Bestechung hinauslief. Vgl. TI, 3.5.1918, 8; sowie Ward, Lloyd George, 111-14.; Stubbs, Unionists, 890f; Turner, Politics, 290f.: Lawlor, Britain, 24.

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die wehrhafte Nation behinderte nun ihre Opposition gegen Home Rule für Irland. Bereits am 9. April 1918 unterbreitete Lloyd George dem Unterhaus die Gesetzesvorlage zur Beratung. Großbritannien befinde sich in einer militärischen Notlage und sei daher gezwungen, auch Irland unter die Wehrpflicht zu stellen. Gleichzeitig aber beabsichtige man, »to invite Parliament to pass a measure for self-government in Ireland«.231 Irland, so der Premierminister, könne sich schwerlich seiner Verantwortung in einem Krieg entziehen, der für die Freiheit und die Rechte der kleinen Nationen geführt werde. Außerdem sei Irland als ein integraler Bestandteil Großbritanniens für dessen Kriegführung mitverantwortlich: »Ireland, through its representatives, assented to the War, voted for the War, supported the War. [...] They are fully as responsible for it as any part of the United Kingdom«.232 Die Reaktion der irischen Nationalisten demonstrierte erneut das mangelnde Gespür der britischen Regierung für die Stimmung der Iren. Die Abgeordneten der IPP betrachteten den Vorstoß Lloyd Georges als den Gipfel der Unverfrorenheit: wagte es die Regierung doch, nach dem jahrelangen Eintreten der konstitutionellen Nationalisten für die Sache Britanniens Irland ohne seine Zustimmung die Wehrpflicht aufzuzwingen und gleichsam als Kompensation die Umsetzung ausgerechnet jenes Home-RuleGesetzes zu versprechen, welches bereits vor vier Jahren beschlossen worden war. Unter diesen Umständen erschien den konstitutionellen Nationalisten die Begründung der Home-Rule-Politik, für deren Verwirklichung sie Jahrzehnte gestritten hatten, als blanker britischer Zynismus. Fortab war das Band zwischen ihnen und der Regierung endgültig zerschnitten. John Dillon, der nach dem Tode Redmonds den Vorsitz der IPP übernommen hatte, beschied Lloyd George bündig, sich von der Illusion der Umsetzbarkcit der Wehrpflicht in Irland zu verabschieden: »You will not get any men from Ireland by compulsion - not a man«.233 Sein Stellvertreter Joe Devlin protestierte energisch gegen die Arroganz der britischen Regierung, welche die Iren weder als eigenständige Nation anerkenne noch ihnen das Selbstbestimmungsrecht übertrage. »You put upon us a dual insult. You deny to us the right of self-government and then you will not allow us to determine whether the sons of our nation are to be conscribed into your army to fight your battles«.234 Das Vorgehen der Briten in der Irlandfrage persifliere erneut den britischen Anspruch, für die Freiheit der kleinen Nationen zu kämpfen. Vielmehr erweise sich die Regierung als geleh231 HoC: W Bd. 104, 1357-65, Zit. 1362 (9.4.1918). 232 Ebd., 1358. Vgl. Adams/Poirier, Conscription, 236. 233 Ebd., 1358. 234 Ebd., 1372. Entsprechend unterstrich auch Captain William Redmond: »Ireland is a distinct and seperate nation from this country, (...) no measure affecting England, Scotland, or Wales has any right to run in Ireland without the consent of the Irish people«, HoC V/ Bd. 104, 1575 (10.4.1918).

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riger Schüler des preußischen Militarismus: »It has come to a nice condition of affairs in a nation and in a Parliament fighting for civil and national liberties and rights, that you arc going to impose Conscription on people under the guillotine, and that you are going to adopt in this Parliament the methods of Prussia and that the Prime Minister is to set himself up as a Parliamentary Kaiser«.235 Die Einführung der Wehrpflicht in Irland komme einem unpatriotischen Verrat gleich, weil sie das Land in Aufruhr versetzen werde und nur den Deutschen helfe.236 Und der irische Abgeordnete Alfred Byrne unterbrach die Rede des Premierministers wütend mit der Drohung: »You will have another battlefront in Ireland«.237 Die Mehrheit der konservativen Presse dagegen begrüßte die Einführung der Wehrpflicht, selbst um den Preis von Home Rule. Ihre nationalistische Rhetorik vom Kampf ums Dasein der britischen Nation lähmte jedenfalls argumentativ ihren Widerstand gegen Home Rule. Denn die Wehrpflicht in Irland, so die »Daily Mail«, sei »vital to the very existence of the nation. The choice which is now being made is between victory and defeat«.238 Liberale Zeitungen erachteten aber nicht nur die moralische Legitimation der Zwangsverpflichtung Irlands für fraglich, sondern bezweifelten auch den militärischen Wert dieser Maßnahme.239 Vor allem die Labourpresse polemisierte rücksichtslos gegen den Vorstoß der Regierung, der erneut alle Vorbehalte und Ängste aus den Jahren 1915/16 gegen die Wehrpflicht im allgemeinen und die Unterdrückung der Arbeiterbewegung im besonderen wachrief. Der Nationalismus Labours begünstigte abermals die Kriminalisierung eines von ihren Vorstellungen und Werten abweichenden Verhaltens. Eine fremde Nation wie Irland zwangszuverpflichten stelle, so der »Daily Herald«, einen »criminal blunder«240 dar. Auch die Umkehrung der offiziösen Ideologie des Befreiungskrieges im Interesse der »small nations« bot sich an, um die Maßnahme der Regierung durch den Vergleich mit dem Verhalten des Feindes herabzusetzen. Denn Irland befinde sich wie Belgien in der Hand eines fremden Besatzers: »Ireland considers itself in exactly the same position as Belgium. It is occupied by a foreign invader. [...] It is as indefensible and as impossible for the British Government to impose 235 Ebd. 236 Die Befürworter der Wehrpflicht, so der Abgeordnete O'Donell, Ebd., 1388, »are playing the game of Germany. They are not assisting England (...) and worse scenes enacted in Ireland than could be enacted by the Germans in Belmum or Poland«. Vd. HoCV/Bd. 104, 1577f. (10.4.1918). 237 HoC V/ Bd. 104, 1361 (9.4.1918). Vgl. Ebd., 1378, und insges. zur Haltung der IPP Kce, Flag III, 44f.; Gundelach, Unabhängigkeitsbewegung, 378; Ward, Lloyd George, 114. 238 DM, 10.4.1918, 2. Vgl. OB, 14.4.1918, 6; dagegen MP, 10.4.1918, 4; MP, 11.4.1918, 4, sowie Boycc, Opinion, 588f. 239 »For every battalion it [conscription - SOM ] brings in, it will mean the loss of two needed to hold in check an indignant people, stung once more in open rebellion«, DIM, 10.4.1918, 2. Vgl. MG, 8.4.1918, 4; HC, 8.4.1918, 2, sowie Boycc, Opinion, 587f. 240 HE, 27.4.1918, 6.

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conscription on the Irish people as it would be for the German Government to impose it on the Belgians«.241 Die scharfe Kritik in der liberalen und labournahen Presse in England gegen die Einführung der Wehrpflicht in Irland bildete nur ein leises Vorspiel zu dem massiven Protest in Irland selber. Erst nachdem das Unterhaus die Regierungsvorlage am 16. April 1918 mit 301 zu 103 Stimmen angenommen hatte, beauftragte Lloyd George Walter Long mit der unlösbaren Aufgabe, ein Home-RulcGcsetz zu entwerfen, das allen Parteien genügen sollte. Übertroffen wurde diese Unfähigkeit der Regierung, welche die Lösung der Irlandfrage ausgerechnet einem ulsterfreundlichen Tory übertrug, nur noch durch die Entsendung des Hardliners Lord French als Oberbefehlshaber nach Irland. French sollte dort bei der zwangsweisen Umsetzung der Wehrpflicht versagen wie bei seinem Kommando über das britische Expeditionskorps 1914 in Frankreich.242 Das Denken in nationalistischen Kategorien erleichterte der britischen Regierung zwar die Ausübung ihrer Militärherrschaft in Irland, gleichzeitig aber auch den Widerstand der irischen Nationalisten gegen britische Zwangsmaßnahmen. Denn innerhalb weniger Tage formierte sich in Irland eine antibritische Abwehrfront, die es in der Geschichte des Landes noch nicht gegeben hatte. Am 18. April trafen sich in Dublin Dillon und Devlin mit Eamon de Valera und hochrangigen Delegierten von Sinn Fein, um den Widerstand gegen die Einführung der Wehrpflicht zu organisieren. Unterstützung erhielt das Zweckbündnis der politischen Gegner durch die irischen Gewerkschaften und vor allem durch den traditionell Einflussreichen Klerus. Am folgenden Sonntag, dem 21. April, gelobten zahllose Menschen im ganzen Land während des Gottesdienstes feierlich zur Verteidigung der irischen Nation, Widerstand gegen die Wehrpflicht zu leisten. Und am 23. April erreichte die antibritische Abwehrbewegung einen ersten Höhepunkt, als ein eintägiger Generalstreik die Produktion in Irland beinahe vollständig lahm legte. Die britische Regierung sah sich wegen zunehmender öffentlicher Ausschreitungen gezwungen, die Garnision in Irland bis Juni auf 100.000 Mann zu vervierfachen.243 Um von ihrem Versagen in Irland abzulenken und um den Widerstand der neuen antibritischen Bewegung zu brechen, erfand man in London rasch eine deutschirische Verschwörung. Dürftige Hinweise auf eine Verbindung deutscher Agenten zu Sinn Fein nutzte die britische Regierung, um zwischen dem 17. und 19. Mai 1918 73 führende Sinn Fein-Aktivisten zu verhaften.244 An eine Umsetzung der Wehrpflicht war nicht mehr zu denken. Irland stellte nicht nur 241 HE, 4.5.1918, 12. Vgl. HE, 20.4.1918, 7; LL, 18.4.1918, 1. 242 Vgl. Ward, Lloyd George, 115f; Boyce, Opinion, 589f. 243 Vgl. Gundelach, Unabhängigkeitsbewegung, 379-82; Ward, Lloyd George, 116f; Kce, Flag III, 45f; Stubbs, Unionists, 891. 244 Vgl. Gundelach, Unabhängigkeitsbewegung, 383-93; Ward, Lloyd George, 118-20; Lawlor, Britain, 24-26.

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keine nennenswerte Anzahl neuer Rekruten, es band sogar dringend in Frankreich benötigte Truppen. Am 3. Juni suspendierte man die Umsetzung der Wehrpflicht in Irland. Die quälende Auseinandersetzung um die irische Wehrpflicht offenbarte erneut die tiefsitzenden Vorurteile und die politische Feindschaft zwischen Briten und Iren, deren Politisierung und Aktualisierung im Ersten Weltkrieg den Boden für die Auflösung des Nationalstaates von 1801 bereitete. Die divergierenden Nationsvorstellungen in Großbritannien und in Irland verstärkten diese Tendenz, weil sie dazu führten, dass sich die Kontrahenten wegen der Beanspruchung der gleichen nationalistischen Schlüsselbegriffe - im wörtlichen wie im übertragenen Sinne - immer weniger zu sagen hatten. Der Nationalismus der Liberalen in England prägte ihre ambivalente Wahrnehmung der Iren als gleichzeitig zugehörig und fremd. Das demonstrierte vor allem ihr Eintreten für die Home Rule. Doch auch im liberalen Lager wuchs das Unverständnis für die konstitutionellen Nationalisten in Irland, die sich nicht mehr als Teil der britischen Völkerfamilie begreifen wollten und Home Rule als unzureichende, ja, beleidigende Maßnahme ablehnten, nachdem man in England ihre Notwendigkeit schließlich weitgehend akzeptiert hatte. Dabei überwölbte Großbritanniens Kriegspolitik stets die Irlandfrage, reduzierte sie oft auf die militärpolitischen Notwendigkeiten des Krieges und reproduzierte so von 1916 ab im Inneren die militärische Polarisierung. Als die Iren die Leistung der Wehrpflicht verweigerten, vollzog das konservative Lager in England ihre rigorose Ausgrenzung aus der britischen Nation mit Hilfe antikatholische und deutschfeindliche Motive verschmelzender Vorstellungen. Der Widerstand der katholischen Geistlichkeit gegen die Wehrpflicht bot konservativen Blättern reichlich Gelegenheit, die alten Antipathien mit einer neuen Verratsrhetorik zu überformen. Der Logik nationalistischer Argumentation folgend, musste jeder Gegner einer für die britischen Nation existentiellen Maßnahme im Bunde mit ihrem Todfeind sein. »The Vatican«, befand die »National Review«, »has made itself the instrument of German policy, and been the centre and inspiration of much enemy intrigue, which disastrous results to our holy cause«.245 Noch deutlicher wurde ein Leserbrief in der »Times«, der den sich in den katholischen Gottesdiensten äußernden antibritischen Widerstand nur als Teil einer deutschen Verschwörung begreifen konnte: »Berlin was behind this Mass. It was celebrated for the purpose of helping the Hun to crush and enslave mankind. The Vatican took its orders from Berlin, and the Bishops in Ireland took their orders from the Vatican«.246 Deutschland habe im katholischen Klerus einen heimlich agitierenden Verbündeten, der seine Bataillone bereits im eigenen

245 NR 70(1918),470f. 246 TI, 24.4.1918, 8. Vgl. bes. OB, 28.4.1918, 6f.

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Land sammle: »The bulk of the most dangerous enemies within our gates are Roman Catholics«.247 Das Einlenken der britischen Regierung kam für den Erhalt des britischen Staatsverbandes zu spät. Im Zuge des Kampfes um die Wehrpflicht vollzog man in Irland endgültig die Trennung von der Union. Der anhaltende Aufstieg Sinn Feins und die Formierung einer republikanischen Mehrheit innerhalb der irischen Politik, welche die Kooperation mit der britischen Staatsmacht strikt ablehnte, war 1918 unumkehrbar geworden. Ludendorff verlor mit seiner letzten Offensive zwar den Krieg für Deutschland, trug aber wesentlich zum Verlust Irlands für Großbritannien bei. c) »Aping men«? Frauen in der britischen Armee Im Ersten Weltkrieg kämpften alle Parteien an zwei Fronten: der militärischen Front und der Heimatfront. Je weiter die Totalisierung und die Industrialisierung der Kriegführung voranschritt, desto größer wurde die Bedeutung der neuen Heimatfront. Ohne die industrielle Massenproduktion von Rüstungsgütern war der moderne Krieg nicht mehr führbar. Als Folge dieser doppelten Beanspruchung des menschlichen Kräftepotentials zeichnete sich schon Anfang 1915 ab, dass es immer schwieriger wurde, den gleichzeitig steigenden Bedarf von Heer und Rüstungsindustrie zu befriedigen. Um dem Mangel an männlichen Arbeitskräften zu begegnen, stellten immer mehr Betriebe in Großbritannien und in Deutschland Frauen als Ersatz ein. Dabei kam es in Deutschland nicht zu einer erheblichen Zunahme der weiblichen Erwerbstätigkeit, die über den langfristigen Trend ihrer Ausweitung wesentlich hinausgegangen wäre, wohl aber zu einer beträchtlichen strukturellen Verschiebung zugunsten des industriellen Sektors.248 In Großbritannien stieg dagegen bis Juli 1918 die Anzahl der weiblichen Erwerbstätigen um 50,6 % auf 4,9 Millionen.249 Die Mobilisierung von Frauen für die Kriegswirtschaft bedeutete keinesfalls, dass der Krieg die bestehenden öffentlichen Geschlechterverhältnisse aufweichte. Tatsächlich traf auch in Großbritannien eher das Gegenteil zu. Die allmähliche Militarisierung der britischen Zivilgesellschaft und die scharfe Trennung von Front und Heimatfront zementierte die Vorstellungen von der unterschiedlichen Natur von Männern und Frauen. Der wiederentdeckten archaischen Maskulinität der kriegführenden Männer entsprach die Wiederbelebung der traditionellen Frauenrolle als Bchüterin und Beschützerin. Das sich auf ein vermeintlich naturgegebenes Geschlechterverhältnis berufende zirku247 NR 70 (1918), 478 (Herv. i. Orig). Vgl. MP, 24.4.1918, 4. 248 Daniel, Arbeiterfrauen, passim. 249 Vgl. Braybon, Women, bes. 44-59, sowie Pugh, Women, 19-21; Thebaud. Weltkrieg. 45f.

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läre Deutungsmuster besagte, dass Frauen an den militärischen Kriegsanstrengungen nicht teilnehmen konnten, weil sie nicht in der Lage seien zu kämpfen, und sie konnten nicht kämpfen, weil sie nicht fähig seien, einen militärisch relevanten Beitrag zu leisten. Damit schloss man Frauen von der in Zeiten des Krieges prestigeträchtigen militärischen Leistung prinzipiell aus.250 Die Anwendung tradierter Geschlechterkategorien, das Reden über Männer- und Frauenrollen, war vor allem angesichts der extremen militärischen und politischen, sozialen und ökonomischen Herausforderungen ein jeder Gruppe zur Verfügung stehendes Mittel, sowohl den Krieg zu begreifen als auch ihren Platz innerhalb der Nation zu bestimmen. Doch dienten Geschlcchterkategorien nicht nur dazu, neue Erfahrungen in einem bekannten Koordinatensystem zu verorten. Da Geschlechterverhältnisse ebenso wie der Nationalismus auf der Grundlage einer bipolaren Unterscheidung Herrschaft konstituieren und legitimieren, vollzogen sich politische Prozesse oft im Zuge von Diskursen über die »richtige« Ordnung der Geschlechter. Das Reden über Frauen in Uniform und ihre Rolle in den britischen Streitkräften reflektierte die Vorstellungen von der britischen Nation und ihren Wandel im Krieg. Wie weit sollte man Frauen erlauben, ihren Beitrag zur Kriegführung zu leisten, ohne doch die Ordnung der britischen Nation zu gefährden? Das Engagement britischer Frauen im Rahmen der militärischen Kriegführung verlief zunächst in konventionellen Bahnen. Das »Voluntary Aid Detachment« unterstützte vor allem die medizinische Versorgung des Heeres und umfasste 1914 beinahe 50.000 Frauen. Doch bereits im Februar 1915 gründeten aristokratische Aktivistinnen die paramilitärische »Women's Volunteer Reserve«, die sich die Lösung medizinischer, logistischer und kommunikationstechnischer Probleme zum Ziel setzte. Besonders Frauen aus den gesellschaftlichen Mittel- und Oberschichten engagierten sich in dieser Freiwilligenorganisation, nicht zuletzt um in Anbetracht der Militarisierung der britischen Zivilgcsellschaft durch das Tragen von Uniformen und durch die Imitation militärischer Umgangsformen ihr Ansehen aufzuwerten.251 Im »Daily Chronicle« feierte eine Aktivistin die Chancen, welche der Krieg den Frauen durch ihre militärische Leistung für die britische Nation eröffnete und pries den Anblick eines »woman soldier [...] standing like a young goddess, like the spirit of all noble womanhood. [...] Daughters of the Empire, rise up and follow her through the night! [...] Old things arc passing hence, conventionalities, social prejudices, ancient wrongs, all that has hindered and barred the way to liberty. [... ] Never in the world's history have we women been given such an opportunity to prove our worth«.252 250 Vgl. Kent, Peace, 12-30; Gullace, Women, bos. 110-50; Gould, Women's, 117-21. 251 Vgl. Ouditt, Fighting, 7-46; Pugh, Women, 30f; Levine, Walking, 77f. 252 DC:, 17.7.1915,6.

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Das Tragen von Uniformen durch einige paramilitärische Freiwilligenorganisationen rief im konservativen Lager hochemotionalc Abwehrreaktionen hervor und verdeutlichte, welche massiven Bedrohungsängstc Frauen 1915 verursachten, die ihre tradierte Rolle in Frage zu stellen schienen. Die Furcht vor dem sich verschärfenden Krieg schlug sich oft in einer sexualisierten und frauenfeindlichen Sprache nieder. Nicht zuletzt für viele Männer, die in der nationalistisch erhitzten Atmosphäre im Sommer 1915 keine Träger einer prestigeträchtigen Uniform waren, konnten diese Frauen eine potentielle Bedrohung ihres Status' darstellen, den sie mit dem der britischen Nation im Krieg gleichsetzten. Zum einen fürchtete man eine Vermännlichung der Frau durch ihre militärische Tätigkeit, zum anderen die demographischc Belastung der Gesellschaft durch einen erwarteten Geburtenrückgang.253 Vor allem aber sorgte sich die konservative Presse darum, dass durch die weibliche Imitation militärischer Umgangsformen die Ehre der britischen Nation, die auch auf dem tradierten Geschlechterverhältnis beruhe, befleckt werde. Im Zuge der im Sommer 1915 auf breiter Basis einsetzenden Wehrpflichtdebatte wurde immer wieder der Vorwurf gegen uniformtragendc Frauen laut, Männer »nachzuäffen«.254 Typisch für derartige Bedrohungsängste war eine ganze Reihe von Leserbriefen in der »Morning Post«. Frauen in Khaki, hieß es dort, »assumed manish attitudes [...] and looked like self-conscious and not very attractive boys. Near these ridiculous ›poseuses‹ stood the real thing - a British officer in mufty. [...] If they cannot become nurses or war maids in hospitals, let them [...] pick fruit or make jam, or do the thousand and one things that women can do to help. But, for Heaven's sake, don't let them ride and march about the country making themselves and, what is more important, the King's uniform ridiculous«.255 Deutlicher noch wurde ein Leserbrief, der vor der Umkehrung der »natürlichen« Ordnung warnte und meinte, Soldaten in Uniform seien »necessarily men. Who ever heard of men striving to ape women in their dress? [...] Nurses uniform is honoured when it is worn by women who are nurses, soldier's uniform is honoured when it is worn by men who are soldiers; but neither is honoured when it is worn by persons [...] to whom it is from the very nature of things unsuitable«.256 Doch bei dem Vorwurf, das Tragen von Uniformen sei für Frauen unnatürlich, blieb es nicht. Denn ein Verhalten wider die vermeintliche Natur der Geschlechter war im Krieg eine hochpolitische Angelegenheit. Indem man uniformtragenden Frauen anlaste 253 Vgl. Crosthwait, Girl, 161-64; Levine, Walking, 62-65; Thebaud, Weltkrieg, 47-49; Kent, Peace, 39f.; Pugh, Women, 31. 254 Vgl. zur Verbreitung des Vorwurfes »Aping Men«, Gould, Women's, 118. 255 MP, 16.7.1915, 6. Vgl. Kent, Peace, 36-38; Gould, Women's, 119f. 256 MP, 21.7.1915, 7(Herv. i. Orig.). Vgl. MP, 20.7.1915, 8: »Why ape the Army?« Selbst im liberalen »Daily Chronicle«, 3.7.1915, 6, begrüßte man zwar Frauen in Uniform, lobte aber bezeichnenderweise die positive Wirkung der Dienstkleidung auf die »native femine aggressiveness«. Und: »It may be remembered how sheepishly women follow the drum of fashion«.

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te, gegen die natürliche Ordnung der Dinge im allgemeinen und die Ehre der britischen Streitkräfte im besonderen zu verstoßen, war es in Zeiten des Krieges nur ein kleiner Schritt, deren Verhalten mit der nationalistischen Verratsrhetorik abzustrafen. Die »ridiculous masquerades of women in khaki« stelle eine »feminine parody of the men who are dying by thousands in the field« dar.257 Der Anblick von Frauen in Uniform »is hardly a sight which makes for national edification, while it opens the door to misconstructions of a kind most cheering to the enemy«.258 Doch die Erfordernisse des totalen Krieges offenbarten schon bald jedermann die funktionalen Grenzen der archaischen Frauenfeindlichkeit des ersten Kriegsjahres. Auch wenn die klassische abendländische Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten im Ersten Weltkrieg noch nicht völlig gegenstandslos wurde, entzog der wachsende Bedarf an Soldaten und Rüstungsgütern auch dem öffentlichen Reden gegen eine begrenzte militärische Partizipation von Frauen die Legitimationsgrundlage. Während in Deutschland die paramilitärische Verwendung von Frauen kategorisch ausgeschlossen wurde,259 reagierten die Verantwortlichen und die Öffentlichkeit in England flexibler und fanden sich zunehmend damit ab, dass in einem Kampf um alles oder nichts selbst Frauen einen bestimmten militärischen Beitrag leisten konnten. Seit 1916 diskutierte das Kabinett Pläne, welche die Freisetzung von in der Etappe stationierten Soldaten für die kämpfende Truppe durch Frauenkorps vorsahen.260 im Februar 1917 gab die Regierung die Bildung des »Women's Army Auxiliary Corps (WAAC) bekannt. Bis zum Kriegende leisteten 35.000 weibliche Soldaten in nichtkämpfenden Einheiten ihren freiwilligen Dienst.261 Im Unterschied zu 1915 begrüßte die britische Presse fast einhellig diese Maßnahme als Teil der notwendigen vollständigen Mobilisierung der Gesellschaft. Klar war und blieb, dass das Aufgabenfeld der Soldatinnen darin bestand, »to be of direct assistance to their manfolk«, mithin Soldaten für die Front freizusetzen.262 Hatten konservative Blätter angesichts uniformtragender Frauen 1915 noch den Untergang Britanniens an die Wand gemalt, konnten sich die Soldatinnen des WAAC im Jahre 1917 wenigstens der öffentlich bekundeten Eingliederung in die kämpfende britische Nation erfreuen. »There can be no gibes in these days at the woman in uniform. [... ] The army of women workers has its recognised place in the defence of the nation and the nation's 257 MP, 19.7.1915,9. 25S MP, 22.7.1915, 5. Vgl. Kent, Peace, 39. 259 Vgl. Domansky, Militarization, 437f. 260 Militärische Aufgaben hinter den Frontlinien könnten von älteren Männern »or even by women« wahrgenommen werden, PRO CAB 17/156/4 (18.11.1916). Vgl. Crosthwait, Girl, 16469; Gould, Women, 122f.; Kent, Peace, 31-35. 261 Vgl. Crosthwait, Girl, passim; Pugh, Women, 31. 262 DE, 21.2.1917,4. »Women may not be able to fight in the trenches, but (... | they can release battailous of young and healthy men«, DE, 20.2.1917, 4. Vgl. Gould, Women's, 124f.

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rights. It is no longer the woman's duty to sit at home and watch and wait. The call has come tor her to be up and doing, to equip herself as a soldier«.263 Das die notgedrungene Akzeptanz von uniformierten Frauen nicht das Ende antifeministischer Vorurteile bedeutete, zeigte ein Leserbrief in der »Times«, der unter dem Titel »Women's Fitness for Soldiering« die »natürliche« Eignung von Frauen für den militärischen Einsatz rühmte: »Woman of necessity comes nearer the primitive type than man. She is biologically more of a barbarian and she has, therefore, more physical endurance«.264 Der Diskurs über Frauen in Uniform und in der Armee reflektierte die Vorstellungen von der »richtigen« Ordnung der britischen Nation und ihren Wandel durch den Krieg. Bestimmte nationalistische Vorstellungen aus dem konservativen Lager zementierten auf der einen Seite die tradierte Ordnung der Gcschlechterverhältnisse, indem man den Frauen ihren biologisch angestammten Platz in der kämpfenden Gemeinschaft mit einer neuen moralischen Rigorosität anwies. Gerade wegen des enormen militärischen, politischen und wirtschaftlichen Drucks verschärfte man in einem verzweifelten Versuch, die bestehende Welt zu verteidigen, vor allem aber nicht nur im rechten politischen Spektrum die Trennung der Geschlechterrollen. Auf der anderen Seite aber eröffneten ausgerechnet oppositionelle Nationsvorstellungen im totalen Krieg - nicht der Liberalismus, der Sozialismus oder der Feminismus - in Anbetracht der militärisch-ökonomischen Erfordernisse vielen Frauen neue Handlungsspielräume. Im Gegensatz zu den dienstverpflichteten Arbeitern und eingezogenen männlichen Rekruten suchten viele Frauen gezielt die Chance, durch ihren Dienst im WAAC für den kämpfenden Nationalstaat eine ungekannte gesellschaftliche Anerkennung zu erfahren. Indem diese Frauen Soldaten für die Front freisetzten oder sogar selbst militärische Aufgaben erfüllten, konnten sie durch ihre Einordnung in eine zunehmend militarisierte Gesellschaft, die den Soldaten wenigstens rhetorisch vor alle anderen stellte, die Aufwertung ihres Status erleben. Mittelfristig ließ sich der im totalen Krieg dringend erforderlichen Partizipation von Frauen an den Kriegsanstrengungen ebenso wenig politisch entgegensetzen wie ihrem nationalistisch legitimierten Anspruch, Anteil zu nehmen an der Verteidigung und Ausgestaltung des Nationalstaates. Das sollte die Debatte um die Wahlrechtsreform nachdrücklich demonstrieren.265

263 264 265 Levine,

OK, 21.2.1917, 4. Vgl. bereits JB, 17.7.1915, 8. Tl. 9.10.1917, 10. Vgl. Gullace, Women, bes. 249-52; Crosthwait, Women's, 169-71; Ouditt, Fighting, 2-5; Walking, 74f., und msges. Kapitel IV.2.b.

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3. Die Nationalisierung des Krieges Die Ausweitung der Staatsintervention im Ersten Weltkrieg kennzeichnete ein Paradoxon. Je mehr der Staat im totalen Krieg seinen Einfluss ausdehnte und der aktiven Teilhabe seiner Bürger an den Kriegsanstrengungen bedurfte, desto größer wurden die Partizipationsansprüche, aber auch die Partizipationsmöglichkeiten der durch den Staat mobilisierten Gruppen. Die Ausweitung der Rüstungsproduktion und der Abbau zahlreicher individueller und institutioneller Freiheiten riefen langfristig den Widerstand der Bevölkerung und rivalisierender politischer Lager hervor. Die Streikdebatten und die Wehrpflichtfrage verschmolzen das Problem der Kriegführung mit dem der inneren Neuordnung und standen deshalb im Fokus konkurrierender Interessen, Werte und Vorstellungen. Eine erfolgreiche Kriegführung setzte eine innere Konfliktregelung und eine wenigstens ideologische und semantische Ausweitung der staatlichen Legitimationsgrundlage voraus. Diese Aufgabe kam den divergierenden Bestimmungen der Nation zu. Nationalistische Deutungen und Argumente spielten eine zentrale Rolle sowohl bei der Legitimation der staatlichen Zwangsmaßnahmen als auch beim Widerstand gegen diese. Die massiven staatlichen Eingriffe in die bestehende Gesellschaftsordnung ließen sich nur unter Berufung auf die durch den Krieg in ihrer Existenz bedrohte Nation und mit der Notwendigkeit, den angegriffenen Nationalstaat zu verteidigen, rechtfertigen. Gleichzeitig aber erlaubte die Aufwertung gesellschaftlich Minderprivilegierter durch den Krieg, dass diese Gruppen unter Bezug auf ihre Zugehörigkeit zur Nation und ihre kriegsrelevantc Leistung beanspruchen konnten, sich staatlichen Eingriffen zu widersetzen. Wie die Regierung, die alten Eliten und die Vertreter der übrigen politischen Lager waren die Repräsentanten der Arbeiterbewegung nun in der Lage, ihre Interessen erfolgversprechend mit der Berufung auf den Willen der Nation und auf politische Mehrheiten im Volk zu legitimieren. Damit nicht genug: Oppositionelle Gruppen, allen voran die organisierten Arbeiter, konnten die staatliche Herrschaft in dem Maße problematisch machen, in dem es ihnen unter dem Druck der Kriegslage gelang, selber das nationale Gemeinwohl zu definieren. Die Erfordernisse des modernen Krieges führten dazu, dass Massenbewegungen ungleich glaubhafter als kleine Eliten beanspruchen konnten, die Nation zu verkörpern. Ihre »linken« Nationsvorstellungen erachteten die meisten Arbeitervertreter nicht als Widerspruch, sondern als notwendige Ergänzung ihres Klassenbewusstseins. Die Verbindung von Klasse und Nation erschloss ihnen eine schlagkräftige Rhetorik, um die Arbeitgeber, die Konservativen oder die Regierung zu bekämpfen. Ähnliches kündigte sich wenigstes im Ansatz für die Lage der Frauen an. Obwohl konservative Nationsvorstellungen die tradierte Ordnung der Geschlechterverhältnisse zementierten, eröffneten 285 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1

oppositionelle Nationsentwürfe vor dem Hintergrund der militärisch-ökonomischen Herausforderungen vielen Frauen neue Handlungsspielräume. Die Berufung auf das einigende Band von »Volk« und »Nation«, die 1914 verfangen zu haben schien, gelang 1918 nicht mehr. Die Deutungshoheit von »Volk« und »Nation« konnte weder die Regierung noch irgendeines der politischen Lager auf Dauer behaupten. Vielmehr blieb es von der spezifischen politischen Konstellation abhängig, ob etwa Konservative (wie im Falle der Wehrpflicht) oder Arbeitervertreter und Liberale (wie beim Verlauf einiger Streiks) erfolgreich ihre Vorstellungen und Interessen mit Hilfe ihres Nationalismus durchzusetzen vermochten. Taktische Motive wie aufrichtig geglaubte nationale Vorstellungen verschränkten sich im Rahmen der Auseinandersetzungen um die »richtige« Ordnung der Nation unentwirrbar. Die Tatsache, dass die politischen Akteure sich über die Instrumentalisierbarkeit des Nationalismus im klaren waren, dämmte seine Wirkung nicht ein, sondern verstärkte sie. Denn wer sich die Umwelt mit Hilfe des Nationalismus aneignete, der nahm sie bald nicht anders als eine auf diese Weise bereits gegebene war. Nur weniges entzog sich dieser allseitigen Nationalisierung und Politisierung. Die dichotome und diffamierende Struktur nationalistischer Deutungen radikalisierte zusätzlich die schwelenden politischen Konflikte. Die nationalistische Sprache wies schon durch die Übernahme von militärischen Ordnungsmustern etwa den uniformierten Frauen oder den Streikenden ihren Platz außerhalb der Nation zu. Im Krieg der »Volksgemeinschaft« war für die Austragung legitimer ökonomischer und politischer Differenzen auch im Arbeitsleben kein Platz. Indem man die Heimatfront semantisch, ideologisch, aber auch institutionell in die Nähe der militärischen Front verlegte, unterstellte man jeden Zivilisten wenigstens implizit militärischer Disziplin, die keine legitime Alternative zum staatlichen Gehorsam zuließ. Weil der Streik nur dem Feind der Nation nutze, verschwamm in diesem nationalen Denken der Konservativen auch die Grenze zwischen seinen Verursachern und dem äußeren Feind, zwischen der feindlichen militärischen und der eigenen sozialistischen Bedrohung. Mit anderen Worten: Gerade weil tendenziell jedermann an den Bezugsrahmen der Nation appellieren konnte und dieser eine weder ideologisch noch semantisch herzustellende Einigkeit suggerierte, war der Nationalismus kompromissorientierten Konfliktlösungen wenig förderlich. Nationalistische Deutungsmuster kamen stets einem Nullsummenspiel gleich. Legitimierten sie die Position der einen Seite, delegitimierten sie die der anderen Seite. Die politischen Akteure hatten genau deshalb geringere Chancen sich zu verständigen, weil sie die gleiche nationale Sprache redeten. Trotz weitreichender struktureller Gemeinsamkeiten und ähnlicher kriegsbedingter Herausforderungen wird die unterschiedliche Reichweite und Wirkungsweise des Nationalismus in Deutschland und in Großbritannien nur im jeweiligen gesellschaftspolitischen Kontext verständlich. Erst die Kombination 286 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1

aus den vergleichsweise illiberalen Nationsvorstellungen der regierenden Eliten und den militaristischen Traditionen und Strukturen des Kaiserreiches begünstigte ein höheres Ausmaß von Zwang im Arbeitsleben als in England und die Reorganisation der Zivilgesellschaft nach militärischem Vorbild. Entsprechend unnachgiebig formierte sich der »national« legitimierte Widerstand oppositioneller Gruppen, als das politische System unter den Belastungen des letzten Kriegsjahres erzitterte. In Deutschland verloren die regierenden Eliten bereits im Vorfeld der endgültigen Erosion staatlicher Autorität zunehmend die Möglichkeit, glaubhaft an die »Nation« appellieren zu können. Dagegen bewirkte die geringere Schärfe sozialökonomischer Verteilungskonflikte, aber auch die flexiblere Politik der Regierung in London, dass die »Fundamentalpolitisierung« der britischen Gesellschaft, mithin auch der polarisierende Wirkungsspielraum des Nationalismus, nicht das Ausmaß wie in Deutschland erreichte.

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IV Reform oder Revolution? »Statt eines Generalstreiks führen wir für das preußische Wahlrecht einen Krieg«. Ludwig Frank, 1914

Im totalen Krieg stiegen mit den Ansprüchen des Staates an seine Bürger auch ihre Ansprüche an den Staat. Aufgrund einer ungekannten Sozialisierung der Belastungen und Pflichten wurde innerhalb der Kriegsgesellschaften der Ruf nach einer Demokratisierung der Chancen und Rechte immer lauter. Zwar schreckte weder die deutsche noch die britische Regierung davor zurück, die Beteiligung ihrer Bürger an den Kriegsanstrengungen notfalls durch Zwang sicherzustellen. Ebenso klar aber wurden im Verlauf des Krieges die Grenzen staatlicher Repression, wenn große Teile der Bevölkerung sich den Belastungen der Kriegführung entzogen oder widersetzten. Die Identifikation mit der bestehenden politischen und gesellschaftlichen Ordnung konnte nicht staatlich verordnet werden, sondern hing von dem Glauben der politischen Akteure, aber auch breiter Bevölkerungsschichten ab, mit dem kämpfenden Nationalstaat eine verteidigenswerte Gesellschaftsform - mithin ihre spezifischen Nationsvorstellungen - zu schützen. Da die großen gesellschaftlichen Gruppen, voran die Arbeiterbewegung, davon überzeugt sein mussten, dass sich ihr Einsatz von Leben, Arbeitskraft und Besitz lohne, waren ihre politische Diskriminierung nicht mehr zu rechtfertigen.1 Das Wechselverhältnis von Krieg und Partizipationserweiterung zeichnete sich lange vor dem Ersten Weltkrieg ab. In Großbritannien hatten seit dem 18. Jahrhundert große Kriege günstige Bedingungen für die Erweiterung politischer Partizipationschancen einer breiteren Bevölkerung geschaffen. Besonders in Norddeutschland band man im 19. Jahrhundert die Staatsbürgerrechte auch an die Ableistung der Wehrpflicht. Im politischen Diskurs des Kaiserreichs blieben bis hinein in die Sozialdemokratie die militärische Leistung für den Staat und die im Gegenzug zu erfolgende Gewährung staatsbürgerlicher Rechte untrennbar verknüpft. Der Erste Weltkrieg verlieh dieser Entwicklung eine neue Dynamik. Der ungekannten Ausweitung staatlicher Intervention und Kontrolle entsprach die Schärfe, mit der Minderprivilegierte ihre staatsbürgerlichen Rechte forderten. Die fundamentale Belastung der deutschen wie der britischen Kriegsgesellschaft verursachten eine politische Legitimations1 Vgl. Kocka. Klassengesellschaft, 37-40; Schramm, Militarisierung, 480-85; Eley, War, 16065.

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krise neuen Typs und begünstigten die Erfolgsaussichten derjenigen, welche die gesellschaftliche Ordnung auf eine neue demokratische Legitimationsbasis zu stellen beanspruchten.2 Dieser Befund relativiert das Urteil eines Großteils der Nationalismusforschung und die Klagen ungezählter Feuilletonkommentare, wonach Nationalismus und Demokratie schwer oder gar nicht vereinbar seien.3 Die revolutionäre Beziehung zwischen Nationalismus und Demokratie, genauer zwischen Nationalismus und Partizipationserweiterung scheint fast in Vergessenheit geraten zu sein. Dabei bildet das Konzept der Nation gleichermaßen die Grundlage für das der »Volksherrschaft«. Denn bereits aus der Vorstellung der nationalen Einheit folgt für alle Mitglieder dieser Gruppe notwendig der Anspruch auf politische Partizipation und kollektive Solidarität. Seit seiner Entstehung hatte der Januskopf des Nationalismus seine Werbekraft im wesentlichen durch die Berufung auf das »Volk« als alleinigem Träger der Souveränität einerseits und durch die kompromisslose Ausgrenzung und Aggression gegen tatsächliche oder vermeintliche Feinde der Nation andererseits bezogen. Partizipationsverheißung nach innen und Gcwaltbereitschaft nach außen bestimmten und bestimmen bis heute das Doppelgesicht des Nationalismus.4 Der Nationalismus verhieß, eröffnete und legitimierte neue politische Partizipationsmöglichkeiten und Handlungsspielräume. Bei Kriegsausbruch setzte der eingangs skizzierte nationale Gemeinschaftsdiskurs eine emanzipatorische Aufbruchstimmung frei, welche die nationale Einheit und Egalität in der kämpfenden Gemeinschaft verhieß, allerdings ohne dass die Regierungen diese ideologische Neuorientierung als politische und soziale Gleichheit zunächst einlösen wollten oder mussten. Das genügte solange, bis die Beherrschten den Herrschenden unter Berufung auf ihre vollwertige Zugehörigkeit zur Nation die Rechnung für ihre militärischen und kriegswirtschaftlichen Leistungen präsentierten und auch die politische Partizipation forderten. Durch den Bezug auf den »Volkswillen« als letzte Legitimationsinstanz und durch die Denkfigur von der egalisierenden Leistung aller für die kämpfende Nation bot sich oppositionellen Gruppen die Chance, ihre Ansprüche durchzusetzen. Die Repräsentanten der Arbeiter- und der Frauenbewegung und Teile der Liberalen 2 Vgl. Colley, Britons, bes. 321 ff; Eley, War, 163f.; Frevert, Soldaten, 76-81, aber auch Pugh, Reform, 178-84, der vor einer Überschätzung der durch Kriege verursachten Partizipationserweiterung warnt. 3 Her Nationalismus diene, so etwa 11.-G. Haupt, Nationalismus, bes. 293-302. zur Verteidigung reaktionärer Herrschafts- und Machtstrukturen und schaffe eben keine Bedingungen für eine politische Emanzipation, sondern verschleiere den Klassencharakter von Gesellschaften. Eine ähnliche Bewertung bei Dann, Nation, 17-19; Jäggi, Nationalismus, 57, und L. Hoffmann, Volk, 205f. 4 So zu Recht Langewiesche, Nation, bes. 192-211; Colley, Britons, passim. Vgl. entsprechend Münkler, Reich, 61-66; Nodia, Nationalism, 4-7; Grecnfeld, Democracy, 329f, 348f, Frevert, Nation, 271-301, und bereits Conze. Nation, 12f.

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argumentierten, dass die Legitimation moderner Gesellschaften sich nicht lediglich auf die Eliten oder die Monarchie, sondern in erster Linie auf das »Volk« gründen müsse. Die Ansprüche Minderprivilegierter auf gleichberechtigte politische Teilhabe an der Gesellschaft ließen sich wie die der herrschenden Eliten erfolgreich durch die Berufung auf die Nation rechtfertigen. Denn in der Öffentlichkeit wurde die Legitimität von Legitimationsideologien nicht durch irgendeine Instanz, sondern nur durch die Konkurrenz der Interessengruppen untereinander entschieden. In der Berufung auf den politisierten, mündigen und tendenziell egalitären Bürger in Uniform lag eine neue Dynamik und eine gefährliche Untergangsdrohung gegen die reformunwilligen Kräfte des bestehenden Regimes, die sich schließlich auf die Alternative Reform oder Revolution zuspitzte. Das folgende Kapitel untersucht das Verhältnis von Nationalismus und Partizipationserweiterung im ersten totalen Krieg am Beispiel der Reformdebatten um das Männer- und das Frauenwahlrecht in Deutschland und in Großbritannien. Die Debatten über die Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts in Preußen denen über die Reform des Unterhauswahlrechts gegenüberzustellen ähnelt in gewisser Hinsicht dem Vergleich von Äpfeln mit Birnen. Denn im Deutschen Reich erhielt jeder unbestrafte männliche Erwachsene nach der Vollendung des 25. Lebensjahres das Wahlrecht zum Reichstag, wogegen in Großbritannien das Recht auf Teilnahme an der Wahl des Unterhauses an ein kompliziertes System aus Besitz und Wohnsitz gebunden war, mit der Folge, dass 1914 kaum sechzig Prozent der volljährigen männlichen Briten über das Wahlrecht verfügten. Da hier aber nicht das Wahlrecht, sondern die Rolle divergierender Nationsvorstcllungen im Rahmen innenpolitischer Reformdebatten im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses steht, scheint es legitim, die unterschiedlichen Wahlrechtsdiskurse als Verglcichsäquivalente zu behandeln, die in beiden Gesellschaften ähnliche Problemfelder bildeten. Denn die Auseinandersetzungen um die Abschaffung des preußischen Dreiklassenwahlrechts bzw. um die britische Wahlreform stellten auf Jahre ein hochbrisantes innenpolitisches Thema dar, da man in den Wahlreformdiskursen letztlich darüber verhandelte, wer vollberechtigter Staatsbürger war und wer nicht. Der Streit innerhalb beider Nationalstaaten darüber, welchen Bürgern das Wahlrecht weshalb zu gewähren sei, und die so vorgenommene Zuweisung von Zugehörigkeit und Ausschluss verdeutlichte die enge Verknüpfung zwischen Wahlrecht und Nationalismus.5 Die durch nationalistische Weltbilder zumal im Krieg vorgenommene Exklusion von Fremdgruppen begünstigte im dialektischen Umkehrschluss die Inklusion derjenigen, die sich zur eigenen Nation bekannten. Die Verleihung des Wahlrechts stellte als Zugang zur Nation und als Symbol für die Reformwilligkeit und -fähigkeit der beiden Kriegsgesellschaften ein Politikum erster Ordnung dar. 5 Vgl. Brubaker, Citizenship, 21-49.

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1. Die Politik der Exklusion. Die Auseinandersetzung um die Wahlrechtsreform in Deutschland a) »Für ein Vaterland des gleichen Rechtes«: Der Kampf um die Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts in Preußen Das Dreiklassenwahlrecht zum preußischen Landtag stellte seit seiner Einführung 1849 ein politisches Ärgernis für die Linke dar. Das Wahlrecht war zwar für Männer über 25 Jahre allgemein, aber öffentlich, indirekt und vor allem extrem ungleich. Das Gesetz teilte die Urwähler, welche die Wahlmänner zu bestimmen hatten, nach den von ihnen bezahlten Steuern in drei Klassen ein. So verfügten etwa 1903 die 239.000 Wähler der ersten Klasse über dasselbe Stimmrecht wie die mehr als sechs Millionen Wähler der dritten Klasse.6 Während die meisten anderen Länder des Deutschen Reiches dem wachsenden Partizipationsdruck in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg nachgaben und ihre Wahlsysteme wenigstens teilweise demokratisierten,7 blieb der Hegemonialstaat Preußen, der drei Fünftel der Reichsbevölkerung stellte, von dieser Entwicklung ausgenommen. Die Hauptursache dafür lag darin, dass die Konservativen im Landtag im Hinblick auf die »Fundamentalpolitisierung« der deutschen Gesellschaft im Dreiklassenwahlrecht ein Bollwerk ihres Preußentums erblickten und es als zentrales Element ihrer gesellschaftspolitischen Wertvorstellungen entsprechend unnachgiebig verteidigten. Da namentlich die DKP die Erhaltung ihrer Machtstellung im Preußischen Abgeordnetenhaus mit dem Bestand der staatlichen Existenz Preußens gleichsetzte, hatte der Kampf um die Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts vor dem Ersten Weltkrieg auch für die Rechte sowohl eine große machtpolitische wie symbolische Bedeutung.8 Mit dem Ausbruch des Krieges wurde die preußische Wahlrechtsfrage endgültig zu einer zentralen Angelegenheit der Reichspolitik. Bereits in den ersten Kriegswochen mahnten besonders Vertreter der Arbeiterbewegung sowie führende linksliberale Zeitungen und Politiker an, dass der sich abzeichnenden Demokratisierung der Pflichten eine Demokratisierung der Rechte oder zumindest ein Abbau der politischen Diskriminierung folgen müsse. Dabei beschworen die Reformkräfte erneut die Verbindung von gleicher und allgemeiner Wehrpflicht und gleichem und geheimen Wahlrecht. Die Hoffnung auf eine demokratische Neuordnung des deutschen Kaiserreichs unter sozialisti6 Vgl. zu den Bestimmungen im einzelnen Kühne, Dreiklassenwahlrecht, 21-26; Patcniann, Kampf, 9-17; E. Weber, Problem. 189. 7 Vgl. Lässig, Wahlrechtsreformen, 127-69. 8 Vgl. Booms, Partei, 34-40; Kühne. Dreiklassenwahlrecht, 569-74.

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schen Vorzeichen stellte ein wesentliches Element des sozialdemokratischen Nationalismus dar.9 Bereits am 24. August verwies Eduard David gegenüber dem Staatssekretär des Innern, Clemens v. Delbrück, auf die durch den Krieg notwendig zu erfüllende Partizipationsforderung der breiten Bevölkerung. Durch den Krieg komme »nicht nur eine starke militaristisch-monarchistische Welle, sondern auch eine starke demokratische Welle [...], die ihre Unterlage hat in dem gesteigerten Selbstbewusstsein der siegreichen Kämpfer, in dem Gefühl, dem Vatcrlande einen großen Dienst geleistet zu haben. [...] Was erhält das Volk für seine ungeheuren Opfer 1914? Die politische Macht dieser Frage müsse auch die Regierung erkennen. [...] Hier gebe es nur eine Gabe, die groß genug sei: die preußische Wahlreform im demokratischen Sinne«.10 Und am 20. Oktober 1914 verlangte der »Vorwärts« erstmals öffentlich im Krieg die Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts und die Reform des preußischen Wahlrechts nach dem Vorbild des Reichstagswahlrechts. Die Vertreter der SPD, die das allgemeine Wahlrecht vor dem Krieg stets als ein Naturrecht gefordert hatten, werteten geschickt das ursprünglich konservativ-liberale Argument in ihrem Sinne um, nachdem erst die Leistung für die Nation politische Rechte verbürge. Die militärische Leistung des Arbeiters mache ihn wie das ganze Volk im Kriege wenigstens vor dem Gesetz gleich. Wie könne danach im Frieden wieder die unnatürliche Einteilung in Klassen herrschen? »Es ist ganz undenkbar, dass man jene Millionen, die dort auf den Feldern Frankreichs und Russlands unterschiedslos ihr Leben opferten und zu opfern bereit sind zum Besten des Vaterlandes, nach einigen Monaten wieder sondern könnte in Wähler verschiedener Klassen. [...] Mit dem Blute, das in diesem Krieg vergossen wird, besiegelt das Volk den Anspruch auf das gleiche politische Recht aller Staatsbürger«.11 Diese neue Politisierung der Wahl rechts frage und die damit einhergehende Polarisierung der inneren Konflikte war eine direkte Folge des Krieges. Zwar stellte die preußische Wahl rechts frage generell ein Politikum dar und war mithin als Machtfrage für die Linke wie für die Rechte umstritten. »Wahlfragen sind Machtfragen«, stellte Hans Delbrück in den »Preußischen Jahrbüchern« fest. »Das Preußische Wahlrecht gibt gewissen Gesellschaftskreisen eine Macht in die Hand, die ihnen durch die Reform genommen werden soll«.12 Da der Krieg aber auch ehemals politikferne Bereiche wie die Ernährungslagc zum Gegenstand heftiger öffentlicher Auseinandersetzungen machte, war die zusätzliche Verschärfung des Wahlrechtsstreites als Auswirkungeines gestiegenen Problembewusstseins und gewachsener Ansprüche unvermeidlich. »Denn der 9 152r“. 10 11 12

Vgl. Kapitel I.3.a, sowie Kocka, Klassengesellschaft, 37-40; Huber, Verfassungsgeschichte, David, Kriegstagebuch, 23f. (24.8.1914). VO, 20.10.1914, 1f. Vgl. Schmelzer, Meinung, 106. PJB 174(1918), 131.

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Krieg«, so der linksliberale Reichstagsabgeordnctc Friedrich Naumann, »politisiert die Menge. Der Krieg hat jedem einzelnen Gedanken und Ansprüche aufgeprägt, die ihm oft früher ganz fremd waren. [...] Aus den Untertanen werden durch den Krieg Bürger«.13 Doch erst die russische Februarrevolution setzte im Frühling 1917 die preußische Wahlreform auf die innenpolitische Tagesordnung. Hatte sich die Linke mit ihren Demokratisierungsforderungen bis dahin durch rhetorische Reformversprechen abspeisen lassen, sah sich Bethmann Hollwegs Hinhaltepolitik mit einer neuen außen- und innenpolitischen Situation konfrontiert. Alle politischen Lager erkannten zwar die einschneidende Bedeutung der russischen Revolution an, zogen aber aus ihr entgegengesetzte Folgerungen. Die Konservativen verlangten ein um so schärferes Vorgehen gegen vermeintlich umstürzlerische Tendenzen, zu denen sie schon eine vorsichtige Neuorientierung der Innenpolitik und besonders die Demokratisierung des preußischen Wahlrechts zählten. Die Reformkräfte in der Reichsleitung, unterstützt von Sozialdemokraten und Linksliberalen und auch von Teilen des Zentrums und der Nationalliberalen, meinten dagegen in den Worten Bethmann Hollwegs, »dass nun mit den inneren Reformen nicht bis zum Ende des Krieges gewartet werden könne, wenn nicht die rote Welle über dem Staat zusammenschlagen solle«.14 Da jeder Redner jetzt Reformen mit dem drohenden Hinweis auf Russland zum Wohle der Nation verdammen oder verlangen konnte, war eine weitere Politisierung der ohnehin angespannten innenpolitischen Konstellation unvermeidbar. Die Revolution in Russland wirkte als Katalysator einer Entwicklung, die im Frühling 1917 ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte. Wenigstens drei Faktoren drängten auf eine Neuordnung des innenpolitischen Gefüges im Deutschen Reich. Erstens bildete die Februarrevolution nur den letzten und im Urteil der Rechten bedrohlichsten Ausläufer der »demokratischen Welle«, die alle kriegführenden Staaten erfasst hatte. Die Unvermeidbarkeit der Ereignisse aus der Sicht vieler Zeitgenossen zeigte sich in der Verwendung von Metaphern der »Welle« und der »Flut«, gegen die man - j e nach politischer Perspektive »Dämme« zu errichten oder einzureißen habe.15 Zweitens bedeutete die sich seit längerem abzeichnende und am 6. April 1917 erfolgte Kriegserklärung der USA nicht nur eine massive militärische, sondern auch eine politisch-ideologische Herausforderung. Denn die USA propagierten wie zuvor Großbritannien, 13 Sten. Ber. KT, Bd. 310, 3426 (15.5.1917). Vgl. Davis, Home, 521ff. 14 Bethmann Hollweg, Betrachtungen II, 235. Vgl. Rosenberg, Entstehung, 135-37; Welch, Germany, 184-94. 15 »Has gleiche Recht im Reiche, in Staat und Gemeinde kommt«, unterstrich Scheidemann drohend im Reichstag, »es fragt sich nur, wie es kommt, wen die heranbrausende Flut tragen und wen sie hinwegschwemmen wird. Wer aber dann untergehen wird, wird sein Schicksal verdient haben«. Sten. Ber. RT, Bd. 309, 2392 (27.2.1917). Vgl. Peist, Militär, 990f.

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den Krieg nicht gegen das deutsche Volk, sondern gegen das antidemokratische und autokratische Regierungssystem des Kaiserreiches zu führen.16 Drittens schließlich wirkte die angespannte militärische und außenpolitische Lage zusammen mit der dramatischen Ernährungssituation nach dem mörderischen »Kohlrübenwinter« 1916/17 auf die deutsche Innenpolitik zurück. Besonnene Stimmen in der Reichsleitung drängten darauf, die miserable Stimmung der Bevölkerung durch politische Reformen zu heben. General Groener vertrat die Auffassung, dass man zusehen solle, »die Massen statt mit Fleisch und Brot mit Wahlzetteln abzuspeisen«.17 Vor diesem Hintergrund entschloss sich Bethmann Hollweg zur Flucht nach vorn. Bereits Ende Februar erklärte er im Reichstag, dass die Vorbereitung innenpolitischer Reformen nicht mehr nur im Belieben der Regierung liege, sondern als Folge der kriegsbedingten Umwälzung notwendig bevorstehe, ja, dass eine einschneidende politische Veränderung schon eingetreten sei. »Eine neue Zeit mit einem erneuerten Volk ist da. Der gewaltige Krieg hat sie geschaffen«. In Anspielung auf ein Gedicht des Arbeiterdichters Karl Brögcr setzte der Kanzler unter dem Beifall der Sozialdemokratie hinzu: »Ein Volk, von dem ein ergreifendes Wort eines feldgrauen Dichters sagen konnte, dass sein ärmster Sohn auch sein getreuester war. [...] Überall, wo politische Rechte neu zu ordnen sein werden, da handelt es sich nicht darum, das Volk zu belohnen für das, was es getan hat, [...] sondern [...] den richtigen politischen und staatlichen Ausdruck für das zu finden, was dieses Volk ist«.18 Philipp Scheidemann signalisierte für die SPD zwar verhaltene Zustimmung, forderte aber, dass den Ankündigungen endlich Taten folgen müssten. Die Gleichheit der militärischen Leistungen habe die Ungleichheit des Wahlrechts zu überwinden, lautete die zentrale Denkfigur des sozialdemokratischen Nationalismus. »Aber jetzt muss es heißen: gleiche Pflichten, gleiche Rechte! Wir sprechen soviel von Schützengräben. [...] Ich habe nicht gehört, dass es jemals geheißen hätte: Preußen erster Klasse in den ersten Schützengraben, Preußen zweiter Klasse in den zweiten Schützengraben, und Preußen dritter Klasse in die bombensicheren Unterstände«. 19 Das deutsche Volk, so Scheidemann weiter, führe diesen Krieg

16 »Wenn schein die inneren Verhältnisse hierzu [zur Wahlrechtsreform - SOM] zwängen«, erklärte der Kanzler gegenüber seinen Kabincttskollcgen, »so läge der entscheidende Punkt doch in der auswärtigen Politik. England habe verstanden, die Welt glauben zu machen, dass der Krieg geführt werde gegen preußischen Militarismus [...]. Neuerdings werde dieser Kampf noch unterstützt durch die russische Revolution (...) und jetzt versucht auch Wilson noch in seiner Kriegserklärung der Welt klarzumachen, dass Amerika nichts gegen das Deutsche Volk habe, sondern nur gegen die autokratische deutsche Regierung«. GStPK Rep. 90 a, B.III, 2b, Nr. 6, Bd. 166, Bl. 103 (5.4.1917). 17 Zit. n. G.D. Feldman, Armee, 294. 18 Sten. Ber. RT, Bd. 309, 2375 (27.2.1917). 19 Ebd., 2392. Vgl. Huber. Verfassungsgcschichtc, 136.

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letztlich nur für das Egalitätsversprechen der Nation, »sehe Tag für Tag entschlossen dem Tode entgegen für ein Vaterland des gleichen Rechtes«.211 Auch die Regierungseliten konnten sich der Werbekraft dieser ursprünglich oppositionellen nationalistischen Überlegung nicht ganz entziehen. In einer Unterredung mit dem Kaiser rechtfertigte Bethmann Hollweg, von den nationalistischen Argumentationsmustern der Reformanhänger offenbar bewegt, die Pläne zur Reform des Dreiklassenwahlrechts auf der Basis des gleichen Reichstagswahlrechts. Es sei ihm vollkommen unmöglich, »vor dem Lande eine Vorlage zu vertreten, in der ein mit dem Eisernen Kreuz I. Klasse geschmückter armer Arbeiter neben einem bemittelten Drückeberger desselben Dorfes mit ungleichem Stimmrecht zur Wahl zu gehen hätte«.21 Auch im preußischen Staatsministerium berief Bethmann sich am 5. April mit beinahe den gleichen Worten auf die egalitäre Leistung aller Soldaten für die kämpfende Gemeinschaft, mit der ein ungleiches Wahlrecht nicht vereinbar sei.22 Angesichts der gefährlich angespannten innen- und außenpolitischen Situation mahnte der Kanzler seine Kollegen, dass die Verhinderung notwendiger Reformen unkontrollierte Folgen für die herrschende Ordnung in Preußen und im Reich haben könnte: »Es sei unausbleiblich, dass eine Folge des Krieges ein starkes Anwachsen des demokratischen Gedankens werde. Es werde unmöglich sein, dieses Anwachsen zu verhindern, es könne vielmehr nur darauf ankommen, es in Bahnen zu leiten, in denen das Staatswesen möglichst wenig Schaden erleide«.23 Die konservative Ministergruppe im Kabinett, angeführt von Innenminister Loebell, erachtete aber im gleichen Wahlrecht die gefährlichste Bedrohung des preußischen Staates. Mitten im Kriege dürfe man außerdem keinen innenpolitischen Parteienstreit vom Zaune brechen.24 Als zudem die OHL die Wahlrechtsreform als schwächliche Konzession an den demokratischen Zeitgeist verurteilte, gab der Kanzler nach und erstellte eine neue Reformvorlage.25 Das am 7. April 1917 als »Osterbotschaft« des Königs von Preußen erlassene Edikt stellte einen ausweichenden Kompromiss zwischen Reformgegnern und -befürwortern dar: Zwar erkannte das Dekret an, dass »nach den gewaltigen Leistungen des ganzen Volkes in diesem furchtbaren Kriege [...] nach meiner Überzeugung für ein Klassenwahlrecht kein Raum mehr« ist.26 Doch sah der Entwurf nur die Einführung des direkten und gehei20 »Rheinische Zeitung«, 20.3.1917, zu. n. Schmetzer. Meinung, 213. 21 Bethmann Hollweg, Betrachtungen II, 240f. Vgl. zur Verbreitung dieser eigentlich oppositionellen Denkfigur auch Max Weber, Politik, 218f, sowie Ratemann, Kampf, 59f. 22 GStPK Rep. 90a, B. III, 2b, Nr. 6, Bd. 166, Bl. 103 (5.4.1917). 23 Ebd., Bl. 105. 24 Ebd., Bl. 115. Vgl. Fi. Weber, Problem, 192f; Patemann, Kampf. 61-63. 25 Vgl. Ludendorff, Kriegserinnerungen, 355f; Bethmann Hollweg, Betrachtungen II, 241 — 43. 26 Der Text u.a. in BT (M), 8.4.1917, 1. Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte. 156f.

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men, nicht aber des gleichen Wahlrechts vor - und auch das erst nach Kriegsende. Die Aufnahme der Osterbotschaft durch die Rechte war zurückhaltend bis ablehnend. Selbst die »Germania« nutzte den Anlass, um gegen die »von den Linksparteien künstlich entfachte Bewegung zugunsten einer sofortigen Inangriffnahme der preußischen Wahlreform« Stellung zu beziehen. Die Reform des preußischen Wahlrechts sei zwar zu begrüßen, viel wichtiger als die gleichberechtigte politische Teilhabe war dem politischen Katholizismus aber die Einlösung der gesellschaftlichen Gleichberechtigung seines Milieus gemäß der nationalen Einheitsverheißung von 1914. »Das Interesse des Staatsganzen verlangt gebieterisch, dass unserem katholischen Volksteil nicht weniger Gerechtigkeit wird, wie den Polen oder den Sozialdemokraten«.27 Weit schroffer wiesen die Konservativen die Reformvorschläge der Regierung zurück. Von der Erfüllung expansiver Kriegszicle, nicht von politischen Konzessionen versprach man sich hier eine Stabilisierung der bestehenden Ordnung. Zwar stehe Deutschland tatsächlich, wie es im Text der Osterbotschaft hieß, eine große Zeit bevor, »nur dass diese Zeit gänzlich unabhängig ist vom preußischen Wahlrecht. Über sie wird entschieden vor Arras und Soissons; je größer der Sieg, je größer das neue Deutschland«.28 Deutlicher noch vertrat die »Kreuzzeitung« die Vorbehalte der DKP gegen die verbreitete nationalistische Vorstellung, wonach die militärische Leistung für den angegriffenen Nationalstaat als Ausdruck von politischer Reife und Gleichheit verstanden werden müsse. Wohin würde das führen, wenn die - zugegeben tapfer kämpfenden Sozialdemokraten - an die Regierung kämen? »Tapferkeit im Felde gibt noch keinen Beweis für die Regierungsfähigkeit einer Partei. Das zu verkennen, ist der Hauptfehler, den man heute unserer Regierung vorhalten muss«. In ungeschminkter, aristokratisch-elitärer Verachtung für die »Massen«, unterstrichen die Konservativen die naturgegebene Ungleichheit der Menschen, die weder die militärische Leistung noch das nationale Bekenntnis zu überwinden im Stande seien: »Die Politik ist eine Kunst. [...] Nur eine kleine Minorität wird immer diese Kunst erlernen, und darin liegt die innerliche Verurteilung jeder Demokratie und Massen herrschaft«.29 Die Sozialdemokraten und Liberalen nahmen dagegen die Reformvorschläge trotz ihrer Unzulänglichkeit wohlwollend auf. Die Offenheit der nationalen Rhetorik, der sich die Osterbotschaft bewusst bediente, erlaubte auch noch am Ende des dritten Kriegsjahres, dass die verschiedenen Lager ihre unterschiedli27 (iE (M), 11.4.1917, 1. Vgl. Koch, Zentrumsfraktion, 304f.; Grosser, Konstitutionalismus, 174f. 28 UWZ (M), 16.4.1917, 1. Die kämpfende Truppe wende sich »wahrlich mit Abscheu ab [...] von dem Gezähl der Heimgebliebencn um ›Ncuorientierung‹ und ›Wahlrecht‹; bei ihnen gilt zurzeit nur eine Wahl: Sieg oder Tod!«, NPZ (A), 23.2.1917, 2. 29 NPZ (M), 17.5.1917, 2.Vgl. Grosser, Konstitutionalismus, 124-26.

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chen Wertvorstellungcn auf die Nation projizieren konnten und das Prinzip Hoffnung erhalten blieb. Dass genau deshalb die Verheißungen der Nation sich nur schwer erfüllten, weil sie sich oft gegenseitig ausschlossen, bemerkte man nicht. Der »Vorwärts« feierte dann auch das Reformversprechen in einer der »Osterbotschaft« angemessenen religiösen Sprache als »Verheißung« und »Preußens Auferstehung«.30 Die »Frankfurter Zeitung« leitete aus der nationalen Einheit im Krieg die politische Egalität des Volkes ab: »Dasganze Volk war es, das die bewunderungswürdigen Leistungen vollbrachte, die der Kaiser warmherzig rühmt. [...] Einem solchen Volke [...] kann unmöglich auch weiterhin eine Beschränkung seines politischen Einflusses auf das geringe Maß zugemutet werden, wie es heute im führenden Staate Preußen für die breiten Schichten der Fall ist«.31 Bemerkenswert war vor allem das Einschwenken weiter Teile der Nationalliberalen und namentlich ihrer Reichstagsfraktion unter Führung Gustav Stresemanns auf einen parlamentarischen Reformkurs. Die »Kölnische Zeitung« etwa, die lange weitreichenden politischen Reformen widersprochen hatte, erklärte unumwunden, dass die Partei Fehler begangen habe: »Das Erlebnis des Weltkrieges hat uns in vielen Stücken umzulernen genötigt, wir haben mit anderen Augen gesehen, wir haben mit anderen Maßstäben messen gelernt«.32 Im Anblick »der Majestät des Todes fürs Vaterland [seien] alle Volksgenossen gleich«. Daher gehe es einfach nicht an, »einem so im Kampfund Tod bewährten Volk zuzumuten, sich auch fürderhin von einem privilegierten Klassenparlament bevormunden zu lassen«.33 Die Befürworter der preußischen Wahlrechtsreform beriefen sich auf die Souveränität und auf die Einheit des deutschen Volkes. Beide nationalistischen Argumente hatten im Verbund weitreichende Folgen, strukturierten und legitimierten sie doch die politischen Partizipationsforderungen. Zugespitzt formuliert: Nur mit der Berufung auf die Souveränität, die Egalität und die Einheit des Volkes ließen sich im Ersten Weltkrieg politische Rechte legitimieren. Die Kriegsleistung führten die Reformkräfte als Beleg für die erwiesene Mündigkeit des Volkes an. Das inflationäre Reden über die Bedeutung des »Volkes« oder gar der »Volksgenossen« und der »Volksgemeinschaft« stellte eine besonders von den Sozialdemokraten und den Linksliberalen angewandtes innovatives Element ihres oppositionellen Nationalismus dar. Die Berufung auf den Willen des Volkes als letzte Legitimationsinstanz war viel mehr als Kosmetik. Indem die Repräsentanten der Linken das - notwendigerweise idealisierte 30 VC), 8.4.1917, 1. Für Eduard David, Kriegstagebuch, 223, war damit sogar »mein inncrpolitisches Kriegsziel (...) auf dem Marsch und kann nicht mehr verloren gehen«. Vgl. Schmetzer, Meinung, 214. 31 FZ (2.M), 8.4.1917, 1 (Herv. t. Orig.). Vgl. BT (M) 8.4.1917, 1; Sten. Ber. RT, Bd. 310, 3428 (15.5.1917). 32 KLZ (2.M), 2.6.1917, 1. Vgl. Thieme. Liberalismus, 99f.; Patemann, Kampf, 57f. 33 KLZ ( l . M ) , 21.4.1917, 1.

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und abstrakte - Volk semantisch zum Souverän erhoben, und nicht etwa die Monarchie oder die herrschenden Eliten, rüttelten sie an den Grundlagen der preußischen Monarchie und des Kaiserreiches. Von der faszinierenden Vorstellung einer durch den Krieg möglich gewordenen gleichberechtigten Teilhabe aller Mitglieder der deutschen Nation - Beherrschten wie Herrschenden - an ihrer politischen Ausgestaltung ging eine neue werbewirksame Dynamik aus, die auch Teile der Nationalliberalen und des politischen Katholizismus erfasste. Die gebetsmühlcnartige Beschwörung der nationalen Einheit des deutschen Volkes stellte nicht nur eine den geltenden öffentlichen Regeln entsprechende notwendige Voraussetzung für eine erfolgreiche Kriegführung dar. Entscheidend war, dass die Vorstellung von nationaler Einheit für jeden Deutschen die politische Gleichberechtigung implizierte. Wenn auch der Kanzler, den Regeln für öffentliches Reden im Krieg gemäß, die alle einigende Macht der Nation betonte, war die politische Diskriminierung der breiten Bevölkerungjedenfalls semantisch kaum noch zu rechtfertigen.34 »Das Privilegienwahlrecht steht im krassen Widerspruch zu solcher Einheit«, stellte das »Berliner Tageblatt« bündig fest. »Ein Staat, aber, der wie der unsrige es heute erfahren hat, nicht existieren kann, ohne die körperlichen und sittlichen Kräftejedes einzelnen Staatsbürgers bis zur äußersten Anspannung in seinen Dienst zu stellen, ist in seiner Natur nach bereits ein Volksstaat«.35 Die wirkungsmächtige Dynamik des Nationalismus und der nationalen Sprache war auch vielen Zeitgenossen durchaus bewusst, gab sie ihnen doch ein mächtiges Instrument zur Durchsetzung ihrer Interessen und Vorstellungen in die Hand. Auch und gerade 1917 konnte sich die Linke wieder erfolgversprechend auf eine partizipationsverheißende Nation berufen: »Mit was anderem will man die Menge heranziehen als mit den heiligen und starken Urklängen, die im Worte ›national‹ gelegen haben, lange ehe man das Wort national zur Einseitigkeit herabgezogen hat? Denn es lag im Worte Nation und Nationalität die Beteiligung aller am Staat, dass der Staat kein Instrument der Herrschenden allein ist, keine Einrichtung besonderer Klassen«.36 Unterdessen formierten die Reformgegner ihre Bataillone. Hinter dem Rücken des Kanzlers erstellte Innenminister Loebell den Entwurf für ein Pluralwahlrecht, das jedem Wahlberechtigten mit bis zu fünf Zusatzstimmen unter anderem für höheres Alter, Besitz und Bildung ausstattete.37 Diese Neuetiket34 »Der nationale Gedanke (...) hat (...) das ganze Volk in allen seinen Schichten (...) und über jede Partei hinweg umfasst und hat uns zu einer untrennbaren Einheit zusammengeschmiedet«, Sten. Ber. RT, Bd. 309, 2375 (27.2.1917). 35 BT, 26.1.1917, 1. Vgl. SM 23 (1917), 284. 36 Friedrich Naumann für die F W , Sten. Ber. RT, Bd. 310, 3426 (15.5.1917). 37 Vgl. Patemann, Kampf, 79-82; Huber, Verfassungsgeschichte, 159f, und bereits die Plane Loebells für ein Pluralwahlrecht vom Herbst 1916, GStPK Rep. 90 a, ΑΙII, ld, Nr.l A, Bd. 1, Bl. 259-65 (16.9.1916).

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tierung des Drciklassenwahlrcchts unter anderem Namen war nicht nur für die Konservativen attraktiv. Da nach einer Berechnung des Innenministeriums nach der Einführung des gleichen Wahlrechts erdrutschartige Verluste für die DKP und in geringerem Ausmaß auch für die Nationalliberalen und das Zentrum zu erwarten waren, zeigten sich zunächst auch die Fraktionen der Nationalliberalen und des Zentrums im Preußischen Abgeordnetenhaus - was immer ihre Parteien auf Reichsebene davon halten mochten - dem Pluralwahlrecht gegenüber nicht abgeneigt.38 Anfang Juli kam es zur offenen Machtprobe. Nach der weiteren Zuspitzung der innenpolitischen Lage als Folge des Aprilstreiks und auf Druck der SPD, der FVP, aber auch auf Initiative Stresemanns hin, entschloss Bethmann Hollweg sich, seine verbliebene Autorität zur sofortigen Einführung des gleichen Wahlrechts in Preußen in die Waagschale zu werfen. Nach seiner Auffassung war das Ausbleiben einer durchgreifenden Wahlreform eine wesentliche Ursache für die missliche innenpolitische Situation. Am 9. Juli 1917 standen sich Befürworter und Gegner des gleichen Wahlrechts im preußischen Kronrat in Anwesenheit des Kaisers gegenüber. Die Anhänger der Reformvorlage betonten die Grenzen staatlicher Autorität und erklärten, dass die innere Lage »sich so zugespitzt [habe], dass eine Entlastung unerlässlich sei. Die lange Dauer des Krieges, der Hunger, die schmähliche Agitation im Lande ließen schwere Explosionen mit katastrophalen Wirkungen auf die Munitionsherstellung und Kriegsindustrie als wahrscheinlich erscheinen, dagegen könne man mit Zensurbestimmungen nichts mehr ausrichten«.39 Der Nationalismus der Reformer ließ in ihnen vor dem Hintergrund der fundamentalen Krise nicht nur die Überzeugung reifen, dass dem »Volk« gegenüber das nationale Einheitsversprechen von 1914 erfüllt werden müsse. Die Verortung der Krise in einem nationalistischen Koordinatensystem, polarisierte zudem ihre Wahrnehmung bis hin zu einer Situation des Entweder-Oder. Jetzt sei der letzte Zeitpunkt erreicht, um durch politische Konzessionen sowohl die innenpolitische Katastrophe als auch die militärische Niederlage abzuwenden. Staatsministcr Helfferich unterstrich, dass »die durch die Proklamation des gleichen Wahlrechts zu erwartende politische Entspannung für die siegreiche Beendigung des Krieges von großer Bedeutung sei«.40 Loebell erklärte dagegen für die konservativen Rcformgegner, »dass der Austrag des Meinungsstreits hinter der Front in höchstem vaterländischen Interesse verschoben werden müsse«.41 Unter nationaler Einheit verstanden die Konservativen den Verzicht auf die Veränderung einer politischen Ordnung, von der sie selbst am meisten profitierten, mithin 38 Vgl. E. Weber, Problem, 194f.; Thieme, Liberalismus, 100-03; Loth, Katholiken, 346f. 39 So Handclsmiiiistcr Reinhold v. Sydow, GStPK Rep. 90 a, A III, 1d, Nr.1 Α, Bd. 2, Bl. 246 (9.7.1917). 40 GStPkRep. 90 a, A III, 1d, Nr.l Α, Bd. 2, Bl. 242 (9.7.1917). 41 Ebd., Bl. 239.

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nicht die Erfüllung, sondern die Absage an Partizipationsforderungen. Der Wahlrechtsstreit werde dem Land keine innere Beruhigung verschaffen, sondern die Nation vielmehr von Grund auf spalten und so den Ausgang des Krieges essentiell gefährden.42 Im übrigen versammelten die Reformgegner die bekannten antidemokratischen Stereotypen. Landwirtschaftsminister Klemens v. Schorlemer etwa beglückte seine Kollegen mit seiner humanistischen Bildung und betonte »den schon von Aristoteles vertretenen Grundsatz, dass man das Ungleiche nicht gleich machen könne«. Und auch Finanzminister Lentze warnte vor der drohenden »Macht der Masse«.43 Wilhelm IL beobachtete eher passiv, »wie ein Zuschauer bei einem Tennisspiel«,44 den Streit der beiden Lager im Kronrat. Erst nach einer massiven Rücktrittsdrohung seines Kanzlers entschied sich der Kaiser, aus Gründen der Reichs- und Kriegspolitik das gleiche Wahlrecht für Preußen am 12. Juli 1917 zu proklamieren. Loebell und vier seiner konservativen Kollegen kündigten daraufhin ihre Demission an. Der Triumph der Reformer schien perfekt. Der »Vorwärts« und die Mehrheit der übrigen Zeitungen der neuen Reichstagsmehrheit feierten das gleiche Wahlrecht als Sieg des Volkswillens und als einen entscheidenden Schritt auf dem Weg einer unaufhaltsamen Parlamentarisierung.45 Die der USPD nahestehende »Leipziger Volkszeitung« konnte sich dagegen über die Ankündigung der Reform nicht freuen. Mit einem Blick auf die Rechtspresse warnte sie weitsichtig, dass der Erfolg des Erlasses noch nicht ausgemacht sei, da die Konservativen sich um den Volkswillen herzlich wenig scherten und die Vorlage erst das Abgeordnetenhaus und das Herrenhaus passieren müsse: »Was dabei am Ende herauskommen wird, kann man sich vorstellen, wenn man sich die Zusammensetzung dieser beiden Körperschaften vergegenwärtigt«.46 Die Skepsis war berechtigt. Die preußische Wahlreform stellte zwar eine zentrale Angelegenheit des Reiches dar, musste aber das nach dem Dreiklassenwahlrccht zusammengesetzte Abgeordnetenhaus passieren. Dort verfügte allein die DKP über 143 Mandate (die SPD kam auf 10!) und konnte zuversichtlich erwarten, zusammen mit den Freikonservativen und einigen nationalliberalen und katholischen Abtrünnigen die Reformvorlage zu kippen. Dennoch hoffte die Reichsleitung auf die politische Einsicht der Konservativen in 42 So auch Finanzministcr Lentze, Ebd., 248. 43 Ebd., 243,247. Vgl. Bethmann Hollweg, Betrachtungen II, 256-59, u. insges. zum Streit im Kronrat Patemann, Kampf, 82-93; G.D. Feldman, Armee, 290f. 44 (i.D. Feldman, Armee, 291. 45 »Der König von Preußen verspricht es [...], der Reichstag will es, und das Volk will es. Die preußischen Konservativen wollen es nicht, ihr Parteivorstand hat gegen den Gang der Weltgeschichte feierlich Protest eingelegt«, VO, 13.7.1917, 1. Vgl. BT (M), 12.7.1917, 1; KLZ (MI), 12.7.1917, 1. 46 LV, 12.7.1917, 1. Auch die FZ (1.M), 18.7.1917,2, warnte vor dem unnachgiebigen Widerstand des »volksfremden preußischen Landtage(s)«. Vgl. NPZ (A), 12.7.1917, 1.

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das Unabwendbare nach dem Vorbild der englischen Aristokratie, die ihren Widerstand gegen die britische Wahlrechtsreform im Oberhaus soeben aufgegeben hatte. Die Regierungsvertreter ließen im Vorfeld der Beratungen im Abgeordnetenhaus unter anderem gegenüber GrafWestarp durchblicken, »dass man von unserer engstirnigen Rückständigkeit überzeugt war und man ermahnte uns, wir möchten uns die großzügige Politik der englischen Konservativen zum Muster nehmen, die stets rechtzeitig die nötigen Zugeständnisse gemacht hätten«.47 Nach wie vor aber setzten die Konservativen ohne Rücksicht auf die innere oder die militärische Lage ihre eigene politische Machtstellung mit dem Bestand Preußens gleich. Auf die Einsicht der konservativen Eliten konnte die Regierung in Deutschland lange warten. Die Beratungen im Abgeordnetenhaus begannen am 5. Dezember 1917. Der Gesetzentwurf der Reichsleitung sah das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Stimmrecht für jeden Mann über 25 Jahren vor. Die wenige Tage zuvor publizierte Begründung der Reformvorlage demonstrierte erneut, wie weit sich auch die Regierung die zunächst oppositionelle Vorstellung von der alle Bürger rechtlich gleichstellenden Leistung für die kämpfende Nation zu eigen gemacht hatte. Zunächst verwies man auf den Zäsurcharakter der Kriegserfahrungen. »Die Einführung des gleichen Wahlrechts folgt [...] aus den völlig gewandelten Voraussetzungen, die dieser Weltkrieg geschaffen hat. Die Gründe, die in den vergangenen Friedensjahren [...] gegen das gleiche Wahlrecht geltend gemacht worden sind, sind durch die Lehren und Erfahrungen des Krieges überholt«.48 Den gleichen Leistungen und den gleichen Opfern des »Volkes« für den Nationalstaat, so die politische Teilhabe versprechende nationalistische Denkfigur, müssten auch die gleichen staatsbürgerlichen Rechte entsprechen. »Das Volk [ist] durch den Weltkrieg, der [...] unterschiedslos von jedem einzelnen Staatsbürger die gleichen Leistungen, die gleichen schweren Opfer für Bestand und Zukunft des Vaterlandes gefordert hat, über das bestehende Klasscnwahlrecht hinausgewachsen«.49 Diese Argumentation der Regierung hatte für die Vorstellung von der deutschen Nation durchaus revolutionäre Implikationen: Sic bedeutete nichts weniger, als dass die vollen Staatsbürgerrechte und damit das vielleicht wesentliche Element des Deutschtums, nicht einfach unveränderlich bestanden, sondern durch Leistung erworben werden konnten. Die deutsche Nation erschien demnach nicht allein als die soeben noch, 1913 im Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz kodifizierte 47 Westarp, Politik, 277. »Irgendeine Einsieht in die Lage«, so Bethmann Hollweg, Betrachtungen II, 255, über die DKP »eine hemmende Rücksicht auf die innere Front, auf die Sinnesart anderer, für die Kriegführung wesentlichster Volksschichten war nicht zu erkennen, desto sichtbarer das Bestreben, die Bedrohung der Machtstellung der konservativen Partei mit einer Bedrohung von Kronrechten zu identifizieren«. Vgl. auch Sten. Ber. PAH,6564 (5.12.1917), sowie Patemann, Kampf, l()6f 48 NA (M), 26.11.1917, 2. Entsprechend FZ (M), 26.11.1917, 1. 49 Ebd.

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traditionelle Abstammungsgemeinschaft, sondern unter dem Druck des Krieges als eine partizipationsverheißende Leistungsgemeinschaft. Mehr noch: Ausgerechnet der preußisch-deutsche Staat sprach sich das Recht ab, die verschiedenen Leistungen seiner Bürger nach irgendeiner Abstufung zu bewerten.50 Das sei wegen der wirtschaftlichen Kosten des Krieges, vor allem aber wegen des hohen Blutzolls unmöglich. »Das dem Vaterlande geflossene Blut, diese letzte und höchste Leistung, die der Staat vom Bürger fordert, ist größten unmessbaren Wertes«, weshalb »die dem Staat gebrachten Opfer aller Bürger eines gleichen Wertes sind«, und dieser »auf den Unterschied öffentlicher Geldleistungen künftig Abstufungen der politischen Rechte nicht mehr gründen kann«.51 Der neue Innenminister Bill Drews unterbreitete dem Abgeordnetenhaus dann in beinahe denselben Worten die Reformvorlage der Regierung. Wahlrechte ließen sich nach keinen bestimmbaren Kriterien und erst recht nicht nach einer abgestuften Skala festlegen. Sie stünden allein unter dem Grundsatz der Gerechtigkeit, der besage, dass derjenige, der sein Vaterland zu verteidigen habe, an seiner politischer Ausgestaltung auch vollen Anteil haben müsse.52 Mit den gleichen Argumenten und gleicher Entschiedenheit vertraten die Redner der SPD und der FVP, unterstützt von ihrer Presse, denEntwurf.53Das »Berliner Tageblatt« war von der nationalen Egalitätsvorstellung bewegt und schrieb gleichermaßen geschickt kalkulierend: »Ein Volk [...], das seine Söhne und Väter unterschiedslos in den Opfertod für die nationale Idee schickt [...], das hat auch ohne Einschränkung den vollen Anteil an der Gestaltung des Schicksals dieses Staates zu beanspruchen«.54 Umgekehrt erleichterte die Inanspruchnahme des deutschen Volkes durch die Linke die Diffamierung der Konservativen, die im »Kampf gegen das Volk« stünden.55 Der »falsche« - und damit als reaktionär und krankhaft abgewertete - Nationalismus der Konservativen, so der polnische Abgeordnete Wojciech Korfanty, habe diese erst in die prinzipielle Opposition zu Staat und Nation geführt. »Die Konservativen sind unheilbar mit dem Hypernationalismus behaftet [... ] und gerade das Dreiklassenwahlrecht hat ihm eine große Förderung 50 »Die Jahre des Krieges haben von jedem Staatsbürger Leistungen gefordert, denen gegenüber quantitativ wie qualitativ jeder Versuch der Abstufung, der unterschiedlichen Bewertung, versagen muss«, Ebd. 51 Ebd. Vgl. zu den Bestimmungen der Vorlage im Einzelnen Huber, Verfassungsgeschichte, 479-81; Patemann, Kampf, 127-29. 52 Sten. Ber. PAH, 6564-70 (5.12.1917). Vgl. Sten. Ber. PAH, 6688 (6.12.1917). 53 Vgl. Sten. Ber. PAH, 6744-53 (7.12.1917); 6799-05(10.12.1917), sowie Patemann, Kampf, 129. 54 BT (M), 5.12.1917, 1. Vgl. VC), 13.12.1917, 1. Hans Delbrück forderte in den PJB 174 (1918), 132: »Es geht nicht länger an, dass die breiten Arbeiterschichten, von deren Zustimmung und Patriotismus es ganz wesentlich abhängt, dass wir uns in diesem Kriege behaupten, im Preußischen Landtag auf eine zwerghafte Minorität ohne Einfluss beschränkt sind«. 55 VC), 8.12.1917, 1. Vgl. BT (M), 21.2.1918, 2.

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zuteil werden lassen. [...] Sic kämpfen gegen die eigenen Landesgenossen, weil sie die Schädlichkeit des Nationalismus erkannt haben, sie kämpfen gegen alle Neuerungen und Neugestaltungen des Staates; [...] weil sie befürchten, dass diese Neugestaltung des Staates dem Nationalismus ein Ende bereiten würde«.56 Die nationale Rhetorik der Rechten sei entweder ein Irrtum oder eine Farce, denn die besseren Deutschen und die Sachwalter der »richtigen« nationalen Werte seien auf der anderen Seite des politischen Spektrums zu finden. Auf den stereotypen Zuruf eines Konservativen, er sei antinational, entgegnete Heinrich Ströbel für die USPD, »in seinem Sinne denke ich wirklich nicht national. [...] Das Versteckspiel mit dem Worte national sollten eigentlich die Herren von der Rechten aufgeben, denn für sie besteht [...] die Nation nur aus dem Junkertum, bestenfalls noch aus den anderen herrschenden Schichten. Wie sie von den breiten Massen des Volkes, von der eigentlichen Nation denken, das beweist ja ihr erbitterter Widerstand gegen das gleiche Wahlrecht«.57 Auch der Nationalismus der Linken begünstigte in der Logik des EntwederOder eine bipolare Ordnung der politischen Welt. Die ausgegrenzten Konservativen erschienen in Anbetracht der Kriegslage und ihrer reformfeindlichen Politik als eine ernsthafte Bedrohung der »letzten und höchsten Interessen des Landes. [...] Der Widerstand einer mächtigen Kaste gegen notwendige Reformen ist eine wirkliche Gefahr«.58 Denn die Wahlrechtsfrage sei, so Linksliberale und Sozialdemokraten weiter, eine Kriegsfrage. Die Erweiterung innenpolitischer Rechte stehe in einem direktem Verhältnis zu den militärischen Siegeschancen. Großbritannien weise Deutschland mit seinem soeben erlassenen allgemeinen Unterhauswahlrecht den Weg. Für die Linke war Großbritannien im letzten Kriegsjahr nicht mehr nur Feindbild, sondern auch wieder Vorbild. Die eigene Reform sei innenpolitisch »ein Teil des Siegeswillens der preußischen Nation« und stelle gleichzeitig »auch eine Waffe nach außen dar«.59 Der umfassenden Wahlrechtsnovellc in Großbritannien müsse eine Reform in Preußen folgen, um sowohl der deutschen Bevölkerung den Wert des eigenen Regierungssystems zu demonstrieren als auch der ideologischen Herausforderung der Briten zu begegnen.60 »Das Volk wird dann sicher freudiger als bisher Strapazen und Entbehrungen tragen und weitere Opfer an Gut und Blut bringen, um zu einem glücklichen Frieden zu gelangen«.61 Die Erfüllung der Partizipationsforderungen der organisierten 56 Sten. Bor. PAH, 6826, 6824f. (10.12.1917). 57 Sten. Ber. PAH, 6876 (11.12.1917) (Herv. i. Orig.). Vgl. Sten. Her. PAH, 6751 f. (7.12.1917). 58 VO, 8.12.1917, 2. 59 So der Abgeordnete Otto Wiemer für die FVP, Sten. Ber. PAH, 6801 (10.12.1917). 60 Noch könne »England mit mehr oder weniger gutem Grund behaupten [...], es fördere die Sache der Freiheit, im Gegensatz zu den reaktionären Methoden in Deutschland«, SM 23 (1917), 283. Vgl. BT, 10.12.1917, 1; LV, 12.12.1917, 2; Sten. Ber. PAH. 6650 (6.12.1917). 61 FZ ( l . M ) , 12.12.1917,2.

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Arbeiterschaft, das betonte auch Max Weber,62 stärke deren innere Bereitschaft, das Deutsche Reich als ihren Staat zu akzeptieren, und bilde damit die Conditio sine qua non einer erfolgversprechenden Kriegführung. Die Reaktionen des Zentrums und der Nationalliberalcn im Abgeordnetenhaus waren wenig verheißungsvoll, beide Fraktionen in der Wahlrechtsfrage tief gespalten. Felix Porsch ließ für die Zentrumsfraktion durchblicken, dass politische Reformen nicht gerade an der Spitze der Agenda seiner Partei ständen. Außer grundsätzlichen Vorbehalten gegen den Parlamentarismus trat dabei die nach wie vor weltanschauliche Gebundenheit des Zentrums zu Tage. Vor allem hegte man Bedenken, dass durch das gleiche Wahlrecht die kulturellen und konfessionellen Interessen des Katholizismus bedroht werden könnten.63 Einen entscheidenden Stoß gegen die Reform führte dann der Vorsitzende der nationalliberalen Fraktion, Walter Lohmann. Zwar erkannte er an, dass in seiner Partei in der Wahlrechtsfrage unterschiedliche Auffassungen bestünden. Denn ein Teil der nationalliberalen Fraktion und der parteinahen Zeitungen übernahm die Argumentation der Reformanhänger von der gleichmachenden militärischen Leistung für das Vaterland und der neuen staatstragenden Verantwortung der Sozialdemokratie.64 Doch auch in Anbetracht der Kriegsopfer wurden Lohmann und der rechte Flügel seiner Partei nicht sentimental. Die ungleiche »Masse« werde weder durch Krieg noch Nationalismus gleich gemacht. Nur der Einfluss von Besitz und Bildung verbürge den Fortbestand der preußischen Politik. Auch die Anhänger des gleichen Wahlrechts, so Lohmann weiter, »wünschen Sicherungen dagegen, dass nicht die gebildeten und besitzenden Klassen, die Träger unserer Kulturtraditionen [...] von den Massen einfach unterdrückt werden«.65 Die Konservativen schließlich stemmten sich gegen die Wahlrechtsnovelle mit der Wut derjenigen, die ihren politischen Einfluss und ihre Lebenswelt dahinschwinden sahen. Den Ausgangspunkt der Kritik bildete die stereotyp wiederholte Auffassung der konservativen Aristokraten, dass sie selber gleicher und besser seien als die anderen. Der Freikonservative Octavio Frhr. v. Zedlitz erklärte: »Das gleiche Wahlrecht misst Ungleiches gleich, schätzt Ungleiches gleich ein und widerstrebt daher eigentlich den Grundregeln der Gerechtig62 »Überall sind miüierrschendc demokratische Partein Träger des Nationalismus. (...) Das Reich muss auch in Zukunft in der Lage sein, seine Bürger zum Kampf für die eigene Existenz und Ehre aufzurufen«. Dazu sei vor allem »die innere Bereitschaft der Nation [erforderlich], diesen Staat als ihren Staat zu verteidigen. Die Erfahrungen im Osten können lehren, was geschieht, wenn diese Bereitschaft fehlt«, Max Weber, Politik, 349, 393 (Herv. i. Orig.). Vgl. entsprechend Delbrück in PJB 174 (1918), 132; Innenminister Drews in Sten. Ber. PAH, 9335 (1.5.1918), u. KLZ (2.M), 11.12.1917, 1. 63 Vgl. KV (A), 25.11.1917, sowie Patemann, Kampf, 130,166f; Grosser, Konstitutionalismus, 174f; Koch, Zentrumsfraktion, 324-27. 64 Vgl. Sten. Ber. PAH, 6688 (6.12.1917); KLZ (A), 26.11.1917,1; KLZ (MI), 7.12.1917, 1. 65 Sten. Ber. PAH, 6630-42, Zit. 6634 (6.12.1917). Vgl. Thieme, Liberalismus, 107f.

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ceit«.66 Ängstlich sorgte man sich hier, dass das parlamentarische System die künftige konservative Minderheit benachteiligen werde.67 Die scharfe ideologiiche und prinzipielle Ablehnung des gleichen Wahlrechts wurde durch die Dhnmacht der Rechten verstärkt, die angesichts der geltenden Regeln für öffentliches Reden der nationalistischen Volks- und Egalitätsrhetorik nur schwer widersprechen konnte. Einigermaßen mühsam suchte die »Kreuz-Zeitung« die ›Phrasenhaftigkeit des Arguments« der Reformanhänger zu widerlegen, wonach die gleichen militärischen Leistungen den gleichen politischen Rechten zu entsprechen hätten.68 Vor allem aber gerierten sich die Konservativen erneut als die wahren Verteidiger des Preußen turns und warnten vor einer doppelten Gefahr, die dem Lande drohe: Innenpolitisch bedeute das gleiche Wahlrecht die politische Aufwertung und Ausbreitung der »volksfremden« polnischen Minderheit.69 Dem gleichen Wahlrecht nachzugeben heiße außenpolitisch, ein Kriegsziel der Entente zu erfüllen. Die Parlamentarisierung Preußens stelle lediglich den Versuch der Alliierten dar, mit Hilfe ihrer demokratischen Verbündeten in Deutschland den besten Teil des Kaiserreichs von innen her zu zersetzen. Ein Erfolg der Reformanhänger gerate »zur höchsten Freude des feindlichen Auslandes«, eben weil »diese preußische Eigenart und der urgesunde Aufbau des preußischen Staates den Feinden ein Dorn im Auge sein musste, weil darin unsere Unbesiegbarkeit begründet liegt«.70 Den ideologischen Kampf gegen den äußeren Feind und sein undeutsches Regierungssystem setzte die Rechte in der innenpolitischen Abwehr gegen die Demokratisierung Preußens fort. Gleichzeitig machte das dichotome Denken der

66 Sten. Her. PAH, 6695 (6.12.1917). Vgl. Sten. Her. PAH, 6805f. (10.12.1917). »Gleichheit« verstanden die Konservativen und die Nationallibcralen nicht im demokratisch-egalitären Sinne, sondern als etwas das einem qua Besitz oder Bildung zusteht. 67 Im Krieg hätten »auch diejenigen Stände ihre Schuldigkeit in vollem Maße getan [...], die durch das gleiche Wahlrecht hier entrechtet und geknechtet werden sollen«, Sten. Ber. PAH, 6742 (7.12.1917). Vgl. Grosser, Konstitutionalismus, 179f. 68 NPZ (A), 26.11.1917, 1. Vgl. Sten. Ber. PAH, 6730 (7.12.1917). Auch Oberstleutnant Bauer, Deist, Innenpolitik, 1221, widersprach dieser geltenden Ansicht. Die Leistungen der Soldaten untereinander, aber auch die der Rüstungsarbeiter seien extrem unterschiedlich. Aus dem genannten Grundsatz folge daher eigentlich, »dass die Rechte ganz erheblich abgestuft, zum Teil ganz entzogen werden müssten«. 69 »Der Pole [wird] unbedingt das Übergewicht über den Deutschen bekommen«, meinte Ernst v. Heydebrand, »wenn der Deutsche nicht eine sehr starke Unterstützung von Staats wegen erhält. (...) Da nun der deutsch-nationale Charakter dieser Grenzprovinzen eine Notwendigkeit für den Bestand Preußens ist, so gefährdet (...) (diese) Politik [...] eine der Grundlagen Preußen«, Sten. Ber. PAH, 9294 (30.4.1918). Vgl. RWZ (M), 3.5.1918, 1; sowie Booms, Partei, 119f. 70 RWZ (M), 3.5.1918, 1. Finanzminister Lentze hatte schon im Juli gewarnt: »Mit der Einführung des gleichen Wahlrechts würde Preußen und damit auch Deutschland erledigt sein und Lloyd George das erreicht haben, was er wolle, nämlich die Zerschmetterung Deutschlands«, GStPK Rep. 90a, B.III, 2b, Nr. 6, Bd. 166, Bl. 167 (8.7.1917). Vgl. auch Oberstleutnant Bauer in Deist, Militär, 1214f.

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Konservativen die äußere ideologische und die innere parlamentarische Bedrohung zu einem untrennbaren Junktim. Die Wahlrechtsfrage war damit 1917 für die Regierung und für alle politischen Lager zu einer Kriegsfragc geworden. Im vierten Kriegsjahr verschmolzen in der Auseinandersetzung um die Wahlrechtsreform die Kriegsziel- und die Polenfrage, die Probleme der äußeren und der inneren Neuordnung. Da die Wahlrechtsfrage mit beinahe allen übrigen Problemfeldern zusammenhing, avancierte sie zu einem heftig umstrittenen politischen und weltanschaulichen Konflikt. Die Rechte sah im gleichen Wahlrecht eine feindliche Bedrohung des Staatswesens, ihrer eigenen gesellschaftlichen Stellung und der militärischen Siegeschancen, die Linke dagegen im Dreiklassenwahlrecht eine kriegsentscheidende innenpolitische Belastung, ja, eine der tieferen Ursachen des Krieges. Nur das Preußen des Dreiklassenwahlrechts, so Ströbel für die USPD, konnte »in die schauerliche Katastrophe hinein [rennen], in der wir uns gegenwärtig befinden. Das sind die Verdienste des preußischen Wahlsystems! [...] Weil der engste und unlöslichste kausale Zusammenhang zwischen dem grauenvollen Krieg und unserem Militarismus, unserem Imperialismus und der preußischen Reaktion besteht, deshalb muss das preußische System vollständig beseitigt werden«.71 Aufgrund dieses innenpolitischen Konfliktpotentials suchte die Regierung schon im Interesse der Kriegführung, sich dieses drängenden Problems zu entledigen. Innenminister Drews mahnte: »Die Wahlrcform ist im Verlauf des Krieges mehr und mehr zur entscheidenden innerpolitischen Frage in Deutschland geworden. Ihre Lösung in nicht zu ferner Zeit ist eine dringende Kriegsnotwendigkeit, die bei längerer Dauer des Krieges nur dringender wird, weil jede belastende Wendung der Friedenspolitik, jeder Rückschlag in der auswärtigen Politik, jeder vermehrte Ernährungsnotstand in der Wahlrechtsbewegung agitatorisch ausgenutzt werden kann und ausgenutzt wird«.72 Der Verlauf der ersten Lesung der Reformvorlage hatte ihren Anhängern wenig Cirund zum Optimismus gegeben. Die Abgeordnetenkommission, welcher der Gesetzesentwurf zur weiteren Beratung übergeben wurde, bereitete dem gleichen Wahlrecht sein Ende. Den konservativen Gegnern der Regierungsvorlage gelang es, zusammen mit einigen Nationalliberalen, das gleiche Wahlrecht durch ein Pluralwahlrecht zu ersetzen, das bis zu fünf Zusatzstimmen, etwa für Alter, Besitz und Bildung, vorsah. Der Gesetzesentwurf der Regierung war damit in sein Gegenteil verkehrt. Am Ende der zweiten Lesung, die vom 30. April bis zum 2. Mai 1918 stattfand, verwarf das Abgeordnetenhaus das gleiche Wahlrecht mit 235 zu 183 Stimmen bei zwei Enthaltungen und nahm mit beinahe derselben Mehrheit das Pluralwahlrecht an. Die etwa paritä71 Stcn. Bor. PAH, 6652f., (6.12.1917). Vgl. LV, 12.12.1917, 2, »Verständigungsfrieden und Wahlrecht gehören unlösbar zusammen«. 72 BA R1501 112476 B1.189 (13.2.1918). Vgl. GStPK Rep. 90 a, B.III, 2b, Nr. 6, Bd. 166, Bl. 166(8.7.1917).

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tische Spaltung der nationalliberalcn Abgeordneten in Anhänger und Gegner des gleichen Wahlrecht gab den Ausschlag.73 Das Kabinett unter dem neuen Reichskanzler Georg Herding war nicht bereit, diese politische Demütigung, die den plutokratischen Charakter des Dreiklassenwahlrechts im wesentlichen wahrte, zu akzeptieren. Für eine von der empörten Linken geforderte Auflösung des Abgeordnetenhaus aber fühlte sich die Regierung, nicht zuletzt wegen der im Hintergrund drohenden OHL, zu schwach. Als die dritte Lesung wider Erwarten für keinen Antrag eine Mehrheit erbrachte, wurde am 11. und 12. Juni 1918 eine vierte Lesung fällig. Der äußerst flexiblen Vcrhandlungstaktik des DKP Vorsitzenden Heydebrand gelang es, durch die Aufgabe konservativer Maximalpositionen einen lägerübergreifenden Kompromissantrag mit den rechten Flügeln der Nationalliberalen und des Zentrums zu erwirken. Die Kompromissformel sah zum einen vor, dass zu der Grundstimme jedes Wählers zwei Zusatzstimmen für Alter und beruflichen Erfolg traten. Zum anderen enthielt der Antrag die vom Zentrum dringlich gewünschten »Sicherungen« ihrer konfessionellen Rechte, die in die Verfassung aufgenommen werden sollten. Die Abstimmung geriet zum Triumph der Reformgegner. Zunächst lehnte die neue rechte Landtagsmehrheit, von den Kriegsereignissen offenbar unbewegt, einen Antrag auf eine Zusatzstimme für Kriegsteilnehmer ab und nahm dann das veränderte Pluralwahlrecht mit der großen Majorität von 255 zu 154 Stimmen an.74 Nach der Meinung der »Kölnischen Zeitung« hatte damit »das Drciklassenparlament sich selbst das vernichtende Urteil gesprochen, dass es unfähig ist, die dringendste innerpolitische Frage Preußens, die Wahlreform, zu lösen«.75 Die Selbstkorrektur des politischen Systems in Preußen war gescheitert. Erst im Mai 1918, unter dem Eindruck der erfolgreichen Westoffensive, wagte es die Rechte, offen gegen das gleiche Wahlrecht zu stimmen. Auch darin zeigte sich, in welchem Ausmaß die Wahlrechtsfrage eine Kriegsfrage war. Von militärischen Siegen versprach man sich hier allemal mehr innere Stabilität als von der Gewährung demokratischer Rechte.76 Am Ende des vierten Kriegsjahres wagte es der Chefaristokrat Heydebrand, die breite Bevölkerung, welche die Hauptlasten des Krieges zu tragen hatte, im Abgeordnetenhaus offen zu diffamieren: Man könne doch nicht »der besitzlosen, unterschiedslosen Masse 73 Vgl. Patemann, Kampf, 143-76; Huber, Verfassungsgeschichte, 484-88; Thieme, Liberalismus, 108-12. 74 Vgl. insges. Patemann, Kampf, 176-92; Huber, Verfassungsgeschichte, 489-91; Thieme, Liberalismus, 113-17; sowie zur übermächtigen Bedeutung der Sicherungsforderungen für das Zentrum (iE (M), 4.5.1918, 1; GE (M), 12.6.1918, 1; Loth, Katholiken, 348f. 75 KLZ(l.M), 15.5.1918, 1. 76 »Glauben Sie denn, schon so obenauf zu sein, dass Sie keine Rücksicht mehr auf die Stimmung unserer Massen zu nehmen brauchen?«, hielt der FVP Abgeordnete Pachnickc Heydebrand wütend entgegen. Sten. Ber. PAH, 10529 (11.6.1917). Vgl. E. Weber, Problem, 2()lf.

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die Herrschaft über das geben, was dem Besitz zukommt«.77 Auch die »Kreuzzeitung« unterstrich erneut die politische Unreife des deutschen Volkes, welche die Ablehnung des gleichen Wahlrechts nötig gemacht habe. Im erklärten Widerspruch zum »Vorwärts« betonte das Blatt ausdrücklich den höheren Stellenwert der Monarchie vor dem des deutschen Volkes in der konservativen Werteskala.78 Ohnehin war im konservativen Lager bezeichnenderweise mehr von Preußen als von Deutschland, ja, vom »Wohl und Wehe des ganzen preußischen Vaterlandes« die Rede. Die Verteidigung eines unzeitgemäßen Preußentums erlaubte der Linken, dieses in Opposition zum deutschen Volk und Vaterland zu setzen.79 Die politischen Kontrahenten sprachen nicht dieselbe, aber die gleiche nationale Sprache - und verstanden sich deshalb nicht. Kein Wunder also, wenn die aufgebrachte Linke Heydebrands Behauptung im Parlament, das Pluralwahlrecht »im Interesse des Landes« einzuführen, mit brüllendem Gelächter quittierte.80 In den Augen der aus der Perspektive ihres Nationalismus urteilenden Sozialdemokraten und Linksliberalen musste die unnachgiebige re form feindliche Politik der Rechten als Ausdruck der »Volksfeindschaft« und als Werk von »Verschwörer[n] gegen die Freiheit des Volkes« erscheinen.81 Indem die Linke die konservativen »Machtgelüste [...] gegen das Volk« in Opposition zu ihren eigenen demokratischen Zielen und Werten setzte, fiel ihnen die Aufgabe zu, zum Wohle des Volkes und im Interesse der »inneref[n] Einheit« den Wahlrechtskampf gegen die Volksfeinde fortzuführen.82 Die Forderung nach nationaler Einheit kam leicht - zumal unter den Bedingungen des Krieges - einer politischen Spaltung gleich. Wie das nationalistische Denken und Handeln den fundamentalen Gegensatz der politischen Lager verstärkte, demonstrierte die gezielte Verwendung der Sprache des Krieges in den Abschlussdebatten der Wahlrechtsreform. Robert Leinen erklärte anlässlich der vierten Lesung für die SPD: »Heute erleben wir in diesem Hause die vierte Offensive der Wahlrechtsfeinde, und wir können sagen, dass sie die gleiche Entschlossenheit wie unsere Armee draußen haben, um zu siegen. Nur [...], dass unsere Truppen draußen zum Nutzen und Segen des deutschen Volkes siegen werden, dass aber Ihr Sieg, meine Herren, 77 Sten. Ber. PAH, 9293 (30.4.1918). 78 Vgl. NPZ(A), 4.5.1918, 1;NPZ(A), 13.6.1918, sowie RWZ (M), 3.5.1918, 1. 79 Sten. Her. PAH, 6730 (7.12.1917). »Die Herren Konservativen«, so der SPD Abgeordnete Paul Hirsch, »fühlen sich als Preußen und nur als Preußen. Sic wollen, dass das alte Preußen, das Preußen, in dem sie herrschen, weiter die Führung in Deutschland habe. Für sie heißt es: zuerst kommt Preußen, dann nochmals Preußen, (...) und ganz zuletzt Deutschland«, Sten. Ber. PAH, 6751 f. (7.12.1917). 80 Sten. Ber. PAH, 10521 (11.6.1918). 81 VO, 13.4.1918, 2; Sten. Ber. PAH, 10540 (11.6.1918). Vgl. BT (M), 3.5.1918, 1. 82 FZ (A). 1.5.1918, 1; FZ (A), 12.6.1918, 1. Weiter hieß es dort: »Das Volk will den Kampf in einheitlicher Front unter der unverfälschten Parole des gleichen Wahlrechts führen, und es wird dafür sorgen, dass den offenen und den versteckten Gegnern der Volksfreiheit die Entscheidung aus der I land genommen wird«. Vgl. VO, 13.4.1918, 2; FZ (2.M), 3.5.1918, 1.

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zum schlimmsten Unheil für das ganze Volk führen wird«.83 Der »Vorwärts« polemisierte nach der verlorenen Abstimmung gegen die »Wahl rech tsverschwörer« unter der Schlagzeile »Eine deutsche Niederlage«: »Im Westen Sieg auf Sieg, im Inneren aber, im preußischen Dreiklassenhause, ein Tag, der einer schweren und schmerzlichen Niederlage der deutschen Sache gleichkommt«.84 Der Weltkrieg gab damit nicht nur den Vorstellungshorizont der Wahlrechtsdebattc ab. Die Verschmelzung von Krieg und Wahlrechtskampf durch die nationale Sprache wies dem Kampf um das Dreiklassenwahlrccht auch die gleiche existentielle Bedeutung für den Nationalstaat zu wie den militärischen Operationen. Gleichzeitig löste sich die Unterscheidung zwischen den innenpolitischen Gegnern und den feindlichen Soldaten auf Entsprechend schilderte der »Vorwärts« den Wahlrechtskampf als ein militärisches Manöver der wahren Deutschen gegen die fünfte Kolonne der Entente im eigenen Land. »Auf der anderen Seite des Trichterfeldes aber erwarten sie [die tapferen deutschen Soldaten - SOM] - nicht die Engländer, sondern die preußischen Reaktionäre, um sie in ein neues Schlammfeld zu stoßen, [...] der Auslieferung des Kriegsverdienstes an den Kriegsgewinn«.83 Die beinahe zwingende Konsequenz dieser bellizistischen Deutung des Wahlrechtskampfcs lag in der gewaltsamen Lösung des Konfliktes: Dem deutschen Volk meinten die Unterlegenen, »bleibt [...] nur die gewaltsame Befreiung«, die Ablehnung der Reformvorlagen »ist nichts weiter als die Aufforderung zur Revolution«.86 Tatsächlich setzte erst die Revolution den Schlussstrich unter den Wahlrechtskampf. Die sich dramatisch verschlechternde militärische Lage und die heraufziehende Revolution erreichten im Herbst 1918 mehr als die jahrzehntelange Wahlrechtsagitation der Linken. Bezeichnenderweise beschlossen die Landtagsfraktionen der Nationalliberalen und des Zentrums erst nach dem Drängen der OHL einstimmig, die der Konservativen durch Stimmenthaltung, am 15. Oktober das gleiche Wahlrecht zu gewähren. Noch bevor das Abgeordnetenhaus sein Votum vom Sommer korrigieren konnte, fegte es die Revolution am 9. November hinweg und setzte den »etwas operettenhaften Schluss« (Rosenberg) unter die Auseinandersetzung um die preußische Wahlrechtsreform.87 Die Ablehnung des gleichen Wahlrechts war zwar für den Ausbruch der Revolution nicht entscheidend, delegitimierte aber das ohnehin schwer angeschlagene politische System des Kaiserreiches zusätzlich. Allerdings war der 83 Sten. Bcr. PAH, 10540(11.6.1918). 84 VO, 12.6.1918, 1. Vgl. zum Vorstellungshorizont des Krieges auch GE (M), 12.6.1918, 1: »Die heutigen Verhandlungen des preußischen Abgeordnetenhauses brachten so recht zum bewusstsein, wie der Kampf um das gleiche Wahlrecht nach der Art des Stellungskrieges geführt wird«. 85 VO, 13.4.1918, 1. Vgl. LV, 3.5.1918, 1. 86 VO, 12.6.1918, l;Sten. Ber. PAH, 10546(11.6.1918). 87 Rosenberg, Entstehung, 197. Vgl. Patemann, Kampf, 217-28.

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katastrophale Fehlschlag der Wahlrechtsnovelle nicht auf eine generell mangelnde Reformbereitschaft innerhalb der politischen Lager zurückzuführen, sondern erstens auf die im Vergleich zu Großbritannien eklatante Schwäche der kaiserlichen Regierung, zweitens auf die reaktionäre Zusammensetzung des preußischen Abgeordnetenhauses sowie drittens und vor allem schließlich und hier liegt der entscheidende Unterschied zu England - auf die prinzipielle Reformfeindschaft der alten Eliten. In Deutschland hielt man die Exklusion breiter Bevölkerungsschichten für den Bestand des politischen Systems für notwendig - in Großbritannien war es umgekehrt. Da zu dieser kompromisslosen Frontstellung die wachsenden Belastungen des Krieges und die Partizipationsansprüche der Linken traten, war das Ergebnis eine weitere Politisierung der Wahlrcchtsfrage. Das Wahlrecht, das die Zugehörigkeit zur Nation und zum Nationalstaat (und den Ausschluss) regelte, avancierte zum Testfall für die gesellschaftliche Reformbereitschaft und zum Symbol für das Teilhabeversprechen des Nationalismus. Die zentrale Bedeutung nationalistischer Argumente lag darin, dass sie in der skizzierten Situation die politischen Erwartungen aller Beteiligten strukturierten und die Ansprüche Minderprivilegierter legitimierten. Das polarisierte den Machtkampf zusätzlich und führte zu einem fundamentalen Antagonismus der politischen Lager etwa durch die semantische Verschränkung des Wahlrechtskampfcs mit dem militärischen Konflikt. Dabei stellte die partizipationsverheißende Instrumentalisierung des Nationalismus durch die Linke eine fast konkurrenzlose Innovation dar. Der faszinierenden oppositionellen Vorstellung von der im und durch den Kampf gleichen Volksgemeinschaft hatte die Rechte für die Dauer des Krieges weder ideologisch noch semantisch etwas gleichwertiges entgegenzusetzen. Unter dem Vorzeichen des totalen Krieges und der äußeren demokratischen und kommunistischen Herausforderung ließ sich eine staatliche politische Diskriminierung der breiten Bevölkerung nicht mehr erfolgversprechend rechtfertigen. Selbst die tradierte Vorstellung von der unveränderbaren deutschen Abstammungsgemeinschaft konnte durch das Kriterium der militärischen Leistung unterlaufen werden. Doch verdeutlichte die Debatte über die preußische Wahlrechtsreform letztlich auch die Wirkungsgrenzen innovativer Sprachhandlungen. Diese vermochten vor dem Hintergrund eines ungünstigen politischen Kontextes wenig auszurichten. Trotz ähnlicher nationalistischer Argumente wie im anschließenden englischen Fallbeispiel misslang im Deutschen Reich das Reformwerk aufgrund des Ausmaßes des politischen Widerstandes und festgefügter Entscheidungsstrukturen.

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b) Kein Thema: Das Frauenwahlrecht in Deutschland In der Forschung zum Ersten Weltkrieg ist die Rolle der Geschlechterbeziehungen im allgemeinen und die der Frau im besonderen seit langem umstritten. Während man in den 1960er und 70er Jahren auf die in Bewegung geratene Beziehung der Geschlechter und insgesamt auf die progressive Wirkung des Krieges für die Emanzipation der Frau verstärkt verwiesen hat,88 wird in den beiden letzten Jahrzehnten die Bewertung des Krieges als »Vater der Frauenemanzipation« fast einhellig in Frage gestellt. Die teilweise erhebliche Ausweitung weiblicher Lohnarbeit stellte im Arbeitsleben eher eine »Emanzipation auf Leihbasis« dar.89 Trotz aller kriegsbedingten Veränderungen unterstreichen die meisten Arbeiten in letzter Zeit den zutiefst konservativen Charakter des Weltkrieges in der Frage der Geschlechterverhältnisse, der die relative Unterordnung der Frau noch verfestigt habe. Die fortschreitende Militarisierung der deutschen wie der britischen Gesellschaft zementierte die Vorstellungen von der unterschiedlichen Natur von Männern und Frauen. Der wiederentdeckten soldatischen Maskulinität der kriegführenden Männer an der Front entsprach die neue Belebung der traditionellen Frauenrolle als Mutter und Beschützerin an der Heimatfront.90 Vor allem scheint der Krieg eine Wiedergeburt »männlicher« Nationsvorstellungen begünstigt zu haben. Den Ausbruch der Feindseligkeiten begrüßte nicht nur die radikale Rechte als Sieg einer soldatischen, virilen und antifeministischen Staats- und Nationsauffassung.91 Doch kennzeichnen die »Vermännlichung« der Nationsvorstellung und der Kampf gegen weibliche Emanzipationsbestrebungen nur die eine Seite der Entwicklung im Ersten Weltkrieg. Auf der anderen Seite erschlossen der rasant ansteigende Bedarf weiblicher Arbeitskräfte für die Kriegführung und die fundamentale Politisierung der Kriegsgesellschaft der Frauenbewegung auch neue Handlungsspielräume. Vor dem Hintergrund ihrer kriegswirtschaftlichen Leistung konnten sich auch die minderprivilegierten Frauen glaubhaft auf die Nation berufen, die selbst ihnen staatsbürgerliche Gleichheit in der kämpfenden Gemeinschaft verhieß.92 Da der Nationalismus - darin dem Geschlechterverhältnis ähnlich - mit Hilfe einer bipolaren Unterscheidung Herrschaft konstituiert und legitimiert, erleichterte das seine erfolgversprechende Anwen88 Vgl. für Deutschland etwa v. Gersdorff, Frauenarbeit und für Großbritannien Marwick, Deluge. 89 Vgl. Daniel, Arbeiterfrauen, passim, Zit. 265; Braybon, Women, passim. 90 Vgl. Thebaud, Weltkrieg, 34f, 49-63; die Beitrage in Higonnet. Behind; Keulecke, Kämpfer, 158-73, und ambivalenter urteilend Guttmann, Heimarmee, bes. 216-19. 91 Vgl. Kapitel I, III.2.c, sowie Frevert, Mann, 124f, u. bereits Theweleit, Männerphantasien II,89-91. 92 So zu Recht Planen, Antifeminismus, bes. 270-74, die aber den tatsächlichen Partizipationsgewinn der Frauen im Krieg überschätzt. Vgl. Welch, Germany, 149-60.

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dung innerhalb von Diskursen über die »richtige« Ordnung der Geschlechter. Hinter dem Reden über das »nationale Interesse« verbarg sich auch die Konfliktlage des Geschlechterkampfes. Das galt gerade im Rahmen der Auseinandersetzung um das Frauenwahlrecht. Die überragende Anziehungskraft des Ordnungsmodells der Nation für Anhänger wie für Gegner des Frauenwahlrechts zeigte sich daran, dass es in der Debatte nicht allein um die Gleichberechtigung, sondern auch um die Frage der »nationalen« Zugehörigkeit der Frau ging. Die Frauenbewegung in Deutschland konnte sich mit ihrem britischen Pendant vor 1914 weder organisatorisch noch hinsichtlich ihres Einflusses messen. Die verschiedenen bürgerlichen Frauenverbände operierten meist isoliert und oft gegeneinander. Nicht einmal über die Forderung nach Einführung des allgemeinen Frauenwahlrechts konnte sich die Frauenbewegung unter ihrem harmoniesüchtigen Dachverband, dem »Bund Deutscher Frauenvereine« (BDF), verständigen.93 Außerdem hatte die bürgerliche Frauenbewegung erhebliche Berührungsängste gegenüber der SPD. Die Sozialdemokratie und ihre Frauenorganisationen bildeten das organisatorische und ideologische Rückgrat der Emanzipationsbewegung. Seit 1891 war die Forderung nach dem Wahlrecht für Frauen offizieller Bestandteil des Parteiprogramms, und bereits 1895 stellte die sozialdemokratische Reichstagsfraktion unter August Bebel den vielbeachteten Antrag auf Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts für Frauen. Allerdings erhielt die Partei die Frauenfrage lediglich für ein Element der allgemeinen Demokratisierung, die sich mit der sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft ergeben werde. Zudem konzentrierte die SPD ihre Partizipationsforderungen vor allem auf die Einführung des allgemeinen und gleichen Männerwahlrechts in den Bundesstaaten.94 Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs kam die Agitation der Frauenbewegung ganz zum Erliegen. Bürgerliche und sozialdemokratische Frauenvereine konzentrierten ihre Arbeit mit staatlichem Segen auf die zahllosen karitativen und organisatorischen Probleme, die der Krieg mit sich gebracht hatte. Die Mitglieder der Frauenbewegung unterstützten die staatliche Sammlungstätigkeit, unterhielten Suppenküchen oder betätigten sich in der Verwundetenpflcge. Da in einem totalen Krieg aber tendenziell nichts ohne militärische Bedeutung ist und auch die effiziente Organisation der Heimatfront einen wesentlichen Bestandteil der Kriegsanstrengungcn ausmacht, konnten die Frauen glaubhaft beanspruchen, innerhalb ihrer spezifischen Einflusssphäre einen wesentlichen Beitrag zum Existenzkampf des Nationalstaates zu leisten. Die Mehrheit der bürgerlichen wie der sozialdemokratischen Frauenbewegungerkannte, dass ihre kriegsrelcvante Leistung ihnen die Chance bot, sich als 93 Vgl. Evans, Feminist, 99-108; Frevert, Mann, 99-103; Clemens, Menschenrechte, 89-96. 94 Vgl. Evans, Sozialdemokratie, 219-34; Hackett, German, 354-66; Frevert, Mann, 103-09.

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Staatsbürgerinnen und als gleichberechtigte Mitglieder der kämpfenden Nation zu bewähren. Ausgerechnet das Bekenntnis zum und die Leistung für den vermeintlich rein männlich konzipierten Nationalstaat erschloss ihnen wie anderen minderprivilegierten Gruppen (Sozialdemokraten, Katholiken, Juden) im Krieg neue gesellschaftliche Partizipationsmöglichkeiten. An die »Nation« ließen sich auch noch und gerade im Ersten Weltkrieg für große Teile der Frauenbewegung demokratisch-freiheitliche Erwartungen knüpfen. So bestand die begründete Aussicht, nach dem Ende des Krieges als staatliche Anerkennung und Gegenleistung, Konzessionen in der Wahlrechtsfrage zu erlangen. Zwar blieb der Zusammenhang von Kriegsleistung und Partizipationserweiterung auch den konservativen Gegnern des Frauenwahlrechts nicht verborgen. Doch die militärische Notwendigkeit, Frauen in die Kriegsanstrengungen einzubeziehen, und vor allem die allgemeine öffentliche Wertschätzung ihrer »nationalen« Tätigkeiten machten es ihnen sehr schwer, die nicht häusliche Frauenarbeit ideologisch und semantisch zu verdammen.95 Bald nach Kriegsausbruch waren die Zeitungen und Zeitschriften mit Artikeln gefüllt, die den unablässigen Einsatz von Frauen in allen denkbaren Bereichen der Heimatfront rühmten. Vieles davon war übertrieben oder schlicht falsch. Wohl oft aus reiner Sensationsgier, die neue und vor allem positive Meldungen in einer Zeit endlos deprimierender Kriegsnachrichten suchte, berichteten die Medien von allen lobenswerten Leistungen der Frauen für die kämpfende Nation. Inwieweit damit eine Neubewertung der Frauenrolle verbunden war, ist sehr fraglich. Traditionelle Gcschlcchtervorstellungen bestanden selbst innerhalb der Linken weiter, trotz, ja, oft wegen der ungewöhnlichen Tätigkeiten zahlreicher Frauen im Krieg. Das von »Natur« aus unmündige Wesen Frau verwandele sich selbst durch die vorbildlichste nationale Leistung nicht in einen politisch mündigen Bürger. Dieses Denken in dichotomen und essentiellen Kategorien reproduzierte tradierte Rollenmuster. Das »Berliner Tageblatt« kam zu dem Schluss, die Lasten der Frauen nicht durch zusätzliche politische Verantwortung zu erhöhen: »Die Natur hat die Frauen dazu bestimmt, die Mütter ihrer Kinder, die Mütter ihrer Nation zu sein«.96 Wichtig war aber, dass das alltägliche Reden über die Arbeit der Frau ihr zu einer besonderen öffentlich bekundeten Anerkennung verhalf Ihr Kriegseinsatz erschwerte den Gebrauch der gewohnten frauenfeindlichen Zoten in der politischen Öffentlichkeit. 95 Vgl. Planen, Antifeminisimis, 177-81, 220-23; Gutmann, Heiinarmee, 117-66, sowie Evans, Feminist, 209-14; ders., Sozialdemokratie, 270-74; Clemens, Menschenrechte, 105-12. und zum 1848er Erbe eines demokratisch-freiheitlichen Nationalismus innerhalb der bürgerlichen Frauenbewegung, Stoehr, Emanzipation, 12f. 96 BT (M), 23.5.1915, 17 (Herv. i. Orig.). »Dass (...) sehr viele Frauen mehr leisten, als man nach ihren weiblichen Eigenschaften hätte annehmen sollen, ist im höchsten Grade anerkennenswert; aber daraus kann man nicht ohne weiteres den Schluß ziehen, dass das auch in Friedenszeiten so sein würde. (...) Die Besonderheiten der weiblichen Natur [...] sprechen durchaus für das Gegenteil«, GE (M), 27.5.1916, 5. Vgl. Planen, Antifeminisimis, 179-81.

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Staatssekretär Helfferich etwa erklärte im Rahmen der Debatte über das HDG im Reichstag sogar unter dem Beifall der Konservativen: »Jede Frau, die heute Männerarbeit verrichtet, [...]jede Frau die heute einen Mann frei macht für das Feld [...], ist heute soviel wert wie der Mann, der draußen im Schützengraben vor dem Feinde steht«.97 Die doppelte Tendenz in der öffentlichen Bewertung der Frauenrolle, die Anerkennung ihrer Leistung im Krieg auf der einen Seite und der Fortbestand einer traditionellen Rollenzuweisung auf der anderen kennzeichnete auch den Gang der Debatte über die Einführung des Frauenwahlrechts. Wahrscheinlich ist bereits die Bezeichnung »Debatte« zu hoch gegriffen, denn im Unterschied zu Großbritannien bildete die Frage des Frauenwahlrechts in Deutschland kein akutes politisches Thema. Nur äußerst selten, und dann am Rande von Auseinandersetzungen vor allem über den innenpolitischen Dauerbrenner Dreiklassenwahlrecht, war etwa in den Zeitungen oder im Parlament vom Stimmrecht der Frauen die Rede. Bis 1917 vermied es selbst der BDF, diese Frage in der Öffentlichkeit zu diskutieren, und allein die Sozialdemokratie brachte gelegentlich die Forderung nach dem allgemeinen Frauenwahlrecht vor. Dem »Vorwärts« war die Sache der Frauen im Sommer 1915 einen Leitartikel wert, in dem er die Verbindung von Krieg und Partizipation hervorhob: »Der Krieg hat uns vielleicht dem Wahlrecht näher gebracht insofern, als er den Frauengegnern viele ihrer gebräuchlichen Argumente genommen hat«. Dennoch warnte das Blatt eingedenk der Machtverhältnisse im Deutschen Reich vor verfrühtem Optimismus. Trotz der Leistungen der Frau »wäre es verfehlt, nun als Belohnung für das alles das kommunale Wahlrecht zu erwarten. Ein Blick auf die Zusammensetzung des Preußischen Abgeordnetenhauses genügt, um zu wissen, dass zum mindesten in diesem Staate an eine freiwillige Gewährung der Gleichberechtigung nicht zu denken ist«.98 Die SPD behielt Recht. Die Forderung der Partei, einen Gesetzesentwurf vorzubereiten, der den Frauen das aktive und passive Wahlrecht übertragen sollte, stieß am 6. Juli 1917 im Reichstag auf wenig Resonanz. Dem Argument der SPD-Redner von der kriegsrelevanten Leistung der Frau und ihrer neuen politischen Reife begegneten die Konservativen gelassen: Weder sei »die Frau und die Mutter [sie! ] [...] in der Lage, sich am öffentlichen Leben zu beteiligen«, noch ihr Kriegseinsatz mehr als ein »Männerersatz«.99 Dennoch kam auch in die Frage des Frauenwahlrechts im Laufe des Jahres 1917 Bewegung. Als Folge der wiederentfachten Auseinandersetzung um die Abschaffung des Dreiklassenwahlrcchts und der grundlegenden Politisierung der Kriegsgesellschaft wurde in der Frauenbewegung nach der Osterbotschaft 97 Sten. Ber. RT, Bd. 308, 2159 (29.11.1916). Vgl. (inttmann, Heirmrniee, 14-23. 98 VO, 20.7.1915, 1f. (Herv. i. Ong.). Vgl. Gutttmnn, Heimarmee, 31f; 196-98; Hering, Kriegsgewinnlerinncn, 134-37. 99 Sten. Her. RT, Bd. 310, 3508-22, Zit. 3520 (6.7.1917).

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erstmals seit Kriegsausbruch wieder die Forderung nach politischen Rechten laut. Vom Wahlrecht für Frauen war zwar weder in der Osterbotschaft noch im Julierlass die Rede. Doch das politische Klima schien in der zweiten Jahreshälfte so günstig, dass im September die Frauen der SPD und des BDF erstmals gemeinsam ihre Arbeit aufnahmen und eine Eingabe für die politische Gleichberechtigung der Frau an den Reichskanzler richteten.100 Die Regierung war aber auch am Ende des vierten Kriegsjahres wenig geneigt, den Frauen mehr als den »Dank des Vaterlandes« zu versichern.101 Wie wenig selbst die Kriegserfahrungen und die nationalistisch legitimierten Partizipationsforderungen dazu beitrugen, die politische Stellung der Frau zu verbessern, demonstrierten die Debatten im preußischen Abgeordnetenhaus im Dezember 1917 und im Januar 1918. Die Sozialdemokratie beantragte im Zuge der anstehenden Wahlrechtsreform in Preußen das allgemeine und gleiche Frauenwahlrecht und im Januar das Kommunalwahlrecht für Frauen. Zunächst nutzten die Vertreter der SPD und der USPD die neue Wahlrechtsdebatte - etwa durch den Hinweis auf den reformfreundlichen britischen Parlamentarismus und das soeben beschlossene Unterhauswahlrecht für Frauen - zur grundsätzlichen Abrechnung mit dem autokratischen System des Kaiserreiches. Die Zuweisung von Freund- und Feindbild drehte sich erneut um. »Man braucht nur unser Herrenhaus«, so Heinrich Ströbel, »mit dem englischen Oberhaus zu vergleichen, um den ungeheuren Unterschied zwischen diesen beiden Parlamenten und auch der Mentalität und der Psyche der beiden Nationen gegeneinander abwägen zu können. [...] Preußen-Deutschland kümmert sich ja nicht um die Erringung der Rechte des größten Teils der Staatsbürger, sondern in Preußen-Deutschland sinnt man darauf, wie man dem Volke und wie man dem weiblichen Teile der Bevölkerung möglichst lange seine Helotcnrolle aufzwingen kann«.102 Die eigentliche Begründung für ihren Vorstoß lieferte den Rednern der beiden Arbeiterparteien bezeichnenderweise nicht allein das individuellen Anrecht jeder Frau als Mensch und Bürgerin auf das Wahlrecht, sondern ihre Leistung für den Staat und die Nation im Krieg. Nicht nur in Deutschland erachtete man im Krieg Staatsbürgerrechtc und vor allem das Stimmrecht weniger als ein Naturrecht, sondern vielmehr als ein durch Leistung zu erwerbendes Privileg. »Diese Frauen, die sich selbst nach ihrer Meinung, um das Reich, um das Volk unschätzbar verdient gemacht haben, sollen nach wie vor vollständig entrechtet bleiben«, hielt Ströbel den Konservativen vor.103 Gerade weil auch 100 Vgl. zum Wiederaufleben der Agitation KLZ(M), 23.12.1917. 1; Evans. Sozialdemokratie. 302f.; Clemens, Menschenrechte, 113f.; Gutinann, Heimarmee, 197f. 101 So Staatssekretär Wallraf, Sten. Her. RT, Bd. 312, 5336 (7.6.1918). 102 Sten. Ber. PAH, 7271 (15.1.1918). Vgl. zum englischen Dcmokratisierungsvorbild auch LV, 17.1.1918, 6; SM 24 (1918), 548. 103 Sten. Ber. PAH, 6657 (6.12.1917). Entsprechend Sten. Ber. PAH,676I (7.12.1917). Vgl

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die Wahlrechtsnovelle der Regierung im Abgeordnetenhaus explizit aus der gleichen Leistung für den Nationalstaat die gleichen politischen Rechte ableitete, schien es aus der Perspektive des demokratischen und leistungsorientierten sozialdemokratischen Nationalismus unbegreiflich, die an der Heimatfront kämpfenden Frauen vom Stimmrecht - und damit aus der Nation - auszuschließen. »In Preußen betonte die Regierung [...], dass das gleiche Wahlrecht auf Grund der von jedem einzelnen im Kriege geforderten Leistungen und Opfer gegeben werden müsse, hielt es aber nicht einmal für nötig das Frauenwahlrecht auch nur zu erwähnen«.“*4 Doch die Berufung auf die Leistung für die kriegführende Nation hatte wie alles dialektisch funktionierende nationalistische Denken auch eine exklusive Dimension. Aus der Verknüpfung von militärischer Leistung und Wahlrecht folgte im Urteil der Konservativen, dass den zum vollgültigen Militärdienst an der Front unfähigen Frauen auch die Eignung zur vollen politischen Gleichberechtigung fehlte. »Bei aller Anerkennung ihrer Kriegsleistungen muss auch gesagt werden«, resümierte der konservative Abgeordnete Walther Graef, »dass sie in gar keinem Verhältnis zu dem stehen, was die Männer an der Front unter Einsetzung ihres Lebens geleistet haben [...] . Gerade der Krieg sollte die Einsicht in die völlige Ungleichartigkeit der beiden Geschlechter in Aufgaben und Zielen gelehrt haben. [...] Der Krieg stellte die alten Unterschiede wieder her I...]: der Mann ist wieder zum Mann geworden und die Frau wieder zur Frau!«105 Aus diesem konservativen Ordnungsmodell resultierte eine Festschreibung der männlichen Vorherrschaft in Staat und Gesellschaft. Der Krieg habe gelehrt, »dass der Staat unter männlichem Einfluss bleiben muss. Das folgt aus seinem ganzen Wesen als Machtgebilde«.106 Umgekehrt diskreditierte diese dichotome Wertvorstellung das Frauenwahlrecht: »Damit ist das Frauenwahlrecht treffend gekennzeichnet: es bedeutet die Herrschaft der Schwachen. In einer Zeit aber, in der die halbe Welt miteinander um die Vorherrschaft ringt, [... ] erscheint es wider alle Vernunft [...] den schwachen Naturen« zu weiterer Bedeutung zu verhelfen.107 Kurz, die Erfahrungen des Krieges förderten in der Perspektive der konservativen Nationalisten das Frauenwahlrecht nicht, sondern machten es zu einer Gefahr für den Nationalstaat und die »richtige« Gesellschaftsordnung. Im nationalistischen Weltbild der Rechten verdichteten Frevcrt, Mann, 92. Unrichtig dagegen die Auflassungen von Evans, Feminist, 207, u. Hackett, German. 368f, die die Verknüpfung von Leistung und Partizipationserweitcrung als eine deutsche Besonderheit herausstellen. Das anschließende englische Fallbeispiel beweist das Gegenteil. 104 SM 24 (1918), 549. »Stehen denn die Opfer und Leistungen, die hier so beredt verkündet werden, nur auf dem Konto der Männer?«, VC), 28.11.1917. 1. 105 Sten. Ber. PAH, 7216f. (15.1.1918). Vgl. Frevert, Soldaten, 76-85; Kent, Peace, 12-30. 106 NPZ(A), 17.1.1918, 1. 107 Sten. Ber. PAH, 7217 (15.1.1918). Vgl. Planen, Antifeminismus, 218f, 228f; Thebaud Weltkrieg. 47f; Guttmann, Heimarmee, 199-201.

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sich die vermeintliche wie die reale Feminisierung und die Demokratisierung Deutschlands zu einer regelrechten Bedrohungsangst. Die deutsche Nation als männlich-kriegerisch zu begreifen, hieß nicht nur, die Soldaten ein- und die Frauen aus ihr auszuschließen, sondern verstärkte auch die Angst vor dem fremden Weiblichen in den eigenen Reihen. Auch dieses Beispiel veranschaulicht die enge Beziehung zwischen Nationalismus und Sexismus. Die Vertreter des politischen Katholizismus und der Nationalliberalen schließlich erteilten dem Frauenwahlrecht eine lauwarme Absage. Franz Kaufmann erkannte zwar für das Zentrum die »große nationale Leistung« der Frauen an, fügte aber seinem konfessionellen Weltbild gemäß hinzu: »Diese Zustände nach dem Kriege beizubehalten, das kann kein Freund des Volkes und des Vaterlandes wünschen«. Vielmehr müsse man dafür sorgen, »dass nach dem Kriege die Frau wieder die Stellung übernehmen kann, die für sie die höchste und hervorragendste und viel wertvoller ist als alle politische Tätigkeit, die Stellung als Gattin und Mutter«!108 Das volle Stimmrecht wäre da nur hinderlich gewesen. Auch die preußischen Nationalliberalen hielten die Forderungen der Frauen an sich für begründet. Die »Kölnische Zeitung« sprach sich sogar offen dafür aus, im Interesse der bestehenden Ordnung alle auf politische Partizipation drängenden Kräfte in das Staatswesen zu integrieren.109 Angeblich aber war die Zeit für einen so grundlegende Reformschritt noch nicht reif Selbst die FVP versagte noch im Mai 1918 dem Antrag der SPD, das Frauenstimmrecht als Teil einer umfassenden Wahlreform in Preußen einzuführen, ihre Zustimmung, da man die ohnehin vom Scheitern bedrohte Reformvorlage nicht durch die Einbeziehung des Frauenwahlrechts zusätzlich gefährden wollte. Von den Frauen erwartete man noch etwas Geduld.110 Auch in der Reichstagsdebatte vom 24. August sprachen sich alle Parteien mit Ausnahme der SPD und der USPD gegen das Frauenwahlrccht aus. Der entscheidende Wandel trat wie beim Dreiklassenwahlrecht erst mit der heraufziehenden Revolution ein. Noch am Morgen des 8. Novembers 1918 forderte Eduard David im Interfraktionellen Ausschuss zum wiederholten Male die Einführung des Frauenwahlrechts auf Reichs- und Länderebene. Das Zentrum und die National liberalen lehnten zunächst ab, sagten aber später am Tag unter dem Eindruck der Ereignisse doch zu, den Vorstoß zu unterstützen. Es war der letzte Abend des Deutschen Kaiserreiches.111 108 Sten. Bor. PAI Ι, 7228f. (15.1.1918). Vgl. (iE (M), 16.1.1918, 2. 109 »Die Politisierung der Frau ist eine in vollem Fluss befindliche unabwendbare Tatsache. (...) Es ist vaterländische Pflicht, [...] dafür Sorge zu tragen, dass die neupolitisierten Massen nicht in unfruchtbare Opposition gedrängt, sondern von vornherein den Anschluss an das Bestehende und ein ergiebiges Feld der Betätigung finden«, KLZ (M), 19.8.1917, 1. Vgl. Sten. Ber. PAH.7255 (15.1.1918). 110 Vgl. Patemann, Kampf, 175, Anni. 6, sowie zu den Motiven der FVP: Sten. Ber. PAH.6803 (10.12.1917); BT (M), 12.12.1917, 1 f 111 Vgl. Evans, Feminist, 227-29; ders. Sozialdemokratie, 303f.

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Die Einführung des Frauenwahlrechts in Deutschland scheiterte nicht allein an der mangelnden Unterstützung der Liberalen und Katholiken oder an der im Vergleich zu England relativen Schwäche der Frauenbewegung, sondern letztlich daran, dass es sich nicht an eine erfolgreiche, umfassende und von einer breiten Mehrheit getragene Wahlrechtsnovellc wie in Großbritannien anbinden ließ. Das Hauptziel aller Reformkräfte blieb das allgemeine und gleiche Männerwahlrecht. Mit dem Scheitern der preußischen Wahlreform schwanden auch die Aussichten auf eine Verbesserung der politischen Position der Frauen. Ungeachtet der martialischen Stilisierung des Kricgserlebnisses durch die Rechte befanden sich aber die Verfechter der tradierten Vorurteile über die »weibliche Natur« 1918 in der ideologischen und argumentativen Defensive. Der partizipationsverheißendc Nationalismus der Reformkräfte stand in einem latenten Spannungsverhältnis zu der bestehenden Geschlechtcrordnung. Das attraktive Ordnungsmodell der egalitären Nation konnte durch die Berufung auf eine kricgsrelevante Leistung auch von den Befürwortern des Frauenwahlrechts aktiviert und so zum Teil grenzüberschreitend wirken. Umgekehrt verstärkte dieser Nationalismus konservative Ängste vor einem Zusammenbruch der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung.

2. Die Politik der Inklusion. Die Auseinandersetzung um die Wahlrechtsreform in Großbritannien a) »One gun, one vote«: Die Neuregelung des Unterhauswahlrechts Die Reformpläne zum Unterhauswahlrecht riefen im edwardianischen England keine besondere Aufmerksamkeit hervor. Heftig umstritten war in erster Linie die Frage des Frauenwahlrechts. Während in Deutschland der Kampf um die Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts die politische Landschaft polarisierte, erschien in Großbritannien auch den Reformkräften das geltende Männerwahlrecht als eine einigermaßen gerechte Einrichtung. Doch im Mutterland der modernen Demokratie herrschten 1914 nur eingeschränkt demokratische Zustände. Trotz zaghafter Reformversuche am Vorabend des Krieges verfügten nur 59% der britischen Männer über 21 Jahren über das Unterhauswahlrecht. Die formale Ursache dafür lag in einem hochkomplizierten, auf Besitz und Wohnsitz ruhendem Wahlgesetz, dass unter anderem ein Mindesteinkommen und eine zwölfmonatige Residenzpflicht vorsah.112 Die politi112 Vgl. zu den Bestimmungen im Einzelnen Pugh, Reform, 3f, 29ff.

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sche Ursache für den Fortbestand dieses Wahlsystems lag im entschiedenen Widerstand der Konservativen Partei, die alle Reformversuche der liberalen Regierung abblockte. Die konservativen Vorbehalte gegen eine Ausweitung des Männerwahlrcchts gründeten nicht allein auf der elitären Überzeugung, dass die breite Bevölkerung über keine adäquate politische Qualifikation - nämlich über Bildung, Besitz und Reife - verfüge. Die Ablehnung einer Wahlrechtsreform durch die Konservativen beruhte auch auf ihrem dichotomen nationalistischen Weltbild, das gesellschaftliche Unterschichten, Fremdstämmige und auch Frauen aus der britischen Nation, mithin auch vom vollen Staatsbürgerrecht ausschloss. So erschien ihre Ausgrenzung als »national« und damit als »natürlich« gegeben und bedurfte keiner weiteren Begründung. Die britische Nation blieb in der Perspektive der alten Rechten auch im 20. Jahrhundert eine exklusive Veranstaltung der Elite.113 Die Wahlrechtsdebatte der Vorkriegszeit kennzeichnete daher vor allem das Bestreben, den Ausgegrenzten das Wahlrecht weiter vorzuenthalten. Das vermeintlich Selbstverständliche und Gewohnte bedarf keiner ausführlichen Begründung und verliert den Großteil seiner Gültigkeit in dem Moment, in dem es in Frage gestellt wird. Das geschah mit dem Wahlrechtssystem in Großbritannien im Ersten Weltkrieg. Die Auswirkungen des Krieges hatten eine durchschlagende Politisierung der innenpolitischen Situation zur Folge. Die Frage des allgemeinen Männerwahlrechts war keine formale Marginalie mehr, die man den Juristen überlassen konnte. Wer wählen durfte und wer nicht, schien im Krieg um so mehr gleichbedeutend zu sein mit dem vollwertigen Zugang zur britischen Nation. Die mit Hilfe des Wahlrechts ausübbare allgemeine und gleichberechtigte Teilhabe an der Ausgestaltung der Nation entsprach den Partizipationserwartungen der britischen Öffentlichkeit. Aus dem egalitären Nationsverständnis von Labour und Liberalen resultierte zwingend die Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts. Auf die Demokratisierung der Belastungen durch den Krieg hatte demnach auch in Großbritannien eine Demokratisierung der Rechte zu folgen. Die politische Diskriminierung der kriegführenden Briten war daher nicht mehr zu rechtfertigen. Bereits im November 1915 meinte der »Herald«, es sei inzwischen unumstritten »to extend the franchise to all those who have taken up arms. [... ] Yet, if you grant it, you cannot stop there. [...] You cannot enfranchise the soldier and leave out the munition worker. [...] It would be found impossible to enfranchise the armies without enfranchising the whole manhood of the nation«.114 Ausgerechnet der Krieg habe Labour dem alten Ziel der »equality at home« näher gebracht: »Amid all the hideous ironies of war, there is one irony

113 Vgl. Barker Ideas, 111-16; Close, Collapse, 893-95. 114 HE, 27.11.1915, 9. Vgl. Turner, Politics, 117; Barker, Ideas, 117f., 125.

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that is not hideous, but delightful«.115 Die Forderung nach Gerechtigkeit und Gleichheit prägte den ganzen Verlauf der Wahlrechtsdebatte. Die Frage der Wahlrechtserweiterung wurde mit der zunehmenden Ausweitung der Kriegführung immer dringlicher. Den zahlreichen Männern, die entweder freiwillig oder seit 1916 verpflichtet in die Armee eingetreten waren, drohte der Verlust ihres Wahlrechts aufgrund der für eine Registrierung weiter bestehenden Residenzpflicht. Das gleiche galt für Zehntausende von Munitionsarbeitern, die einer beruflichen Tätigkeit außerhalb ihres gemeldeten Wohnorts nachgingen. Für die Liberale wie für die Konservative Partei wurde daher im Laufe des Krieges klar, dass das bestehende Wählerregister vor einem erneuten Urnengang grundlegend reformiert werden musste. Keine Partei wollte Neuwahlen riskieren, von denen sie fürchtete, eine unberechenbare Anzahl ihrer Stammwähler zu verlieren. Im Sommer 1916 diskutierte die Koalitionsregierungeingehend das Für und Wider einer Wahlrechtsreform. Einige kluge konservative Kabinettsmitglieder rieten zur Zurückhaltung, weil sie, wie Walter Long, die unkontrollierbare Dynamik einer Wahlrechtserweiterung im Krieg richtig erkannten. Für den Fall, dass die Regierung »propose to introduce a measure for the enfranchisement of soldiers and sailors, it could be understood that this would offer an opportunity for the consideration of other proposals, such as the enfranchisement of women, etc«.116 Arthur Henderson meinte dagegen für Labour, dass es mit einer einfachen Ergänzung des Wahlregisters nicht getan sei. Trotz der anerkennenswerten Leistung der Soldaten genüge ein »franchise conceived as a reward due to patriotism« nicht. »Considerations of justice and the pledges of the Government require the enfranchisement of practically the whole of our manhood from the age of 18 up [...], this could best be done by the introduction of adult suffrage«.117 Die Einführung des allgemeinen Wahlrechts hatte für Henderson einen doppelten Grund: Es resultierte sowohl aus der Aufstellung eines Massenheeres als auch aus dem verkündeten Befreiungskrieg. »We are taking men in the millions to discharge the supreme duty of citizenship. It is entirely in accordance with the principles on which we entered upon this war that we should do so. But it is not in accordance with those principles that we should refuse to admit them to the primary rights of citizenship«.118 Wer mithin die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht gefordert und gefördert habe, müsse als logische Folge auch das allgemeine Wahlrecht akzeptieren. Wer die Nation mobilisiere - so die Denkfigur der Reformanhänger-, der politisiere sie auch. Entsprechend stellte auch Captain Stephen Gwynn im Unterhaus bündig fest: »At the present time we 115 Ebd. Eine entsprechende Wertung im MG, 29.3.1917, 4. 116 PRO CAB 37/153/2 (1.8.1916). Vgl. auch die konservativen Vorbehalte in PRO CAB 37/ 153/16 (4.8.1916), sowie Pugh, Reform, 50-63; Close, Collapse, 897f. 117 PRO CAB 37/147/31 (12.5.1916). 118 Ebd.

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have the nation in arms [...] . When you admit Conscription, you admit universal suffrage for men; that is perfectly clear«.119 Außerdem unterstrich die Linke, quasi als Rückwirkung der liberalen Kriegsideologie auf die Innenpolitik, dass der äußere Freiheitskampf ohne die entsprechende innenpolitische Freiheit einer Farce gleichkomme.120 Doch auch in der Konservativen Partei freundete man sich zunehmend mit dem Gedanken einer Wahlreform an. Während Labour das allgemeine Wahlrecht im Interesse der Arbeiterschaft verlangte und es mit deren Kriegseinsatz legitimierte, forderten die Tories, das Wahlrecht zuerst den Soldaten zu geben. Als die Wahlrechtsfrage im Sommer 1916 neu aufgerollt wurde, waren es ausgerechnet die konservative Presse und die Hinterbänklcr im Unterhaus, die lautstark gegen die Vorbehalte der Parteiführung dazu aufriefen, das Wahlrecht generell allen Soldaten und Matrosen zu übertragen. Denn es könne doch nicht angehen, dass diejenigen, welche für die Nation kämpften, an deren politischer Ausgestaltung keinen Anteil haben sollten. »It is unjust and unwise«, urteilte die »Times«, »that these highly capable citizens, to whose prowess and patriotism we owe our safety, should be disfranchised on those great issues connected with the war which they are waging for us. Their case is different from that of all other claimants to the suffrage«.121 Die seit dem 18. Jahrhundert in Kontinentaleuropa vorgenommene enge Verknüpfung von Staatsbürgerrechten und Wehrpflicht erreichte nun auch die englischen Konservativen: Wer eine Nation zu verteidigen habe, müsse auch eine besitzen, müsse davon überzeugt sein, dass sich der Einsatz seines Lebens lohne und daher politische Partizipationsrechtc gewährt bekommen. Jeder, der für den Nationalstaat kämpfe, qualifiziere sich automatisch als mündiger Staatsbürger. »The man who is good enough to fight is good enough to vote«.122 William Thorne, Rechtsausleger der Labour Party, brachte diese Stimmung im Parlament auf die Formel: »One gun, one vote!«.123 Der »Daily Telegraph« ging noch weiter. Der militärische Einsatz für die Nation sei nicht nur die wahre Grundlage der vollwertigen Staatsbürgerschaft, sondern solle sogar die neue Qualifikationsbedingung für das Wahlrecht bil119 H o C W Bd. 85,1931(16.8.1916). Als späte Kompensation für die verhaßte Wehrpflicht, so Henderson weiter, würde das allgemeine Wahlrecht »be very cordially welcomed by the working classes, and would go far to reconcile them to the inevitable hardship of universal compulsion«, PRO CAB 37/147/31 (12.5.1916). 120 »Thousands of men (...) went because they believed that their country did indeed stand for liberty. (...) If we cannot have justice and liberty and equality at home, our heroic dead will have died in vain«, HE, 27.11.1915, 9. 121 TI, 20.7.1916, 9. Entsprechend auch JB, 7.4.1917, 10: »Every soldier must be given the vote. Those who by their blood and sacrifice make victory certain must have a voice in making peace surc«.Vgl. DM, 15.8.1916, 4; TI, 15.8.1916, 9. 122 TI, 2.10.1916, 5. »If they are fit to fight they are fit to vote«, HoC V/ Bd. 85. 1450 (14.8.1916). Vgl. OB, 13.8.1916, 6, sowie Collcy, Britons, 285-319. 123 HoCV/Bd.85, 1461 (14.8.1916). Vgl. zur Vcrbreitung dieser Formel auch NA. 19.8.1916, 616: »One rifle one vote«; TI, 15.8.1916, 9.

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den. Es sei undenkbar, »to prepare a register which should not contain the names of those who are at present engaged in the war and fighting the country's battles. There is no better qualification for a vote than that, and, indeed, it might be expressly made a new qualification for the franchise«.124 Die Redner der Tories assistierten im Unterhaus: »Most people are anxious and willing to give the right of franchise to every man who has given a service to the country, and a sacrifice to the country, [...] we are willing to take that as a new basis of electoral franchise«.125 Der Vorstoß der Rechten implizierte daher nichts weniger als eine neue Definition der britischen Nation. Die Grundlage der »Britishness« bildete demnach nicht - wie die Liberalen meinten - die vorbildlichen Traditionen und Institutionen und nicht nur-wie man im konservativen Lager zuletzt nachhaltig betonte - eine elitäre, oft biologistisch verstandene Abstammungsgemeinschaft. Brite, und damit wahlberechtigt, war man im Vorstellungshorizont des konservativen Nationalismus vor allem durch seine militärische Leistung im Krieg. Es bleibt die Frage, warum man ausgerechnet im konservativen Lager das Wahlrecht so bekenntnishaft an den militärischen Einsatz band. Sicher geht es zu weit, in der Forderung nach dem Wahlrecht für Soldaten einen konservativen Wertewandel und eine kausale Beziehung zwischen der Partizipation im Krieg und der Ausweitung politischer Rechte zu sehen. Denn viele Konservative bewegten taktische Motive, hofften sie doch gerade, in dieser Gruppe ein neues Wählerreservoir zu gewinnen.126 Ausschlaggebend aber für das konservative Bekenntnis zum politisch mündigen Soldaten war ihr eigenes nationalistisches Weltbild. Der konservative Wahlrechtsvorstoß begann, wie die Linke richtig erkannte, als eine Art Spätfolge der »National Service«-Kampagne. Diejenigen, die so entschieden für die Wehrpflicht, ihren erzieherischen Charakter und damit letztlich für eine Militarisierung der britischen Zivilgesellschaft eingetreten waren, sahen sich nach der Erfüllung ihrer Forderung mit einer ironischen Konsequenz konfrontiert. Die Konservative Partei konnte den für Britanniens Zukunft kämpfenden Soldaten nicht nur nicht die politischen Rechte vorenthalten, sondern hatte ihrer eigenen nationalistischen Rhetorik folgend sogar die Partizipationserweitcrungdes »besten« Teils der Nation zu fordern.127 Der Vorstoß, den Soldaten für ihre militärische Leistung das Wahlrecht zu übertragen, entwickelte sich zu einem Musterbeispiel für die Eigendynamik und für die nichtintendierten Folgen nationalistischer Argumente. Durch die Betonung von Kampf, Männlichkeit und Opfertod erhoffte man eine Stabilisierung der bestehenden Ordnung der Gesellschaft und des politischem Systems. 124 12S 126 127

DT, 20.7.1916, 8. HoC V/Bd. 85, 1917(16.8.1916). Vgl. Close, Collapse, 898f.; Pugh, Reform, 51; Turner, Politics, 119. »The nation is in arms. Its best and worthiest are in the field«, OB, 13.8.1916, 6.

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Doch die Berufung auf die militärische Leistung für die britische Nation sollte aus konservativer Sicht den gegenteiligen Effekt erzielen. Liberale und Labour waren, bei aller Wertschätzung der militärischen Leistung, nicht bereit, die Ableistung der Wehrpflicht als eine neue Grundlage für das Unterhauswahlrecht zu akzeptieren. In einer Wehrpflichtigenarmee, erinnerte der »Manchester Guardian« die Rechte an ihr Lieblingsprojckt, stelle die von allen Bürgern zu erbringende militärische Leistung keine herausgehobene Qualifikation dar. «Why should military service, which is only one of the functions of a citizen, be differentiated from all others as carrying with it the right to a vote. Were military service still voluntary the vote might be regarded as its appropiate reward. But military service is no longer voluntary«.128 Die Linke lehnte es ab, auf dem Umweg einer neuen Wahlrechtsgrundlage einer weiteren Militarisierung der britischen Zivilgesellschaft den Weg zu bereiten, »It is nonsense to demand citizen rights for soldiers unless we are prepared to demand citizen rights for civilians«, schrieb der »Herald«.129 Die politischen Lager erkannten, dass die Begründung des Wahlrechts über Zugang, Zuschnitt und Zukunft der britischen Nation entscheide. Deshalb witterte der »Labour Leader« eine konservative Verschwörung, die unter dem Vorwand des Soldatenwahlrechts auf die Abschaffung des bürgerlichen und liberalen England ziele. »It became quite clear that there is a powerful conspiracy to make military service the basis of the Parliamentary franchise. [...] If that should happen, then the conversion of this country into a militarist State is complete. To make the exercise of civil functions dependent upon military duties is the complete militarisation of the State. By that enactment the last remnant of civil rights and civil liberty will have disappeared. [...] The liberty which Britain enjoyed before the war was due to the subordination of military to civil authority«.130 Aber welche Kriterien sollte man dann der Reform zugrunde legen und welche Grenze ließ sich für die Aufnahme in den Kreis der vollberechtigten Briten vereinbaren? Die Frage, die auch die Regierung bewegte, war, ob und wo man die politische Inklusion von nicht Wahlberechtigten einschränken könne, wenn man die Bedeutung ihrer Leistung für Staat und Nation im Krieg hervorhob. Im Juli und August 1916 trafen die unterschiedlichen Positionen im Unterhaus aufeinander. Die Konservativen bestanden auf dem Wahlrecht für Soldaten, Liberale und Labour auf dem für Arbeiter. Beide Lager beriefen sich auf die Kriegsleistung. Der Staatssekretär des Innern, Herbert Samuel, stellte gleich 128 MG, 14.8.1916, 4. Vgl. bereits Henderson, PRO) CAB 37/147/31 (12.5.1916). sowie Asquith im HoC V/ Bd. 92, 28.3.1917, 490f. 129 HE, 30.9.1916, 9. Vgl. NS, 19.8.1916,458. 130 LL, 27.7.1916, 1. Bis zuletzt widersetzten sich v.a. die ILP und der »Labour Leader« gegen eine rein militärische Vergabe des Wahlrechts. »To suggest that military service should entitle a boy of fifteen to exercise the franchise is to expose the absurdity of attempting to give the vote as a reward of military service«, LL, 28.6.1917, 1. Vgl. nisges. Hart, Liberals, 820-32.

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zu Beginn die zentrale Frage: »Where are you to draw the line between the person who is rendering service in the War and the person who is not? Can you draw any such line?«131 Auch Premierminister Asquith meinte, wenn man darin übereinstimme, der kriegführenden Truppe das Wahlrecht zu geben, falle es schwer, den anderen für die Kriegsanstrengungen ebenso wichtigen Gruppen dieses Privileg zu verwehren. »Take the munition workers. [...] They are rendering equally important an effective service in the conduct of the war as are our soldiers and sailors. And, further, the moment you begin a general enfranchisement on these lines of State service, you are brought face to face with another most formidable proposition: What arc you to do with the women?«132 Damit verlieh er der richtigen Erkenntnis Ausdruck, dass niemandem aufgrund des Leistungskriteriums der Zugang zur vollen Staatsbürgerschaft und zur britischen Nation zu verwehren war. Um aber die zu erwartende heftige Kontroverse zu vermeiden, die mit einer umfassenden Neuregelung des Wahlrechts verbunden sein musste, versuchte die Regierung, die Entscheidung über ein neues Register hinauszuzögern. Doch einige oppositionelle Linksliberale und Rechtskonservative drängten auf eine schnelle Lösung. Der nach seinem Rücktritt wegen der Einführung der Wehrpflicht ungebundene Sir John Simon forderte die sofortige Einführung eines »national franchise« für alle Erwachsenen.133 Sir Edward Carson meinte dagegen wie seine konservativen Gefolgsleute, die staatsbürgerliche Exklusion der Arbeiter an einem entscheidenden Kriterium festmachen zu können: am Kampf Denn es bestehe keine Gleichheit der Leistung an Front und Heimatfront. Nichts sei mit dem Kampfund dem Opfer für das Vaterland vergleichbar: »The only broad line you can draw is this, that no possible sacrifice on behalf of anybody can be equal in any respect to the sacrifice by the man who is prepared, and whose duty it is, to go into battle [...] and risk his life for the preservation of his country«.134 Doch das konservative Unternehmen, durch Berufung auf den militärischen Einsatz eine scharfe Grenze für die Gewährung der Staatsbürgerschaft und die volle nationale Zugehörigkeit zu ziehen, erwies sich mittelfristig als ebenso fruchtlos wie der Versuch, das Wesen von »Britishness« fest zu bestimmen.135 131 HoC V/ Hd. 84, 1041 (19.7.1916). Vgl. zum Gang der Debatten, Pugh, Reform, 63-69. 132 HoC V/Bd. 85, 1451 (14.8.1916). 133 HoCV/Bd. 85, 1905(16.8.1916). 134 HoC: V/ Bd. 84, 1049 (19.7.1916). »The fighters could not fight if they had not the munitions«, befand auch Ronald McNeill. »But, although they are doing equally important work, no one for a moment could allege that the munition workers arc making the same sacrifice, and it is as a recognition of that sacrifice that we ought to treat the claim of these men«, HoC V7 Bd. 85, 1913 (16.8.1916). Entsprechend HoC V/ Bd. 85, 1460f. (14.8.1916); 1941 (16.8.1916). 135 Einigermaßen hilflos mahnte Lord Hugh Cecil an: »In a wise settlement of the franchise question you must be sure you arc excluding those who ought to be excluded and including those who ought to be included«, hatte aber Simon, der nach einem trennscharfen Exklusionskriterium fragte, nichts entgegenzusetzen. HoC V/ Bd. 93, 2187-2205, Zit. 2190 (22.5.1917).

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Trennscharfe Definitionen der Nation scheiterten schon daran, dass der politische Gegner in der Lage war, seinen Gegenentwurf, abhängig von der politischen Situation, erfolgversprechend vorzubringen. Denn das von konservativen Politikern und Journalisten innerhalb des Wahlrechtsdiskurses vorgebrachte Argument »one gun, one vote« entfaltete im Ersten Weltkrieg eine ungeheure lager- und klassenübergreifende Dynamik. Sie erlaubte den Anschluss oppositioneller linker und liberaler Nationsentwürfe. Die Gegner der Konservativen nahmen sie beim nationalen Wort und drehten es ihnen im Munde herum. In Großbritannien, einem Land, das die Armee und den Dienst in ihr seit jeher verachtete hatte, rekurrierte man mehrheitlich unter dem Eindruck des Krieges nicht auf die Bedeutung eines elitären Kampfes, sondern auf gleichmachende Leistungen und Opfer. Auch diese Gleichzeitigkeit von Exklusion und Inklusion, von Ausgrenzung und Partizipation, enthüllte erneut das Doppelgesicht des Nationalismus. Denn die an die nationale Sprache direkt anschlicßbaren Partizipationshoffnungen ließen sich, einmal öffentlich aktiviert, kaum noch in die von der Rechten gewünschte Bahn lenken. Wer sich auf den Dienst für die Nation als politisches Qualifikationskriterium berief, sah sich in einem totalen Krieg notwendig damit konfrontiert, dass eine Mehrheit kaum einen Unterschied zwischen dem Dienst an der Front und dem an der Heimatfront zu erkennen vermochte und die Gleichheit der Leistungen hervorhob. Auch die Linke verlangte »a new service franchise«,136 zog aber im Unterschied zu ihren Gegnern eine folgerichtigere und faszinierendere Konsequenz aus der Wertschätzung von Dienst und Leistung. »There is one principle just now [...] almost universally acceptable«, schrieb der »Herald«: »The ›service‹ principle. But if, on that, you enfranchise men who haved served the State as soldiers and sailors, clearly you must enfranchise other war-workers, too; if you do that, you must (as Mr. Asquith admits) include women. And once you have included women, there is no logical slopping-place short of complete adult suffrage, so that the argument from what is practical and expedient and efficient coincides with the argument from what is fine and free and democratic«.137 Damit bot sich der Linken die Chance, dem Kriegseinsatz aus der Perspektive ihres Nationalismus wieder einen Sinn zu verleihen und in Analogie zu den offiziellen Kriegszielen auch in der Innenpolitik mehr Demokratie zu wagen. »The existence of war is not a reason against these reforms; it has made them urgent and essential. They are part of the democratic ideal for which we are fighting«, hielt der »Guardian« fest.138 Vom emotionsgeladenen Versprechen auf Demokratie und Partizipation ging eine innen- und außenpolitische Dynamik aus, der die britischen Konser136 NS, 19.8.1916, 458. Vgl. MG, 14.8.1916, 4. 137 HE, 26.8.1916, 9. 138 MG, 23.3.1917, 4.

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vativcn, vom autoritären Kaiserreich ganz zu schweigen, weder ideologisch noch semantisch etwas entgegenzusetzen hatten.139 Selbst der liberal-konservative »Observer« konnte sich der Faszination der Demokratie und der Gleichheitsvision nicht entziehen. »We cannot be too bold [...] in our recognition of the splendid spirit shown by all classes and categories of the people. [...] The power of democracy to wage war, so often doubted, is being gloriously vindicated [...]. The logical conclusion is forced upon us«: die Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts.140 Zunächst bewegte sich wegen der vermeintlichen Starrheit der gegnerischen Positionen in der Wahlrechtsfrage gar nichts. Da sich die Koalitionsregierung aufgrund des Druckes von rechts und links nicht mit ihrer Absicht einer lediglich marginalen Erweiterung des Wählerregisters durchsetzen konnte, rief Asquith auf Vorschlag Walter Longs eine Allparteienkonferenz ins Leben, die das Kabinett von einem offenbar unlösbaren Problem entlasten sollte. Die nach ihrem Vorsitzenden James William Lowther, dem »Speaker« im Unterhaus, benannte »Speaker's Conference« sah sich mit der undankbaren Aufgabe konfrontiert, mitten im Krieg einen mehrheitsfähigen Konsens in der hochumstrittenen Wahlrechtsfrage zu erzielen. Dass niemand einen Erfolg erwartete, trug zum zügigen Gang der Verhandlungen vom Oktober 1916 an bei. Einige konservative Hardliner hofften, durch ihr demonstratives Ausscheiden aus der Konferenz den Wahlrechtskompromiss zu torpedieren, förderten ihn damit aber. In der zentralen Frage der Wählerqualifikation kamen beide Lager einander entgegen. Die Konservativen konzidierten im wesentlichen das liberale Prinzip des »one-man-one-vote«, die Liberalen beließen es bei der bestehenden Regelung, die eine Zusatzstimme für Selbstständige und Universitätsabsolventen vorsah. Ende Januar 1917 hielt der neue Premierminister Lloyd George das Kompromisspapicr in den Händen. Die Empfehlungen der »Speaker's Conference« sahen die größte Wahlreform in der britischen Geschichte vor. Von den genannten Ausnahmen abgesehen, sollte fortab jeder Mann mit 21 Jahren das allgemeine und gleiche Wahlrecht erhalten, die berüchtigte Registrierung vereinfacht und auf sechs Monate beschränkt werden. Eine zusätzlich vereinfachte Regelung galt für das Wahlrecht der Soldaten und Matrosen, deren Wahlalter man später auf 19 Jahre festlegte. Außerdem sollte das Verhältniswahlrecht eingeführt werden, was dann scheiterte; und selbst der Frauen war gedacht, wobei man aber ihr Wahlalter noch offen ließ. Das Elektorat versprach sich demnach von ca. 8 auf 21,4 Millionen zu erhöhen.141 139 Offen spottete man über die stagnierende preußische Wahlreform und darüber »that all German political writers discuss reform as something for a Government to give, not for a people to take«, MG, 29.3.1917, 4. 140 OK, 20.8.1916, 6. Vgl. Graebner, Consent, bes. 36-45; Marwick, Deluge, 202f. 141 Vgl. den Text der Vorschläge in der ΤΙ, 31.1.1917,9f, und zum Gang der Verhandlungen Pugh, Reform, 70-86; Close, Collapse, 899-901.

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Die Aufnahme der Reformvorschläge in der britischen Öffentlichkeit war über alle Lagergrenzen hinweg äußerst wohlwollend. Es gab nicht viele politische Gelegenheiten, bei denen die »Times« und der »Labour Leader« einer Meinung waren.142 Da sich die Regierung im Frühjahr 1917 mit zahllosen außen- und innenpolitischen Problemen konfrontiert sah, suchte sie sich mit der Wahlrechtsreform eines lästigen Konfliktfeldes zu entledigen. Als die nur wenig veränderten Empfehlungen der Speaker's Conference ab Ende März 1917 im Unterhaus als Gesetzesvorlage debattiert wurden, fielen tatsächlich alle Probleme des Krieges auf einmal zusammen: in Russland hatte sich die Februarrevolution ereignet, im eigenen Land kündigte sich die Streikwelle vom Mai an, gleichzeitig markierte die »Irish Convention« den letzten Versuch, die Irlandfrage zu lösen, und während man über die Kriegsziele stritt, war die eigene Frühlingsoffensive wie jedes Jahr im Schlamm stecken geblieben. Diese Verschränkung aller Problemfelder demonstrierte im Urteil der politischen Akteure erneut, dass die Wahlrechtsfrage als eine dringliche Kriegsfrage einer raschen Lösung bedurfte. Nur so glaubte man, auf eine Entspannung der inneren Lage hoffen zu dürfen. »It is in fact the war and the lessons of the war«, betonte der »Manchester Guardian«, »which have brought home to the nation the need and the urgency of electoral reform«.143 »The war has made all the difference«, bewertete der »Herald« den neuen Reformenthusiasmus der Regierung. Allein die durch die maßlose Kriegsbclastung eingetretene Politisierung der Bevölkerung habe die Verantwortlichen zu weitreichenden Konzessionen gezwungen: »Public opinion has been so revolutionised by the evidence of the people's sacrifice and people's suffering since August 1914«.144 Selbst Lloyd George erklärte, die genannten Umstände hätten der Regierung zur einvcrnehmlichcn Reform gar keine Alternative gelassen: »This is why we were driven - absolutely driven, perforce, by circumstances which were irresistible«. Da der Krieg in der Verantwortung aller Briten liege, biete allein das allgemeine und gleiche Wahlrecht in Zukunft die hinreichende Legitimationsgrundlage der britischen Politik. »You could not settle the affairs of this country without consulting the people who fought for it. That means the Franchise Bill«.143 Eine ansehnliche Minderheit rechtskonservativer Politiker und Journalisten sah das anders. Viele fürchteten nach der Wahlreform von einem Elektorat aus Arbeitern und Frauen dominiert zu werden. Über 100 Abgeordnete der Konservativen Partei protestierten im März 1917 in einer dem Premierminister zugestellten Resolution dagegen, dass eine derart umstrittene Angelegenheit 142 Vgl. TI, 1.2.1917, 7; LL, 1.2.1917, sowie die Presseautstellung bei Close, Collapse, 901. 143 MG, 23.5.1917, 4. Vgl. auch Walter Long in PRO CAB 24/6/1 ( = GT. 173) (13.2.1917), sowie HoC: V/ Bd. 93, 2414 (23.5.1917). 144 HE, 10.2.1917,6. 145 HoC V/ Bd. 92, 490f. (28.3.1917). Vgl. Ebd., 516; l ) C , 29.3.1917, 2, und zu den Motiven der Regierung Pugh, Reform, 87-90.

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mitten im Krieg in Angriff genommen werde. Die einzige Autorität, welche die Regierung sieben Jahre nach der letzten Parlamentswahl noch habe, sei die, den Krieg zu gewinnen. Nach Auffassung von Sir Henry Craik kam eine Wahlreform in Kriegszeiten einem Verbrechen gleich: »At a moment like this, when the fate of the nation is in hazard, we think it is not only a crime but a criminal folly«.146 Denn eine solche, »would be to raise embittered controversities [...] throughout the country« »in face of such an enemy as confronts us«.147 Eine vorsätzliche Spaltung der im Angesicht des Feindes kämpfenden Nation könne aber kein patriotischer Brite wollen: »Every Member who believe in patriotism and justice will vote [...] against [...] the Bill«.148 Es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet diejenigen, die im Jahr zuvor am nachdrücklichsten im »Interesse der nationalen Einheit« das Soldatenwahlrecht gefordert hatten, sich nun reichlich hilflos abmühten, die von ihnen gerufenen nationalen Geister wieder loszuwerden. Der rechte Flügel der Konservativen war zum Opfer der eigenen nationalistischen Rhetorik geworden, deren Folgen sie nicht kontrollieren konnten. Am Ende des dritten Kriegsjahres ließ sich ihre exklusive Nationsvorstellung nicht mehr erfolgversprechend legitimieren. Ohne Aussicht auf eine parlamentarische Mehrheit und von der eigenen Parteiführung verlassen, bröckelte die rechtskonservative Abwehrfront und unterlag schließlich hoffnungslos abgeschlagen in der ersten Lesung des »Representation of the People Bill« am 28. März mit 341 zu 62 und in der zweiten am 23. Mai sogar mit 329 zu 40 Stimmen. Die Entscheidungsfindung der konservativen Mehrheit - von einer Mischung aus Einsicht, Taktik und der Dynamik nationalistischen Denkens motiviert - war, wie der preußisch-deutsche Vergleichsfall lehrt, auch im Krieg alles andere als selbstverständlich. Selbst die für die nichtintendierten Folgen politischen Handelns überaus wirkungsvollen Nationsvorstellungen erklären den Unterschied beim Ausgang der Wahlreform im Kaiserreich nicht hinreichend. Nur der dififerente politische und gesellschaftliche Kontext in Großbritannien und Deutschland verdeutlicht, warum die äußerst ähnlichen nationalistischen Argumentationsmuster nicht die gleiche Wirkung zeitigten. Ein Hauptunterschied dürfte in der abweichenden Bewertung der nationalistischen Dialektik von Inklusion und Exklusion durch die politischen Eliten liegen. Die Koalitionsregierung und mit ihr die Mehrheit der Konservativen Partei glaubte im Gegensatz zur eigenen unnachgiebigen Minderheit und den preußischen Konservativen, dass nicht die Exklusion, sondern nur die Inklusion von neuen Ver146 HoC V/ Bd. 92, 550 (28.3.1917). 147 MP, 30.3.1917, 4; HoC V/ Bd. 92, 473 (28.3.1917). Dagegen polemisierte die TI, 29.3.1917, 7, dass keine große Kontroverse zu erwarten sei, wenn die rechte Minderheit ihren Widerstand unterlasse. 148 HoC V/ Bd. 93,2413 (23.5.1917). Vgl. MP, 23.5.1917, sowie Pugh, Reform, 91-99; Close, Collapse, 901-06.

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antwortlichen das politische System hinreichend legitimiere und stabilisiere. Die Verfahrensweisen der etablierten parlamentarischen Demokratie erhöhten den Legitimationsdruck auf die Verantwortlichen, hinter der Regierungspolitik eine politische Mehrheit zu demonstrieren. Zudem begünstigen parlamentarische Systeme die politische Inklusion partizipationswilliger Gruppen. Das gilt zumal unter Kriegsbedingungen. Angesichts der bedrohlichen gesellschaftlichen Spannungen des Jahres 1917 wähnten sich namhafte Konservative wie Walter Long - gerade aus der Perspektive ihres die Umwelt polarisierenden Nationalismus - »very near to rebellion«, sollte man der breiten Bevölkerung das allgemeine Wahlrecht weiter vorenthalten.149 Unabhängig von der Richtigkeit dieses Urteils verdeutlicht es doch, dass die politischen Eliten durch die Ausgrenzung der Bevölkerungsmehrheit mehr zu verlieren glaubten als durch die Erfüllung ihrer Partizipationsansprüche. Mit dem »Representation of the People Act« ging die Koalitionsregierung daher ein wohlkalkuliertes Risiko ein. Denn der Krieg habe eine neue Situation geschaffen. Sollte nach den Erfahrungen des Krieges der Wiederaufbau der Nation gelingen, müsse, appellierte Walter Long im Unterhaus, auch für die erfolgreiche Errichtung der Nachkriegsordnung das gesamte Volk in die politische Verantwortung miteinbezogen werden. »If we are going to face and settle these great problems, Imperial and domestic, it will only be possible if we make this House [...] really representative of the people of this country. [...] I believe it will strengthen the House and the country, and because I believe you will do a great service to the Empire, and therefore to the world«.150 Nur die politische Inklusion der kriegführenden Bevölkerung garantierte demnach auch in Zukunft Britanniens Stärke. Das Ziel sei es, »to broaden the basis upon which government in this country rests and to call the assistance of those in the field and at home whose right to be consulted has been proved by the war«, denn »in the mighty task of reconstruction awaiting the country the fullest obtainable expression of the national will ought to be active in the directing of policy«.151 Die gleichberechtigte Miteinbeziehung der mündigen »people« in die Verantwortung für die britische Nation sei auch außenpolitisch geboten, um sich der Feinde des Landes zu erwehren. »We shall have to meet our enemies«, stellte Long als Schlussredner in der zweiten Lesung fest, »and must be prepared with the power which we can only derive from the people. Let us be fortified by the strength which only a contented and satisfied people can give to the Government of the country«.152 Deutlicher läßt sich der Unterschied im Hinblick auf den Ausgang der Wahlreform in Preußen-Deutschland kaum fassen. Während die Konservativen in Deutschland aufgrund der drohenden Erweiterung der parlamentarischen Re149 150 151 152

Zit. n. Harrison, Spheres. 216. Vgl. ebd., 213-21; Turner, Politics, 120. HoC: V/Bd. 92, 521 f. (28.3.1917). Vgl. OB, 1.4.1917,6. OB, 13.8.1916, 6; DT, 23.5.1917, 4. HoC V/ Bd. 93, 2440 (23.5.1917). Vgl. OB, 1.4.1917, sowie Harrison, Spheres, 221.

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Präsentation ihre eigene Bevölkerung als den gefährlichsten Feind der bestehenden Ordnung begriffen, rief in Großbritannien selbst ein ehemaliger »Diehard« wie Walter Long zu einem Bündnis aller Staatsbürger gegen die äußeren Feinde auf Selbstredend dürfen die taktischen Motive der seit langem an die parlamentarischen Spielregeln gewöhnten britischen Rechten dabei nicht unterschätzt werden. Ihr Parteivorsitzende Bonar Law hob im Rahmen der Wahlrechtsdebatte nachdrücklich den Umstand hervor, dass eine große Partei nicht nur unter den Eliten, sondern innerhalb der Gesamtnation um Wähler werben müsse: »A Conservative Party which was not a national party might as well go out of business, [...] we must be able to appeal to the nation«.153 Welche entscheidende Rolle der Vorstellungshorizont des Krieges und die kriegsrelevante Leistung für die Nation und den Staat im Bewusstsein der kollektiven Akteure bei der Vergabe des Wahlrechts spielte, demonstrierte schon die den Wahlrechtsdiskurs dominierende Sprache des Krieges. Da schlug Labour eine »battle for adult suffrage«, unternahmen die Tories »rearguard actions«, um nicht etwaigen »flanking attacks« ausgesetzt zu bleiben.154 Die Verbreitung derartiger Bilder veranschaulichte dreierlei: einmal, dass sich die Wahlreform für die Zeitgenossen als ein Element der Kriegführung darstellte, zum zweiten eine der Kriegslage entsprechende Verschärfung der Grenzziehung zwischen Freund und Feind; und drittens - trotz der weitgehend gelungenen Gegenwehr durch Liberale und Labour-eine schleichende militaristische Umdefinition von »Britishness«. Die exklusive Dimension nationalistischer Inklusion, die Notwendigkeit, die Nation durch eine ausschließende Grenzziehung zu konstatieren, zeigte die ungeschminkte Aggression gegen Kriegsdienstverweigerer und eine bizarre Debatte darüber, ob Kriegsdienstverweigerern grundsätzlich das Wahlrecht vorzuenthalten bzw. zu entziehen sei. Kriegsdienstverweigerer, die »conscientious objectors«, bildeten schon bald nach der Einführung der Wehrpflicht eine beliebte Zielscheibe für die Aggressionen konservativer Journalisten und Politiker. Obwohl das Wehrpflichtgesetz vom Januar 1916 ausdrücklich das Recht auf die Verweigerung des Dienstes mit der Waffe aus Gewissensgründen vorsah, betrachtete man die etwa 16.000 anerkannten Männer im konservativen Lager als eine nationale Schande. Unablässig mussten sie es ertragen, von Blättern wie dem »John Bull« oder der »Daily Mail« als Drückeberger, Feiglinge und Verräter diffamiert zu werden.l55 Gerne reihte man auch die »passive resisters« in eine Linie mit »the pro-Germans, the peace cranks, and the diseased and decrepid« ein.156 Die durch nationalistisches 153 HoC V7 Bd. 92, 557 (28.3.1917). Den Weg der rechtskonservativen Minderheit zu beschreiten »would have the incidental effect of depriving the sound Conservative element of its proper influence in the building up of the new Britain«, DT, 23.5.1917, 4. 154 I IE, 26.8.1916, 9; HoC V/ Bd. 92, 520 (28.3.1917). Vgl. DT, 23.5.1917, 4. 155 Vgl.JB, 7.4.1917, 1();JB, 28.7.1917, 8; DM, 1.2.1917, 4; DM, 23.5.1917, 2. 156 HoC V/ Bd. 93, 2412 (23.5.1917).

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Denken vorgenommene Pathologisierung und fundamentale Ausgrenzung der Kriegsdienstverweigerer stellte die negative Konsequenz des geltenden militärischen Leistungsideals dar. »The moral leper must not be allowed to contaminate his kind«.157 Die geringe Toleranz gegenüber vermeintlich abweichendem gesellschaftlichen Verhalten und dem Recht auf individuelle Entscheidungsfreiheit demonstrierte die im Umfeld der Wahlrechtsdcbatte aufkommende Forderung, den Kriegsdienstverweigerern das Wahlrecht zu entziehen. Die Forderung nach politischer Entrechtung, schrieb die »National Review«, müsse im Lichte der »national interests« betrachtet werden, »which must be placed above the interests of individuals. And there is justice to be considered«.158 Nicht nur die konservative Schmutzpresse, sondern auch die renommierte »Times« erachtete es in Kriegszeiten als illegitim, dass diejenigen volle Staatsbürgerschaftsrechte ausüben sollten, die als Mann den obligaten militärischen »service« für die Nation verweigerten. »There is no hope in attempting to limit the vote to those who really appreciate its responsibilities, but we have at least an opportunity to raise the barrier against those who have been guilty of flagrant offences against society«.159 Wie die Berufung auf die militärische Leistung für die Nation das Aufbrechen politischer Grenzen ermöglichte, folgte aus der Logik dieses Weltbildes die Ausgrenzung und Entrechtung derjenigen, die gegen das Gleichheitsgebot der Leistungen und Belastungen verstießen. Denn Kriegsdienstverweigerer erbrächten keine mit dem der Soldaten und Munitionsarbeiter vergleichbaren Leistungen und Opfer. Da das Wahlrecht aber ohne die Ableistung der Wehrpflicht nicht zu haben sei und man es nun selbst den Frauen - horribile dictu - aufgrund ihrer kriegsrelevanten Arbeit gewähre, verlange die Nation die politische Entrechtung der Kriegsdienstverweigerer. »They cannot claim to be exempted from the painful tasks which have to be performed to protect the existence of the State and at the same time claim to enjoy the benefits which the existence of the State confers. The right of voting is historically a method by which the fighting-power, or man-power [...) is measured. It belongs to those who are willing to fight or work (like so many of our women) for the State, and to them alone«.160 Nachdem vorhergehende Versuche im Unterhaus, den Kriegsdienstverweigerern das Wahlrecht zu entziehen, gescheitert waren, gab die Koalitionsregierung im November 1917 die Abstimmung über einen entsprechenden Antrag Sir George Youngers frei. Offenbar wollten die Verantwortlichen die Angelegenheit den Konservativen zur Statuierung eines Exempels überlassen, da man der Rechten in der Wahlrechtsfrage ohnehin schon zuviel zugemutet zu haben 157 158 159 160

DM, 21.11.1917,2. NR 69 (1917), 575. TI, 1.2.1917, 7. Vgl. TI, 2.10.1916, sowie Rae, Conscience, l69f.; Pugh, Reform, 113f. NR 69 (1917), 574. Vgl. DM, 23.5.1917, 2.

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glaubte.161 Zwei Tage lang diskutierte das britische Parlament erbittert über einen Gesetzesanhang, der immerhin im Widerspruch zum geltenden Recht stand. Die Argumente der Konservativen waren bekannt, wurden aber mit außerordentlicher Schärfe vorgebracht: Ohne die Ableistung der Wehrpflicht kein Wahlrecht, ohne die gleichen Opfer keine gleichen Privilegien: »The granting of the franchise is a privilege, not a right[...] . This Bill was specially designed to give the men who have fought in the War the privilege of voting. If that be so, it cannot at the same time be justifiable to give votes to men who have refused [...] thefirstobligation of citizenship [...]. The man in the street regards equality of privilege as being justified only by equality of sacrifice«.162 Die exklusive Dimension der durch die militärische Leistung begründeten nationalistischen Inklusion der Kriegsgesellschaft zeigte sich hier in aller ihrer Rücksichtslosigkeit. Besonders die »Morning Post« und die Lords im Oberhaus markierten den Kriegsdienstverweigerer als Feind der Nation und vollzogen unter Berufung auf ihre Nationsvorstellung seine Ausgrenzung aus dem Gemeinwesen. Ihr Vorstoß erfolge »not so much as a punishment as a precaution«.163 Denn der Kriegsdienstverweigerer sei nicht nur »a parasite on the community«, sondern »a menace to the State [...] because he is helping the enemy. Either they [die Regierung- SOM] protect the shirker, the coward, and the pro-German, or they deal with them as they deserve. [...] Pacifism, in its aggressive form, conscientious objectors, and the cause of Germany are integral parts of a single design«.164 Auch Lord Charnwood schloss sich dem Feldzug der Konservativen gegen die fünfte Kolonne des Kaisers im eigenen Lande an und vermochte keinen Unterschied zwischen »conscientious Germans« und »conscientious Englishmen« zu erkennen.165 Wer nicht bedingungslos für Britannien einzutreten schien, musste diesem nationalistischen Weltbild entsprechend gegen die Nation stehen. Für legitime Differenzen blieb da kein Platz. Abermals löste sich die Grenze zwischen dem deutschen Feind und dem andersdenkenden Briten auf Die Mehrheit der Liberalen und der Labour-Party reagierte empört. Wie konnten sich ihre Gegner die Autorität anmaßen, dem Staat garantierte Freihei161 Vgl. HoC V/ Bd. 99, 1135-38 (20.11.1917), sowie Rae, Conscience, 219-22; Pugh, Reform, 125f., und zur Rolle des berüchtigten »Dichards« Milner Gollin, Procunsul, 268.

162 HoCV/Bd.99, 1139f. (20.11.1917).

163 MP. 21.11.1917, 6. Entsprechend HoL V/ Bd. 27,32(28.11.1917). 164 Ebd. Die Verschränkung des Kriegsdienstverweigerers mit dem deutschen Feindbild, nahm auch die »Daily Mail«, 1.2.1917,4, vor, wenn sie in einem Atemzug »the disfranchisement of the conscientious objector [...] and [...] all aliens of enemy origin« forderte. 165 HoL V7 Bd. 27, 25 (28.11.1917). Allerdings gab es im konservativen Lager auch vereinzelt abweichende Positionen. In einer engagierten Rede verteidigte ein gestandener Tory wie Lord Hugh Cecil das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus religiösen und ethischen Gründen. »The conscientious objector [...] appeals to a higher law altogether then the law of the State. [...] We are Christians first and Englishmen afterwards«, HoC V/ Bd. 99, 1217f. (21.11.1917).

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ten des britischen Bürgers zu opfern? »Henceforth it is illegal in England to hold certain opinions [...] . The State has not, and cannot have any such power«.166 Wer so gegen die besten britischen Traditionen und Rechte zu Felde ziehe müsse, dem nationalistischen Weltbild der Linken gemäß, als Feind aus der Nation ausgeschlossen werden. Denn den Hauptfeind der Briten stellten die Deutschen mit englischem Paß dar. »It is a tragic irony that just as the German armies are beginning at last to stagger under the blow of the Allies the spirit of German militarism should be winning its greatest victories in this country«, schimpfte die »Daily News«.167 Und der Abgeordnete Leif Jones befand entsprechend: »The effort to suppress individual opinion by way of Government authority smacks too much of German origin. [...] It is not against that doctrine we are fighting in this War? [...] I have always been afraid that we should be infected by German doctrines here«.168 Je nach der nationalistischen Perspektive oszillierte die Grenze zwischen dem Eigenen und dem Feindlichen von den Kriegsdienstverweigerern zu den Konservativen. Diese Politisierung der Wahl rechtsfrage schlug sich in einem sehr knappen Abstimmungsergebnis nieder. Mit 209 zu 171 Stimmen versagte bzw. entzog das Unterhaus den Kriegsdienstverweigerern für fünf Jahre das Wahlrecht. Ausgenommen blieben diejenigen, die etwa in nichtkämpfenden Einheiten eine quasi militärische Leistung erbracht hatten. Da der Friedensvertrag von Versailles nicht vor dem August 1921 offiziell in Kraft trat, blieb die Mehrheit der Verweigerer bis zum August 1926 politisch und letztlich national ausgegrenzt. Die Wertschätzung der militärischen Leistung machte sie zu Staatsbürgern und Briten zweiter Klasse. So ergab sich mit dem »Representation of the People Bill« von 1918 das kuriose Ergebnis, dass - um ein Extrembeispiel zu nehmen - die katholische Bäuerin in Irland das Wahlrecht erhielt, wenn sie über dreißig war, der protestantische »Oxbridge«-Absolvent es aber entzogen bekam, wenn er sich dem Kriegsdienst verweigerte.169 In Zeiten des totalen Krieges hatte der Nationalstaat wie nie zuvor die aktive Teilhabe seiner Bürger an den Kriegsanstrengungen sicherzustellen. Die politische Exklusion breiter Bevölkerungsschichten war für die Kriegführung kontraproduktiv und aufgrund der fundamentalen Politisierung der Gesellschaft kaum noch zu legitimieren. Weniger die Opposition gegen die bestehende Ordnung als vielmehr der durch einen Kriegsbeitrag belegbare Anspruch, Brite zu sein, erschloss potentiell allen gesellschaftlichen Gruppen neue Partizipationsmöglichkeiten. Die Berufung auf die volle Zugehörigkeit zur britischen Nation implizierte gleichzeitig die Forderung nach der Gewährung aller staats166 DN, 22.11.1917, 2. Vgl. HoC W Bd. 99, 1250 (21.11.1917). Entsprechend MG, 22.11.1917,4; LL, 29.11.1917, 1. 167 Ebd. Vgl. HoC V/ Bd. 99, 1148 (20.11.1917). 168 HoC V/ Bd. 99, 1254(21.11.1917). 169 Vgl. Rae, Conscience, 222f., 234f.; T. Kennedy, Hound, 267; Pugh, Reform, 126.

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bürgerlichen Rechte.170 Der faszinierenden Vorstellung, dass die gemeinsame Leistung und die Opfer für die kriegführende Nation alle Menschen -wenigstens politisch -gleich mache, hatte man im konservativen Lager nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen. Der Verlauf der Wahlrechtsdebatte verdeutlichte dabei die nichtintendierten Folgen nationalistischen Redens. Schließlich waren es vor allem die Konservativen gewesen, welche die Wahlrechtsfrage mit Hilfe nationalistischer Argumente im eigenen Interesse zu instrumentalisieren versucht hatten, bis ihre Politik selber ein Opfer der impliziten Gleichhcitsverheißung des Nationalismus wurde. Die politische Diskriminierung der Kriegsdienstverweigerer demonstrierte nicht nur die semantische und ideologische Verschränkung des Wahlrechtskampfes mit dem militärischen Konflikt. Vielmehr veranschaulichte ihre politische und nationale Ausgrenzung die exklusive Dimension nationalistischer Inklusion. Wenn die Gleichheit innerhalb der Nation nur durch eine kriegswichtige Leistung zu erwerben war, dann schloss diese dichotome Vorstellung diejenigen aus, die sich den geltenden nationalen Regeln verweigerten. Fraglos besteht die Gefahr, sowohl die Rolle nationalistischer Vorstellungen als auch die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges bei der Partizipationserweiterung im politischen System Großbritanniens zu überschätzen. Betrachtet man den langfristigen Demokratisierungsprozess im 19. Jahrhundert, erscheint der Erste Weltkrieg als Katalysator einer Entwicklung und die umfassende britische Wahlrechtsreform von 1918 als ein »accident of wartime«.171 Die beispiellosen Kriegsanstrengungen der breiten Bevölkerung trugen in England unter den regierenden Eliten zwar wesentlich zum Abbau von Vorbehalten gegen das allgemeine Wahlrecht bei. Der Vergleich mit Preußen-Deutschland lehrt aber, wie die gleiche Herausforderung des Weltkrieges bei oft identischen nationalistischen Argumenten in der Frage der Wahlreform beinahe entgegengesetzte Ergebnisse erbrachte. Der unterschiedliche gesellschaftspolitische Kontext war hierfür entscheidend. Während in Großbritannien die regierenden Eliten - seit Jahrhunderten an parlamentarische Verfahren gewöhnt-eine bemerkenswerte Reformbereitschaft zeigten und glaubten, letztlich nur durch die Inklusion der partizipationsberciten Bevölkerung den Bestand von Nation und Staat zu garantieren, war es im Kaiserreich umgekehrt. Auch deshalb stand im letzten Kriegsjahr ein beträchtlicher Legitimationsgewinn der politischen Ordnung Großbritanniens einer folgenreichen Delegitimation des Herrschaftssystems im Kaiserreich gegenüber.

170 Vgl. zum Verhältnis von Nationalismus, Krieg und Partizipationserweiterung: Colley, Britons, bes. 361-72. 171 Pugh, Reform, 181. Vgl. die teilweise überzogene aber lehrreiche Skepsis gegen die Überbewertung des Krieges bei der Reform des Wahlrechts, ebd., 178-84.

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b) »Women belong to the nation as much as men«: Die Debatte über das Frauenwahlrecht Die britische Frauenbewegung schreckte vor 1914 das Edwardianische England auf Besonders ihr militanter Flügel um Emmeline Pankhursts »Women's Social and Political Union« zeichnete für zahllose spektakuläre Aktionen verantwortlich und nahm dabei auch die Anwendung von Gewalt bewusst in Kauf Nach der erneuten Ablehnung des Frauenwahlrechts im Januar 1913 traten viele Frauenrechtlerinnen im Gefängnis in den Hungerstreik, zündeten andere öffentliche Gebäude an und schlugen auf Parlamentarier ein. Am Vorabend des Kriegsausbruchs avancierte die Frage des Frauenwahlrechts innerhalb weniger Jahre von einem unterhaltsamen Konversationsthema auf Teepartys zu einer brisanten öffentlichen Angelegenheit. Frauen waren nicht länger politisch unsichtbar und ihr Ausschluss aus der Politik und von der vollen Staatsbürgerschaft erschien immer weniger als selbstverständlich.172 Allerdings riefen die medienwirksamen Gewaltaktionen der WSPU nicht nur große Aufmerksamkeit, sondern auch große Angst hervor und erwiesen sich mittelfristig als kontraproduktiv für die Ziele der Frauenbewegung.173 Den in der »National League for opposing Women's Suffrage« organisierten Gegnern des Frauenwahlrechts demonstrierte die Militanz der radikalen Feministinnen die Gemeingefährlichkeit derjenigen Frauen, die ihren angestammten Platz in der Gesellschaft verlassen hatten. Da das weibliche Geschlecht weder politisch voll zurechnungsfähig sei noch sich in der Lage befände, den Nationalstaat im Falle des Krieges zu verteidigen, ließen vor allem die Konservativen keinen Zweifel daran, dass der »natürlichen« politischen Ordnung entsprechend die Frau ins Haus und nicht ins Unterhaus gehöre.174 Ungeachtet der medienwirksamen Aktionen der militanten WSPU bildete das organisatorische und ideologische Rückgrat der britischen Frauenbewegung Millicent Fawcetts »National Union of Women's Suffrage Societies«, die 1913 landesweit 443 Geschäftsstellen und über 42.000 Mitglieder zählte. Die Führung stand ursprünglich der Liberalen Partei nahe und verfolgte im Gegensatz zur WSPU einen gewaltfreien und konstitutionellen Kurs, da sie durch eine Arbeit innerhalb des parlamentarischen Systems mehr zu erreichen glaubte. Diese politische Strategie erwies sich als richtig. Vor allem die mit der Labour Party ausgehandelte Allianz - aus Protest gegen die in der Frage des Frauenwahlrechts wenig entgegenkommende Politik der Regierung Asquith - trug langfristig erheblich dazu bei, dass die demokratischen Feministinnen ihrem großen Ziel der politischen und gesellschaftlichen Gleichberechtigung näher 172 Barker, 173 174

Vgl. zum »sex war«: Kent, Sex, 157—83, 197-205; Morgan, Suffragists, 151-62, sowie Ideas, 118-22. Vgl. Pugh, Reform, 17-21; Harrison, Spheres, 35f. Vgl. Harrison, Spheres, 27-77; Barker, Ideas, 122-26.

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kamen.175 Die Forderung nach dem gleichen Wahlrecht hatte für die Frauenbewegung eine überragende politische und symbolische Bedeutung. Die Dynamik der Wahlrechtsforderungen lag darin, dass sie die herrschende männliche Ideologie der »seperate spheres«, der tradierten Geschlechterordnung, in Frage stellte. Gleichzeitig verfolgten die Feministinnen mit dem Wahlrecht ihre Emanzipation als volle Staatsbürgerinnen und damit ihre gleichberechtigte Teilhabe an der britischen Nation. Der Krieg schuf auch für die Frauenbewegung eine neue Situation. Unmittelbar nach Kriegsausbruch suspendierten die Feministinnen ihre Wahlrechtskampagne und stellten ihre Organisation in den Dienst des Nationalstaates. Fawcett konzentrierte die Aktivitäten ihres Verbandes im wesentlichen auf karitative und logistische Aufgaben, um sich nicht dem Vorwurf aussetzen zu müssen, als Deutschlands heimliche Verbündete der kämpfenden Nation in den Rücken zu fallen. Besonders tat sich die NUWSS bei der Ausrüstung und Belegung von Feldlazaretten hervor. Emmeline Pankhurst reagierte auch auf den Kriegsausbruch mit der gewohnten Exzentrik. Die WSPU startete nicht nur eine »women's right to serve« Kampagne, sondern ihre Vorsitzende überholte die Frauenbewegung gleich zu Beginn von rechts, warb für Rekruten, die Einführung der Wehrpflicht und agitierte gegen vorgebliche Verräter und Deutschlandfreunde in den Reihen der britischen Nation.176 Beide Flügel der britischen Frauenbewegung erkannten, dass nur ihr Bekenntnis zum Nationalstaat und die Leistung für ihn eine partielle Umdefinition der bestehenden Geschlcchterrollen erlaubte und ihnen in einem Kontext, der sich nicht länger als subversiv bezeichnen ließ, neue gesellschaftliche Partizipationsmöglichkeiten erschloss. Da in einem totalen Krieg nicht auf die Hälfte der Bevölkerung und die effiziente Organisation der Heimatfront verzichtet werden konnte, bot ihre Arbeit den Frauen die Chance, sich als Staatsbürgerinnen und als gleichberechtigte Mitglieder der kämpfenden Nation zu bewähren. So bestand die begründete Hoffnung, nach dem Ende des Krieges gewissermaßen als staatliche Anerkennung und Gegenleistung Konzessionen in der Wahl rechts frage zu erreichen. Das Bekenntnis zur Nation bzw. die Leistung für den kämpfenden Nationalstaat und die daraus resultierende lagerübergreifende Anerkennung ihrer Aktivitäten enthielten mehr politische Durchsetzungsmacht, als die abstrakte Forderung der Frauenbewegung nach Gleichheit der Menschenrechte sie je besessen hatte. Der Krieg änderte zwar keinesfalls die Vorurteile über die »richtige« Ordnung der Geschlechter, versetzte aber die Antifeministen in die politische, ideologische und semantische Defensive. Denn die Frauen erwiesen 175 Vgl. Holton. Feminism, 76-115; Kent, Sex, 206-13; Pugh, Reform, 22-28. 176 Vgl. die Anerkennung Pankhursts in der MP, 18.8.1916, 3; ΤΙ, 2.10.1916, sowie insges. Kent, Peace, 31-39, 74-80; Pugh, Women, 7-10; Holton, Feminism, 130-33; Alberti, Suffrage, 38f.

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sich zu Dingen fähig, die ihren körperlichen und geistigen Horizont angeblich weit überstiegen. Die große Medienaufmerksamkeit für die vermeintlich neue Rolle der Frau in der Arbeitswelt und in der Gesellschaft verstärkte diese Tendenz. Denn die allgegenwärtigen, oft übertriebenen und eher der Unterhaltung dienenden Berichte der Presse über die immer neuen Verwendungsmöglichkeiten der Frauen an der Heimatfront nahmen zunehmend den Charakter einer »self-fulfilling-prophecy« an. Im Jahre 1916 überboten sich die Anhänger wie die Gegner der Frauenbewegung in der Anerkennung weiblicher Leistungen für die Nation. Nachdem man die »nationale« Leistung der Frauen unablässig gepriesen hatte, erlaubten es die geltenden öffentlichen Regeln bald nicht mehr, diejenigen zu diffamieren, die ihren angestammten häuslichen Bereich im Interesse der Landesverteidigung verlassen hatten. Allein die Tatsache, dass die Antifeministen auf die in ihren Augen »natürliche« Geschlechterordnung immer wieder hinweisen mussten, relativierte ihre Glaubwürdigkeit. Auf die politische und semantische Defensive der Antifeministen verwies die »Nation« genüsslich anlässlich eines wütenden Leserbriefes von Mrs. Humphry Ward, einer der Vorsitzenden der Ν LOWS, an die »Times«: »The ›Times‹ cut down to a few lines a long letter of despairing protest from Mrs. Humphry Ward, who once could make unlimited use of its space«.177 Die Auswirkungen des Krieges hatten die Frage des Frauenwahlrcchts 1914 suspendiert, setzten sie aber 1916 wieder auf die politische Tagesordnung. Eine neue Wahlrechtsperspektive für die Frauen eröffnete sich zunächst nicht aufgrund ihrer Arbeit an der Heimatfront, sondern wegen der Notwendigkeit, die Grundlagen des Männerwahlrechts zu überdenken und zu erweitern. Wie selbst Millicent Fawcett einräumte, war es nicht die Agitation ihrer Bewegung, sondern das Bestreben der Regierung, eine Wahlrechtsänderung zugunsten der Soldaten herbeizuführen, das zu einem Wiederaufleben der Debatte führte. Paradoxerweise begünstigte gerade das Ende der militanten Wahlrechtskampagne und die im Vergleich zur Vorkriegszeit bis 1916 beinahe ruhende politische Arbeit der Frauenbewegung mittelfristig die Durchsetzung ihrer Ansprüche.178 Erst als sich die öffentliche Debatte von der Frage des Wahlrechts

177 NA, 22.12.1917,399. Entsprechend TI.14.1.1918, 11. Vgl. zu den seltenen Rückfällen auf das Niveau der Herrenwitze MP, 1.2.1917, 6, sowie insges. Braybon, Women, 154-72; 1 larrison, Spheres, 202-05; Haslam, Suffrage, 170. 178 Selbst der liberale »Daily Chronicle«, 20.6.1917,2, befand rückblickend: »Some measure of it [Women's Suffrage - SOM] would almost certainly have become law ere now but for the antagonism aroused at Westminster and in the country by the methods of the Pankhurst agitation«. Vgl. Harrison, Spheres, 207; Kent, Peace, 83. Sandra Holton, Feminism, 116-30, erachtet dagegen die auch im Krieg in Teilen aufrecht erhaltene politische Agitation der Frauenbewegung bei der Vergabe des Wahlrechts für wesentlich. Aufgrund geheimer Verhandlungen mit Lloyd George vom Juli 1914, die auf eine umfassende Wahlrechtsnovelle für alle Erwachsenen hinausgelaufen seien, habe der Krieg die Einführung des Frauenwahlrechts eher verzögert.

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für Soldaten zu einer umfassenden Wahlrechtsnovelle weitete, trat die Frauenbewegung auf den Plan. Im Mai 1916 schrieb Fawcett an Asquith, dass im Falle einer grundlegenden Wahlrechtsreform das Frauenwahlrecht nicht länger hinausgezögert werden könne. Gleichzeitig wurden die Befürworter des Frauenwahlrechts in der Regierung aktiv. In seinem Wahlrechtsmemorandum vom 12. Mai schlug Arthur Henderson, wenn auch erst unter Punkt acht, die Einführung des Frauenwahlrechts vor: »In any discussion of electoral reform it is impossible to avoid the problem ofwomen suffrage. There is little doubt that there has been on this subject a very great change in public opinion in the last two years, and I think it should be possible to consider the matter afresh, unprejudiced by previous controversies«.179 In dieser in Bewegung geratenen politischen Konstellation konnte die Berufung der Anhänger des Frauenwahlrechts auf die egalitäre Leistung der Frauen für den kämpfenden Nationalstaat eine bemerkenswerte Durchschlagskraft entwickeln: Wer im gemeinsamen Kampf für die Nation seine Pflicht erfülle, solle das Wahlrecht erhalten. Im »Manchester Guardian« führte Fawcett aus, dass, wenn man das Prinzip der »nationalen« Leistung als Qualifikationskriterium der Wahlrechtsreform zugrunde legte, Frauen nicht vom Wahlrecht ausgeschlossen werden könnten. Die Verleihung des Wahlrechts symbolisiere die Anerkennung der Frau als Staatsbürgerin und Britin. Seine Verweigerung stehe für die unenglische Mentalität der deutschen und englischen Preußen: »If it where proposed to alter the whole basis of the franchise and to make war service in itself a qualification, then you would undoubtedly claim a similar privilege for women. [...] Women's suffrage [...] implies the recognition of the value and the place of the women in war as in peace utterly alien to the whole mentality of Prussianism; it may be alien also to that of our own Prussians -[...] but it is in strict accord with the conception of freedom [...] for which we are fighting«.180 Die Wahlrechtskampagne avancierte in der Perspektive dieser nationalen Vorstellung zu einem integralen Bestandteil der laufenden militärischen Offensive. Die Frauenbewegung und die Linksparteien forderten das Fraucnwahlrecht nicht als Belohnung, wohl aber als Anerkennung der Arbeit der Frau im Krieg und als Bestätigung ihrer vollen Staatsbürgerschaft. Außerdem sei das Wahlrecht zum politischen Schutz der Frauen für die mit dem Friedensschluss einsetzende gesellschaftliche Neugestaltung unbedingt notwendig. »In mere decency«, schrieb der »Herald«, »it would be found impossible to enfranchise 179 PRO CAB 37/147/31 (12.5.1916). In der »Times«, 24.5.1916,9, hatte Fawcett geschrieben: »I ventured to urge the Prime Minister when the franchise question was thus reopened to take opportunity of securing by an agreed clause the removal of the electoral disabilities of women«. Vgl. ON, 3.8.1916, sowie Pugh, Reform, 62f, 140-42; Alberti, Suffrage, 62f; Haslam, Suffrage, 165f. 180 ΜG 7.8.1916, 4. Vgl. NA, 13.2.1915,611; ΝΑ, 27.5.1916, 247.

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the manhood of the nation without the womenhood. [...] In peace we were told, that women must not vote because they could not fight, in war, we are assured [...] that their war service is as valuable as men's. [...] Without the efforts of the millions of women in industry we should have been beaten in this war before we had begun it«.181 Die liberalen Zeitungen und die Labour-Presse gründeten ihre Forderung nach politischer Gleichberechtigung der Frauen nicht nur auf ihre Kriegsanstrengungen, sondern auch auf ihr Recht als Mensch und Staatsbürgerin. Der »Labour Leader« meinte sogar: »We [...] would not advance women's work during the war as a reason for giving them the vote. We base the demands on more substantial grounds of justice and right«.182 Gerechtigkeit und Gleichheit bildeten auch in dieser Debatte die Kernelemcntc linker Nationsvorstellungen. Der »Herald« entwarf das Modell einer auf Gleichheit und Gerechtigkeit beruhenden nationalen Gemeinschaft der Geschlechter: »Women are equally necessary for the well-being of the nation and should be considered as an integral part of the community and receive equal treatment with men in the matter of citizenship«. Der Wille der »people« als höchste Legitimationsinstanz verlange nun endlich den Abbau der staatlichen politischen Diskriminierung und die Erfüllung nationaler Gleichheit: »The will of the people, that ultimate court of appeal in all democratically governed countries, will no longer tolerate the perpetuation of the old injustice. [...] The men who left all to die for their country and the women who left all to tend them in dying are seen, at last, to be equal«.183 Und die »Nation« brachte ihre Wahlrcchtsforderung auf die Formel: »Women belong to the nation as much as men«.184 Der Forderung nach gleichen Rechten für gleiche Pflichten war in einem totalen Krieg in einer parlamentarischen Demokratie kaum zu widersprechen. Das galt im wörtlichen Sinn. Die Regeln des öffentlichen Diskurses zwangen die Öffentlichkeit und die Regierung zu semantischen und schließlich politischen Konzessionen in der Wahl rechts frage. Die glaubhafte Inanspruchnahme der Nation durch die Frauenbewegung ließ den Kampf gegen das Frauenwahlrecht zunehmend als unpatriotisch erscheinen. Taktische Motive spielten ebenfalls eine große Rolle. Daraus auf ein kausales und direktes Verhältnis von Kriegsdienst und Erweiterung von Staatsbürgerrechten zu schließen, ginge zu weit. Doch eröffnete das aktive Bekenntnis zum Nationalstaat den Befürwortern der Partizipationserweiterung einen zusätzlichen Handlungsspielraum, den es den Gegnern der Demokratisierung gleichzeitig verschloss. 181 HE, 27.11.1915, 9. »Where, indeed, is the anti-suffrage case? It is in ruins. The physical force argument has broken down in the hour when it seemed to be carrying all before it«, NA, 26.2.1916, 754. Vgl. I IE, 26.8.1916, 9; MG 14.8.1916. 4, sowie Haslam. Suffrage, 170. 182 LL, 19.10.1916, 2. Vgl. ΝΑ, 27.5.1916, 247. 183 HE, 10.6.1916,2; 16.9.1916,4. 184 ΝΑ, 13.2.1915,611.

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Die öffentlich bekundete Anerkennung der Frauenarbeit im Krieg entzog den Gegnern des Frauenwahlrechts sukzessive die Lcgitimationsgrundlagc, um die Exklusion der auf politische Teilhabe drängenden Frauen aufrechtzuerhalten. Die Vergabe der politischen Rechte vollzog sich in gewisser Hinsicht als nachholende Entwicklung des nationalistischen Einheits- und Leistungsdiskurses. Außerdem erlaubte es die zur selbstlosen Arbeit für die Nation stilisierte Frauenarbeit, namhaften Politikern, Verlegern und Journalisten, die vor dem Krieg dem Frauenwahlrecht ablehnend gegenübergestanden hatten, den geordneten Rückzug anzutreten, ohne ihr Gesicht zu verlieren. Das prominenteste Beispiel war Asquith. Aus Taktik und Überzeugung heraus erklärte er bereits am Beginn der Beratungen über ein neues Register am 14. August 1916 im Unterhaus, dass die aufopferungsvolle Arbeit der Frauen für den Staat als kriegsrelevante Leistung anerkannt werden müsse. Vergebe man auf dieser Grundlage das Wahlrecht, ließe sich der Forderung der Frauen auf Anerkennung ihrer vollen Staatsbürgerschaft einfach nicht mehr widersprechen: »They [die Vertreterinnen der Frauenbewegung - SOM] presented to me [...] an unanswerable case. [...] If we are going to bring in a new class of electors, on whatever ground of State service, they point out - and we cannot possibly deny their claim - that during this War the women of this country have rendered as effective service in the prosecution of the War as any other class of the community. It is true they cannot fight, in the gross material sense [...], but they fill our munition factories, they are doing the work which the men who are fighting had to perform before«.185 Außer Asquith' Konzessionen war vor allem die öffentliche Neubewertung der Frauenrolle durch einige konservative Zeitungsherausgeber wie Lord Northcliffe (»Times«, »Daily Mail«) und James Garvin (»Observer«) von Bedeutung. Garvin erklärte zum Erstaunen vieler Beobachter offen, dass der Krieg auch in der Frauenfrage in seinen Augen eine Umwertung der Werte gebracht habe. Vermeintlich feststehende Grenzen des Geschlechtes und der Politik seien überwunden. Allein eine umfassende Demokratie könne fortab die Legitimationsgrundlage der Nation bilden. »In the past we have opposed the claim on one ground, and on one ground only - namely, that women, by the fact of their sex, were debarred from bearing a share in national defence. We were wrong. [... ] The time has come to give a new meaning to Democracy; to make it a real thing, the true voice of the nation, and not of a part, more or less arbitrarily and often foolish selected«.186 Feststehende Kriterien für den Ausschluss aus der Nation auf der Grundlage von Klasse oder Geschlecht ließen sich in einer par185 HoC V/ Bd. 85, 1451f. (14.8.1916) (meine Herv.). Vgl. Harrison, Spheres, 204-09; Wilson, War. 726. 186 OB, 13.8.1916, 6. Vgl. Pugh, Reform, 144f.

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lamcntarischen Demokratie im 20. Jahrhundert, die noch dazu im Krieg stand, immer schwerer mit Aussicht auf Erfolg rechtfertigen. Da in der Frage des Männerwahlrechts im Parlament keine Einigung erzielt werden konnte, übertrug man diese Aufgabe einer Allparteicnkonferenz, die von Oktober 1916 an Reformvorschläge erarbeitete. Die sog. »Speaker's Conference« erreichte - wie gezeigt - einen weitreichenden Kompromiss, der auf die Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts hinauslief In Anbetracht einer derart umfassenden Neuregelung ließ sich das Problem des Frauenwahlrechts nicht einfach ausklammern. Um aber das Ereichte nicht zu gefährden, beschlossen die Teilnehmer mit 15 zu 6 Stimmen auch das Prinzip des Frauenwahlrechts innerhalb gewisser Grenzen in ihre Empfehlungen aufzunehmen. Diejenigen Frauen sollten das Unterhauswahlrecht erhalten, die bereits über das Kommunalwahlrecht verfügten bzw. als Hausbesitzer registriert oder mit einem solchen verheiratet waren. Aus Angst davor, dass Frauen in Zukunft das Elektorat dominieren könnten, schlug man dem Gesetzgeber eine Altersbeschränkung in Höhe von 30 oder 35 Jahren vor. Dieser Plan war zwar unlogisch und enthielt ausgerechnet der Mehrheit der Munitionsarbeiterinnen das Wahlrecht vor, deren »nationale« Leistung doch in aller Munde war, entsprach in seinem Kompromisscharakter aber den parlamentarischen Traditionen Großbritanniens.187 Da die Empfehlung der »Speakers Conference« das Frauenwahlrecht im Prinzip anerkannte, wirkte Fawcett auf die Frauenbewegung ein, das Kompromisspapier zu akzeptieren, um nicht das Erreichte durch weitere Forderung zu gefährden. Von der Anbindung des Frauenwahlrechts an die allgemeinen Wahlreform versprach man sich zu Recht den Durchbruch.188 Sei das Frauenwahlrecht erst einmal eingeführt, so die Überlegung, falle innerhalb weniger Jahre auch die Alterbeschränkung für Frauen. Im Flintergrund wirkend suchte die NUWSS lediglich das Alterslimit zu senken.189 Auf der anderen Seite des politischen Spektrums empfahlen auch führende Konservative dem Kabinett die Annahme des Kompromisses, um ihre eigenen Interessen gewahrt zu sehen. Walter Long hielt in einem Memorandum fest: »Mrs. Fawcett [...] told me that [...] she and those whom she represented would be prepared to accept the recommendation in regard to Women's Sufrrage as a reasonable compromise. [...] I cannot help thinking that they ought to be 187 Vgl. die Reformvorschläge in TI, 31.1.1917, 10, sowie Pugh, Reform, 76-84; tiers., Women, 35f; Holton, Feminism, 148f. 188 Diesen Nexus monierten dann auch später Vertreter der ΝLOWS wie Arnold Ward. »By placing women's suffrage in this Bill you link up the fate of that proposal indissolubly with the fate of many other proposals which it is quite clear that the majority of the I louse desire«. HoC V/ Bd. 93, 2425 (23.5.1917). Vgl. ebd., 2172f. 189 Vgl. zu einer Abordnung der NUWSS an Lloyd George, DC, 30.3.1917, 3. sowie DN, 31.1.1917, 4, und insges. Haslam, Suffrage, 171-76; Holton, Feminism, 146-50. Diese Strategie erwies sich langfristig als richtig. 1928 stellte man das Frauenwahlrecht dem Männcrwahlrccht gleich.

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similarly accepted by those, who, like myself, are strongly opposed to Women's Suffrage, and I believe from all I have heard, that the sense of Parliament and of the country would be in this direction«.190 Damit alle Manner und besonders die Soldaten, wie es die Konservativen stets gefordert hatten, das Wahlrecht erhielten, erklärte selbst der politische Rechtsaußen Leo Maxe öffentlich: »As a lifelong opponent of women's suffrage [I] would far sooner see the women voting than the fighting man disfranchised«.191 Auch in der Frage des Frauenwahlrechts sollten die Konservativen in ihren Handlungsmöglichkeiten von ihrer eigenen nationalistischen Rhetorik eingeschränkt werden. Im Frühjahr 1917 trat der jahrzehntelange Kampf um das Frauenwahlrecht in seine letzte Phase ein. Die Kommentatoren von Links und Rechts verwiesen auf die angespannte innen- und außenpolitische Lage, namentlich auf die Russische Revolution, und forderten oder verdammten die Wahlrechtsreform, je nach der eingenommenen Perspektive.192 Da die Regierung größere Probleme zu lösen hatte, entschloss sie sich, die Empfehlungen der »Speaker's Conference« in einen Gesetzesentwurf zu überführen. Auch die Furcht vor einem erneuten Wiederaufflammen der militanten Frauenagitation der Vorkriegszeit, die Angst vor einem »sex war« während des großen Krieges, bestimmte den Verlauf der Verhandlungen über die Wahlrechtsreform.193 Alle internen Konflikte, bereits auf der Vorstellungsebene mit den Schrecken des Krieges konnotiert, meinten die Verantwortlichen vermeiden zu müssen. Ungeachtet aller gegenläufigen Erfahrungen blieb auch am Ende des dritten Kriegsjahres die Hoffnung auf eine Einheit der Nation erhalten. Die Frage des Fraucnwahlrcchts schien somit in direktem Zusammenhang mit den übrigen Problemen des totalen Krieges zu stehen. Zu Beginn der Aussprache am 28. März stellte Premierminister Lloyd George fest: »That is why the women's question has become very largely a war question«.194 Sein Vorgänger Asquith vollendete seine öffentliche Konvertierung in der Frage des Frauenwahlrcchts, indem er noch einmal auf den am meisten beachteten Aspekt dieser Kriegsfrage hinwies. Die Frauen hätten, so Asquith ganz im Sinne des liberalen Nations- und Gesellschaftsmodells, sich selber durch ihre 190 PRO CAB 24/6/1 ( = GT. 173) (13.2.1917). 191 TI, 2.10.1916, 5. 192 »With the Russian Revolution and the American declaration of war the struggle has become a struggle between these two forces: [... | Whether military absolutism or democratic freedom shall emerge from this war. [...] One such test (...) has come this week over women's suffrage«, OB, 24.6.1917, 6. Großbritanniens Politik werde in den Augen der Neutralen »by two things above all (...) be judged (...) - our treatment of Ireland and our treatment of women«, MG, 26.1.1917, 6. 193 »A failure to do it now, will mean that all our politics will be confused for the next five years by a distracting agitation«, NA, 27.5.1916, 246. Vgl. HoCV/Bd. 92,470 (28.3.1917); DΤ, 8.1.1918, 6, sowie Kent, Peace, 83-95; Pugh, Reform, 89f 194 MoC V/ Bd. 92, 493 (28.3.1917). »The war is the parent of this great reform«, urteilte rückblickend der MG, 11.1.1918,4.

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Arbeit befreit: »My eyes, which for years in this matter have been clouded by fallacies [...] at last have been opened to the truth. [...] My opposition to woman suffrage has always been based, and based solely, on considerations of public expediency. I think that some years ago I ventured to use the expression, ›Let the women work out their own salvations Well, Sir, they have worked it out during the War«.195 Die Befürworter des Frauenwahlrechts in der Liberalen Partei, bei Labour und in Teilen der Konservativen unterstrichen, dass der Widerstand gegen das Frauenwahlrecht deshalb weitgehend überwunden sei, weil in einem totalen Krieg der Unterschied zwischen Kombattanten und Zivilisten, mithin zwischen vollberechtigten Mitgliedern der Nation und Minderprivilegierten, nicht länger zu halten sei. Dieser Krieg habe die letzten Zweifel beseitigt, dass ohne die Frauen die Nation auch militärisch hilflos sei. »The experience of the war«, meinte die »Daily News«, »has removed the only intelligible objection that has ever been raised to woman suffrage - the objection that women have no party in the primary duty of national defence«.196 Ramsay MacDonald erklärte gegen rechtskonservative Vorstellungen der Kriegführung, dass die Epoche von Waterloo der Vergangenheit angehöre: »What is happening to-day is that the whole of the nations of Europe engaged in this War - men, women, and children; factory, workshop, and Army«.197 Aus dieser gemeinsamen Leistung im Krieg leitete die Linke die Hoffnung ab, die Gleichheit aller Männer und Frauen im Kampf in eine egalitäre Friedensordnung zu überführen. Die Arbeit für die Nation habe auch die Frauen rechtlich gleich gemacht und antiquierte Geschlechtergrenzen überwunden. »The sex barrier so long maintained should at length be broken down and the great army of women who have so mightily helped us to win the war should find a place by the side of the men who have fought in the field in that other great army of peace on which the future destiny of their country will depend«.198 Aus der Perspektive einer Reihe konservativer Nationalisten konnte dagegen von einer wie immer gearteten Gleichheit im Krieg keine Rede sein. Verstärkte und prägte der Nationalismus der Liberalen und der Arbeiterbewegung ihre Vorstellungen von einer egalitären und reformfähigen Gesellschaftsordnung, erschien den rechtskonservativen Gegnern des Frauenwahlrechts aus der Sicht ihres Nationalismus, dass der Krieg die ohnehin feststehende Geschlechterund Nationsgrenze zusätzlich zementiert habe. Die Arbeit der Frauen in der Heimat sei zwar durchaus anerkennenswert, aber könne man deshalb auf die absurde Idee verfallen, ihnen dafür das Wahlrecht zu geben? »Nothing can be 195 HoC V/ Bd. 92, 469 (28.3.1917). Vgl. ebd., 518, sowie PRO CAB 24/31/473 ( = GT. 2599) (13.11.1917). 196 I)N, 29.3.1917, 2. Vgl. TL 1.2.1917, 7; NS, 23.6.1917, 268; HoC V/ Bd. 93. 2352 (23.5.1917). 197 HoC V/ Bd. 94, 1694 (19.6.1917). Vgl. HoC V/ Bd. 92, 528 (28.3.1917). 198 MG, 29.3.1917, 4. Vgl. P N , 29.3.1917, 2; MG, 11.1.1918,4.

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more illogical than to claim that because women can serve the state nobly and effectively in their own way, therefore they have the right to govern it«.199 Vor allem aber entzöge sich die Leistung der Frau an der Heimatfront einem Vergleich mit dem Kampf der Männer an der Front. »The whole case against women's suffrage [...] is not weakened but radically consolidated by the demonstration of the War«. Der Versuch, das Frauenwahlrecht jetzt einzuführen, so Arnold Ward weiter, sei »un-English«, da er die einzig gültige Unterscheidung für die Staatsbürgerschaft und für den Zugang zur Nation ignoriere: »The essential distinction - the question of bearing arms or not bearing arms«.200 Die Gegner des Frauenwahlrechts begründeten ihre Haltung mit ihrer männliche Kampfesideale enthaltenden Nationsvorstellung. Die zum Kampf im eigentlichen Sinne von Natur aus unfähige Frau - das »non-combatant sex«201 - schloss dieser Nationalismus von der gleichberechtigten Teilhabe an der britischen Nation aus. »Woman is not and never can be - it is an unalterable law of nature - a complete unit of responsibility in the national life. You cannot separate the life of the nation from the capacity to fight for it«.202 Und gegen Naturgesetze richte auch die nationale Leistung nichts aus. Die einzig wahre Zugangsberechtigung zur vollen britischen Staatsbürgerschaft bleibe der militärische Einsatz. Daher habe sich die Frau, zur Emanzipation mit der Waffe nun einmal unfähig, im Krieg wie im Frieden dem Manne unterzuordnen. »In all the operations connected with the War the work of men has been decisive and the work of women has been auxiliary. [...] The position of women in politics ought to continue to be an auxiliary one [...] and that the men, who decided the issue during the War, should continue to be the masters in time of peace«.203 Wenn diese selbstreferentielle Logik der »natürlichen« Nations- und Geschlechterordnung nicht unmittelbar einleuchte, könne man zu ihrer Begründung, räumte der Abgeordnete Alexander M. Scott bezeichnenderweise ein, nichts weiter sagen: »If it is not self-evident, I am afraid there is no more to be said«.204 Im Streit um das Fraucnwahlrecht und die Geschlechterrollen ging es letztlich um die Frage nach der »richtigen« Ordnung der britischen Nation. Die rechtskonservativen Gegner des Frauenwahlrechts formulierten ihre im Krieg zusätzlich verstärkten Ängste vor einem Auseinanderfallen der bestehenden Gesellschaftsordnung im Rahmen der Auseinandersetzung über die politische Rolle der Frau. Den Kampf gegen das Fraucnwahlrecht führten sie auch deshalb auf verlorenem Posten unnachgiebig fort, um sich dem weiteren Verfall 199 TI, 22.5.1916, 5. Vgl. HoC V/ Bd. 92, 525 (28.3.1917); NR 69 (1917), 387. 200 HoC V/ Bd. 94, 1741, 1739f. (19.6.1917). Vgl. die Erklärung Oxforder Professoren in der TI, 28.2.1917, 3.

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TI, 23.6.1917, 4. HoC V/ Bd. 94, 1669 (19.6.1917). Vgl. HoC V/ Bd. 93, 2388 (23.5.1917); MP, 2.4.1917, 6. HoC V/ Bd. 92. 497f. (28.3.1917). HoC V/ Bd. 94, 1688(19.6.1917).

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ihres bedrohten Wertekanons entgegenzustemmen. Die Reformkräfte glaubten dagegen an eine Stabilisierung des politischen Systems durch die kontrollierte und begrenzte Aufnahme Partizipationswilliger in die politische Verantwortung. Die Inklusion verhindere die Revolution. »For myself«, warnte Lord Robert Cecil im Unterhaus, »being [...] a genuine Conservative, a genuine believer that rapid and violent change is dangerous - also a genuine believer that resistance to all change is perhaps even more dangerous«.205 Für die Gegner der Reform aber kam das Frauenwahlrecht einer Revolution gleich. »That will be the greatest revolution which has ever happened in any country of the world. [...] No nation has ever been ruled by a majority ofwomen«.206Aus der Perspektive ihres feindfixierten Nationalismus schien es den Reformgegnern, dass die Frauen nicht einfach als gleichberechtigt in die Nation aufgenommen, sondern diese in Zukunft beherrschen würden. »What does it mean? The greatest revolution of all time, by the handing over of the government of this country by men to a majority of women«.207 Gleichzeitig wies man darauf hin, dass mit der Geschlechterordnung der Bestand des Empires in Frage gestellt würde. Wieder erschien das Frauenwahlrccht nur als ein Mittel, die (Männer)herrschaft über Nation und Reich zu beseitigen. »The feminist movement [...] if successful in breaking down the vital sex barrier to women's suffrage, will constitute a far greater danger to the British Empire of the future«.208 Von da war es für die Rechtskonservativen nur noch ein kleiner Schritt, ihre Ablehnung des Frauenwahlrechts mit ihrer Feindschaft gegen die übrigen Bedrohungen des Empires zu verschmelzen. Die Frauenbewegung und deren Anhänger erschienen so als Gehilfen des Kaisers. »Sir John Simon and Mr. Ramsay MacDonald [...] hope for a new electorate which will seek to conciliate Germany. [...] It gives reason to think, when the most ardent supporters of female suffrage are found to be those most in favour of a foreign and a military [...] policy of weakness and surrender«.209 Auch für die radikale Rechte stellte die Frauenfrage eine über Sieg oder Niederlage entscheidende Kriegsfrage dar. Mit der erstaunlichen Mehrheit von 387 zu 57 Stimmen passierte Absatz vier des »Representation of the People Bill« am 19. Juni 1917 das Unterhaus. Damit erhielten, zum ersten Mal in einem großen europäischen Land, 8,5 Millionen Frauen, die älter als 30 Jahre waren das Wahlrecht. Vor dem Votum dieser Frau205 Ebd., 1737. Vgl. Turner, Politics, 120; Harrison, Spheres, 207. 206 HoC V/ Bd. 92. 526 (28.3.1917). Vgl. MP, 31.3.1917, 7. 207 MP, 26.5.1917, 7. Vgl. HoC V/ Bd. 93, 2 1 « ) (22.5.1917); TI, 28.2.1917, 3; NR 70 (1918), 156. 208 DM, 23.1.1917, 4. Vgl. HoC V/ Bd. 94, 1645 (19.6.1917). Gelegentlich erinnerte man die Gegner des Frauenwahlrechts daran, dass mit der Ausübung des Wahlrechts nicht die Übertragung der Regicrungsgcwalt verbunden war. »May I point out«, mahnte Lord Hugh Cecil, »that the voters do not control the Government of India? They only choose between two candidates«, HoC V/ Bd. 94, 1659(19.6.1917). 209 MP, 21.6.1917, 6. Vgl. MP, 26.5.1917, 7, sowie Kent, Peace, 87.

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en fürchtete sich auch die überwiegende Mehrheit der Konservativen weniger als vor dem der Arbeiterklasse. Dennoch hätte eine reine Wahlrechtsnovelle zugunsten der Frauen ohne die Anbindung an eine allgemeine Wahlrechtsreform kein vergleichbares Ergebnis erzielt.210 Linke und liberale Zeitungen feierten die Einführung des Frauenwahlrechts als ein epochales Ereignis. »Never in our history has a social revolution come about so easily and quietly as the concession of woman suffrage«, hieß es in der »Nation«.211 Und der »Herald« begrüßte die Reform als Schritt zur vollständigen Befreiung der »people«: »All the disasters of these times serve to increase both the triumph of the Suffrage cause [...] and our joy at this great step forward in the liberation of the people«.212 Doch vor das Inkrafttreten der Wahlrechtsnovelle hatte die britische Verfassung das Votum des Oberhauses gesetzt. Die Aristokraten hatten in den letzten Friedensjahren regelmäßig Reformvorstöße der Unterhausmehrheit blockiert. Auch im Oberhaus warnten viele Lords vor der »greatest revolution that has ever occured in this or any other country«.213 Unterstützt von einer Kampagne der ΝLOWS und der rechtskonservativen Presse war angesichts der vermeint­ lichen Revolution nun noch einmal in aller Deutlichkeit vom exklusiv männlichen Charakter des Staates und der Nation die Rede. »We need the masculine sense of the nation[...] . Men have the right to rule what they defend, and it is the meanest of mean devices to filch this right away from our manhood when it has gone out to battle«.214 Die Befürworter der Reformvorlage, wie der ins Oberhaus berufene Viscount Haidane, betonten dagegen erneut, dass nur die politische Inklusion der breiten Bevölkerung den Bestand des Regierungssystems und des britischen Nationalstaates sichere: »Unless the whole nation is represented there would be a lack of that stability which is essential if we are to be free from the danger of such revolutionary movements as we see in countries where government is less organised«.215 Der Ausgang der Abstimmung schien offen, als gegen Ende der Debatte der Earl of Curzon, den die NLOWS zu ihren langjährigen Verbündeten zählte, in die Diskussion eingriff In einer rhetorisch äußerst geschickten Rede zeigte er viel Verständnis für die Vorbehalte der Gegner des Frauenwahlrechts, kam aber zu dem Ergebnis, dass das Oberhaus nicht verantworten könne, sich mitten im Krieg einer so breiten Reformmehrheit im Unterhaus zu widersetzen. Mit 134 zu 71 Stimmen nahmen die Lords das Frauenwahlrecht am 10. Januar 1918 an. Die ΝLOWS-Vorsitzende Humphrey Ward beschwerte sich später in einem Gespräch mit Milllicent 210 211 212 213 214 215

Vgl. Pugh, Reform, 148-54. NA, 23.6.1917, 289. I IE, 23.6.1917, 2. Vgl. MG, 21.6.1917, 4; NS, 19.1.1918, 368. HoL V/ Bd. 27, 490 (10.1.1918). MP. 8.1.1918, 6; MP, 2.1.1918, 6. HoL W Bd. 27, 429 (9.1.1918). Vgl. DT, 8.1.1918. 6.

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Fawcctt bitterlich über Curzons illoyalen Auftritt; worauf diese entgegnet haben soll: »That's what comes of trusting to your men friends«.216 In der parlamentarischen Demokratie Großbritanniens war die Exklusion der Frauen aus der Nation und ihr Ausschluss vom Wahlrecht weit schwerer zu legitimieren als im Deutschen Kaiserreich. Die Berufung auf eine gleichmachende Leistung der Frauen im Krieg durch die Anhänger des Frauenwahlrechts stellte eine dynamische nationalistische Vorstellung dar, die ihnen politische Handlungsspielräume eröffnete, die sie ihren Gegnern gleichzeitig verschloss. Die Dialektik nationalistischer Inklusion und Exklusion verstärkte Grenzen ebenso, wie sie bestehende Schranken -wie im Falle des Frauenwahlrechts - überwandt. In Anbetracht der neuen Politisierung der Kriegsgesellschaft stand der Nationalismus in einem latenten Spannungsverhältnis zur Ideologie der »seperate spheres«. Wie die konservativen Gegner der Reform sich auch bemühten, es gelang ihnen immer weniger, »natürliche« Grenzen für die Geschlechterordnung glaubhaft zu bestimmen. Die emotionale Schärfe der Auseinandersetzung erklärt sich daraus, dass die Debatte über das Frauenwahlrecht gleichzeitig ein Kampf um die »richtige« Ordnung der britischen Nation war. Umgekehrt bildete die allseitige Berufung auf die Nation die geschlechterpolitische Konfliktlage ab. Dennoch gilt auch für den Verlauf dieser Kontroverse, dass der gesellschaftspolitische Rahmen für den erfolgreichen Ausgang der britischen Wahlrechtsreform ausschlaggebend war. Vor der Annahme eines direkten kausalen Zusammenhangs zwischen Krieg und Wahlrechtsreform muss nachdrücklich gewarnt werden. Anders ist das unterschiedliche Ergebnis des Wahlrechtskampfcs in Deutschland, bei sehr ähnlichen Kriegsproblemen und nationalistischen Argumentationsmustern kaum zu erklären. Der ungleiche Ausgang derselben politischen Herausforderung wird allein vor dem Hintergrund eines etablierten parlamentarischen Systems, der Reformbereitschaft der regierenden Eliten und auch der im europäischen Vergleich ungewöhnlich starken und erfolgreichen Frauenbewegung in Großbritannien verständlich. Entscheidend für die Einführung des Frauenwahlrechts war aber offenbar die gelungene Anbindung dieser Reform an die allgemeine Wahlrechtsnovelle. Denn allen Männern das Wahlrecht zu geben, blieb das beherrschende Ziel der Reformkräfte. In Preußen-Deutschland scheiterten die Frauen wegen der misslungenen Reform des Männerwahlrechts, in Großbritannien beruhte ihr Erfolg auf seiner allgemeiner Einführung.

216 Vgl. HoL V/Bd. 27, 5(18-24 (10.1.1918); Harrison, Spheres, 216-24 (Zit. 221).

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3. Die Partizipationsverheißung des Nationalismus Die »Ur-Katastrophe« (G.F. Kennan) des 20. Jahrhunderts förderte die Demokratisierung der britischen, aber auch der deutschen Kriegsgesellschaft. Der ungeahnten Ausweitung staatlicher Intervention und Kontrolle entsprach die Entschiedenheit, mit der die Bevölkerung ihre staatsbürgerlichen Rechte verlangte. Der Forderung nach gleichen Rechten für gleiche Pflichten war in einem totalen Krieg kaum öffentlich zu begegnen. Allein die Erfüllung der Partizipationsforderungen vor allem der organisierten Arbeiterschaft versprach, ihre innere Bereitschaft zu stärken, den jeweiligen Nationalstaat als ihren Staat zu akzeptieren, und bildete damit eine notwendige Bedingung der Kriegführung. Die Wahlrechtsfrage war damit bis 1917 für die Regierungen in London und Berlin und für alle politischen Lager zu einer Kriegsfrage geworden. Im vierten Kriegsjahr verschmolzen in der Auseinandersetzung um die Wahlrechtsreform die Kriegsziel-, die Minderheiten- und die Frauenfrage, die Probleme der äußeren und der inneren Neuordnung. Da der Krieg auch ehemals politikferne Bereiche zum Gegenstand heftiger öffentlicher Auseinandersetzungen machte, war die zusätzliche Verschärfung des Wahlrechtsstreites als Folge eines gestiegenen Problembewusstseins und gewachsener Ansprüche unvermeidlich. Die fundamentale Belastung und zunehmende Erosion der deutschen wie der britischen Kriegsgesellschaft verursachten eine politische Legitimationskrise neuen Typs und begünstigten die Erfolgsaussichten derjenigen, welche die gesellschaftliche Ordnung auf eine demokratische Legitimationsbasis zu stellen beanspruchten. Der öffentliche Bezug auf die »Nation« schuf diese Legitimationsbasis. Die Berufung auf Nation und Volk strukturierte die Auseinandersetzung und rechtfertigte die Ansprüche oppositioneller Gruppen. Nicht nur, aber vor allem mit dem Appell an die Souveränität, die Egalität und die Einheit von Nation und Volk ließen sich im Ersten Weltkrieg politische Rechte legitimieren. Bereits aus der Vorstellung von nationaler Einheit folgte für alle Mitglieder der Nation folgerichtig der Anspruch auf politische Partizipation und kollektive Solidarität. Seit seiner Entstehung hatte derjanuskopfdes Nationalismus seine Werbekraft im wesentlichen durch die Berufung auf das »Volk« als alleinigem Träger der Souveränität einerseits und durch die kompromisslose Ausgrenzung und Aggression gegen tatsächliche oder vermeintliche Feinde der Nation andererseits bezogen. Die durch nationalistische Weltbilder im Krieg herbeigeführte Exklusion von Fremdgruppen begünstigte im dialektischen Umkehrschluss die Inklusion derjenigen, die sich zur eigenen Nation bekannten. Die exklusive Dimension nationalistischer Inklusion, die Notwendigkeit, die Nation durch ausschließende Grenzziehungen zu konstatieren, bedingte nicht nur die Verstärkung, sondern ebenso auch die Überwindung bestehender Grenzen. In 349 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1

England entzog die öffentlich bekundete Anerkennung der Frauenarbeit im Krieg den Gegnern des Frauenwahlrechts sukzessive die Legitimationsgrundlage, um die Exklusion der auf politische Teilhabe drängenden Frauen aufrechtzuerhalten. Die mit Hilfe des Nationalismus vorgenommene Zuweisung von politischer Zugehörigkeit und politischem Ausschluss verdeutlichte die enge Verknüpfung zwischen Wahlrecht und Nationalismus. Die Art und Weise, wie die politischen Akteure das Wahlrecht begründeten, bestimmte immer auch die Form der eigenen Nation. Die Vergabe der politischen Rechte vollzog sich als eine Folge des nationalistischen Einheits- und Leistungsdiskurses. Die Berufung auf eine auch politisch gleichmachende Leistung für die Nation und den Nationalstaat prägte den Gang der Wahlrechtsdebatten. Die Kriegsleistungen führten die Reformkräfte als Beleg für die erwiesene Mündigkeit des Volkes an. Wer die Nation mobilisiere, so die Denkfigur der Reformanhänger, politisiere sie auch. In Deutschland werteten die Vertreter der SPD, die das allgemeine Wahlrecht vor dem Krieg stets als ein Naturrecht gefordert hatten, geschickt das ursprünglich konservativ-liberale Argument in ihrem Sinne um, nach dem vor allem die Leistung für die Nation politische Rechte verbürge. Das Problem war daher, wie man die politische Inklusion nicht Wahlberechtigter begrenzen könne, wenn man die Bedeutung ihrer Leistung für Staat und Nation im Krieg hervorhob. Auch die Regierungseliten konnten sich der Werbekraft dieser nationalistischen Denkfigur nicht ganz entziehen. Selbst in Deutschland unterlief das Kriterium der militärischen Leistung die verbreitete Nationsvorstellung von einer unveränderbaren deutschen Abstammungsgemeinschaft. In Großbritannien erbrachte das konservative Bekenntnis zum politisch mündigen Soldaten ein für die Rechte unerwartetes Ergebnis. Brite und damit wahlberechtigt war man im Vorstcllungshorizont des konservativen Nationalismus vor allem durch seine militärische Leistung im Krieg. Diejenigen aber, die so entschieden für die Wehrpflicht und damit letztlich für eine Militarisierung der britischen Zivilgesellschaft eingetreten waren, sahen sich nach der Erfüllung ihrer Forderung mit einer ironischen Konsequenz konfrontiert. Die Konservative Partei hatte, ihrer eigenen nationalistischen Rhetorik folgend, sogar die Partizipationserweiterung des »besten« Teils der Nation zu fordern. Der Vorstoß, den Soldaten für ihre militärische Leistung das Wahlrecht zu übertragen, entwickelte sich zu einem Musterbeispiel für die Eigendynamik und für die nichtintendierten Folgen nationalistischer Argumentationsmuster. Doch die Berufung auf die Leistung für die kriegführende Nation hatte wie alles dialektisch funktionierende nationalistische Denken auch eine exklusive Dimension. Aus der Verknüpfung von militärischer Leistung und Wahlrecht folgte im Urteil der Konservativen in Deutschland und in Großbritannien, dass den zum vollgültigen Militärdienst an der Front unfähigen Frauen auch die Eignung zur vollen politischen Gleichberechtigung fehlte. Die eigene Nation 350 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1

als männlich-kriegerisch zu begreifen hieß nicht nur, die Soldaten ein- und die Frauen aus ihr auszuschließen, sondern verstärkte auch die Angst vor dem fremden Weiblichen in den eigenen Reihen. In Deutschland setzte die Rechte zudem den ideologischen Kampf gegen den äußeren Feind und sein undeutsches Regierungssystem in der innenpolitischen Abwehr gegen die Demokratisierung Preußens fort. So machte das dichotome Denken der Konservativen die äußere ideologische und die innere parlamentarische Bedrohung zu einem untrennbaren Junktim. Unter dieser Belastung sollte auch noch die Weimarer Republik leiden. Die allseitige Berufung auf die Nation erreichte vieles, fand aber in den jeweiligen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ihre Wirkungsgrenzen. Das Scheitern der preußischen Wahlrechtsreform veranschaulicht auch die Einflussgrenzen innovativer Sprachhandlungen. Ein direkter kausaler Zusammenhang zwischen dem Krieg, der Verbreitung nationalistischer Denk- und Legitimationsformeln und der Wahlrechtsreform besteht daher nicht. Anders ist das unterschiedliche Ergebnis der Wahlrechtskämpfe in beiden Kriegsgesellschaften bei überaus ähnlichen Problemen und nationalistischen Deutungen und Argumenten kaum zu erklären. Der ungleiche Ausgang derselben politischen Herausforderung wird allein vordem Hintergrund unterschiedlich etablierter parlamentarischer Systeme, durch die reaktionäre Zusammensetzung des preußischen Abgeordnetenhauses und vor allem durch die prinzipielle Reformfeindschaft der alten Eliten im Kaiserreich verständlich. In Deutschland hielt man die Exklusion breiter Bevölkerungsschichten für den Bestand des politischen Systems für notwendig - in Großbritannien war es umgekehrt. Am Ende des Krieges kontrastierte ein erheblicher Legitimationszuwachs des parlamentarischen Systems in Großbritannien mit der weitreichenden Delegitimation der politischen Ordnung des Deutschen Kaiserreiches.

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V Nationalismus in der deutschen und britischen Kriegsgesellschaft. Bilanz und Folgen

»Why do the nations so furiously rage together, and why do the people imagine a vain thing?« Georg F. Händel, »Messiah«

Das Reden über die Nation war im Ersten Weltkrieg allgegenwärtig. Wohin man auch blickt, kaum ein Bereich des öffentlichen Lebens in Deutschland und in Großbritannien wurde von nationalistischen Deutungs- und Argumentationsmustern nicht erfasst. Der totale Krieg begünstigte die Aneignung der Binnenwelt und der Umwelt mit Hilfe der dichotomen Kategorie der Nation, so dass alles eine »nationale« Frage werden konnte. Tendenziell jede Art von Politik musste im Krieg in der Sprache des Nationalen formuliert werden, um als tatsächliche oder vermeintliche Überlebensfrage Geltung beanspruchen zu können. Der Krieg war mithin Ursprung und Ziel der nationalistischen Sprache. Er überlagerte in der Perspektive der Zeitgenossen alles politische Reden und Handeln, indem er Wahrnehmungen und Sprachhandlungen bis in die Einzelheiten der Wortwahl hinein strukturierte. Der allseitige Bezug auf die Nation im Krieg kann daher als überwölbendes politisches und kultuerelles Weltbild verstanden werden, das die Ordnung der so ineinandergreifenden und verbundenen einzelnen Diskurse strukturierte. Anders gewendet: Die Nationsvorstellung verband alle durch die Bedingungen des totalen Krieges verursachten oder verschärften politischen Problcmfelder miteinander. Zur Erforschung nationalistischer Deutungs- und Argumentationsmuster hat sich die Untersuchung auf einen systematischen Vergleich zentraler innenpolitischer Brennpunkte in der deutschen und der englischen Kriegsgesellschaft konzentriert. Dabei wurde ein neuer Erklärungsansatz gewählt. Er deutet Nationalismus nicht, wie es die zahllosen »Bindestrichnationalismen« suggerieren, als ein substantielles Phänomen, dem - zumal unter den Bedingungen des Ersten Weltkrieges - pejorative Eigenschaften fest zugeschrieben werden können. Statt dessen interessierte Nationalismus, verstanden als das auf die Kategorie der Nation bezogene Reden und Handeln, als semantische Form und politisches Konstrukt. So rückten der konstruktive Aspekt des Nationalismus und die Vieldeutigkeit dessen, was die konkurrierenden politischen Akteure von rechts bis links unter »ihrer« Nation verstanden, in den Mittelpunkt 353 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1

der Analyse. Regierungen und Parteien entwarfen ihre eigenen Vorstellungen der deutschen und britischen Nation - abhängig von ihren spezifischen Wertvorstellungen und den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des Weltkrieges. Die Denkfigur der Nation als Form lenkt den Blick auf die inhaltliche Offenheit des Nationalismus und die Gleichzeitigkeit der unterschiedlichsten und widersprüchlichsten Weltbilder. Vor allem kam es darauf an zu zeigen, dass jede Nation erst durch Grenzziehungen konstituiert wird, die durch eine dichotomische Unterscheidung der Umwelt Herrschaftsverhältnisse formulieren und legitimieren. Doch wo die Trennlinien zwischen dem Inneren und dem Äußeren der Nation genau gezogen werden sollten, blieb unbestimmt und von den jeweiligen politisch Handelnden und dem gesellschaftlichen Kontext abhängig. Die Grenzen der Nation variierten abhängig von Akteur, Ort und Zeit; sie veranschaulichen daher, dass die Nation und ihre Feinde nicht abschließend bestimmt, sondern in einem politischen und kulturellen Prozess immer wieder neu ausgehandelt werden mussten. Nationalismus wurde hier als ursächlich politisches Phänomen verstanden, weil sich durch die Berufung auf die Nation - und unter den Bedingungen des Ersten Weltkrieges zunehmend nur noch auf diese Weise - Herrschaftsverhältnisse und gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen neu regeln und rechtfertigen ließen. Die Leitfrage lautete, wie die konkurrierenden politischen Akteure mit Hilfe »ihrer« Nationalismen Interessen zu legitimieren trachteten und welche Vorstellungen und Handlungsspielräumc dieses Weltbild eröffnete oder verschloss. Das Reden von der Nation im Ersten Weltkrieg kann daher als ein Verfahren beschrieber werden, das durch die Übertragung des totalen militärischen Antagonismus aui die Zivilgesellschaft eine verglichen mit der Friedenszeit noch bedrohlichere außen- und innenpolitische Umwelt nach scharfen, aber veränderbaren Grenzen konstruierte. Der Vergleich von Deutschland und Großbritannien hat vor allem für dit Gemeinsamkeiten den Blick geschärft. Den durch die Auswirkungen des Krieges bedingten ähnlichen Problemen entsprachen die Deutungen der Natior und die Formen nationalistischer Konfliktaustragung in beiden Kriegsgesell schaften. Ohne die signifikanten Unterschiede zu verkennen, soll zunächs noch einmal auf diese strukturellen Ähnlichkeiten verwiesen werden: 1. Die Berufung auf die Nation füllte ein Legitimationsvakuum. In beider Ländern verursachten die furchtbaren menschlichen, sozialen und ökonomischen Kosten des totalen Krieges eine politische Legitimationskrise von nie da gewesener Reichweite. Die Regierungen und alle politischen Lager waren wegen der Belastungen des Krieges und der notwendigen Umorganisation dei Gesellschaft nach dem Kriterium der militärischen Effizienz gezwungen, ihre Herrschaftsansprüchc auf eine breitere Legitimationsbasis zu stellen. Die Er fordernisse der industrialisierten Kriegführung erzwangen den militärischer und den kriegswirtschaftlichen Einsatz tendenziell der Gesamtbevölkerung si‹ 354 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1

hatten damit auch zur Folge, dass sämtliches politisches Reden und Handeln sich an einem wie auch immer definierten Gemeinwohl zu orientieren hatte. Diese Legitimationsbasis versprach die »Nation« zu bilden. Und je furchtbarer die Kriegskosten wurden, desto nachdrücklicher hielten alle politischen Lager - oft wider besserer Erfahrung - an »ihren« Nationsvorstellungen fest. Denn die Berufung auf die Nation verlieh dem Massensterben einen Sinn und suggerierte gleichzeitig, der Ausdruck des Mehrheitswillens der Bevölkerung zu sein, mithin jenseits politischer Einzelinteressen zu liegen. Die Nationalismen legitimierten auf diese Weise das politische Handeln und die Interessen der Regierungen und Parteien; gleichzeitig aktivierten sie weitgespannte Hoffnungen und Erwartungen. Der instrumentale Charakter und der sinnstiftende Charakter nationalistischer Deutungen widersprachen sich nicht, sondern ergänzten sich. Weil die politisch Handelnden um die Instrumentalisierbarkeit ihrer Nationsvorstellungen wussten und sich die Umwelt durch nationalistisches Denken und Reden aneigneten, nahmen sie diese bald nicht anders als eine »national« bereits gegebene wahr. Die Offenheit der nationalen Rhetorik, der sich die politischen Akteure bewusst und unbewusst bedienten, erlaubte auch noch gegen Ende des Krieges, dass die verschiedenen Lager ihre unterschiedlichen Wertvorstellungen auf die Nation projizieren konnten und das Prinzip Hoffnung nie ganz verloren ging. 2. Die Nationalisten schufen sich ihre »Nation« immer wieder aufs Neue. Sie wurde das, was die politisch Handelnden aus ihr machten. So bestanden zahlreiche Entwürfe der deutschen und der britischen Nation nebeneinander. Die innenpolitische Situation in Deutschland und in Großbritannien war entsprechend der Pluralität der politischen Landschaft durch die Gleichzeitigkeit unterschiedlichster Nationsvorstellungen gekennzeichnet. Die feinen Unterschiede im Nationalismus von Konservativen, Liberalen, und Arbeitervertretern begünstigten verschiedenartige Wahrnehmungen derselben politischen Situation, weil gleiche Sachverhalte anderen Kontexten zugeordnet wurden. Dass sich genau deshalb die Verheißungen der Nation nur schwer erfüllten, weil sie sich oft gegenseitig ausschlossen, bemerkte man im allgemeinen nicht. Gerade im Ersten Weltkrieg stellte der Nationalismus kein rein konservatives Verfahren dar, das herrschende Eliten zur Verteidigung ihrer Ansprüche erfolgreich besetzt hatten. Zwar fiel es den regierenden Eliten leichter, ihre Politik als im »nationalen Interesse« liegend darzustellen, als oppositionellen Gruppen, weil sie über bessere Zugangsmöglichkeiten zur Öffentlichkeit verfügten und größeren Einfluss auf den Sprachstil hatten. Doch auch die Ansprüche Minderprivilegierter auf gleichberechtigte politische Partizipation ließen sich durch die Berufung auf die Nation rechtfertigen. Eine trennscharfe und endgültige Definition der Nation scheiterte schon daran, dass der politische Gegner in der Lage war, seinen Gegenentwurf, abhängig von der politischen Situation, erfolgversprechend vorzubringen. Wer sich nationalistischer Argumente im politi355 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1

schen Diskurs bediente, hatte sich zudem oft den nicht intendierten Folgen seiner Sprachhandlungen zu stellen, wenn der politische Gegner die Kategorie der Nation mit eigenem Inhalt füllte. Weder in der deutschen noch in der britischen Öffentlichkeit wurde über die Verbindlichkeit von Legitimationsideologien durch irgendeine Instanz abschließend entschieden, sondern nur in der Konkurrenz der Interessengruppen untereinander. 3. Der Nationalismus polarisierte. Die historische Forschung hat lange vernachlässigt, dass nationalistische Unterscheidungen nicht nur Einheit schaffen. Nationale Einheit schafft auch Zwietracht. Denn auf die Frage nach den Kräften, welche die Kriegsgesellschaft zusammenhielten, liefert gerade der Nationalismus keine eindeutige Antwort. Nationalistische Deutungs- und Argumentationsmustcr fungierten nicht nur als kulturelle Bindemittel, die den militärischen, sozialen und ökonomischen Belastungen des totalen Krieges entgegengestanden hätten. Zwar erzeugten die Nationsvorstellungen einerseits als Kommunikationsform bei den Beteiligten durch eine standardisierte Sprache und die Präferenz bestimmter Themen ein gemeinsames Problembewusstsein. Andererseits aber war bereits der Akt der Konstituierung der Nation durch Grenzziehungen der Spaltung der Nation förderlich. Nationalistische Grenzziehungen waren nur durch die Bezeichnung von Unterschieden möglich, die weder wertneutral sein noch unwidersprochen bleiben konnten. Auf diese Weise verschärften die mit Hilfe der Nationalismen formulierten unterschiedlichen Positionen bestehende politische, soziale und kulturelle Konfliktfelder. In Deutschland und in Großbritannien vollzog sich die Auseinandersetzung über die Reichweite der gesellschaftlichen Mobilisierung für den totalen Krieg durch die wechselseitige Berufung auf die Nation. Die Tatsache, dass die Regierungen, dass alle politischen Lager, Parteien und Interessengruppen einen Exklusivanspruch auf »ihren« Nationsentwurf erhoben, trug zu der fundamentalen Politisierung der ohnehin angespannten Lage bei. Das polarisierte den Machtkampf zusätzlich, führte zu einem tiefen Antagonismus der politischen Lager und letztlich zur Reproduktion der militärischen Frontstellung in der deutschen und britischen Innenpolitik. Die nationale Sprache selber, das verdeutlichen etwa der Streit um die Arbeitsniederlegungen und die Wahlrechtskämpfe, verschränkte auf einer semantischen Ebene die innenpolitische Auseinandersetzung mit dem militärischen Konflikt. Für einen legitimen Interessenausgleich blieb wenig Raum. Feinde waren auch darum Feinde, weil beide dieselbe nationale Sprache redeten. 4. Die enormen Belastungen des Ersten Weltkrieges führten zu einer doppelten Transformation nationalistischer Vorstellungen: Der Krieg vertiefte nationalistisch begründete Grenzen, machte sie aber gleichzeitig durchlässiger. Auf der einen Seite kennzeichnete vor dem Hintergrund des totalen Krieges eine extreme Feindfixierung und eine Biologisierungder Nationsvorstellungen die politischen Diskurse. Je nach dem politischen Standpunkt und der militäri356 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1

sehen und ökonomischen Lage war der Feind beinahe beliebig zu bestimmen und in allen Bereichen der innen- und außenpolitischen Umwelt auszumachen. Die politischen Akteure in Deutschland und in Großbritannien bedurften dieser nationalistischen Negativfolie um so mehr, je länger die furchtbare Belastungsprobe des »Großen Krieges« bestand. Nur mit Hilfe nationalistisch legitimierter, motivierter und formulierter Ausgrenzungen glaubte man, den Bestand der eigenen Gesellschaftsordnung und Wertvorstellungcn sichern zu können. Eine wesentliche Kricgsfolge stellte die schleichende Ethnisierung der Nationsvorstellungen in Großbritannien und die offene in Deutschland dar. Rassismus und Antisemitismus bestanden und entfalteten sich allein in einer von nationalistischen Kategorien geprägten Umwelt. Das bipolare öffentliche Reden und der Homogenitätsdruck des totalen Krieges begünstigten die Verbreitung biologistischer und rassistischer Nationalismen. Auf diese Weise ließ sich der Überlegenheitsanspruch gegenüber Minderheiten und dem Kriegsgegner quasi wissenschaftlich begründen, auch wenn die Zuschreibung »rassischer Minderwertigkeit« nicht nur Polen, Iren und Juden, sondern ebenso Sozialisten und Regierungsmitglieder treffen konnte. Die wechselseitige - besonders aber durch die neue und die alte Rechte vollzogene - rassistische Diffamierung jedweder innenpolitischer Gegner verdeutlicht, in welchem Ausmaß die politischen Akteure ihre bedrohliche Umwelt selber konstruierten. Auf der anderen Seite zog die Forderung nach der Einheit der Nation nicht nur eine verschärfte Ausgrenzung und eine geringe Toleranz für politisch abweichendes Verhalten nach sich, sondern auch einen formellen Partizipationsgewinn für Minderprivilegierte. Die durch nationalistische Weltbilder im Krieg herbeigeführte Exklusion von Fremdgruppen begünstigte im dialektischen Umkehrschluss die Inklusion derjenigen, die sich zur eigenen Nation bekannten. Die exklusive Dimension nationalistischer Inklusion, die Notwendigkeit, die Nation durch eine ausschließende Grenzziehung zu konstatieren, bedingte nicht nur die Verstärkung, sondern ebenso auch die Überwindung bestehender Grenzen. Zwar fällt die Bilanz der politischen Inklusion partizipationswilliger Gruppen weit günstiger für Großbritannien als für Deutschland aus, wo die regierenden Eliten den Ansprüchen ihrer Bevölkerung ungleich ablehnender gegenüberstanden. Doch mit dem Bezug auf den »Volkswillen« als entscheidende Legitimationsinstanz und mit der Idee der egalisierenden Leistung aller für die kämpfende Nation bot sich oppositionellen Gruppen in beiden Ländern die Chance, ihre politischen Ansprüche durchzusetzen. Die Repräsentanten der Arbeiter- und der Frauenbewegung und Teile der Liberalen argumentierten, dass die Legitimation moderner Gesellschaften sich nicht lediglich auf die Eliten und die Monarchie, sondern in erster Linie auf das »Volk« gründen müsse. Diese partizipationsverheißende Instrumentalisierung ihres Nationalismus durch die Linke stellte eine fast konkurrenzlose Innovation dar. Der faszinierenden Vorstellung von der im und durch den Kampf 357 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1

gleichen »Volksgemeinschaft« hatte die Rechte für die Dauer des Krieges weder ideologisch noch semantisch etwas gleichwertiges entgegenzusetzen. Unter dem Eindruck eines totalen Krieges konnten gerade Massenbewegungen glaubhaft beanspruchen, die »Nation« zu repräsentieren. Die vorliegende Untersuchung hat die traditionelle Vorstellung eines deutschen Sonderweges vor allem aus methodischen Erwägungen heraus kritisiert und auf der empirischen Ebene die Bedeutung der Gemeinsamkeiten hervorgehoben. Dennoch bestätigen viele Ergebnisse des Vergleichs die Geltung spezifischer preußisch-deutscher Sonderbedingungen. Dieser Befund gilt nicht nur für die mangelnde Anpassungsfähigkeit, die schärfere politische Exklusion Minderprivilegierter und die relative Reformfeindschaft im Deutschen Kaiserreich, sondern zumal für die Nationsvorstellungen in Deutschland und Großbritannien. Hinsichtlich der Erscheinungsformen und der politischen und kulturellen Reichweite nationalistischer Deutungen und Argumente bestanden wichtige strukturelle Unterschiede in beiden Kriegsgesellschaften: 1. Der Kriegsverlauf spiegelte sich in verschiedenen Formen nationalistischer Konfliktaustragung wider. Während in Deutschland die seit 1916/17 dramatisch verschlechterte ökonomische und militärische Lage ihre Entsprechung in verschärften innenpolitischen Auseinandersetzungen fand, die mit Hilfe wechselseitiger nationalistischer Verratszuschreibungen geführt wurden, erlebte Großbritannien eine ähnliche, aber doch längst nicht so fundamentale Polarisierung. Dafür waren nicht allein die günstigeren militärischen, ökonomischen und sozialen Bedingungen verantwortlich, die den britischen Regierungseliten einen größeren Handlungsspielraum ließen. Auch die liberalen politischen Traditionen in England und die relativ größere Toleranz für abweichendes Verhalten erklären diesen Umstand nicht hinreichend. Vielmehr verstärkte, dem Kriegsverlauf entsprechend, die nationalistische Ausgrenzungsstrategie selbst die Delegitimation des politischen Systems in Deutschland. Je aussichtsloser die militärische und ökonomische Situation für das Kaiserreich wurde, desto bedrohlicher erschien die nationalistisch wahrgenommene Umwelt von Feinden und desto größer wurde die Desillusionierung im Hinblick auf die Einheits- und Glücksverheißung, die man 1914 mit dem Appell auf die Nation verbunden hatte. Die nationalistische Feindbestimmung in Deutschland entwickelte sich proportional zum militärisch-politischen Niedergang und fixierte in wechselseitiger Schuldzuschreibung die tatsächlichen oder vermeintlichen Verantwortlichen der Misere in den eigenen Reihen. 2. Die unterschiedliche Reichweite nationalistischer Ausgrenzung war zu einem wesentlichen Teil auf die verschiedenartigen politischen Strukturen in Deutschland und in Großbritannien zurückzuführen. Feststehende Kriterien für den Ausschluss aus der »Nation« auf der Grundlage von Klasse oder Geschlecht ließen sich in der parlamentarischen Demokratie Großbritanniens, die noch dazu im Krieg stand, viel schwerer mit Aussicht auf Erfolg rechtfertigen. 358 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1

Parlamentarische Systeme begünstigen generell die politische Inklusion partizipationswilliger (Gruppen, schon weil Wahlen über die Erhaltung der Regierungsmacht entscheiden und daher die Beschaffung von Mehrheiten das oberste Prinzip bildet. Die Verfahrensweisen der etablierten parlamentarischen Demokratie in Großbritannien erhöhten den Legitimationsdruck auf die Verantwortlichen, hinter der Regierungspolitik eine politische Mehrheit der sich ihrerseits mit Nachdruck als souveräne »Nation« begreifenden Regierten zu demonstrieren. Besonders deutlich wurde das in der Bewertung der nationalen Inklusion durch die britischen Regierungseliten im Zuge der Wahlrechtsdebatten. Die Koalitionsregierung und mit ihr die Mehrheit der Konservativen Partei glaubte im Gegensatz zur eigenen unnachgiebigen Minderheit und den preußischen Konservativen, dass nicht die Exklusion, sondern nur die Inklusion von neuen Wählern, diese in die Verantwortung nehme und mithin das politische System hinreichend legitimiere und stabilisiere. 3. Die Expansionspolitik des kaiserlichen Deutschlands begünstigte die fortschreitende Ethnisierung der Nationsvorstellungen in Deutschland. In dem Maße, in dem aus der Konkursmasse des Russischen Reiches weite Gebiete in Osteuropa in deutsche Hände fielen und eine gezielte Besiedlungs- und Vertreibungspolitik von der Regierung, aber auch von weiten Teilen der bürgerlichen Öffentlichkeit propagiert wurde, verbreitete sich im politischen Diskurs die Forderung, dieses Land »frei von Menschen« zu annektieren. Der Furchi vor einer Zunahme »fremdrassiger« Minderheiten suchte man zunehmend durch die Stilisierung des deutschen Volkes zu einer homogenen ethnischer Abstammungsgemeinschaft zu begegnen. So ließ sich die behauptete Überlegenheit gegenüber Polen und Osteuropäern auf eine »natürliche« und »wissenschaftliche« Grundlage stellen. Augenscheinlich hatte sich der Angriffskrieg al; Mittel zur gewaltsamen Gründung eines homogenen alldeutschen Großreiches auf Kosten einer »minderwertigen« Bevölkerung in Osteuropa bewähr und bildete fortab nicht nur im Vorstellungshorizont der radikalen Nationalisten eine feste Größe. In England unterblieb dagegen eine expansive Kriegszielpolitik in Europ; daher fehlten auch ihre Rückwirkungen auf das eigene Nationsverständnis Ungeachtet der Bedeutung ethnischer Abgrenzung verfielen nicht einmal di( unnachgiebigsten Unionisten auf den Plan, Irland einer völkischen Austauschsiedlung zu unterwerfen. Die semantische Ähnlichkeit ethnischer Ausgrenzung in beiden Kriegsgesellschaften erklärt daher, von den spezifischen gesell schaftlichen Konstellationen losgelöst, wenig. Während eine Mehrheit dei politischen Akteure in Deutschland den eigenen Übcrlegenheitsanspruch au eine exklusive Nationsvorstellung gründete, verstärkte die britische Kriegsziel politik im Zuge der Debatte um das Selbstbcstimmungsrecht der Völker di‹ Werbewirksamkeit der offeneren Nationskonzepte in England. In Großbritan nien gelang es Linken und Liberalen, die Propagandaformel vom Selbstbestim 359 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1

mungsrecht der »kleinen Nationen« in eine Waffe des Verhandlungsfriedens und der »Volkssouveränität« umzuschmieden. 4. Der Ausgang des Ersten Weltkrieges hatte weitreichende Folgen für das Nationsverständnis in Großbritannien und in Deutschland. Gewann das politische System Großbritanniens durch den militärischen Sieg kräftig an Legitimation und erfuhr im großen und ganzen die Bestätigung seiner Weltbilder, blieb die Weimarer Republik mit dem Makel der Niederlage behaftet. Der Verlust des Krieges verursachte in Deutschland einen schwerwiegenden Bruch mit den vorherrschenden politischen Argumenten und Ordnungsvorstellungen. Der Untergang des Kaiserreiches bedeutete auch das Ende zahlreicher etablierter rechter und linker Nationsentwürfe. Die Suche nach dem verlorenen Reich und das Bedürfnis, die Niederlage zu erklären, brachten antisemitische, antisozialistische und antiliberale Nationsvorstellungen in ungekanntem Ausmaß hervor. Gleichzeitig begünstigte die Delegitimation der besiegten staatlichen Ordnung die Aufwertung des »deutschen Volkes« im politischen Diskurs der Weimarer Republik, weil allein die Abstammungsgemeinschaft noch Kontinuität zu verkörpern versprach. Das Großbritannien der 1920er Jahre und weit mehr noch die Weimarer Republik stellten im umfassenden Sinne des Wortes Nachkriegsgesellschaften dar. Beide Gesellschaften wurden nicht nur von ungeheuren wirtschaftlichen, sozialen und politischen Problemen belastet, die sowohl beim Übergang von der Kriegs- auf die Friedensproduktion als auch als Kosten des Ersten Weltkriegs anfielen. Ebenso schwer wog, dass die politischen Konflikte des Krieges - in Deutschland durch den staatlichen Zusammenbruch entscheidend verschärft - in die Friedenszeit verlängert wurden. Die sich als Ergebnis des militärischen Konfliktes vollziehende Totalisierung nationalistischer Feindschaft nach innen und die Polarisierung der »Heimatfront« hatten zur Folge, dass eine Revolution und danach ein schleichender Bürgerkrieg in Deutschland, ein nachhaltiger Spannungszustand in Großbritannien aus dem Ersten Weltkrieg hervorgingen. Ein innenpolitisches Erbe des Großen Krieges war mithin ein neuer Politikstil: Die Verabsolutierung des Freund-Feind-Gegcnsatzes und die Austragung politischer Konflikte als Kampf gegen einen gefährlichen Gegner prägten das politischen Leben in beiden Gesellschaften. Der mit Hilfe widerstreitender Nationalismen geführte innenpolitische Krieg endete 1918 keineswegs.1 Besonders die Weimarer Republik erlebte die Fortsetzung des Weltkrieges mit anderen Mitteln. Im Deutschland der 1920er Jahre waren die zentralen gesellschaftlichen Probleme Folgen des Krieges und wurden mit den Erfahrungen des Krieges und in der Sprache des Nationalen beurteilt. Der totale Krieg mit seinen furchtbaren Kosten prägte die Innenpolitik der jungen Demokratie 1 Vgl. (Geyer, (Gcwalt, 256f; Bessel, Kriegscrfahrungen, 125-39; Leonhard, Nationalkricg, 236-40: Chickcrmg, (Germaany, 202 f., und insges. Wirsching, Weltkiieg, bes. 611-22.

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in der Weise, dass alle zivilen Auseinandersetzungen eine »nationale« und mithin eine existenzielle und unbedingte Loyalität beanspruchende Angelegenheit werden konnten. Gerade in der Weimarer Republik ordneten die politischen Akteure aller Richtungen wie nie zuvor ihre veränderte Umwelt mit Hilfe nationalistischen Denkens und Redens. In diesem Sinne war Weimar eine wahrhaft »nationale« Gesellschaft. Alle Rechtsparteien hafteten sich bezeichnenderweise nun das Etikett »Volkspartei« an. Und die konservativen Gegner der endgültig zur staatstragenden Partei gewordenen Sozialdemokratie spotteten: »An Nationalismus lässt sich, Gott sei Dank, kein Deutscher mehr vom anderen übertreffen«.2 Doch vollzogen sich im Gegensatz zur Friedensperiode des wilhelminischen Reiches die politischen Auseinandersetzungen immer seltener innerhalb eines loyal akzeptierten Verfassungsrahmens, sondern wie im Ersten Weltkrieg zwischen rivalisierenden nationalistischen Legitimitätsansprüchen. Sozialdemokraten, Liberale, Konservative, Nationalsozialisten und selbst Kommunisten beriefen sich auf ihre spezifische Nationsvorstellung als höchste Legitimationsinstanz. Den zentralen semantischen Bezugswert bildete gleichwohl nicht die »Nation«, sondern vor dem Hintergrund der nachhaltig geschwächten staatlichen Ordnung, aber auch der kriegsbedingten Aufwertung der breiten Bevölkerung die Kategorien »Volk« und »Volksgemeinschaft«. Ungeachtet der gesellschaftlichen Konflikte, welche die nationalistischen Deutungen im Krieg verstärkt hatten, gab in der Weimarer Republik die »Volksgemeinschaft« - und das nicht nur im Bildungsbürgertum - ein immer wieder aktivierbares Modell einer aus dem Krieg geborenen harmonischen Gesellschaftsordnung ab. In dem Maße, in dem sich die politischen, sozialen und ökonomischen Probleme der Weimarer Republik weiter verschärften und die gesellschaftlichen Spannungen zunahmen, konnte das Ideal der harmonischen »Volksgemeinschaft« um so heller erstrahlen.3 Doch was die konkurrierenden politischen Lager unter »Volk« und »Nation« verstanden und welche Elemente des Ersten Weltkriegs politisch erinnert wurden, differierte in der Weimarer Republik grundlegend. Die neue Rechte stilisierte einen idealisierten Krieg als Vater der aus dem Kampf geborenen »Volksgemeinschaft«. Die »Frontkameradschaft« avancierte zum Leitbild einer militarisierten, antipluralistischen Ordnung, welche die verkommene bürgerliche Gesellschaft ersetzen sollte. In einem Aufsatz über ›»Nationalismus‹ und Nationalismus« - dem falschen und dem wahren - bekannte Ernst Jünger: »Wir aber sind keine Bürger, wir sind Söhne von Kriegen und Bürgerkriegen. [...] Zerstörung ist das Mittel, das dem Nationalismus dem augenblicklichen Zu2 So der Jungkonservative Schotte, zit. n. Rohe, Reichsbanner, 257. Vgl. Schumann, Einheitssehnsucht, 83-105. 3 Vgl. Bessel, Germany, bes. 254-84; Verhey, Spirit, 213-19; Peukcrt, Republik, 214f; Ulrich, Erinnerung, 367-75.

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Stande gegenüber allein angemessen erscheint«.4 In die Beschwörung der rechten »Volksgemeinschaft« mischten sich dabei immer deutlicher Elemente einer biologistischen Konzeption des deutschen Volkes. Im Vorstellungshorizont von Jungkonservativen und Nationalsozialisten mutierte das deutsche Volk zu einer rassistischen, männlichen und Sozialisten, Katholiken und Juden radikal ausschließenden Schützengrabengemeinschaft. Im gleichen Maße aber, wie die neue und die alte Rechte ihre Nationsvorstellungen und ihr Weltkriegserlebnis gegen die bestehende Ordnung ins Feld führten, rief diese Agitation den entschiedenen Widerstand der gegnerischen politischen Lager hervor. Auch in der Sozialdemokratie, bei Linksliberalen und im Zentrum berief man sich auf das deutsche Volk und das Erbe des Krieges hier aber als Wegbereiter der neuen politischen Ordnung. Die Träger der Weimarer Koalition begriffen ihr Bündnis als Fortsetzung der Burgfriedenspolitik zur Verwirklichung eines freiheitlichen-demokratischen Nationskonzeptes. Das deutsche Volk, so lautete die aus den Arbeits- und Wahlrechtskämpfen des Krieges übernommene Denkfigur, sei durch die Erfahrung des gemeinsamen Kampfes reif geworden, sich selber zu regieren und habe sich das Recht auf demokratische Selbstbestimmung und staatsbürgerliche Gleichberechtigung erworben. Sozialdemokratische Politiker und Journalisten betonten unablässig, die »wahren« Sachwalter der deutschen Nation zu sein. Ein Aktivist des sozialdemokratischen Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold hielt fest: »Der langjährige Frontkämpfer [...] ist sofort ein vatcrlandsloser Geselle, sobald er sich im Reichsbanner befindet. Wer aber von den Reichsbannerleuten nationaler ist als die Maulhelden der Rechtsverbände, das bedarf nur einer kurzen Überlegung [...]. Ist der nationaler, welcher sich auf Kosten des deutschen Vaterlandes und des deutschen Volkes bereichert hat, [...] oder der Frontsoldat, der sich heute im Reichsbanner befindet«.5 Das Konzept der aus dem Krieg geborenen und je nach weltanschaulichem Standpunkt als ethnisch homogen oder egalitär definierten »Volksgemeinschaft« verschärfte in der an Konflikten reichen Weimarer Republik die politischen Spannungen. Die »Volksgemeinschaft« gründete sich auf das Herrschaftsprinzip der Trennung, mithin auf ein konflikthaftes Moment, da für die Herstellung der nationalen Einheit die Ausgrenzung der zahllosen Feinde des deutschen Volkes notwendig war. Die Rechte setzte so ihren im Weltkrieg begonnenen Kampf gegen die »undeutschen« Elemente fort, die letztlich nie zur »Volksgemeinschaft« gehört hätten und denen sie den militärischen und politischen Zusammenbruch vom November 1918 anlastete. Im System des Parlamentarismus und in den Trägern der demokratisch-parlamentarischen Ord4 Zit. n. Ulrich/Zicmann, Krieg, 167, 166. Vgl. Vopel, Nationalismus, 161-82; Kühne. Krieg, 176-80; Deist, German, 172, und insges. Bergbahn, Stahlhelm, passim. 5 Ebd., 118. Vgl. v.a. Robe, Reichsbanner, 126-142, 245-59; Verhey, Spirit, 206-13; Η. Mommsen, Republik, 84-86.

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nung erblickte das konservative Lager wie im Weltkrieg einen Angriff der Alliierten auf die deutsche Gemeinschaft. Das Ergebnis war eine nicht endende, hasserfüllte Polemik gegen »Novemberverbrecher«, »Bolschewisten« und Juden, die ihren charakteristischen Ausdruck in der Legende vom »Dolchstoß« antinationaler Kräfte der Heimat in den Rücken des siegreichen Heeres fand. Die Dolchstoßdebatte markierte einen neuen Tiefpunkt in der Diffamierung der politischen Gegner als antinationale Verräter und bildete bis 1933 und darüber hinaus ein attraktives Leitbild für die erstarkenden Feinde der Demokratie. Für die politische Kultur der Weimarer Republik war es jedoch bezeichnend, dass auch im sozialdemokratischen und katholischen Lager der politische Gegner immer wieder als Feind der deutschen Nation denunziert wurde. Auch die Repräsentanten der Weimarer Koalition wussten von Anfang an, wo der Hauptfeind der Deutschen stand, nämlich rechts. Die Absage an legitime Differenzen und die Übertragung der Verratssemantik auf den innenpolitischen Gegner mit Hilfe der Berufung auf »Volk« und »Nation« vergifteten von Beginn an das politische Klima und waren kompromissorientierten Konfliktlösungen wenig förderlich. Denn zur Legitimation der eigenen Position war die Delegitimation der gegnerischen zwingend erforderlich.6 Das extrem destruktive Potential des Weimarer Nationalismus, die ubiquitäre Verratssemantik und die Sprache des bewaffneten Konfliktes begünstigten ein hohes Maß von alltäglicher politischer Gewalt. Die Bereitschaft zur physischen Gewalt gegen innenpolitische Gegner in Anknüpfung an das Kriegserlebnis, die Fememorde und die öffentliche Akzeptanz der Verbrechen bezeichneten den entscheidenden Bruch mit dem Nationalismus der wilhelminischen Gesellschaft, Die neue Rechte und namentlich die faschistischen Kampfbünde setzte in den 1920er Jahren das in die gewalttätige Tat um, was die nationalistischen Honoratiorenverbände des Kaiserreiches noch auf einer semantischen Ebene belassen hatten.7 Von der beschleunigten Destabilisierung der Weimarer Republik profitierte daher vor allem der Nationalsozialismus. Den politischen Einsatz von nationalistisch motivierter und legitimierter Gewalt beherrschte er wie sonst niemand. Der Nationalsozialismus verkörperte die nationalistische Dialektik von Inklusion und Exklusion in schärfster Konsequenz. Der Radikalnationalismus richtete sich gegen Sozialdemokraten und Kommunisten, Liberale und Intellektuelle, Homosexuelle und »Erbkranke« und vor allem gegen Juden und »nichtarische« Minderheiten - und schließlich gegen alle Nachbarvölker der Deutschen. Der Feind der Nationalsozialisten stand praktisch überall und wurde von der Nazielite immer wieder anders be6 Vgl. Sonthcimcr, Denken, bes. 93-186; Faulenbach, Ideologie, 251-58; Miinkler/Storch, Siegfrieden, 86-94; Bessel, Germany, 260-63; Heinemann, Niederlage, passim. 7 Grundlegend: Rcichhardt, Kampfbünde, passim. Vgl. Reichardt, Märtyrer, 173-202; H. Mommsen, Republik, 86-92; Wcisbrod, Gewalt, 391-404; Hagcnlücke, Vaterlandspartei, 410f; IHüppauf.Modernity, 24.

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stimmt. Innenpolitisch wurde die diesem Denksystem innewohnende Feindschaft perpetuiert, außenpolitisch die Keimzelle für den Angriffs- und Vernichtungskrieg gelegt. Am Ende kehrte sich das Destruktionspotential des Nationalismus gegen die deutschen Aggressoren.8 Während in Deutschland die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg ein Opfer des Zweiten wurde, weil die Schrecken des neuen Weltkrieges seinen Vorgänger in den Schatten stellten, blieb der »Great War« auch nach 1945 in der politischen Kultur Englands etwa in Form von öffentlichen Gedenktagen lebendig. Die Nachwirkungen und der politische Stil des »Großen Krieges« prägten ungeachtet eines geringeren gesellschaftlichen Problemdrucks vom Beginn der 1920er Jahre an die politischen Auseinandersetzungen in Großbritannien nachhaltig. Selbstredend waren die Rahmenbedingungen andere: Das Land war als Sieger aus dem Weltkrieg hervorgegangen und hatte weit geringere sozialökonomische Lasten zu bewältigen. Doch auch ohne demütigende Niederlage bestimmten die Folgen des Krieges die britische Innenpolitik. Denn obwohl das dysfunktionalc Potential nationalistischer Argumentationsmuster begrenzt war, blieb die Politisierung der Gesamtbevölkerung in der Nachkriegszeit auf einem außerordentlich hohen Niveau. Die erfolgreiche britische Wahlrechtsreform von 1918, die das Elcktorat auf 21 Millionen verdreifachte, verstärkte diesen Prozess. Auch die Sprache der »nationalen« Mobilisierung kennzeichnete nach wie vor die politischen Auseinandersetzungen. Als Erbe des Ersten Weltkrieges berief sich jedes politische Lager zur Ordnung der Umwelt und zur Legitimation seiner Interessen auf das nationale Gemeinwohl. Der Nationalismus blieb das Medium, mit Hilfe dessen gesellschaftliche Ansprüche formuliert oder zurückgewiesen und die Erinnerungen an den Krieg verarbeitet wurden. Ohne vergleichbare rassistische Implikationen wie in Deutschland vollzog sich auch in Großbritannien als Folge der kriegsbedingten politischen Aufwertung der Gesamtbevölkerung eine schleichende semantische Verschiebung von »nation« und »country« zu »people«.9 Der Kampf um die Durchsetzung politischer Interessen und um die »richtige« Erinnerung an den Ersten Weltkrieg manifestierte sich immer wieder im Streit um Denkmäler und Gedenktage. Mit dem Totengedenken sollte dem massenhaften Sterben an der Front nachträglich Sinn verliehen werden. Doch wie die Anhänger von Unionisten, Liberalen und Labour die öffentliche Erinnerung an den Ersten Weltkrieg zu gestalten suchten, unterschied sich vollkommen und stellte eine Quelle andauernder politischer Konflikte dar. Konservative Politiker und Journalisten beschworen unablässig die »nationale Einheit« der Kriegszeit und erteilten so sozialen Konflikten eine scharfe Absage. 8 Vgl. Wohler. Radikalnationalismus, 203-17; Dülffer, Hitlcr, 96-l 16; Allen, Collapse, 14153; Peukert, Republik, 238t“. 9 Vgl. Weisbrod. Politik, 31-41; Prinz, Weltkrieg.

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Unter dem Eindruck des Generalstreiks von 1926 kontrastierte man am Waffenstillstandstag eine idealisierte Frontgemeinschaft mit dem gegenwärtigen Klassenkampf Streikende wurden von der konservativen Presse als »Bolschewisten« diffamiert und wie im Krieg mit der nationalen Verratssemantik belegt. Vor allem die radikale Rechte betrachtete Arbeitskämpfe als Verrat an den Toten des Weltkrieges und machte für diese vermeintliche Spaltung der britischen Nation die üblichen Verdächtigen der Kriegszeit aus - Deutsche, Juden und Sozialisten. Doch auch die Linke hielt an ihren Feind- und Leitbildern des Weltkrieges fest. Die Arbeiterpresse bestritt nicht die nationale Notwendigkeit, die Toten zu ehren, nur propagierte sie eine andere Vorstellung von britischer Größe. Das fürchterliche Erbe des Krieges verpflichte die Briten, außenpolitisch für den künftigen Frieden der Welt einzutreten. Innenpolitisch komme der Arbeiterklasse, die im Krieg die größten Opfer für die Nation erbracht habe, das Recht auf staatsbürgerliche und auf soziale Gleichheit zu. Die Akteure aller politischen Lager rekrutierten die Toten des Weltkrieges für die politischen Auseinandersetzungen der Nachkriegszeit.10 Im Unterschied zur Weimarer Republik aber blieb der politische Stil des Krieges durch die britische Zivilgesellschaft gebändigt und schlug die Militarisierung der Sprache nur in Ausnahmefällen in Gewalt um. Mit der bezeichnenden Ausnahme in Irland, dass nach 1918 in Bürgerkrieg und Terror versank, behauptete sich der friedfertige Politik- und Lebensstil in Großbritannien. Statt wie weite Teile der alten und neuen Rechten in Deutschland dem Ideal einer soldatischen Männlichkeit zu huldigen, suchte man in England beinahe ausnahmslos das militaristische Erbe des Krieges zu domestizieren. Die 1920er Jahre kennzeichneten hier das Wiedererstarken traditioneller bürgerlicher Werte und einer zivilen Lebenspraxis.11 Die englische Krankenschwester Edith Cavcll war von der deutschen Besatzungsmacht im Oktober 1915 in Brüssel hingerichtet worden, weil sie britischen Soldaten zur Flucht verholfen hatte. Die Empörung in der britischen Öffentlichkeit war groß, demonstrierte doch die Exekution einer Krankenschwester erneut alle menschenverachtenden Eigenschaften des deutschen Feindes. Namentlich im konservativen Lager stilisierte man Edith Cavell seither - gemäß rechter Vorstellungen von der britischen Nation - zu einer Mischung aus wertebewahrender Übermuttcr und kämpferischer Heroine. Diesem Image folgt auch ihr martialisches Denkmal, das die konservative Nachkriegsrcgicrung unweit des Trafalgar Square dem britischen Monumentenpantheon hinzufügen ließ. Linksliberale und Labouranhänger wehrten sich nachdrücklich gegen die rechte Inanspruchnahme dieser Tat der Krankenschwester, die für Linke eher Ausdruck eines humanitären Nationsverständnis 10 Vgl. King, Memorials, bes. 194-215; Bushaway, Name, 156-61; Weber, Ideology, 57-69. 11 Vgl. Bourke. Male, 210-52; Stevenson, Society, 462-72.

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war. Georg Bernard Shaw monierte, es sei bezeichnend, dass die konservative Regierung die letzten überlieferten Worte Edith Cavells nicht auf dem Denkmalssockel habe eingravieren lassen. Die erste Labourregierung fügte diese 1924 hinzu: »I realise that patriotism is not enough. I must have no hatred or bitterness for anyone.«12

12 Vgl. Wilkinson, Church. 223.

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Abkürzungen Α Abendausgabe AHB Alldeutsche Blätter ADV Alldeutscher Verband BA Bundesarchiv, Abteilung Berlin BDI Bund der Industriellen BDF Bund Deutscher Frauenvereine BdL Bund der Landwirte BEU British Empire Union BSP British Socialist Party BT Berliner Tageblatt BZ Berliner Zeitung am Mittag CDI Centralverband deutscher Industrieller DC Daily Chronicle DCT Daily Citizen DFV Deutscher Flottenverein DKP Deutsch-Konservative Partei DHV Deutschnationaler Handlungsgehilfen-Verband DM Daily Mail DN Daily News DO RA Defence of the Realm Act DOV Deutscher Ostmarkenvcrcin DT Daily Telegraph DVLP Deutsche Vaterlandspartei DWV Deutscher Wehrverein ER Edinburgh Review FZ Frankfurter Zeitung FVP Fortschrittliche Volkspartei GE Germania GStPK Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz ΗDG Hilfsdienstgesetz HE Herald HoC House of Commons HoL House of Lords ILP I dependent Labour Party IMW I nternationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik IPP Irish Parliamentary Party IRB Irish Republican Brotherhood JB John Bull

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KLZ KV LL LV Μ MI MG MNN MP MWA NUWSS ΝΑ NA NL NLOWS NPZ NR NS NSL NZ OB OHL PJB PRC PRO PAH PH Η RT RWZ SM SoA SPD SR TI UDC USPD VO WAAC WSPU WTB

Kölnische Zeitung Kölnische Volkszeitung Labour Leader Leipziger Volkszeitung Morgenausgabe Mittagsausgabe Manchester Guardian Münchener Neueste Nachrichten Morning Post Munition of War Act National Union of Women's Suffrage Societies Nation Norddeutsche Allgemeine Zeitung Navy League National League for opposing Women's Suffrage Neue Preußische Zeitung (Kreuz-Zeitung) National Review New Statesman National Service League Neue Zeit Observer Oberste Heeresleitung Preußische Jahrbücher Parliamentary Recruting Committee Public Record Office Preußisches Abgeordnetenhaus Preußisches Herrenhaus Reichstag Rheinisch-Westfälische Zeitung Sozialistische Monatshefte Sonderausgabe Sozialdemokratische Partei Deutschlands Socialist Review Times Union of Democratic Control Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands Vorwärts Women's Army Auxiliary Corps Women's Social and Political Union Wolffs Telegraphisches Bureau

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Quellen- und Literaturverzeichnis I. Quellen A: Deutschland 1. Arch walten: Bundesarchiv, Abteilung Berlin-Lichterfelde Reichsministerium des Inneren R 1501

112328 112363 112276 112276/1 112452 112476/1

Reichskanzlei R43

1395/j 1395/k 2398 2398/e 2401/b 2437/c

2437/d 2437/1 2439 2439/a 2439/b 2442/j

2442/k 2442/1 2443 2447/a 2476

Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin-Dahlem Preußisches Ministerium des Inneren, Rep. 77,

Preußisches Staatsministerium, Rep. 90 a,

Tit., 863 A, Nr. 1 Tit., 863 A, Nr. 26 Tit. 1884, Nr. 1 Tit. 1884, Nr. 4 Tit. 1884, Nr. 6 Tit. 1884, Nr. 7

Abt. A, Tit. VIII, ld, Nr. l,Adh. 1 Abt. B, Tit. III, 2b, Nr. 6

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2. Zeitungen und Zeitschriften »Alldeutsche Blätter« »Berliner Tageblatt« »Berliner Zeitung am Mittag« »Frankfurter Zeitung« »Germania« »Kölnische Volkszeitung« »Kölnische Zeitung« »Leipziger Volkszcitung«

»Münchener Neueste Nachrichten« »Neue Preußische Zeitung« (Kreuz-Zeitung) »Neue Zeit« »Norddeutsche Allgemeine Zeitung« »Preußische Jahrbücher« »Rheinisch-Westfälische Zeitung« »Sozialistische Monatshefte« »Vorwärts«

sowie: »Internationale Monatszeitschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik«, Jahrg. 1914/15 »Die Wehr«, Jahrg. 1914, 1915 3. Parlamentsdebatten Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten. 22. Legislaturperiode, 2. und 3. Session, Berlin 1916-1918. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Herrenhauses in der Session 1916/18, Berlin 1918. Verhandlungen des Reichstages. 13. Legislaturperiode. 2. Session. Stenographische Berichte, Berlin 1916-1918. 4. Deutsche Kriegspublizistik Binswanger, O., Die seelischen Wirkungen des Krieges, Stuttgart 1914. Böhme, K.(Hg.), Aufrufe und Reden deutscher Professoren im Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1975. Borkowsky, E., Unser heiliger Krieg. 2 Bde., Weimar 1915. Bücher, K., Unsere Sache und die Tagespresse, Tübingen 1915. Chamberlain, U.S., Kriegsaufsätze, München 1915“. -, Neue Kriegsaufsätze, München 19152. -, Deutsches Wesen. Ausgewählte Aufsätze, München 19162. Cohen, H., Über Das Eigentümliche des deutschen Geistes, Berlin 1914. Daenell, E., Wie es zum Kriege kam, Münster 1914. Deißmann, Α., Der Krieg und die Religion, in: Deutsche Reden, 281-324. Deutsche Reden in schwerer Zeit, hg. v. der Zentralstelle für Volkswohlfahrt, Berlin 1914. Dibelius, W, England und wir. Deutsche Vorträge Hamburger Professoren, Hamburg 1914. Driesmans, H., Die Aufartung der Völker germanischer Rasse unter Vormacht und Führung der Deutschen, in: Vernichtung der englischen Weltmacht, 182-196.

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CAB 23/7 CAB 24/6 CAB 24/24 CAB 24/31 CAB 24/37 CAB 24/38

CAB 24/55 CAB 24/70 CAB 25/16 CAB 27/8 CAB 37/129 CAB 37/151

Home Office

Foreign Office

Ministry of Munitions

HO 45/10484 HO 45/10728 HO 45/10756 HO 139/6

FO 371/3010

Mun 5/48

CAB 37/133 CAB 37/147 CAB 37/148 CAB 37/150 CAB 37/153 CAB 37/161 Ministry of Labour

2. Zeitungen und Zeitschriften »The Daily Chronicle« »The Daily Citizen« »The Daily Mail« »The Daily News« »The Daily Telegraph« »The Herald« »John Bull« »The Labour Leader«

»The Manchester Guardian« »The Morning Post« »The Nation« »The National Review« »The New Satesman« »The Observer« »The Socialist Review« »The Times«

sowie: »The Daily Express« »The Edinburgh Review or Critical Journal«, Jahrg. 1914. »The Navy« Jahrg. 1914, 1915.

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Register Personenregister Allan, Maud 149, 151 Asquith, Herbert Henry 48-50, 52, 98, 100, 102, 131, 144, 152, 173f, 176, 177, 181, 199, 204, 143, 258, 260, 268-272, 324f., 327, 336, 339, 341,343 Bachern, Carl 194 Bahr, Herrmann 85 Baldwin, Mark J . 126 Balfour, Arthur 177,179, 210, 268, 275 Barnes, George Nicoll 275 Bauer, Max 143,206 Bebel, August 313 Beresford, Charles Lord 129 Berger, Peter L. 19,22 Bernhardi, Friedrich von 37, 46 Bernstein, Eduard 92, 118-120 Bcthmann Hollweg, Theobald von 45, 82f.,87f., 123,130,144, 146f., 157-159, 162-165, 169f., 183, 190-192, 195f, 199-203, 224, 228, 294-296, 299-301, 357 Billing, Noel Pcmbcrton 148-154 Bismarck, Otto Fürst von 31, 39, 91 Bonar Law, Andrew 129, 177, 266, 331 Bottomley, Horatio 127, 206 Bourdieu, Pierre 23, 26 Brögcr, Karl 295 Buddeberg, Stadtverordneter 69 Burian, Stephan v. 158 Byles, William 271 Byrne, Alfred 277 Cavcll, Edith 365f. Carson, Edward 49, 100, 177, 181, 275, 325

Casement, Roger 173 Cecil, Hugh Lord 325, 333, 346 Cecil, Robert Lord 178f, 205, 211, 275, 346 Chamberlain, Austen 205 Chamberlain, Houston Stewart 142 Charnwood, Lord 333 Childers, Erskine 52 Churchill, Winston 98, 101,221,238,274 Claß, Heinrich 37, 45, 89, 141, 146, 160f, 192 Conze, Oberregierungsrat im Innenministerium 169 Cook, Edward 72 Craik, Henry 329 Croft, Henry Page 206 Curzon, George Earl of 205, 247f Danger field, George 50 Darling, Charles 151 f. David, Eduard 92f, 120, 197, 202, 293, 298,318 Daziel, Henry 129 Delbrück, Clemens von 87f, 93, 120, 293 Delbrück, Hans 115, 120, 167, 192f, 199, 293, 303 Derby, Edward Stanley Earl of 169f. Devlin, John 211,276,278 Dickinson, Willoughby 132 Dilke, Charles 54 Dillon, John 174,276,278 Drews, Bill 231, 303, 307 Duke, Henry Edward 182f, 274 Eildermann, Wilhelm 65 Erzberger, Matthias 144, 159, 169, 192

420 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1

Falkenhausen, Regierungspräsident v. 88 Falkenhayn, Erich von 159 Faweett, Millicent 48, 336-339, 342, 348 Ferguson, Niall 71 Foch, Ferdinand 274 Frank, Ludwig 289 French, John Lord 278 Gardiner, Alfred G. 101 Garvin, James L. 51, 180, 216, 341 Gayl, Egon Freiherr von 162 Gebsattel, Konstantin Freiherr von 355 George V, König 48, 50, 73, 75, 181 Gerard, James D. 116 Griffith-Boscawcn, Arthur 271 Gladstone, William Herbert 49 Graef, Walther 317 Graves, Robert 35 Grey, Edward 98, 100 Groener, Wilhelm 229, 295 Gwinner, Arthur 162, 192 Gwynn, Stephen 321 Haas, Ludwig 145 Haase, Hugo 118,234 Habermas, Jürgen 14, 17, 25 Haeckel, Ernst 115 Haig, Douglas 212 Haidane, Richard Lord 39, 98, 152, 347 Hamilton, George Lord 103 Harnack, Adolf von 192 Hatzfeld, Hermann von 159 Hay, Ian 148 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 86 Helfferich, Karl 300, 315 Henderson, Arthur 105, 238, 321 f, 324, 339 Hertling, Georg 308 Hcydebrand und der Lasa, Ernst von 39, 233, 308f Hindeburg, Paul von 195, 223 Hirsch, Paul 309 Hitler, Adolf 31, 39, 202 Hobson, John A. 54 Hoffmann, Max 201 Hugenberg, Alfred 162, 191f

Jagow, Gottlieb von 169, 195 Jones, Leif 334 Jünger, Ernst 361 Kaufmann, Franz 318 Kipling, Rudyard 206, 236 Kitchener, Horatio Herbert Lord 148, 257 Körte, Abgeordneter 168 Kühlmann, Richard von 201 Korfanty, Wojciech 303 Kulerski, Wiktor 169 Lansdowne, Henry Marquess of 181 f., 207 Le Queux, William 52 Ledebour, Georg 229 Lehmann, Julius 39 Leinen, Robert 309 Lenin (d.i. Wladimir Iljitsch Uljanow) 200,202,215 Lentze, August 163, 201, 301, 306 Liebknecht, Karl 123 Lissauer, Ernst 117 Lloyd George, David 72, 102, 132, 174, 176f, 184-186, 200, 204, 208, 214f, 238f, 243,246,259,264,274-278,306, 327f, 338, 343 Loebell, Wilhelm von 87, 117f, 121, 123, 147, 158, 163, 165f, 169, 296, 299-301 Lohmann, Walter 305 Long, Walter 178, 278, 205, 321, 327f, 330f,243 Lonsdale, John 184 Lowther, James William 327 Luckmann, Thomas 19, 22 LudendorfT, Erich 11, 72, 164, 223, 273, 280 Mac Donald, Ramsay 104, 212, 344, 346 Mac Donagh, Michael 78 Markham, Arthur 327 Maxse, Leopold 51 f., 104, 141, 143 Maxwell, John 173f. McCurdy, CA. 205 McKenna, Reginald 80, 259, 349 421

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1

McNeill, Ronald 325 Meinecke, Friedrich 57 Meyer, Eduard 135 Milner, Alfred Lord 48f., 52, 55f., 71,213, 260, 262, 266 Massingham, Henry W. 54 Muir, Ramsay 210 Müller, Richard 230 Murray, Norman 127 Naumann, Friedrich 294, 299 Nicolai, Walther 72, 119 Northcliffe, Lord (d. i. Alfred Harmsworth) 51f, 98, 130, 182, 260, 345 O'Connor, Thomas R 182f O'Donell, Patrick 277 Oliver, Frederick S. 56, 71 Oncken, Hermann 82 Outhwaite, R. L. 207 Pachnicke, Hermann 166, 308 Pankhurst, Emmcline 48, 76, 336f. Payer, Friedrich von 236 Plenge, Johann 85 Porsch, Felix 305 Powell, E.G. 75 Rathenau, Walthcr 142 Redmond, John 49, 55, 99, 106, 172f, 177, 181-187 Redmond, William 276 Remarque, Erich Maria 63 Roberts, Frederick Sleigh Lord 48, 52, 260 Robertson, William 212, 255 Rüssel, Bertrand 75 Salm-Hostmar, Fürst zu 162 Samuel, Herbert 324 Sasson, Siegfried 153 Schäfer, Dietrich 162 Scheidemann, Philipp 194, 196f, 234, 294f Schiemann, Theodor 121 Schmidt-Gibichenfels, Otto 46

Schorlcmer, KJcmens von 301 Schubert, Hans von 89 Schwerin, Friedrich von 162f Scott, Alexander M. 345 Scott, Charles R 72, 266 Seeberg, Reinhold 161 Sclbie, William B. 126 Shaw, Georg Bernard 104, 264. 270, 366 Simonjohn 270f, 325, 346 Smillie, Robert 239f. Snowdcn, Philipp 210, 212 Sombart, Werner 84, 116, 118 Spahn, Peter 192 Spencer, Harold 71, 152 Stein, Hermann von 146, 196 Stresemann, Gustav 298, 300 Ströbcl, Heinrich 122, 168f, 304. 307, 316 Styezynski, Abgeordneter 168 Thomas james Henry 264 Thorne, William 322 Tillet, Ben 75 Toller, Ernst 85 Troeltsch, Ernst 86 Trotzkij, Leo D. (d. i. Lejb Bror.stein) 201 f. Valcra, Eamon de 278 Victoria, Königin 47 Villiers-Stuart, Eileen 151f Wahnschaffe, Arnold von 162 Wallraf, Max 236, 316 Warburg, Max 145 Ward, Arnold 342, 345 Ward, Mrs. Humphry 347, 338 Watcrstradt, Friedrich 159, 161, 192 Webb, Beatrice 76 Weber, Alfred 200 Weber, Edmund 36 Weber, Max 13, 17,86,305 Wells, Herbert George 101 Westarp, Kuno Graf von 12 lf, 3)2 White, Arnold 143, 150 Wicmer, Otto 304

422 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1

Wild von Hohenborn, Adolf 144 Wilde, Oscar 149 Wilhelm II, Kaiser 83,133, 192, 296,298, 301 Wilkinson, Spencer 71 Williams, Llewellyn 246f, 263, 272 Wilson, Woodrow 200, 214f. Wolff, Landrat 68

Wolff, Theodor 120f Wrisberg, Ernst von 145 Younger, George 332 Zedlitz, Octavio Freiherr von 305 Zetkin, Clara 43 Zweig, Stefan 57

Sachregister Adel 48,51, 68,139, 155,281,297f, 301 f., 305-308 Alldeutscher Verband 37-39, 44f, 62, 89, 91, 141, 162, 191f, 194, 155 Antifeminismus 48, 79, 150, 281-284, 312-319, 336f,345f, 351 Antisemitismus 62, 95, 134f, 140-148, 160,357,360-365 Arbeiter, Arbeiterbewegung 17f, 34-38, 40, 43, 47, 51, 54, 62f, 71, 74, 82f, 9 1 93, 98-100, 104-106, 118-123, 133, 139, 144, 191, 195-197,206-208,212216, 222-254, 263, 266-268, 272, 277, 285f, 289-292, 295f, 305, 316, 322, 325, 328, 344, 347-349, 357 »Augustcrlebnis« 28, 33, 35f, 56-64, 70f, 81 f., 86-88, 95f, 108f Belgien 98, 105, 125, 130, 136, 186, 194, 204, 206, 257 Berlin 61-65, 67,206,227, 230f, 234,279 British Empire 47, 49, 52-55, 172f, 178, 180, 185f, 199, 204f, 21lf, 215, 261, 266,274,281,330,346 British Socialist Party (BSP) 54, 252 Bund der Landwirte (BdL) 192 Bund deutscher Frauenvereine (BDF) 313-315 Bund deutscher Industrieller (BDI) 38f, 191 f.

Burenkrieg 47, 54, 99, 204 Bürgertum, Bürgerlichkeit 25, 36-39, 42-45,50, 57-63,81,83-85,117f., 138, 198,235,257,313,324,359,361 Burgfrieden 27f, 81f., 84, 86f, 89, 91, 94f, 109, 114, 123, 142, 145, 148, 168, 190f, 198, 203, 217, 226, 232, 362 Centralverband deutscher Industrieller (CDI)38f, 191f, Conservative Party 47-51, 54f, 81, 98, 100, 102f, 105-107, 132-134, 172f 176-187, 207, 238, 244, 255, 260-263, 267-270, 273, 275, 320-323,327, 332336, 343f, 347, 359,364 Defense of the Realm Act (Dora) 72 Demokratie, Demokratisierung 13, 25, 93, 202, 212, 230, 263, 289f 292, 294, 297, 306, 313, 318, 320, 326f, 335, 340-342, 348-351, 358-360, 363 Demonstrationen, Ausschreitungen 3638, 62-64, 124, 128f, 137, 143, 222, 227-229, 278 Deutsche Vaterlandspartei (DVLP) 198f, 203, 206, 235f Deutscher Ostmarkenverein (DOV) 155 Deutscher Wehrverein (DWV) 39, 44f, 141

423 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1

Deutsch-Konservative Partei (DKP) 3739, 87f., 93, 121, 155, 158, 165-168, 194,200,224,235,292,294,297,300f., 307f., 315-317, 329, 350, 355, 359 Deutschnationaler HandlungsgehilfenVerband (DHV) 62 »Diehards« 48f, 51, 104,331 Dolchstoßlegende 178, 228, 232, 234, 244, 363 Eliten 12f, 16, 18, 28, 34f, 37, 42f, 50, 57f., 71, 78f., 83f, 86, 94, 98, 123, 139, 141, 146, 149f, 155, 175f, 211, 218f, 230,236f, 253,256,285,287,291,299, 302, 311, 320, 329-331, 348, 351, 355, 359 Elsass-Lothringen 159f, 200, 206, 211 Entente 47, 120,259,306,310 Feindschaft 12, 18, 20, 33, 111-114, 120129, 141, 189, 216f, 233, 255, 262f, 279, 346, 360, 363 Fischer-Kontroverse 27 Flotte, Flottenverein 39f, 45f, 52, 206 Fortschrittliche Volkspartei (FVP) 37, 145, 192-194, 198, 202, 300, 303, 318, 361 Frankreich 47, 68, 98, 114f, 122, 136139, 148, 153, 158,205, 234, 257, 278f, 293 Frauen, Frauenbewegung 18, 34f, 38, 47f, 65, 107, 257, 280-286, 290f, 312320, 325, 327f., 332-351, 357 Friedensverhandlungen 122, 199, 201 f, 214, 158, 182 Gemeinschaft, nationale 15, 21 f., 43f., 81-83, 90, 95-100, 103, 110, 127, 136, 140, 142, 145, 148, 160, 170, 217, 225, 228, 233-236,240f, 245,247,286, 290, 298,311,340,358,361-364 Generalstab, Oberste Heeresleitung (OHL) 69, 119, 137, 159, 164, 202, 223, 225, 231 f, 296,308,310 Geschlecht, Geschlechterbeziehung 15, 48, 58, 99, 153, 312f, 336- 348, 358 Gewerkschaften 47, 75, 105, 136, 190,

213-215, 223-227, 331 f., 238-240, 243, 248f, 266, 272, 278 Heimatfront 28, 80, 97, 116, 153, 221, 223f, 228, 240,244,280,286,312-314, 325f, 337f, 345, 360 »Hidden Hand« 129, 150f Hilfsdienstgesetz (HDG) 95, 223-227, 230,240,246,315 Hindenburg-Programm 223 »Home Rule« 49, 54-56, 106, 172-188, 275-277 House of Commons 27, 34, 48-50, 80, 98-100, 131f, 175, 181-185, 207, 210, 251,269f, 276,278,291,304,326,319, 321-324, 327f, 332-226, 346f, 341f House of Lords 48, 181, 302, 316, 333, 347 »Ideen von 1914« 31, 84-86, 97, 115 Identität 79, 87, 117, 123, 187, 235, 253, 289 Ideologie 17, 23, 45, 90, 114, 134, 161, 170f, 198, 206, 208,219, 246,255,277, 322, 337, 348, 356 Imperialismus 54f, 180, 183-5, 274, 307, 330 Independent Labour Party (ILP) 213, 241,244,252 Intellektuelleneingabc 161 f., 192f Interfraktioneller Ausschuss 318 Irish Convention 176, 328 Irish Parliamentary Party (IPP) 49f, 55, 99f, 106f, 171-174, 176, 182-187, 272, 276, 278 Irish Republican Brotherhood (IRB) 171 Irland 47, 49, 50, 55, 73, 99f, 106f, 154f, 170-189, 204, 211, 365, 218f, 270, 273-280, 359, 365 Juden, »Judenzählung« 83, 90, 14(M48, 159, 162f, 314 Katholizismus (politischer) 38, 41-43, 58, 98, 119, 136, 144, 166, 194. 297, 299f

424 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1

Kirche, Konfession 15f, 41, 44, 58, 94f, 107, 109, 119, 156, 178f, 305, 308, 318 Klasse, Klassengesellschaft, Klassenkampf 15f, 28, 41-44, 58, 71, 91f, 100, 107, 195, 213, 225f, 235, 242, 247f, 285, 292f, 305, 341, 358, 364f Kolonialismus, Kolonialtruppen 47, 79, 135-140, 189, 191,218 Kommunikation, Sprache 11, 14-19, 2226, 31, 40-42, 51, 60f, 69, 72, 85, 97, 108, 110,114,117,127f, 131,173, 229, 232, 286 3()9f., 326, 353, 356 Konservatismus 101 Kriegsdienstverweigerer 258, 262, 270272,331-335 Kriegsfreiwillige 70, 78, 175, 242, 256265.268f,282,321 Kriegsgewinne 242 Kriegskredite 82, 104, 146 Kriegsziele 12, 29, 33, 91, 143-16, 189217, 236, 297, 306 f, 326, 349, 359 Krise, Legitimationskrise 12, 20, 35-41, 45f, 50, 56, 72f, 79-81, 96, 100, 108, 113, 125, 148, 170, 207, 221, 241, 168, 271, 189f, 300,349,354 Kritik 36, 66, 72, 150, 155, 221, 230, 237, 249 Labour Party 48, 54, 74, 81, 104,107, 130, 133,176f, 186,207,210,212-216,240242,247f, 250-253,257,263,266-272, 277, 320f, 331, 333, 336, 364-366 Liberal Party 48f, 81, 87, 98, 100, 102, 104, 107, 133, 175, 179, 184, 186, 188, 207, 214, 238, 243, 250, 255-257, 263266, 270, 273, 279, 320, 323, 327, 333, 336, 344, 359, 364 Liberalismus 22, 273, 284 London 50f, 73-76, 80, 98, 125, 143, 238, 249 »Lusitania« 124f, 127-129 Männlichkeit 36, 45, 66, 103, 150, 257f, 312-314, 317, 345f, 337, 362, 365 Marokkokrise 39 Materialschlachten 12, 164,223,238,148, 157, 181,207,259,273

Militarismus 38, 54, lOOf, 122, 132, 134, 183,277,307 Minderheiten, nationale 12, 33, 35, 38, 43, 83f, 90, 113, 123, 142, 154-159, 170f, 187, 208, 217f, 349, 357, 359 Mittelmächte 157, 164, 200f, 208, 219, 273 Mobilisierung 12f, 16, 19, 20, 30, 32, 40, 109,151,189,222f, 230,238,245,273, 280, 283, 350, 356, 364 Modernisierung 20, 36, 85, 103, 116, 206 Munition of War Act (MWA) 238, 240243, 246, 251 »National Efficiency« 52, 103, 206, 245, 255 National League for Opposing Women's Suffrage (NLOWS) 48,336-338, 347f. National Party 56, 107, 206 National Union of Women's Suffrage Societies (NUWSS) 48, 99, 336f, 342 Nationalliberale Partei 37, 136, 158, 165168,194, 294, 298-301, 305, 307f, 310, 318 Nationalsozialismus 39, 58, 140f, 171, 202, 363 Navy League 51, 141 »Neuorientierung« 142, 170, 290, 294 Öffentlichkeit 11,16,24-26,35,40f, 50f., 59, 71-73, 108, 117, 120, 125f, 188, 200f, 260, 291,340,355f Osteraufstand 171-173, 176 Osterbotschaft 296-298, 315f Österreich-Ungarn 61, 126, 154, 156158, 164,208,230 Polen 87, 145-147, 154-171, 176, 185188, 217f, 275, 297, 307, 357, 359 Presse, Zeitungen 26f, 38, 40f, 51, 5861, 66, 71-73, 115, 124, 126f, 132f, 139, 145-149,203,231 f., 260, 262, 283, 314,338,341 Preußen 86, 89, 122, 159, 163, 166-170, 178,226,230,291 f., 296-298,300-302, 306-309, 316f, 330, 335, 348, 351 425

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1

Preußisches Abgeordnetenhaus 27, 34, 122, 167f, 292, 300-311,315-317, 351 Preußisches Herrenhaus 301, 316 Professoren 84-86, 97, 115, 135-137, 159, 161f, 191 Propaganda 16, 29, 31, 77, 85, 136, 150, 198,201,296,244,359 Protestantismus 49f., 55, 81, 83, 94, 99, 194,334 Rassismus 30, 33, 39, 44, 46, 55, 89-91, 112f., 118f., 131, 134-142, 148, 155, 159-163, 170, 188, 193, 217-219, 357, 359, 362-364 Regierung, deutsche - Reichsministerium des Inneren 67, 87, 147,299f. - Reichslandwirtschaftsministerium 300 - Preußisches Innenministerium 95 - Preußisches Kriegsministcrium 144146 - Preußisches Finanzministerium 163, 301 Regierung, englische - Foreign Office 98, 100 - Home Office 231, 303, 307 - Ministry of Munitions 177, 238-240, 241,274 - Ministry of Finance 239, 259 - Ministry of Labour 272, 275 - War Office 39, 213, 257 Reichstag 27, 36-40, 45, 82, 92, 99, 118, 141, 144f, 157f, 162, 192-198, 224, 229, 234, 236, 291, 295, 298, 301, 309, 313-315,318 Religion, siehe Kirche, Konfession, Protestantismus, Katholizismus »Representation of the People Act« 329f, 334-346 Revolution 96, 105, 148, 196f, 230-237, 251, 260, 289, 291, 310, 346f, 366 - Russische 195, 199-201, 204, 207f, 226, 230, 234, 242, 251 f, 294, 328, 343, 310,318 Royal Navy 74, 243, 255

Russland 47, 67f, 98, 114, 117-122, 156158, 164f, 168, 202, 205, 208, 226, 234, 242, 252, 259, 293f, 328 Rüstung 35, 37, 40, 47, 52, 77, 221-229, 238-242, 249, 255, 257f, 280, 283, 285 Selbstbestimmung, Volkssouveränität 111, 154f, 170,179,180-190, 199-204, 208-216, 219, 251, 276, 359-362 Sexismus 48,66,79, 134f, 137, 149-153, 282,318, 343f, 363 Siedlungsplänc 44, 147, 155f, 159, 161164, 170, 188, 193f, 218f, 359 Sinn Fein 171-174, 180-187, 274, 278280 »Sonderweg, Deutscher« 31, 127, 358 Sozialdarwinismus 45f., 138 Sozialdemokratie, Sozialismus 38, 41, 43, 62, 82f, 91f, 106, 119-121, 233, 247, 284, 289 Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) 36f, 41,43, 58f, 62, 82f, 86-88, 91-95, 99, 114-121, 124, 145f, 165, 168, 190-200, 202, 224-226, 229, 231, 233-235, 289, 293-295, 297f, 300305, 309, 313-318, 350, 361-363 Speaker's Conference 242f, 327f, 343 Spionagefurcht 52, 66-70, 78-80, 129, 149-152,250 Staatsbürgerschaft 130-133, 166, 254, 257, 289-291, 299, 312-314, 320-322, 325, 331, 334-337, 339-341, 345, 349, 362, 365 Staatsintervention 12,33,52,93,103,175, 221-227, 237-242, 246, 253, 259, 264, 285, 289, 349 Streiks 33, 37, 47, 99, 123, 207, 22f, 226254, 266,278, 285f, 289, 300,328, 336, 356, 364 Totaler Krieg 12-14, 18f, 29, 32-34, 95, 97, 103, 108, 110-112, 129, 142, 148f, 153f, 189, 212, 216, 218, 221-224, 233f, 273, 275, 280, 283-285, 289-291, 311, 313, 326, 334, 337, 340, 343f, 353-360 Treasury Agreement 238

426 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1

U-Boot-Kricg 124f. Ulster 39, 49, 99, 106, 173, 176f, 181f., 184-187 Ulster Unionists 176f., 184 Ulster Volunteers 49 Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD) 187f, 195,200, 226t“., 231-233, 301, 304, 307, 316, 318 Union of Democratic Control (UDC) 207-209, 214 Unternehmer 116, 222, 229, 239-242, 246f. USA 47, 135, 175, 185f., 294 Wahlrecht, Wahlrechtsreform - in Deutschland 34, 37, 48, 88, 189, 226f, 230, 236, 289, 291-319, 349-351, 362 - in England 50,189,148,154,273,284, 291,319-350,359,364

Wehrpflicht 34, 52, 70, 78, 103, 133, 154, 175, 223, 241, 246, 254-280, 282, 285, 289, 292, 321-325, 331-333, 337, 350 Weimarer Republik 58, 148, 351, 360365 Widerstand 16, 33f., 38, 48f., 101, 171, 221f, 248, 262, 268f., 272-274, 278C, 285-287 Women's Army Auxiliary Corps (WAAC) 283f. Women's Social and Political Union (WSPU) 48,99,336f. Zeitungen, siehe Presse Zensur 16, 27, 41, 51, 59f., 71f., 142,192, 227,230C, 300 Zentrumspartei 87, 144f., 159, 166, 192, 198, 202, 294, 300, 305, 308, 310, 318, 362 Zweiter Weltkrieg 202,364

Bayariaohs Setaatabailothek Mürichan

427 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35139-1

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Leitfaden durch die Geschichtswissenschaft Dieses Handbuch bietet einen Überblick über die Richtungen und Schulen der internationalen Geschichtswissenschaft. Er stellt die Themen, Methoden und Ansätze von fünf Gebieten vor: Sozialgeschichte, Politik- und Verfassungsgeschichte, Kulturgeschichte, Ideengeschichte, Geschichte und Postmoderne. Die zentralen Teile dieser Gebiete werden in eigenen Artikeln vertiefend behandelt - wie etwa Historische Sozialwissenschaft, Annales oder Historische Anthropologie. Das Handbuch eignet sich als Begleitung für Einführungsund Grundlagenveranstaltungen ebenso wie als Hilfsmittel für das gesamte Studium und die wissenschaftliche Arbeit.

Mit Beiträgen von

S. Burghartz (Basel), R. Chartier (Paris), M. Dinges (Stuttgart), J . Eibach (Gießen), S. Ellis (Galway), R. Eßer (Bristol), U. Frevert (Bielefeld), R. Habermas (Göttingen), I. Hampsher-Monk (Exeter), R. Jütte (Stuttgart). D. Klippel (Bayreuth), G. Lottes (Potsdam), M. Middell (Leipzig), P. Moraw (Gießen), G. Motzkin (Jerusalem), G. Noiriel (Paris), P. Nolte (Bielefeld), R. Reichardt (Mainz), J . Revel (Paris), M. Sandl (Konstanz), R. Schlögl (Konstanz), L. Sehorn-Schütte (Frankfurt), C. Tilly (New York), A. Wirsching (Augsburg).

Kompass der Geschichtswissenschaft

UTB Günther Lottes / Joachim Eibach (Hg.) Kompass der Geschichtswissenschaft

Ein Handbuch UTB 2271 M. 2002. 400 Seiten, kartoniert ISBN 3-8252-2271-3

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Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 156: Uwe Fraunholz Motorphobia Anti-automobiler Protest in Kaiserreich und Weimarer Republik 2002. 318 Seiten mit 6 Tabellen, 10 Schaubildern und 5 Abbildungen, kartoniert ISBN 3-525-35137-2

151: Heinz-Gerhard Haupt (Hg.) Das Ende der Zünfte Ein europäischer Vergleich 2002. 285 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-35167-4

150: Dieter Gosewinkel Einbürgern und Ausschließei

155: Rita Aldenhoff-Hübinger Agrarpolitik und Protektionismus

Die Nationalisierung der Staatsangehö rigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland

Deutschland und Frankreich im Vergleich 1879-1914

2001. 472 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-35165-8

2002. 257 Seiten mit 14 Tabellen und 2 Abbildungen, kartoniert. ISBN 3-525-35136-4

154: Moritz Föllmer Die Verteidigung der bürgerlichen Nation Industrielle und hohe Beamte in Deutschland und Frankreich 1900-1930 2002. 368 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-35168-2

153: Barbara Weinmann Eine andere Bürgergesel Ischaft

Klassischer Republikanismus und Kommunalismus im Kanton Zürich im späten 18. und 19. Jahrhundert

149: Christoph Nonn Die Ruhrbergbaukrise Entindustrialisierung und Politik 1958-1969 2001. 422 Seiten mit 5 Tabellen im Anhang, kartoniert. ISBN 3-525-35164-X

148: Monika Wienfort Patrimonialgerichte in Preußen Ländliche Gesellschaft und bürgerliche Recht 1770-1848/49 2001. 404 Seiten mit 20 Tabellen, kartoniert ISBN 3-525-35163-1

2002. 391 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-35169-0

152: Sebastian Prüfer Sozialismus statt Religion Die deutsche Sozialdemokratie vor der religiösen Frage 1863-1890 2002. 391 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-35166-6

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